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German Pages 417 Year 1982
Die Demokratische Anarchie Verlust der Ordnung als Staatsprinzip?
Von
Walter Leisner
Duncker & Humblot . Berlin
WALTER LEISNER
. D I E DEMOKRATISCHE ANARCHIE
Die Demokratische Anarchie Verlust der Ordnung als Staatsprinzip?
Von Prof. Dr. Walter Leisner
D U N C K E R
&
H U M B L O T
/
B E R L I N
Alle Rechte vorbehalten © 1982 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1982 bei Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlin 61 Printed in Germany I S B N 3 428 05093 2
Vorwort Der dritte Band der Betrachtungen über die Spätdemokratie ist einer Erscheinung gewidmet, die unsere Jahre wieder haben entdecken müssen, i n alten und i n neuen Formen — der Anarchie. I n Studentenunruhen und Massenstreiks, i n Gesetzesungehorsam und Autoritätsverlust, i n Demonstration und Revolution — überall wächst, aktiv und passiv, die neue Saat einer „zivilen Gewalt". Und schließlich konnten Wenige i m Terrorismus ganze Regime erschüttern. Dies nun hat aufgeschreckt. Was als Emanzipation freudig begrüßt w i r d — gefährdet es doch die Gemeinschaft, wie Bewahrer des Früheren seit langem warnen? Werden schwarze Flaggen der Demokratie gefährlicher als Schwarze Hemden und Rote Fahnen? Die Volksherrschaft des Westens ist auf Freiheit gegründet, i n ihrer Bewahrung und Steigerung allein bleibt sie legitim. Stets hat es i n ihr — und anderswo — „Freiheitsmißbrauch" gegeben, Degeneration von Freiheiten i n Anarchismen; darin stellt sich nur die ewige Frage nach den Grenzen der Freiheit. Heute und hier geht es aber u m mehr, u m drei Fragen i m Grunde: — Steht hinter den zahllosen, den kleinen und großen Auflehnungen, nicht mehr — die eine, große, systematische Herrschaftsverneinung — vom Anarchismus zur Anarchie? — Kommt der Ordnungswiderstand nur von außen, wächst er nicht aus dem Herzen der Macht heraus, w i r k t seine Idee nicht i n Grundgedanken, Institutionen, Organen der freiheitlichen Demokratie, i n einem „inneren Herrschaftsverlust"? Anarchie gegen den Staat — oder durch den Staat? — Die Demokratie w i l l die ganz große Ordnung errichten i n ihrem Gleichheitsstaat. I n Bürgeratomisierung und Sozialzwang der Gleichen entfaltet sich die stärkste Herrschaftsmacht, die w i r kennen. Widerstand gegen Gleichheit gibt es nicht; treibt aber nicht die Gleichheitsmacht den Bürger i n die Ordnungsverneinung — Anarchie als Ausbruch aus der Gleichheit? Wie immer w i r antworten — es genügt nicht mehr die Abscheu, die Königsmörder hängen sehen w i l l . Findet nicht der Demokratiemord
6
Vorwort
täglich i n uns statt, i n den unblutigen Formen der Normen und Organisationen, und stets — i m Namen des Volkes? Ordnungsverlust als Staatsprinzip — die Volksherrschaft hat ein wahrhaft einmaliges politisches Wagnis begonnen. Sie w i l l den Weg gehen vom waffenlosen Ordnungshüter des alten England zur Schaffung von Ordnung durch diejenigen, welche frühere Zeiten politische Verbrecher nannten. Kann dieser Einbau der Anarchie i n den Staat gelingen? W i r können es hier nicht entscheiden, doch w i r wollen zeigen, wie weit er schon fortgeschritten ist — gerade heute, wo noch vieles u m uns nicht nur geordnet erscheint, sondern i n Ordnung ist. Bewahren w i r d sie nur, wer die Gefahr sieht, i n all ihrer Größe. Dieses Nachdenken über demokratische Anarchie weist über die Gleichheit hinaus, vielleicht sogar über die Anarchie hinweg: W i r d sie ein Zwischenspiel sein, nur den rufen, der sie beendet? I m Namen der republikanischen Freiheit haben anarchische Dolche einen Caesar getroffen — ist er aber nicht immer nur noch stärker auferstanden aus dem Blut der erschlagenen Herrschaft? Und doch: Demokratie — ein Blick i n herrschaftslose Ferne, auf ein Meer endloser Anarchie — w i r d man einst sagen, sie hätten doch gelohnt, diese Jahre des Prometheus? Rom, am 5.10.1981
Walter Leisner
Inhaltsverzeichnis
I. Von der Gleichheitsordnung
zur Anarchiegefahr
1. Anarchie aus Gleichheit
17 17
a) Anarchie — Ausbruchsversuch aus lastender Nivellierungsherrschaft
17
b) Anarchie — aus Gleichheit geboren?
19
2. Was bedeutet Anarchie staatsgrundsätzlich?
20
a) Anarchie — Herrschaftsverneinung, nicht nur Terrorismus
20
b) Anarchie — Negation jeder Herrschaft
21
3. Wieviel Freiheit ist — Anarchie? 4. Anarchie als Gefahr
23 24
a) Die undefinierbare Bedrohung
24
b) Gefahr für die notwendigen „gemeinschaftlichen Anstrengungen"
25
c) Gefährdung der „Integration der Gleichen zur Gemeinschaft"
26
d) Keine Höherentwicklung der gleichen Bürger ohne Herrschaft
27
e) Herrschaftsverneinung — eine Kulturkatastrophe
28
IL Anarchie — die radikale, systematische Herrschaftsverneinung 1. Anarchie — der verhaßte Individualismus a) Liberalismus und Sozialismus — in Anarchie überholt
30 30 30
b) Utopievorwurf — eine stumpfe Anarchiekritik
31
c) Kollektivismus — ein leichtes Gegengift?
32
2. Anarchie — totale, systematische Verneinung aller Herrschaft a) Front gegen Staatsgewalt und Gesellschaftsgewalt
34 34
b) Totale Ablehnung
35
c) Anarchie — immer grundsätzlich
36
d) Die „anarchische Hochrechnung": Vom punktuellen Widerstand zur allgemeinen Herrschaftsablehnung
37
3. Anarchiephänomene — Erscheinungsformen des Unfaßbaren . .
38
a) Erfassung der Anarchie in rechtlichem Denken
38
8
Inhaltsverzeichnis b) Erscheinungen der Anarchie — vom Widerstand bis zur „Staat gewordenen Freiheit" 4. Keine Solidarität — volle Freiheit nach dem Maße des Einzelnen!
41 44
a) Anarchie — Absage an jede Solidarität
44
b) Freiheit ohne „mitgedachte Bindung"
45
5. Anarchie als Staatsziel — Legitimation der Herrschaftssysteme durch Herrschaftsverneinung
46
a) Alle Staatlichkeit — legitimiert als Weg zu höherer Herrschaftslosigkeit
46
b) Kommunismus — begründet durch den „sterbenden Staat"
47
c) Private Freiheit — das liberale Anarchieideal
49
6. Anarchie als System — die Grenzen der Ordnungslosigkeit
51
a) Anarchisches Ordnungsdenken — eine mögliche Kategorie? b) „Anarchische Ordnung" — „ordnende Sachzwänge"?
„reines Nebeneinander"
51
oder
52
c) „Ordnung in Auflösimg" — die „kleinen Schritte" d) Anarchie als „Zustand eudämonistischer Bedürfnisbefriedigung" e) Anarchie — „Ordnung" als Ablauf und Orientierung
III. Der demokratische
Weg in die Anarchie — die Sprengkraft
54 56 57
der
Freiheit
59
1. Der anarchische Weg durch die Institutionen der Demokratie
59
2. Freiheit — Streben nach völliger Bindungslosigkeit a) Totaler Einsatz — nur für den Staat der unendlichen Freiheit . b) „Zumutbare Bindungen": eine — unzumutbare Freiheitsbeschränkung
60 60 61
c) „Begrifflich mitgedachte Freiheitsschranken" — als Anarchiefesseln weder „natürlich" noch wirksam
63
d) Die „Rechte anderer" — wirksame Schranken gegen Ausuferung der Freiheit in Anarchie?
65
e) „Dienst am Nächsten" — politische Theologie, nicht immanente Freiheitsschranke
67
f) Die Selbstverstärkung der Freiheit zur Anarchie
68
3. I n dubio pro liberiate —. eine Maxime der Anarchie
69
a) I m Zweifel für die Freiheit — eine Lebensnotwendigkeit der Demokratie
69
b) „Im Zweifel für die Freiheit" als Anarchiedynamik
70
c) Der „Wesensgehalt der Freiheiten" — Festschreibung der
Anarchie
»
72
Inhaltsverzeichnis 4. Die Versuche der „systematischen Freiheit"
75
a) Das demokratienotwendige Streben nach Systematisierung der Freiheit
75
b) Die Herrschaftsgewalt in der Defensive
76
5. Die Grundrechtsidee als Anarchie
78
a) Grundrechtsablehnung aus Anarchieängsten
78
b) Grundrechte — unabänderlich wie die Herrschaftsverneinung
79
c) Die Idee der vorgegebenen Freiheiten — originäre Anarchie
79
d) Grundrechtsschutz — Einsatz der Staatsgewalt zur Sicherung der Anarchie
80
e) Die ziellose Freiheit als Herrschaftslosigkeit
82
6. Über die „gesellschaftliche Freiheit" in die Anarchie
83
a) Die anarchiegeneigte Gesellschaft — der Niedergang der früheren „Gesellschaftsmächte"
83
b) Das „Ende der Gesellschaft als Gewaltreserve des Staats"
85
IV. Von der Gleichheit als Herrschaft
zur Gleichheit als Anarchie
1. Gleichheit — ein zweischneidiges Herrschaftsschwert
87 87
a) Atomisierung als erster Schritt zur Anarchie
87
b) Die Gefahr der ungenügenden Macht
88
c) Das gefährliche „Zusammenlaufen der Gleichen"
89
2. Freiheit und Gleichheit — eine anarchisierende Verbindung
90
a) Liberté-Egalité-Fraternité als einheitliche Devise
90
b) Das verhängnisvolle Schwanken der Demokratie zwischen Freiheit und Gleichheit
92
3. Gleichheit in der Gesellschaft — schwer zu beherrschen
93
a) Die Gefahr der „verspäteten Herrschaft"
93
b) Der Zwang zum offenen Machteinsatz
95
c) Anarchie durch „Trägheit und Aktivität" — Widerstand aus Gleichheit
96
4. Findet der Gleichheitsstaat noch Herrschende? a) Der Verschleiß der Herrschenden, ihre Flucht aus der Macht
98 99
b) Die langsame Eskalation der „Anarchie von oben"
101
5. Gleichheit — politischer Wert oder „reines Instrument"?
103
a) Gleichheitszustand — als Wert zu erstreben?
103
b) Gleichheit — das zu kurzfristig Erreichte
105
c) Gleichheit — nicht Ordnung, sondern reine politische Kraft 106
10
Inhaltsverzeichnis
V. Der Mehrheitsgrundsatz
als Rechtsprinzip der Anarchie
108
1. Der Sozialvertrag — anarchisches Denken als Grundlage der Mehrheiten 108 a) Die demokratische Suche nach dem „natürlichen Abstimmungskörper" 108 b) Sozialvertrag — Überwindung oder Ausdruck der Anarchie? 111 c) Die Renaissance der Sozialvertraglichkeit durch Vertrag
—
Verwaltung
112
d) Das „tägliche Plebiszit" — Demokratie gewordene Anarchie 116 2. Majorität —: anarchische Höchstform des Individualismus
119
a) Der selbstbewußte Abstimmungsbürger
119
b) Abstimmung als individualistischer Ausnahmemechanismus — das Problem der „Dauerdemokratie" 121 c) „Volonté générale" — ein Wunder, das nicht stattfindet d) Majorität — das „überwogene", nicht „beherrschte" viduum
123 Indi-
125
3. Das Mehrheitsprinzip — Ausdruck der Resignationsdemokratie 127 a) Die resignierende Faszination des demokratischen Machtspiels 127 b) Die Mehrheitsentscheidung — Macht als Zufall
129
c) Herrschaft überhaupt — auch ein Zufall? Die Stimmengleichheit 132 4. Minoritätenschutz — Zellenbildung der Anarchie
133
a) Ausbruch aus der Gleichheitsgewalt — oder Weg in die Anarchie? 133 b) Minoritätensicherung — ein Widerspruch zum Mehrheitsprinzip 135 c) Minderheitenschutz als Herrschaftsauflösung
136
d) Abgrenzungsschwierigkeiten beim Minderheitenschutz
137
e) Minoritätenschutz — unlösbares Problem der Demokratie als einer überholten Staatsform? 138 5. Machtabschwächung der Demokratie im Kompromiß a) Demokratische „Reibungsverluste": überall — ein Anarchiebeginn
Mehrheitsentscheidung
139 139
b) Der Kompromiß als wesentliche Herrschaftsabschwächung 141 c) Kompromiß zum Schwächeren — Eskalation der Machtauflösimg 143 d) „Kompromißtechnik"
146
e) Vom Kompromiß zur „politischen Technokratie"
148
VI. Das Mehrparteiensystem — erste organisatorische Annäherung der Staatlichkeit an die „demokratische Anarchie"
150
1. Die fehlende Machtaneignung durch die Parteien — anarchische Machtferne der Machtträger 150
Inhaltsverzeichnis a) Das monarchisch-aristokratische Gegenbild
150
b) Die kommunistische Kritik an den „volksfernen Parteien" 152 c) Parteienkampf um die Macht — ein Herrschaftsersatz
154
d) Demokratische „Ämter" und „Beamte" — ein Widerspruch in sich 155 2. Die Machtblockade im Mehrparteiensystem
156
a) Parteienkoalitionen — Machtabschwächung und Machtaufhebung 156 b) Die „Volkspartei" — Überwindung der Herrschaftsblockade? 158 c) Die knappe Mehrheit — Herrschaftslähmung durch Angst vor dem Machtwechsel 160 3. Parteienangleichung als Machtabbau
162
a) Die Suche nach dem Konsens und die Parteienangleichung 162 b) Die Programmangleichung — Programmverlust schaf tsverlust
als Herr-
164
c) Der Kampf um Personen — Persönlichkeitspolitik oder Figurendemokratie? 166 d) Anarchisierende Legitimationssuche i m Mehrparteiensystem: Herbeigeredete Gegensätze 168 4. „Radikale Parteien" — „eingebaute Anarchie im Mehrparteienregime" 170 a) Radikale Gruppierungen — eine demokratische Notwendigkeit 170 b) Die Notwendigkeit des „echten Radikalismus"
171
c) Unterwanderung der Regimeparteien durch Radikale
172
5. Entpersönlichung der Herrschaft als Anarchisierung im Mehrparteienregime 174 a) Vom Parteiführer zum Apparatschik
174
b) Persönlichkeitsverlust als Herrschaftsverlust
177
c) Partei gegen Staat — anarchisierender Herrschaftsantagonismus 179
VII. Der Machtwechsel — Grundprinzip der Demokratie und Ausdrucksform institutionalisierter Anarchie 181 1. Ständiger Machtwechsel — ein Demokratieprinzip
181
a) Machtwechsel als Institution
181
b) Tatsächliche, nicht nur mögliche Wachablösung
182
2. Machtwechsel — die große Anarchiestunde der Demokratie
184
a) Das Stillstehen aller Gewalt
184
b) Die anarchisierenden Vorwirkungen des Machtwechsels
186
c) Die anarchisierenden Nachwirkungen des Machtwechsels . . . . 189
12
Inhaltsverzeichnis 3. Die „neue Herrschaft" Antithese
als Gegenmacht, als
anarchisierende
191
a) Gibt es „gegensätzliches Herrschen"?
192
b) Laufende Kritik — vorweggenommene Gegenmacht
192
c) Macht aus „Verfassungskonsens"?
194
d) „Widerruf der Ordnung" — ein Anarchiephänomen
195
e) Das demokratische Nein zur Tradition — Demokratie als Verlust der „politischen Klassik" 197 f) I m raschen Machtwechsel von der Ordnung zum Befehl 4. „Radikaler" und „gemäßigter" Machtwechsel
198 200
a) Anarchieverstärkung durch Anarchiegegnerschaft
201
b) Die demokratische Diskussion um das „wünschbare Quantum an Machtwechsel-Anarchie" 202 5. Der demokratische Machtwechsel als institutionalisierte Revolution 203 a) Machtwechsel als Revolution b) Machtwechsel-Anarchie kanalisierbar?
—
203 in
demokratischer
c) Verfassungsänderung — eine demokratische Crux
VIII. Das Parlament als anarchisierendes
Forum
1. Herrschen — in Vertretung?
Verfassung
204 205
208 208
a) Vertreten — wen eigentlich?
208
b) Herrschen — für andere?
210
2. Herrschaftsverlust in Kollegialität
213
a) Herrschaft durch Masse?
213
b) Der Niedergang der „Parlamentsführung"
214
3. Die anarchisierende Wortgewalt
216
4. Inkompetenz als Machtauflösung
217
a) Regnum incompetentiae
217
b) Parlament als Störgewalt
219
IX. Anarchiephänomene in der vollziehenden Gewalt 1. Verwaltungsanarchisierung durch Parlamentskontakt
221 221
2. Politisierung des öffentlichen Dienstes — Anarchisierung in parteipolitischer Clanherrschaft 222 3. Der Hierarchieverlust
224
4. Legalitätsübersteigerung — Umschlag in Unordnung
226
Inhaltsverzeichnis 5. Bürokratie — Instrument der Anarchie
228
6. Planungsanarchie in der Verwaltung
230
X. Gerichtsbarkeit
als Anarchieinstanz
1. Die „entpolitisierte
Gewalt"
als anarchisierender
233 Störfaktor 233
2. Gerichtsbarkeit als Verzögerungsmechanismus der Macht
235
3. Anarchie durch „richterliches Ordnen"
237
4. Ordnurigsauflösende Einzelfallgewalt
238
5. Verfassungsgerichtsbarkeit — die Norm-Gegengewalt
241
XL Die Dekadenzautonomie — ein Weg in die Anarchie
244
1. Autonomie — notwendige Organisationsform der Demokratie 244 2. Autonomie als Herrschaftsauflösung
246
a) Neo-Autonomismus — Teilkapitulation der Staatlichkeit
247
b) Autonomie als anarchisierende Gewaltzersplitterung
248
3. Anarchisierende Wirkungen des Föderalismus
250
a) Herrschaftserschwerung durch Einstimmigkeitszwang
251
b) Gewaltenzersplitterung nach unten
253
c) Ordnung durch das Bundesratsprinzip?
254
d) Das „föderale Unordnungsgefühl"
255
e) Niedergang des Föderalismus — Sieg über die Anarchie?
256
4. Kommunalisierung — Anarchie unter vielen Wappen
257
a) Die Kommune als Widerstandszentrum
257
b) Die Kommunalanarchie der Kontaktlosigkeit
259
c) Kommunale Integration durch „Finanzierung von oben"? . . 261 d) Anarchisierende Kommunalpolitisierung
262
e) Vom Aufstand der Verwalteten zur Revolte der Administration 263 5. „Gesellschaftliche Selbstverwaltung" — der neue Privatfeudalismus 264 a) Das neue Zünftewesen
265
b) Die Staatsauflösung in „gesellschaftliche Autonomie"
267
XII. Die Negativ-Ideologie und der Revolution
der Demokratie — Lob des Widerstandes
1. Die „negative Ideologie" — ein Wesenszug der Demokratie
272 272
14
Inhaltsverzeichnis 2. Widerstand als Anarchie
275
a) Widerstand als Grundlage der Demokratie
275
b) „Grundrechte auf Widerstand"
276
c) Das Recht auf Widerstand — Grundrecht auf Anarchie
279
d) Widerstand als Anarchieform
282
e) Institutionalisierter Widerstand — Anarchie als Herrschaft? 285 3. Exkurs: Die Glorifizierung des Widerstandes — ein demokratischer Mythos 287 a) Widerstand — eine demokratische Tradition
287
b) Antideutscher — und deutscher — „Widerstand" bis zum Zweiten Weltkrieg 289 c) Der Widerstand nach 1940
291
d) Der deutsche Widerstand
295
e) Vom widerstandsanfälligen Gleichheitsstaat
298
4. Revolution — Sternstunde von Demokratie und Anarchie a) Stufen der Revolutionsideologie
300 300
b) Die Anarchiegrundlagen des Revolutionären
302
c) Die Revolution — Umrisse einer anarchischen Ordnung
305
d) Demokratie — Staatsform der Revolution
308
e) Die demokratische Theorie der permanenten Revolution — die verfassunggebende Gewalt des Volkes
X I I I . Exkurs: Der internationale Ordnungsverlust Demokratie 1. Die „wesentliche Ideologie"
Grenzüberschreitung"
310
— Anarchieexport der 315 der
„demokratischen
316
2. Die anarchisierenden Wirkungen des „Demokratieexports"
319
3. Internationale verlust
322
Anarchisierung
durch
nationalen
4. „Anarchie außen" — eine demokratische Hoffnung
Ordnungs-
323
5. Der anarchische Rückschlag: Re-Import der Ordnungslosigkeit von außen 325 6. „Selbstzerstörung von außen"
XIV. Christliche Heilsvorstellungen Anarchismus
als Verstärkung
327
des demokratischen 330
1. Anarchisierende Demokratie — eine kirchengünstige Ordnimg 331 2. Gemeinsame Anarchieneigungen des demokratischen und des christlichen Denkens: Idealität, Unfaßbarkeit, Utopie 333
Inhaltsverzeichnis 3. Fortsetzung: Die eschatologische Bedingtheit aller Ordnungen 334 4. Vom Höchstwert der Persönlichkeit zur „Befreiung"
335
5. Nächstenliebe und demokratische Sozialpolitik — ein anarchischer Zweiklang 337 6. Der Populismus — Gottes Volk als Volkssouverän
339
7. Anarchie mit christlichem Segen
340
8. Ende in Sekten — für Kirche und Staat?
342
XV. Anarchische Phänomene in der Spätdemokratie 1. Von der freien Meinung zur anarchischen Demonstration
344 344
a) Meinungsfreiheit — anarchische Grundlage der Demokratie 344 b) Die Unbegrenzbarkeit der Meinungsfreiheit
346
c) Meinung als Gewalt
349
d) Die Anarchisierung des Meinens in Demonstration
353
e) „Ausarten" — ein inneres Gesetz jeder Demonstration — Demokratisch-anarchische Levée en masse 355 f) Die „Pressedemonstration" 2. Eigentumsanarchie — Herrschaftsverlust oder „gegen Besitz"?
357 durch Eigentum —
358
a) Herrschaftsverlust aus Privateigentum?
358
b) Eigentum als Ordnungsmacht
360
c) Ordnungsverlust durch Verteilung
362
3. Mitbestimmung — der anarchische Dialog
365
a) Mitbestimmung als Kampfinstrument
365
b) Das große Patt — organisierte Ordnungslosigkeit
366
4. Streik — von der Forderung zur Auflehnung a) Die Anfänge: „Gegen alle Ordnung"
367 367
b) Streiken — nicht „für", sondern „gegen"
368
c) „Ausufern" — das innere Gesetz allen Streikens
370
d) Vom wirtschaftlichen Streik zur politischen Demonstration 372 e) Streik — überall
374
f) Der Widerstandsstreik — Streik als Revolutionsbeginn
374
5. Studentenunruhen — Anarchie aus Wissen
376 -
a) Jugendanarchie — aus abgeschwächter Ordnung heraus
376
b) Die anarchisierende Kraft des Wissens
378
c) . . . in Demokratie verstärkt
380
6
Inhaltsverzeichnis 6. Exkurs: Gesellschafts- und Staatsanarchie in Verstärkung — „Ehe- und Familienanarchie"
gegenseitiger
383
7. Gesetzesungehorsam — in passiver Anarchie aus der Gleichheit 387 a) Der Gleichheitsbefehl in normativer Form — Ermunterung zum Ungehorsam 387 b) Egalitärer Imperativ — ein schwer durchsetzbarer Befehl 390 c) Ungehorsam — gerade in „Gleichheitsmaterien"
391
d) Die Gleichheitslawine des Ungehorsams
395
8. „Demokratische Kriminalität" — ein Phänomen von Gleichheitsanarchie 396 a) Demokratische Kriminalität — ein besonderer Typus
397
b) Von den Unmöglichkeiten der Anarchiebekämpfung durch „demokratisches Strafen" 398 c) Der Verlust der Schutzgüter
401
9. Terrorismus — demokratische Anarchie oder großes anarchisches Verbrechen? 402 a) Terrorismus — aus Gleichheit
404
b) Der große Ausbruchsversuch aus der Gleichheit
405
c) Terrorismus — Fortsetzung der demokratischen Anarchie mit anderen Mitteln 408 d) Terrorismus — nur Schwäche, nicht Tod der Demokratie 409
Schlußbetrachtung: Kein Ende in Anarchie — vielleicht aus ihr
ein Anfang
412
I. Von der Gleichheitsordnung zur Anarchiegefahr 1. Anarchie aus Gleichheit a) Anarchie — Ausbruchsversuch aus lastender Nivellierungsherrschaft Die parlamentarische Volksherrschaft, welche ihre Freunde die freiheitliche nennen, ist von Selbstgefährdung bedroht, wie alles Sensible, Geistige. Als Herrschaftsordnung droht sie sich i n jener Freiheit aufzulösen, welche sie legitimiert; was sie so nötig braucht, kann sie doch nicht brauchen — von Polizeistrenge und Militärgewalt über einen unpolitischen öffentlichen Dienst bis zu wahrer Wirtschaftsliberalität. A n all diesen Wucherungen ihres eigenen Herrschaftsorganismus ist sie immer wieder i n der Geschichte zugrunde gegangen, nicht an der Bedrohung von außen. I h r großer Gegenspieler ist heute der Rätestaat. Doch auch er steht ihr nicht eigentlich gegenüber, er kommt aus ihr, verabsolutiert nur eines der Grundprinzipien der Demokratie: die Gleichheit. Sie setzt er i n unbedingter, harter Herrschaft von oben durch, m i t Gewalt bewahrt er sie. Zu solcher Machthärte ist die parlamentarische Staatsform nicht fähig, und so mag es scheinen, als müsse sie sich selbst auflösen i n Kapitulation vor den Räten. Doch diese Selbstzerstörung der Demokratie, von der i n einer früheren Studie die Rede war — sie muß nicht stattfinden, wenn der parlamentarischen Demokratie eines gelingt: ihr eigener, ein zweiter Weg zur Gleichheit. Kann sie die Gleichheit ohne absolute Herrschaft erreichen, sozusagen als einen geistig-politischen Raum, der „natürlich" wird, aus dem es keinen Ausbruch mehr gibt, so ist sie als Gleichheitsstaat nicht nur lebensfähig, sie ist vielleicht stärker befestigt als jener Rätestaat, der i n tyrannischen Auswüchsen stets Gefahr läuft, sich von seiner eigenen egalitären Grundkonzeption zu entfernen. Diese Chancen und Entwicklungen waren Gegenstand einer weiteren Studie. A n ihrem Ende erwies sich dieser parlamentarisch-demokratische Gleichheitsstaat als die potentiell stärkste Herrschaftsform, welche Menschen i n der uns bekannten Geschichte ersinnen konnten, als etwas Unausweichliches, endgültig Erscheinendes. Doch auch am Ende 2 Leisner
18
I. V o n der Gleichheitsordnung zur Anarchiegefahr
dieser Untersuchung stand die zweifelnde Frage: Ist dieser Gleichheitsstaat i n sich wirklich widerspruchslos? Werden die vielen Gleichen nicht i m Namen dieser Egalität, die ja ursprünglich einmal Herrschaftslosigkeit oder doch Herrschaftsverdünnung bedeuten sollte, aufstehen gegen diese am schwersten lastende aller Gewalten? Alle institutionellen Auswege sind hier den Bürgern versperrt durch die allgegenwärtige Gleichheit, so scheint es doch. Wie sie auch flüchten — überall finden sie: nur noch mehr Gleichheit. Und hier nun setzt die neue Untersuchung an: Anarchie als Ausbruch aus der totalen, beherrschenden Gleichheit? Wäre dies nicht eine Form des neuen, absoluten Widerstandes gegen die Gleichheitsgewalt, daß der Bürger versucht, sich völlig „aus der Gewalt zu werfen", daß er Beherrschungsformen auch dann ablehnt, wenn sie aus Egalität kommen — nicht etwa, weil er die Gleichheit leugnen möchte, sondern weil er alle Gewalt hinter sich lassen will? Ganz große Herrschaftsformen, die Geschichte zeigt es immer wieder, können nicht gebrochen werden, man kann nur einfach — über sie hinwegschreiten. So war es mit der monarchischen Idee und mit der aristokratischen Autorität. Nicht Revolutionen und Barrikaden haben sie zerschlagen, sondern ein geistiger Wandel, i n dem sie ganz abstarben in einem neuen K l i m a der Gleichheit. Sollte dies nicht auch ein Schicksal der Gleichheit selbst sein können, daß sie vorübergeht — oder sich i n ein Neues hinaufpflanzt, i n einer Staatsgrundstimmung, i n der Herrschaft überhaupt nicht mehr gebraucht wird, i n der sich die Ordnungsidee überlebt, weil die Bürger wieder ihre eigenen konkreten Ordnungen leben? Dies ist unsere Frage nach einer „neuen Anarchie". Hat sie schon begonnen, oder werden nur erste, noch ferne Anzeichen sichtbar, gibt es hier Tendenzen, welche sich zu größeren Entwicklungen zusammenordnen lassen? Denn immer wieder hat sich ja eines gezeigt, bei den Grundprinzipien und Entwicklungen der späten Volksherrschaft: daß hier nicht Brüche sind und faßbare Übergänge, daß vielmehr Tendenzen auseinander entstehen wie Wellen, von denen die erste bereits aufläuft, aber immer noch mächtig ist, die zweite anschwillt, eine dritte schon ansetzt, von jenen vielleicht hervorgebracht. So suchen w i r denn nach den Formen einer Anarchie, welche eine der großen, übergreifenden Parallelbewegungen der späten Volksherrschaft sein könnte, i n der auch das Ende des Gleichheitsstaats schon begonnen hat. Spätdemokratie wäre gerade in einer solchen Anarchie. Denn sie würde ja das Ende, das Hinübergehen der „Kratie", der Herrschaftsformen des organisierten Volkes in das einzige bedeuten, was hinter
Γ. Anarchie aus Gleichheit
dem Volk noch stehen kann: i n das organisierte Nichts. Und was vor dem völligen, dem geistigen Ende kommt, aus dem sich auch keine Trümmer von Ideen oder Institutionen mehr i n künftige Zeiten hinüberretten, das w i r d man mit Recht Spätzeit nennen können. b) Anarchie — aus Gleichheit geboren? Doch w i r hatten nicht die Frage gestellt: Anarchie nach Gleichheit, sondern „aus" Gleichheit. Es geht nicht u m die Bestimmung von Zeitperioden, wie sie der reinen Historie zuallererst aufgegeben ist. Hier soll immer wieder institutionell, staatsgrundsätzlich und staatsrechtlich gedacht werden. Dies aber bedeutet, daß nicht Rechtstatsachen i n erster Linie erforscht und zusammengestellt werden; sie dienen als Beispiele. Und daß auch nicht einfach juristische Ableitungen versucht werden — aus dem Gleichheitsstaat kann es nicht etwa eine Legalitätsbrücke i n die Anarchie geben. Vielmehr kommt unsere Fragestellung vom Staatsideellen her: Liegen i n der Idee des Gleichheitsstaates Kategorien, Kriterien, geistig anstoßende Kräfte, welche die Gleichheitsherrschaft in Anarchie wandeln können, verwandeln müssen? Die Antwort versuchen die folgenden Blätter. Doch hier bereits seien an den Anfang einige Plausibilitäten gestellt, welche das Fragen immerhin rechtfertigen — Anarchie aus Gleichheit? — Der Gleichheitsstaat ist die perfekteste, aber auch die am meisten lastende Form kombinierten staatlich-gesellschaftlichen Herrschens, echter Gewaltausübung. Wenn Anarchie überall dort nur w i r k l i c h ist, wo die große Flucht einsetzt aus der Gewalt, so w i r d sie am stärksten sein, wo die größte Gewalt ist — i n und aus der Gleichheit. — Gleichheit wurde immer zuerst erstrebt als Machtabbau, als Herrschaftsminimierung. A m Ende stand die gewaltige Herrschaft. W i r d sich nicht die so betrogene Gleichheit eines Tages gegen ihre eigenen Konsequenzen wenden, sich ebenso radikal selbst i n Frage stellen, wie sie sich i n Macht potenzieren konnte — also wieder i n der Totalität der Anarchie? — Wo zeigen sich i n der neueren Geschichte die bedeutenden, quasiinstitutionalisierten Formen der Anarchie? I n jenen Explosionen, welche zur mächtigsten Gleichheit, zum fast absoluten Gleichheitsstaat geführt haben, vor allem i n der Russischen Revolution. Hier ist die Asche der Gleichheit herausgeschleudert worden, sie hat u m sich am Ende alles erstickt. Doch unter ihr brannte das Feuer der anarchischen Revolution. Ist es wirklich erloschen, glüht es nicht unter der Asche? Weist die Historia Magistra nicht einen notwendigen Weg vom Gleichheitsstaat i n „Anarchie als Lebensform", wenn nicht als Staatsform? 2*
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I. V o n der Gleichheitsordnung zur Anarchiegefahr
2. Was bedeutet Anarchie staatsgrundsätzlich? I m folgenden w i r d immer wieder von Anarchie die Rede sein, von Herrschaftsabschwächung, von Herrschaftsfreiheit und Ordnungslosigkeit, vom Ende aller Gewalt, oder wie immer man das Anarchische benennen mag. Eine Definition der Anarchie kann nicht am Anfang dieser Untersuchung stehen, kein Begriff ist wohl staatsrechtlich so unfaßbar wie gerade dieser. Und wenn immer wieder von der Hydra der Anarchie die Rede war, so kann dies doch nur bedeuten, daß sie eben i n zahllosen Erscheinungsformen auftritt, immer neu, unfaßbar, ungeahnt. Nicht Definition, nur vorsichtige Eingrenzung kann daher am Anfang stehen. Ein solches Vorverständnis mag vor allem i n zweifacher Hinsicht verdeutlicht werden: a) Anarchie — Herrschaftsverneinung,
nicht nur Terrorismus
Anarchie sei hier die große Alternative zur Herrschaft, nicht die kleine, punktuelle Herrschaftsnegation. Sicher entwickelt sich aus dem isolierten Kampf, aus der Ablehnung i m Einzelfall, oft später die große Verneinung — vom Anarchiephänomen zur Anarchie führt der Weg. Er mag und w i r d nachgezeichnet werden, doch keine Einzelauflehnung erschöpft das tiefere Problem des Anarchischen. Und an diesem Punkte hebt sich die folgende Untersuchung ab von fast all dem, was i n der neuesten Zeit, vor allem aber i m letzten Jahrzehnt, unter Anarchie verstanden, als Anarchismus gefürchtet worden ist. Die scheinbar ruhige Restauration nach der Sintflut von 1945 hat i n den meisten Ländern der westlichen Welt i n der zweiten Hälfte der 60er Jahre ein plötzliches, sie hat in Frankreich 1968 ein dramatisches Ende gefunden: Die schwarzen Fahnen der Anarchie, die i n Wohlstand und Ordnung vergessen schienen, wurden i n der ältesten europäischen Hauptstadt des Herrschens aufgezogen. I m totalen Generalstreik hörte alle Ordnung auf. I n dem, was die verängstigten Demokratien bald Terrorismus nannten, Chaotentum, setzte sich die Anarchie i n weiteren Erdstößen fort. Sogleich begann sich ein reiches Schrifttum erneut mit einem Phänomen zu beschäftigen, das man i n Geschichtswerke der Spätmonarchie und des Frühsozialismus und -bolschewismus hatte verbannen wollen. Oft zeigte sich i n Ängstlichkeit, ja Atemlosigkeit politischer Gegenbewegungen die Verunsicherung riesiger Machtapparate durch kleine Studentengruppen; und auch die Literatur w i r k t mehr apotropäisch als beschreibend, eher beschwörend als philosophierend. Da ist die Rede von den Wurzeln des Anarchismus i n Deutschland und anderen westlichen Ländern, von seinen unterirdischen Strömen, welche, von Revo-
2. Was bedeutet Anarchie staatsgrundsätzlich?
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lutionären freigelegt, an staatlich-gesellschaftliche Oberflächen geführt werden. Da zeigen sich viele, interessante Phänomene, die uns auch i m folgenden immer wieder beschäftigen werden. Doch all dies erschöpft unsere Fragestellung nicht, es mag sie rechtfertigen, i n diesen letzten Jahrzehnten des zweiten Jahrtausends. Denn worum es heute geht, i n Gesprächen und Sicherheitsvorkehrungen, das ist Anarchismus, nicht Anarchie; der Beginn vielleicht von Herrschaf tslosigkeit, nicht Herrschaftsfreiheit als die große Alternative zum Staat und zur organisierten, organisierenden Gesellschaft. Geistige Verengung und politische Gefahr, wo immer man steht, müßte es bedeuten, wollte man die Frage nach der Anarchie auf Terroristenangst und Terrorismusbekämpfung beschränken. Dann nämlich würde geschossen, wo es zu überlegen gilt, gerichtet, wo nur Nachdenken weiterführen kann. Eines aber hat es bis zu den Unruhen der 60er Jahre i n der letzten Zeit nicht gegeben, und der Terrorismus hat es auch nicht gebracht, nicht bringen können: eine tiefere geistige Grundlegung der Anarchie, Theorien und Ideen, welche den Weg aus der Herrschaft weisen. Die Terroristen hatten und haben keine Chance, denn sie setzen nur eine Gewalt ein, welche durch größere staatliche Gewalt gebrochen werden kann. Was uns aber beschäftigen muß, ist weit mehr: Sind nicht Denkprozesse, geistige Veränderungen i m Laufen, welche gerade den Terrorismus, die härteste aller Gewalten, aufnehmen und ablösen werden, ist nicht Terrorismus zum Tode verurteilt als ein Widerspruch i n sich — Gewalt i m Namen der Gewaltlosigkeit — „friedliche" A n archie aber erst recht lebendig? Die westlichen Demokratien sind dabei, sich i n einem erbarmungslosen Kampf gegen alle Formen des Terrorismus zu entschulden und zu beruhigen. Schlimmeres kann ihnen kaum widerfahren. Terrorismus ist eine Randerscheinung, das eigentliche Phänomen heißt Anarchie als große Alternative zu aller bisherigen Organisation i n Staat und Gesellschaft. Und hier sind uns auch Anarchistenzirkel und Anarchistenvereinigungen die großen Programme bisher schuldig geblieben. Es ist nicht Sache der Staatslehre, sie zu entfalten — vielleicht kann sie aber das wahre Programm der Anarchie entdecken helfen, i n den Institutionen und Entwicklungen heutiger Staatlichkeit. b) Anarchie — Negation jeder Herrschaft Ein zweites Mißverständnis, eine zweite Vereinfachung heutiger Diskussion über Anarchie gilt es von Anfang an zu vermeiden: Anarchie ist nicht nur gelegentlicher Kampf gegen die Herrschaft, sie ist Ver-
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I. V o n der Gleichheitsordnung zur Anarchiegefahr
neinung jeder Ordnung, auch der demokratischen. Und hier beginnt eine demokratische Illusion. Stets haben die Sympathien der Demokraten auch, ja zuerst vielleicht, der Anarchie gehört. Sie wurde i n Kauf genommen, damit Freiheit werden konnte; Monarchomachen durften Könige erschlagen, wenn sie nur calvinistische Bürger-Ordnung schufen. Anarchisten als Trommler und als Sprengmeister starker Bastionen kamen vor der geordneten Infanterie der Volksherrschaft, welche durch die rauchenden Breschen drang und Anarchisten als erste füsilierte. Der anarchische Gehalt demokratischer Revolutionen ist oft analysiert worden, am perfektesten hat uns die Französische Revolution diesen Zwischenakt vor dem Ende der Wiederbefestigung der Macht vorgespielt. Ihre ins Anarchische umstürzende Volksmacht fand den Weg zurück über den Caesarismus i n die „endgültige" parlamentarische Demokratie, und seither mag es doch scheinen, als gehöre die Anarchie zur Demokratie, als sei sie etwas, das überwunden werden muß, das nur durch Demokratie überwunden werden kann — Anarchie als die größte Rechtfertigung des Demokratischen. Doch dies ist nichts als eine der vielen Idyllen der Volksherrschaft, wieder nichts anderes als eine Verengung des Anarchiebegriffes, die i n erster Linie jener Demokratie selbst verhängnisvoll werden muß, welche sie beruhigen soll. Denn wenn Anarchie als ein notwendiger Durchgang nur erscheint, hinter dem immer wieder Säulenhallen des demokratischen Parlamentarismus beginnen, so ist sie eben nichts anderes als ein Kampf gegen undemokratische Herrschaft, als Demokratie i n einer frühen, noch ungeordneten Form. Daß i n ihr etwas ganz anderes steckt, was auch das absolute Ende der Demokratie bedeutet, das w i r d dann nicht gesehen — die Anarchie als Negation jeder Ordnung, insbesondere der lastenden Ordnung der Gleichheitsdemokratie. Damit also wollen w i r uns beschäftigen, ob nicht gerade i n der parlamentarischen Demokratie, die zum Gleichheitsstaat zieht, viele Formen angelegt sind, und eine große Bewegung i n Staat und Gesellschaft zu einem Nein zu aller Ordnung. Dies ist ja die Größe der Demokratie, daß sie ihre staatliche Herrschaft mit den gesellschaftlichen Herrschaftsformen eng zu verbinden versucht; es ist aber auch die Herausforderung der Anarchie, daß sie ihr Nein selbst den organisatorischen Ordnungsformen der Gesellschaft entgegensetzt. I h r Denken hat die enge Verbindung von staatlicher und gesellschaftlicher Herrschaft i n der Demokratie erkannt, die Machtcamouflage, über welche die Demokratie ihre Herrschaft belegt und verfestigt. Darin setzt sie dçmQkratiekonform an, daß sie über das
3. Wieviel Freiheit ist — Anarchie?
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Staatsdemokratische das Gesellschaftsdemokratische an der Herrschaft auflöst — Anarchie mit Mitteln der Volksherrschaft. Dies also ist die Fragestellung i m Rahmen der Untersuchungen über die Spätdemokratie: Selbstauflösung aller Ordnung mit demokratischen Mitteln, i m Namen der Demokratie? 3. Wieviel Freiheit ist — Anarchie? Anarchie ist Streben nach Freiheit, das Ethos der Freiheit hat stets ihre Auswüchse entschuldigt, sie auf den Boden der Wirklichkeit zurückgeführt. Aus Freiheit allein kann sie institutionalisiert werden. Das Verhältnis der Anarchie zur Freiheit w i r d uns daher i m folgenden immer wieder beschäftigen. Einfache Abgrenzungen kann es hier nicht geben. Die gängige Vereinfachung, welche i n allem Anarchischen nur eine Übersteigerung, ja einen Mißbrauch der Freiheit sieht, führt nicht weiter. Wer die Anarchie als ein mögliches Grundprinzip künftiger Entwicklung begreifen w i l l , oder gar als einen Zustand, dem sich Staat und Gesellschaft nähern, der darf aus ihr keinen Angstbegriff machen. Zunächst einmal muß er sie verstehen als ein bedeutsames Streben nach Freiheit, ohne daß allerdings schon klar wäre, ob die Anarchie als solche überhaupt Formen annehmen, institutionalisiert werden und damit ein Zusammenleben i n Freiheit — i n Unordnung ordnen kann. Die Gefahr der Konfusion von Freiheit und Anarchie ist ein Begriffsschicksal beider, Vermischung und Verwechslung lassen sich hier kaum trennen. So muß denn auch i m folgenden auf jeden Versuch verzichtet werden, eine Anarchieschwelle der Freiheit leichthin zu bestimmen, bei deren Überschreitung diese etwa „denaturiert" würde. Die Verbindung der Begriffe w i r d durch die Einheit des dahinterstehenden politischen Strebens der Menschen nach Ungebundenheit stets bewahrt, sie bleibt auch dieser Untersuchung vorgegeben. I n einem aber, und das kann auch schon hier gesagt werden, zeigt sich die Anarchie als ein besonderer Aspekt der Freiheit: Sie bedeutet Freiheit mit einer Unendlichkeitstendenz. Darin liegt ja die Besonderheit der Anarchie, daß in dieser A r t von Freiheit die Bindung eben nicht mitgedacht ist, oder daß i n ihr zumindest stets die Tendenz und die Dynamik steckt, alle Bindungen auf N u l l zu reduzieren. Erkennt man dies von vorneherein klar, so bleiben die fließenden Übergänge von der Freiheit i n die Anarchie hinüber erträglich, weil ein letzter, wenn auch nur elementarer Begriffsrahmen für das Anarchische immerhin sichtbar wird: Es zeigt sich dort, wo das prinzipielle Nein zu
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I. V o n der Gleichheitsordnung zur Anarchiegefahr
jeder Bindung beginnt, wo Beschränkungen nur als vorübergehend, als prekär, als Mittel zum Zweck — als letztlich unberechtigt erscheinen. Der eigentliche Anarchist sieht eben Bindung immer nur als ein Mittel zu noch größerer Freiheit, er mag es dulden, billigen kann er es nie. Man hat Staaten auf Freiheit bauen, Verfassungen auf Systemen der Freiheit errichten wollen. Nur i n einem w i r d dies wirklich ernst: in der Anarchie. Hier sinkt die Macht zu einer grundsätzlichen Bedeutungslosigkeit herab, der Selbstzweck der Herrschaft hört auf, das i n dubio pro liberiate entscheidet nicht nur Grenzfälle, es w i r d von der Vermutung zur Hoffnung, zur Zukunft. Immer dort also soll i m folgenden von Anarchie gesprochen werden, wo die Freiheit mehr ist als ein Raum, wo sie zum A l l wird. Ein brandenburgischer Jurist hat i m 16. Jahrhundert einmal dem ausgrenzend-kategorisierenden Denken des Römischen Rechts die Unklarheit, aber auch Virtualität und Dynamik des germanischen Rechtsdenkens m i t dem eindrucksvollen Anakoluth gegenübergestellt: Nos autem semper i n infinitum. Wenn dies noch wahr ist, so muß heute deutsches Freiheitsdenken auch sein — Nachdenken über Anarchie. 4. Anarchie als Gefahr a) Die undefinierbare
Bedrohung
Anarchie war stets ein Menetekel. Wo immer sie an Wänden und i n Gehirnen auftauchte, hat sie stets Sorgen und Ängste geweckt, i n ihrer Unbestimmtheit weit mehr als i n der Präzision ihrer Forderungen. Doch die Wertrelativierung des Pluralismus hat selbst diesen negativen Wert, die Anarchieangst erfaßt: Jeder fast fürchtet hier etwas anderes, der eine den Verlust des großen Reichtums, der andere den ruhigen Genuß gleicher kleiner Renten. Bei gemeinsamen großen Ängsten pflegt der eigentliche Sachkonsens klein zu sein, die Faschismuspliobie zeigt es. Und so ginge man wohl i n die Irre, wollte man gemeinsamen Ängsten einen Begriffsinhalt dessen entnehmen, was eigentlich A n archie sei. Doch nicht dies ist hier unsere Frage. W i r müssen vielmehr erklären, weshalb denn Phänomen oder gar Prinzip des Anarchischen heute ein Problem für uns ist. Denn was wäre schon gewonnen, könnte man einen einigermaßen klaren Begriff dieser radikalen Herrschaftslosigkeit herausstellen, könnte man nachweisen, daß sie überall schon ist oder beginnt — wenn kein Urteil darüber gesprochen werden kann, was denn die Folgen wären für Staat und Gesellschaft von hçute»
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4. Anarchie als Gefahr
I m folgenden wollen w i r vor allem auf Anarchiegefahren hinweisen, welche der Demokratie als einer Gleichheitsordnung verhängnisvoll werden können — denn gegen diese Staatsform vor allem richtet sich heute die systematische Herrschaftsverneinung. Wenige Bemerkungen mögen genügen, u m den Nutzen einer systematischen Anarchieuntersuchung in unserer Zeit der Spätdemokratie zu erweisen. Doch ein Allgemeines noch vorweg: Wenn die Anarchie gewissen Grundstrukturen unseres heutigen staatlichen und gesellschaftlichen Zusammenlebens wirklich gefährlich werden kann, so sind diejenigen, die an ihm festhalten wollen, aufgerufen, sich allem entgegenzustellen, was i n diese Richtung zeigt, nicht nur schwarzen Fahnen und Bombenterror. So wie dem Begriff des Anarchischen mit Sicherheit etwas Unendliches, etwas Allgegenwärtiges eigen ist, so kann Anarchie auch nur in allseitiger, stets und überall ansetzender Anstrengung gebrochen werden. Wenn es einen Sinn hat, Anfängen zu wehren, so bei unbestimmten Erscheinungen, die aber i n einzelnen, furchtbaren Wirkungen greifbar werden. W i r werden der Versuchung kaum entgehen, überall Anfänge, Erscheinungsformen des Anarchischen zu sehen, auch dort, wo nichts ist als sein Schein. Doch irgendwo ist sie, diese Herausforderung zum Nichts. Aufgabe ist es, einen nächtlichen Horizont abzuleuchten. Ob dann dem großen Widerstand — Widerstand zu leisten ist, das mögen die Freunde des Heute morgen entscheiden. b) Gefahr für die notwendigen
„gemeinschaftlichen
Anstrengungen"
Wie immer man Anarchie verstehen mag, sie bedeutet eine Abschwächung der juristischen und faktischen Ordnung, bis h i n zu ihrer Auflösung. Damit aber w i r d eine Gefahr jedenfalls sichtbar: Die Möglichkeit organisatorischer Zusammenordnung vieler zu gemeinsamer Anstrengung nimmt ab. Dies bedeutet eine Bedrohung heutiger Zustände des Zusammenlebens. Denn nichts liegt j a klarer auf der Hand als die steigende Notwendigkeit, aber auch Schwierigkeit, eben diese Zusammenarbeit zu organisieren. Eine technisierte Welt kann nur die einer gemeinsamen Riesenanstrengung sein, i n Produktion wie Konsum. Und so ist denn die gesamte Neuzeit nichts anderes als ein ständiger Aufbruch zu Zusammenschlüssen, Vergenossenschaftlichung, Vergesellschaftung vieler Kräfte. I n diesem Sinne war das moderne Gesellschaftsrecht der einzige große geistige Fortschritt über das Römische Recht hinaus. Hier hat das Zivilrecht, nicht i n technischen Einzelheiten, aber i n der Vielfalt, i n der Dichte und i n der Bedeutung seiner gesamten Bewegung w i r k l i c h eine neue, höhere Dimension erreicht. Es war eine seherische Tat, daß einer seiner größten Vertreter,
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I. V o n der Gleichheitsordnung zur Anarchiegefahr
Otto Gierke, i h m die dogmatische Aufgabe der geistigen Bewältigung des Gesellschaftsrechts gestellt hat; sie ist die der philosophischen Erfassung des Privatrechts, und damit des Rechts überhaupt, dessen Kern immer diese Materie sein wird. Diese Vergemeinschaftung, die seit den italienischen Handelsgesellschaften der Renaissance und der Entwicklung der holländischen Maatschappij unsere ganze politische und technische Bewegung getragen hat, ist nicht nur selbst ein wirkkräftiger Ordnungsfaktor, dieses Genossenschaftsdenken braucht auch selbst immer wieder, immer stärker, politische Ordnung; und ein Gesetz steht sicher über der Moderne: Je mehr Technik, desto mehr muß politische Ordnung sein, das Auseinanderklaffen dieser beiden Entwicklungen ist der Grund für geistigen und wirtschaftlichen Abstieg, i n i h m beginnt die große Décadence. Geht man aber davon aus, so bedeutet die Negation der politischen Ordnung in der Anarchie eine wahrhaft tödliche Gefahr für das moderne, hochtechnisierte, egalisierte Gemeinwesen. Dies ist denn auch stets die Morgenhoffnung nach anarchistischen Alpträumen, daß derartiges gar nicht sein kann, weil es durch die technischen Verflechtungen und Notwendigkeiten einfach unmöglich gemacht wird. Doch bei näherem Zusehen liegt darin nichts als eine ganz primitive Hoffnung darauf, daß nicht sein kann, was nicht sein darf. Denn wenn es nun doch zu dieser Herrschaftsabschwächung käme, vielleicht gerade i m Zuge jener Technik, welche nach Herrschaft ruft? Keine Zivilisationsform war wohl bisher anfälliger für die zerstörenden Formen der Anarchie, bei keiner genügt weniger davon, u m wichtige Bögen zum Einsturz zu bringen. Ist dies nicht schon Grund genug zum Nachdenken? Doch nicht nur Technik und zivilisatorischer „Fortschritt" stellen unsere Frage, sie kommt ebenso, vielleicht noch intensiver, aus dem sozialen Zustand, den unsere politischen Gemeinschaften erreicht haben und ständig befestigen. c) Gefährdung der „Integration
der Gleichen zur Gemeinschaft"
Die Nivellierung ist in erstaunlicher Weise fortgeschritten, sie verstärkt sich täglich. Können aber diese vielen Gleichen überhaupt noch zusammenleben, ohne komplizierte und wirksame Ordnungen? Je mehr Egalität geschaffen wird, desto mehr politische Energie ist ja nötig, um Ordnungen zwischen jenen Gleichen aufzubauen und aufrechtzuerhalten, denen täglich gesagt wird, sie stünden nebeneinander, hätten sich nicht zu fügen. Wenn sich also die Ordnung abschwächt, wenn sie gar radikal verneint wird, so bricht jener Gleichheitsstaat rasch auseinan-
4. Anarchie als Gefahr
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der, der nicht nur mehr an Ordnung schafft, sondern ganz wesentlich mehr Ordnung nötig hat als jedes andere Gemeinwesen. Die Gemeinschaft der Gleichen ist daher anfälliger als jedes andere Gemeinwesen für Herrschäftsverneinung; so wie sie i n der Kettenreaktion der Gleichheit zu ungeheurer Macht sich hinaufsteigern konnte, so gibt es auch die umgekehrte Lawine der Anarchie: Setzt sie an irgendeinem Punkte der schon erreichten Gleichheit an, so ist nicht ersichtlich, warum die Herrschaft, warum der Staat überhaupt nicht von dem nächsten Gleichen — von allen Gleichen total negiert werden sollte. Deshalb muß gerade nach dem Gleichheitsstaat ein Kapitel über die Anarchie geschrieben werden; wenn überhaupt zwei Begriffe i m Verhältnis notwendiger These und Antithese zueinander stehen, so i m Staatsrecht diese beiden. Es werden hier nicht „theoretische" Probleme erörtert, sondern Schicksalsfragen einer vielleicht schon begonnenen Zukunft. Wo immer Erscheinungen beginnender oder laufender Anarchie deutlich werden, dà steht unsere staatliche Form der Demokratie, unser gesellschaftlicher Rahmen des egalitären Nebeneinander und der Sozialzwänge der Gleichheit i n der Gefahr nicht nur der langsamen Auflösung, sondern der gewaltsamen Zerstörung. Gemeinsame Anstrengungen werden abgeschwächt, soziale „Errungenschaften" lassen sich nicht halten, es t r i t t das ein, was das Ende einer Zivilisation ankündigt. Und diese Gefahren sieht heute jedermann. Anarchie — das ist nichts als ein Wort für Gespräche über eine große gemeinsame Angst. Sie w i r d nicht dadurch kleiner, daß sie schon vor fünfzig und hundert Jahren gefühlt wurde. d) Keine Höherentwicklung
der gleichen Bürger ohne Herrschaft
Anarchie als politische Zivilisationsgefahr — das läßt sich noch an einem anderen verdeutlichen, dem heute besondere Bedeutung zukommt: der „politischen Erziehung" i m weitesten Sinn. Daß die Demokratie die Staatsform der Erziehung ist oder doch sein müßte, ist bekannt seit der Paideia der Griechen. Gerade i n ihrer egalisierten, ja vermaßten Form lebt sie aus der Hoffnung, daß es kleinere oder größere Kreise von Stärkeren, Intelligenteren — einfach von „besseren" Bürgern gibt, welche immer wieder die Schwächeren und damit die Gemeinschaft, das Ganze nach oben heben, vor der Dekadenz bewahren. Kein Konsens ist heute unter politischen Optimisten der Demokratie stärker und i m Grunde noch immer realistischer als der, daß diese Hochentwicklung der Gleichen möglich sei η wird, durch das Le-
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. V o n der Gleichheitsordnung zur Anarchiegefahr
bensopfer der wenigen Aristoi, und diese Demokratie versteht sich geradezu als eine Staatsform, welche die Aristokratie nicht leugnet, welche sie lediglich nicht entlohnt. Doch wenn sie schon nicht besitzen dürfen, diese Stärkeren, wenn ihr Leben sich nicht allzu sehr mehr zu unterscheiden hat von dem der großen Zahl, so können sie ihre Funktion, i n Medien und Verbänden, i n Schulen und Armeen, nur ausüben, wenn ihnen irgendwelche Befehlsformen von Erziehungsmacht bleiben. Diese Paideia braucht politische Ordnung, der Staat w i r d zur Schule der Nation, er muß zur Ordnung des Unterrichts finden und deren Kontinuität stets bewahren. W i r d die Gemeinschaft nun hier von Anarchie getroffen, i n einem Feld, das vom hoheitlichen Befehl bis zum Sozialzwang reicht, so findet der gesamte, von Demokraten geglaubte soziale Fortschritt nicht statt. Nicht umsonst w i r d kaum ein Thema intensiver und kritischer diskutiert i n der Demokratie als das der Elite; doch diese Elite existiert nur, wenn sie wirken kann. I n resignierter oder romantischer Absonderung fällt sie i n die Gewöhnlichkeit der Vielen zurück, Energie kann sie dann nicht mehr abgeben. Man mag darüber streiten, ob es der Demokratie gelingt, eine weithin unbezahlte, hochidealistische Elite zu finden; Konsens aber herrscht sicher über eines: Wenn sie schon nicht besitzen darf, so muß sie wirken, das heißt aber doch — herrschen dürfen. Wo immer die Anarchie diesen Kreislauf unterbricht, stärken sich die ohnehin schon mächtigen antielitären Tendenzen der Demokratie ins Ungemessene, ihre kulturelle und geistige Auflösung ist nicht aufzuhalten. Wenn es also überhaupt eine Staatsform gibt, i n der über Anarchie nachzudenken ist, so kann es nur der pluralistische Erziehungsstaat der Demokratie sein. Daß er gerade hier mit seinen eigenen Wünschen und Formen die Anarchie ins Haus ruft — auch dies ist ein Thema der folgenden Untersuchung. e) Herrschaftsverneinung
— eine Kulturkatastrophe
Dekadenzen und Kulturkatastrophen sind so häufig beschworen worden, daß es nicht mehr seriös ist, an sie zu erinnern. Dies soll denn auch hier nicht geschehen; denn den unintelligenten, aber überzeugenden Einwand, sie fänden ja doch nicht statt, kann niemand widerlegen — es liegt eben i n ihrem Wesen, daß man sie nicht fühlt, wenn sie eintreten. M i t größerer Bescheidenheit mag nur eines vorweg festgestellt werden: Die Anarchie bedeutet für diesen Staat, für diese Gesellschaft mit Sicherheit eine ganz große Gefahr, Leugnen kann man sie nur, wenn
4. Anarchie als Gefahr
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man zwei Dinge annimmt: daß die Menschen stets freiwillig kooperieren werden, auch ohne jede Form von Zwang und organisierter Ordnung — dies ist der Optimismus der Anarchisten; und wenn man glaubt, daß es niemand Stärkeren i n der Gemeinschaft gebe, der Recht und Pflicht zur Höherentwicklung der anderen habe — denn dann bedarf es ja nicht der Erziehungsgewalt der Ordnung. Es ist üblich geworden und gut, Vorverständnisse klarzustellen. Dies sei denn auch gesagt: Ein solcher Glaube w i r d hier nicht geteilt, sonst könnten die Betrachtungen bereits schließen. Vielmehr sei i m folgenden die Rede von der Anarchie als der großen unausgesprochenen Herausforderung an Ordnung, Recht, K u l t u r .
I I . Anarchie — die radikale, systematische Herrschaftsverneinung 1. Anarchie — der verhaßte Individualismus a) Liberalismus
und Sozialismus — in Anarchie
überholt
I n neuerer Zeit gibt es kaum etwas, das beweglicher und wortreicher kritisiert worden wäre, das mehr an echtem politischen Haß auf sich gezogen hätte als die Anarchie; nur an Angst und Schrecken scheint die Abscheu hier Grenzen zu finden. Lange Zeit schien es, als sei i n diesem Begriff alles zusammengefaßt, was man das „politische Verbrechen" nennen könnte. Hier durfte sogar der große Liberalismus des 19. Jahrhunderts mit einem Male Strenge zeigen — i n Kaiserinnen- und Königsmorden, i n Massenattentaten kam doch eines wieder zurück, das es eigentlich für einen Liberalen nicht geben kann: Politik als Verbrechen. M i t beispielloser Feindschaft haben gerade die beiden großen politischen Bewegungen der letzten Zeit alles Anarchische bekämpft — Liberalismus und Sozialismus, während es für die Konservativen weithin nichts anderes war als einer ihrer gefährlichen, aber doch gemeinen Feinde. Bei Liberalen dagegen und Sozialisten kam etwas auf wie politischer Bruderhaß, und er w i r k t noch immer nach. Hier werden ja die eigenen, tiefsten Ideen aufgenommen und, wie es scheint, ad absurdum geführt: Die Liberalen wollen Herrschaft minimieren, die Anarchie w i l l sie eliminieren. Damit aber ist die Anarchie der folgerichtige Liberalismus, die größte Herausforderung für die liberale Idee, der Beweis vielleicht für ihre Unmöglichkeit. Konsequenter marxistischer Sozialismus verlangt nicht nur die totale Wendung — darin der Herrschaftsverneinung gleich — er erhofft auch das Absterben der Herrschaft, des Staates i n einer totalen, sich selbst i n kollektiver Freiheit fortbewegenden Gemeinschaft. Die Anarchie nimmt dies alles vorweg, Herrschaftslosigkeit w i l l sie hier und heute, nicht nach unzähligen Generationen, die sich für den Kommunismus der Zukunft opfern müssen. Wieder ist also die Anarchie der konsequente Sozialismus, der antizipierte Kommunismus der Endzeit m i t seinem Absterben des Staates. Welche Abweichung könnte hassenswerter sein als diese,
1. Anarchìe — der verhafìte Individualismus
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welche auch noch „links überholt", wo doch nichts mehr sein darf als Kommunismus? Die Herausforderung ist so total, daß ihr nicht mit Diskussion, sondern nur mit Strafrecht begegnet wird. Dies aber w i r d auch noch durch die Erscheinungsformen der Anarchie begünstigt: Sie t r i t t ja nicht als Massenbewegung auf, oder auch nur als wirklich und auf Dauer organisierte Tendenz — gerade dies wäre mit ihren Grundprinzipien unvereinbar. Hier ist nur die unbewußte Entwicklung — oder der Einzelkämpfer; jene kann man meist „gar nicht für möglich halten", und der Einzelkämpfer läuft ja immer Gefahr, nicht nach Kriegsrecht behandelt zu werden, in einer kollektivierten Welt ist er mehr und mehr eine Aufgabe für Ärzteschaft und Strafvollzug. Doch hinter alledem steht immer nur eines: der verhaßte Individualismus; für die Liberalen ein Ärgernis, weil er ihre Idee zu ernst nimmt — für Kommunisten ein Verbrechen, weil er sie so total verneint, wie sie verneinen. b) Utopievorwurf
— eine stumpfe
Anarchiekritik
Utopistischer Anarchismus — damit sucht man hier vieles zu erfassen, mehr noch: sich zu beruhigen. Denn kein Urteil ist ja heute so vernichtend, in einer ganz auf Praktikabilität ausgerichteten Welt, wie das der Utopie. Derartige Forderungen haben nun wirklich „keinen Platz mehr", außer i n Studierstuben von Gelehrten, die sich eine „praktische Gesellschaft" auf Zeit gerade noch leistet. Und dabei ist übrigens die Utopieschwelle sehr flexibel, sie w i r d immer weiter vorverlegt. Nachdem alles von „Konsens" getragen werden muß, dieser modernen Unfaßbarkeitsformel für eine politische Massengesellschaft, kommt man einer Folgerung immer näher: Was nicht von Konsens getragen ist, bleibt Utopie. Auf diese Weise hat man aber nur Zugänge zum Verständnis des Anarchieproblems verschüttet. Denn anstatt nun zu fragen, ob diese radikalen Forderungen wirklich i n einem Niemandsland angesiedelt seien, ob sie nicht schon sehr real i n den konsensgetragenen Formen heutiger Demokratie sichtbar werden — anstelle solcher Grundsatzk r i t i k begnügt man sich mit der Undenkbarkeit der totalen Herrschaftslosigkeit und setzt ihrer Herausforderung nichts entgegen als — die ebenso totale Negation der Negation. Hinter dem Vorwurf der Utopie steht nämlich nichts als die einfache Behauptung der Notwendigkeit des Herrschens, und zwar einer Gewaltausübung, wenn irgend möglich, i n den Formen von heute, die ja i n üblicher staatsrechtlicher Naivität als die nahezu besten erscheinen. Damit kann nicht nur
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î ï . Anarchie — die radikale, systematische Herrschafts Verneinung
manch unbequeme K r i t i k abgebogen werden, man sperrt sich ein i m Kontinent heutiger Herrschaftsformen, die große Entdeckungsreise in ganz neue Formen menschlichen Zusammenlebens findet nicht statt, ja nicht einmal der Wind der Anarchie treibt die Segel des politischen Denkens zu neuen Gestaden. Daß hier geistige Verarmung die Folge sein muß, möchte noch hingehen; weit gefährlicher ist es, daß das nichtssagend-brandmarkende Etikett des Utopismus nicht nur der Anarchie aufgeklebt wird, daß es meist einem anderen gilt: dem konsequenten Individualismus i n Staat und Gesellschaft. Kollektivierende Formen des Gemeinschaftslebens sind bereits derart selbstverständlich geworden, daß ihre totale Verneinung als solche schon als Utopie gilt, und dies selbst dann, wenn, wie i n modernen Formen des Terrorismus, nur noch radikalerer Kollektivismus geschaffen werden soll. Des Individualismus darf man sich eben, so scheint es, nicht einmal dazu bedienen. Nur dann lassen sich all diese Verstellungen beseitigen, wenn man nicht vorschnell das Urteil der „Notwendigkeit der Herrschaft an sich" spricht, vor allem aber, wenn nicht ganz einfach heutige Herrschaftsgrundformen als notwendige Bestandteile einer „Herrschaft an sich" gesehen werden. Die Anarchie ist nicht nur eine Herausforderung an die politischen Gewalten, sie ist es noch weit mehr an Staatsrecht und Staatstheorie; müßten sie nicht eigentlich viel weiter über die heutige Staatlichkeit hinausdenken? Und welcher Träger könnte hier weiter führen als die Anarchiediskussion? c) Kollektivismus
— ein leichtes Gegengift?
Historisch gesehen erscheint der Anarchismus als ein K i n d des modernen Liberalismus, als ein Phänomen eines übersteigerten Individualismus. So liegt denn die Hoffnung nahe, er werde m i t dieser politischen Richtung auch wiederum absterben, und dies muß i n der Tat die Erwartung konsequenter Marxisten sein. Waren es denn nicht Formen der Spätaristokratie und der Spätmonarchie, welche i m neugeweckten Individualismus als unerträglich empfunden wurden und zu den Anarchistenzirkeln des 19. Jahrhunderts, zu Morden und Attentaten geführt haben? Sind es nicht die westlichen Länder der parlamentsbeherrschten Demokratie, i n denen der Liberalismus noch heute diese Krebsgeschwüre des Anarchismus weiter hervorbringt, welche i m konsequenten Sozialismus bereits verödet sind? Die rote Fahne steht überall gegen die schwarze — ist nicht der Kollektivismus die beste A n t w o r t ai^f jene individualistische politische
1. Anarchie — der verhaßte Individualismus
Krankheit, welche Anarchie heißt? Und genügt dann nicht auch für die Demokratien, welche sich freiheitlich nennen, eine Verstärkung des sozialen Elements, u m das anarchische Gift aus dem sozialen Körper zu vertreiben? Eben dies wäre nichts als eine terrible simplification: Auch die marxistische Ideologie hat ihre grundsätzlichen Denkformen des Anarchismus entwickelt, das Absterben des Staates ist nur eine von ihnen, Räte und Föderalismen sind weit praktischer. Nichts hat auch den Sozialismus, seit seinen Anfängen, so ständig begleitet wie der schwarze Schatten der Anarchie. Die totale Zertrümmerung der Herrschaft i m Bolschewismus mußte ja den Traum von der totalen Herrschaftslosigkeit neu reifen lassen, und die total Gleichen — sind sie nicht total herrschaftsfrei? Doch der eigentliche Grund liegt noch tiefer: Anarchistisch denken — das bedeutet die Ablehnung der Herrschaft als solcher, nicht nur ihrer individualistischen Formen. Und deshalb ist wenig gewonnen, wenn man nur „individuellere" Herrschaftsformen durch „kollektivere" ersetzen w i l l , vielleicht hat man darin nur Anarchie „überwunden", daß man sie — bereits ins System eingebaut hat. Sicher lassen sich zwar Könige und Kaiser leichter ermorden als Volksherrschaften, die Terroristen des Endes des 20. Jahrhunderts haben es erfahren müssen. Doch die Herrschaft als solche ist irgendwie immer gleich widerstandsfähig, sie w i r d aber auch ganz gleich von der Anarchie herausgefordert. So geht es denn auch nicht darum, rasch wirkende Gegengifte aufzusuchen, den Individualismus der Anarchie auszutreiben durch Formen kollektiven Herrschens. Die Frage muß vielmehr weit tiefer ansetzen: Was steckt i n individualistischen, was liegt i n kollektiven Herrschaftsformen an höchst individuellem Anarchismus? Denn dies ist ja das Eigentümliche an der Anarchie, daß i n ihr das Individuelle überlebt, bis i n Formen totaler Kollektivierung hinein. Es hier aufzusuchen, ist eine besonders schwierige, vielleicht aber auch eine besonders lohnende Aufgabe. So mag heute über das Geschlecht der Anarchisten von allen Seiten das Hundingwort gesprochen werden: Nicht heilig ist ihm, was anderen hehr, verhaßt ist es allen und mir. Doch läßt sich damit eine Götterdämmerung der Herrschaft aufhalten? Das Ergebnis dieses Kapitels ist: Anarchie ist eine zentrale politische Erscheinungsform des Individualismus. Ihre Problematik läßt sich nicht dadurch ausschöpfen, daß man sie als soziale Randerscheinung pönalisiert, daß man sie als Utopie abtut oder durch ein Mehr an Kollektivismus zu überwinden sucht. Anarchie wächst gerade i n solchen abgebrochenen Diskussionen weiter. 3 Leisner
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. Anarchie — die radikale, systematische H e r r s c h a f t s e r n e i n g
2. Anarchie — totale, systematische Verneinung aller Herrschaft Die Untersuchung kann nicht mit der Aufstellung einer Liste von Anarchiephänomenen beginnen; dies würde eine Begriffsklarheit voraussetzen, die hier eben nicht besteht. Dennoch fehlt es nicht an Beispielen und Anschauungsmaterial, fast scheint es, als gehe das Wort von der Anarchie dem Bürger oft zu leicht von den Lippen, als sei die ablehnende Reaktion ebenso undifferenziert, wie die anarchische Herrschaftsverneinung meist unbestimmt bleibt. Dem aufgeschreckten Staatsbürger sind „anarchische Zustände" nicht nur Bombenattentate und ein Generalstreik, i n dem alle Räder der Ordnung stille stehen; i h m scheint doch die Herrschaftsverneinung i n vielen, tagtäglichen Vorgängen zu begegnen — von Betrieben und Dienststellen, i n denen nicht mehr klar ist, ob die Leitung oder Betriebs· und Personalräte das Sagen haben, über chaotische Verhältnisse auf den Verkehrsmitteln, an denen niemand schuld ist und für die niemand Verantwortung übernimmt, über früher gepflegte Plätze und Grünanlagen, auf denen heute der emanzipierte Bürger tut, was i h m gefällt, bis h i n zu Kindergärten, Schulen und Familien, i n denen erneut jene Zeiten der „glücklichen Wilden" begonnen zu haben scheinen, deren Dschungelleben frühere Reisende so anschaulich beschrieben haben. Soll i n die Unordnung dieser Unordnungserscheinungen auch nur ein Ansatz von Betrachtungsklarheit gebracht werden, so gilt es, zunächst jene Besonderheiten herauszuheben, welche anarchische Vorgänge als Phänomene jener größeren Herrschaftsverneinung zeigen, die allein zum staatsgrundsätzlichen Problem werden kann. a) Front gegen Staatsgewalt und Gesellschaftsgewalt Ablehnung jeder A r t von herrschaftsgeschaffener Ordnung steht hier i m Vordergrund. Zurückgewiesen w i r d nicht nur die Staatsgewalt, sondern auch der Sozialzwang, nicht nur das Gemeinwesen, sondern jede organisierte Gemeinschaft. Wirklich anarchisches Denken präzisen Befehl der Herrschenden men; mindestens ebenso stark ist schaftsfreien Herrschaftsformen", zelnen über Sozialzwang i n Pflicht
wendet sich nicht nur gegen den in seinen vielfachen juristischen Fordie Ablehnung jener neueren „herrdurch welche das Kollektiv den Einnimmt.
Die Anarchie entwickelt hier ein feines Gespür für die immer feineren Formen moderner Machtausübung. I h r entgeht es nicht, daß die
2. Anarchie'— totale, systematische Verneinung aller Herrschaft
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Herrschaft um so härter wird, je weniger sie sichtbar ist, daß sie w i r k lich unentrinnbar nur dort sein kann, wo sie nicht mehr faßbar ist i n den Formen der Legalität. Dies erklärt auch, weshalb modernen totalitären Staatsformen die Anarchie verhaßter ist als jeder anderen Staatlichkeit; denn sie gerade sind es, welche neue Formen der Flucht der Staatsgewalt i n den gesellschaftlichen Zwang entwickelt haben und so ihren Bürgern die Illusion der Machtlosigkeit vorspiegeln. Da sind die Bürgerkomitees und „gesellschaftlichen Organisationen", staatlich ferngesteuerte Gewerkschaften, privat wirkende Riesenfonds von Bürgereröparnissen. Doch gerade all dies entlarvt ein grundsätzlich-anarchisches Denken als Form der Herrschaft und bekämpft sie m i t derselben Verneinung, welche die Anarchie der Polizei- und Militärgewalt entgegensetzt. Die kommunistische Anarchie fand einst ihre größte Rechtfertigung i n der Zerstörung jener „liberalistischen Gewalt", die einer kleinen Bourgeoisie kontrollfreies Belieben auf Kosten anderer ermöglichte. Das anarchische Denken trägt aber weiter — es wendet sich auch gegen die neuen sozialistischen Formen der sozialen Gewalt. Dort, wo von Emanzipation, von Mündigkeit die Rede ist, w i r d diese Allseitigkeit der Herrschaftsverneinung ganz deutlich: Wer Kinder antiautoritär erziehen w i l l , kann keinen Unterschied machen, ob er ihr Selbstbewußtsein stärkt gegen einen Polizisten, einen Kultusminister oder den Vater. Wer zum großen Streik aufruft, darf nicht ständig überlegen, ob diese Bewegung etwa „politisch" dadurch werden könnte, daß sie sich gegen Parlament und Staat wendet, oder ob sie allein den A r beitgeber trifft. Er wendet sich eben — allseitig und unbedingt — „dagegen". b) Totale
Ablehnung
Anarchisches Denken bricht immer dort auf, wo die totale Ablehnung der herrschaftsgeschaffenen Ordnung beginnt, wo sie jedenfalls nicht ausgeschlossen wird. Einem solchen Denken ist der Mittelweg völlig fremd, es w i l l nicht „mehr Freiheit", sondern „die Freiheit". Da w i r d freilich noch nicht immer die systematische, totale Herrschaftslosigkeit auf allen Gebieten erstrebt, total ist vielmehr zunächst nur das „konkrete Freiheitsstreben", die Ungebundenheit i m Augenblick, die bleiben soll, damit er schön sei. Man w i l l überhaupt auf niemanden hören dort, wo man lagert; die „eigene Lösung" möchte man durchsetzen, gleich, was i m Umkreis i n Scherben fällt. Die Anarchie hat hier etwas wie das „kleine Absolute" entdeckt, sie denkt nicht i n den Kategorien eines staatlichen Gesamtsystems, sie fragt nicht, was dem Bürger i n der nächsten Stunde, i n seiner nächsten Gemeinschaftsrolle an Bindungen 3*
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. Anarchie — die radikale, systematische Herrschaftserneinung
vielleicht wieder begegnen w i r d — hic et nunc w i l l sie frei machen, dies aber total. Damit gerade ist sie die Antithese aller heute bedeutenden Staatlichkeit: Zum Parlamentarismus ist sie ein Widerspruch, schon weil sie eine seiner Grundformen ablehnt, den Kompromiß. Das Gespräch mag sie pflegen, den Dialog als Grundlage künftiger Ordnung, die sich „ i n der Mitte bildet", muß sie verwerfen. Dem Rätestaat aber bleibt sie stets ein Dorn, weil nicht nur seine Macht, sondern geradezu seine Legitimität i n seiner Radikalität liegt, mehr noch: i m Monopol des Radikalen. Und da t r i t t nun i n der Anarchie eine Gegenradikalität auf, ihr allein muß sich zeitweise sogar dieses Regime beugen; die polnischen Streiks zu Beginn der 80er Jahre beweisen es. c) Anarchie — immer grundsätzlich Anarchie mag „irgendwo i m Kleinen beginnen" — diesen Namen aber verdient sie nur dort, wo ein geradezu weltanschaulich begründetes Nein zur Herrschaft gesprochen wird. Anarchie ist nie Zufall, sie ist stets Grundsatz. Diese Gedanken leiden nicht an den Schwächen des Opportunismus, sie wollen auch nicht eine bessere Lösung, sondern die allein richtige bieten. Für sie macht Gewalt böse und Ordnung schwach, sie nehmen jenes tiefe, vielleicht ewige Mißtrauen des Menschen gegen eine Politik auf, welche verdirbt. Dieses Denken bietet eine echte Entwicklungstheorie der Macht an: Sie hat sich schon überlebt, und sie w i r d sich immer schneller überleben, dies w i r d m i t der Sicherheit der rechnenden Weltanschauung gesehen. Der Mißerfolg des Heute, ein Sieg der Macht über die Anarchie — all dies erscheint als vorübergehend, und wie alle großen politischen Bewegungen lebt auch die Anarchie, die große Gegenbewegung gegen den Gleichheitsstaat, auf ein Fernziel zu, daher kann sie i n der Gegenwart geschlagen, nie aber vernichtet werden. Die Streiks und Aufstände von 1905 mochte das zaristische Rußland brechen; doch hinter ihnen stand und blieb die Sicherheit einer späteren größeren Freiheit, bis hinein i n die Anarchie, i n welcher jede künftige Macht verdämmern sollte. Die Anarchie kennt keine formierte Weltanschauung i m Sinne eines philosophischen Systems; sie lebt aus großen und fernen Wunschvorstellungen der Menschen, sie macht die Utopie zum Ideal, dem man sich nähert, immer weil es nie erreicht wird. Da sind die uralten und religiös fundierten Paradiesvorstellungen, Löwe und Lamm nebeneinander; da sind die historischen Anfangsvorstellungen jener „goldenen Zeiten", die uns noch immer begleiten, von den minoischen und asiatischen Königspalästen bis zu der schon viel greifbareren goldenen Zeit der römischen
2. Anarchie — totale, systematische Verneinung aller Herrschaft
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Kaiser und der jahrhundertelangen Pax Romana. Überall dort war Herrschaft, sehr viel sogar von ihr; doch irgendwie schien sie selbstverständlich zu sein, und ihre Konturen verlieren sich i n der Geschichte, während die Erinnerung an ein glückliches herrschaftsloses Nebeneinander bleibt. Die Geschichtsvision des wissenschaftlichen Historikers, der die Herrschaftsformen heraushebt, ja überbetont, bis h i n zur Historie als Kriegsgeschichte — sie hat gar nichts gemein mit einer anderen Geschichte, die i n Geschichtenform weitererzählt wird, welche i n der Vorstellung der Großmütter und Enkel sich fortsetzt, und i n ihr ist das herrschaftslose, goldene Leben, nicht Schlachten, Verwaltungen und Triumphe. Man mag einwenden, Herrschaftsromantik sei noch nicht Weltanschauung der Anarchie; daß es hier Verbindungen gibt, läßt sich kaum bestreiten. Und i n einem findet die Anarchie einen vielleicht auch romantischen, aber doch recht greifbaren Ansatzpunkt echter moderner Weltanschauung: i m Pazifismus unserer Tage. Hier ist der Glaube an den friedlichen Löwen politische Macht geworden; hier soll K o n f l i k t losigkeit erreicht werden, gefordert w i r d i m Grunde nur — Herrschaftslosigkeit. Hier muß ein Nebeneinander der Bürger und Völker angestrebt werden, i n dem geglättet w i r d bis zur Beziehungslosigkeit — und was wäre Anarchie eigentlich anderes? So greift denn die wahre Anarchie die Herrschaft i n all ihren Zentren an, und, was noch wichtiger ist, m i t jener Systematik, welche Herrschaft eben konstituiert: Sie leugnet ihre Notwendigkeit — denn Herrschaft w i r d und muß sich überleben. Religiöse Fundierung der Macht ist ihr nicht heilig, denn Macht ist ja gerade von Übel, Anarchie ist das „ A n ticharismatische par excellence". Das Ecrasez l'Infame hat schon eine Religion gebrochen; hat es die Macht, die Macht zu entzaubern? A n archie greift schließlich den Staat bei seiner romantischen Grundlegung an, i n seinem säkularisierten Glaubenssubstrat. Könige werden erschlagen, auf Volksführer w i r d geschossen — gegen die Romantik von Thron und Basis w i r d die Gegenromantik des Menschen eingesetzt, der i n den bindungslosen Naturzustand zurückfallen w i l l . d) Die „anarchische HochrechnungVom punktuellen zur allgemeinen Herrschaftsablehnung
Widerstand
„ . . . so hat es doch Methode", dieses unfaßbare Anarchische. Es wendet sich gegen jede Form der Macht, jede von ihnen sucht es völlig zu zerstören, und stets aus grundsätzlicher Überzeugung. Darin liegt etwas wirklich Systematisches: I m Kampf gegen ein Machtphänomen liegt die Ablehnung der Macht als solcher — und dies ist der eigentliche Kern des anarchischen Denkens. Es greift ungeordnet zu, doch
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. Anarchie — die radikale, systematische H e r r s c h a f t s e r n e i n u n g
immer w i l l es die ganze Ordnung schlagen, und sei es auch i m Kleinsten. Wo immer jene Phänomene auftreten, die vorstehend beschrieben wurden, die Ablehnung des Charismatischen, die Entzauberung der Macht, der Glaube an den künftigen Machtabbau, an den Frieden, überall dort ist „irgendwie Anarchie", und zwar stets dann, wenn etwas stattfindet i n der Herrschaftsabschwächung, was man das „Hochrechnen der Herrschaftsverneinung" nennen könnte: Eine Erscheinungsform w i r d als pars pro toto gewollt, es ist der Herrschaftskampf „des als ob . . . alle Herrschaft geschlagen werden müßte". Angegriffen w i r d der Polizist, der Haß richtet sich auf alle Ordnungshüter, eigentlich gilt er dem Staat. Verängstigte, ruhesuchende Demokraten sehen hier eine „Entgleisung", eine „Demonstration hat friedlich begonnen, sie ufert i n Anarchie aus"; und sie erkennen nicht, daß Entgleisen und Ausufern das eigentlich Politische waren, daß ihre „friedliche Demonstration" im Grunde nichts wäre als eine kastrierte Manifestation, für jene, welche die überschießende Kraft der Anarchie, vielleicht auch nur — w i r k licher Politik zum Einsatz gebracht haben. Wer i n politischer Betrachtung nicht zu solcher Hochrechnung fähig ist, sondern stets herunterspielen, begrenzen, isolieren w i l l , der denkt i n den Kategorien des liberalen Staates, nicht der anarchischen Bewegung. Doch i m Grunde hat er nur seinen Kästchen und Kategorien einen begrifflichen Tribut entrichtet; die machtauflösende Machtdemonstration ist an i h m vorübergezogen. Vielleicht w i r d sie bald zurückkehren. So mag uns dies i n alle folgenden Betrachtungen begleiten: W i r begegnen Freiheitsversuchen, Ungebundenheitsstreben i n Grenzen — doch w i r dürfen uns dabei nicht beruhigen, müssen immer den Versuch der Hochrechnung zur Anarchie machen, nur dann erschließt sich uns dieses größere Phänomen. Er mag zehnmal scheitern oder übersteigert sein; wenn nur i n diesen Erscheinungen „etwas ist von Anarchie", so lohnen sie die Betrachtung i n diesem unserem Zusammenhang. Denn der Anarchie ist eben die Sprengkraft eigen, von kleinen Ladungen zu riesigen Verwüstungen. Und zur Beruhigung und Bewältigung haben w i r ja das klassische, ent-sorgende Staatsrecht... 3. Anarchiephänomene — Erscheinungsformen des Unfaßbaren a) Erfassung der Anarchie in rechtlichem
Denken?
Die Anarchie ist mit den institutionellen Begriffen des Staatsrechts und der Staatstheorie, der Staatswissenschaften überhaupt, kaum erfaßbar, und dies hat vor allem folgende Gründe;
3. Anarchiephänomene — Erscheinungsformen des Unfaßbaren
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— Anarchie ist ein antiherrschaftlicher, damit aber ein antistaatlicher, ja ein antijuristischer Begriff. Wie sollte er also m i t jenen staatsrechtlichen Kategorien erfaßt werden, deren Ordnungssystem hier doch gerade und radikal abgelehnt wird? I n der Definition liegt ja bereits ein erstes Ordnen, und auf der Ordnungsmacht dieser Begriffe, welche zum Herrschaftsinstrument werden, beruht die gesamte verfeinerte moderne Staatlichkeit der Demokratie. Anarchie definieren wollen muß also notwendig heißen, daß man ihr Wesen verfehlt. — Selbst eine Beschreibung als einheitliche Erscheinungsform jedoch ist nahezu unmöglich, weil sie i n ihrem Kern etwas Negatives sein w i l l . Als Gesamtzustand kann man sie allenfalls verstehen als ein möglichst beziehungsloses Nebeneinander der Individuen. I n Erscheinung t r i t t sie als ein Bündel von Phänomenen herrschaftsabschwächender Kraft, welche aus einem „reinen Individualismus" kommen. Sichtbar, mehr noch: fühlbar w i r d dies eigentlich nur i n der Herrschaftssabotage, nie i n einem Herrschaftsvorschlag. Das Recht als die Kunst des irgendwie doch immer positiven Befehls kann daher Anarchie letztlich nur als seine Abschwächung — einzugrenzen versuchen. Damit aber w i r d es der Gesamterscheinung nie voll gerecht. — Anarchie ist bisher, i n der neuesten Zeit wenigstens, fast immer nur historisch, kaum je dogmatisch betrachtet worden. Weil man sie dort auf das Phänomen des Anarchismus beschränkte, wurde sie zur Randerscheinung, zu etwas bereits Überwundenem. So ist denn die Anarchie i m wahren Sinne des Wortes heute ein verschüttetes politisches Phänomen, das nur da und dort einmal i n Eruptionen sichtbar wird, unvorhersehbar erschütternd, da geistig nicht bewältigt. Juristische Archäologie i n solcher politischer Kraterlandschaft ist ein geistiges Wagnis, das kaum gelingen kann. So muß es diese Untersuchung denn zufrieden sein, wenn die Gefahr des Terrains deutlich wird. — Wie alle politischen Bewegungen von Bedeutung w i r d Anarchie stets von geistigen Menschen angestoßen, weitergetragen; doch sie ist ganz wesentlich eine Bewegung nicht „von unten", sondern „des Unten". Dort w i r k t sie am stärksten und überzeugendsten, am reinsten, wo am wenigsten gedacht, wo am unmittelbarsten, einfach total gehandelt wird: i m Streik, i n der bewaffneten Aktion, i m einfachen sich-Ausleben. Doch all dies ist kaum denkbar, geschweige denn dogmatisierbar. I m Unterricht i n Anarchie haben die Terroristen der neuesten Zeit versagt, selbst jene, welche Maschinengewehre zu handhaben wußten. Und dies war und w i r d immer sein
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. Anarchie — die radikale, systematische H e r r s c h a f t s e r n e i n u g
ein selbstverständliches Schicksal allen „anarchischen Denkens". Denn es verliert eben ganz notwendig den Kontakt zum „Unten", es w i r d hinaufgehoben i n den Bereich der Gedanken, und dort w i r d es — sogleich umfunktioniert, es w i r d zur Freiheit, dann zum Ordnungsdenken der Freiheit, zur Ordnung, zur Herrschaft. Die Ordnungsidee der Freiheit ist i n dieser Sicht der große Verrat an der anarchischen Idee. Diese w i l l die reine Unordnung, i n der Herrschaft unmöglich wird, sie w i l l nicht nebeneinanderstellen und jedem seinen Raum geben. I h r Wesen liegt i m „Hinhauen der A r beit", i n der Zerstörung des Kraftwerks, auch wenn kein Strom mehr fließt; und echter Anarchismus hat i n den Tagen der Studentenunruhen an die Mauern der Universitäten geschrieben: „Nieder mit der Religion des Wissens": Lieber soll auf Kenntnisse verzichtet werden, auf geistige Freiheit, als daß sich neue Herrschaftsformen i n eben diesem ordnenden Geist entwickeln. Kein Miteinander gibt es hier, keine Kommunikation muß verfeinert werden, damit doch wieder der eine über den anderen Macht gewinne; hier w i r d das reine Nebeneinander gepredigt oder ein Miteinander, i n dem nur Ströme sind, keine Ordnungen; und man wende nicht ein, derartiges sei uns unbekannt: Hat eigentlich das Christentum etwas anderes gewollt i n seiner anarchisierenden Nächstenliebe des Strömens und Verströmens — bis auch diese Liebe wieder kanalisiert wurde i n die Lex Charitatis? Ist es nicht schon eine geistige Daseinsberechtigung für die Anarchie, daß ein solcher Begriff überhaupt hat geprägt werden können? — W i r können eben nur denken i n Recht und Gesetz, i n Normen, A n archie aber bedeutet die radikale Ablehnung des Normativen. Ihr ist der Imperativ etwas völlig Künstliches, er ist wirklich vom gestirnten Himmel geholt und sollte auf dieser Erde keinen Platz haben. Anarchie fordert totalen Respekt der Persönlichkeit, nicht i n einer teilweisen Freiheit, die sofort wieder zum Ordnungstatbestand wird, nicht i n einem Persönlichkeitsrecht, das schon wieder i n zahllose Tatbestände aufgelöst worden ist. Und hier werden unsere Verständnisschwierigkeiten besonders deutlich: Seit Jahrhunderten gewohnt, nurmehr juristisch i n Normbefehlen zu denken, haben w i r kaum mehr ein Organ für den w i r k lich punktuellen Befehl, der einen flüchtigen, wenn auch vielleicht starken Kontakt bedeutet. W i r werden erst dann Anarchie verstehen lernen, wenn w i r von den Normen weg denken, h i n zur wesentlichen und unverwechselbaren Einzelaktion; denn Anarchie ist nicht so sehr Befehlslosigkeit, als vielmehr Herrschaftsfreiheit, und beides ist nicht identisch. Kontakte werden auch i n anarchischen Zuständen zwischen Bürgern immer sein, vielleicht sogar einzelne
3. Anarchiephänomene — Erscheinungsformen des Unfaßbaren
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Anordnungen, welche diejenigen zusammenhalten, die gemeinsam gegen jede Herrschaft demonstrieren. Dies ist eben nicht die Herrschaft auf Dauer, die komplizierte, systematische Ordnung. Vielleicht käme man der Anarchie entscheidend näher, wollte man sie nicht immer als den totalen Naturzustand ansehen, sondern als eine Verdünnung der systematischen Herrschaft, der vielfach verschränkten und auf Dauer berechneten Befehlslage. Dem punktuellen Befehl mag man sich beugen, doch man kann sich ihm später wieder entziehen; und auch darin liegt Anarchie. Nur dort, wo die Allgegenwart der Ordnung beginnt, das Eingespanntsein in einen Zusammenhang, wo die Grenzen überhandnehmen und die Ordnungen überall sind — da regt sich der anarchische Widerstand. Und damit w i r d eigentlich die Anarchie doch zu etwas weit Realerem, sie w i r d machbar und wünschbar. Der Anarchie genügt es schon, wenn es nicht zu einer Ordnung kommt, wo i m Zweifel überall der Befehl ist. Und so ist denn die Auflehnung gegen die Norm das Zentrum der eigentlichen Anarchie. Der Einzelbefehl w i r d ertragen wie das Schicksal des einzelnen Windstoßes; die lastenden Wolken und der Dauersturm deprimieren wirklich den Menschen, dies mag für anarchische Uberzeugung stehen. Daran aber sehen w i r erst, wie oft und wie viel w i r alle i n anarchischen Kategorien denken, wenn es so etwas gibt. Selbst unser Reflex gegen Allgegenwart und Allmacht der Normen trägt i n seinem Zentrum echte Anarchie. W i r sollten uns mehr als bisher überlegen, ob w i r nicht durch unser Normdenken bereits denaturiert sind, unfähig geworden für eine ganz andere, vielleicht doch auch mögliche — Jurisprudenz sogar, für Formen von Einzelbefehlen, nicht von systematischen Herrschaftsordnungen. Weil dies nicht die einzigen möglichen Denkformen sind, deshalb w i r d es immer wieder zu anarchischen Stößen kommen, immer stärker, je mehr sich der Normativismus verdichtet. b) Erscheinungen der Anarchie — vom Widerstand bis zur „Staat gewordenen Freiheit" Nach diesen allgemeineren Betrachtungen wollen w i r die wichtigsten praktischen Erscheinungsformen des Anarchischen beschreiben — und letztlich doch ordnen, was vermöchten w i r auch anderes . . . — Greifbar w i r d Anarchie am deutlichsten i m offenen Aufstand gegen die Macht. Wenn w i r hochrechnen von der einzelnen Erscheinung zum größeren Ziel, so gibt es keinen Unterschied zwischen dem Aufstehen des Einzelnen gegen den Staat i n der Terroraktion, dem partiell-kollektiven Widerstand, wie er sich i n der gewaltsamen
. Anarchie — die radikale, systematische Herrschaftserneinung
Demonstration zeigt, und dem total-kollektiven Aufruhr, welcher sich vom Generalstreik bis zur Revolution bewegt. I n all dem ist reiner Widerstand, das wesentlich Zerstörende, das absolut Alternativlose; Ordnungslosigkeit w i r d gewünscht, i n Kauf genommen, hergestellt. Anarchische Bewegungen finden sich auch i n neueren Formen des Widerstandes gegen die Staatsgewalt, welche zwar der lastenden, perfektionierten Souveränität nicht offen entgegentreten können, sie aber dennoch mit einem absoluten Freiheitsanspruch i n Frage stellen. Der sogenannte Steuerwiderstand i n seinen vielfältigen Formen, von der Hinterziehung über die Flucht bis zu Säumnissen, Ausweichmanövern und schließlich systematischer, „legaler" Rechtsmittelgegenwehr gehört ebenso hierher wie andere, noch weit weniger erforschte, ja kaum benannte Widerstandsformen. Schon heute aber gibt es etwas wie einen Bauwiderstand, einen Umweltwiderstand usw. usf. — überall dort, wo die staatlichen Hoheitsveranstaltungen eine besondere Dichte erreichen, als übermäßig systematisch und lastend empfunden werden, regt sich jener Ausbruchswille, der nicht nur das ganze Regelungsnetz i n Frage stellt, sondern letztlich jene Staatsgewalt, welche sich damit hier i n besonderer Form identifiziert, auf solche Weise eben „ i n Erscheinung t r i t t " . Ähnlich zu bewerten sind jene vielfachen Formen der „nichtdurchsetzbaren Macht", der unbewehrten, ja wehrlosen Gewalt, der „Potestas imperfecta". Sie findet sich nicht nur dort, wo die Herrschaft sich offensichtlich zu weit vorgeschoben hat, wo sie vom Bürger systematisch mißachtet w i r d und daher, über mehr oder weniger willkürliche Stichproben, ein Terrain nicht besetzen, sondern nur noch beschießen kann, wie i m früheren Kampf gegen die Schwangerschaftsunterbrechung oder bei den Zollgrenzkontrollen i m Massentourismus. Nicht durchsetzbare Macht ist überall dort, wo sich ein Nichtbefolgungskonsens, punktuell oder allgemeiner, entwickelt hat, wo die Staatsgewalt nicht eingreifen kann oder w i l l , von den Fußgängerwegen, welche durch Radsportler und Motorradfahrer benutzt werden, bis zum Rückzug der Ordnungskräfte vor Massendemonstrationen, u m Schlimmstes zu verhüten. I n all dem ist nicht etwa die Machtausübung an sich unmöglich geworden, weil sie sich übersteigert, technisch Irreales sich vorgenommen hätte, wie etwa in der grundsätzlichen Vorlagepflicht aller Belege i m Steuerrecht, die doch praktisch durch Verwaltungsanweisungen entscheidend abgemildert wird. Die nicht durchsetzbare Gewalt w i l l wirken, doch sie scheitert am Gegenwillen des Bürgers, der m i t gleichem Absolutheitsanspruch, als echte Gegengewalt auftritt, immer frontal, stets unbedingt. Daß derartige Widerstände, verallgemeinert und syste-
3. Anarchiephänomene — Erscheinungsformen des Unfaßbaren
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matisiert, den Anfang des offenen Aufruhrs bedeuten, steht außer Frage. Erscheinungsformen systematischen Anarchiewillens könnten aber auch dort sein, wo der Widerstand nur versteckt auftritt und sich wohl hütet, systematische Staatsverneinung zu predigen. Das Wesen der Anarchie liegt ja gerade darin, daß sie leicht vom zähen Widerstreben zum offenen Aufruhr übergeht. — Die Ubersteigerung staatsgewährter Individualfreiheiten w i r d oft und durchaus zu Recht als Beginn anarchischer Bewegungen verstanden. Hierher gehören der generalisierte Streik, eine allgemeine Inanspruchnahme des Rechts der Kriegsdienstverweigerung, aber auch jene Auswüchse des liberalen Eigentumsbeliebens, welche i n einem Wirtschaftsdschungel enden, i n den der Staat immer wieder einige Bahnen schlagen muß. Dies alles erscheint als Mißbrauch staatsgewährter Freiheiten, i n Wirklichkeit handelt es sich weit mehr u m Phänomene staatsgeduldeter Anarchie, welche die Macht mühsam i n Grenzen halten w i l l , mit mehr oder minder Erfolg. Daß dies alles, von der Freiheit her, als Übersteigerung definiert wird, ist zwar eine dogmatische Möglichkeit, real gesehen aber oft nur ein Kunstgriff, der gerade bei den sozialen Auseinandersetzungen als solcher offenbar wird: Der A n archie müssen institutionelle Zugeständnisse gemacht werden, je nach dem Grade der erreichten Emanzipation — man nennt das dann Freiheit. Die Proteste staatssensibler Denker und Bürger gegen solche „Freiheiten", seit zwei Jahrhunderten, zeigen es deutlich: Libertät ist hier vielleicht nur ein Wort für den Rückzug der Macht vor dem A n spruch der Herrschaftslosigkeit. — Doch der Staat muß noch weiter entgegenkommen, er muß sich gewissen Formen der Anarchie selbst öffnen, ihren Einbau in seine eigenen Befehlsstrukturen versuchen, u m die größere Anarchie vermeiden zu können: Es kommt zu den „Herrschaftsformen der institutionalisierten Anarchie", denen w i r bei unseren Betrachtungen immer wieder begegnen werden. Hier sind angebliche Freiheiten, i n Wahrheit partielle Anarchiephänomene, bereits zu neuen Herrschaftsformen umgebildet, ja sie werden zu Zentren neuer Staatlichkeit, wie etwa i n jenen Autonomien, welche über Kommunalisierung und Föderalisierung sogar die Staatsform i m Bundesstaat entscheidend prägen; auch i n ihnen werden w i r wahre A n archieformen kennenlernen. Noch deutlicher w i r d all dies in jener modernen Form der „Betroffenendemokratie", welche zwar die Spielregeln der Volksherrschaft formal beachtet, i n Wahrheit jedoch
in einem entscheidenden Punkt von dieser abrückt; in der Veren-
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. Anarchie — die radikale, systematische Herrschaftserneinung
gung des Kreises der Entscheidungsberechtigten auf diejenigen, welche unmittelbar durch die Eingriffe berührt werden. Liegt darin nicht ein wesentlicher Abbau der „Fremdbestimmung", damit aber ein Entgegenkommen gegenüber einer systematischen Anarchie, welche zuallererst jede Form der Fremdbestimmung zurückweist?
4. Keine Solidarität — volle Freiheit nach dem Maße des Einzelnen! a) Anarchie — Absage an jede Solidarität Anarchie bedeutet eine letzte, aber völlige Absage an alle Formen einer wie immer — und meist ja unklar — bestimmten Solidarität. Ihr Nebeneinander kann eben nicht dadurch zum notwendigen Miteinander werden, daß man irgendeine, angeblich notwendige, Interessengemeinschaft konstruiert und sie dem emanzipierten Bürger oktroyiert. Anarchie bedeutet ja vor allem die Ablehnung angeblicher „natürlicher Interessengemeinschaften", von Arbeitnehmern oder Arbeitgebern, in Berufsverbänden, nach politisch-religiösen Überzeugungen. Wer derartige „natürliche Gemeinschaften" bildet oder anerkennt, der setzt letztlich auch wieder nichts anderes ein als ordnende Herrschaft. Das ganze Reden von der Rezeption außerrechtlicher Sachverhalte in das Recht kann ja nicht verschleiern, daß das Entscheidende i n der Übernahme liegt: Die Ordnungskräfte i n der Gemeinschaft ordnen eben an, daß nunmehr die Arbeitnehmer öder die Berufsgruppe X diese oder jene gemeinsamen Interessen zu verfolgen haben, weil sie diese angeblich ständig verfolgen. Ob dem wirklich so ist, bleibt eine reine Tatfrage, gegen die Forderung grundsätzlicher Ungebundenheit i n der Anarchie besagt es gar nichts; und wenn es nunmehr zur Verhaltensnorm werden sollte, so w i r d eben die Solidarität als Herrschaftsform ganz offenkundig, sie ist sogar besonders lastend, denn es w i r d ja keine „politische" Diskussion, kein Widerspruch mehr gegen das zugelassen, was man einfach als das „Natürliche", von jeher Geübte unterstellt. Politisch liegt eben i n der vielerörterten „Übernahme außerrechtlicher Sachverhalte ins Recht" keine Vernatürlichung des Rechts, kein Abbau juristischer Imperative, sondern meist nur eines: eine Herrschaftsverstärkung durch Abbruch jeder politischen Diskussion über die Begründetheit der Herrschaft. Alle Solidaritätsformen, wie immer begründet und gefordert, sind letztlich, aus der Sicht des anarchischen Denkens, nichts anderes als weitere und besonders gefährliche, weil schwer faßbare und indiskutable Formen eines „objektiven Rechts", das über die Bürger herr-
4. Keine Solidarität — volle Freiheit nach dem Maße des Einzelnen!
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schaftsmäßig ausgebreitet wird. Anarchie aber anerkennt kein objektives Recht, für sie gibt es nur subjektive Rechte; dies mag sie nicht definieren, es beschreibt sie gut. Und Anarchie w i r d durch Solidarität weder disziplinierbar realisierbar. b) Freiheit
ohne „mitgedachte
noch
Bindung"
Anarchie ist also der unbedingte Ausschluß jeder Fremdbestimmung, von wem immer sie ausgehen mag, und seien es auch die „eigenen Kreise", denn solche kann es für anarchisches Denken nicht geben. Hinter i h m steht eben eine, große, unteilbare Freiheit des Einzelmenschen, i n der nicht schon wieder Bindungen und Solidarismen mitgedacht sind. Auch darin liegt eine Annäherung an das Verständnis der Anarchie: Freiheit lebt letztlich nicht aus mitgedachter Bindung, i n ihr liegt nicht das Gesetz. Diese Vorstellung des großen deutschen Idealismus erscheint, aus anarchischer Sicht, als ein Abfall aus den Höhen des Geistigen, als ein niederes Zugeständnis an Realisierbarkeit und Praktikabilität. Anarchie unterwirft sich zwar der Bindung an den eigenen Willen, doch dieser darf eben niemals altruistisch entscheiden, das anarchische Gefühl ist der große politische Egoismus. Und hier geht es nicht darum, ob er sich durchsetzen kann, es gilt zu zeigen, wo er vordringt. Hier ist auch der Ort, u m einmal etwas Moralisches zugunsten jener vielgeschmähten Anarchie zu sagen: Sie verabsolutiert den Freiheitsbegriff, sie kommt i h m wirklich nahe, sie verhüllt die große Statue nicht i n immer neuen Bindungen. Darin liegt mehr als nur die Begeisterungskraft für die unbedingte, zu Ende gedachte Idee; hier ist etwas wahrhaft und zutiefst Humanistisches, ja Menschliches: jener Mensch als Maß aller politischen Dinge, den die Anarchie eben nur i m Einzelmenschen sehen zu können glaubt. Die Freiheit nach dem Maß dieses Menschen ist es, welche hier erstrebt wird. Gegen das dynamische menschliche Machtstreben mit all seinen Unwägbarkeiten und Unfaßbarkeiten w i r d das einzige ebenso Dynamische eingesetzt: die geheimnisvolle Abwehrkraft der menschlichen Einzelpersönlichkeit mit all ihrer Unfaßbarkeit, und doch ihrem harten, unauflöslichen Kern der absoluten Freiheit. Es w i r d immer wieder schwerfallen, „Anarchie ins System zu bringen". Vielleicht kann dies überhaupt nur darin geschehen, daß hier der Mensch i n seiner vollen Individualität „sich zum eigenen System" w i r d — jeder einzelne Bürger. Und dies allerdings wäre dann ein höchst „konkretes Ordnungsdenken".
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. Anarchie — die radikale, systematische H e r r s c h a f t s e r n e i n u n g
5. Anarchie als Staatsziel — Legitimation der Herrschaftssysteme durch Herrschaftsverneinung Stünde Anarchie stets der Herrschaft nur gegenüber, würde sie nur von ihr bekämpft, so wäre sie in der Tat staatsgrundsätzlicher Betrachtung kaum zugänglich. Doch ihre wesentliche Wirkungsweise ist: Ihr Denken schiebt sich i n die Macht, und zwar soweit, daß sie geradezu zum Staatsziel wird, zur Legitimation unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Regime. Dazu hier nur einiges allgemein, u m die Dimension des Problems zu verdeutlichen. a) Alle Staatlichkeit — legitimiert als Weg zu höherer Herrschaf tslosigkeit Verbal w i r d die Anarchie i n jeder Staatsform abgelehnt, doch sie liegt irgendwie einer jeden zugrunde, und zwar, i n eigenartiger Form, i n den „letzten Ziel Vorstellungen", i n den Staatsidealen der Regime selbst: I m Westen dient die Herrschaft der „Freiheit", also doch einer Teil-Anarchie, i m Osten soll sogar die Staatsgewalt als solche absterben, wieder durch die lastende Herrschaft des Heute. Nun kann darin sicher auch nur eines liegen: eine raffinierte Form der Herrschaftsverschleierung. Indem ein hohes oder gar unerreichbares Ideal der Herrschaftslosigkeit gepriesen, alle Macht auf dieses Ziel h i n eingesetzt wird, scheinen die Eingriffe des Staates hier und heute erträglich und legitim. Da kann die Polizei immer mehr reglementieren — damit die Umwelt frei und offen sei, i n einer A r t von schrankenloser Paradiesannäherung. Da mögen Lager bestehen und Zensur — damit die Feinde der Gleichheit nicht das Haupt heben und damit den Endzustand der kommunistischen Freiheit i n Gleichheit noch weiter hinausschieben, i n dem es dann keine Gewalt mehr geben wird. Die idealistische Staatsphilosophie ist von Anfang an davon ausgegangen, daß das Staatsideal etwas Anziehendes habe, daß es zwar nie voll, aber doch i n immer größerer Annäherung zu verwirklichen sei. Vielleicht aber gibt es auch den umgekehrten, den „zentrifugalen Effekt der Staatsideale", die nur heute anziehen — i m Namen später erstrebter Herrschaftslosigkeit: Sie „rechtfertigen einstweilen die Gewalt zur Herstellung späterer Gewaltlosigkeit", und nachdem der herrschaftslose Zustand noch so weit entfernt ist, kann, ja muß sich die Herrschaft heute wohl einrichten. Die künftige Anarchie w i r d zur gegenwärtigen Herrschaftsentschuldigung. Doch da ist nicht immer nur raffinierte Machtcamouflage. Der Idee nach w i r d ja Gewaltintensivierung zur Erreichung der „größeren Frei-
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5. Anarchìe als Staatsziel
heit", etwa des endgültigen Kommunismus, eingesetzt; dieser Fernzustand erscheint zwar nur als höchste Steigerungsform bisheriger Staatlichkeit — eines Tages soll aber doch der Umschlag i n die totale Antithese eintreten, wäre sie je erreichbar. A l l e Regime gehen also, und i m letzten sogar überzeugt, von einem Begriff der „Macht zur Herstellung von Machtlosigkeit" aus, der „reinen Gewalt" können sie irgendwie nicht ins Gesicht schauen. Deshalb ist für sie dann das Staatsideal, welches der anarchischen Herrschaftslosigkeit nahekommt, i m Grunde nur eine Steigerung, eine Vollendung, nicht der Umschlag ins Gegenteil. Mit anderen Worten: Das Staatsideal erscheint der klassischen Staatslehre stets als Herrschaftsvollendung, während es so oft, nach seinem eigentlichen Selbstverständnis, Herrschaftsantithese ist — ein Beitrag zu einer Theorie der geistigen Entwicklung i n Antithesen, nicht i n steigernden Perfektionierungen. Von hier aus führt Anarchiedenken zu weiteren grundsätzlichen Überlegungen über die Bedeutung von Staatsidealen und Staatszielen: Vielleicht sind sie mehr als nur Ausdruck einer Haßliebe der Herrschaft zu ihrem Gegentyp, der Herrschaftslosigkeit; vielleicht zeigen sie etwas, das jeder Herrschaft wesentlich ist: daß sie zu ihrer eigenen Uberwindung, ihrer eigenen Verneinung tendiert. Wenn der Geist die reine Gewalt nicht denken kann, wenn er sie dem schaffenden A r m überläßt, so ist es verständlich, daß, jenseits von allem Machteinsatz i n praktischen Dingen, stets eine Machtverneinung angestrebt werden muß. Sie mag „theoretisch" bleiben i n dem Sinne, daß die tagtägliche Gewaltanwendung immer weitergeht; doch diese w i r d durch den Blick auf das Ideal unter einen großen und ständig schwächenden Vorbehalt gestellt: Die reine Macht, die volle Gewalt, den absoluten Krieg kann es nicht geben, am Ende steht irgendwo immer ein theoretischer, wenn auch nur i n Hoffnung wirkender Friede. Dies alles ist weit mehr als Theorie. I n der Praxis könnte wohl gezeigt werden, daß es etwas wie eine „Nichtausschöpfbarkeit" von Befugnissen, Kompetenzen, von Macht i n nahezu allen Bereichen gibt, mag man hier von einer rule of reason sprechen, von der Natur der Sache oder es sonstwie benennen. I n die Machtäußerungen hinein, i n sie alle, w i r k t hier letztlich wohl nur eines: die Ausstrahlung des höchsten Staatsideals der Machtüberhöhung, der Machtnegation. So ist denn i n den Staatsidealen die Anarchie gegenwärtig, über sie w i r k t sie i n jede Machtäußerung irgendwie hinein. b) Kommunismus
— legitimiert
durch den „sterbenden
Staat"
Wie politische Regime i n gewissem Sinne geradezu „aus jener A n archie" leben, welche sie doch so mächtig bekämpfen, zeigt sich deutlich
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. Anarchie — die radikale, systematische Herrschaftserneinung
i m Kommunismus. Da ist nicht nur das versprochene Absterben des Staates und all seiner Macht i n der Endphase der Staatlichkeit. Der Machtabbau i n Richtung auf diese Endanarchie hat bereits begonnen, i n der „Solidarisierung", i n der Betroffenen-Demokratie an der Basis, i m gesamten Aufbau der Rätestaatlichkeit. Überall w i r d ja egalisiert, damit aber sollen Menschen nebeneinander gestellt, Macht zwischen ihnen abgebaut werden. Egalisierung nicht als Herrschaft, sondern als Herrschaftslosigkeit, als echte Anarchieform — dies ist der Glaube, die ganze Legitimation der kommunistischen Herrschaft. I n gewissem Sinne mag diese kommunistische Machtausübung sogar schon heute als eine Spielart der Anarchie erscheinen: Diese w i l l die Herrschaftslosigkeit, der organisierte Kommunismus die Herrschaftsunfühlbarkeit — ist aber beides letztlich für den Bürger nicht dasselbe? I n der Anarchie soll jeder t u n was er w i l l ; auch i m Kommunismus vermag er dies, nur daß er eben nicht mehr wollen w i r d als das Gleiche, Gesetzliche. Wenn das Abweichen völlig unmöglich geworden ist, so bedarf es keines Verbotes mehr, die Ordnung des noch möglichen Beliebens stellt sich sozusagen ganz von selbst, irgendwie natürlich ein. Und wenn die Zäune hoch genug sind, so w i r d die Welt hinter ihnen nicht mehr sichtbar, Spiele i n ihren Grenzen laufen mit einer geradezu anarchischen Natürlichkeit ab. So w i r d von vielen sicher eine große Freiheit des Sowjetstaates gefühlt. Darin also steht der Kommunismus höher, ist er menschlich w i r k samer als der Faschismus, daß er die Ordnung nicht zum Selbstzweck erhebt, sondern sie sogar durch die Aufhebung des zu Ordnenden — i m Entzug etwa des größeren Besitzes — überflüssig macht; doch diese Überlegenheit kommt i h m woher? Aus seiner größeren geistigen Nähe zur Anarchie, zu welcher der Faschismus i n der Tat keinerlei Verhältnis hat. Vielleicht liegt die Todfeindschaft dieser beiden Regime gerade in ihrem unterschiedlichen Verhältnis zu anarchischem Denken. Der Faschismus, i n allen seinen Formen, bekämpft die Herrschaftsnegation durch den Einsatz immer stärkerer, immer reinerer, immer offenerer Macht, daher ist sein Endzustand w i r k l i c h die Militärdiktatur. Und er bricht sich letztlich auch nur an dem tiefen Mißtrauen der modernen emanzipierten Bürger gegen diese „Gewalt an sich". Der Kommunismus dagegen sucht immer weiter die Anlässe des Herrschens auszuschalten — und sei es auch m i t immer härterem Machteinsatz — die Besitzunterschiede, die Ungleichheiten zwischen den Menschen. U m Herrschaft aufzuheben, ist der wahre kommunistische Idealist sogar zu einer A r t von Selbstkastration bereit, zur Aufgabe jener Güter, die vor allem Ordnung verlangen und Macht. Damit er selbst nichts mehr Böses tun, nicht mehr über andere herrschen
£ Anarchie als Staatszièf
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kann, und damit ihm solches nicht von einer Staatsgewalt widerfahre, flieht er i n die Klöster der besitzlosen Staatlichkeit. Nur durch die legitimierende Kraft der Anarchie, und nicht nur der Hoffnung auf ihren Endzustand, halten sich wohl letztlich diese furchterregenden totalitären Machtregime, diese Klöster ohne Gott — weil eben Anarchie auf zwei Wegen erreichbar ist: indem man allen alles gestattet oder allen von Anfang an alles unmöglich macht. Und die große Hoffnung dieser Regime ist, daß die Freude an der Herrschaftslosigkeit größer ist als die Entbehrungen an Besitz und Freiheit. Ist dann aber Anarchie nicht ein legitimierendes Prinzip von höchster Geistigkeit, wenn es alles Materielle hinter sich läßt, wenn sogar sein großer Gegner, die Macht, nur aus i h m lebt? c) Private Freiheit — das liberale
Anarchieideal
Die legitimierende Kraft der Anarchie i n den „Freiheitsregimen" ist noch leichter nachzuweisen: Hier w i r d sogar der Versuch unternommen, anarchisches Denken i n die Staatsorganisation einzubauen. Die Demokratie insbesondere ist der Anarchie weit geöffnet, das w i r d sich i m folgenden zeigen; hier mögen einige allgemeinere Andeutungen genügen. Freiheit ist i n diesen Ordnungen die Grundlage und Legitimation aller Staatsgewalt. „Freiheit i n Bindung" aber kann doch wohl — Bindung begrifflich nicht legitimieren; die eigentliche Begründung muß also stets der bindungslosen Freiheit entnommen werden, darauf haben Theoretiker der „Freiheit i n Bindung" niemals genügend geachtet. Wenn das gesamte Verfassungssystem auf Grundrechten, damit aber auf Freiheiten errichtet werden soll, die letztlich vorgegeben sind, so kann doch auch hier nicht wohl ein Herrschafts-, ein Bindungsbegriff von vorneherein mitgedacht sein; denn welcher Gott wäre es denn, der den Menschen überstaatlich Herrschaft verordnete, welche Natur, i n welcher der Mensch schon mit Fesseln geboren würde! Den ersten Satz der universellen Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution haben die Theoretiker der „Freiheit i n Bindung" nie ernst genommen. Die Bindung muß also stets am Rande bleiben i n diesen Regimen, das Wesen, das eigentlich Gute ist jene Freiheit, welche auch die Anarchie meint, und keine andere. Durch das Private unterscheiden sich die Freiheitsregime von den Ordnungen des Sozialismus. Ist dies aber nicht ein wesentlich anarchischer Begriff? 4 Leisner
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. Anarchie — die radikale, systematische Herrschaftserneinung
Privatheit bedeutet, daß es Bindung nur über den eigenen Willen gibt, daß letztlich alle Ordnung über Verträge läuft. Kommt dies nicht einer Anarchie sehr nahe, die sich immer nur dem eigenen Willen beugen will? Private Ordnungen finden ihre Legitimation i n der Minimierung staatlicher Herrschaft, bis h i n zu deren grundsätzlicher Negation. Darin zumindestens doch finden sie Anschluß an anarchisches Denken, dem eben auch der Staat stets der nächste Gegner ist. Schließlich liegt i m Privaten die Vorstellung von einem Ordnungssystem, i n dem zwar Herrschaft ist, das aber letztlich doch einen irgendwie „frei sich haltenden und entfaltenden Lebensraum" darstellt; dies ist der tiefere Sinn der Lehren von der Selbstgesetzlichkeit des Privaten und des Marktes. Hier sind zwar soziale Zwänge und berechenbare Ordnungen, doch i n der Vorstellung von der Selbstgesetzlichkeit liegt eine Entbindung von Lasten der Staatsmacht, welche nur eine Annäherung an anarchische Vorstellungen bedeuten kann. Daß übrigens die „private Ordnung" eben auch eine A r t der Herrschaft sei, können und wollen gerade überzeugte Liberale nicht zugeben, während ihre marxistischen K r i t i k e r immer wieder versuchen, Privacy i n all ihren Formen als eine Herrschaftsentscheidung zu entlarven. Dann aber kann das Selbstverständnis der liberalen Freiheitsregime doch nur eines sein: das Private als ein echter Abglanz der Anarchie, nicht aber als eine Ordnungsform. Und wenn es sich dann auch noch als etwas „Natürliches" gegenüber jedem staatlichen Zwang rechtfertigen und so seine Überlegenheit beweisen soll — ist dann nicht gerade das wesentlich Anarchische auch noch das Höchste? Darin liegen auch deutliche Schwächen i n der freiheitlichen Demokratie, i n einer A r t von Schizophrenie ihres Machtverständnisses: Einerseits w i l l sie doch möglichst wenig Macht, prinzipiell nur Freiheit einsetzen — und zum anderen erklärt sie gerade dies als eine Grundentscheidung, als ein Ordnungsprinzip. I n dieser inneren Inkonsequenz w i r d sie nicht nur für ihre Gegner kritikabel, sie verliert auch entscheidend an Attraktivität. A n diesem Punkte wurde sie von den Idealisten der Gewaltlosigkeit verlassen, welche sich dem Terrorismus zuwandten, u m jene „echte Anarchie" herzustellen, welche die Demokratie offenbar durch ihre feinen, raffinierten Herrschaftsformen immer wieder zurückdrängt, obwohl sie sich i m Grundsätzlichen zu ihr bekennt; so erklären sich auch die ständigen Angriffe gegen die angebliche „Illiberalität" der Demokratie; die K r i t i k e r weichen hier selbst vor anarchistischen Konsequenzen nicht zurück, weil sie diese „eigentlich" i n den Grundvoraussetzungen der freiheitlichen Staatsform begründet sehen. I n ihren Stärken, der Leistungsfähigkeit des Privaten, wie i n ihren Schwächen, der Inkonsequenz mangelnder Liberalität — i n allem sind
6. Anarchie als System:
Sì
die Freiheitsregime stets geistig auf die Anarchie h i n ausgerichtet, i n einem engen und oft genug leidvollen Spannungsverhältnis. Ohne dieses Wort, das doch kaum ausgesprochen werden soll, wäre die freiheitliche Demokratie i n der geistigen Dimension vielleicht überhaupt ein Nichts. Seit Jahrzehnten w i r d zwischen Ost und West ein heftiger Kampf um den Freiheitsbegriff ausgetragen, beide Seiten möchten i h n besetzen. Doch i m Grunde wollen die Gegner der liberalen Volksherrschaft dieser Staatsform gar nicht so sehr eine „Freiheit" streitig machen, i n der immer „Bindungen mitgedacht" wären. Was sie ihr bestreiten, worin sie sie enttarnen wollen, ist ein anderes: nicht der Nimbus der Freiheit, sondern die Legitimation der Anarchie. Denn politisch und menschlich attraktiv ist nicht eine kettenbelastete Libertät, sondern das, was nicht gefesselt werden kann, weil es — vielleicht gar nicht faßbar ist, die Anarchie, bei der es auch für die Freiheitsregime heißt: I m mer daran denken, nie davon sprechen. So zeigt sich denn als Ergebnis: Anarchie w i r d überall ersehnt, selbst i n Regimen, welche sich erbittert befehden. Fast scheint es, als wollten sie i n ihrer Feindschaft sich nur ein höheres Ideal streitig machen: die Anarchie. Sollte sie wirklich der „streitige Staatsgrundsatz" sein, muß die A t t r a k t i v i t ä t einer Staatsform mit ihrer Nähe zur Anarchie zunehmen? Sollte i n diesem Sinne eine ganz einfache und weit verbreitete Uberzeugung richtig sein, daß Law and Order nicht nur kein politischer Selbstwert, sondern das Gegenteil eines solchen sind? Wenn das zutrifft, dann ist heute Anarchie schon fast von einem Konsens getragen, als Staatsziel, als Herrschaftslegitimation. Weil vielleicht Ordnung und Befehl immer nur der lieben kann, der sie g i b t . . .
6. Anarchie als System — die Grenzen der Ordnungslosigeit a) Anarchisches Ordnungsdenken
— eine mögliche Kategorie?
Die bisherigen allgemeineren Überlegungen haben versucht, i n erster Annäherung Aussagen über das Wesen des Anarchischen und seine wichtigsten Erscheinungsformen zu machen; dabei wurden zugleich Fragestellungen für die spätere Einzeluntersuchung sichtbar, i n welcher der „Anarchiegehalt" heutiger Erscheinungen und Institutionen des Staatsrechts aufgedeckt wird. Zwei Thesen lassen sich dafür vor allem formulieren: — Anarchie ist nicht nur ein Gegensatz zur Herrschaft, ihre Vorstellungen finden sich, weithin als solche nicht bewußt, i n den Erschei4*
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. Anarchie — die radikale, systematische Herrschaftserneinung
nungsformen der heutigen Herrschaft selbst, begründen diese sogar. Anarchie ist Gegenkraft und Bestandteil des Herrschens zugleich, besonders gefährlich als Kryptophänomen. — Gerade die liberale Demokratie öffnet sich dem anarchischen Denken besonders weit, nimmt es i n ihre Zielvorstellungen auf. Ihre „Verfassung" i m weitesten Sinn muß daher m i t besonderer Sorgfalt auf anarchische Erscheinungen untersucht werden. Doch nun ist noch eine dritte Frage zu stellen: Läßt sich die These aufstellen, Anarchie sei mehr als reine Ordnungsverneinung? Da das Anarchische überall, i n gegensätzlichen Regimen auftrete, ja deren Staatsideal i n gewissem Sinne konstituiere, müsse der Anarchie selbst eine gewisse systembildende Kraft zuerkannt werden. Ist sie nicht doch „ein mögliches System", kann nicht diese systematische Ordnungsverneinung — selbst zu einer Ordnung werden? Wer an den Endzustand des absterbenden Staats i m Kommunismus glaubt, an jene „Freiheit als System", die schon heute i n der westlichen Demokratie laufend verwirklicht werden soll, der muß sich dieser Frage stellen. Wenn Herrschaftslosigkeit auch nur ein möglicher Endzustand ist, so kann sie schon heute, auf ihre A r t und Weise, ordnend wirken, mag dies auch nicht i n den Formen herkömmlicher Herrschaft geschehen. Dann wäre „anarchische Ordnung" bereits i n den heutigen Herrschaftsformen sichtbar zu machen. Oder — das wäre die Gegenthese — ist Anarchie nicht doch nur eine Ordnungsillusion, sind es nicht nur Sirenen, welche hier das Ordnungsdenken der Menschen anlocken, u m es dann zu vernichten, aufzulösen, wenn es sich ihnen wirklich nähert? Auch hierzu i n diesem einführenden Kapital noch einige allgemeinere Bemerkungen. b) „Anarchische Ordnung" — „reines Nebeneinander" oder „ordnende Sachzwänge"? „Anarchie als Ordnung" ist vor allem unter einer der folgenden Voraussetzungen vorstellbar: — Der anarchische Zustand kann begriffen werden als eine „Ordnung des fast beziehungslosen Nebeneinander" der Bürger. Zu einer solchen Abschwächung der Angewiesenheitsbeziehungen könnte es immerhin gerade i n jenem Gleichheitsstaat kommen, welcher die Gewaltunterworfenen herrschaftsfrei nebeneinander stellt. Dann wäre der Gleichheitsstaat selbst nichts anderes als der Endzustand der anarchischen Ordnung.
6. Anarchie als System
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Doch hier fragt es sich gerade, ob die Anarchie sich nicht auch gegen diese Gleichheitsstaatlichkeit wendet, welche als eine besonders lastende bereits erkannt worden ist. Wenn aber Anarchie ein Ausbruch aus der Gleichheit ist, so kann sich i n dieser die anarchische Ordnung nicht finden. — Die andere Voraussetzung, unter welcher systematische Anarchie als Ordnung möglich erscheint, läßt sich mit der Formel bezeichnen: „Ersatz von Menschenzwängen durch Sachzwänge". Daß Sachzwänge, „technische Vorgegebenheiten", den unmittelbar heute und hier herrschenden menschlichen Willen immer weiter zurückdrängen, ist eine tägliche Erfahrung. Die Staatshaushalte sind durch technische Folgekosten festgelegt, die Spielräume des Ausbrechens aus einer durch Sachzwänge bestimmten internationalen Konkurrenz werden immer kleiner. Es ist, als setze der menschliche Herrschaftswille nurmehr Daten, von denen aus sich dann, i n einer eigenartigen Selbstgesetzlichkeit, die Ordnung nahezu ohne menschlichen konkreten Willen weiter entfaltet. Ist darin aber nicht bereits eine eigentümliche „Herrschaftslosigkeit durch Sachzwänge" verwirklicht, läßt sich nicht die Herrschaftsverneinung auf die Ablehnung des unmittelbar herrschen wollenden menschlichen Willens beschränken, kann es anarchischen Kampf gegen Sachzwänge überhaupt geben? Wer sich dazu bekennt, wem nur der beherrschende menschliche Wille ein Ärgernis ist, der kann i n der Tat Anarchie auch i n der technologischen Herrschaft der Sachzwänge sehen, eine neue Ordnung, welche vom menschlichen Willen unabhängig bleibt. Doch auch dieser Betrachtungsweise stehen gewichtige Einwände entgegen: Die übermenschliche Wirkung der Sachzwänge ist beschränkt, immer wieder schlägt der menschliche politische Wille durch; i m Staatsrecht hat sich dies gerade darin gezeigt, daß „technologische", „technokratische" Herrschaftsformen als solche nicht zur Höhe des Verfassungssystems, der eigentlichen Herrschaftsordnung, vordringen konnten, daß sie stets von neuem vom konkreten politischen Gestaltungswillen verdrängt wurden. Der herrschaftlich-menschliche Widerstandswille gegen die Sachzwänge ist allenthalben fühlbar, nicht nur i m Kampf gegen die Atomenergie. Hier werden sogar schwere Verluste i n Kauf genommen, nur damit sich der politische Wille gegen den Sachzwang durchsetze — und gerade i n diesem Bereich ist es zu echten anarchischen Explosionen gekommen, ein Beweis dafür, daß die A n archie sich ebenso gegen technische Sachzwänge wie gegen menschliche Befehle wendet, weil sie eben i n der „Technik" auch nichts anderes erkennen zu können glaubt als sublimierten menschlichen Herrschaftswillen.
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Und schließlich bleibt eben dem Menschen stets auch der bilderstürmende Wille zur politischen Demontage, zur Zerstörung, ja zur Dekadenz, i m Namen der Ordnungslosigkeit einer bestimmten Freiheit. So ist es denn wohl nicht mehr als ein Ausdruck des politischen Optimismus, wenn von übermenschlichen, überpolitischen Sachzwängen erwartet wird, sie könnten anarchisierenden menschlichen Willen zurückdrängen. Wie wenig dies gelingt, dafür ist die angeblich doch durch Sachzwänge so nahegelegte Einigung Europas m i t all ihren Schwierigkeiten ein warnendes Beispiel. So also kann Anarchie wohl kaum zum System werden, daß man sie nur auf erreichte Gleichheit oder auf technische Sachnotwendigkeiten stützt; dann hat man sie eben „anders definiert", doch man w i r d ihren eigentlich Ordnungsauflösenden Tendenzen auch i m Gleichheitsstaat und i m technologisch bestimmten Gemeinwesen wieder begegnen, vielleicht gerade hier, weil i n ihnen Zwänge am stärksten werden. Es bleibt also die Frage nach einer ordnenden Kraft der Anarchie — aber sie kann nichts gemein haben mit jenen Ordnungen, welche letztlich doch der menschliche befehlende Wille herstellt, und nichts anderes als sie bieten eben Gleichheitsstaat und technische Sachzwänge. c) „Ordnung
in Auflösung"
— die „kleinen
Schritte"
Die eigentliche Frage nach der systematischen Kraft der Anarchie muß i n einem anderen Sinn gestellt werden: Wie weit kann sie auflösen, liegt i n dieser Auflösung selbst irgendwie noch etwas Ordnendes? Die eigentliche Fragestellung nach einer „Anarchie als Ordnung" dürfte nun letztlich nicht darauf hinauslaufen, „wieweit man Ordnung gerade noch zurücknehmen" kann i n Staat und Gesellschaft, ohne daß krisenhafte oder gar katastrophale Zustände eintreten. Denn einen derartigen Bruchpunkt kann es bei einem solchen Problemansatz eigentlich gar nicht geben. „Anarchie als Ordnung" müßte ja darauf vertrauen, daß gerade i m „reinen Nebeneinander" eine gewisse Ordnungsform liegt. Sie könnte aber auch — was vielleicht noch näherliegt — auf einen dynamischen Aspekt setzen: daß sich nämlich i n laufenden Unordnungen eine A r t von Ordnung wenn nicht immer neu herstellt, so doch insgesamt herausbildet. Dies wäre dann die Vorstellung von einer „Ordnungsdynamik der Unordnung". Sie hat es immer gegeben, es ist die Ordnungsvorstellung der Revolutionen, der Volkssouveränität, des täglichen Plebiszits der Demokratie. Derartiges liegt insbesondere den Lehren von der permanenten Revolution zugrunde, wie sie etwa i n der chinesischen Kulturrevolution ihren Ausdruck ge-
funden haben,
6. Anarchie als System
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Solche Gedankengänge sind auch nicht auf jene Extremtheorien beschränkt, welche man leicht versucht ist, i n den Bereich des Utopischen zu verbannen. Sie finden sich selbst in der neueren Staatslehre klassischer Provenienz — und gerade deshalb ist es reizvoll, hier den Spuren des anarchischen Denkens nachzugehen — i n all jenen Lehren, welche die „offene Verfassung" analysieren, Verfassung als Prozeß begreifen wollen, als abgeschwächte, sich ständig weiter abschwächende Ordnung. I n all diesen Spielarten der „dynamischen Herrschaftsvorstellungen" w i r k t schon deshalb, so paradox es scheinen mag, eine A r t von „Ordnungskraft des Anarchischen", weil man häufig gewisse Ablaufgesetzlichkeiten beobachten zu können glaubt: Alle diese „begrenzten Unordnungen" — und wer sagt, daß sie sich nicht eines Tages zur größeren, unbegrenzten Unordnung steigern können? — laufen ja doch i n bestimmten Formen ab, insbesondere steigern sie sich langsam, ja oft unmerklich. I n der folgenden Darstellung werden w i r immer wieder Elemente einer „Theorie der kleinen Schritte der Anarchie" entdecken. Darin mit Sicherheit hat sie etwas irgendwie „Ordnendes", daß sie sich genauso fortpflanzt, wie dies auch der echten staatlichen Macht eigen ist, die auf Dauer w i r k t — eben i n der Unmerklichkeit der kleineren, immer kleineren Bewegung, welche dann aber doch plötzlich zur großen Herrschaftsmacht sich integrieren läßt. Und wenn Anarchie längere Zeit, i n diesen ihren kleinen Schritten, unbemerkt bleiben kann, bevor dann plötzlich, mit einem größeren Schlag, die verheerenden, ordnungsauflösenden Folgen auftreten — liegt dann nicht i n ihren Vorstadien schon etwas wie eine eigentümliche — eben doch — Ordnung? Man hat den „Nachtwächterstaat" des früheren Liberalismus mit viel leichtfertiger und unbegründeter Ironie bedacht. I m Grunde war er vielleicht eine, seiner Zeit entsprechend, romantische, aber doch sehr mächtige Sehnsucht nach einer A r t von „anarchischer Ordnung": nach voller Zurücknahme des Staates aus der Gesellschaft, und zwar aus einer Gesellschaft, welche sich damals eben gerade nicht als Staatsersatz fühlte, jeden Einzelnen vielmehr ganz frei weben und leben ließ, wie es diesem romantischen Individualismus j a entsprach. Der Nachtwächterstaat der frühen Liberalen ist von späterem Autoritarismus und Sozialismus ganz bewußt verzeichnet worden: Er wollte nie der Gesellschaft geben, was doch des Staates ist, er wollte es niemandem überlassen, es eben offenlassen, i m Glauben, daß sich alle Unordnung stets und selbst wie Spuk auflösen werde, wie i n der Johannisnacht der Meistersinger, i n der Mitternacht nicht befohlen, sondern ausgerufen wird.
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d) Anarchie als „Zustand eudämonistischer Bedürfnisbefriedigung" Daß ein mehr oder weniger herrschaftsloses nebeneinander Herleben irgendwie möglich ist, daß es zum System, zu einer neuen A r t von Ordnung werden kann, liegt dann viel näher, wenn man die „Abschwächung des Selbstwertes der Ordnung" erkennt, die sich i n den letzten Jahrzehnten allenthalben vollzogen hat und hier nur allgemein angedeutet werden mag. Die ängstliche Suche nach einem Bruchpunkt, von dem an weitere Aufgabe von Ordnungselementen „nicht mehr hingenommen werden kann", ist ja dann vor allem veranlaßt, wenn man i n Ordnung und Gesetz eben doch mehr sieht als ein Instrument zur Herstellung von zeitfreier, augenblicklicher Glückseligkeit. Gerade dies aber ist doch das moderne Streben: Herstellung punktueller Glückseligkeitszustände für große Massen von Bürgern. Stellt sich dabei überhaupt die Ordnungsfrage primär, muß hier immer sorgend nach dem System gerufen werden? Die Sicherheit ist, so mag man einwenden, das Entscheidende an dieser modernen Massenglückseligkeit und sie verlangt ja das ordnende Herrschen. Doch i m Eudämonismus liegt eben auch immer etwas Zeitfreies, was den Augenblick festhalten w i l l , ohne Rücksicht auf eine systematisch geordnete Zukunft; damit aber w i r d Anarchie offen i n Kauf genommen. Die zentralen Begriffe des Herrschens selbst, Macht und Freiheit, sie fallen i n ihrer Bedeutung zurück, und mit ihnen alle höheren Ordnungsbezüge. I m Streben nach Wohlbefinden liegt etwas Anarchisierendes, es genüge der Hinweis auf den Streik. Wer eine Staatslehre des modernen Masseneudämonismus schreiben wollte, für den wären Herrschaft, Gesetz und Anarchie keine Selbstwerte mehr, wie eben doch i n der gesamten klassischen Staatslehre, sondern nurmehr kontingente Machttechniken zur Herstellung — oder zum Genießenlassen — von immer mehr Wohlbefinden. Und w i r sollten erkennen, daß unsere ganze bisherige und meist so kritische Anarchiediskussion aus Grundlagen der antik-klassischen und der idealistischen Staatsphilosophie heraus kommt, für welche Ordnung und Gesetz eben doch, über allem Wohlbefinden, geistige Selbstwerte sind. Unser ständiges Suchen nach dem Bruchpunkt, bis zu dem w i r etwa die Herrschaft zurückdrängen können, ist durch diese Kategorien ferngesteuert. Wenn w i r zu einer neuen Wohlbefindensdogmatik gelangen, i n einer Staatslehre des Massenstaates, so werden sich die Gewichte verändern. A n archie kann dann als Machttechnik vielleicht akzeptiert werden, i n einer ganz neuen Gemengelage m i t gewissen Herrschaftstechniken, die aber auch immer wieder i n ihrer Bedeutung begrenzt sind. „Die Welt" w i r d dann nicht mehr durch Ordnung und Gesetz bestimmt, irgendwie
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eben doch durch ein System des Normativen, i n dem w i r heute alle denken, sondern sie ist ein Wechsel von Befehlen und anarchischen Zuständen. Dann wäre vielleicht nicht Anarchie als eine Ordnung — denn dies ist hier nurmehr ein Wort — wohl aber als Zustand, jedenfalls als Phase möglich. Und wenigstens darin läge etwas Ordnendes bei ihr, daß sie ohne weiteres wieder übergehen könnte i n neue Ordnungen, die sich ihrerseits stets erneut i n Anarchien auflösen können — immer dann und so weit, wie dies zum höheren Zweck, dem Wohlbefinden aller, erforderlich ist. Anarchie als Ordnungssystem des Eudämonismus — das muß erst noch, das kann aber vielleicht erdacht werden. Man mag leicht versucht sein, von hier aus philosophische Betrachtungen fortzusetzen zur Bedeutung, welche allerhöchste Grundsätze i n Staat und Gesellschaft überhaupt erreichen können. Jene Philosophie des Idealismus, welche die Wirkmacht des Geistes und der aus i h m kommenden Begrifflichkeit besonders hochstellt, mag leicht versucht sein, Ordnung, Gesetz und Herrschaft eine alles beherrschende politische Wirksamkeit zuzuerkennen. Wenn dieses Staatsdenken vorübergeht i n der Erkenntnis eines allein wirkenden Eudämonismus, wenn das Wohlbefinden regiert, nicht der beherrschende Geist, so sind alle diese Begriffe, und auch die Anarchie als Ordnungsmacht, nichts anderes mehr als sekundäre Formeln; dann aber hat Anarchie politisch ganz neue Chancen: Von ihr als einer etwaigen „Ordnung" w i r d weit weniger verlangt, als es das normative Vollsystem der früheren Herrschaft zu leisten versprach — sie bezeichnet nur einige herrschaftsfreie Wohlbefindenszustände der vielen Bürger. Und das Höchste ist dann nicht mehr Norm, Gesetz, System, sondern ein Zustand des Nebeneinander, der eben genauso durch Herrschaftslosigkeit charakterisiert sein kann wie durch ordnendes Herrschen. Daß die große Hegeische Staatsphilosophie, aus der w i r alle denken, nicht in ihrem Wahrheitsgehalt, sondern i n ihrer praktischen Überzeugungskraft, als unser geistiger gestirnter Himmel abnimmt, das fühlen w i r täglich. I n demselben Maße aber hat die Anarchie ihre neue Staatlichkeitschance: nicht als Gesetz und System, sondern als großer, eudämonistischer Zustand — und warum sollten w i r sie dann nicht irgendwie doch „Ordnung" nennen? e) Anarchie — „Ordnung"
als Ablauf und Orientierung
Kehren w i r i n die Niederungen von Staatsrecht und Politik zurück, so mag „Anarchie als Ordnung, als System" unvorstellbar erscheinen, aber doch nur dann, wenn man i n diese Begriffe schon das Element des „Statischen" hineingelegt hat, der bleibenden, vorhersehbaren Ord-
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. Anarchie — die radikale, systematische Herrschaftserneinung
nung. Doch das Wesen des anarchischen Ordnens, dies klang bereits an, kann ja in etwas ganz anderem liegen: i n einer Dynamik, i n Ablaufgesetzlichkeiten i n der Zeit, i n dem, was man „Orientierungen" nennt, wenn man dieses Wort einmal ernst nimmt; denn es w i r d ja heute stets in jener klassischen Staatslehre gebraucht, welche doch gar nicht anders als nur statisch denken kann, i n der also für den dynamischen Gehalt einer „Orientierung" eigentlich das Organ fehlt. Und hier nun könnte sich die Anarchie als eine eigentümliche Form der „Ablaufsordnung" erweisen: Indem sie alles an Ordnung zerbricht, indem es für sie, in diesem Sinn, einen Bruchpunkt eben begrifflich gar nicht geben kann, weil sie über alle ordnenden Befehle hinweggeht — gerade darin weist sie den Weg zu ganz neuen Machtformen, die nach ihr kommen müssen, i n ihr vielleicht bereits angelegt sind, die sie immer wieder hervorbringt. Anarchie als Ordnung — das wäre dann nichts anderes als ein Vorgang, den w i r täglich beobachten: Normative Ordnungen werden aufgelöst, hinter ihnen erscheint die personale Gewalt des Diktators, die persönliche Gewalt, der Befehl hier und jetzt als Alternative zum normativen Herrschen. Das Ende der Staatlichkeit i n der Anarchie wäre nichts als der erste A k t für neues Herrschen, i m punktuellen Befehl. Anarchie wäre eine Ordnungsform des Übergangs von der normativen Macht i n die persönliche Gewalt. Die Geschichte hat hierfür zahllose Beispiele, und nicht nur i n Südamerika erlebt es heute die westliche Demokratie. Anarchie als System — das wäre nur eine Frage: wie weit weg von der bisherigen Ordnung, bis die persönliche Gewalt beginnt? Anarchie, das wäre dann nicht mehr eine neue Staatsform, sondern ein Durchgang, von der perfekten Ordnung des Gleichheitsstaats i n die neue persönliche Gewalt. Anarchie als System — das kann es vielleicht wirklich nicht geben, denn hier würde ja eine Ordnungskategorie erscheinen; Anarchie als Entwicklungsrichtung — das vor allem mag uns i m folgenden beschäftigen, wenn w i r über die Demokratie nachdenken und ihre anarchischen Kräfte, Entwicklungen, Endzustände. I m folgenden w i r d die Rede sein: vom Anarchiegehalt der wichtigsten Staatsgrundsätze der Demokratie — Freiheit, Gleichheit, Mehrheit, Parteienvielfalt, Machtwechsel; von anarchiegeneigten Aktivitäten der demokratischen Organe —. Parlament, Exekutive, unabhängige Gerichtsbarkeit, Autonomien; von den negativen Glaubensbekenntnissen der Demokratie zu Widerstand und Revolution, i n denen sie zur Ideologie der Anarchie findet. A m Ende steht eine Betrachtung von konkreten politischen Phänomenen, welche „funktionierende Anarchie" zeigen, darin aber — Anarchie i m Marsch,
I I I . Der demokratische Weg in die Anarchie — die Sprengkraft der Freiheit 1. Der anarchische Weg durch die Institutionen der Demokratie Die Demokratie ist, i n all ihren Spielarten, vor allem aber i n der freiheitlichen Volksherrschaft, i n besonderem Maße anarchiegefährdet; nicht stärker vielleicht an sich als jede andere Herrschaft, darin aber besonders verwundbar, daß sie sich i n Sicherheit wiegt, daß daher die Zerstörungen lange Zeit als Befestigung der Herrschaft mißdeutet werden. Darin liegt die typisch demokratische Anarchiegefahr, daß einerseits demokratische Herrschaftsideen und Institutionen herrschaftsnegierendes Wirken dulden, ja fördern oder gar schaffen, während zum anderen sich dieselbe Volksherrschaft durch ihren Totalitätsanspruch das anarchische Denken zum Todfeind macht. Es findet daher eine Anarchieverdrängung statt; jene Staatsform, welche selbst die radikalen Kräfte nicht in den Untergrund w i l l gehen lassen, schafft sich täglich ihren eigenen institutionellen Untergrund, den sie dann nicht mehr voll beherrschen kann. Überall sieht sie demokratische Herrschaftsbejahung, wo bereits Abwendung vom Staate sich zeigt oder doch, i n anarchisierender Hochrechnung, mit Notwendigkeit zu erwarten ist; und auf diese Besonderheit des Anarchischen sei hier noch einmal aufmerksam gemacht. Betrachtungen der Herrschaftsverneinung können ja immer nur an deren Anfangsphänomene anknüpfen, steigern sich diese einmal zum offenen Ausbruch, so ist meist nichts mehr zu analysieren. Doch auch so weit muß es vielleicht nicht kommen, w i r wollen unsere Untersuchungen noch unter eine andere Fragestellung bringen, welche uns anarchiekonformer scheint: Diese selbe Volksherrschaft, welche vergeblich, wie sich zeigen wird, den Versuch unternommen hat, A n archie umzufunktionieren — w i r d sie nicht ganz stillschweigend verwandelt durch die auflösenden Kräfte der Herrschaftslosigkeit? Liegt nicht darin gerade ein Übergang i n eine „Staatsform der Unordnung"? Hat nicht die Demokratie nur die Etiketten der Anarchie mit denen der Ordnung vertauscht, und geschieht ihr nun nicht eben dies, daß in ihren Ordnungsmauern das Unkraut der Ordnungslosigkeit wuchert, dem die Ruinen der Herrschaft sogar noch etwas wie einen Ordnungsrahmen bieten?
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I I I . Der demokratische Weg i n die Anarchie
Wenn dies sich erweisen sollte, als erkennbare Zukunft oder schon als faßbares Phänomen, i m Geistigen angelegt, oder auch schon praktisch i m Lauf, so mögen dem Betrachter der Herrschaftstechniken Zweifel kommen, ob es überhaupt möglich ist, daß wirklich gegensätzliche politische Ideen sich „gegenseitig aufnehmen", ob es nicht besser ist, jenen Kampf von vorneherein offen auszutragen, i n dem Herrschaftsverneinung der Macht gegenübertritt, ob diese nicht größere Chancen dann hat, wenn sie ganz offen Macht sein w i l l , ohne alle Öffnungen zu einer Anarchie, mit der letztlich Kompromisse nicht geschlossen werden können. Aller politischen Ordnung war es von jeher eigen, daß sie sich vergöttern wollte. Auch die Demokratie schreibt sich die Allmacht, A l l gegenwart und die Güte eines persönlichen Gottes zu, nicht i n ihren bescheideneren Worten, wohl aber i n ihrem absoluten Geltungsanspruch. Wenn es wahr ist, daß ein solcher Gott nicht bekämpft, sondern allenfalls vergessen werden kann, so w i r d die Spätdemokratie ihr Ende i n Anarchie nicht darin finden, daß ihre Türme i n terroristischem Erdbeben einstürzen, über sie w i r d nur, aus ihr selbst heraus, so viel Gras wachsen, daß man einst ihre harten Herrschaftsstrukturen kaum mehr erkennt. Eine immer schwächere Spätdemokratie geht über i n eine Verfallsanarchie, die ihrerseits dann Ausgangspunkt großer, neuer Macht werden kann, so wie dies die Geschichte stets gezeigt hat. 2. Freiheit — Streben nach völliger Bindungslosigkeit a) Totaler Einsatz — nur für den Staat der unendlichen
Freiheit
Freiheit hat für die westliche Demokratie eine unvergleichliche Bedeutung: Sie ist zugleich ihre Legitimation und ihr Ziel, hier ist w i r k lich Hoffnung, Kraftquelle der Staatlichkeit. Alles was die Demokratie an Staatszuneigung vom Bürger verlangt, gründet sie letztlich auf die Freiheit. Beim militärischen Einsatz w i r d ganz deutlich, daß i m Grunde nicht materielle Zustände, sondern eine Freiheitshoffnung diesen Staat trägt: Vom Jungbürger w i r d man ja wohl kaum erwarten, daß er u m des heutigen Genußzustandes willen zu Felde zieht, sein Leben einsetzt für eine bestimmte Höhe von A l tersrente, die er dann vielleicht nie erreichen wird, für irgendein Häuschen oder das Recht der Frauen, sich von ungewollten Kindern zu befreien. Einzelheiten mögen sich ja ändern, mehr oder weniger mag konsumiert werden — arbeiten und sterben w i r d man letztlich nie dafür, sondern immer für „die große Freiheit" — wenn überhaupt. Tragende Grundlage von Institutionen und dauernden Bindungen kann nur der Zug zu einem Unendlichen sein, weil nur i n dessen Na-
2. Freiheit — Streben nach völliger
fììndungslosigkeit
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men auch der absolute Einsatz gefordert werden darf; das ist i m Bereich der Gefühle nicht anders, bei Liebe und Ehe, als i n jener Religion, die zur großen Ordnung nur über den unendlichen Gott hat werden können. Für die Freiheit sind viele gestorben, Zahllose haben ihr ganzes Leben i n Auswanderung auf sie gesetzt. Politisch-historische Betrachtungen zeigen, daß von „Staat" immer nur dann gesprochen werden kann, wenn i m Namen einer Ordnung ein so totaler Einsatz verlangt w i r d oder doch möglich erscheint; und i n diesem Sinn ist und bleibt Kampfbereitschaft die Grundlage jeder staatlichen Ordnung. Wenn aber alles nur eingesetzt w i r d für das Absolute, dann muß diese Freiheit ihrem Wesen nach grenzenlos sein, unerschöpflich und damit allein originär, dem Menschen wirklich vorgegeben. Freiheit i n Bindung mag das Staatsrecht konstruieren, kein demokratischer Soldat w i r d für sie sterben. Und was ist diese absolute Freiheit? Sie kann gar nichts anderes sein als — Anarchie. Oder sollte sich der Freiheitskämpfer i n seinem höchsten Einsatz ein Ideal von Häuschen vorstellen, i n denen brave Bürger nebeneinander maximale Freiheiten genießen? Nein — das Ziel, der Wert, der allein die liberale Volksherrschaft trägt, das ist die grenzenlose Freiheit, und damit w i r d die Anarchie zur stets gegenwärtigen Grundlage, zum Staatswert dieser Ordnung. Ihre Adern mögen sein wie immer, ihr Blut ist nur das der unbedingten Herrschaftslosigkeit. Für den Juristen sind dies nichts als Worte, weil er hier nicht eingrenzen, gewichten und rechnen kann. Doch auch er muß endlich einmal diese „Freiheit als Wert", politisch wenigstens, ganz ernst nehmen, mag der philosophische Freiheitsbegriff auch ganz anders und nur i n Bindung bestimmt werden können. Dann aber muß er damit rechnen, daß dieses Blut i n den Adern der Demokratie immer von neuem ins Unendliche der Freiheit wallen wird, h i n zu Regungen und Entwicklungen, die der rechnenden Jurisprudenz unglaublich erscheinen, i n denen sie immer wieder überwunden wird; oder, u m es dogmatisch zu formulieren: Die ganze teleologische Kraft, aus der die Demokratie lebt, ist die der unbegrenzten Freiheit, und daher muß immer auch das Zerbrechen alter Tafeln i m Namen dieses Unbegrenzten wenn nicht erwartet, so doch i n Kauf genommen werden. b) „Zumutbare Bindungen eine — unzumutbare Freiheitsbeschränkung Die Demokratie anerkennt i n Worten ihren Höchstwert, die unendliche Freiheit: Sie legt i n i h n zwar die noch näher zu behandelnden
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„mitgedachten Bindungen", doch sie sollen milde sein, nie unerträglich, stets zumutbar. Eine reiche Dogmatik ist entwickelt worden u m den Begriff eines Übermaßes, zu dem der Staat seine Freiheitsbeschränkung nie soll steigern dürfen. Da w i r d es i h m verboten, den Zugang zu Beruf und Gewerbe unzumutbar zu beschränken, er darf die Bande der Ehe lockern, wenn ein Zusammenleben nicht mehr zumutbar erscheint; und vor allem i m Eigentumsrecht läuft alles auf eine „Schweregrenze" hinaus, welche die sozialbindende Staatsgewalt nicht überschreiten darf, bei deren Überwindung sie zumindest Enteignungsentschädigung gewähren muß. Man hat mit Recht darauf hingewiesen, daß sich logische Grenzen solcher Belastbarkeit nicht aufzeigen lassen, daß hier alles zur Disposition der Staatsgewalten, letztlich des Richters steht. Er entscheidet eben, was noch erförderlich war an Eigentumsbeschränkung, u m die Ordnung zu schützen; er stellt fest, welche Verluste des Eigentümers noch „ i m Verhältnis stehen" zu dem, was i h m an Eigentumsnutzen bleibt — was i h m daher zugemutet werden kann. Praktisch liegt hier ein ganz großes, ein normativ nicht beschränktes Herrschaftsbelieben zur Beschränkung der Freiheit. Dem Bürger w i r d ein i m Grunde durch nichts legitimiertes Vertrauen i n die Richtigkeit oder auch nur Erträglichkeit der Entscheidung gewisser Staatsorgane zugemutet. Letztlich stirbt er dann doch nicht für die Freiheit, sondern für das Vertrauen i n einen Richter, der ihm schon noch genug belassen werde — ist dies noch die absolute Freiheit als Staatsgrundlage der Demokratie? Sicher nicht, denn wenn ihre Freiheit ernst genommen wird, so müssen alle diese Formeln in einem ganz anderen Sinne ausgelegt werden, eben i n einer A r t von „Anarchieannäherung". Dies geschieht denn auch i n der Praxis weithin; i n der Zumutbarkeitsbeurteilung w i r d auf den Einzelnen gesehen und auf seine Interessen zuerst, das Schwerekriterium i m Enteignungsrecht hat zu einer insgesamt doch recht statisch-eigentumsbewußten Judikatur, zu einem weiten Zurückdrängen der Enteignung geführt. Doch i n Ubermaß- und Zumutbarkeitslehren steckt mehr: Hier sind Herrschaftsmaximen aufgestellt worden, nach welchen die Freiheit stets nur so weit zurückgedrängt werden kann, wie gerade noch der jeweilige politische Wille, die politische Kraft des Augenblicks reicht. W i r d sie schwächer, nehmen Vorstellungen von Bindungslosigkeit i n der Gemeinschaft überhand, so finden sich hier juristische Kanäle, u m all dies sogleich i n anarchisierende, Individualismus verstärkende Ordnung umzusetzen. I m Grunde hat die Demokratie hier keine Herrschaf tsinstrumente geschaffen, sie überläßt alles der jeweiligen Herrschaftskraft, dem, was diese eben gerade noch als „zumutbar" gegen
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den Bürger durchsetzen kann. Und dabei sind es sogar noch die nicht befehlsunterworfenen Richter, welche hier die Grenzen bestimmen, Organträger also, welche als „Teile der Gesellschaft" den anarchisierenden Entwicklungen staatsferner Bereiche weit geöffnet sind. Deutlich zeigt sich also: Die sogenannten „Zumutbarkeitsschranken" sind entweder — unzumutbare Verneinung der Freiheit, damit entziehen sie ihr die Kraft der Unendlichkeit, der Demokratie ihre eigene Grundlage — oder diese Begrenzungen lassen sich verschieben, unter dem Druck steigender Anarchie. Daß die Freiheitsschranken, welche die Demokratie errichten w i l l , sie einerseits schwächen, weil sie ihre legitimierende Freiheit entwerten, die eben nur anarchisch sein kann, daß sie andererseits aber, dieser selben Anarchie gegenüber, auch noch von prekärer Wirksamkeit sind — dies soll nun noch an anderen Beispielen dargetan werden. c) „Begrifflich mitgedachte Freiheitsschranken" — als Anarchie fesseln weder „natürlich" noch wirksam Die „begrifflich mitgedachten Schranken der Freiheiten", von denen oft die Rede ist, etwa bei der Vertrags- oder der Eigentumsfreiheit, mögen ein Ordnungsversuch sein, sie sind unvereinbar mit dem eigentlichen Wesen dieser Erscheinungsformen der größeren Freiheit. Abgesehen davon, daß man über den Kunstgriff einer solchen Immanenz in die Freiheiten alle diejenigen Bindungen hineindenken kann, welche gerade erforderlich erscheinen — selbst i n den „kleineren Freiheitsräumen", welche Begriffe wie etwa die Vertragsfreiheit bezeichnen, ist eben, begrifflich, gar nichts „mitgedacht", hier ist zunächst einmal nichts als reine Freiheit, beim Vertrag etwa als eine A r t von Blankoscheck, sich lediglich durch den eigenen Willen zu beschränken. Auch die meist begründungslose Behauptung, ohne derartige Schranken könne es solche Freiheiten gar nicht geben, erweist sich bei näherer Betrachtung als problematisch: Die Vertragsfreiheit zumindestens und die Eigentumsrechte könnten auch i n der Praxis, ohne solche mitgedachte Schranken, viel weiter ausgedehnt werden, als das die heutige Rechtsordnung gestattet. Diese entfaltet hier nicht etwas, was schon immanent i n diesen Begriffen läge, sie beschränkt ganz einfach die Freiheit durch Herrschaft. Warum sollte denn etwa die Eigentumsfreiheit nicht den Ausschluß der anderen, sehr weit, bis zu jenen Grenzen ermöglichen, jenseits welcher der Eigentümer keinen auch nur irgendwie denkbaren Nutzen aus seinem Gut ziehen kann? Wenn er das Betreten seiner Grundstücke dulden, den Straßenlärm über sich ergehen lassen muß — hier ist doch nichts „begrifflich" mitgedacht; Herrschaftsentscheidungen sind gefallen, daß eben auch den anderen Bür-
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gern ein gewisses Recht auf Mitbenutzung zustehen soll. Allenfalls die rein nachbarrechtlichen Begrenzungen könnte man als „begrifflich mitgedacht" noch anerkennen, nicht jedoch jene zahlreichen und i n der Praxis weit wichtigeren Beschränkungen, mit denen die Hoheitsgewalt i m öffentlichen Interesse gegen das Eigentum vorgeht. Und auch begriffliche Schranken der Vertragsfreiheit lassen sich dann nur schwer finden, wenn man hier wirklich das Wesen der Freiheit bewahren w i l l : Bindung nur an den eigenen Willen. Die meisten jener angeblichen „immanenten Schranken", jedenfalls diejenigen, welche Freiheit und Eigentum „ i m Namen der Gemeinschaft" hinnehmen sollen, sind also bei näherem Zusehen nur Freiheitsbeschränkungen von außen durch herrscherliche Entscheidung, aus dem Freiheitsbegriff selbst kommen sie nicht heraus, mit seiner ins Grenzenlose drängenden Dynamik sind sie nicht vereinbar. Deshalb nimmt auch eine jede derartige Einschränkung der „Freiheit als Staatsgrundlage" der Demokratie etwas von ihrer Legitimation, selbst die nachbarrechtliche Abgrenzung: Daß i m Zusammenleben einiges hinzunehmen ist, mag man mit mehr oder weniger großem Bedauern zur Kenntnis nehmen; die treibende Kraft einer politischen Begeisterung w i r d damit eher geschwächt. Die Demokratie erwartet stets den „vernünftigen Bürger", jenen, der eben die Notwendigkeiten des Gemeinschaftslebens einsieht — doch i n diese hinein schiebt sie ihr Herrschaftsbelieben, und immer noch geht sie davon aus, daß all dies dann der Gewaltunterworfene mit jener ursprünglichen Begeisterung annehmen und verteidigen wird, welche letztlich doch nur aus den anarchischen Urinstinkten des Individualismus gespeist wird. Gerade hier aber liegt ein politischer Rechenfehler; denn der Bürger erkennt, gerade wenn er rational rechnet wie seine Herrschenden, sehr genau, daß i n diesen angeblich „begrifflichen Freiheitsbeschränkungen" überall politische Grundentscheidungen gegen die Freiheit liegen. Diese Freiheitsbeschränkungen aber w i r d er immer versuchen, i m Namen einer wenn auch „begrifflich gefesselten Freiheit" zurückzudrängen oder gar abzustreifen. Gerade bei den begrifflichen Schranken ist dies, praktisch-politisch, gar nicht allzu schwer; denn i n diesem Begriff, der so notwendig und unausweichlich die Freiheit zurückdrängen soll, liegt eine Bindungsschwäche, die Anarchie kann sich hier immer und immer wieder entfesseln. I m Begriffskern all dieser angeblich begrifflich beschränkten Freiheiten bleibt ja etwas von der absoluten Bindungslosigkeit erhalten, „ i m Zweifel" schlägt sie eben durch (vgl. unten 3), die Herrschafts-
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gewalt muß immer atemlos „hinter der Freiheit herlaufen", welche sich neue Ausdrucksformen gibt; denn diese „begrifflichen Schranken" müssen eben stets von neuem aufgerichtet, umgestellt werden, damit sie gegen die Freiheitsphantasie wirken, welche m i t anarchischer List immer neue Ausfälle aus dem Begriffskern der Vertrags-, der Gewerbe· und der Eigentumsfreiheit ersinnt, stets neue Formen unerschöpflicher Anarchie. Eine Rechtsordnung, welche so allgemein-unbestimmte Freiheitsbegriffe i n ihre Basis gelegt hat, muß immer m i t der Erosionswirkung ständig neuer Freiheitsmanifestationen rechnen, oft kommt sie zu spät, um sie i n Grenzen zu halten, nicht selten bleiben sie ihr lange Zeit unbekannt, manchmal fehlt ihr auch die freiheitsbeschränkende Kraft in den Augenblicken, i n welchen der Bürger i m Namen der Freiheit neue Entfesselungen erdacht hat. Dann aber werden diese sogleich zur Institutionalisierung von neuen Freiheiten, die Anarchie hat ein Stück Boden gewonnen. Der Bestandsschutz i m Eigentumsrecht, der nur unter Entschädigung aufgehoben werden darf, oder das Planungsvertrauen sind hierfür deutliche Beispiele; hier w i r d i m alten „home-castle"Denken die Grundlage eines „Bürgerfeudalismus gegen die Staatsgewalt" erweitert, i n anarchisierender Absperrung. Mögen aber auch noch bei den vermögensrechtlich wirksamen Freiheiten die „mitgedachten Schranken" wirksam sein, eben über nachbarrechtliche Gedanken — bei den politischen Freiheiten versagt diese Konzeption nahezu vollständig. Wer hätte auch schon versucht, i n die Demonstrationsfreiheit etwa „mitgedachte Schranken" zu legen! A l l e i m weiteren Sinne „politischen" Freiheiten, bis h i n zur Glaubens- und Gewissensfreiheit, haben eben etwas von jener originären anarchischen Sprengkraft bewahrt, die sich den dogmatischen Kunstgriffen juristischer Konstruktion von vorneherein nicht unterwerfen läßt; i n den politischen Freiheiten aber vor allem, nicht i m bewahrenden Besitz, bewegt sich die Anarchie; und i n diesem Sinn ist die Vertragsfreiheit weit mehr ihr Ausdruck als das Eigentumsrecht. d) Die „Rechte anderer" — wirksame Schranken gegen Ausuferung der Freiheit in Anarchie? Von jeher ist versucht worden, die Sprengkraft des Anarchiegehaltes der Freiheit durch Hinweis auf jene „Rechte anderer" allgemein und entscheidend einzudämmen, denen man doch dieselben Freiheitsrechte nicht absprechen dürfe; nirgends ist dies mit größerer Überzeugungsanstrengung versucht worden als i n der idealistischen deutschen Staatsphilosophie. Doch gerade hier zeigt sich die Unmöglichkeit einer Ein5 Leisner
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schränkung der eigentlichen politischen Freiheit, nimmt man sie nur einmal ernst i n dem, was doch die Demokratie tragen soll. Diese Freiheit denkt an sich selbst, nicht an andere. Sie w i l l ungebunden sein, auch und gerade gegen den Nächsten. Wäre dem nicht so, so müßte die Freiheitsbegeisterung verstanden werden als ein Bekenntnis zu einer unendlichen Diskussion u m zahllose Rechte-Abgrenzungen. Und m i t dem Kunstgriff der „maximalen Freiheit" ist hier auch kein Fortschritt zu erzielen, auch diese Formel läßt doch völlig offen, wie weit denn nun die Freiheit gehen dürfe. Soll wirklich dem Verteidiger der Freiheit unterstellt werden, er wolle sein Leben dafür einsetzen, daß er später seine Grenzpfähle u m einige Zentimeter versetzen, darum vor dem unabhängigen Richter prozessieren dürfe? So wie er allein für die Freiheit sterben muß, so w i l l er sie doch auch — allein genießen, gegen jedermann. Die „Rechte anderer" als Freiheitsbegrenzungen sind aber auch nichts als ein rechtsgrundsätzlicher Fehler, wenn man sie aus dem Freiheitsbegriff selbst entwickeln w i l l ; denn i n ihnen liegt etwas anderes: die Gleichheit, und zwar bereits die Egalität i n ihrer ordnenden Stufe. I n den „Rechten anderer" ist die Solidarität mitgedacht und eine Ordnungsmacht, die dafür sorgen darf, daß „jedem das Seine" zuteil wird. I n all dem aber findet sich nichts mehr von der begeisternden Anarchiekraft der Freiheit, hier beginnt das Reich der Herrschaft. Nirgends also zeigt sich die Freiheit so deutlich als ein „Begriff ad infinitum", ja i m Grunde als eine Dynamik, nicht als ein Begriff, wie i n den theoretisch unhaltbaren Versuchen, Rechte anderer i n die Libertät begrenzend hineinzuschieben. Bezeichnenderweise ist es denn auch i m Staatsrecht nie gelungen, aus den „Rechten anderer" eine wirklich faßbare Begrenzungsdogmatik der Freiheit zu entfalten; die wenig durchdachte Formel von den „Rechten anderer" als Grenzen der Entfaltungsfreiheit der Persönlichkeit i n A r t . 2 GG konnte die Anarchieproblematik nicht bewältigen, die i n diesem großen und inzwischen schon entwerteten Begriff liegt, eben weil hier die Quadratur der bruchlosen Anarchie versucht wurde. „Rechte anderer" — dieser Begriff ist schon deshalb politisch wenig wirksam gegen die Macht der Herrschaftsablehnung, weil diese „anderen nicht immer gegenwärtig sind", wenn i m Namen der Herrschaft Freiheit beschränkt werden soll. Wenn stets der „gleiche andere Bürger" demjenigen entgegenträte, der an Freiheit und Eigentum Einbußen hinnehmen muß, so würde dieser weit häufiger sich zurückziehen, weil er i n solcher Rücksicht auch die Garantie eigener Rechte erblickt. Gerade der Demokratie aber ist es ja eigen, daß sie zwar i m Namen anderer, der ganz großen Zahl, gegen den Einzelnen vorgeht,
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Interessen der Vielen als öffentliches Interesse ausgeben w i l l ; doch der Beweis, daß i n ihrer Herrschaft so viele „Rechte anderer" gewahrt werden, eben der gelingt ihr nur selten. Beschränkt w i r d doch der Bürger i n diesem Staat, wie i n allen anderen Herrschaften, aus einem öffentlichen Interesse heraus. Daß hinter diesem irgendwelche Rechte anderer stehen, mögen die Mächtigen behaupten; diese Rechte sind aber meist „so weit entfernt", daß sie zur politisch-psychologischen Legitimation der Eingriffe nicht ausreichen — wenn diese eben aus der Freiheit selbst heraus versucht werden. Die „Rechte anderer" sind also, der Freiheit gegenüber, etwas derart Fernes, nur durch Macht Vermitteltes, daß sie gegen die Unmittelbarkeit nicht durchschlagen können, mit welcher die Anarchie den freiheitssuchenden Menschen treibt. Dann aber sind sie schwache Dämme gegen die große Herrschaftsverneinung. Brüchig sind sie auch noch aus einem anderen Grunde: I n der Berufung auf Freiheitsschranken aus „Rechten anderer" w i r d meist unterstellt, daß auf diese Nebenmenschen „Rücksicht zu nehmen sei", auf „ihre Freiheit als Schwächere". Doch gerade dies liegt nicht i n dem ursprünglichen, begeisternden Freiheitsbegriff; er ist ein Ausdruck der Stärke, anders könnte er nicht Herrschaftsformen, Macht über andere begründen. Freiheit — d. h. i m Politischen eben auch: allein sein, allein bleiben können, das bedeutet Autonomiekraft, nicht Schwächerenschutz. Der großen politischen Freiheit war stets das Verdrängende wesentlich, i n der Französischen Revolution wie i n der Expansion der Amerikaner. Hätte man hier immer nur an die „Rechte anderer" gedacht, so wäre nie eine Freiheitsstatue errichtet worden. Wenn sich der Jurist einen Blick nicht nur für Abgrenzungen, sondern auch für treibende Kräfte bewahrt, so kann er davor die Augen nicht schließen. Und die Freiheit des Anarchischen w i r d i n all dem ja auch nicht inkonsequent: Möge doch der Schwächere gleiche Kräfte entwickeln — dazu dient ja die Freiheit, dies legitimiert sie zuallererst! e) „Dienst am Nächsten" — politische Theologie, nicht immanente Freiheitsschranke Hinter der „Freiheit i n den Schranken der Rechte anderer" steht, gerade i n der Staatsphilosophie des deutschen Idealismus, ein ganz anderes, was mit Freiheit nichts mehr zu t u n hat: die säkularisierte, religiöse Bindungsidee, welche den politisch j a uninteressanten „anderen" zum „Nächsten" macht, i n dessen Dienst Seligkeit gewonnen wird. Hier beginnt, trotz anarchischer Elemente auch i n dieser Nächstenliebe, ein anderes Denken: Es hört die Herrschaftsverneinung auf, weil end5*
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lieh die Herrschaft ganz hoch gesetzt, wahrhaft absolut geworden ist. Hier kann die Freiheit wirklich beschränkt werden, weil sie keinen Zug zur Unendlichkeit mehr hat, denn i n der Unendlichkeit gibt es nurmehr die Herrschaft des einen Gottes. I n ihm w i r d das Herrschaftsstreben der Menschen aufgefangen, überhöht, befriedigt. Darin liegt eine der höchsten Rechtfertigungen der Gottesidee überhaupt, daß sie die politische Unrast dieser Erde i n der Ruhe der grenzenlosen Herrschaft zum Guten aufhebt. Dadurch w i r k t sie beruhigend und herrscherlich i n die diesseitige Politik hinein, daß sie den Nächsten als Vertreter des Höchsten vorstellt, daß man i h m schon die Freiheit zum Opfer bringen muß, damit man das größere, freiheitsüberhöhende Jenseits erreiche. Hier zeigt sich die Tiefe einer kantischen Philosophie, welche die Kategorien des diesseitigen Denkens nur in der Transzendenz lebensfähig erhalten kann; und dies gilt eben i n erster Linie für das moralisch-politische Handeln. Einen Gott bräuchte also diese Demokratie, u m der Anarchie ihrer Freiheit entgegenzutreten, u m die Freiheit des Christenmenschen zu bewahren — und doch die Gemeinschaft der zahllosen Nächsten nicht zu gefährden. Freiheitliche Demokratie könnte i m letzten nur überleben als eine Civitas Dei, wenn über ihrer Herrschaftslosigkeit große Macht ausgebreitet wäre. Und von eben dieser Religion glaubt sich die freiheitliche Volksherrschaft trennen zu müssen, i m Namen ihrer Freiheit! Was kann diese dann noch anderes werden als Anarchie? Theologen haben immer wieder der Freiheit das Ende vorausgesagt, wenn sie sich von ihrem Gott entferne; sie kann dann ja nur zur Vergötterung des Einzelmenschen werden, der von seinem Herrschaftsaltar herab alle anderen Bindungen leugnet. Dies ist das Verhängnis der Volksherrschaft, daß keine Macht der Transzendenz dringender bedürfte, daß keine sie, aus ihren eigenen Grundlagen heraus, rücksichtsloser vertreiben muß. Und „der Nächste ohne Transzendenz"? Er w i r k t eher ordnungsauflösend, das w i r d unten ein Kapitel über anarchisierende Kirchlichkeit noch zeigen. f) Die Selbstverstärkung
der Freiheit zur Anarchie
Die Freiheitsbegeisterung hat stets etwas Religionsähnliches, gerade deshalb glaubt sie, jene Religion verdrängen zu dürfen, welche sie allein zur dauerhaften politischen Ordnung festigen könnte. Dieses Kraftgefühl kommt ihr wohl vor allem aus ihren anarchischen Untergründen, aus dem Machtgefühl, daß sie sich ins Unendliche steigern kann, darin Gott ähnlich werdend.
3. I n dubio pro liberiate — eine Maxime der Anarchie
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I n den Niederungen von Staatsrecht und Politik, findet dies seinen Ausdruck in dem überall gegenwärtigen Phänomen des „Mehrwerts der Freiheit", bis h i n zur totalen Bindungslosigkeit. Die eigentliche Kraft der Freiheit als Grundlage der Demokratie liegt i n ihrer Dynamik, i n einem Fortschrittsglauben, der immer wieder Fortschritt wirklich hervorgebracht hat. Hier ist die absolute Ungenügsamkeit; wer i m Namen der Freiheit handelt, von dem kann nie Bescheidenheit verlangt werden, Zufriedenheit. Hier liegen die Gründe des großen Irrtums konservativer Politik, welche Massenzufriedenheit als Opium der Freiheit einsetzen w i l l — das Erreichte w i r d zum Anreiz für größere Forderungen. Unverständlich ist es, daß man immer noch von der Freiheit Zufriedenheit erwartet und Stagnation; was sie erkämpft hat, ist stets wenig, w i r d immer noch weniger gegenüber den größeren Horizonten, welche der Aufstieg erschließt. Es gibt hier etwas wie die Überproportionalität der Zunahme des Freiheitshorizonts mit jeder erstiegenen Stufe der Freiheit. Erreichte Libertät w i r d ja sofort selbstverständlich, Freiheit „ist" wirksam nur dort, wo sie Bindungen sieht. Je mehr sie sich entfesseln kann, desto härter fühlt sie, was ihr noch fehlt. Vergeblich w i r d man also von den Gewerkschaften erwarten, daß sie sich auf erkämpften Lorbeeren ausruhen; je mächtiger sie sind, je reicher, desto mehr muß gefordert werden, gerade wenn dies noch i m Namen der Freiheit geschieht. Und warum sollte der Schüler, der nicht mehr geschlagen wird, nun mit einem Male Grenzen der Disziplin achten, wenn er doch mit steigender Freiheit immer mehr Selbstbewußtsein gewinnt? So kann das Freiheitsethos nur in die Bindungslosigkeit treiben, Freiheit als „Staatsziel" darf nie etwas anderes bedeuten als Anarchie. Wer demokratische Freiheit meint, muß überall Anarchiezellen schaffen; und diesen bleiben nur zwei Entwicklungen: Entweder sie sterben ab unter der stärkeren Macht, oder sie entwickeln sich rasch zum Krebsgeschwür aller Herrschaft, wuchern weiter bis i n die Unendlichkeit der total herrschaftszerstörenden Anarchie. 3. I n dubio pro libertate — eine Maxime der Anarchie a) Im Zweifel für die Freiheit — eine Lebensnotwendigkeit der Demokratie Die freiheitliche Volksherrschaft steht und fällt damit, daß i n ihr i m Zweifel die Entscheidung für die Bindungslosigkeit fällt, gegen die Macht. Wenn auch nur einigermaßen gleichgewichtige Gründe für und
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gegen die Zulässigkeit staatlicher Eingriffe sprechen, so muß sich die Gewalt zurückziehen, dem Bürger den freien Beruf, das freie Eigentum, die freie Meinung lassen. Und gerade hier, i m politischen Bereich, muß der freiheitliche Raum des Zweifels stets ein sehr großer sein, auch schon irgendwelche vernünftige Gründe für die Freiheit schaffen jenen Zweifel, i n dem dann für die Freiheit zu entscheiden ist. Dies ist jenes „ I n dubio-Denken", das sich i n der Demokratie bis zur Hinnahme der Freiheitsgefahr steigert — malo periculosam libertatem. W i r d die Freiheit nicht auch dann hingenommen, wenn sie gefährlich ist, so ist sie überhaupt nur eine Formel, welche i n jeder Staatsform eingesetzt werden mag, sie verliert jeden Entscheidungsgehalt, kann also den Bürger weder politisch motivieren noch i h n persönlich garantieren. Denn irgendwelche Freiräume, aus denen sich die Herrschaft zurückzieht, werden dem Einzelnen allenthalben belassen. Dann nur w i r d die Freiheit zum politischen Wert, wenn sie sich i m Zweifel durchsetzt, i n einer Grauzone, welche die Tendenz hat, sich immer mehr auszuweiten. Auch die legitimierende Kraft kommt der Freiheit nur aus ihrer Durchsetzbarkeit i n einem weiten Bereich des Zweifels; denn staatsethisch kann sie ja nur wirken, wenn sie Bekenntnis ist zu etwas, wenn also die Entscheidung der Staatsgewalt auch anders ausfallen könnte, sich jedoch vor einem Wert zurückzieht. A l l e i n i n dieser Wahlmöglichkeit w i r d die Freiheit w i r k l i c h zum „politisch Guten". Die Vorzüglichkeit, ja Einmaligkeit entspringt der Volksherrschaft schließlich auch nur aus der Eröffnung weiter und gefährlicher Wahl, die dann stets für die Freiheit fallen muß: I n anderen Ordnungen gibt es Herrschaftsbelieben, damit i m Grunde nur Beschreibung von Herrschaftsabläufen; hier w i r d etwas Geistiges erstrebt, darin liegt das Begeisternde, weit über die konservierende Sattheit einer erreichten oder möglichen Staatsmacht hinaus. b) „Zweifel
für die Freiheit"
als Anarchiedynamik
Daß i n diesen Formen des „Freiheitszweifels" anarchisierende Gefahren liegen, ist stets erkannt worden. I m Namen dieser Maxime muß sich ja die Staatsgewalt i n aufreibende Diskussionen m i t dem Bürger einlassen, der u m seine Freiheiten kämpft, immer wieder verliert sie Terrain, wenn sie i m Wettlauf m i t der Freiheit zurückgeblieben ist, nicht rechtzeitig durch Gesetze den demokratischen Herrschaftsregeln der Legalität entsprechen kann. Zwar versucht sie, in weiten Generalklauseln diesen Wettlauf von vorneherein für sich zu gewinnen, so etwa durch Hinweis auf ein unbestimmtes „öffentliches Interesse", i m Verbot von Umgehungen der Steuerpflicht, i n der „wirtschaftlichen
3. I n dubio pro liberiate — eine Maxime der Anarchie
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Betrachtungsweise". Doch die unerschöpfliche Freiheitsphantasie schafft immer neue Räume des Zweifels, und i n der Demokratie ist dieser auch noch organisatorisch verfestigt: i m viel kritisierten Rechtswegestaat. Ob nun „wirklich", nach materiellem Recht, dem Bürger ein Recht zusteht oder nicht, wie oft ist es praktisch gleichgültig, weil eben die prozessuale Möglichkeit des „wenigstens zeitweisen Zurückdrängens der Hoheitsgewalt" eröffnet ist, wenn etwa der Suspensiveffekt der Verwaltungsgerichtsbarkeit eingreift. Hier werden die prozessualen Rechte zum zeitweiligen Ersatz materieller Berechtigungen, das „ i n dubio" ist solange jedenfalls total, wie es noch nicht durch Richterspruch ausgeräumt ist. Die Gerichtsbarkeit gewährt also eine A r t von „Freiheit auf Zeit", sie verunsichert die Herrschaft durch sehr schwer abschätzbare Machtanzweifelung vor deren eigenen, von ihr aber unabhängigen Instanzen. Gerade das, was die Demokratie zur Beseitigung des Freiheitszweifels einsetzen w i l l , Stärkung der Normativierungen, schafft zahllose neue Zweifel, die wiederum zugunsten der Freiheit zu entscheiden sind. Es ist, als seien die Herrschaftsinstrumente dieser Staatsform gar nicht in der Lage, ihre eigene Unterwanderung aufzuhalten, als würden hier nur immer neue Anarchiezellen geschaffen. Die Unübersichtlichkeit des Normgestrüpps ist nicht nur i n sich ein Versteck für die Anarchie, dieser werden hier viele einzelne Räume eröffnet, weil jede neue Norm virtuell ein neues dubium schafft, das sich i n Herrschaftslosigkeit auflösen muß. Die Formel „ i n dubio pro libertate" ist i n ihrer ganzen anarchisierenden Sprengkraft bisher auch noch nicht annähernd erkannt worden, sie w i r k t eben mit der Unfaßbarkeit, welche jeder systematischen Herrschaftsverneinung eigen ist. Die Demokratie hat sogar große Mechanismen zur Erhaltung und Erweiterung dieses Freiheitszweifels eingerichtet, i n ihnen kann der Bürger mehr als nur freiheitliche Lösungen durchsetzen, es entsteht hier etwas wie eine anarchisierende Grundstimmung der Suche nach immer neuen Ordnungszweifeln —< dies ist der tiefere Sinn und die tägliche Aufgabe der Advokatur. Man w i r d stets vergeblich versuchen, das Wesen dieser typisch demokratischen „Rechtswahrung" nur i n einer Gehilfenschaft für den rechtsklärenden Richter zu sehen. Der A n w a l t darf und muß verunklaren, das dubium suchen und pflegen, i n dem dann von seinem Mandanten nichts verlangt werden, i n dem die Staatsgewalt gegen ihn nicht vorgehen kann. Die Rechtsverunklarung durch die Anwaltschaft ist oft beklagt worden; i n i h r bewährt sie sich als ein anarchisierendes, als ein freiheitsbewahrendes Instrument der Demokratie.
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I I I . Der demokratische Weg i n die Anarchie
c) Der „Wesensgehalt der Freiheiten"
— Festschreibung der Anarchie
„ I m Zweifel für die Freiheit" als Grundentscheidung der Demokratie leidet sicher an einer Schwäche: Der Raum des Zweifels muß ja bestimmt und er muß durch eine staatliche Entscheidung aufgelöst werden. So gibt es denn i n der Demokratie auch immer wieder politische Tendenzen, diese Grundentscheidung für die Freiheit zu einer Herrschaftsmaxime zu machen, zu einer Form der Kompetenzverlagerung auf staatliche Organe; es könnte dann heißen: „Souverän ist, wer über die Freiheit entscheidet". Wenn überall Freiheitszweifel auftreten, so könnte auch die Staatsgewalt allenthalben Anlaß zum Eingreifen erhalten, zum Ordnen. I n der Tat versucht ja auch gerade das moderne Verwaltungsrecht, jeden möglichen Freiheitszweifel durch immer neue Normen aufzulösen. Kann so „ i n dubio pro liberiate" zur Herrschaftsmaxime gegen die Anarchie werden? Doch die Gegenbewegung ist schon deutlich sichtbar, sie hat bereits sogar institutionellen Ausdruck gefunden: Der letzte Kern der Freiheit soll unantastbar bleiben. Diese Wesensgehaltssicherung aller Freiheiten, welche die Verfassung für die Grundrechte ausdrücklich fordert, ist i m letzten nur die Anerkennung von Anarchiekräften, die über jede Herrschaft hinausgehen. Daß auch die Volkssouveränität dem Bürger „etwas an Freiheit" stets belassen muß, ist nicht nur Ausdruck naturrechtlicher Vorgegebenheit von Grundrechten. Hier w i r d die Unmöglichkeit anerkannt, Freiheit zur Staatslegitimation zu machen — und sie zugleich völlig zur staatlichen Disposition stellen zu wollen. I n dieser Wesensgehaltsgarantie für alle Freiheiten liegt jedoch noch mehr: Hier w i r d zugegeben, daß der Satz „ I m Zweifel für die Freiheit" nur dann echte Freiheitsentscheidung sein kann, wenn sich das dubium an unbedingt feste Freiheitsräume anschließt. Seine grauen Zonen bedürfen eines absolut unauflöslichen Kerns, sonst stünden sie i n der Tat zur totalen Disposition staatlicher Organe; die Grauzone erzwingt den Kernbereich. Man hat nun i n dieser Wesensgehaltssicherung den Ausdruck eines Grundmodells modernen staatsrechtlichen Denkens überhaupt sehen wollen: Hier komme der „konzentrische Aufbau" des neueren öffentlichen Rechts, all seiner Begrifflichkeit zum Ausdruck. Wie es nämlich Kerne von Freiheiten gebe, so sei dasselbe auch etwa für die Kompetenzen der Staatsorgane anzunehmen, es müsse sogar von „Kernbereichen der Drei Gewalten" ausgegangen werden, welche keine Gewaltenteilung verletzen dürfe. Gerade hier aber zeigt sich der generelle Unterschied von Freiheit Und Herrschaftsgewalt; Bei den Freiheiten ist es letztlich ihr unaus-
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schöpfbarer anarchisierender Kern, der den Begriff des „Wesensgehalts" notwendig erzwingt, soll die Demokratie wirklich auf der Ungebundenheit des Bürgers aufruhen. Herrschaftsmacht dagegen, staatliche Kompetenzen, all das kennt keinen faßbaren „Kern", nichts, was ihm unbedingt eigen sein müßte; und selbst über eine „Effizienzlehre" des „notwendigen Funktionieren-Müssens" staatlicher Einrichtungen ist es bisher nie gelungen, derartige „Machtkerne" zu verfestigen. Darin also besteht die Überlegenheit der Freiheit über alle Macht, daß sie einen unauflöslichen, letzten Kern aufweist, daß ihre Konzentrik gegenüber den Eingriffen der Macht anerkannt ist, während die Staatsgewalt ihrerseits derartig notwendige Zentren nicht erkennen läßt; i n der Demokratie jedenfalls gilt dies, und hier liegt auch wieder eine der typischen Schwächen der Volksherrschaft, welche nicht einmal die Landesverteidigung mehr zum absoluten Höchstwert und damit zum Machtkern erheben kann; die Anerkennung allgemeiner Kriegsdienstverweigerung zeigt dies deutlich, die Freiheit steckt auch, anarchisierend, i n diesem innersten Machtbereich. Nun w i r d man einwenden, es sei ja bisher i n jahrzehntelanger A n strengung Lehre und Rechtsprechung nicht gelungen, faßbare Grenzen des Kernbereichs der Freiheiten zu bestimmen, hier sei man nicht weiter gelangt, als zu unklaren und prekären Abwägungskonstruktionen zwischen privatem und staatlichem Interesse. Wer i m Wesensgehalt der Freiheiten etwas sieht wie anarchiehafte Grundlagen aller Freiheitsbetätigung, den kann dies nicht erstaunen; wie sollte auch etwas rechtlich faßbar sein, abgrenzbar werden, i n dem ein Rand der absoluten Herrschaftsablehnung i n die rechtgewordene Macht hineinreicht! Für den liberalen, i n den Kategorien der statischen, ausgrenzenden Jurisprudenz Denkenden mag es als Nachteil erscheinen, daß der „Wesensgehalt der Freiheit" nicht „quantitativ bestimmt" werden kann, er sieht darin eine Entwertung dieses ganzen Schutzes. Doch wer zur dynamischen Betrachtungsweise der Anarchie übergeht, der erkennt eben darin ihre besondere, Bindungslosigkeit laufend verstärkende Kraft: Gerade wenn der Wesensgehalt keine festen Grenzen hat, kann er ständig und mit Erosionswirkung gegen alle Machtäußerungen eingesetzt werden, nur dann w i r d er zu einem dauernden „Vorbehalt der Freiheit" gegenüber jeder Macht. Er drängt sie zurück, wo immer sie Schwächen zeigt, weil dann immer Abwägungen stattfinden müssen zwischen dem Bürger und den Herrschenden, weil sich die Macht nie einrichten kann i n einem ganz ruhigen Raum des Herrschens. Die Herrschaftsablehnung findet hier einen Anhaltspunkt zum Widerstand auch gegen die härtesten staatlichen Befehle — gegen die A n ordnungen des Staatsschutzes, der Landesverteidigung, der Polizei, ja der Steuergewalt. „Irgendetwas" muß ja dem Bürger allenthalben
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I I I . Der demokratische Weg i n die Anarchie
an Freiheiten bleiben, noch — durch das „ i n Der Wesensgehalt der Freiheitszweifel bis zur
und dieses schwer faßbare Etwas kann dann dubio pro liberiate" ständig erweitert werden. Freiheit ist eben nur ein Bereich, i n dem der Unauflöslichkeit verdichtet ist.
Die liberale Jurisprudenz tut aber auch das ihre, damit nun aus dem rein fluktuierenden Wesensgehalt feste Zonen der Freiheit werden, die sich, langsam aber sicher, i n den Raum der Herrschaft vorschieben: Die Wegnahme eines Gutes w i r k t immer als Verletzung des Wesensgehalts des Eigentums, lebenslanger Strafvollzug bedarf stets wieder der Überprüfung, damit hier der Wesensgehalt der Freiheit nicht verletzt werde. I n diesem Wesenskern kann sich der Bürger einrichten, bis hin zu der immer häufiger gewährten Freiheit, deren Umfang selbst zu bestimmen; und nicht nur das Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften als Inhalt der Glaubens- und Gewissensfreiheit ist hier ein Beispiel. So verwandelt sich i m Bereiche der Freiheitskerne sehr rasch das dubium der Freiheit i n eine eigentümliche Form von wohlerworbenen Rechten, welche die Demokratie zwar oft noch grundsätzlich zu bestreiten versucht, i m Ergebnis dann aber doch achtet, wie die Beamtenberechtigungen zeigen. Faßbar w i r d dies i n dem, was man heute das Verfassungsrisiko der Staatsgewalt zu nennen pflegt, die auch nur ferne Möglichkeit, daß eine Machtäußerung an Freiheitsrechten scheitern könnte. I n diesem Wort liegt die ganze Macht einer gegen Gesetz und Ordnung anbrandenden Anarchie, auch wenn die Dämme noch halten, ziehen sich ihre Besatzungen zurück; mit dem Verfassungsrisiko hat die Herrschaftsverneinung die demokratische Gewalt viel weiter zurückgeworfen, als es nach Gesetz und Recht eigentlich möglich sein sollte. Hier entsteht eine faktische Grauzone der Herrschaft, und, was besonders schwer wiegt, sie ist unbestimmt weit, nur selten w i r d sie durch den Spruch der Verfassungsgerichte eingegrenzt oder gar aufgelöst. Die Aufzählung dieser ausufernden Phänomene der großen demokratischen Freiheit könnte man beliebig fortsetzen. Das Ergebnis ist deutlich: Überall bricht sie in Anarchie aus, wo sie nicht von Herrschaft gebrochen wird. Wer sie also anerkennt, hat m i t ihr „Stücke der A n archie" ins Gebäude der Herrschaft getragen — und können es wirklich Stücke bleiben?
4. Die Versuche der „systematischen Freiheit"
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4. Die Versuche der „systematischen Freiheit" a) Das demokratienotwendige Streben nach Systematisierung der Freiheit I n einer Staatsform, die sich auf Freiheit gebaut sieht, muß der Versuch der Systematisierung der Freiheiten, ihrer Zusammenschau zu einer größeren Freiheit immer wieder unternommen werden. Es ist das Schicksal solcher Freiheitsjurisprudenz, daß ihr die Vertreter der klassischen rechtsstaatlichen Dogmatik stets entgegentreten und sie, aus ihren Prämissen heraus, unschwer widerlegen werden. Diese Skepsis gegen ein System von Freiheiten, gegen ein Wertesystem als Grundlage der Verfassung haben das deutsche Staatsrecht auch i n den letzten Jahrzehnten geprägt: Die K r i t i k eines Forsthoff konnte nicht ausgeräumt werden, sie hat die Demokratiedogmatik bleibend verunsichert — und doch müssen Lehre und Verfassungsrechtsprechung fortfahren, mit dem „als ob" einer systematischen Freiheit die Volksherrschaft lebensfähig zu erhalten. Hier zeigt sich wieder einmal ein innerer Widerspruch der Demokratie, die i n ihren Grundlagen Anarchie ist, es nach ihrer dogmatischen Konstruktion aber nicht werden „darf". Die Wege zu solcher Systematisierung der Freiheit sind bekannt. Da sind die Entscheidungen „ i n dubio pro liberiate", von denen bereits die Rede war, und in welchen alle nicht ganz fest von Herrschaft besetzten Räumen mit Freiheit ausgefüllt werden; da ist der Gedanke von den ganz hohen, den höchst virtuellen, den Mutter-Freiheiten, welche immer neue „Freiheitsaspekte" hervorbringen sollen, Ausreisefreiheit oder Wettbewerbsfreiheit, Vertragsfreiheit oder Demonstrationsfreiheit. Hier w i r k t nicht nur eine Freiheitsphantasie und ein Kombinationsreichtum der Bindungslosigkeit, welcher sich allein aus der A n t i machtphantasie der Anarchie rechtfertigen läßt; hier werden Worte gebraucht, welche nur aus anarchischem Denken verständlich sind — so etwa wenn es heißt, das große Recht der Entfaltungsfreiheit der Persönlichkeit „treibe andere Freiheiten" aus sich hervor. Hier öffnet sich die begriffliche Statik der rechtsstaatlichen Dogmatik der anarchischen Dynamik i n einer vorsichtigen Begeisterung, wie sie das Recht gerade noch kennen darf. I n all dem verstärkt sich das Verfassungsrisiko der demokratischen Herrschaft laufend, ihre Macht bewegt sich immer mehr auf ungesichertem Boden, muß sie doch damit rechnen, daß sie sich i n neuen, bisher unbenannten Ausprägungen des „Freiheitssystems" verfängt. Die Systematisierung der Freiheiten hat i n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einen i n seiner Bedeutung noch gar nicht voll erkannten weiteren Fortschritt gemacht; i n der Theorie der „wech-
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I I I . Der demokratische Weg i n die Anarchie
selseitigen Schranken", welche vor allem zur Meinungsfreiheit entwickelt worden ist, jedoch für jede Freiheit gelten muß. Da w i r d zwar dem Staat das Recht der Beschränkung der Bürgerfreiheit zuerkannt, doch seine Eingriffe unterliegen wiederum immanenten Beschränkungen aus dieser selben Freiheit, welche zurückgedrängt werden sollte. Ob dieses System logisch voll durchdacht ist, ob es sich überhaupt aus den Begriffen der herkömmlichen rechtsstaatlichen Jurisprudenz heraus halten läßt, mag hier offenbleiben. Entscheidend ist, daß damit ein Versuch der Systematisierung der gesamten Staat-Bürger-Beziehungen aus der Freiheit heraus und unter Vorrang der Freiheit unternommen wird. I n jeder staatlichen Herrschaftsäußerung „steckt auch Freiheit", sie hat nicht nur i m Zweifel vor der Bindungslosigkeit zurückzuweichen, sie muß selbst wieder auf die Herstellung von Freiheitszuständen, auf diese Bindungslosigkeit gerichtet sein. Hier kommt es zu einer geistig-grundsätzlichen Aushöhlung der Substanz des „Herrschens an sich", welche Herrschaft letztlich nurmehr begreift als — ein Mittel zur Herstellung von Anarchie. Und wie immer hier theoretisch konstruiert werden mag, die praktischen Auswirkungen sind schon heute unübersehbar. Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte zögern, weichen zurück, wenn es gilt, Herrschaft unbedingt durchzusetzen. Was da i n vielen Formen als Herrschaftsaufweichung erscheint, als Kapitulation vor hinhaltendem oder gar offenem Widerstand freiheitsbewußter Bürger, das alles kann auch verstanden werden als demokratiekonforme Anerkennung der überall und systematisch wirkenden Freiheit, auf welche selbst jede Herrschaftsäußerung gerichtet sein muß; und so w i r d all dies ja auch praktisch tagtäglich gerechtfertigt, durch „Freiheitsüberzeugung" — und Freiheitsangst der Herrschenden. b) Die Herrschaftsgewalt
in der Defensive
I n der „Systematisierung der Freiheit" dringt die Anarchie rasch gegen alle Formen demokratischen Herrschens vor. Hier w i r d dieser Macht das Unbedingte genommen, das prinzipiell Grenzenlose, welches sie aber doch konstituiert; und ihre Front mag noch halten, i n ihren Etappen sitzt bereits die Passivität, ja die Herrschaftsverneinung. Die demokratische Macht hat keine tiefen, sicheren Rückzugslinien, sie ist überall durch systematische Guerillas des anarchischen Freiheitsdenkens bedroht. Ihre Polizei w i r d nicht schießen, ist sie doch der Freund des Freiheitsbürgers; ihre Verwaltung w i r d lieber kompromittieren, wenn sie i n „großen Fällen" echte Gegenmacht fühlt, und i n all dem w i r d das Regime nicht seine Schwäche, sondern seine Rechtfertigung sehen.
4. Die Versuche der „systematischen Freiheit"
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Die demokratische Herrschaft verliert ihrerseits das Systematische, gibt es an die Freiheit ab. Damit gerät sie i n Gefahr, die juristischen Prämien der bisherigen, herkömmlichen Herrschaftstechnik aufzugeben, es entfaltet sich eine „Jurisprudenz der Freiheit", welche leicht Ansätze einer Technik der institutionalisierten Anarchie entwickeln kann. Ausgebaute Verteidigertechniken i n Staatsschutzprozessen sind nicht Freiheitsschikane, sie sind Demokratie. Vor allem aber verliert die Volksherrschaft i n der systematischen Freiheit „die Überzeugungskraft des Originären der Herrschaft"; „ i m System" ist eben nicht sie, sondern die Freiheit. Ist diese Demokratie dann aber noch etwas anderes als eine A r t von randkorrigierter A n archie? Die systematische Freiheit der Volksherrschaft hat die Herrschaft selbst verunsichert, ihr jenes Selbstbewußtsein genommen, ohne das sie, auf Dauer jedenfalls, nur immer weiter, Schritt u m Schritt, w i r d zurückweichen können. Durch Kraftakte mag sie das unterbrechen, doch diese werden durch immer neue Erscheinungsformen systematischer Freiheiten wieder abgeschwächt, man denke nur an das Strafrecht. Das Freiheitssystem w i r d zum systematischen Herrschaftsmißtrauen, derartige Worte gehören ja seit langem zum Repertoire des demokratischen Staatsverständnisses, ohne daß man bisher ihre geistigen Konsequenzen vertieft hätte: Jene Herrschaft, die i n ständigem Rechtfertigungszwang steht, durch ihr Rechts- und Rechtswahrersystem dem Bürger auch noch die geistigen und materiellen Hilfsmittel zur Realisierung seines Mißtrauens laufend liefert, sie zwingt von allen Seiten gleichzeitig die Staatsgewalt i n einen Rückzug, der eines Tages ein ungeordneter werden muß, wenn die Freiheit stets neue Einbrüche erzielt. Wie groß immer die Macht der Demokratie noch sein mag — sie ist eine Defensivgewalt geworden. Es wäre wohl reizvoll, Grundlinien der Dogmatik einer solchen Defensivherrschaft zu entwickeln. Für die Staatsgewalt mag es eine Versuchung sein, eine Fleet i n being zu werden i m Meer der Freiheit, dies aber waren eben doch auch nurmehr die letzten Ausläufer der britischen Ordnungsgewalt. Systeme kommen vor ihrer Verwirklichung. M i t dem System der Freiheit hat die Demokratie den Marsch i n die Anarchie angetreten.
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. Der demokratische Weg i n die Anarchie
5. Die Grundrechtsidee als Anarchie a) Grundrechtsablehnung
aus Anarchieängsten
Seit dem Beginn der großen Grundrechtsbewegung i m 18. Jahrhundert waren es stets Anarchieängste, die durch solches Freiheitsstreben geweckt wurden. Die Unbedingtheit, m i t welcher die universelle Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution die Ketten der Bürger abschütteln wollte, damit sie zu Menschen würden, zeigte den zutiefst anarchischen Ausgangspunkt und rechtfertigte die Besorgnis der Verteidiger der Ordnung. I n klarer Distanz zur universellen Deklaration, haben selbst die französischen Revolutionäre deshalb bald neben sie ihre Kataloge von Verfassungsfreiheiten gestellt: I n diesen letzteren w i r d schon der Versuch einer Ver-Ordnung der Freiheit unternommen, i n der allgemeinen Menschenrechtserklärung kommt dagegen noch das Wesen des Anarchischen eindeutig zum Ausdruck: Diese Freiheit soll ja für alle gelten, weil ihr gegenüber Herrschaftsunterschiede auch nicht das geringste bedeuten können, weil Macht gegenüber dieser Freiheit geradezu ins Nichts zurückfällt. Die Revolutionäre Frankreichs haben es, nach 1789 und i n ihrer ganzen republikanisch-revolutionären Tradition, immer verstanden, die Spannung zwischen dieser universellen Menschenrechtserklärung und den i n die Verfassung rezipierten Grundrechten zu ertragen; sie haben stets die universelle Deklaration als etwas irgendwie „Darüberstehendes" anerkannt, aus dem jeder Verfassung, jeder Herrschaft letzte Legitimation, aber auch Begrenzung erwächst — ihre revolutionäre, freiheitliche Tradition kann nur gedeutet werden als grundsätzliche Anerkennung des anarchischen Charakters der Grundrechtsidee; und deshalb hat man ja nirgends mehr als in Frankreich gezögert, derartige Freiheiten i n die Verfassung aufzunehmen, weil eben kein Volk tiefer das Wesen der anarchischen Freiheit wenn nicht erkannt, so doch politisch gefühlt hat. Doch auch i n Deutschland ist, jedenfalls bei der Einführung der großen, systematischen Grundrechtskataloge i n der Weimarer Zeit, noch etwas wie eine Anarchieangst vor der Grundrechtsidee erkennbar. Nicht als ob die Grundrechte i n diesem Lande so unbekannt gewesen wären, wie es eine K r i t i k hat glauben machen wollen, der die tiefen Wurzeln des deutschen Freiheitsdenkens nicht bekannt sind. Doch hier wurde das erste Mal das Wesen der systematischen Grundrechtlichkeit deutlich, die eben über die Einräumung punktueller Freiheiten weit hinausgeht. Hier erkannte die Staatslehre, daß ein Schritt aus der Herrschaft hinaus vollzogen werden sollte: i n eine große, staatsgrundlegende Freiheit, i n der man den Platz für die Herrschaft vergeblich
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5. Die Grundrechtsidee als Anarchie
suchte, deshalb immer wieder nach jenen Pflichten rief, welche die Freiheiten i n Grenzen halten sollten. Eine Dogmatik der Grundpflichten kann aber eine Demokratie nicht entwickeln, weil sie auf anarchischem Grund errichtet ist, weil es nicht zwei Säulen eines Gemeinschaftslebens geben kann, die gegeneinander stehen, Anarchie und Herrschaft auf gleicher Höhe. b) Grundrechte — unabänderlich
wie die Herrschaftsverneinung
Die Verfassungstechnik mag den Grundrechten einen „besonders hohen Rang" zuerkennen, rechtlich sind sie abänderbar wie alle anderen Normen des Systems. Nur sehr zurückhaltend äußern sich die Verfassungsgerichte zur höheren Bestandskraft der Grundfreiheiten, doch hat sich das politische System schon viel weiter entwickelt: De facto lassen sich hier zwar Randkorrekturen vornehmen, vor einschneidenden Grundrechtsänderungen schreckt man selbst bei Totalrevisionen zurück, aus der wohlbegründeten Sorge, man könnte hier den Boden demokratischer Legitimität verlieren. Neuerdings würde man ja sogar internationale Risiken heraufbeschwören, sollte sich die völkerrechtliche Selbstverständlichkeit elementarer Menschenrechte verstärken können. Diese tatsächlich-politische Unabänderlichkeit der Grundrechte mag manche Randerosion nicht verhindern; vom staatsgrundsätzlichen Denken her bedeutet sie das Übergreifen anarchischer Vorstellungen auf das Gemeinschaftsleben. Denn nicht die Herrschaft w i r d ja, i n welcher Ausprägung immer, als unabänderlich gesichert; keine Institution, kein Organ gibt es, das absolut herrschaftsnotwendig wäre, es sei denn vielleicht jenes Parlament, i n dem aber auch dieselben Unbedingtheitskräfte der Anarchie lebendig sind. Nur das, was anarchiegetragen ist, die Freiheit von der Gewalt, i n all ihren Formen, das w i r d auch absolut gesetzt. Eindrucksvoll kommt hier die Grenzenlosigkeit der Herrschaftsverneinung zum Ausdruck. Ob die Herrschaft verschwinden kann, bleibt offen; Anarchie jedenfalls und Grundrechte müssen bestehen. Was dies als gedankliche Dimension bedeutet, dieser höchste Notwendigkeitsgrad der Herrschaftsverneinung, das ist bisher noch kaum in Ansätzen ausgelotet worden. c) Die Idee der vorgegebenen Freiheiten — originäre
Anarchie
Fast selbstverständlich w i r d immer von den Grundrechten als „vorgegebenen Freiheiten" gesprochen, vor aller Herrschaft sollen sie verliehen worden sein, damit diese sie eben nicht beschränken könne. Die Vorstellung von einem, wie immer gearteten, zeitlichen Vorrang der Freiheit vor der Herrschaft mag nur i n der Theorie anerkannt·
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. Der demokratische Weg i n die Anarchie
werden, sie sollte vor allem die Unantastbarkeit der Freiheiten befestigen. Doch bei vertiefender Betrachtung zeigt sich auch hier weit mehr, vielleicht auch nur i n einem logischen Postulat des Rechts: Wenn die Freiheit etwas Vorgegebenes ist, so muß es einen Freiheitszustand geben, i n dem von Herrschaft überhaupt nicht die Rede sein kann; hier also ist wahrhaft der Robinson Gesetz geworden, das anarchische Paradies w i r d zur Verfassungslegitimation, ja geradezu Verfassungsinhalt. Hätte je irgendein Demokrat die Vorgegebenheit auch der Herrschaft behaupten wollen? Sie mag, ebenso wie die Gleichheit, in den Verfassungen als etwas Unabänderliches garantiert sein, daß sie vorgegeben sei, von Ewigkeit her bestehe, davon ist nie die Rede. Wenig Sinn hat es, demgegenüber auf die historisch-logische Unmöglichkeit eines Gemeinschaftslebens ohne Ordnung hinzuweisen; was hier allein zählt, ist die Grundentscheidung der Demokratie zu vorgegebenen Freiheiten, damit zu der Anarchie als dem Höchsten, dem Gegenstand des Glaubens, zu der Herrschaft lediglich als dem prekären Instrument, das diesem Gott stets zu dienen hat. Grundrechte als Ausdruck des rechtlichen Glaubens an die Anarchie — und dann doch noch Herrschaft? Was kann diese Herrschaft noch an Kraft aufbringen? I n der Vorgegebenheitstheorie der Grundrechte hat eine juristische Bewußtwerdung der Anarchie i n der Demokratie eingesetzt. Die Grundrechte müssen daher immer anarchische Sprengkräfte i n dieser Staatsform entfalten. d) Grundrechtsschutz — Einsatz der Staatsgewalt zur Sicherung der Anarchie Die Grundrechte zu sichern ist Ziel aller staatlichen Gewalt, so w i l l es das GG (Art. 1), dies allein entspricht den Grundsätzen der Volksherrschaft. Prinzipiell bedeutet das die Unterordnung der Herrschaft unter die Bindungslosigkeit. Ob dies theoretisch überhaupt möglich ist, eine solche Herrschaft zum Schutze der Herrschaftsnegation, mag hier auf sich beruhen. Jedenfalls proklamiert hier die Demokratie den Staat i m Dienst einer Herrschaftslosigkeit, die nur dann ernst genommen werden kann, wenn ihr Zug zur Anarchie anerkannt wird; davon war grundsätzlich bereits die Rede. Doch überall dort, wo der Staat mit diesem Grundrechtsschutz Ernst macht, kommt i n der Praxis ganz deutlich seine Herrschaftsschizophrenie zum Ausdruck. Da w i r d von den Beamten der Hoheitsmacht verlangt, daß sie, bei all ihren Eingriffen, stets auch die Rechte des Bürgers berücksichtigen, Argumente für seine Freiheit gegen sich selbst sammeln. Als eine Selbstverständlichkeit erscheint dies schon i n jener
5. Die Grundrechtsidee als Anarchie
Sachverhaltsermittlung von Amts wegen, welche heute die Grundlage des ganzen öffentlichen Rechts darstellt. Kaum je w i r d darüber nachgedacht, welche Widersprüchlichkeit, welche wahre Schizophrenie der Herrschaft i n diesem Begriff liegt: Der Herrschaftswille soll Material suchen gegen sich selbst, von i h m soll all jenes Advokatorische abfallen, welches doch sonst so häufig als das Wesen des rechtlichen Argumentierens erscheint; hier soll der Herrschaftswille zugleich seinen Gegenwillen beinhalten. Nur zu oft stellt dies i n der Praxis den Beamten vor unlösbare Aufgaben, er kann nicht zugleich A n w a l t des Staates und des Bürgers sein. Verkannt w i r d damit aber auch der eigentliche Sinn der Exekutive: Sie bedeutet eben gerade nicht richterliche, unabhängige Streitentscheidung durch eine Instanz, welche über beiden Parteien steht. Dem demokratischen Rechtsstaat mag es eigen sein, sein Richterideal allen Staatsorganen aufzuzwingen, richterliche Entscheidungen bereits i m Verwaltungsverfahren fällen zu lassen. Ob diese Vorverlegung der Judikative i n die Exekutive dem Sinn der Gewaltenteilung noch irgendwie gerecht werden kann, mag ebenfalls hier dahinstehen, entwertet w i r d sicher die Einmaligkeit der unabhängigen Gerichtsbarkeit; und wenn ernst gemacht w i r d mit solchem Herrschaftsdienst an der Freiheit des Bürgers, so muß eine Machtabschwächung eintreten, i n der sich die Herrschaftsgewalt gegen die so starke Freiheit des Bürgers praktisch kaum mehr durchsetzen kann. Wer heute so beweglich manche Schwächen, ja Schwächlichkeiten der Strafrechtspflege beklagt, der mag darüber nachdenken, ob eine Staatsanwaltschaft w i r k l i c h zugleich auch eine Bürgeranwaltschaft sein kann. Dies ist eine Machtschizophrenie, welche die i n Institutionen einbrechende Anarchie zum demokratischen Machtabbau werden läßt, doch darin erschöpft sich noch nicht der „Schutz der Freiheit durch die Staatsgewalt", nimmt man ihn einmal ernst. Er würde ja die laufende Herstellung der „realen Freiheitsgrundlagen" verlangen, vom Staate fordern, er möge den Gewaltwiderstand ständig durch Gewalteinsatz ermöglichen und verstärken. Da müßte dann die Steuergewalt eingesetzt werden, u m das Selbständigkeitsgefühl des Bürgers gegen die Macht zu befestigen; da wäre er i n den Schulen des Staates zum Widerstand gegen die Staatsgewalt zu erziehen. Wo immer dies versucht wird, beginnen sogleich die Klagen über anarchische Auflösung der Staatlichkeit — obwohl doch letztlich nur der demokratische Freiheitsschutz durch den Staat einmal ganz ernst genommen wird; doch dies kann eben letztlich gar nicht geschehen, hier müßte sich der Staat gegen sich selbst wenden. Konsequente Herrschaft bedeutet vielmehr, daß die Armee zur Schule der Nation werde, aber zum Gehorsam; daß 6 Leisner
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die Schulen zwar vielleicht mäßige Freiheiten bewahren, i n erster Linie aber die Staatsbejahung, damit die Unterwerfung unter die Herrschaft predigen. Wer von Erziehern und Richtern, von Strafvollzugsbeamten und Polizisten wirklichen Dienst an der Freiheit verlangt, die doch letztlich immer anarchische Spitzen hat, der kann sich nicht wundern, wenn demokratische Herrschaft nur Herrschaftslosigkeit, ja Gegenherrschaft hervorbringt. Und er müßte i m letzten i n Kauf nehmen, daß die vollendete Ordnung — zur Anarchie wird. I n der Praxis geschieht dies alles nicht; es entsteht die schwache, immer schwächlicher werdende Herrschaft der leichten demokratischen Hände; sie waschen sich i n der Unschuld der Bürgerfreiheit und versuchen, darin noch etwas von Staat festzuhalten. e) Die ziellose Freiheit als Herrschaftslosigkeit Den Ausuferungsgefahren der Freiheit hat man von jeher dadurch begegnen wollen, daß eine zielgerichtete Freiheit von der ziellosen Anarchie unterschieden wurde. Diese Funktionalisierung der Freiheit hat i n Deutschland vor allem der Nationalsozialismus gebracht, indem er insbesondere die Reste der Eigentumsfreiheit, welche er noch belassen wollte, i n die Ausübung einer Sachwalterfunktion für die Gemeinschaft zu verwandeln suchte. Freiheitsbürger als Amtsträger der gerichteten Freiheit — dies ist eben die letzte Konsequenz einer Funktionalisierung der Freiheit, welche die Demokratie nur zu gerne — als Sozialbindung, Sozialpflichtigkeit — i n das Arsenal ihrer Grundprinzipien übernommen hat. Die „Freiheit zu etwas" w i r d dann zum staatsethischen Wert erklärt, die ziellose Freiheit zur zügellosen Anarchie abgestempelt. Doch mag man hier auch die Staatsphilosophie bemühen — über ein Problem kommt man nicht hinweg: Wer bestimmt das Freiheitsziel? Wenn nicht der Einzelne, so eben doch nur die Staatsgewalt, und dann ist keine Freiheit mehr. Jede A r t von Funktionalisierung der Freiheit ist daher von vorneherein und völlig zum Scheitern verurteilt, wenn man i n der Freiheit mehr sehen w i l l als Beschäftigungstherapie für den Bürger. Hier zeigt sich ein eindeutiges Entweder-Oder der Freiheit: Sie ist ganz oder gar nicht, ziellos und dann Anarchie — oder von irgend jemandem auf irgendein Ziel h i n von vorneherein gerichtet — dann nur eine feinere Herrschaftsform. Die Praxis erweist dies täglich: Dem Bürger darf eben das Ziel des Eigentumsgebrauchs nicht von der Staatsgewalt vorgeschrieben werden, soweit es geschieht, erfolgen staatliche Eingriffe. Privatnützigkeit
6. Über die „gesellschaftliche Freiheit" in die Anarchie
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kann nur bedeuten, daß der Einzelne ganz allein über das Ziel entscheidet, zu dessen Erreichung er sein Gut benützen w i l l . Daneben mag er staatsgesetzte Ziele auch noch beachten müssen, doch darin w i r k t bereits eine deutliche Fremdbestimmung i n Fernsteuerung. Und wenn die Gerichte i h m immer wieder sagen, was er „eigentlich zu wollen hätte", als „vernünftiger, wirtschaftlich denkender Mensch", so liegen darin höchst gefährliche Vormundschaften der Freiheit, eine Durchschnittsbildung seitens der Staatsgewalt, wo doch der Einzelne seine Individualität voll entfalten sollte. Zurecht hält denn auch dies die demokratische Gerichtsbarkeit i n engsten Grenzen. Die Funktionalisierung der Freiheiten ist i n der Demokratie gescheitert, dies ist einer der stärksten Beweise dafür, daß die demokratische Freiheit, die Staatsgrundlage dieser Ordnung, nichts anderes sein kann als die unendliche, die ziellose Freiheit — die Anarchie. 6. Über die „gesellschaftliche Freiheit" in die Anarchie a) Die anarchiegeneigte Gesellschaft — der Niedergang der früheren „Gesellschaftsmächte" Aus ihrer inneren politischen Logik heraus muß die Volksherrschaft versuchen, ihre Freiheiten i n der Gesellschaft durchzusetzen, so wie der Faschismus sein Führerprinzip i n Familie und Wirtschaft zum Tragen bringen wollte. Dies ist eine herrscherliche Selbstverständlichkeit für alle Machtsysteme, welche i n besonderer Weise die Verschränkung von „Staat und Gesellschaft" anstreben. Doch nichts w i r d der Demokratie gefährlicher als die gesellschaftliche Freiheit, welche dort noch viel leichter zur Anarchie ausufert als i n den Beziehungen des Bürgers zum Staate. Solange noch an den Grundvorstellungen des Liberalismus festgehalten wird, liegt i n allem Gesellschaftlichen an sich schon eine Staatsferne, welche i m Ergebnis nur wesentliche Machtabschwächung, Machtverdünnung bedeuten kann. Werden dahin noch weitere, organisierte Freiheiten getragen, so ist der Ausbruch i n die totale Bindungslosigkeit viel näher als dort, wo noch immer Ordnung i n der Organisation selbst liegt, i m Staat. Wenn also der Staat m i t seinen Gesetzen versucht, demokratische Prinzipien i n Verbänden und i n der Familie herzustellen, i n den Betrieben und i m Berufsleben überhaupt, so w i r k t er viel unmittelbarer anarchisierend, als wenn er nur Instrumente gegen seine eigene, an sich schon lastende und stets potentiell allmächtige Gewalt bereitstellt. Daß etwa die Mitbestimmung der kürzeste Weg zu wahrer Anarchie werden kann, w i r d sich noch bei näherer Betrachtung erweisen, aber auch, daß es ein typisch demokratischer Weg ist. 6*
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I I I . Der demokratische Weg i n die Anarchie
Die Demokratie glaubt, alle diese Wege gehen zu können, ja zu müssen, damit überhaupt etwas von ihrer Freiheit auch i n der „Gesellschaft" sei, und sie verfolgt dies konsequent, weil sie von einem Grundi r r t u m ausgeht: von der Überschätzung der gesellschaftlichen Macht. Hier w i r d sie vor allem das Opfer der Beurteilung heutiger Zustände nach den Kriterien des 19. Jahrhunderts, wie sie nicht zuletzt sozialistischem Denken entspricht. Man ist ja noch heute gewohnt, überall dort gesellschaftliche, „staatsgleiche" Mächte zu sehen, wo es sie früher wirklich gegeben hat — i n der Übermacht des Vermieters über den Wohnungssuchenden, des Fabrikherrn über den unorganisierten A r beiter. Da nicht zur Kenntnis genommen wird, wie weitgehend sich hier überall die gesellschaftliche Wirklichkeit gewandelt hat, wie sehr schon, durch Organisationen und Marktmechanik, weithin echte und natürlich wirkende Gleichgewichte hergestellt sind, deshalb muß man immer weiter jene „gesellschaftlichen Freiheiten" herstellen, ja erzwingen, denen aber bei näherem Zusehen gar keine gesellschaftlichen Herrschaftskräfte mehr gegenüberstehen. Der Niedergang gesellschaftlicher Mächte, gesellschaftlicher Herrschaftsmöglichkeit überhaupt, ist seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eindeutig und überall festzustellen. Gesellschaftliche Machtbalancen haben sich entwickelt. Vor allem aber finden diese „gesellschaftlichen Mächte" eben nicht mehr den Schutz, sie entwickeln sich nicht mehr nach dem B i l d und Gleichnisse einer staatlich-feudalen Herrschaftsschicht. Nur darin aber konnte i m 19. Jahrhundert die gesellschaftliche Elite herrschen, daß sie, über vielfache Verbindungen, i n einem dauernden M achtaust ausch stand zur spätfeudalen Herrschaftsordnung. M i t dem Zusammenbruch dieser Mächte hört die laufende Möglichkeit der Regeneration gesellschaftlicher Macht aus der Staatlichkeit auf. Umgekehrt jedoch intensiviert sich die Freiheitssteigerung mit staatlichen Mitteln durch Gesetz, verwaltungsmäßigen Schwächerenschutz und Richterspruch. Die Bestreitbarkeit so mancher sozialistischer Forderungen neuester Zeit rührt gerade davon her, daß die tatsächliche Macht der angeblichen Gesellschaftsgewaltigen, insbesondere der A r beitgeber, ständig abnimmt. Wenn sich dann nicht die organisierten gesellschaftlichen Freiheiten zu neuen Mächten verdichten, wie dies etwa i m Bereich der Gewerkschaften zu beobachten ist, so läuft die Gesellschaft als solche aus dem Ruder der Ordnung, Emanzipation w i r d zu echter Anarchie. I n Wahrheit ist eben i n diese heutige Gesellschaft schon allzu viel Freiheit aus der staatlichen Herrschaft hinübergeflossen, die staatlichen Herrschaftsgottheiten sind gestürzt, mit politischem Schwung hat sich die Freiheit nicht mehr aus der Gesellschaft i n den Staat, sondern vom
6. Über die „gesellschaftliche Freiheit" i n die Anarchie
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Staat her mächtig über die ganze Gesellschaft verbreitet. Woher sollten hier noch die Gegenkräfte für so viel gesellschaftliche Freiheit kommen? b) Das Ende der „Gesellschaft als Gewaltreserve
des Staats"
Die „gesellschaftlichen Mächte" des 19. Jahrhunderts alimentierten sich nicht nur aus der Idee und der tatsächlichen Kraft der Staatlichkeit, sie waren seinerzeit auch eine echte Gewaltreserve des Staates. I n ihre selbstdisziplinierenden Bindungen konnte er ausweichen, damit dem Odium übermächtiger Eingriffe entgehen. Ehe und Familie, freie Vereine, eine staatsferne Wirtschaft und eine immer mehr „Gesellschaft werdende" Kirche übernahmen Ordnungsfunktionen, deren sich der liberale Staat leicht entäußern konnte. Es fanden schwer i m einzelnen feststellbare Herrschaftsverlagerungen statt, eine Machtcamouflage, welche i n den Untersuchungen zum „Gleichheitsstaat" näher beschrieben worden ist. Die „Gesellschaft" war Gewaltreserve des Staates. Heute steht ihm dieser Rückgriff nicht mehr vergleichbar zur Verfügung. Könnte etwa die Staatsgewalt des demokratischen Gemeinwesens noch versuchen, ihren Herrschaftswillen über Mitbestimmung i n den Betrieben durchzusetzen? Sind hier nicht schon zahllose anarchisierende Gegenkräfte entstanden, an deren vielfachen Willen sich das einheitliche Staatswollen dauernd bricht? Welche Chancen hätte ein W i r t schaftsminister des Bundes, wollte er seine größere Politik über Betriebsräte verwirklichen? Die grauen Eminenzen und Kaufmannsclubs des 19. Jahrhunderts waren da schon bessere, wirksamere Gesprächspartner für die Herrschenden des Staates. Ein Verständnis für das „öffentliche Interesse" kann eben nur von gesellschaftlich Herrschenden, nicht von gesellschaftlich Repräsentierenden verlangt werden; ihre Aufgabe ist die Anmeldung von Forderungen, nicht die Schaffung von Ordnungen; sie denken betriebswirtschaftlich, nicht makroökonomisch. Und vielleicht kommt die Zeit, i n der das angebliche Profitdenken liberaler Wirtschaftsminister an dem echten betrieblichen Gewinnstreben der Arbeitervertretungen scheitert. Wohin kann die Staatsgewalt ausweichen, wenn ihr die so ungefährlich erscheinende Form der Herrschaftsreproduktion über die Gesellschaft verschlossen ist? Anarchie ist ein ganz ursprünglich gesellschaftliches Phänomen. M i t der engen Verbindung der Gesellschaft zum Staate i m Namen der Freiheit schien sie überwunden; i n Wahrheit hat sie hier bereits große Siege errungen: Der Staat ist selbst zur Gesellschaft geworden, er produziert Freiheit anstatt Herrschaft, insbesondere dort, wo sie am stärksten wirken, zur Anarchie sich steigern
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I I I . Der demokratische Weg i n die Anarchie
kann, i n den Räumen der Privatheit. Sie ist vor allem darin heute staatsfern, daß i n ihr — „Gewalt kaum mehr stattfindet", also auch keine Gewaltreserve mehr besteht. Die Staatsgewalt der Demokratie ist wirklich auf sich allein gestellt. Sie w i r d etwas wahrhaft Besonderes, Isoliertes, Eigenartiges — Problematisches. U m sie und i n ihr selbst nimmt Freiheit überhand; nur die kleine Freiheit der Demokratie — oder bereits die große Freiheit der Anarchie?
I V . Von der Gleichheit als Herrschaft zur Gleichheit als Anarchie 1. Gleichheit — ein zweischneidiges Herrschaftsschwert a) Atomisierung
als erster Schritt zur Anarchie
I m Gleichheitsstaat sind w i r der höchsten Machtsteigerung begegnet, der nivellierenden Diktatur der Demokratie. Die Zwischengewalten werden gebrochen, die Bürger atomisiert; woher soll ein Widerstand gegen diese Gewalt kommen, die allgegenwärtig ist, durch die Logik der Nivellierung i n immer neue Herrschaftsäußerungen getrieben wird? Doch nun ist es Zeit, die Gegenthese aufzustellen: Gleichheit ist eine riesige, unvergleichliche Machtchance, doch sie ist eine ebenso große Machtgefahr, w i r d sie nicht konsequent und stark genutzt. Sie ist Instrument einer starken, mächtigen, noch selbstbewußten Demokratie, Doch i n ihr liegt auch der Keim des Machtverfalls, der Weg zum Ausbruch aus der perfekten Gleichheitsordnung. Wiederum zeigt sich: Alles was i n und u m Macht geschieht, dreht sich u m die Egalität. Wer nivelliert, kann zwar auf der tabula rasa leicht neue, lastende Macht errichten, doch bevor sie gebaut ist, gibt es da nur — Herrschaftslosigkeit. Jeder Atomisierungsvorgang ist für die Mächtigen höchst gefährlich, denn zunächst einmal bringt er Machtabbau; die erste Phase der Gleichheit ist stets Herrschaftslosigkeit, Herrschaftschance besteht nur soweit, wie sogleich der Machteinsatz beginnen kann. Wer die Gleichheit als Weg zur Anarchie begreifen w i l l , muß eine Phasentheorie der Egalität entwickeln: I n einer ersten Etappe w i r k t sie destabilisierend, bis h i n zur Auflösung der Herrschaftsgewalt. Da werden die Bürger aus staatlich gehaltenen Berufsordnungen entlassen, i n dem nivellierenden Nebeneinander der staatsbeaufsichtigten Konkurrenzen und Marktmechanismen sollen sie kleiner, herrschaftsgefügiger werden. Doch wann setzt diese zweite Phase ein? Ist da nicht zunächst nur das Selbstgefühl der Emanzipierten? Schüler und Studenten treten aus der Disziplin der staatlichen Pädagogik heraus — die nivellierenden Wirkungen gleichwertiger Diplome und wirtschaftlich vergleichbarer Berufschancen können aus ihnen bald die gefügige Herde machen, sie i n Zusammenschlüssen entindividualisieren.
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I V . V o n der Gleichheit als Herrschaft zur Gleichheit als Anarchie
Wie lange aber dauert nun i n all diesen menschlichen Leben der Schritt von der Emanzipation bis zum Auffangen der atomisierten Bürger i n der neuen Gleichheitsordnung? Sind da nicht immer wieder Phasen tatsächlicher Anarchie, dünken sie nicht gerade dem jungen Menschen unendlich lang, unendlich wie alle Herrschaftsverneinung? I n der Egalisierung w i r d doch zunächst einmal eine A r t von Naturzustand hergestellt; die Arbeiter finden sich auf der irgendwie einsamen Insel ihres Betriebs, ohne Befehlshaber und Kapitän, sie müssen, von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz, erst einmal neue Ordnungen herstellen, und dieses eigentümliche Miteinander kennt keine Herrschaftsstimmung. Wie sollen sie da nun, i n ihrer Arbeit, i n der „Gesellschaft" gleich geworden, m i t einem Mal wieder Organe für die Herrschaft entwickeln, wenn sie dem Polizisten, dem Steuerbeamten begegnen? W i r d sich hier nicht, zwischen Bürger und Staat, das Nebeneinander der Atomisierten fortsetzen, muß der Bürger nicht versuchen, nun auch i m Hoheitsbeamten den Freund zu sehen, den Helfer — den Kumpel? Die staatsbegünstigte Egalisierung der Reihenhäuser und Wohnanlagen — bringt sie wirklich Herrschaftsbereitschaft hervor und nicht nur die vielberufene Isolation, damit aber Herrschaftsunwillen? Wächst die Anarchie nicht gerade dort, wo es nichts mehr zu beherrschen gibt, weil nichts mehr zu verteilen ist? Die Egalität, welche die Bürger nebeneinander stellt, hebt zugleich auch jene Dynamik auf, i n welcher die einen bereit sind, ihre Kräfte den Herrschenden gegen die anderen zu leihen. Kann es da nicht sein, daß sich mit einem Mal die Mächtigen — allen gegenübersehen, zahllosen gleichen Feinden i n der Anarchie? b) Die Gefahr der ungenügenden Macht Aufgabe und Chance des Gleichheitsstaates ist die ständige, die unermüdliche Herrschaft, zur Bewahrung und Verstärkung der Nivellierung. Solange die Demokratie diesem heilsamen Herrschaftszwang entsprechen kann, ist ihre Macht absolut. Doch viele Anzeichen sprechen dafür, daß eine verhängnisvolle Machtverfehlung einsetzt, eine typische Entwicklung der Spätdemokratie: Sie egalisiert zu rasch, schafft überall Herrschaftssubstrate, doch ihre Herrschaftsgewalt genügt nicht mehr, die Ordnungen zu errichten, deren Terrain sie doch „planiert" hat. Man denke nur an die Steuergleichheit, das stärkste Herrschaftsinstrument des Staates der Egalität: Hier soll alles gleich werden — und doch brechen ständig die Bürger i n dieser oder jener Vergünstigung aus, und zwar gleich gruppenweise und über die Herrschaftsinstrumente der parlamentarischen Gesetzgebung. Wenn dies nicht gelingt, so w i r k t der Steuerwiderstand derjenigen, die aus
1. Gleichheit — ein zweischneidiges Herrschaftsschwert
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atomisierter Staatsferne eben kein eigentliches inneres Verhältnis mehr zu dieser Herrschaft haben. Egalisierende Steuergewalt — das verlangt einen unerhört starken politischen Herrschaftswillen, hier kann Technik allein nicht genügen, hier muß tagtäglich durchgesetzt werden, das Odium der vollen Herrschaft ist i n Kauf zu nehmen, bis die letzten Widerstände gebrochen sind; und hier scheitert, so scheint es, die Demokratie mehr und mehr. Polizeigewalt könnte sie eigentlich leicht durchsetzen gegen eine Bürgerschaft, der keine Zwischengewalt mehr gegen den kleinsten Ordnungshüter helfen kann. Doch die Trägheit der Atomisierten und Isolierten läßt sich nur durch ganz harten Herrschaftswillen bewegen. Sie gehorchen überall — und doch nirgends vollständig. Immer können sie sich ja berufen auf den Nebenbürger, der „auch noch nicht vollständig erfaßt sei". So w i r d denn die Egalität zur großen Entschuldigung des partiellen Ungehorsams, die sich so leicht zur gefährlichen Anarchie steigern kann. Wenn aber nicht jeder von der Herrschaft gleichmäßig erreicht wird, so laufen — gleich alle mit einem Mal i n die schleichende, partielle, sich steigernde Unordnung. Der isolierte Schlag war immer ein wertvolles Herrschaftsmittel, der „öffentlichen Hinrichtung" kann wirksame Macht nicht entbehren. Die Demokratie darf Angst und Schrecken solcher A r t kaum mehr verbreiten, eben wegen ihrer Egalität: Es erschiene sogleich als höchste Ungerechtigkeit, das Schafott würde zum Revolutionstribunal gegen sie. Volksherrschaft kann nicht „alle i n einem" schlagen, gegen einen Bürger kann sie nur ungerecht sein; doch w i r d es ihr wirklich gelingen, stets alle zu erreichen, gleichmäßig und zugleich? Wenn sie diese gleiche Herrschaft aber verfehlt, so verliert sie — alle Legitimation, alle Macht. Nicht einzelne entziehen sich ihr dann, die sie verbannen könnte wie ihre früheren Herrscher, sondern die Massen fliehen aus der Gewalt, i m Namen der Gleichheit. Massenflucht als Herrschaftsende i n Anarchie — dies kann die Demokratie nur durch große, stets gegenwärtige Kraft vermeiden. Hier aber stellt sich eine gefährliche Zeitfrage: Muß die Gewalt des Gleichheitsstaates nicht schon da sein, u m i n Nivellierung herrschen zu können — bevor sie sich in Nivellierung entwickelt und verstärkt? Öffnet sich hier für die Demokratie nicht ein tödliches Prius-Posterius? c) Das gefährliche „Zusammenlaufen
der Gleichen"
Die vielen nivellierten Gleichen sind zwar zunächst atomisiert, beziehungslos nebeneinander gestellt — so wie es übrigens die Anarchie
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IV. Von der Gleichheit als Herrschaft zur Gleichheit als Anarchie
verlangt — doch sie finden eben i n diesem Gleichsein auch unschwer zueinander, selbst wenn es den Herrschenden nicht genehm ist. Hier sprechen w i r das Phänomen der Erleichterung der Zufallssolidarisierung durch die Gleichheit an, und dies ist keineswegs eine Erleichterung der Herrschaft. Revolutionen haben ja immer so begonnen, daß irgendwo bereits nivellierte Massen waren, welche leicht, ohne die vermittelnden Kanäle der Ordnung, zueinander finden — und gerade damit aufstehen konnten gegen die Herrschaft. I n ihnen aber war noch gar nichts von neuer Ordnung, sondern nur die gemeinsame Unordnung, echte Anarchie. Solidarisierung mag ein Ordnungsfaktor sein, doch Gleichheit ist eben zunächst nur Chance zur Solidarisierung, eine Anfangsphase derselben, in der nur Herrschaftsnegation gemeinsam ist. Wieder kann sich leicht die gefährliche Phasenverzögerung der Gleichheit ergeben, i n ihr aber hat die Anarchie ihre Chance. Diese ungeordneten Gleichheitsgefühle kann die Herrschaft nur dann rechtzeitig kanalisieren, wenn sie stets überall ist, jeden an seinem gleichen Platz zu halten vermag. Denkbar ist, daß sich die Gleichheit nur auf ein Ziel h i n bewegen w i l l — auf Anarchie; alles andere hat sie ja i n der Nivellierung bereits erreicht. Aus jeder Herrschaftsschwäche bricht sie jedenfalls mit einer gewissen Notwendigkeit aus, nur i n diese eine Richtung, zu unbekannten anarchischen Ufern. Alles was i n Dynamik noch i n der Gleichheit erhalten ist, kann also eigentlich nur gegen Herrschaft sich wenden, zur Anarchie werden. Das ungeordnete Zusammenlaufen gleicher Bürger vermag nur der demokratische Gleichheitsstaat zur Herrschaftslegitimation umzuformen — an i h m aber kann er auch sterben, an ihm vor allem. 2. Freiheit und Gleichheit — eine anarchisierende Verbindung a) Liberté-Egalité-Fraternité
als einheitliche
Devise
I n der neueren Staatslehre werden Freiheit und Gleichheit fast immer in einem Spannungszustand gesehen, dies war auch die Grundlage der Theorie vom Gleichheitsstaat: Die herrscherliche Gleichheit hebt durch die gleichen Rechte des Nebenbürgers den größten Teil der eigentlichen Freiheit wieder auf. Allenfalls werden die beiden Verfassungswerte noch in ein Verhältnis notwendiger Ergänzung zueinander gebracht: Die Freiheit erscheint nur dann gesichert, wenn sie jedermann in annähernd gleicher Weise zusteht. Dabei w i r d allerdings Freiheit schon nicht mehr als die Ungebundenheit des Einzelnen, sondern als das Gesamtquantum aller i n einer Gemeinschaft bestehenden Freiheiten verstanden.
2. Freiheit u n d Gleichheit — eine anarchisierende Verbindung
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Die notwendige Verbindung der „individuellen Bindungslosigkeit als Freiheit" mit der Gleichheit dagegen wird, soweit ersichtlich, kaum je behauptet. Gerade sie aber scheint doch die Grundlage der Französischen Revolution gewesen zu sein, wenn deren erste Vertreter i n ihrem unbeugsamen Individualismus die Verbindung von Egalité und Liberté als eine Notwendigkeit immer wieder betont haben. Es gibt i n der Tat diesen notwendigen Zusammenhang, doch er verstärkt die zentrifugalen Kräfte der Gleichheit, läßt sie nicht zum Instrument der Herrschaft, sondern zum Weg i n anarchische Bindungslosigkeit werden. Wiederum muß ja von den beiden Phasen der Gleichheit ausgegangen werden: Zunächst w i r d atomisiert, emanzipiert, Herrschaft von Bürger über Bürger abgebaut, die Gewaltunterworfenen werden nebeneinander gestellt. Sodann sollen sie, so w i l l es die Gleichheitsherrschaft, wiederum als leicht beherrschbare Masse zusammengefaßt werden — i n Wahlgremien oder Bürgervereinen, Gewerkschaften oder Zwangsversicherungen. Wenn nun aber vor dem Einsetzen dieser zweiten Phase, vor dem Aufbau der Herrschaft aus den einzelnen, gleichen Steinen der atomisierten Bürger, i n diese Gleichheit Freiheitsgefühle einfließen — können dann die Burgen der Herrschaft noch gebaut werden, bedeutet dies nicht, daß sich das anarchische Gleichheitsgefühl verstärkt, daß die Atomisierten mehr oder weniger frei von jeder Herrschaft bleiben wollen? Dies also ist der Sinn der frühzeitigen und notwendigen Verbindung von Freiheit und Gleichheit: Die Herrschaft kann sich nicht so weit entwickeln, sie kann keinen Nutzen aus der Isolation des einzelnen Bürgers ziehen, weil jeder einzelne ihr nunmehr seine anarchische Trägheit oder positiv-freiheitlichen Emanzipationswillen entgegensetzt. Negative Grundhaltung gegen die Macht, ja Antimachtneid w i r d überall verstärkt, er w i r d zur allgemeinen Gemeinschaftsgrundstimmung. I m Namen der Freiheit können schließlich die Gleichbleibenden, nicht wieder i n Herrschaft Geordneten, leicht „zusammenlaufen" gegen die Macht. I n der Verbindung von Freiheit und Gleichheit flammt der Individualismus bis zur anarchischen Revolution hoch. Dies ist der tiefere Sinn der notwendigen Verbindung von Freiheit und Gleichheit, dies ist die eigentliche Ideologie der Französischen Revolution, welche ja i n ihren Anfängen den Umsturz i m Namen des großen Individualismus gewollt hat. Wo immer also Freiheit und Gleichheit i n überzeugtem Zusammenhang gefordert werden, ist stets hinter ihnen nur eines: der Zug zur Anarchie; die Gleichheit w i r d nicht mehr zum Herrschaftsinstrument, sondern zur Desintegration, die Freiheit w i r k t unendlich verstärkt, dadurch, daß ihre Forderung von allen Bürgern zugleich erhoben wird. Hier w i r d die Gleichheit geradezu zu
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I V . V o n der Gleichheit als Herrschaft zur Gleichheit als Anarchie
einem Herrschaftsinstrument der Anarchie, wenn diese Wortverbindung gestattet ist. Denn irgendwie bleibt ja der Freiheit, auch i n dieser anarchisierenden Verbindung zur Gleichheit, immer ein gewisser Zug zum Dominierenden, zum Umgestaltenden, hier aber eben i n Bindungslosigkeit. Liberté und Egalité formen also wirklich eine einheitliche politische Devise, aber sie ist ein Programm der Anarchie. Das spätere Hinzutreten der Brüderlichkeit ist auch kein Zufall, sie lag vielmehr von Anfang an als der dritte Aspekt dieser anarchischen Dreifaltigkeit i n der Verbindung von Freiheit und Gleichheit: Verbunden können diese ja nur werden zur revolutionären Aktion, wenn ein Gefühl der Gemeinsamkeit zwischen jenen Menschen besteht, welche für solche verbundene Werte Barrikaden errichten. Geordnete Herrschaft ist es nicht, die sie zusammenführt, also kann nur ein allgemeineres, unbestimmtes Solidaritätsgefühl sie zusammenbringen, sie zur revolutionären Masse werden lassen: die Fraternité. Sie ist eine A r t von „natürlicher Gemeinsamkeit", beileibe keine Ordnung, welche irgendeine Herrschaftsmacht i m Namen der Gleichheit über den Bürgern errichtet hätte. Diese Brüderlichkeit ist das einzige, was die Anarchie an Beziehungen zwischen Menschen überhaupt noch anerkennen kann. Damit ist die große Herrschaftsdevise der großen Revolution doch wieder als eine volle Einheit, nicht als eine Zusammenfassung widersprüchlicher Ideen, als ein Netz von Spannungszuständen, erkannt: Sie ist eine rationale Begriffsverbindung zur Anarchie. Wo immer diese drei Begriffe i n ihrer Einheit wirklich gefühlt werden, da steht nicht nur die Revolution, da steht die Anarchie i n der Tür. b) Das verhängnisvolle Schwanken der Demokratie zwischen Freiheit und Gleichheit Doch die Demokratie w i l l diese Verbindung nicht anerkennen, sie sieht i m Grunde zwischen Freiheit und Gleichheit Spannungen, die es zum Ausgleich zu bringen gilt, weil sie eben doch über der atomisierten Bürgergemeinschaft eine A r t von Herrschaft, eine perfekte sogar, errichten will. So ist denn ihre Politik ein dauerndes Schwanken zwischen Nivellierungen, Versuchen der Machtkonstruktion über den entmachteten Gleichen — und der Anerkennung von Freiheiten für diese selbe Bürgermasse. Die demokratische Schule und Hochschule bieten dafür lehrreiche Beispiele: I n ihrer ganzen Konstruktion bedeuten sie zunächst einmal Nivellierung. Dann setzen rasch Versuche ein, diese prinzipiell gleichen Jungbürger an die Herrschaft der Egalität zu gewöhnen: Sie sollen ihre Vertretungen wählen, mit den Lehrpersonen diskutieren, spätere Demokratie einüben. I n Jugendlagern und Ganz-
3. Gleichheit i n der Gesellschaft — schwer zu beherrschen
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tagsschulen werden sie an die allmächtige Gemeinschaft gewöhnt. Doch zugleich w i r d ihnen auch die Freiheit vorgestellt: Sie erfahren Emanzipation von der Disziplinargewalt, Herrschaftsmißtrauen w i r d ihnen gepredigt, und da ist sogar noch viel von jenem geistigen Konkurrenzdenken, das doch den anderen zurückdrängen möchte und sich als Belohnung all dieser Mühen einst die bessere Position i m Lebensergebnis anarchischer Durchsetzungsfähigkeit erwartet. Die geordnete Schülerund Studentengruppe einerseits, der leistungsbereit und emanzipiert ausbrechende Spitzenbürger zum anderen — beides liegt irgendwie i m demokratischen Erziehungsideal. Zwischen diesen beiden Polen schwankt die Volksherrschaft auch sonst; sie w i l l den geduldigen Wahlbürger, der seinen Zettel i n die Urne legt wie jeder andere auch — und sie sucht das Engagement des Einzelnen, der zum Volksführer werden soll. Sie erwartet das soziale Denken des Unternehmers, der stets Gewinn und Vermögen für größere Gleichheit einsetzt, damit die Gleichheitsgewaltigen von den atomisierten Bürgern nicht anarchisierend behelligt werden — und sie verlangt zugleich den kraftvollen Unternehmer, der i m anarchisierenden Wettbewerb seinesgleichen zurückwirft. Die eigentliche Verbindung von Freiheit und Gleichheit kann die Demokratie nicht suchen, denn sie würde i n die Anarchie gestürzt werden. Daher setzt sie das eine als Abschwächung, als Entschuldigung geradezu des anderen ein, besonders deutlich die Freiheit immer wieder als Machtentschuldigung der Gleichheit. Während der Gleichheitsstaat errichtet wird, ist von Emanzipation die Rede — und sie läuft auch wirklich ab. Wird es das Verhängnis des Gleichheitsstaates werden, daß seine Freiheitsentschuldigung eine so enge Verbindung mit den Frühphasen der atomisierenden Gleichheit eingeht, daß er den Zug i n die Anarchie nicht mehr aufhalten kann? Dies ist eine Schicksalsfrage der Volksherrschaft: Kann sie durch Oszillieren zwischen Freiheit und Gleichheit die anarchische Verbindung der beiden verhindern? 3. Gleichheit in der Gesellschaft — schwer zu beherrschen a) Die Gefahr der „verspäteten Herrschaft" So wie die Freiheit explosiv besonders dort w i r k t , wo sie i n die an sich schon staatsferneren Bereiche der „Gesellschaft" eindringt — oder gerade von der Staatsgewalt eingeführt w i r d — so w i r d die Gleichheit aus einer Herrschaftschance dort zur Anarchiegefahr, wo sie „gesellschaftlich eingesetzt" wird. Gerade dies aber versucht der Gleichheits-
I V . V o n der Gleichheit als Herrschaft zur Gleichheit als Anarchie
Staat mit Notwendigkeit: Die perfekte Herrschaft kann er ja nur erreichen, wenn er auch die Gesellschaft „gleich-schaltet". Die Familie und die Vereine, die Parteien und die Berufschancen — alles muß er i n eine gewisse Gleichheitsordnung zusammenführen, vor allem durch nur mäßig abweichenden Verdienst, welcher dann das „gleiche Leben für alle" bringt. Doch nun zeigt sich allenthalben, daß es der demokratischen Staatsgewalt eben gerade nicht gelingt, jene Freiräume der Herrschaft rechtzeitig zu besetzen, welche durch die Zerstörung früherer Gewalten i n Gleichheit entstanden sind. Da hat sie nun so viel getan, die Volksherrschaft, damit die Großfamilie ihren beherrschenden Einfluß verliere, alles Familiäre zur Kleinfamilie zusammenschrumpfe; auch diese noch würde sie am liebsten durch ihre Subventions- und Steuerpolitik auf die Ein-Mann-Familie reduzieren. Doch gelingt es ihr wirklich sogleich, hier die Herrschaftsinstrumente bereitzustellen, den freigewordenen Familienraum zu besetzen, damit nicht anarchische Isolation sich entwickle? Erhält der Jungbürger, dem die fördernde Protektion der Verwandten entzogen ist, der vielleicht auch keinen Vater mehr braucht, sogleich die Staatsorganisation als Onkel und Vormund? Und sind die oft so öden Gemeinschaftsgärten, i n denen nun diese menschlichen Pflanzen i n der Ordnung der Gleichheitsspaliere aufwachsen sollen, wirklich und immer ein Familienersatz, entsteht hier nicht Wildwuchs, Unkraut — Anarchie? Kommt dann aber nicht alle Gleichheitsgewalt zu spät, wenn sie erst m i t dem nivellierten Berufsleben einsetzt? Und selbst dort — kann die Gewalt der Gleichheit den Bürger rechtzeitig erfassen? I n den Betrieben hat sie, durch den Abbau der „sozialen Herrschaft" der Arbeitgeber, große Freiheitsräume und ein noch größeres Freiheitsgefühl geschaffen. Besetzt worden ist all dies zunächst einmal nicht vom Staat, sondern von jenen Gewerkschaften, welche sich der demokratischen Gewalt bisher nie v o l l haben unterwerfen wollen. Selbst sie aber konnten nicht alle Räume okkupieren, welche das alte Direktionsrecht freigeben mußte; das ständige Streben der Gewerkschaften nach höherem Organisationsgrad, das immer wieder an einer anarchisierenden Trägheit der Beschäftigten scheitert, ist letztlich nichts als ein Kampf mit der Anarchie, welche sich i n Räumen ausbreiten konnte, i n denen nun „alle Herrschaft zu spät kommt". I n der Idee ist der Herrschaftsprozeß der Gleichheit perfekt, verhängnisvoll kann i h m ein Zeitverlust werden, den die Gleichheitsmacht nicht mehr aufzuholen vermag.
3. Gleichheit i n der Gesellschaft — schwer zu beherrschen
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b) Der Zwang zum offenen Machteinsatz Machtverschleierung ist eines der stärksten Herrschaftsinstrumente des Gleichheitsstaates. Er bewegt sich i n kleinen Schritten auf ein großes Ziel zu, setzt hier den Willen der zu egalisierenden Bürger für seine Ziele ein. Doch wenn darin gar „nicht eigentlich geherrscht werden soll", wenn es wirklich nur darum geht, Gleichheitszustände sich entwickeln zu lassen, wenn all diese Evolution mit einer gewissen Selbstgesetzlichkeit geschieht, ohne daß irgendetwas aufgezwungen würde — verlangt dieser ganze komplizierte Mechanismus des Gleichheitsstaates nicht ein Gefühl beim emanzipierten Bürger, daß Gleichheit sozusagen symptomatisch Herrschaft erzeugt, und geschieht denn dies wirklich? Auch hier kann der Demokratie wieder der Einbruch des anarchischen Gefühls i n die Phasen der Gleichheitsentwicklung verhängnisvoll werden. W i r d zunächst einmal emanzipiert, atomisiert, werden herrschaftliche und staatliche Machtäußerungen abgebaut i m Namen der Gleichheit, so entsteht zuallererst eine Stimmung der Bindungslosigkeit, nicht ein Gefühl notwendig neu sich bildender Macht. Sicher ist diese atomisierte Masse nun vergleichsweise leicht zu beherrschen, weit einfacher als die feudalisierten Unebenheiten früherer Gesellschaft. Aber es bedarf eben doch, i n einem logischen, politisch jedoch ganz entscheidenden Augenblick, der offen sich zeigenden Macht, die nunmehr die freien Gleichen i n die neue Ordnung überführt. Da muß der Arbeiter überzeugt werden, daß er den Arbeitgeber nicht mehr zu fürchten braucht, daß aber staatlich ferngesteuerte Gewerkschaften, Gewerkschaften als Teil der Staatlichkeit, nichts Fürchterliches an sich haben, weil hier nur andere Gleiche herrschen. Und wenn nun der Arbeiter doch i n das ausbricht, was er „freie Gewerkschaften" nennt, Verbände, die seine Interessen vertreten, sich aber u m die Gemeinschaft wenig kümmern? Was geschieht, wenn er sich auch ihnen nicht mehr beugen will? Dann muß es zu immer härteren Gleichheitseingriffen kommen, immer weniger kann man dem arbeitenden Bürger klarmachen, daß ja der Staat ihn i n volle gleiche Freiheit entlassen habe. Wenn der durch die Steuerlast niedergedrückte Bürger erkennt, daß i h m i m Namen der Gleichheit, des „gleichen Lebens für alle", immer mehr Freiheit verlorengeht, weil er aus der atomisierten Bindungslosigkeit der Steuergleichheit i n die Steuerlastherrschaft eingetreten ist — kann i h m der Steuerstaat dann mit Formeln von Gleichheitsüberzeugung jeden anarchisierenden Steuerwiderstand abgewöhnen? Muß er nicht immer strenger mit Vollstreckung und Strafrecht gegen ihn
I V . V o n der Gleichheit als Herrschaft zur Gleichheit als Anarchie
vorgehen? Erzwingt nicht gerade die egalisierte, staatsferne Gesellschaft eine immer härtere staatliche Herrschaft, damit alle jene Bereiche in Gleichheit geordnet werden, i n denen gesellschaftliche Gleichheit Bindungslosigkeit hervorgebracht hat? Den Schein der machtminimierenden Gleichheit braucht der Gleichheitsstaat der Demokratie, mit i h m sucht er die anarchisierenden Kräfte der Freiheit zu täuschen. Wie aber, wenn i h m nun diese scheinbare Machtreduktion mißlingt, wenn er immer größere Machtquariten benötigt, sie immer offener einsetzen muß, u m das zentrifugale anarchische Streben einer i n Gleichheit zerfallenden Gesellschaft zu überwinden? Kann dann nicht eine Entlarvung der Macht und, nach ihr, eine Gegenmachtlawine einsetzen, weil die Gleichheit zum Machtwiderstand wird, immer stärker, je mehr sie vom Staat „ i n eine bestimmte Form" gebracht und i n dieser auch gehalten werden soll? Denn dies verlangt ja die Gleichheiisherrschaft: daß feste Gleichheitszustände bleiben, daß die Gleichheitsdynamik aufhört oder doch allein vom Staat bestimmt und kanalisiert werde. Werden sich aber gerade dem nun die i n Gleichheit entbundenen Bürger unterwerfen? W i r d es gelingen, den Mythos von der „Machtlosigkeit durch Gleichheit" aufrechtzuerhalten — oder w i r d der Gewaltunterworfene erkennen, daß mehr Gleichheit mehr aufgezwungene Macht verlangt, mehr Macht schon voraussetzt? Wenn i h m dies klar wird, so w i r d er i m Namen der Gleichheit aus der Macht fliehen wollen. c) Anarchie durch „Trägheit und Aktivität — Widerstand aus Gleichheit" Der Gleichheitsstaat braucht die Masse i m vollen Sinne des Wortes, er schafft sie als sein Herrschaftssubstrat, vor allem i n der Gesellschaft. Doch gerade dort w i r d sie für ihn immer schwerer beherrschbar. Denn jene Anarchie, welche sogleich nach der atomisierenden Phase, mit ihr schon, einsetzt, w i r k t der Herrschaft i n zwei Aspekten entgegen: Gesellschaftliche Anarchie bringt Trägheitswiderstand ebenso wie die widerstrebende A k t i v i t ä t der Stärkeren. Jede Herrschaft steht irgendwann vor der Frage, ob sie mehr auf tiefe Herrschaftshinnahme setzen soll, auf die Herrschaftsträgheit der vielen, oder auf das aktive Herrschaftsgefühl, auf die Herrschaftsproduktion durch die Stärkeren, die Elite. Der Gleichheitsdemokratie w i r d beides durch anarchisierende Kräfte der egalisierten Gesellschaft gefährlich. Der anarchische Trägheitswiderstand der zur Masse gewordenen Bürgerschaft bedarf hier keines Beleges. Vor i h m kapituliert die Staatsmacht täglich. Das meiste, was w i r als Defizit an Rechtsgehorsam erleben, geht auf herrschaftsablehnende Trägheit zurück und kommt
3. Gleichheit i n der Gesellschaft — schwer zu beherrschen
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aus staatsferneren, „gesellschaftlichen" Bereichen. Das reicht vom Zahlungswiderstand bei Abgaben bis zum rücksichtslosen Ausnützen vorzeitiger Ruhestandsmöglichkeiten, welche der Sozialstaat als Ausnahmen eröffnen wollte. Überall sucht der Bürger aus A k t i v i t ä t zu fliehen, aus Zwängen, die ihn irgendwie i n die Nähe einer wie immer geordneten Gemeinschaft führen, i h m Pflichten auferlegen könnten. Er unterläßt nicht nur den Staatsgehorsam, sondern zieht sich aus gesellschaftlichen, insbesondere wirtschaftlichen Aktivitäten zurück, welche ihn i n Kontakt mit der ordnenden Staatsgewalt bringen könnten; das Unterlassen von Investitionen aus Sorge vor zahllosen Staatsfragen ist dafür ebenso ein Beleg wie die Aufgabe wirtschaftlicher A k t i v i t ä t e n überhaupt, u m dem Zugriff der Besteuerung zu entgehen. Und wie sollte der Staat den Rückzug dieser vielen Gleichen aus der A k t i v i t ä t aufhalten können, die doch gerade i n ihrer Trägheit — nur so gleich sein wollen, wie er sie gewollt hat? Kann überhaupt noch Herrschaft sein, wenn dem Herrschaftssubstrat einmal v o l l bewußt geworden ist, daß es Substrat ist, unterworfen — und wenn es das nun sein w i l l , immer mehr? Nicht nur, daß die Macht dann zur Herrschaft über träge Sklaven wird, kann sie sich überhaupt noch bewegen, wenn sich diese riesige, träge Masse nicht mehr bewegen läßt? Hier beginnen die Fragen nach all den großen Kulturgefahren einer Gesellschaft der Faulheit, die doch i m letzten nur auf eines zurückgeht: das Fehlen der Aktivitätsprämien i n einer egalisierten Gesellschaft. Muß daran nicht eines Tages alle Macht zerschellen, selbst der stolze Gleichheitsstaat — oder besser: versanden? Doch auch die aktiv bleibenden gleichen Bürger lassen sich immer schwerer beherrschen, wenn sie aus einer egalisierten Gesellschaft heraus tätig werden. Denn auch hier zeigt sich eben, daß diese Gesellschaft mit demokratischen Mitteln letztlich kaum zu beherrschen ist. Deutlich w i r d dies i n der Chancengleichheit. I n unseren Betrachtungen über den Gleichheitsstaat wurde sie als ein mächtiges Herrschaftsinstrument, als eine erste Stufe der Nivellierung erkannt. Nach dem Willen der Gleichheitsgewalt sollen sich über ihr höhere Stufen entwickeln, sie ist ja bereits eine erste Verteilung von Gütern, weitere sollen ihr folgen, bis zur vollen materiellen Gleichheit. Gerade dieser Prozeß aber kann unterbrochen werden, und wenn dies geschieht, so degeneriert er i n Anarchie. Wenn nämlich der Staat nur Startgleichheiten herzustellen vermag, dies dann aber später nicht i n einem v o l l nivellierten Berufsleben sich fortsetzt, bringt er zunächst nur etwas ganz anderes, durchaus nichts Gleichheitsförderndes hervor: neue Kraftgefühle bei bisher schwächeren Bürgern. Hier braucht man gar nicht der Romantik des „neuen Blutes" zu huldigen, der Hoffnung auf die unverbrauchten Kräfte der Söhne von Arbeitern und Bauern, 7 Leisner
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I V . V o n der Gleichheit als Herrschaft zur Gleichheit als Anarchie
welche dekadente Aristokraten- und Bürgersprößlinge ersetzen sollen. Alle bisherige Erfahrung hat gezeigt, daß gerade von solchen, i m Namen der Gleichheit geförderten Jungbürgern eines kaum je zu erwarten ist: ein Sinn für die allgemeine Egalität. Hier kommen kräftige, neue Herrengestalten herauf, die i m Vollgefühl ihres Aufstiegs Ungleichheitsstrukturen bejahen und schaffen. Doch selbst wenn all dies nicht zutreffen sollte, wenn die Chancengleichheit keine neuen Feudalismen hervorbringt, so eröffnet sie doch zahllose neue, kleine Entfaltungsmöglichkeiten, Grundlagen eines Individualismus, der der Gleichheit gefährlich werden muß. Geschieht dies alles auch noch i n den großen Zahlen, welche ja die Gleichheitsordnung stets fordert, so kommt es zu Aktivitätsschüben, Fluktuationen selbstbewußter Berufsgestaltung i m Namen von wahrgenommenen Individualchancen, und dies alles führt auf den Weg des Konkurrenzliberalismus, der schwer beherrschbaren Freiheit, bis h i n zu Erscheinungen einer selbstbewußten Berufsanarchie. Immer ist es also dasselbe Phänomen: Abgebrochene Egalisierung, eine Gleichheit, welche nach ihrer atomisierenden Phase nicht sogleich i n Herrschaft übergeht, läuft mit vollen Segeln i n eine Anarchie, welche sich u m so schwerer beherrschen läßt, je mehr sie aus den an sich schon staatsfernen Bereichen der Gesellschaft kommt. 4. Findet der Gleichheitsstaat noch Herrschende? Bei einem Ausblick auf mögliche Entwicklungen des Gleichheitsstaates mußte schon die Frage gestellt werden, ob es i h m denn überhaupt noch auf Dauer gelingen könne, Herrschaftswillige zu finden, wenn er alles immer mehr angleicht, „Prämien des Herrschens" ständig verringert, wenn der demokratisch Regierende leben soll wie möglichst alle anderen Bürger auch, damit diesen seine Gleichheitsexistenz i n den Medien täglich gezeigt werden könne; muß nicht sogar das Herrschaftsinteresse als solches, die Machtfreude, notwendig abnehmen, wenn sie so viele äußere Formen und Annehmlichkeiten verliert, und wenn den Herrschenden einmal klar wird, daß doch vieles, das Entscheidende vielleicht, schon i n der Gleichheit festgelegt oder i m Zuge zu ihr vorentschieden ist? W i r d dann nicht ihr ganzes Herrschen eine Verwaltung weithin „festgelegter Haushalte"? Unsere Antwort i n der Betrachtung des Gleichheitsstaates war von einem gewissen Machtoptimismus getragen. Der Verlust von Herrschaftsmöglichkeiten und Herrschaftsannehmlichkeiten i m Gleichheitsstaat mag doch, wenigstens auf Zeit, ausgeglichen werden durch die Anziehungskraft einer immer größer werdenden Herrschaftsmacht;
4. Findet der Gleichheitsstaat noch Herrschende?
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sich auch nur ein wenig über andere zu erheben — bedeutet dies nicht dann sehr viel mehr, wenn diese anderen eben so völlig gleich sind? Kann man nicht immer auf einen gewissen „Willen der Macht" bei Wenigen vertrauen, so daß w i r „Herrschende immer über uns haben werden"? Solange die Volksherrschaft kräftig genug ist, u m die Gleichheitsmacht zu befestigen und durchzuhalten, solange w i r d es ihr auch an Mächtigen nicht fehlen. Denn die Herrschaft ruft sich ihre Talente, das hat die Geschichte immer wieder gezeigt. Wie aber, wenn anarchisierende Bewegungen einsetzen, stellt sich dann nicht die Frage erneut, ob ein solcher Staat noch Herren finden wird? a) Der Verschleiß der Herrschenden, ihre Flucht aus der Macht Gleichheit kann gesellschaftliche Trägheit verstärken, davon war bereits die Rede; und wo sie, nicht allzu weit gesteigert, wie bei der Chancengleichheit, A k t i v i t ä t e n hervorbringt, sind diese nicht auf Herrschaft gerichtet, sondern auf Konkurrenz, auf Verdienst, auf Genuß. Dies sind keine günstigen Vorzeichen für den Aufbau einer herrschenden Elite. Und i n der Tat, neuere Entwicklungen der westlichen Demokratie zeigen, daß ihr nicht die Elite als solche, wohl aber eine herrschaftsbereite Führungsschicht zu fehlen beginnt, die diesen Namen verdient. Verstärken sich jedoch solche Phänomene, so beginnt eine eigentümliche und neue Form der „Anarchie von oben", obwohl man doch bisher die Herrschaftsverneinung meist von „unten" hatte kommen sehen. Da sind zunächst einmal die bekannten Verschleißerscheinungen politischer Führungspersönlichkeiten. I n typischen Spätdemokratien, wie etwa i n der italienischen Volksherrschaft, können sie sich nurmehr wenige Jahre, oft nur einige Monate halten; es müssen dann „neue personelle Formeln" gefunden werden, ohne daß man eigentlich der „verbrauchten" Persönlichkeit des Volksführers fundierte K r i t i k entgegensetzen könnte. Es ist, als wollten nicht so sehr die Herrschenden das Steuerruder der Demokratie verlassen, als seien es vielmehr die vielen Gleichen, welche eben niemanden längere Zeit am Steuer sehen können, wer immer es auch sei, weil er gerade darin zu ungleich wird. Doch ähnliche Erscheinungen zeigen auch andere Demokratien. Da müssen immer wieder Kanzler gewechselt werden, und schon Kanzleranwärter, da drängen die „vielen Gleichen" i m Parlament auf laufende Wachablösungen an der Spitze, damit auch sie einmal vor dem Palast des Volkes Wache stehen dürfen. Diese Ablösung von Herrschenden w i r d aber recht eigentlich erst dadurch zum Herrschaftsverschleiß, daß Spitzenfiguren ausgetauscht 7*
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werden, indem sich sozusagen „unter der Spitze" eine sehr breite Schicht von Gemeinschaftsstatisten entwickelt, i n deren Glied stets die Spitzenpolitiker wieder zurücktreten. W i r sprechen hier die bekannte Erscheinung an, daß die Demokratien unzählige brillants seconds aufweisen, aber immer weniger wahre Führer. Werden hier nicht bereits die Herrschenden herabgedrückt auf ein egalisiertes Niveau, auf dem sie den zahllosen Bürgern irgendwie doch ähnlicher werden, die sie aber beherrschen sollten? Findet in diesem Herrschaftsverschleiß an der absoluten Spitze nicht bereits ein Herrschaftsabbau statt, den man zwar gelegentlich noch mit den schönen Worten der „kollektiven Herrschaft" verbrämen w i j l , auch und gerade i n herrschaftsintensiven Ländern, der aber doch schon eine ganz große, systematische Herrschaftsverdünnung anzeigt? Wenn daran aber etwas Wahres ist, so hat eine große Anarchie von der Spitze her begonnen. Sie kann sich dann immer weiter und weithin unbemerkt vollziehen; die Herrschenden werden zwar vielleicht noch immer „sehr lange sichtbar" sein, sie sind ja gut für die verschiedensten Ministerien und Spezialisierungen, aber eben nur deshalb, weil es dort gar nichts mehr zu beherrschen gibt, weil echte Macht nicht mehr stattfindet, weil die Anarchie innerhalb jener Regierungen schon begonnen hat, welche nurmehr unbezeichnende Köpfe zeigen. Wenn diese Analyse nur Elemente der Berechtigung hat, so ist der Herrschaftsverschleiß nicht allein ein Instrument der Anarchie, er ist ein Zeichen dafür, daß sie bereits allgemein i m Laufen ist. Der Gleichheitsstaat w i r f t sich hier mit einer gewissen Eigengesetzlichkeit selbst aus der Macht: Indem er überall seine Kräfte steigert, ihnen immer neue Ziele vorgibt i n der Schaffung und Erhaltung von Egalitätszuständen, würde er an sich stets noch stärkere Herrscherpersönlichkeiten verlangen. Ganz offenbar ist es eben nicht so, daß er Persönlichkeit durch Gleichheitsmechanik der Herrschaft ersetzen kann; er braucht den Herrschaftswillen der Person, und zwar i n steigendem Maß — und zugleich schafft er Grundstimmungen, Herrschaftsmechanismen, welche eben diese besondere Herrschergestalt immer noch seltener werden lassen. Regierende als Mangelware — muß sich hier die Schere nicht immer noch weiter öffnen, werden nicht die Schlachtschiffe immer größer, sind sie nicht perfekt steuerbar, aber ohne Steuermann? Die egalitäre Demokratie zerreibt nicht nur ihre Herrschaftsschicht i n Herrschaftsneid und Persönlichkeitsüberforderung der Gleichen, sie w i r d auch von ihnen verlassen, weil sie diesen starken Persönlichkeiten nichts mehr zu bieten hat. Es gibt heute noch etwas wie einen Markt der Führungsgestalten für die starken, wertigen Persönlichkeiten der Gesellschaft. Der Gleichheitsstaat erwartet von ihnen ein weithin
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altruistisches Wirken für die Gemeinschaft, i m Grunde aber nur für andere, Schwächere. Er vergoldet sie wahrhaft darin nicht, er vertraut auf ihren Idealismus, vor allem auf ihre Gleichheitstreue. Doch hier macht er seine Rechnung ohne den erwähnten „ M a r k t " : Professoren mit Machtgespür oder Machtgefühl wandern ab i n eine Politik, i n der es etwas zu sagen, nicht nur etwas zu denken gibt; und von dort geht dann eine Tendenz weiter, welche dem Gleichheitsstaat entscheidenden Herrscherverlust bringt: der Weg i n die große Wirtschaft. Warum ist dies ein immer allgemeineres Phänomen, längst nicht mehr auf die Vereinigten Staaten beschränkt, steht dahinter wirklich nur der Hunger nach jenem Gold, das die Demokratie ihren Herrschern nicht mehr reichlich genug zu bieten scheint? Sicher auch dies, und es sollte offen und mutig bekannt werden, zeigt es doch nicht etwa moralische M i n derwertigkeit dieser Elite, sondern mangelndes Herrschaftsgespür, wenn nicht beginnende Herrschaftsunfähigkeit der Volksherrschaft. Es ist aber auch widersprüchlich, wenn man einerseits das rein Verwaltende, gar nicht Herrscherliche der demokratischen Macht betont und auf der anderen Seite einen so bescheidenen „Herrschaftslohn" m i t dem angeblichen Herrschaftsreiz eben dieser Machtausübung anreichern w i l l . Und wie inkonsequent handelt eine Demokratie, welche stets die enge Verbindung von Staat und Gesellschaft betont, i n ihrem Namen einen großen Teil des Sozialproduktes i n Herrschaftsinstitutionen verwaltet — und zugleich die Erfüllung dieser höchst ökonomischen und gesellschaftsrelevanten Aufgaben völlig anders glaubt entlohnen zu können als eine „freie Wirtschaft", welche hier nun m i t einem Mal i n romantische Staatsferne versetzt wird! Solange es noch andere, die höheren Verdienste der Wirtschaft gibt, stuft die Demokratie sich selbst und ihre Herrschaft ab, wenn sie hier nicht ganz anders, ökonomischer zu denken lernt; sie w i r d dann eben immer schlechtere Herrschende haben. Sicher, die Herrschenden finden sich also, aber immer schwäfchere, schlechtere. Und ein Paradies, das religiöse Herrschaftsasketen erwartet, kann die Demokratie nicht einmal versprechen. b) Die langsame Eskalation der „Anarchie
von oben"
Nun w i r d diese „Anarchie von oben" nicht von heute auf morgen ausbrechen, wie alle anarchisierenden Entwicklungen. Mehr noch als viele andere verstärkt sie sich langsam, unbemerkt, jedenfalls schwer beweisbar. Wie sollte denn auch nachgewiesen werden, daß es zu einem ständigen Verlust an Herrschaftselite kommt, gerade durch die W i r kungen der Gleichheit? Wer kann exakt beweisen, daß der später Herrschende der schlechtere sei?
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Zunächst werden die Steuerruder sicherer gehalten, und vielleicht noch fester als vorher. Die u m etwas Schwächeren werden sogar eifrig i n diese Macht drängen, welche ihnen andere überlassen, diese ziehen sich i n Räume zurück, i n denen — noch oder bereits wieder — Anarchie ist. Denn dies ist ja das Beunruhigende an diesem Herrscherverlust für die Demokratie, daß ihre starken Gestalten soz. „ i n die Anarchie abwandern", etwa i n jene Wirtschaft, i n welcher noch Kraft und Durchsetzungsvermögen gefragt und bezahlt sind, vor allem aber, wo sie noch wirken können, i n der anarchisierenden Bewegung des Wettbewerbs, der i n der Statik des Gleichheitsstaates längst aufgehört hat oder zu Intrigen degeneriert ist. Der Gleichheitsstaat gibt also laufend Energien an jene Anarchie ab, welche er doch gerade i n der Gleichheit so perfekt beherrschen wollte. Langsam w i r d dennoch die Entwicklung laufen, immer wieder muß die Gleichheitsmacht versuchen, sich und ihren Herrschenden neue Prämien zu geben. Vielleicht w i r d der Herrschaftsverlust nur darin sichtbar, daß eines zunimmt, das ja heute i n der Demokratie so allgemein begrüßt wird, geradezu als ihre hohe Bewährung erscheint: der Pragmatismus. Was zwar i m einzelnen darunter zu verstehen ist, bleibt unklar, es mag von Grundsatzlosigkeit bis zur Geistlosigkeit reichen. Doch dahinter steht immer eines: ein Verlust an „Weitersichtigkeit". Zunächst werden die „strategischen Ruder" verlassen, man behilft sich m i t glücklichem taktischen Lavieren. Aus Großmachtpositionen geworfen, kann man ja ohnehin nurmehr taktieren, und welcher Staat wäre denn heute noch eine Großmacht i m Sinne früherer politischer Programmierungsmöglichkeiten? Von dort führt weiter der Weg zum „tagtäglichen Regieren" — und an i h m sollen dann starke Persönlichkeiten Freude haben, die sich ein Leben bauen und eines Tages von i h m sagen wollen, daß sie etwas wie ein Monument errichtet haben! Die Herrschaftsaufgaben also werden kleiner werden, mit ihnen aber die Herrschenden. Und all dies nun vollzieht sich i n jenem Gleichheitsstaat, der doch die großen Lösungen, die weitschauenden Entwicklungen braucht, soll seine Herrschaft w i r k l i c h egalitär, damit aber allein legitim sein! Er ist doch viel verwundbarer, durch jede Form der Anarchie, als jede andere Ordnung, die sich das Taktieren, die pragmatische Politik eben leisten kann, weil sie selbst, i n ihren zahllosen Ungleichheiten, etwas von pragmatischer Zufälligkeit an sich hat, Zufälle vergangener Zeiten i n sich bewahrt. Der Gleichheitsstaat, diese rationale, weitsichtige Ordnung, bräuchte die dauernd Herrschenden, er kann keinen Rückzug auf Kurzfristigkeit dulden, i n der j a eben meist doch nur ein Qualitätsverlust der Regierenden zum Ausdruck kommt,
5. Gleichheit — politischer Wert oder „reines Instrument"?
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So zeigen denn heute schon die kleineren Aufgaben die kleineren Menschen, damit aber auch die kleinere Herrschaft, die Aufgabe des Herrschaftsanspruchs des Gleichheitsstaats. Die kleineren Herrschaftsprämien haben zu minderen Mächtigen geführt, und nun werden sie auch noch dadurch legitimiert, daß solche Regierende ja wahrlich mehr nicht verdienen. So dreht sich die Gleichheit i n die Herrschaftsabschwächung, i n die Anarchie hinein, i n der Herrschaft nicht mehr ausgeübt wird, weil sie sich nicht mehr lohnt. Je größer die Gleichheit ist, je mächtiger das Flaggschiff, desto weniger w i r d es die starken Arme finden, die sein Steuer braucht. Was aber bedeutet sein Treiben anderes als — Anarchie?
5. Gleichheit — politischer Wert oder „reines Instrument"? a) Gleichheitszustand
— als Wert zu erstreben?
Daß die Gleichheit ein starkes herrscherliches Instrument sein kann, steht außer Zweifel. Doch wenn sie w i r k l i c h Ordnung auf Dauer begründen soll, so darf sie nicht nur Instrument bleiben, es muß i n i h r auch etwas von einem erstrebten Ordnungszustand liegen, den man als solchen genießen kann. Hier aber beginnen Schwächen der freiheitlichen Demokratie, welche immer wieder anarchische Desintegration begünstigen. Bindungslosigkeit ist zwar als solche keine Ordnung und sie mag leicht als etwas rein Formales verstanden werden. I n Wahrheit w i r d sie, i m Politischen jedenfalls, doch weithin als ein Erfolg erstrebt, als ein solcher genossen: Herrschaftsferne, Ungebundenheit, Vertrauen auf eigene Kräfte, Befehlslosigkeit überhaupt — dies alles sind doch politische Zustände, i n denen sich sogar eine Form von genießendem Eudämonismus entfalten kann. Wie aber die Gleichheit, welche doch eine A r t von genußfähigem Zustand herstellen müßte, wollte sie wirklich Ordnung auf Dauer bringen? Egalität als solche kann man schaffen, mit ihr mag man herrschen, kann man sie aber auch — genießen? Gibt es w i r k l i c h Solidaritätsgefühle als Genuß, als etwas „an sich Erstrebenswertes"? Kann ernstlich erwartet werden, daß der einzelne Arbeitnehmer das Zusammentreffen m i t anderen in Betriebsversammlungen, die Diskussion gemeinsamer Angelegenheiten, als einen Vorteil i n sich, nicht nur als ein mögliches Ordnungsinstrument, oder gar als ein notwendiges Übel empfindet? So viel w i r d neuerdings geklagt über die Versammlungsmüdigkeit, über Trägheit i n Diskussionen, i n Gemeinschaftsveranstaltungen überhaupt. Liegen i n all dem nicht erste Erscheinungsformen
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I V . V o n der Gleichheit als Herrschaft zur Gleichheit als Anarchie
einer Anarchie-Trägheit, die darauf zurückgeht, daß sich eben „Gleichheit als solche nicht genießen läßt"? Doch die Frage trägt weiter: Kann die Egalität überhaupt ein „materialer Wert" sein, u m dessen Ordnungsgehalts w i l l e n man Opfer bringt, für den man gar zu sterben bereit ist? Hier w i r d doch immer verwiesen auf den „Zustand irgendwelcher anderer", der aber als solcher meist noch gar nicht bekannt ist, den es überhaupt erst zu schaffen gilt. Kann i n einem solchen reinen „Beziehungswert auf wechselnde Inhalte" etwas von der politischen Selbstwertigkeit liegen, welche jede Ordnung braucht, die man an sich erstrebt? I m Feudalismus mag dies die Geborgenheit i n Formen des Patriarchalismus sein, „kapitalistische" Marktordnungen verheißen die Möglichkeit des verdienten Genusses, religiöse Ordnungen ein ewiges Glück. Wo aber ist das „Glück, gleich zu leben"? Und wenn der Eudämonismus praktisch-politisch so bedeutsam ist, können sich w i r k l i c h auch die Beherrschten i n Herrschaftsinstrumente verlieben und nicht nur die Herrschenden? Es fragt sich sehr ernstlich, ob die Gleichheit nicht am Eudämonismus i n der praktischen Politik scheitert, insbesondere dann, wenn sie sogar jenen Schein des Genusses noch abschwächt, der i m Staatstheater liegt, das sie aber i n laufender Nivellierung ebenfalls entzaubern muß. Man kann die Frage auch anders stellen: Gibt es eine Herrschaft als zu erstrebenden Endzweck, die keinem gehören wird? Hier ist die Formalisierung so stark, daß man vielleicht doch an die Grenzen der Wirksamkeit formaler Ideen gestoßen ist, hinter denen nicht irgendwo erstrebenswerte materiale Endzustände stehen. Die Gleichheit ist formal und sie bleibt es; die Herrschaftslosigkeit ist zunächst auch Streben, Bewegung, etwas Instrumentales; sie muß es aber nicht bleiben, die Bindungslosigkeit kann letztlich genossen werden, und darin liegt eine wertmäßige Überlegenheit über die Egalität der Demokratie. Man sollte vielleicht mehr darüber nachdenken, inwieweit sich Machtinstrumente wie dieses überhaupt als mögliche Endzustände erstreben lassen, ob i n ihnen nicht allzu viel von dem Bestreben liegt, individuellen politischen Genuß zu eliminieren. Könnte es nicht sein, daß eine Rückkehr des eudämonistischen Denkens stattfindet, daß es i n Formen der Anarchie den Sieg davonträgt über eine stoisch wirkende Gleichheit, welche nurmehr irgendwelche Herrschafts- und Verhaltensregeln aufstellt? Kann etwas am Ende stehen, was nur immer wieder herzustellen ist?
5. Gleichheit — politischer Wert oder „reines Instrument"?
b) Gleichheit — das zu kurzfristig
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Erreichte
Gegen den Formalismus der Gleichheit liegt nun der Einwand nahe, es sei ja gerade die große politische Kraft der Egalität, daß sie sich ständig auf deutliche, vergleichsweise rasch erreichbare feste Ordnungszustände richte, eben in den zahlreichen Schritten der Angleichung; darin liege dann die Möglichkeit des Progresses zur ganz großen Gleichheit, welche als solche zwar nicht zu schaffen sein möge, aber durch ihre ideale Ferne gerade attraktiv werde. Doch auch diese unbestreitbare Wertigkeit kann die Gleichheitsordnung verfehlen, wenn der egalitären Demokratie nicht mehr die Kraft innewohnt, diesen Endzustand letzter Gleichheit den Bürgern als Ordnungswert vorzustellen. Gelingt dies nämlich nicht, so verliert sie sich sehr rasch i n der Banalität kleiner, schnell, allzu rasch herstellbarer Gleichheitszustände, die nicht nur i n dem Augenblick inattraktiv werden, v/o sie erreicht sind — weil sie eben als etwas Selbstverständliches angesehen werden — die es bereits vorher sind, weil sie so nah, derart auf der Hand liegen. Eine Nivellierung, welche i m Namen des Gerechtigkeitsstrebens erfolgen soll, wie etwa Nulltarife i n öffentlichen Schulen und Kindergärten, Sozialtarife auf den öffentlichen Verkehrsmitteln — sind all dies wirklich noch große, realisierbare Werte mit der Kraft wahrer Fernziele? Ist hier nicht sehr viel von jener herrscherlichen Unklarheit verlorengegangen, deren aber die wahre Macht stets bedarf, u m wirken zu können, über die Hoffnung der Gewaltunterworfenen? Und liegt die Schwäche des Kommunismus wirklich i n seiner Utopie — oder nicht vielmehr i n der Größe seiner Verwirklichungschancen? Viel ist darüber politisch diskutiert worden, daß der jungen Generation „etwas bleiben" müsse, daß sie Ideale brauche, aus denen sie einen neuen, eben ihren Staat forme. Wenn daran etwas richtig ist, so leidet der Gleichheitsstaat als Herrschaftsform unter seiner zu leicht erreichbaren Wirklichkeit. Er muß an sich schon das Odium des Bestehenden und damit besonders Kritikablen tragen, der Anarchie bleibt die Leichtigkeit der hoffnungsgeladenen Opposition. Doch hinzu t r i t t nun, zugunsten der Herrschaftsverneinung, die politische Kraft der großen Unklarheit. I n der Anarchie liegt etwas, was an aller Macht „vorbeiläuft", sie überwindet, sie i m wahren Sinne des Wortes transzendiert. Wenn politische Kräfte, als ethische Phänomene, Grundlagen i n der Transzendenz brauchen, sie i n transzendenten Zielen finden, so ist die Anarchie ein transzendentes, ein staatsethisches Phänomen, nicht jener Gleichheitsstaat, der seine Ziele auf dieser Welt allzu rasch erreicht. Deshalb hat ja auch die Gleichheit Unruhen und Terrorismen nicht aufhalten können, sondern geradezu noch hervorgebracht, weil sich
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IV. V o n der Gleichheit als Herrschaft zur Gleichheit als Anarchie
diese jungen Kräfte mit den realisierten Gleichheiten nicht zufriedengeben wollten, während sie von der fernen, der utopischen Anarchie angezogen wurden, mit der Kraft der politischen Unendlichkeit. Da mochte es dann gleichgültig sein, welche Werte i m Namen des A n archischen erstrebt wurden, es konnten sogar größere Gleichheiten sein, die eben nicht heute und morgen i n Sozialversicherung und M i t bestimmung herzustellen waren. I n all diesen Bewegungen war etwas lebendig von der Grenzenlosigkeit, welche das Begrenzte politisch auflöst. c) Gleichheit — nicht Ordnung, sondern reine politische Kraft So mag denn diese Betrachtung über der Egalität als Weg i n die Anarchie schließen mit der Betonung jener Ambivalenz der Gleichheit, die an ihrem Anfang stand: Die Egalität ist Herrschaftsinstrument, Chance der Macht, doch sie ist auch eine Form ihrer Auflösung, i n ihr kann sich der Gleichheitsstaat der Demokratie selbst überleben. Jene Kräfte, welche sie rufen muß, u m ihre Gleichheit immer stärker zu befestigen, eben diese können zu Krebszellen der Anarchie i n ihrem Körper degenerieren. Da sind die Verbände, i n deren Autonomie das Freiheitssubstrat der Bürger vorbereitet und atomisiert w i r d — doch ihr Egoismus kann sich gegen die größere Herrschaft i n übersteigertem Autonomiestreben zusammenballen; da ist eine Tarifautonomie, i n der Arbeitnehmer und Arbeitgeber immer kleiner, gleicher, untereinander auch i n ihrer Macht vergleichbar werden sollen — doch all diese Mechanismen drängen auch den Staat aus wichtigen Bereichen der Macht, zwingen ihn, konsequent fortgedacht, zu einer unmöglichen „ W i r t schaftspolitik ohne Lohnpolitik". Jene Medien schließlich, deren sich die Staatsgewalt erfolgreich bedient, u m dem einzelnen Bürger Teilhabeillusionen an der Macht zu vermitteln, wo kaum noch reale Teilnahme am Geschehen ist — sie streuen zwar ständig die Rauschgifte der „ K r i t i k " , der „Diskussion", der „geistigen Freiheit" ins Volk, doch gerade darin schaffen sie eine Grundstimmung, i n der jeder über alles nachdenken und über alles reden kann, ja muß. I n diesem verwirrenden Durcheinanderdenken, das die politische Demokratie charakterisiert, liegt aber sehr viel von jener Anarchie, die allem Geistigen eigen sein muß, bis i n seine tiefsten, demagogischen Niederungen herab, weil hier eben die letztlich ganz unbeschränkte Freiheit herrscht. Damit aber verfehlt die egalitäre Demokratie etwas an Ordnungswertigkeit, das ja sehr bedeutsam sein, vielleicht sogar genügen könnte, selbst wenn ihre Nivellierung als solche, als materiale Ordnung nicht „zu genießen" ist (vgl. oben a): Der Gleichheitsstaat kann nicht einmal mehr überall die „formale Ordnung" wirklich durchhalten, gerade
5. Gleichheit — politischer Wert oder „reines Instrument"?
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durch seine Ordnungsinstrumente schafft er — Unordnung bis h i n zur Anarchie. Die große Gefahr für die Volksherrschaft liegt eben darin, daß sie versuchen muß, alle diese Machtäußerungen laufend zu steigern, daß sie aber kaum jenen Übersteigerungspunkt vorhersehen kann, an dem dann die nivellierende Über-Ordnung i n Unordnung, ja in Anarchie umschlägt. Und vielleicht gibt es hier gar keine Bruchpunkte, möglicherweise liegt i n jeder Egalisierung zugleich eine A n archisierung, zumindestens dann, wenn sie nicht von Anfang an i n die kontrollierende Disziplin der Staatsgewalt genommen werden kann — einer Macht aber, die sie doch gerade erst hervorbringen soll! Die theoretische Frage braucht hier nicht vertieft zu werden, ob es sich bei dem Weg der Gleichheit i n die Anarchie u m vielfache Erscheinungsformen einer coincidentia oppositorum handelt, oder ob hier ein Umschlag der These i n die Antithese, bei Erreichung eines bestimmten Gleichheitszustands, notwendig stattfindet. Sicher aber ist, daß sich für die Demokratie eben i m letzten doch auch ein politisches Kraftproblem stellt: Sie wollte aus der Gleichheit, wie aus einer selbsttätigen Mechanik, immer neue Kräfte ihrer Macht ziehen; es zeigt sich aber, daß diese Instrumente schon ihrerseits des kräftigen politischen Armes bedürfen, nur dann geben sie ein Mehr an politischer Herrschaft. Die Demokratie leidet aber daran, daß dieselbe Gleichheit, welche sie als Herrschaftsinstrument verwendet, ihren A r m lähmt, weil sie eben Herrschaftsträgheit, Herrschaftsunwilligkeit „oben" und „unten" erzeugt. Deshalb verstärkt sich die Gefahr, daß die Demokratie die großen Herrschaftschancen nicht ganz nutzen kann, welche ihr die nivellierende Atomisierung der Bürger laufend eröffnet; dann aber folgt eben der Umschlag ins Gegenteil — i n die Anarchie. Gleichheit ist also eine Form „reiner politischer Macht", an sich ungerichtet, sie führt i n die totale Herrschaft, aber auch i n die grenzenlose Anarchie. Sie ist nicht Machtgarantie, sondern Macht für Starke. Sie hat etwas von jenen schweren Waffen an sich, die alleine nicht Kriege gewinnen, werden sie nicht entschlossen und bis zum Ende eingesetzt; und sie können auch Rückzugswege verstopfen . . . Wer dem Gleichheitsstaat Dauer vorhersagt, hält er nicht doch nur politische Kraft für gelungene Ordnung?
V. Der Mehrheitsgrundsatz als Rechtsprinzip der Anarchie Wenn es überhaupt etwas gibt wie einen Kernbereich des Herrschens in der Demokratie, so w i r d er, institutionell, konstituiert durch das Mehrheitsprinzip. Alles könnte ja i n der Volksherrschaft aufgegeben werden, hielte man nur an ihm fest, nichts ist jenen zahllosen Spielarten politischer Organisation gemeinsam, die sich stolz Demokratien nennen, als die Regel der Mehrheit, an der Spitze der Herrschaft, wenn möglich überall in Staat und Gesellschaft. I n der Regel der Mehrheitsentscheidung w i r d der Gleichheitsstaat erstmals wirklich zur Institution, aus ihr bringt er immer neue Normen und Herrschaftsformen hervor. Majorisierung ist immer kritisiert worden, nie hat man dem i m Grunde etwas anderes entgegenzusetzen gewußt als die Behauptung, nichts könne besser politische Erschütterung vermeiden; und i n diesem letztlich doch irrationalen Quietismus liegt schon eine tiefe Schwäche der Volksherrschaft. Doch nicht dies soll hier vertieft werden, es ist kein Phänomen der Spätdemokratie, sondern ein Schicksal jeder Volksmacht. Die anarchische Fragestellung ist eine andere: Wenn sich i m Mehrheitsprinzip anarchische Elemente finden, wenn es sich auch nur teilweise oder von ferne aus Anarchie legitimiert, oder wenn es i n seinem politischen Einsatz zu Anarchismen führt, dann steckt die Herrschaftsnegation w i r k lich i m Herzen der Demokratie. Und zu dieser Annahme gibt es mehr als nur einen Grund. 1. Der Sozialvertrag — anarchisches Denken als Grundlage der Mehrheiten a) Die demokratische Suche nach dem „natürlichen Abstimmungskörper" Mehrheitsentscheidung w i r d meist als ein ganz wesentlich anarchieüberwindendes Prinzip verstanden; hier soll ja etwas wie eine „natürliche Regel" sozusagen „aus dem Stand der Anarchie heraus" laufende Ordnungen produzieren können. Selbst wenn die Einzelnen beziehungs-
. Sozialvertrag—anarchisches Denken als Grundlage der Mehrheiten
los nebeneinanderstehen — i m Zusammentreten zur Abstimmung werden sie Gemeinschaft. Doch das Grundproblem der demokratischen Ordnung ist und bleibt eben das der Abstimmungskörper. Ihre Legitimation versucht sie gerade daraus zu ziehen, daß diese „Primärorgane", welche i n der Französischen Revolution mit vollem Recht „Primärversammlungen" genannt wurden, weil sich i n ihnen ja erstmals Gemeinschaft konstituieren sollte — daß all dies ganz „natürlich" bestimmt werden kann, unter nur minimalem Einsatz staatlicher Gewalt. Die Suche nach dem „natürlichen Abstimmungskörper", nach dem Kreis von Menschen, der möglichst „schon außerrechtlich besteht", hat die Demokratie von ihren Anfängen her beschäftigt, sie ist aber auch, theoretisch wie praktisch, ein letztlich unbewältigtes Ausgangsproblem geblieben. Da sind die „natürlichen Basisvorstellungen", die „möglichst jedermann" einbeziehen wollen; sie haben zur laufenden Erweiterung der Abstimmungskörper geführt, von den Besitzenden zu den Besitzlosen, von Männerdemokratie zum Wahlrecht der Frauen, zur Senkung des Wahlalters, zu den Versuchen, selbst Ausländern Wahlrechte zu gewähren. I n all dem liegt immer eine radikal demokratische Vorstellung: Einbeziehung des „Natürlichen", all dessen, „was Menschenantlitz trägt", i n die Abstimmungskörper der Demokratie. Nichts anderes als die Suche nach dem „natürlichen Abstimmungskörper" liegt Versuchen zugrunde, das Mehrheitsprinzip auf eine wie immer zu bestimmende „Aktivbürgerschaft" zu beschränken; auch hier wieder sollen es natürliche Fähigkeiten, außerrechtliche Verhaltensweisen sein, welche zur politischen Herrschaft befähigen, besonders enge Beziehung zum Vaterland, das Wahlalter, staatsbürgerliche A k t i vitäten. Doch all dies bringt eben nicht die „natürlichen Abstimmungskörper", staatliche Begrenzung, ja Manipulation muß immer wieder eingesetzt werden. Sogar mit einfacher Mehrheit werden übrigens die Wahlberechtigten i n der Regel i n jener Demokratie bestimmt, welche durch diese Formen des Wahlrechts eindeutig zur Selbstmanipulation der bestehenden Herrschaft übergeht. Auch die viel diskutierte Betroffenendemokratie schafft keinen bruchlosen Übergang vom Außerrechtlichen i n die demokratische Ordnung, durch die Abstimmungsrechte derjenigen, „die es jeweils angeht" — und gerade hier w i r d dann sehr rasch noch mehr manipuliert, herrschaftlich verändert, denn es gilt ja, die zahllosen Kreise der jeweils Tangierten überzeugend und endgültig, damit aber staatlich zu
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V. Der Mehrheitsgrundsatz als Rechtsprinzip der Anarchie
bestimmen; die Interessen müssen festgestellt werden, welche dann zur gemeinsamen Entscheidung berechtigen sollen. Dürfen die zufälligen Hörer einer Vorlesung über den Abbruch derselben abstimmen, steht den Eltern das Recht der Lehrerwahl zu, sollen Benutzer Einfluß nehmen können auf kommunale Einrichtungen — nur weil sie, ganz unzweifelhaft, „betroffen" sind? W i r brauchen hier nicht zu vertiefen, was sich täglich zeigt: daß nämlich Betroffenendemokratien nicht etwa einen „natürlichen Übergang" aus der anarchischen Herrschaftslosigkeit i n die naturgemäße Herrschaftsform der Demokratie herstellen können, daß hier vielmehr die größere, nationale Demokratie i n aller Regel nur durch die kleineren Demokratien, i n einem neuen Zünfteund Ständewesen manipuliert wird; und jene Liberalen, welche sich all dem i m 19. Jahrhundert entschieden entgegengestellt haben, hatten einen besseren Sinn für demokratische Herrschaft als heutige Partialdemokraten. Es bleibt nämlich dabei: Natürliche Abstimmungskörper hat es nie gegeben, es kann sie nicht geben, mögen sie i n anarchistischen Revolutionsphasen auch immer wieder, als Primärversammlungen etwa, gefordert werden. Die Volksherrschaft selbst muß, i n ihrem ersten A k t der Selbstkonstituierung, herrscherlich ihre Abstimmungskörper bestimmen, damit erst die Grundlage der Mehrheitsentscheidung schaffen. Hier aber w i r d nun das demokratische Denken von jeher durch den Versuch bestimmt, den „natürlichen Ausgangspunkt" für die Mehrheitsentscheidung doch nicht ganz aufzugeben. Deshalb findet die Volksherrschaft i m Sozialvertrag ihre vielleicht einzige, wenn nicht tragfähige, so doch diskutable theoretische Konstruktion: „Irgendwie" müssen die Bürger sich zu diesem Wahlkörper des Mehrheitsregimes zusammengefunden haben; ist es nicht „durch ihren eigenen Willen" geschehen? Und unsere Frage lautet hier: Ist das Streben, so eine „natürliche" Herrschaftsgrundlage der Mehrheitsentscheidung zu erkennen, nicht nur „ein Versuch aus dem Naturzustand heraus"? Trägt der Sozialvertrag nicht — Anarchie i n das demokratische MehrheitsHerrschen? Es war und ist ein leichtes, die klassischen Sozialvertragskonstruktionen, von der griechischen Staatsphilosophie bis zu Locke und Rousseau, zu widerlegen, den Nachweis zu führen, daß derartiges nie stattgefunden habe — die Demokratie herrscht jeden Tag so, „als ob es stattgefunden hätte", dies allein aber zählt. Dieser „Sozialvertrag des als ob" soll dann ständig auch i n der Praxis vollzogen werden: Da ist eben ein Arbeiter „ i n den Betrieb eingetreten", er hat damit den kleinen betrieblichen Sozialvertrag geschlossen; er bringt i h m nun — soziale Rechte, wenn auch i n einem ganz anderen
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Sinn. Da hat der Student die Vorlesung besucht, er w i l l ihren Abbruch bestimmen. Da ist vor allem der aktive Wahlbürger, der sich i m Urnengang in den herrschaftsbestimmenden Sozialverbund begeben hat, dem daher das Recht zusteht zu entscheiden, auch über Stimmenthalter. Wo immer das „freiwillige Eintreten i n Ordnungen" zur Herrschaftsbegründung bemüht wird, selbst dort, wo irgendein „freiwilliges sich Unterwerfen" stattfindet, da w i r d letztlich nur sozialvertraglich gedacht, geherrscht. Der Herrschaftskörper muß eben i n Freiheit hergestellt werden — dann erscheint er als „natürlich". b) Sozialvertrag
— Überwindung
oder Ausdruck der Anarchie?
Der Sozialvertrag ist immer als ein Instrument zur Überwindung der Anarchie gedacht worden, doch er bleibt v o l l i n anarchischem Denken verhaftet, nimmt man i h n einmal ernst als ein „Zusammentreten freier Bürger". Seine anarchischen Elemente liegen auf der Hand: Seine ganze Legitimation kommt ja aus jenem Naturzustand, der gar nichts anderes sein kann als Anarchie. Das einzige Mal vielleicht findet sich hier dieses Wort i n positiver Wendung i n der Staatstheorie der Volksherrschaft. Und es geht i m Contrat social nicht ausschließlich u m die Überwindung einer Anarchie, der Vertrag entzöge sich ja dann selbst seine Grundlage; vielmehr w i r k t diese legitimierend i n die Ordnung hinein. Sozialvertraglichkeit bedeutet nichts anderes als die Legitimation der Herrschaftsordnung durch Anarchie. Eben weil sie nicht i n grauer Vorzeit stattgefunden hat, sondern sich täglich neu bewährt, w i r d auch diese selbe Herrschaftslosigkeit als grundsätzlich fortbestehend, als Herrschaftsgrundlage anerkannt. Darüber sollte einmal Klarheit bestehen, wenn man so leichthin die Formen der Sozialvertraglichkeit heutigen Gestaltungen der Volksherrschaft zugrunde legt. Daraus folgt dann auch eine weitere entscheidende Übernahme anarchischen Denkens: Nur der eigene Wille ist es, dem hier Bindungswirkung zuerkannt wird, nicht irgendeine Form von „objektivem Recht", eine vorherbestehende Norm. Anders aber kann sich Anarchie gar nicht definieren, als i n der ausschließlichen Selbstbindung, in der Ablehnung jeder Fremdbestimmung. Doch das Entscheidende am Denken i n den Kategorien des Sozialvertrages ist die Bedingtheit aller Herrschaft, der Vorbehalt der A n archie. Wer i n den Abstimmungskörper, i n die Entscheidungsgremien der Mehrheit eingetreten ist, der kann sie auch wieder verlassen, sonst hat diese natürliche Grundlage keinen Sinn. Die Kategorie der u n w i derruflichen Vertraglichkeit ist unserem Rechtsdenken völlig fremd. Seien es die „vitalen Interessen", die i m Völkerrecht die Aufkündigung jedes Vertrages rechtfertigen sollen, seien es die wichtigen Gründe, die
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V. Der Mehrheitsgrundsatz als Rechtsprinzip der Anarchie
auch i m Privatrecht die Abstreifung der Vertragsfessel jederzeit ermöglichen — wo immer bisher rechtlich gedacht worden ist, da wurde die Absolutheit der Selbstbindung abgelehnt, und es bedürfte nicht des modernen Scheidungsrechts, u m zu begründen, daß eben nur aus ganz anderen, außerjuristischen Legitimationen des Religiösen eine ewige Bindung entstehen kann. So darf also der Bürger des Sozialvertrags jederzeit zurückfallen i n den Naturzustand, jedenfalls w i r d alle so begründete Herrschaft stets sich i n Frage stellen lassen müssen; und was könnte denn anderes gemeint sein, wenn die Demokratie ihre Legitimation gerade darin sehen w i l l , daß sie von ihren Bürgern „täglich hinterfragt", ständig in Mißtrauen i n Frage gestellt werden kann, ja will? Selbst wenn damit nicht immer der Rückfall i n die totale Ordnungslosigkeit i m Namen des Sozialvertrags gefordert werden kann, so doch laufend die Ablösung bisheriger Ordnungen i m Namen anderer, somit aber eine Ordnungsverdünnung, die nur zu jener Anarchie streben kann, aus der sich der Sozialvertrag legitimiert. Es kommt immer mehr die Zeit, i n der der Sozialvertrag wieder aus einem theoretischen Kunstgriff zum politisch wirksamen Prinzip wird. Man kann nicht immer nur durch ihn die so geschaffene Herrschaft absolut setzen, man muß sie vielmehr i n ihrer Bedingtheit erkennen, sonst erfaßt man nur die eine Seite des Contrat social — dann aber ist das Entscheidende verfehlt, die Begründung der „natürlichen Abstimmungskörper" i n der Demokratie, dann w i r d das Mehrheitsprinzip selbst illegitim. Daß übrigens diese Zeit gekommen ist, i n der man i n der Sozialvertraglichkeit wieder weit mehr sieht als nur einen billigen Widerlegungsversuch des Autoritarismus, das zeigt sich an vielen praktischen Phänomenen, vor allem i m Verwaltungsrecht. c) Die Renaissance der Sozialvertraglichkeit Verwaltung durch Vertrag
—
Versuche, Herrschaft i n der Form von Verträgen auszuüben, hat es, vor allem i n neuerer Zeit, immer wieder gegeben. Vor allem i m 17. und 18. Jahrhundert kam es zu vielfältigen Formen einer „Privatisierung der Machtausübung", und zwar gerade i n einer Zeit, i n welcher sich die Territorialhoheit der Fürsten entscheidend verstärkte. Da w u r den keine Unterschiede gemacht zwischen öffentlichem und privatem Sachenrecht, die Staatsdiener wurden privatvertraglich verpflichtet, Konzessionen vertraglich verliehen, die Enteignung selbst erschien als Zwangskauf. Sogar die Ämterkäuflichkeit darf nicht immer nur ver-
ί . Sozialvertrag—anarchisches Denken als Grundlage der Mehrheiten ll'tf
standen werden als eine Degenerationserscheinung des Feudalismus, sie ist Ausdruck der privatvertraglichen Herrschaftsausübung, eine A r t von „privater Staatsorganisation". Die Gründe für all dies lagen nun sicher zum Teil i n der hohen Entwicklung der römisch-rechtlichen Zivilrechtstechnik, welche den Herrschenden das einzig wirklich faßbare Ordnungsinstrument zu bieten schien, während öffentlich-rechtliche Rechtsformen gar nicht oder kaum entwickelt waren. Doch nicht von ungefähr hat sich all diese „Verwaltung i n privaten Formen" i n einer Epoche entfaltet, welche auch von Sozialvertraglichkeit getragen war. Welche Beziehungen immer i m einzelnen zwischen dieser theoretischen Staatsgrundlage und den Einzelausprägungen der Herrschaft i n privatvertraglicher Form bestanden haben mögen — daß alles auf Vertrag, auf Gleichordnung gegründet wurde, hatte seine Wurzeln letztlich i n der originären Anarchievorstellung, i n welche alle Sozialvertraglichkeit mündete, und aus welcher man versuchte, die Formen der Gewalt zu entwickeln. Hier waren eben jene Freiheitsströme, wenn auch noch weithin verdeckt, bereits längst vor der Französischen Revolution da, welche dann zu dem großen, herrscherlichen Ausbruch von 1789 und der Schaffung eines neuen öffentlichen Rechts führen sollte. Die Französische Revolution hat das Ende der Verwaltung i n privatrechtlichen Formen gebracht, nicht etwa i n ihren anarchischen A n fangsphasen, sondern i n ihrer späteren, reineren Herrschaftsform des Direktoriums und des napoleonischen Caesarentums, i n denen sich die Herrschaft erstmals ihrer Eigenständigkeit voll bewußt wurde und Revolution und Anarchie ja auch entscheidend zurückdrängen konnte. I n den folgenden Jahrzehnten war, von romantischen Reminiszenzen und Nachwirkungen des Naturrechts abgesehen, weder von Sozialvertraglichkeit noch von privaten Herrschaftsformen viel die Rede, mehr und mehr entwickelte sich das moderne hoheitliche Verwaltungsrecht. Nicht von ungefähr hat es i n Frankreich i n der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts seine herrschaftssystematische Hochform i n einer Zeit gefunden, welche sich mit ebenso großer Entschiedenheit gegen den Sozialvertrag und seine grundrechtlichen Ausprägungen wenden sollte. Hier war eben der Höhepunkt der systematischen Anarchieablehnung allenthalben erreicht. Die Spitze normativer Rechtsstaatlichkeit wurde, zugleich mit den patriarchalisch-autoritären Herrschaftsformen des monarchischen Konstitutionalismus, auch i n Deutschland i n der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erklommen. M i t dem Heraufkommen demokratischer Vorstellungen regten sich jedoch auch die ersten neuen Versuche einer „vertraglichen Staatsverwaltung". Kormanns System der rechtsgeschäftlichen Staatsakte ist 8 Leisner
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V. Der Mehrheitsgrundsatz als Rechtsprinzip der Anarchie
nicht nur ein Ergebnis der Freirechtsbewegung, es fällt zeitlich mit den Forderungen nach einem neuen, demokratischen Parlamentarismus zusammen, mag diese geistige Synchronisierung auch damals kaum gesehen worden sein. Die Demokratie aber, die neue, ihrer selbst sich noch gar nicht bewußte A r t der Sozialvertraglichkeit, drängt bald überall zurück i n die Formen der Herrschaft durch Vertrag. Wieder beginnt es i m demokratischen Frankreich der Dritten Republik mit der Entwicklung einer ausgebauten Dogmatik von verwaltungsrechtlichen Verträgen, welche das starre System der Verwaltungsakte modifizieren. Der Bürger soll eben mit der Verwaltung paktieren können, hier w i r d Sozialvertrag i m kleinen gespielt — sicher zunächst ganz unbewußt und verstanden nur als Form der Effizienzsteigerung. Systematisiert und grundsätzlich bewußt w i r d all dies dann jedoch wieder nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Hier greift die Demokratie aus der Verfassungssphäre nicht nur i n die Gesellschaft, sie erfaßt vor allem nunmehr auch die Verwaltung. I n Deutschland werden die Forderungen nach Ausbau der Verwaltungsvertraglichkeit lauter; die Verwaltungsverfahrensgesetze von Bund und Ländern geben dem einen neuen, viel weiteren Raum. „Verwaltung durch Vertrag" läßt sich auf solche normative Phänomene jedoch nicht beschränken. Sie findet heute schon überall und laufend statt, selbst und gerade i n den herkömmlichen Formen der hoheitlichen, vom Verwaltungsakt bestimmten Administration. Da handelt der Eigentümer mit der Enteignungsgewalt über Entschädigungsbedingungen, auch wenn am Ende die hoheitliche Festsetzung steht; da werden Baugenehmigungen gegeben i m „Tausch" gegen Beitragsbereitschaft i n anderen Bereichen oder Hingabe von Grundstücken; da werden sogar hoheitsrechtliche Rechtsstreitigkeiten beigelegt i m gegenseitigen Nachgeben, obwohl doch die rechtlichen Voraussetzungen für einen Vergleich gar nicht gegeben sind. Allenthalben handelt und verhandelt der demokratische Bürger mit seinem Staat — er kann es, er soll es sogar, täglich w i r d i h m dies als Beispiel einer freiheitlichen Staatsform i n Schulen und von Medien gepredigt. Die hoheitliche Verwaltung steht weithin auf dem Papier, i n Wirklichkeit geschieht Verwaltung durch Verhandlung, und die Rechtswissenschaft ist dabei, hier neue Formen zu entwickeln. Vertreter des klassischen, hoheitlichen Verwaltungsrechts mögen i n all dem Formen der Dekadenz der Herrschaft sehen — i n gewissem Sinne zu Recht, doch zugleich w i r d hier ein Stück wahrer Demokratie i n einer sich steigernden Anarchienähe gespielt: Vertrag bedeutet Gleichordnung, er meint eine A r t von Bindungslosigkeit, die erst über den eigenen Willen zur Ordnung wird. Wo immer Vertrag eingesetzt w i r d ,
I . SozialVertrag^— anarchisches Denken al's Ghmdîàge der Mehrheiten
Ilif
da ist virtuelle Herrschaftslosigkeit, etwas von wirklicher Anarchie. Und die heutigen Formen des demokratischen Kompromittierens zwischen Bürger und Staat sind nicht etwa Degenerationen der Demokratie, sondern deren folgerichtige Entwicklung aus der höheren Idee der Sozialvertraglichkeit heraus, hier läuft täglich Sozialvertrag i m kleinen ab. Übrigens beschränkt sich diese Entwicklung i n die Verträglichkeit hinein keineswegs auf das öffentliche Recht. W i r sehen sie auch i n der Faszination, welche die Formen des Privatrechts ganz offen auf die öffentliche Gewalt ausüben, seit Jahrzehnten bereits. Auch hier hat es, mitten i m Autoritarismus, ja i m Totalitarismus des Nationalsozialismus, begonnen mit Versuchen der Effizienzsteigerung; doch i n „dieser Verwaltung i n den Formen des Privatrechts" flössen Kryptoströme eines Frühliberalismus, wenn nicht noch früherer, wohlfahrtsstaatlicher Gedanken weiter, welche einst den Staat aus dem Sozialvertrag hatten entstehen lassen. Die große A t t r a k t i v i t ä t der zivilrechtlichen Vertraglichkeit kommt auch heute nicht nur aus einer Flexibilität, i n der sich die Herrschenden den Fesseln des öffentlichen Rechts entziehen möchten; es gibt etwas wie eine echte demokratische Begeisterung für Privatvertraglichkeit. Darin aber w i r k t verborgene Anarchie i n rechtlichen Formen: Vertraglichkeit bedeutet ja hier die zum System erhobene Bindungslosigkeit. Uber die anarchischen Wurzeln aller Vertraglichkeit könnte theoretisch noch vieles gesagt werden. Bedeutsam sind vor allem ihre praktisch-politischen Folgerungen: Wo immer durch Verträge geherrscht wird, i m Staat oder i n der Gesellschaft, wo sich Verwaltung i n Vertraglichkeit auflöst, fällt von der Herrschaft das Unbedingte ab, denn eine Totalbindung ist auch dem Verwaltungsvertragsrecht unbekannt, Verträge werden immer unter letzten Vorbehalten, eben doch unter einer A r t von clausula rebus sie stantibus geschlossen, welche das herrschaftliche Verwaltungsrecht der Französischen Revolution nicht kennt. Die Grenzen der Vertragsbindungsmöglichkeiten, vor allem aber der Bereitschaft, sich so zu unterwerfen, werden auch bei Verträgen viel rascher erreicht, als i m eigentlichen Bereich der einseitigen, hoheitlichen Herrschaft: Moderne Rechtsentwicklung ist von einem rasch einsetzenden „Vertragsmißtrauen" geprägt, der Staat selbst greift, u m übermäßige Vertragsbindungen wieder zu beseitigen, i m Arbeitsrecht, i m Mietrecht, beim „Ehevertrag" und anderswo ein. Gegen seine eigenen, hoheitlichen Bindungen würde er so nie einschreiten. Man mag darin den Versuch sehen, die i n allem Vertraglichen zum Ausdruck kommenden „anarchischen Ordnungsformen" als solche zu bewahren, zu Unrecht: I n Wahrheit ist hier gerade jene Anarchie, die 8*
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V. Der Mehrheitsgrundsatz als Rechtsprinzip der Anarchie
zur Abschwächung der Herrschaft in Verträge geführt hat, dabei, sich auch noch von diesen vertraglichen Fesseln zu befreien; das Vertragsmißtrauen ist eine weitere Ausdrucksform der Anarchie nach jenem Vertrag, i n dem sich bereits Herrschaft anarchisch aufgelöst hatte. So liegt denn i n aller Herrschaftsvertraglichkeit eine freiheitssteigernde Eskalation bis zur Bindungslosigkeit des Anarchischen, und Herrschaftsauflösung in Vertraglichkeit, Vertragsintensivierung i n der Gesellschaft kann nur eines bedeuten: die Anarchie i m Vordringen gegen die Herrschaft. Dies alles aber ist echt demokratisch. Doch am Ende kommt es hier zu einem fast paradoxen Umschlag von Grundprinzipien der Demokratie i n ihr Gegenteil: Jene Staatsform, welche mit ihrem Mehrheitsprinzip ausgezogen war, Herrschaft zu errichten, muß notwendig den Weg der Sozialvertraglichkeit beschreiten, damit sie so die „natürlichen Entscheidungskörper" herstellen kann; i n der Sozialvertraglichkeit aber gewinnt bald das „Vertragliche" über das „Soziale", das Gesellschaftliche, die Überhand, und damit hört das mehrheitliche Entscheiden auf, die Herrschaftsherstellung über ein Mehrheitsprinzip. So erweist sich denn der Grundsatz der Majorität als eine Herrschaftsmaxime, die auf ihre eigene Überwindung i m freiheitlichen Kompromiß des zweiseitigen Rechtsgeschäfts hinausläuft. Denn Vertrag bedeutet eben gerade, daß eine Mehrheit nicht hergestellt w i r d — wie sollte dies auch zwischen zwei Gleichen geschehen? Wie aber soll eine solche Herrschaftsform der Anarchie entgegentreten, wenn sich ihre Macht auf Prinzipien aufbaut, welche sich selbst überholen — i m Lauf i n die Herrschaftslosigkeit?
d) Das „ tägliche Plebiszit" — Demokratie
gewordene Anarchie
Das Plébiscite de tous les jours w i r d als die Idealform des Demokratischen von jeher gefeiert — mit Recht von der Idee der Volksherrschaft her, und nicht nur nach ihren Schweizer Ursprüngen. I n jedem Plebiszit liegt etwas vom Sozialvertrag, vom Konstituierungsakt der Demokratie, i n i h m w i r d die Majestät der originären Herrschaft sichtbar; eine nicht ungefährliche Überinstitutionalisierung, ja Mechanisierung der Volksherrschaft liegt daher i m Ausschluß der Formen unmittelbarer Demokratie, und immer wieder streben diese Regime zurück zu ihren plebiszitären Quellen, die Entwicklung i n Frankreich und auch i n England zeigt es deutlich. Doch i m Plebiszit bricht auch immer ursprüngliche Anarchie i n der Demokratie auf: Hier ist etwas von der Einmaligkeit des ungeordneten
. Sozialvertrag—anarchisches Denken als Grundlage der Mehrheiten
„Zusammenlaufens" einer Bürgerschaft, welche in diesem Augenblick irgendwie als eine „natürliche" gedacht wird, welche hier auch über etwas besonders Wichtiges, Staatsgrundsätzliches, Staatskonstituierendes beschließt. Plebiszite finden immer aus einer Anarchie heraus statt, i n einem Zustand, i n dem die bestehenden demokratischen Gewalten „dem Volk die Macht zurückgeben", jede normativ-institutionalisierte Verfestigung für einen Augenblick aufheben. Aus diesen anarchischen, meist auch großen politischen Augenblicken aber lebt eine lebendige Volksherrschaft. Liegt also auch i m Plebiszitären selbst ebensowohl das originärDemokratische, wie das eigentlich Anarchische, so steigert sich diese Verbindung noch ganz wesentlich i m täglichen Plebiszit, dem legitimierenden Fernideal der Volksmacht. Hier nämlich findet diese Herrschaftsform ihre Begründung i n der erhöhten Wahrheit des ständig erforschten Bürgerwillens; darin sind die Abstimmungskörper i n besonderem Maße „natürlich", daß sie nicht nur täglich neu hergestellt werden, daß auch ihre „geistige Zusammensetzung", die sich ja mit der freien Bewegung der Ideen täglich ändert, immer wieder von neuem reflektiert werden kann. Hier w i r d schließlich der Sozialvertrag so häufig wiederholt, daß er als Verfestigung kaum mehr gefühlt wird, daß er zum ständigen solidarisierenden Miteinander gerät, daß es überhaupt keines Befehles mehr bedarf. Denn hier werden ja nicht Erlaßvorgänge von Anordnungen summiert, hier werden Zustände reflektiert, die bereits ihre Unausweichlichkeit, ihren „ganz natürlichen Befehl" i n sich tragen. I n all dem ist nun zweierlei: Wandlung des Mehrheitsprinzips, durch sich selbst i m Namen der Herrschaft, der demokratischen Macht — und ideale Anarchie, der man sich laufend nähert: Plebiszite kennen zwar Mehrheiten, doch sie beruhen nicht auf diesem Prinzip. Irgendwie ist der Majoritätsmechanismus i m Volksentscheid zu etwas anderem geworden, sichtbar w i r d dies i n der U n w i r k samkeit knapper Mehrheiten bei solchen Abstimmungen. I n Parlamenten mag ja über Jahrzehnte hinweg auch mit engsten Majoritäten regiert werden, die Legitimation des Plebiszits verliert entscheidend an Kraft, wenn etwa nur ein Abstimmender die Mehrheit herstellt. Grund dafür ist nicht nur die große Zahl, welche hier spricht; i m Plebiszit ist eben etwas wie das Zusammenlaufen der Vielen, Volksversammlung, in der nur mit großen Mehrheiten begeisternde Entscheidungen gefällt werden. Qualifizierte Mehrheiten für den Weg i n den Volksentscheid und die Abstimmung dort sind denn auch etwas ganz Natürliches, i m Parlament mit seinen wenigen Stimmen bleiben sie stets gekünstelt, wirken als Herrschaftsaufstau.
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V . Der Mehrheitsgrundsatz als Rechtsprinzip der Anarchie
I m Plebiszit liegt also vielleicht noch nicht eine Überwindung des Mehrheitsprinzips, wohl aber bereits eine Verwandlung, welche i h m die Kraft der überzeugenden mathematischen Addition nimmt. I n der Idee des täglichen Plebiszits verliert darüber hinaus die Majoritätsidee entscheidend an Macht: Die „Abstimmung" muß ja, von der Idee her, „täglich" wiederholt werden, die Majorität hat also eigentlich gar keine befehlende, fortwirkende Kraft, morgen schon w i r d ihre Anordnung wenn nicht rückgängig gemacht, so doch i n einer anderen Majorität fortgesetzt. Hier sind also keine Befehle mehr, sondern nurmehr täglich wechselnde Willenslagen. Hier löst sich die Herrschaft soz. i n Zustandsfeststellungen auf, i n denen übrigens die Minderheit ebenso bedeutsam sein kann, wie die Mehrheit; der „Markt als tägliches Plebiszit" zeigt dies ganz deutlich, er hat eben gar nichts mehr von einer herrschaftlichen Befehlsherstellung, er ist nurmehr Zustandsbeschreibung, allenfalls noch Prognose. Wieder gelangen w i r also an einen Punkt, an dem sich das Mehrheitsprinzip i n der Demokratie selbst überwindet; ihr Endzustand ist das tägliche Plebiszit, nicht die befehlende Mehrheit, sie ist Zustand, nicht Anordnung. Und wenn w i r dies alles nun m i t den Augen des Anarchischen sehen, so erscheint es als ein ganz großer Einbruch der Herrschaftslosigkeit, als ein Ausdruck der Herrschaftsverneinung — dieses demokratische Staatsideal des täglichen Volksabglanzes. Und es „bleibt nicht ideal", es ist eine tägliche politisch-rechtliche Wirklichkeit; denn die Idee des täglichen Plebiszits ist viel zu mächtig, als daß sie sich i n ferne Grundsätzlichkeit verbannen ließe. Da ist jene Bürgernähe, welche der demokratischen Verwaltung ohne Unterbrechung gepredigt werden muß, sie hat sich heute tatsächlich und i n vielen rechtlichen Formen verstärkt; da ist das Phänomen der Dauerwahlen, von den Kommunen über die Länder bis zum Bunde, u m nicht zu vergessen die quasiherrschaftlichen Sozialwahlen, Wahlvorgänge an Universitäten und Schulen. Die Demokratie wählt sich nicht zu Tode, wie man i n Weimar befürchtete, sie wählt sich i n die Anarchie. Und da sind schließlich die Volksbefrager, die zahllosen Formen moderner Demoskopie, die man doch nicht auf einzelne Institute beschränken darf. Täglich nehmen die Herrschenden eine Eingeweidebeschau i m Körper der Bürgerschaft vor, sie verfolgen die Gazetten und sprechen mit den Gewaltunterworfenen, sie halten das Ohr am Volkssouverän. Ob sie das Richtige hören, ist ohne Bedeutung, es zählt nur der laufende Versuch: Er beweist, daß das Plébiscite de tous les jours tägliche Herrschaftswirklichkeit ist, daß sich die Mächtigen auf eine Basis laufend einstellen, die ununterbrochen fluktuiert, daß sie nicht die engen mathematischen Mehrheiten interessieren, sondern die großen Majoritäten, welche zu Wellen werden könnten.
2. M a j o r i t ä t — anarchische Höchstform des Individualismus
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So wächst das tägliche Plebiszit heraus aus den herkömmlichen Mehrheitsgedanken, fast scheint es, als entwickelten sich hier neue Majoritätsvorstellungen, als gehe der Weg von der großen Zahl zur großen Mehrheit — ein Zeichen übrigens vielleicht für das Ende der parlamentarischen Regierbarkeit, der immer die mathematische Mehrheit genügt. I n all dem aber werden Wellenbewegungen i n die Herrschaft transformiert, die Macht w i r d über sie ferngesteuert, aus Gründen, die mit der normativen Rechtsstaatlichkeit der Demokratie gar nicht auszuloten sind. Hier kommt Herrschaft aus den Tiefen der A n archie; und wie lange werden die sichtbaren Oberflächlichkeiten des herkömmlichen Mehrheitsprinzips noch Bedeutung haben gegenüber solchen tiefen Strömungen, denen die Volksherrschaft letztlich keine Formen bieten kann?
2. Majorität — anarchische Höchstform des Individualismus a) Der selbstbewußte
Abstimmungsbürger
Das Mehrheitsprinzip w i r d von jeher kritisiert als eine Form der Entindividualisierung. I n der Schaffung der Abstimmungskörper von Gleichen findet ja, so scheint es, ein wesentlicher Verlust jener Unauswechselbarkeit statt, den der Individualismus stets fordern muß. Wenn sich der Einzelne dann der oft so knappen Mehrheit zu unterwerfen hat, so bedeutet doch auch dies wieder die Aufgabe der Selbständigkeit, nicht so sehr i n einem A k t des Gehorsams, i n dem ja noch eine Individualität auf Zeit vor der anderen zurücktreten mag, sondern i n einem Zahlenspiel, das überhaupt keine Individualität mehr kennt. Demokratiekritik hat denn auch immer gegen solche entindividualisierende Majorisierung angesetzt. Doch die eigentlichen Gefahren für die Demokratie liegen hier auf einer ganz anderen Ebene: Der Einzelne w i r d i n der Mehrheitsentscheidung zwar einerseits zurückgedrängt, zugleich jedoch findet auch eine Verstärkung des Individualismus statt, i n der sich anarchisierendes Selbstbewußtsein bilden kann. Von diesem wenig bemerkten Aspekt sei hier die Rede. Das individuelle Selbstbewußtsein w i r d durch die Bestimmungsmechanismen ganz erheblich verstärkt, insbesondere dort, wo die A b stimmungskörper noch überschaubar sind, also i n den Formen der Minidemokratie, etwa i n Betrieben, Schulen und Universitäten. Hier muß ja der Abstimmungsbürger stets von neuem „an die Urnen gerufen werden", und dies geschieht aus einer doch prinzipiell angenommenen Bindungslosigkeit heraus, der er sich auch nicht selten bewußt
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V . Der Mehrheitsgrundsatz als Rechtsprinzip der Anarchie
ist, aus der er „ i n die Abstimmung herabsteigt". Sein Selbstbewußtsein w i r d dort noch verstärkt, wo seine Gegenwart notwendig ist, wo ein bedeutenderes Quorum erst m i t seinem Hinzutreten erreicht werden kann, wo er jedenfalls i n solcher Überzeugung tätig wird. I n all dem bereits gewinnt der Abstimmungsbürger echtes Selbstbewußtsein, und zwar trägt dies anarchische Züge, denn überall ist er es ja, der erstmals etwas wie Herrschaft, aus der Bindungslosigkeit heraus, hervorbringt. A m höchsten steigert sich dieses Selbstgefühl jedoch i m Abstimmungsvorgang selbst, der ja „frei" ist, i n dem also i n Befehlslosigkeit, i n Bindungslosigkeit entschieden wird. I n dieser Idee der „freien Wahl" kommt es aber zu etwas wie einer Herrschaftsform der Bindungslosigkeit, hier w i r k t Anarchie individualisierend. Der Abstimmende sieht sich, von Anfang an, i n der Doppelrolle des frei Bestimmenden und des sich Unterwerfenden. I m demokratischen Zweitakt Herrschen - Gehorchen findet zwar ein laufender Rollenwechsel statt, doch hinter i h m steht die eine Persönlichkeit, deren individuelles Selbstbewußtsein ständig neu i m ersten Takt aufgeladen wird, nachdem es i m zweiten abgeschwächt wurde. I n diesem dauernden Wechsel von Beherrschtsein und Herrschen liegt an sich schon eine geistige Fluktuation, die i m Bewußtsein des Bürgers eine Form anarchischen Selbstbewußtseins hervorbringt, sieht man sie i n ihrer Gesamtheit und nicht nur i m Endzustand der Gewaltunterworfenheit. Hier ist viel vom „Wie du mir, so ich dir", von der originären Repressalienidee des Naturzustandes, der sich i m Völkerrecht noch erhalten konnte; da w i r d i n Vorstadien der Abstimmung verhandelt und gehandelt, jedem Bürger bleibt etwas vom Selbstbewußtsein des Einundfünfzigsten. Nicht zuletzt liegt aber i n der Abstimmung immer auch eine Möglichkeit, welche die reine Befehlsordnung nicht kennt: daß eben verworfen werde, daß sich die Befehlsverneinungen durchsetzen, aus welchen Gründen immer. Viel mehr müßte man die Abstimmungen und das Mehrheitsprinzip auch vom negativen Ergebnis her sehen, das dadurch i n Kauf genommen wird, von der Idee der heterogenen Mehrheiten aus, welche i n der Majoritätsidee ebenso liegen, wie die Vorstellung von der kompakten, stets bejahenden Mehrheit. Hier hat man die Demokratieidee völlig verzeichnet, als man, nach den politischen Erfahrungen der Weimarer Spätzeit, den heterogenen Flügelmehrheiten von links und rechts, welche die Mehrheit zu Fall brachten, herrschaftslose Zustände herstellten, die demokratische Legitimation glaubte absprechen zu können: I n ihnen lebt die „negative Demokratie", sie erscheinen aus der Idee der Volksherrschaft heraus mindestens ebenso legitim wie jene Form der „positiven" Demokratie,-
2. M a j o r i t ä t — anarchische Höchstform des Individualismus
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die allzu oft nichts ist als ein autoritärer Herrschaftsmechanismus mit anderen Vorzeichen. Wer sagt denn, daß durch das Mehrheitsprinzip Herrschaft hergestellt werden soll? Es ist ambivalent auch darin, daß sich totale Herrschaftslosigkeit auf Zeit durchsetzt. Die demokratische Berechtigung eines Befehls, i n dem unterschiedlich Denkende einig waren, hat noch niemand bestritten; warum sollten sich extreme Linke und extreme Rechte nicht auf Befehlslosigkeit einigen können, ja auf Anarchie? Wer dies i n Zweifel zieht, geht doch nur von einem Vorverständnis der Volksherrschaft aus, i n der eben „Befehle sein müssen" — wer aber hat dies befohlen? So findet denn der Abstimmungsbürger sein Hochgefühl i n vielem, nicht zuletzt aber auch i n der steten Möglichkeit zum Nein; darin ist Öffnung zum Individualismus, zur Anarchie. b) Abstimmung
als individualistischer Ausnahmemechanismus das Problem der „Dauerdemokratie"
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I n jeder Abstimmung liegt etwas von einer „Gelegenheitsentscheidung", schon weil sie, positiv jedenfalls, nicht fallen muß. Daraus kommt ein politisches Selbstbewußtsein, das auch überall praktisch zu fühlen ist. Aus einer A r t von Naturzustand ihrer Berge kamen die Schweizer Bauern i n der Urdemokratie zusammen; etwas von diesem nur durch die Natur der Jahreszeiten geregelten Gelegenheitstreffen ist aller Demokratie erhalten geblieben. I m Mehrheitsprinzip liegt überhaupt etwas von einem „Ausnahmemechanismus", der immer irgendwie „ad hoc" eingesetzt wird; schon nach den Komplikationen seiner Organisation, i n der Majestät seines verschlungenen Ablaufs hat er etwas von Einmaligkeit. Abstimmungswiederholungen sind denn auch nicht vergleichbar mit einfachen Befehlswiederholungen, Änderung von Entscheidungen, die eine Mehrheit gefunden haben, bedeutet nicht dasselbe wie einfach Ergänzung oder Abänderung von Anordnungen. Dies alles mag theoretisch schwer zu greifen sein; es ist eine praktische Erfahrung, die jeder „Kommissionsbürger" kennt, die eigentlich jeder Demokrat kennen müßte. Ein Dauerwählen entkräftet, ein Dauerbefehlen kräftigt die Herrschaftsgewalt. Befehlsketten bringen keinen Legitimationsverlust, i n ihnen w i r d Herrschaft eingehämmert, selbstverständlich, das System der militärischen Macht zeigt es. Ganz anders die demokratische Herrschaftsstruktur: Hier liegt eine Kontinuitätsabschwächung in jeder Abstimmung, weil diese eben etwas von der geschlossenen Einmaligkeit der Herrschaftsherstellung aus dem Nichts des Anarchischen heraus i n sich trägt. Und hier ist die kleinste Abstimmung der größten gleich, i n ihrer schweren Abänderbarkeit, i n
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V. Der Mehrheitsgrundsatz als Rechtsprinzip der Anarchie
ihrer prinzipiellen Unwiederholbarkeit. Es läuft etwas ab wie ein Prozeß von kollektivem Individualismus, wenn es derartiges begrifflich geben kann, hier bleibt das Selbstbewußtsein des Abstimmungsbürgers i n der Entscheidung erhalten, zu der man i h n eben nicht ständig, nicht immer wieder bemühen kann. Alle Gremien kennen das Prinzip, sehen es ihre Geschäftsordnungen nun ausdrücklich vor oder nicht, daß A b stimmungen nicht beliebig wiederholt werden können; darin liegt die Einmaligkeit der ineins geworfenen Willen jener Abstimmungsbürger, die aus ihrem Naturzustand, von den Bäumen ihrer Volkssouveränität, zum Versammlungsort herabgestiegen sind. Und darin w i r d die „Dauerdemokratie" erst recht zum anarchischen Problem: I n Dauerabstimmungen w i r d die Volksherrschaft entwertet; je organisierter, je selbstverständlicher das Stimmenzählen geworden ist, desto weniger wiegen die Stimmen insgesamt; und auch darauf kommt es an, nicht nur auf das Gewicht der einzelnen Stimmen. Nun muß es zur Herrschaft der Einpeitscher kommen, zu den „größeren und kleineren Abgeordneten", zu den Abstimmungsclans, zur Herrschaft über das an sich doch Anarchisch-Unbeherrschbare: über die Abstimmungsbürger, über die Abgeordneten. Darin w i r d zwar, u m mit dem Bundesverfassungsgericht zu sprechen, die parlamentarische Demokratie „funktionsfähiger", sie entgeht manchen Gefahren der Anarchie — aber sie verliert auch deren belebende Kraft und dereil Legitimation. A m weitesten entfernt sich die Volksherrschaft von ihrer eigenen Legitimität, wenn es zu den stets gleichen oder ähnlichen Dauermehrheiten kommt, zu jenen verkrusteten Majoritäten, welche über Jahrzehnte hinaus den Staat beherrschen. Dann ist da letztlich nichts mehr als jene Oligarchie, ohne welche ja solche Majoritäten weder herzustellen noch zu halten wären; dann ist zwar die Anarchie durch demokratische Mechanismen weit zurückgedrängt, zugleich aber w i r d sie sich anderswo, außerparlamentarisch, neu formieren. Denn es bleibt nichts mehr, in solchen Abstimmungskörpern, vom ursprünglichen Fluktuieren der Ideen und der Volksmacht, von all dem, was letztlich ja nur lebt aus dem Individualismus, ohne den der Abstimmungsmechanismus degeneriert, demokratisch gesehen illegitim wird. So hat denn die Demokratie, wie es scheint, nur die Chance, sich entweder von ihrer eigenen Legitimitätsbasis zu entfernen, oder die Formen der Dauerdemokratie aufzugeben, sich etwas von der Einmaligkeit aller Abstimmung, aller Mehrheitsentscheidung zu bewahren — dann aber muß sie wieder die Herrschaftsauflösung des anarchischen, individualistischen Selbstbewußtseins befürchten.
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c) „Volonté générale " — ein Wunder, das nicht stattfindet Die Demokratie steht und fällt, und nicht erst seit den Theorien Rousseaus, mit dem Glauben an das Wunder der Volonté générale, i n der die Individualitäten der vielen einzelnen Willen, die Summe der Volonté de tous zur Einheit der Herrschaft integriert wird. Nur darin wandelt sich die Individualität des Urzustands der Anarchie zur demokratischen Macht. Doch eine wie immer betrachtete politische Wirklichkeit zeigt, daß dieses Gralswunder der Demokratie immer weniger stattfindet, vielleicht gar nicht mehr: Die individuellen Willen der Einzelnen sind stets in der Mehrheitsentscheidung noch irgendwie sichtbar, Volonté générale bleibt Volonté de tous, als solche w i r d sie gefühlt, nur als solche akzeptiert, als ein Ausdruck „auch des kleinen eigenen Willens". Darin setzt sich die Anarchie fort i n die Herrschaft hinein — und durch! Nur zwei Beispiele aus den praktisch-politischen Abläufen der Demokratie mögen dies belegen: die schwierigen Vorbereitungen und Nachbereitungen der Mehrheitsentscheidungen, i n dem Bemühen um akzeptierte demokratische Herrschaft. I n der Vorbereitung der Mehrheitsentscheidung w i r d zwar allenthalben, vom kleinsten Gemeinderat bis zum Bundestag hinauf, alles getan, u m möglichst bald Integrationswirkung der Mehrheitsentscheidung zum allgemeinen Willen stattfinden zu lassen. Dem vor allem dient die geheime Wahl, nicht nur dem Schutz der Abstimmenden, der bei wahrer Freiheit gar nicht erforderlich wäre, der letztlich stets ein Armutszeugnis der Demokratie darstellt. Nur aus der geheimen Abstimmung kann eben jener geheimnisvolle neue Wille hervorgehen, von dem niemand weiß, wer ihn wirklich gebildet hat. Doch die Wirklichkeit ist eine ganz andere: Fraktionszwang und Partei- oder Gruppenzugehörigkeit machen die Mehrheiten offenkundig, und wo sie noch nicht von Anfang an feststehen sollten, werden sie in aufwendigen und offenen Bemühungen vorbereitet. I n dieser notwendigen Mehrheitsvorbereitung verliert sich aber jenes Geheimnis der Abstimmung, damit zugleich die Andersartigkeit des „allgemeinen Willens": Man weiß eben nun doch, man hat es über Monate hinweg oft bis zum Uberdruß vorgespielt bekommen, wie sich dieser geheimnisvolle Gemeinwille formen wird, und warum sollte er nun mit einem Mal etwas ganz anderes sein als der Wille jener Individuen, welche die Mehrheit bilden? Wenn aber Entscheidung doch nichts anderes ist als der Wille von Individuen, so verliert sich die individualitätsüberhöhende Kraft des Mehrheitsprinzips, und zugleich w i r d die Entscheidung bestreitbar, prekär, I n beidem liegt Anarchiegehalt; i n
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V. Der Mehrheitsgrundsatz als Rechtsprinzip der Anarchie
dem verstärkten Selbstbewußtsein derjenigen, welche sich stolz als Träger der Entscheidung nach außen kundtun, aus Volksrepräsentanten zu Volksführern werden — und i m abgeschwächten Gehorsam der Unterlegenen, welche i m allgemeinen Willen den ihren nun nicht mehr erkennen können. Hier öffnet sich übrigens eine für die Demokratie gefährliche Schere. Um ihren Mehrheitsentscheidungen Überzeugungskraft zu verleihen, muß sie Diskussionen zulassen, Vorbereitungen der Majoritätsentscheidungen in all ihren Formen — und eben dies wiederum entzieht der Allgemeinheit des zu bildenden Willens seine legitimierende Kraft, weil in Diskussionsvorbereitung offenkundig wird, welcher Wille es wirklich ist: nicht der der einzelnen Abstimmenden, sondern der Vorbereitungsmächtigen der Demokratie. Dies ist mehr als ein weiterer innerer Widerspruch in Herrschaftsformen der Volksmacht: Hier öffnet sie sich der Anarchie, ist sie doch nicht mehr als die Ansammlung individueller Willensmächte. Keine andere Staatsform bemüht sich auch, nachdem die Mehrheitsentscheidung gefallen ist, so sehr wie die Demokratie darum, daß sie nun von den Gewaltunterworfenen angenommen werde. Auch darum finden tagtäglich jene Versuche demokratischen Verwaltens statt, welche als Ausdruck der Bürgernähe erscheinen; i n Aufklärung^aktionen und Diskussionen, in Wahlkreisveranstaltungen und langen Urteilsbegründungen bemühen sich alle Gewalten u m das Verständnis der Gewaltunterworfenen. Dies mag als Selbstverständlichkeit einer Staatsform erscheinen, in welcher der „allgemeine Wille" mit der Volksbasis verbunden bleiben soll. Doch zugleich zeigt sich darin, daß es eben keiné wirkliche Volonté générale ist, was hier dem Gehorsam der Bürger i m wahren Sinne des Wortes verkauft werden muß, daß es vielmehr gilt, den durchaus noch erkennbaren Willen Einzelner oder gewisser Kräftegruppierungen denen aufzuzwingen — i n Überzeugung oder in anderen Formen sanfter Gewalt — welche sich darin deutlich fremdbestimmt sehen. Eigentlich müßten Herrschaftsformen, welche auf der Mehrheit und damit der Beteiligung aller aufruhen, diese so aufwendig i n die Vorphasen einzubinden suchen, nunmehr wirklich von dem ganz selbstverständlichen, dem wahrhaft allgemeinen Willen ausgehen können, ihn nicht auch noch, mit neuem Aufwand, zur ständigen Annahme empfehlen. Doch darin liegt eben das stillschweigende Anerkenntnis, daß in den politischen Willensäußerungen individuelles Machtstreben Einzelner oder gewisser Gruppen noch durchaus sichtbar bleibt, deshalb muß sich dem bereits komplizierten Abstimmungsmechanismus der Befehle ein weiterer, laufender Abstimmungsmechanismus i m täg-
2. M a j o r i t ä t — anarchische Höchstform des Individualismus
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liehen Plebiszit der Befehlsannahme durch die Bürger überlagern. Das Mehrheitsprinzip sollte eigentlich auf solches Machtwerben verzichten können; daß es dennoch erforderlich ist, zeigt sein eigentliches Wesen: Es ruht auf anarchischen Vorstellungen auf und i n i h m bleibt dieser Individualismus letztlich eben doch erhalten. Mehrheit ist also noch längst keine eigentliche Überwindung der Anarchie, sie erweist sich weit mehr als ein Versuch, i n ständiger Sympathiewerbung mit den Grundvorstellungen totaler Ungebundenheit — doch zu leben. d) Majorität
— das „überwogene",
nicht „beherrschte"
Individuum
Man kommt dem schwer faßbaren und doch täglich realen Selbstbewußtsein des Abstimmungsbürgers vielleicht dann näher, wenn man das Prinzip der Mehrheitsentscheidung nicht allein als eine Form unmenschlicher Nivellierung sieht, sondern zugleich als eine wirkliche Souveränitätserklärung des Individuums: Nicht nur, daß über ihn, i n seinem Wahlakt, niemand herrscht, daß er hier i n „den Naturzustand" wirklich zurückgefallen ist — Mehrheit bedeutet ja i m Tiefsten nur ein quantitatives Überwogenwerden durch andere, nicht ein qualitatives Gebeugtwerden durch Höherstehende. I n der Anerkennung der Mehrheitsentscheidung liegt etwas von der Hinnahme der übermächtigen Muskelkraft der größeren Zahl, sie sagt i m Grunde nichts darüber aus, ob dieser Befehl auch der bessere ist; weil sie eben ihre Legitimation aus dem einundfünfzigsten Mann zieht, bedarf sie nicht der Begründung aus einem „Richtigen", aus dem „Besseren". Daß Vernunft stets bei wenigen nur gewesen sei, t r i f f t Demokratie und Mehrheit überhaupt nicht, es w i r d ihr sogar zur Legitimation: Die Vernunftfrage, die der Richtigkeit, muß ja gar nicht gestellt werden, die Abstimmung erfaßt i m Bürger nicht das bereits bewertete Individuum, das nach seinen intellektuellen oder sonstigen Kräften höher oder niederer eingestuft wird, hier bleiben alle Qualitäten beiseite, es stimmen ab die aus dem Naturzustand zusammenlaufenden, die gleichen Abstimmungsbürger. Daß von ihren Meriten und Kräften abgesehen wird, daß sie alle, in welchem Wahlkörper immer sie tätig sind, irgendwie entindividualisiert werden, das mag zwar für den Einzelnen einen realen Machtverlust bedeuten, weil er nun seine „besseren Gründe" nicht aus höherem Recht durchsetzen kann. Zugleich aber beläßt es ihm, und allen anderen, die letzte Individualitätsüberzeugung, gerade wenn er unterliegt; er ist eben — überwogen worden und kann sich dem weit leichter beugen, als wenn die Machtentscheidung eine zurückdrängende Niederlage seiner innersten menschlichen Eigenheiten und Kräfte bedeutet hätte.
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V. Der Mehrheitsgrundsatz als Rechtsprinzip der Anarchie
Mit anderen Worten: Die Mehrheitsentscheidung beherrscht den A b stimmungsmenschen nicht i n seinem „Menschlichsten", i m Zentrum seiner unauswechselbaren Individualität, i n deren Namen er ja gar nicht zur Abstimmung gerufen wird, sondern i n einer A r t von „physischer Randzone", i n den Marginalien, i n welchen er, aus dem Naturzustand heraustretend, mit anderen eben i n Kontakt kommt. Darin liegt eine Chance der Demokratie, daß Mehrheitsentscheidungen als Schicksal hingenommen werden, weil sie ganz bewußt am Rande bleiben, vielleicht auch an der Oberfläche. Jenes „leichthin Kompromittieren", das der Demokratie so oft zum Vorwurf gemacht wird, gehört zu den Geheimnissen ihres Herrschens — aber auch zu ihren Schwächen: Denn ganz kann sich der Bürger eben nie i m Abstimmungsakt zum Einsatz bringen, als ganze, unauswechselbare Persönlichkeit kann er weder siegen noch w i l l er dort besiegt werden, deshalb unterwirft er sich dann ja auch leichter. I n i h m ist und bleibt etwas vom „guten Wilden", der von den Bäumen seines Kolonialdaseins herabsteigt zum Abstimmungsvorgang, sodann wieder gleichmütig zu ihnen zurückkehrt, nachdem er überwogen hat oder überwogen worden ist: So tief kann ja ein Vorgang seine Persönlichkeit nicht treffen, i n dem letztlich nichts Persönliches war. So liegt denn i n der Mehrheitsentscheidung eine Form der Persönlichkeitsachtung, die Herrschaft erleichtert, sie aber auch immer unter einen letzten Vorbehalt stellt: Womit ich nicht selbst habe herrschen können, das liefere ich auch keinem Herrschaftszugriff aus. Darin aber bleibt Naturzustand, Anarchie. Das Gegenteil dessen also t r i t t hier ein, was die Befürworter der Demokratie erhoffen: Sie meinen, ihre Herrschaft werde dann vom Bürger ernster genommen, wenn er selbst an ihr habe teilnehmen können. Dies mag zuzeiten, ja bei vielen zutreffen; zugleich aber w i r d eine Herrschaft eben auch „nicht ganz so ernst genommen, weil man dabeigewesen ist". Ihr fehlt das Beugende der eigentlichen Macht, eine Annahme des Befehls, die etwas von der Mentalität des Dienens an sich haben muß, und dies verlangt doch das Gefühl einer gewissen Fremdbestimmung, das nicht durch die Wirklichkeit — oder auch nur, wie meistens, die Illusion — kollektiver Formen der Selbstbestimmung i n der Abstimmung verdrängt wird. I n der politischen Psychologie des Abstimmungsbürgers laufen hier wohl verschlungene Wege des Denkens und Fühlens ineinander; doch es wäre einseitig, aus Herrschaftsteilnahme stets auch Herrschaftsannahme folgern zu wollen. Diese letztere mag leichter sein, ob sie aber auch ebenso v o l l ist wie die des eindeutig Gewaltunterworfenen? Der Abstimmungsbürger hat i m Grunde nur einen Mechanismus akzeptiert, den der Mehrheit, i n i h m liegt noch kein Befehl; was daraus als Anordnung kommt, erscheint
3. Mehrheitsprinzip — Ausdruck der Äesignationsdemokratie
12?
weithin als eine A r t von selbstverständlicher Folge der Majoritätsmechanik, der Befehlscharakter schwächt sich darin ab, die Annahme der Herrschaft w i r d leichter — aber sie w i r d eben nicht als Befehl angenommen, und wo sie wirklich zu drücken beginnt, da setzt sogleich die Auflehnung ein — all dies, weil das eigentliche Zentrum der Individualität durch die Majorität ungebrochen geblieben ist, ja weithin gar nicht erreicht wird. Wer i n all dem nur Theorie sieht, keine Beschreibung täglicher politischer Phänomene, der hat keinen Blick für den großen Machtvorbehalt, unter den der selbstbewußte Demokrat alle Anordnungen stellt, denen er sich — i m wahren Sinn des Wortes: gegenübersieht, nicht aber beugt. I n diesem Aufrechtstehen ist etwas Großartiges, etwas von der Majestät der Anarchie. 3. Das Mehrheitsprinzip — Ausdruck der Resignationsdemokratie a) Die resignierende Faszination des demokratischen
Machtspiels
Resignation ist ebensowenig ein staatsrechtlicher Begriff wie der Wille zur Macht; politisch ist sie ebenso fühlbar, i n vielen Ausdrucksformen gegenwärtig. Da sind Friedens- und Kompromißbereitschaft, rechtliche Selbstbeschränkung der Macht und, ganz allgemein — das Mehrheitsprinzip. Denn i n i h m ist jene weise Erkenntnis der politischen Schwäche zur Institution geworden, welche auf den Kern aller Macht verzichtet: dem anderen den eigenen Willen aufzwingen zu wollen. Doch diese Mischung aus politischer Enttäuschung und Weisheit, die sich nicht nur auf die jeweiligen eigenen Kräfte der Herrschenden bezieht, sie liegt i m System, sie ist eine Resignation hinsichtlich der Möglichkeiten demokratischen Herrschens schlechthin. Darin w i r d sie zur Schwäche gegenüber dem Gegenprinzip, der sich ausbreitenden A n archie. Faßbar w i r d dies vor allem i n dem Spielcharakter, den die demokratischen Herrschaftsäußerungen annehmen. Zum Spiel w i r d die Herrschaft durch die Mehrheitsentscheidung, für die Abstimmenden wie für die Organisatoren der Herrschaftsmaschine. Die Abstimmenden „spielen eben m i t " , i n jener individualistischen Distanz (vgl. oben 2 am Ende), die ihnen die Mehrheit beläßt. Für sie ist es nicht wichtig, sondern es genügt ihren Pflichten, „dabeigewesen zu sein". Stimmenthaltung ist daher ein wesentlicher Bestandteil des richtig verstandenen Mehrheitsprinzips, weil dieses ja nicht vergewal-
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V. Der Mehrheitsgrundsatz als Rechtsprinzip der Anarchie
tigen darf, weil es nur das Zusammenlaufen der Individuen, nicht ihre notwendige Integration verlangt. I n der Stimmenthaltung bleibt ganz offen ein Stück von „Nicht-Herrschen-Wollen", ein eigentümlicher Restbestand von Anarchie. „Laßt uns abstimmen" — darin liegt durchaus i n der Praxis nicht immer die Herrschaftsbegeisterung, welche den Augenblick der Entscheidung gekommen sieht. Vielmehr — und wie oft nicht! — bedeutet diese Aufforderung das Gegenteil: „Laßt es laufen", oder „Mag es laufen, wie es w i l l " . Da ist die abgebrochene Diskussion, das politische Ermüden, die Gleichgültigkeit. Wenn jemand wissen w i l l , warum so wenig Begeisterung, so wenig Überzeugungskraft i n der späten Demokratie liegt, so mag er diese Abstimmungsvorgänge näher analysieren; er w i r d hier der Resignation der Abstimmungsbürger begegnen, für welche entweder alles gelaufen ist, oder die den Lauf einem Schicksal des Spiels überlassen. Und wie steht es nun mit den Organisatoren der Spiele, mit den Croupiers der Macht? Sie lassen ein Spiel ablaufen, wenn sie wirklich herrschen, ohne daran teilzunehmen, wie viele Regierungsmitglieder bei Parlamentsabstimmungen — und was überhaupt an Herrschaftsansatz, an Menschlichem, noch daran ist, das läuft i m klassischen Dreitakt, wo aber i n keiner Phase eigentliche Machtäußerung ist: Faites vos jeux — Einladung zu politischen Einsätzen, zur Gewichtung der verschiedenen Interessen; les jeux sont faits — der Interessen- und Entscheidungsraum w i r d als abgesteckt erklärt, er hat sich soz. „von selbst gebildet"; rien ne va plus — die Aussprache ist geschlossen, die Diskussion abgebrochen. Überall ist Geschäftsordnung, nirgends ist w i r k liche Herrschaft, alles ist Spiel; vor allem was nun kommt, die eigentliche Entscheidung in der rollenden Kugel der Mehrheit. Da ist das Faszinierende des Spiels, das Rasche und Unmerkliche des Endes, das Seriöse der Spielsäle, Präsidenten, Parlamente. Und mit einem Mal kassiert dann einer — aus welchem Recht eigentlich? Aus keinem begründbaren, aus dem der Mehrheit; das Spiel ist aus. Da gibt es auch Systeme — ob politische Wissenschaft sie aber besser erfassen kann als Mathematik die Spiele? I n diesem politischen Spiel der Mehrheit ist Leidenschaft und Ernst, da muß es große Einsätze und ganz überraschende Verlierer und Gewinner geben, Zufallsmehrheiten und Überläufer. Man mag dies mit stumpfer Moralität kritisieren, wenn man den Sinn für alles Begeisternde der Demokratie verloren hat; doch die Demokratie muß weiter spielen, sonst hat sie schon verloren — ihre Legitimation. Wer die prickelnde Spielstimmung der großen Abstimmungen wegargumentieren w i l l , der hat Demokratie vielleicht gelernt, aber nie gefühlt.
3. M e h r h e i t s p r n z i p — Ausdruck der
esignationsdemokratie
I n diesem Machtspiel nun liegt ganz wesentlich Anarchie. Hier t r i t t der Ernst des bewußten menschlichen Ordnungswillens hinter „Abläufe" zurück; das Spiel mag attraktiv sein, notwendig ist es nicht; und in seinen beliebigen Abläufen und Ausgängen bleibt i h m etwas von der Fluktuation einer Herrschaftslosigkeit, die sich der Macht nur i n Randerscheinungen ausliefert. Je mehr sich die Volksherrschaft i n die politischen Spiele stürzt, das Volk sich an ihnen erfreut, desto weiter rükken sie ab von dem grundsätzlichen Ernst, von der Strenge und Härte des Herrschens. Weitere Spiele — das bedeutet etwas von Anarchie, der Staat als Veranstaltung w i r d zum Fest der politischen Circenses. b) Die Mehrheitsentscheidung
— Macht als Zufall
Wirkliche Macht kann, i n den Augen der Gewaltunterworfenen jedenfalls, nie auf reiner Existenz beruhen, sie muß etwas von Notwendigkeit an sich haben. Die Demokratie allein hat den Mut, gerade in ihren späten Herrschaftsweisen, sich als eine Form der Zufallsgewalt zu zeigen. Stellen w i r es doch zur Abstimmung — darin liegt sehr oft, wenn nicht alle Spiele schon gemacht sind, echte Uberantwortung an den Zufall der Mehrheit i n der geheimen Wahl. Dies aber ist gerade deren Wesen: Sie ist eine A r t von Gottesurteil, das sollte man ganz ernst nehmen. Der Verlierer unterwirft sich j a dem völlig Unerwarteten, dem, was er nicht mehr hat diskutieren dürfen, was er vielleicht hätte noch abwenden können. Etwas wie ein bedingter Vorsatz der Zufallsentscheidung liegt i n jeder Abstimmung, hier w i r d das Unvorhersehbare einfach und ganz global i n Kauf genommen. Warum übrigens gerade der Demokratie bescheinigt wird, sie sei eine so humane Staatsform, wo sie doch i n der Mehrheit sich dem Unmenschlichen, der „Entscheidung durch den Niemand der Mehrheit" unterwirft, das bleibt dann unerfindlich. I n der Majorität liegt also etwas von jener Lotterieentscheidung, die w i r auch sonst gelegentlich einsetzen, wenn gar keine andere, rationale Herrschaftsform mehr möglich erscheint, etwa bei der Vergabe von Studienplätzen; und der Gleichheitsstaat w i r d ja dafür sorgen, daß es immer mehr Gleichheit, damit aber auch immer mehr Lotterie geben muß. Lotteriehaftigkeit aber liegt ganz wesentlich i n der Mehrheitsentscheidung, nicht nur i n ihrer Unvorhersehbarkeit, sondern auch i n ihrer Begründungslosigkeit, Legitimation ist sie sich eben i m letzten selbst. Nun werden Demokraten natürlich einwenden, die Mehrheitsentscheidung habe „an sich schon" gute Gründe für sich: Die Mehrheit sei eben einmal der „bessere Teil", doch damit kann sie den Zufall als 9 Leisner
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V. Der Mehrheitsgrundsatz als Rechtsprinzip der Anarchie
Grundlage ihrer Macht nicht überwinden. Nur dann wäre ja eine rationale Begründung für die Macht des einundfünfzigsten Mannes möglich, wenn die „Vielen" auch die „besser Entscheidenden" wären — damit aber fällt man i n das alte und unlösbare Dilemma der Mehrheit: Niemand hat je beweisen können, daß bei ihr notwendig Vernunft sei. Wer aber dieser Mehrheit „etwas mehr an Verstand", an Erkenntniskraft für das Richtige zutrauen w i l l , der muß ausweichen i n alle jene Begründungsformen, hinter denen letztlich nichts anderes steht als der Glaube an die Güte des Naturzustands, an die Vorzüglichkeit der A n archie: Er muß appellieren an den bon sens der Primitiveren, die ja stets die Mehrheit konstituieren werden, er muß wieder zu etwas zurückfinden wie den Glauben an den „guten Wilden", und sei es auch nur an den „romantischen Volksgeist", der dann sehr rasch zum „gesunden Volksempfinden" führt. Irgendwie ist da immer etwas von dem „Gesunden", an das die Vertreter des Völkischen glaubten, und darin t r i f f t sich das erleuchtete Proletariat des Kommunismus mit der rassisch gesunden Volksgemeinschaft der Nationalsozialisten. Bei der größeren politischen Wahl jedenfalls führt daran kein Weg vorbei: Nur dann ist sie keine Zufallsentscheidung, wenn einundfünfzig Bürger besser und intelligenter befehlen als neunundvierzig. Weil dies aber nie nachzuweisen sein wird, bleibt dem Mehrheitsprinzip nur eine Rechtfertigung: Es muß irgendwie entschieden werden, unter Gleichen aber gibt es keinen anderen Weg, die Majorität ist damit der mathematisch perfekte Mechanismus. Man mag dies billigen, doch dann kann man gerade den Zufallscharakter der Entscheidung ebensowenig leugnen, wie er auch bei der Lottomaschine erhalten bleibt, die mit naturwissenschaftlich gesteuerter Präzision eine Kugel auswählt. Wenn Mehrheit nicht das Bessere bedeutet, dann fällt i n ihr nur die notwendige Entscheidung, weil sie eben irgendwie fallen muß, so wie beim Los, nach dem Studienplätze vergeben werden. Wenn also die Abstimmung mehr bedeuten soll als Ausdruck jener W i l l k ü r , die i n der Demokratie durch eine höchstrangige Verfassungsentscheidung aller Staatlichkeit verboten ist, so kann sie nichts anderes sein als ein Gottesurteil — vox populi, vox Dei. Damit gewinnt sie etwas von jener Magie, welche die Demokratie i n der Tat auch heute immer wieder ausübt, sogar auf Vertreter der Kirche. Doch hier mag die Spätdemokratie auf der Hut sein: I h r Mehrheitsprinzip als Instrument des gottgewollten Zufalls kann nur solange legitim bleiben, wie derartige magische Legitimationen überhaupt anerkannt werden, wie das Volk beliehen erscheint mit der Macht des Allerhöchsten. Doch die Religionsgeschichte hat immer wieder gezeigt, wie leicht der Umschlag kommen kann vom höchsten religionsgetragenen Charisma i n den tota-
3. Mehrheitsprinzip — Ausdruck der Resignationsdemokratie
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len Unglauben — die Russische Revolution hat bewiesen, daß darin dann die Anarchie erst recht durchbricht. Mehrheitsentscheidung als Gottesurteil, dies kann natürlich auch bedeuten, daß ein wie immer verstandener Gott bei den stärkeren Bataillonen steht. Doch dann hat man erst recht die rationale politische Begründung der Mehrheitsentscheidung aufgegeben, und müssen denn „die Einundfünfzig" wirklich „stärker" sein? Da sind dann nurmehr angebliche Kraftzustände — Anarchie. Wie immer man also das Problem der Mehrheitsentscheidung als Zufallsgewalt vertiefend durchdenkt — man gelangt i n Tiefen des A n archischen, wenn man nicht eine Grundlage i n jenem Religiösen findet, von dem sich aber die Demokratie so entschieden entfernen w i l l . Wenn diese Ordnung nur aus dem Zufall heraus entsteht, worin soll sie dann eine tiefere, menschliche Begründung finden gegenüber der Herrschaftsverneinung? Was ist sie dann anderes als irrationales Postulieren gewisser Zustände, weil andere, die der Ordnungslosigkeit, angeblich nicht sein dürfen? Ordnung als reines Postulat — ist damit Legitimation gewonnen? Und wie steht es mit der überzeugenden Kraft einer Ordnung, welche Bürger an sich binden w i l l und ihnen doch nichts anderes sagen kann, als daß sie eben „irgendwie beisammen bleiben müssen", daß Entscheidungen zwischen ihnen „irgendwie" und damit nach Mehrheit zu fällen sind? Mehrheit als Zufallsgewalt, das bedeutet den Verzicht auf Begründung überhaupt, damit aber eine intellektuelle Schwäche ersten Grades i n der Auseinandersetzung m i t jener Anarchie, welche ja immerhin mit guten rationalen Gründen behauptet, der Mensch entscheide am besten über sich selbst. Wenn schließlich allein die Einundfünfzig stärker sind als die Neunundvierzig, so werden Kraftlagen des Naturzustands beschrieben, nicht Herrschaften begründet. Argumentiert w i r d i n Kategorien der Anarchie, nicht der Ordnung. I n all dem und i n oft wenig reflektierten Überlegungen läuft die heutige Volksherrschaft i n die Schwäche. Denn der rational hochentwickelte Bürger w i l l doch Argumente hören, nicht Mechanismen des Zufalls vor sich ablaufen sehen; diese letzteren w i r d er immer nur akzeptieren, bis i h m einer einmal „bessere Gründe" bietet oder zu bieten scheint. Dann aber hält sich die Demokratie solange, bis wieder Gestalten kommen, die von sich behaupten oder sagen können, sie seien besser und stärker. I n dieser demokratischen Zufallsgewalt liegt eine tiefe Resignation, die Überzeugung einer Spätzeit, daß das eigentlich Bessere kaum erkannt, jedenfalls aber nicht als solches durchgesetzt werden kann. Daher flüchtet sie i n irrationale Mechanismen, i n der Hoffnung, daß 9*
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V. Der Mehrheitsgrundsatz als Rechtsprinzip der Anarchie
niemand gegen Spielregeln aufstehen werde. Liegt darin wirklich Überzeugungskraft der Ordnung gegen die Irrationalität der Anarchie? c) Herrschaft
überhaupt — auch ein Zufall? Die
Stimmengleichheit
Doch die Demokratie treibt mit ihrem Mehrheitsprinzip das Zufallsherrschen noch weiter: Selbst die Entscheidung, ob überhaupt geherrscht werden soll, überläßt sie letztlich dem Zufall. Zwar gilt dies noch nicht für die große politische Demokratie, die ja dann sofort i n die totale Anarchie fallen müßte. Doch an vielen Stellen beginnt die Staatsform Konsequenzen aus ihrer Zufallsmacht zu ziehen: Sie nimmt Räume der Handlungslosigkeit i n Kauf, Patt-Situationen, Entscheidungslosigkeit. Daß der Spielcharakter, die Lotteriehaftigkeit geradezu zum Wesen der Mehrheitsentscheidung gehört, das t r i t t überall dort zutage, wo es gilt, das Problem der Stimmengleichheit zu lösen. Von i h m her eigentlich müßte das Mehrheitsprinzip i n seinem Entscheidungsgehalt, seiner Herrschaftseignung vor allem gesehen werden. Und hier zeigt die Mehrheit deutlich ein Gesicht der Anarchie: I h r kann es nur entsprechen, daß in der Patt-Lage eben nichts entschieden sei. Daß es solche Situationen nicht geben dürfe, ist bereits eine schwerwiegende Manipulation, denn „natürliche" Abstimmungskörper können eben i n gleicher, nicht mehrheitsfähiger Zahl besetzt sein. Die häufige Abhilfe, hier einem wie immer zu bestimmenden Vorsitzenden die entscheidende Stimme zu überlassen, mag überdecken können, demokratisch und von der Mehrheit her gedacht ist sie völlig illegitim; denn der Vorsitzende ist ein Organ der Geschäftsführung, nicht der Monarch der Versammlung. Wer ihm die zweite Stimme gibt, „damit etwas geschehe", treibt nur den oben beschriebenen Zufallsmechanismus noch weiter, das Mehrheitsprinzip ist nicht nur nicht mehr rational begründbar, es widerspricht sich selbst. So sind denn auch die „zweiten Stimmen der Vorsitzenden" i n der Demokratie i n aller Regel vorübergehende Notbehelfe; weil ihnen die demokratische Legitimation fehlt, können sie auf die Dauer nicht anerkannt werden. Darin vor allem liegt schon die große, grundsätzliche Schwäche der entscheidenden Stimme des Aufsichtsratsvorsitzenden i n Patt-Situationen bei der überbetrieblichen Mitbestimmung: Dies ist an sich keine demokratische Lösung, m i t ihr w i r d nur, zu einem allerdings legitimen, vielleicht sogar von der Verfassung geforderten Zweck, dem Eigentum die Entscheidungsgewalt doch gegeben. Wenn dies aber schon sein muß, dann sollte es i n einer ganz anderen, überzeugteren, und damit überzeugenderen Weise geschehen, nicht i n den
4. Minoritätenschutz — Zellenbildung der Anarchie
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Formen pseudodemokratischer Kunstgriffe, die dann doch sehr bald von radikal-demokratischen Mehrheitsargumenten unterspült werden. Gerade bei der Mitbestimmung hat übrigens die Spätdemokratie ganz eindeutig die große Patt-Situation i n Kauf genommen, die A n archie der resignierenden Entscheidungslosigkeit. Hier ist nichts mehr als eine überhaupt nicht zu begründende Hoffnung, daß aus dieser Herrschaftslosigkeit irgendeine Ordnung werde. Wenn dem so ist, i n einem derart bedeutenden, konfliktträchtigen Bereich der Staatlichkeit, wozu bedarf es dann überhaupt noch des Staates? Werden sich die nebeneinandergestellten Bürger nicht auch ohne ihn immer „irgendwie verstehen", so wie Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die vom ordnenden Staat i n entscheidenden Fragen völlig allein gelassen werden? Vielleicht hat man hier gefühlt, daß selbst die Mechanismen der Mehrheit zur Konfliktlösung nicht mehr ausreichen, daß Heterogenes sich eben nicht gegenseitig majorisieren kann. Doch gilt dasselbe denn nicht stets zwischen den Bürgern? Müssen sie sich m i t ihren unvergleichbaren Individualitäten denn ständig machtmäßig überstimmen lassen? I n der grundsätzlichen Hinnahme der Patt-Situation i n der Mitbestimmung hat die Demokratie eine ganz gefährliche Schicksalsfrage für die Legitimation ihrer gesamten Institutionen gestellt: Hier hat das Mehrheitsprinzip voll resigniert, die Staatlichkeit wahrhaft i n Frage gestellt, dies war eine wirkliche „Abdankung der Demokratie". Und als solche — w i r d sie uns später noch beschäftigen. So sehen w i r denn überall die Mehrheit als eine A r t von „operationalisierter Anarchie", u m moderne Begriffe zu gebrauchen, als eine A r t von Minimalherrschaft, die an sich selbst zweifelt, i n Formen des Spieles ausweicht, das non liquet i n Kauf nimmt. Hier ist nicht etwas wie eine laufende virtuelle Entscheidungsgewalt, nein: Hier ist die ständige virtuelle Nicht-Dezision. Und wäre es zuviel behauptet, i n dieser sich selbst i n Frage stellenden Majorität als einer resignierenden Staatsform schon virtuelle A n archie zu sehen? 4. Minoritätenschutz — Zellenbildung der Anarchie a) Ausbruch aus der Gleichheitsgewalt
— oder Weg in die Anarchie?
Minderheiten erscheinen heute allenthalben als Formen anarchischer Machtablehnung: Nationale Minderheiten kämpfen mit Herrschaftsverneinung bis zum Bombenterror gegen Zentralgewalt an, i m Namen meist noch unklarer Forderungen, i n denen das Ordnungsdenken t y pisch anarchischen Protest erkennen zu können glaubt. I m Namen des
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V . Der Mehrheitsgrundsatz als Rechtsprinzip der Anarchie
Minderheitenschutzes formieren sich Randgruppen innerhalb der Gesellschaft, rassische oder sexuelle Minoritäten, u m deren Grundprinzipien i n Frage zu stellen, jedenfalls aber, u m „irgendwie außerhalb der Herrschaft zu leben". Selbst politisch radikale Kräfte verlangen einen Minderheitenschutz für sich, aus dem heraus sie der etablierten Mehrheit gefährlich werden können. Das Minderheitenproblem ist also keineswegs auf rassische oder religiöse Unabhängigkeitsbewegungen beschränkt. Hier stellt sich der Demokratie eine Schicksalsfrage der Beherrschbarkeit, und gerade ihr, die Freiheit gewähren w i l l . Vor allem aber ist die Minderheitenfrage bei näherem Zusehen ein Problem des Mehrheitsprinzips. Ganz herkömmlich w i r d sie ja i n seinem Zusammenhang gestellt: Majorität werde, so heißt es immer wieder, zur Dauerdiktatur, zur Radikalherrschaft, welche keinen Machtwechsel mehr zulasse, wenn sie nicht, von Anfang an, mit der Idee des Minderheitenschutzes verbunden werde. Die Minoritätensicherung w i r d damit geradezu ein Wesensbestandteil des Majoritätsprinzips, eine Bedingung demokratischer Legitimität überhaupt. Damit aber stellt sich wiederum die Anarchiefrage für die Demokratie. Schon i n der Regel der Majorität als solcher liegen, wie dargestellt, Abschwächungen der Macht, i n denen die Demokratie vor der Anarchie zurückweicht. Ist nicht die „notwendige Verbindung von Minderheitenschutz und Mehrheitsprinzip" ein weiteres Zeichen dafür, daß diese Grundstruktur der Demokratie sich — letztlich selbst i n Frage stellt, daß Majorität als Herrschaft einfach nicht durchzuhalten ist, daß sie i n ihrer Schwäche Abstriche hinnehmen muß, welche das Mehrheitsprinzip geradezu zum Machtwiderspruch i n sich machen? Ist nicht diese demokratische Grundregel der Mehrheit ein Herrschaftsprinzip, das sein Gegenteil, die Anarchie der Minoritäten, ins Haus rufen muß? Nun erschien allerdings bei der Analyse des Gleichheitsstaates der Schutz der Minderheiten als ein überall wirksames Gegengift wider die Ausbreitung der verfeinerten Egalitätsgewalt. Wo immer ja Rechte kleinen Gruppen zugestanden werden, da setzt sich das qualitativ Eigenständige, das Ungleiche durch, es findet die Nivellierung w i r k same Schranken. Dies soll auch i m folgenden gar nicht i n Zweifel gezogen werden. Vielmehr ist die Frage, ob sich diese Gegenkräfte i n Grenzen halten lassen, ob nicht ihre bisherigen Erscheinungsformen und die Schwierigkeiten, welchen die Demokratie i n ihrer Bewältigung ganz offensichtlich begegnet, eher ein Beweis dafür sind, daß die Spätdemokratie an diesem Gegengift nur zu leicht auch sterben kann, daß es hier nicht oder nur sehr schwer gelingt, Ordnungsgrenzen des Minderheitenschutzes aufzurichten, weil eben das Freiheitsstreben von Minoritäten stets etwas Weitertragendes hat, etwas wahrhaft A n a r d i i -
4. Minoritätenschutz
Zellenbildung der Anarchie
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sches. Darauf w i r d auch später nochmals, bei der institutionellen Betrachtung der demokratischen Autonomieformen — Föderalismus, Kommunalisierung, „gesellschaftliche Selbstverwaltung" — zurückzukommen sein. b) Minoritätensicherung
— ein Widerspruch
zum Mehrheitsprinzip
Die These, daß Minderheitenschutz nie etwas anderes sei als eine Folge des Mehrheitsprinzips, ist als solche nicht haltbar. I n den meisten Fällen läßt sich ja gar nicht nachweisen, daß nur durch einen Schutz gewisser Minderheiten Machtwechsel möglich seien; ganz i m Gegenteil mag es als demokratisch bedenklich, wenn nicht illegitim erscheinen, daß an sich zahlenmäßig gewichtschwache Randgruppen, wie etwa die dänische Minderheit, unter dem Schutz der Minorität Mehrheiten von größerer politischer Bedeutung herstellen können. Ebensowenig wie aus einer etwaigen Notwendigkeit des Machtwechsels der Minderheitenschutz als Wesenselement der Demokratie legitimiert werden kann, ergibt er sich, als Folge des Mehrheitsprinzips, daraus, daß dieses sonst zur Tyrannei würde. Die Unbedingtheit des allgemeinen Willens w i r d ja i n der Demokratie gerade hingenommen; es gehört eben zu den Dogmen, wenn nicht zu den Axiomen dieser Staatsform, daß sich über die Mehrheit stets eine Machtfluktuation entwikkeln werde, i n der die Freiheit erhalten bleibt. Dazu bedarf es also, von Hause aus, gar keines Minoritätenschutzes; dieser zeigt sich vielmehr hier nur als eine Form der resignierenden, bereits schwach gewordenen Volksherrschaft: Irgendwie glauben ihre Bürger nicht mehr an die freiheitsherstellende Selbstgesetzlichkeit der Mehrheit, diese muß ständig korrigiert werden durch Bereiche, i n die hinein sie nicht wirken darf. Denn nichts anderes ist ja der Minderheitenschutz als ein klarer Widerspruch zum Mehrheitsprinzip. Hier werden innerhalb der A b stimmungskörper, welche aber als solche erhalten bleiben, weil sie doch irgendwie „natürlich" sein sollen, nunmehr kleinere Körper, besondere „Natürlichkeiten" angenommen, feste Zellen, die sich auch durch den Mehrheitswillen nicht auflösen lassen. Damit geht jedoch der Schutz der Minoritäten von Annahmen aus, welche i m Prinzip der Majorität selbst gar keine Stütze finden: daß die Mehrheit stets kompakt bleiben und daher die Gefahr der Dauerherrschaft bestehen werde; daß innerhalb einer abstimmungsberechtigten Gruppe Untergruppen bestehen und schutzwürdig sind — gerade dies letztere aber läßt sich aus dem Mehrheitsprinzip nicht ableiten. Hier zeigt sich vielmehr nichts anderes als ein systematisches Mißtrauen gegen das Majoritätsprinzip selbst, gegen die Entscheidungsberechtigung eines gewis-
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V . Der Mehrheitsgrundsatz als Rechtsprinzip der Anarchie
sen Abstimmungskörpers, i n dem dann sogleich wieder andere gebildet werden, über die er doch nicht soll herrschen dürfen. Als einen politischen Gegensatz, nicht aber als eine etwa gar notwendige Ergänzung, hat denn auch die politische Wirklichkeit den Minoritätenschutz stets i n den Majoritätsregimen der Demokratie erwiesen: Derartige Autonomiebewegungen werden als ein schmerzlicher Verlust für jene nationale Einheit angesehen, welche über die Mehrheit täglich hergestellt werden soll; i n keinem Land ist dies härter gefühlt worden als i m mehrheitsbewußten, demokratischen Frankreich der letzten Republiken. Minderheitenschutz öffnet wirklich eine Verlustliste der Mehrheitsdemokratie. Wer behauptet, sie komme aus der Majoritätsentscheidung selbst heraus, der muß diese als einen staatsrechtlichen Widerspruch i n sich erkennen. c) Minderheitenschutz
als Herrschaftsauflösung
Minderheiten gehen nicht nur i n der politischen Praxis oft m i t „anarchischen Mitteln" gegen die Herrschaft vor, Minderheitenschutz ist auch bei grundsätzlicher Betrachtung ein Prinzip der Herrschaftsauflösung. Die Minorität w i r d als „etwas natürlich Bestehendes" demokratisch rezipiert, oder ihre Bildung w i r d gar durch demokratisches Recht konstitutiv erleichtert — i n beidem w i r k t anarchische Herrschaftsüberwindung. Die „Anerkennung eines vorgegebenen Bestehens von Minderheiten", die häufigste, ja typische Form der Legitimierung des Minoritätenschutzes, bedeutet einen Rückgriff auf etwas, was sich außerhalb des demokratischen Rechts gebildet hat und behaupten konnte. Hier w i r d auf eine A r t von Naturzustand zurückgegriffen, der offensichtlich herrschaftsmäßig bisher, über die Jahrhunderte, nicht aufgelöst werden konnte und — daher nun auch durch die Demokratie nicht aufgelöst werden darf; darin aber liegt die eindeutige Rezeption anarchischer, außerrechtlicher Gedanken i n das Recht der Demokratie. Hier ist nichts anderes als eine organisatorische Neuauflage der Grundrechtsanarchisierung, von der bereits oben (IV/5) die Rede war. Werden jedoch Minderheitenbildungen i n der Demokratie erleichtert, sogar noch i n der Anerkennung radikaler Gruppierungen, w i r d ihnen etwas von grundsätzlicher Unauflöslichkeit, jedenfalls besondere Garantien zuteil, so ist die Anarchisierung noch deutlicher, sie erfolgt soz. „konstitutiv": Kleinen Fraktionen der Aktivbürgerschaft w i r d i m Namen ihrer besonderen Aktivitäten, ihres meist herrschaftsverneinenden oder doch -abschwächenden Willens, ein Sonderstatus mit speziellen Sicherungen zuerkannt. Sie dürfen sich der Herrschaft der Mehrheit, der Gesamtheit, des Volkes insoweit entziehen. Was aber wäre
4. Minoritätenschutz
Zellenbildung der Anarchie
denn ein solches Vorgehen anderes als Anerkennung anarchischer Entfesselungen? Minderheitenschutz ist also immer entweder Anarchie als eine Form der „Kapitulation vor dem Seienden", das die Herrschaft offenbar nicht bewältigen kann — oder es ist Anarchie als Auflösungskompetenz, welche dem herrschaftsverneinenden Willen einer Bürgergruppe zugestanden wird. d) Abgrenzungsschwierigkeiten
beim Minderheitenschutz
Sicherung der Minoritäten bedeutet somit etwas wie das „schlechte Gewissen der Mehrheitsherrschaft", ein deutliches Zugeständnis an anarchische Herrschaftsnegation. Die Unfaßbarkeit der Anarchie kommt hier ganz klar vor allem i n den Abgrenzungsschwierigkeiten zum Ausdruck: Wo ist Minderheitenschutz zu gewähren, i n welchen Formen? Von den Autonomien als Formen der Anarchie w i r d noch die Hede sein. Hier flieht die rationale Demokratie zur Minderheitenabgrenzung in ihr Gegenprinzip — i n die Tradition, mag diese auch ständisch, ja feudal begründet sein. Doch wo diese demokratische Machtabschwächung nicht zur demokratischen Selbstverständlichkeit geworden ist, beginnt die Problematik der Minoritäten. Es läßt sich kein rationales Prinzip aus der Mehrheit gewinnen, wo diese nun i m Minderheitenschutz ihre Grenze finden sollte. So kommt es denn oft ganz beliebig zur Bildung von Minderheits-Feudalitäten, zu Herrschaftsexklaven i n der allgemeinen Demokratie. Wo immer ein stärker wirkender politischer Wille sich behaupten kann, gibt i h m die Volksherrschaft den Segen der Minorität — i m Grunde akzeptiert sie etwas, was ihren Prinzipien widerspricht, i m Namen eines meist faktischen, i m Grunde aber anarchischen Widerstandes. Wenn i m Bereich der Hochschulen neue Gruppen anerkannt und mit Rechten verfestigt werden, als Minderheiten abgeschirmt gegenüber den Entscheidungen der großen Mehrheit, so hat sich hier nur ein Herrschaftsrückzug der Demokratie vollzogen; wenn die Volksherrschaft schon i n ihrer Einrichtungsphase, wie i m neueren Spanien, den ethnischen Minderheiten größere Rechte zugestehen muß, so ist sie eben „schwach geboren", ganz i m Gegensatz etwa zu jenen kraftvollen Demokratien i n Frankreich und England, welche i m Namen der Mehrheit i m 19. Jahrhundert noch gleichschalten konnten. I n der politischen Beliebigkeit, ja oft Zufälligkeit der Anerkennung des Minderheitenschutzes liegt heute meist gar nichts anderes als Müdigkeit und Schwäche einer Volksherrschaft, die sich selbst nicht mehr ganz ernst nimmt, von entscheidungsberechtigten Großgruppen,
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V. Der Mehrheitsgrundsatz als Rechtsprinzip der Anarchie
welche vor aktiven Minderheiten zurückweichen — letztlich ist dies nur ein Sieg der Minderheit über die Mehrheit, und zwar ein endgültiger, ein organisierter, ein i n den Formen des Rechts selbst schon verfestigter Ausdruck der Klein-Anarchie. Daß aber darin nur zu oft nichts als Unlogik einer zerfallenden Herrschaft zum Ausdruck kommt, die sich doch auf rationale Geometrie gründen w i l l , manipulativer Überlebenswille überalterter Staatskonstruktionen — das kann nicht Wunder nehmen. e) Minoritätenschutz — unlösbares Problem der Demokratie als einer überholten Staatsform? I m Namen des absoluten Mehrheitsprinzips hat die Demokratie Monarchien und Oligarchien beseitigt, sich als progressive Staatsform etabliert. I n jenen heute längst überwundenen Ordnungen war aber weit mehr Sinn für Minoritäten, Schutz ihrer Eigenheiten. Die Behutsamkeit, mit welcher die absolute Monarchie, i n Frankreich und i n anderen Ländern, Regionalismen, kulturelle, ja politische Autonomien zwar beschnitten, i m Grunde aber doch bewahrt hat, war der neuen, kräftigen Volksherrschaft der Französischen Revolution und ihrer Folgeregime unbekannt. Die demokratische Republik war es, welche mit radikaler Folgerichtigkeit französische Politik und französische K u l t u r i m Elsaß, i n Korsika und anderswo durchgesetzt hat. Wenn ημη heute die Demokratien i n leidvoller Erfahrung zurückfinden müssen zur Anerkennung des Kleineren, der Rechte und Besonderheiten von Gruppen, sind dies nicht erste Rückschritte aus der Staatsform, i n neue Formen ständisch-oligarchischen Denkens? Oder findet hier nur die Herrschaftsauflösung einer überholten Staatsform den ersten, noch gewaltsam-ungeordneten Ausdruck? Sollte vielleicht eine Dekadenz des Mehrheitsprinzips, und mit i h m der Demokratie, von jenem „Unten" aus beginnen, aus dem heraus doch die großen demokratischen Bewegungen entstanden sind, laufen anarchische Basisbewegungen gegen die Demokratie? Die Vertreter der Volksherrschaft werden hier Flexibilität als Stärke behaupten, dieser Staatsform es eben als Verdienst anrechnen, daß sie derartige Stöße aufnehmen, ihre Ergebnisse in ihrem Recht verfestigen kann. Die Gewaltsamkeit aber, mit der dies abgezwungen werden muß, die Allgemeinheit, mit der es überall beginnt, die tastenden Versuche zu Formen eines neuen Minderheitenrechts, das doch nirgends recht gelingen w i l l , auch nicht bei der Fremdarbeiterbevölkerung unserer Tage — all dies beweist eher wohl ein anderes: Das Minoritätenproblem ist letztlich mit demokratischen Kategorien kaum lösbar, weil hier ständig Demokratie und Mehrheitsprinzip zurückgedrängt, nicht i n neue Formen gegossen werden. Die Bildung kleinerer Abstimmungs-
5. Machtabschwächung der Demokratie i m Kompromiß
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körper — was ist dies denn anderes als Herrschaftsauflösung, anarchisierende Zertrümmerung der Demokratie? Sie selbst hat versucht, die Bürgerschaft zu atomisieren. Erleidet ihre Herrschaft nun dasselbe Schicksal? Nirgends sind noch Formen einer greifbaren, vor allem aber praktikablen Minderheitendogmatik sichtbar. U m das Volksgruppenrecht w i r d i m internationalen und i m nationalen Bereich ohne große Erfolge gerungen; i n den Geschäftsordnungen unserer zahllosen demokratischen Gremien haben sich bisher nur heterogene und zufällige Formen des Minderheitenschutzes entwickeln können. Deutlicher sichtbar ist eigentlich nur eines: eine gewisse Eskalation der Minderheitenansprüche, die mit jeder Befriedigung nur stärker werden, i n dem typischen progressus ad infinitum, welcher eben jeder anarchisierenden Bewegung eigen ist, weil er sich lediglich i n der vollen Herrschaftsauflösung befriedigt. Damit also w i r d die demokratische Mehrheitsordnung noch lange und immer schwerer leben müssen, und stets von neuem werden sich Demokraten wohl vergeblich bemühen, zu jener Reichsidee zurückzufinden, die sie i n demokratischen Mehrheiten überwunden haben, i n der allein aber die Minderheiten ohne Anarchie ihren Lebensraum finden könnten. 5. Machtabschwächung der Demokratie im Kompromiß a) Demokratische „Reibungsverluste": Mehrheitsentscheidung überall — ein Anarchiebeginn Wer nicht von vorneherein an die „natürliche Ordnung" glaubt, die staatsferne Harmonie — und damit übrigens typisch anarchisch denkt — für den muß jede Herrschaftsabschwächung notwendig steigende Anarchie bedeuten. Daß in der Volksherrschaft stärkere herrschaftsabschwächende Wirkungen vom Mehrheitsprinzip ausgehen, w i r d heute nirgends bestritten, weithin sogar noch, i m Namen der Freiheit, begrüßt. Zusammengefaßt w i r d es häufig unter die Kategorie der „Reibungsverluste", welche i n einer derartigen Ordnung hinzunehmen seien. Da müsse sich das Volk eben den Aufwand der vielen Parlamente und Abstimmungsmaschinen leisten und ihn bezahlen, da seien die Eigentümlichkeiten des Föderalismus i n Kauf zu nehmen, die Schwerfälligkeit einer ständig gerichtskontrollierten Verwaltung. Alle diese Lehrsätze, seit Jahrzehnten meist unkritisch wiederholt, haben die „Reibungsverluste" der demokratischen Herrschaft zu einem „guten", zu einem wahren Beruhigungsbegriff dieser Staatsform werden lassen. Dies rechtfertigt Ineffizienz und Skurriütät, Traditionalismus
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V. Der Mehrheitsgrundsatz als Rechtsprinzip der Anarchie
und futuristische Experimente; alles zugleich ist gut, weil es Herrschaftsverlust bringt i m Namen der Freiheit. Dabei ist weder je dargetan worden, warum der Reibungsverlust der Herrschaft als solcher etwas Positives sein soll, i n einem Kulturzustand, der doch auf der Reibungslosigkeit der Elektronik auf ruht, und niemand vermag ja auch zu sagen, wieviel Sand denn nun i n die demokratischen Getriebe geworfen werden soll. Nur eines offenbar steht hinter solchen Vorstellungen: daß eben die Krankheiten der Demokratie durch noch mehr Demokratie geheilt werden müssen, d. h., die Schwerfälligkeiten und Effizienzverluste des Abstimmungsstaats müssen durch — noch mehr Abstimmungen überwunden werden. So soll sich dann das wogende Meer der Anarchie i n den zahllosen Abstimmungsbächlein verlaufen. Sieht man einmal von emotionalen Vorzüglichkeitsbegeisterungen für alles Demokratische ab, die sich vor allem i m angelsächsischen Schrifttum finden, fällt es schwer, rationale Gründe für die Güte der demokratischen Reibungsverluste aufzufinden — es sei denn eben darin, daß möglichst wenig Herrschaft sein soll, also in einer rein anarchischen Idee, die als solche juristisch nicht faßbar ist. Sehr real und politisch wirksam ist dagegen das Phänomen der „demokratischen Zellteilung": Das große Mehrheitsprinzip bringt immer neue Mehrheitsentscheidungen und Entscheidungskörper hervor, es findet etwas statt wie eine Durchmechanisierung der gesamten Staatlichkeit i n immer weiteren Majoritäten. Und wenn irgendetwas an den Reibungsverlusten dieses Mehrheitsprinzips ist, an denen ja niemand zweifelt, so könnte fast schon der Tag abzusehen sein, an dem die ganze demokratische Maschine vor lauter Reibung stillstehen wird. Da entscheidet das Parlament — damit dann die Regierung diese Befehle nicht etwa ausführe, sondern i n neuen Kommissionen, mit weiteren Mehrheiten darüber befinde, damit dann i n Kommunen Gemeinderäte weitere Mehrheiten bilden können, damit i n Bürger- und Elternversammlungen erneut Gremien zusammentreten und so weiter und so fort. Überall multipliziert sich das Mißtrauen der Demokratie gegen die Regierung; an der Spitze hat es zur Mehrheitsentscheidung geführt, doch auch diese Mehrheiten unterliegen ja dem Mißtrauen, weitere Majoritäten müssen diesen Willen fortdenken, damit an ihm ja nichts Schädliches sei. Nicht einmal der Rätestaat entgeht, i m Prinzip wenigstens, dieser basisdemokratischen Logik, mag er sie auch in seiner Wirklichkeit durch den Befehl von oben überspielen. Wie sich Staatlichkeiten auf diese Weise „zu Tode stimmen" können, und nicht nur zu Tode wählen, das zeigt nicht erst die Schwerfälligkeit eines demokratischen Verwaltens, i n dem jede Entscheidung, glaubt man radikalen Demokraten, in Teams fallen muß, jede Beamtenbeur-
5. Machtabschwächung der Demokratie i m Kompromiß
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teilung von mindestens drei Vorgesetzten abzugeben ist. Schon Dostojewskij berichtet vom liberalen zaristischen Rußland mit seinen verspäteten Freiheitsversuchen, in dem die Verwaltung i n die Hände zahlloser Kommissionen geraten war, welche man nurmehr darin unterscheiden konnte, daß man ihnen als Namen den Tag ihrer Einsetzung verlieh. Sie haben den Staat sklerosiert i n seiner Freiheitlichkeit, die Anarchie erst recht gezüchtet. Über die Auflösung der modernen Staatsgewalt i n die Kommissionen, i n welche sie i n Schwäche flieht, hat die K r i t i k schon das Wesentliche gesagt. I n all dem i$t aber nicht nur eine verkrustende Schwerfälligkeit, welche es auch noch mit großen Worten unternehmen w i l l , die „verkrusteten autoritären Strukturen der Vergangenheit zu brechen" . . . bis sie eines Tages nurmehr selbst i n Anarchie gebrochen werden kann; hier liegt vor allem die tödliche Gefahr der Machtabschwächung des Volksstaates i m Namen des Mehrheitsprinzips. Der Demokratie scheint Genüge getan, wenn neue Abstimmungshürden eingebaut werden. Mehrheitsmechanismen werden geradezu zum Selbstzweck, das Rasseln der Abstimmungsmaschinen übertönt die Stille der Befehlslosigkeit, die schon hinter ihnen steht, der Anarchie. Immer mehr flieht die Staatlichkeit i n die „Formalien", glaubt sie, Sachentscheidungen schon getroffen zu haben, wenn nur Geschäftsordnungsabstimmungen stattfinden. Eine eigenartige politische Illusion des technischen Zeitalters stellt sich ein: Weil eine „gute" Maschine vorhanden ist und ganz ersichtlich, vor allem hörbar, läuft, w i r d gar nicht mehr gefragt, was sie letztlich produziert. Die Demokraten werden zum Volk der politischen Maschinenbauer, auf einen Effizienzverlust, hinter dem sich so häufig nur ein Defizit an Entscheidungskraft verbirgt, w i r d mit neuen Mehrheitsinstitutionen geantwortet, weil es ja gelte, die offensichtlich herrschaftsunwilligen Bürger zu integrieren; und i n diesen Mehrheitsmechanismen findet dann ihr Herrschaftsunwillen neue Instrumente der Herrschaftsverneinung, bis h i n zur Anarchie. So geraten denn die Diskussionen um Mehrheitsbildung zur beruhigenden Orchestermusik der Demokratie, und die Abstimmungen werden dann ja auch nicht mehr allzu harte, laute Orchesterschläge sein. Was sich hier als Machtabschwächung i n Technisierung vollzieht, kann i n seiner Gefährlichkeit für eine Volksmacht gar nicht überschätzt werden, die doch zugleich stets die Unbedingtheit des allgemeinen Willens aller Bürger betont. b) Der Kompromiß
als wesentliche Herrschaf tsabschwächung
Mehrheiten lassen sich, jeder Demokrat weiß es, nur durch Kompromisse herstellen, Mehrheitslagen jedenfalls nur über gegenseitiges
V. Der Mehrheitsgrundsatz als Rechtsprinzip der Anarchie
Nachgeben bewahren. Über das Mehrheitsprinzip vollzieht sich i m Kompromiß eine entscheidende Abschwächung der demokratischen Befehlsgewalt. Der Demokrat zieht seine Willensmacht zum Teil i n Achtung vor der gleichen Überzeugungskraft des anderen zurück, oder er erkennt ganz einfach ihre Undurchsetzbarkeit gegenüber fremdem Widerstand. Derartige Phänomene kennen alle Herrschaftsordnungen, gerade Oligarchien sind auf sie gegründet. Die Demokratie jedoch zeichnet sich dadurch aus, daß hier die Kompromißnotwendigkeit ganz entscheidend gesteigert wird: Einerseits w i r d sie verallgemeinert — Mehrheiten müssen überall und laufend hergestellt werden; zum anderen w i r d selbst das „letzte Wort" zum Kompromiß — auch an der Spitze w i r d abgestimmt; und schließlich werden hier sehr viel mehr Willensträger zusammengefaßt, so daß sich die Verbindung und damit gegenseitige Abschwächung verschiedener Willensmächte akzentuiert. Es bedarf hier keines Beleges, daß der demokratische Kompromiß qualitativ und quantitativ i n der Herrschaft etwas ganz anderes bedeutet als monarchische oder oligarchische Kompromißformen. Damit aber stellt sich i n der Volksherrschaft die macht abschwächende Problematik des Kompromisses mit besonderer Intensität. Sicher kommt es selbst i n den Kompromißentscheidungen der Volksherrschaft zu echten „Befehlen", mögen sie auch wortreicher und nuancierter sein als das Wort des sklavenhaltenden Paschas; gerade darin kann Vielseitigkeit und Durchsetzungskraft der Anordnung sich sogar noch verstärken. Eines aber geht immer verloren: etwas von der „Einheit des Herrschaftswillens", die eben doch zum Kern jeder Dezision gehört. Es wäre sicher Einseitigkeit dezisionistischer Betrachtung, wollte man i n der Konsequenz des einen Wortes allein Befehlscharakter erblicken. Befehlsgehalt komplexer Anordnungsstrukturen ist grundsätzlich unbestreitbar. Doch i n der praktischen Wirksamkeit vollzieht sich eben in der ganz großen Mehrzahl der Fälle zugleich eine Herrschaftsabschwächung, wenn die Anordnung durch Vorbehalte relativiert, i n Ausnahmen durchlöchert erscheint. I n der Regel bleibt dem Ordnungsversuch etwas Unvollständiges, das zwar den Zwang zu weiterer A k t i v i t ä t , zu verfeinerter Herrschaft i n sich tragen kann, sehr häufig aber nichts als Herrschaftsverfehlung i n einer nur partiellen Ordnung ist. Wo eben eine Steuerbefreiung durchgesetzt werden konnte, da findet insoweit Herrschaft nicht statt, das große Prinzip einer bestimmten Besteuerung w i r d u m „ein klein wenig bestreitbarer", als wenn es voll durchgesetzt wäre, gerade i n der Ordnung des Gleichheitsstaates. Wenn die Gesamtschule zwar grundsätzlich kommen soll, aber doch wieder von den Ländern modifiziert oder verhindert werden kann, dann war dies eben zum Teil ein kultureller Herr-
5. M a c h t a b s w ä c h u n g der Demokratie i m Kompromiß
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schaftsschlag ins Wasser. Die Demokratie ergeht sich heute, weithin, und immer mehr, i n solchem „unvollständigen Kompromißherrschen", verliert hier Überzeugungskraft gegenüber dem Bürger i n der kompromißbedingten Aufgabe der Befehlseinheit. Die Unbedingtheit geht darin der Anordnung verloren, daß sie lang, allzu lang vielleicht, diskutiert worden ist ohne Ergebnis, daß sie nunmehr kompromittiert werden muß. Denn dies w i r d ja häufig übersehen: Der Kompromiß ist als solcher nicht das Ergebnis der Diskussion, sondern ihrer Fruchtlosigkeit, ihres Abbruchs, damit aber eine Erscheinungsform hartnäckiger Willensäußerungen, nicht geistiger Überzeugungskräfte. I m Kompromiß setzt der Beharrungswille geistigen Vorgängen der „Herstellung von Mehrheit durch Überzeugung" harte Grenzen. Damit verliert der demokratische Befehl nicht nur das Charismatische des diskussionslosen Hervortretens aus dem Geheimnis der Herrschaftsgewalt, er hat nicht einmal mehr die geistige Heiligkeit der beendeten überzeugenden Aussprache. Somit bleibt i n der Kompromißentscheidung etwas vom unauflöslichen Nebeneinander jener Abstimmenden, die zwar aus ihrem Naturzustand zur Herstellung der Mehrheit zusammengekommen sind, das Gleiche aber nicht haben zusammen wollen können. So ist denn der demokratische Kompromiß etwas von einem kleinen Sozialvertrag und als solcher nicht nur Anarchie durch Herrschaftsabschwächung, sondern Anarchie durch „bleibendes Nebeneinander" der Entscheidenden. Hier findet etwas statt wie „Herrschaftsverzicht durch Einigungszwang", i n solchem Einigungszwang liegt das Eingeständnis anarchisierender Befehlsunmöglichkeit, oder eine Sachzwangideologie, die auch nur mit der Macht des Außerrechtlichen operiert, damit aber nur mit dem, was sich noch nicht i n Herrschaft hat auflösen lassen. Kompromiß ist also Herrschaftsabschwächung und mehr noch: das Zugeständnis partieller Herrschaftsunmöglichkeit. c) Kompromiß
zum Schwächeren — Eskalation der Machtauf lösung
Die Schwierigkeiten der Erreichung von Kompromissen nehmen mit der Vielfalt der zu integrierenden Interessen und der Zahl der Teilnehmer am Entscheidungsprozeß zu. I n der egalitären Demokratie steigt zumindestens die Zahl der Kompromißträger ständig an. Damit findet eine Herrschaftsverlangsamung notwendig statt, die Reibungsverluste nehmen laufend zu. Vor allem aber läßt sich ein Phänomen heute allenthalben deutlich feststellen: Der Kompromiß führt ganz notwendig zur „schwächeren
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V. Der Mehrheitsgrundsatz als Rechtsprinzip der Anarchie
Lösung", zu derjenigen, in der weniger an Befehlsgewalt sich findet. Ein Kompromiß zur stärkeren Herrschaft ist die ganz seltene Ausnahme. Daß darin eine Gefahr für die Befehlskraft der Volksherrschaft liegt, bedarf keines Beleges, die parlamentarische Praxis zeigt es täglich, ebenso wie jene größeren Verwaltungsentscheidungen, i n welchen der Kompromiß mit dem Bürger gesucht werden muß. Nur dort kommt es zu kraftvollem politischen Vorgehen, wo die Mehrheit keine Rolle mehr spielt, wo Quasi-Einstimmigkeit besteht, wie etwa i n der Bekämpfung mancher offener Formen der terroristischen Anarchie. I n solchen Fällen aber sind gerade die normalen Entscheidungsmechanismen der Volksherrschaft außer Kraft gesetzt, i m Ausnahmezustand entscheidet jede Staatsform, die noch diesen Namen verdient, mit Kraft. I m Normalzustand allerdings kennt die Demokratie, aus ihren Mehrheits- und Einigungskategorien heraus, den Kompromiß der „kraftvollen", der politisch „starken" Entscheidung i m Grunde gar nicht, er muß ihr unbekannt sein; sie ersetzt ihn durch das „Richtige", das „Freiheitliche". Ob es überhaupt möglich ist, die Kategorie der „politischen Stärke", deren Erscheinungsformen sich doch i n der internationalen wie in der innerstaatlichen Wirklichkeit täglich finden, derart aus den Herrschaftsvorstellungen eines Staates zu eliminieren, mag bei einer theoretischen Betrachtung dahinstehen; wer es glaubt, läuft sicher Gefahr, sich von der Wirklichkeit weit zu entfernen. Eindeutig ist jedoch, i n der Praxis jedenfalls, die herrschaftsauf lösende Eskalation der Kompromißpolitik „nach unten": Wenn ein Kompromiß schon schwer und unter heftigem Widerstreben aller Entscheidungsträger nur möglich war, so muß der Folgekompromiß, die Umsetzung der allgemeineren Grundsätze i n ihrer Anwendung auf den Einzelfall, naturgemäß noch größeren Widerstand hervorrufen, i n den Ausführungsund Anwendungskompromissen brechen die Normsetzungskompromisse erneut auf, werden in ihnen häufig überhaupt erst wirklich sichtbar; ein praktisches Beispiel ist das Scheitern des sogenannten „Radikalenerlasses" i n der Praxis; hier ließ sich i n der Anwendung der Kompromiß überhaupt nicht mehr durchhalten, weitere Kompromisse i n die „schwächere Staatlichkeit" hinein wurden erforderlich. I n jedem politischen Kompromiß liegt die natürliche Tendenz, zu den i m Grunde ja nicht aufgegebenen Ausgangspositionen wieder zurückzukehren, daher eine A r t von Patt der Nichtentscheidung herzustellen. Wo dies nicht geschieht, steht die weitere Gefahr des gewaltabschwächenden, denaturierenden Kompromisses, eines gegenseitigen Nachgebens, bei dem am Schluß etwas zustande kommt, was keine der beiden Seiten gewollt hat. Der Mitbestimmungskompromiß ist dafür ebenso ein Beispiel wie so manche Entscheidung zur Neuorganisation
5. Machtabschwächung der Demokratie i m Kompromiß"
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der Hochschulen. Es kommt dann zu Lösungen, die überhaupt „ i m Grunde von niemandem getragen werden", die nur auf der Unvereinbarkeit der Standpunkte, damit i m Grunde auf herrschaftlicher Verneinung aufruhen. Hier ist die Macht nicht nur besonders labil, sie verliert völlig das tragende Willensmoment des Herrschens, sie nähert sich jenen Formen des beziehungslosen Nebeneinander, der völlig „herrschaftslosen Ordnung", welche letztlich nur ein Ausdruck der Anarchie ist. Nicht zuletzt aber zeigt sich die notwendige Tendenz zur Machtabschwächung darin, daß es ja bisher nie gelungen ist, weder i n Theorie noch i n Praxis, die „Teilbarkeit aller Entscheidungen" nachzuweisen; nur wenn von ihr auszugehen wäre, könnte aber dem gegenseitigen Nachgeben stets echte, volle Durchschlagskraft des herrschaftlichen Willens erhalten bleiben. Damit sprechen w i r das Problem des fast notwendigen Zugs allen Kompromittierens zu einer „quantitativen Teilung der Entscheidungen" an: Wenn eine Erhöhung der Mehrwertsteuer umstritten ist, dann w i r d eben der halbe ursprünglich gewünschte Satz i m Kompromiß verordnet; als ein Planungswertausgleich für Wertzuwachs an Grund und Boden eingeführt werden sollte, gingen die ursprünglichen Pläne auf hundertprozentige Abgabe, nach Widerständen innerhalb der Regierungskoalition wurden 50 °/o vorgesehen, nachdem ein Kompromiß mit der Opposition scheiterte, wurde das ganze Unternehmen aufgegeben. I m Abgabenbereich sind derartige quantitative Kompromisse, scheinbar wenigstens, am leichtesten, daher kann hier auch i n der Demokratie i m Ergebnis immer noch recht w i r k sam regiert werden. Bei näherem Zusehen zeigt sich, daß auch diese Abgabeentscheidungen i m Grunde so wenig quantitativ teilbar sind wie andere: Eine Wirtschaft mit 16 % Mehrwertsteuer ist eben etwas qualitativ anderes als eine solche, i n der nur 15 °/o zu entrichten sind. Und der Versuch, überall zu kompromittieren, führt zur Illusion der quantitativen Teilbarkeit auch dort, wo es überhaupt nur u m unvergleichbare qualitative Lösungen geht, etwa bei Strafrahmen oder bei der Bestimmung von Gebäudefluchtlinien i m Baurecht. Die Quantifizierbarkeit und die Teilbarkeit aller Entscheidungen ist eine typisch demokratische Kompromißillusion, hinter ihr aber steht meist nur eine Entscheidungsverschleierung, der Verlust des Befehlsbewußtseins, ja der Fähigkeit, den eigentlichen qualitativen Inhalt dessen zu erfassen, was man ursprünglich einmal anordnen wollte. Für die Denaturierung des Befehls durch kompromittierende, quantitative Entscheidungsteilung w i r d es niemandem an praktischen Beispielen fehlen. Sie bedeutet jedoch meist eines: Kompromiß als Verzicht auf Herrschaft schlechthin, damit aber als kanalisierte Form der Anarchie. 10 Leisner
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V. Der Mehrheitsgrundsatz als Rechtsprinzip der Anarchie d)
„Kompromißtechnik"
Kompromiß ist keine Ausnahmeerscheinung i n der Demokratie, er w i r d ihr zum System, auf allen Ebenen, vom Parlament bis zum letzten Gemeinderat, von der Kabinettssitzung bis zur Referentenbesprechung. Sehr rasch entwickeln sich daher wahre ,, Kompromiß techniken", Verfeinerungen der Vorbereitungsarbeit für Mehrheitsentscheidungen. Normativ sind sie natürlich nicht greifbar, doch sie werden täglich praktiziert und führen zu immer weiterer, immer mehr systematischer Machtabschwächung der Volksherrschaft. Nur einige ihrer Erscheinungsformen seien i m folgenden angesprochen. Da ist der politisch institutionalisierte, der Dauer-Kompromiß und seine Machttechniker. Greifbaren Ausdruck findet er etwa i n den Koalitionsvereinbarungen, i n denen über Jahre hinaus eine gewisse Abschwächung der Herrschaftsintensität gemeinsam beschlossen wird. Doch der Dokumente bedarf es hier gar nicht; es entwickelt sich etwas wie eine ständige Kompromißstimmung i n Gremien und Verwaltungen, welche Kooperationsbereitschaft genannt und als solche gepriesen wird. Hier besteht eben laufende Kompromißbereitschaft, das gegenseitige Nachgeben ist ein grundsätzliches, es hat bereits begonnen, bevor noch die ersten Meinungsverschiedenheiten aufgetreten sind, zu manchen kommt es schon gar nicht, weil derartige Lösungen als nicht durchsetzbar außer Betracht bleiben. Solche „ursprüngliche Unmöglichkeit" mancher politischen Entscheidungen gibt es i n allen Regimen, doch i n der Demokratie ist sie „sehr weit vorverlegt". Der geschickte Fraktionsführer, der erfahrene demokratische Verwaltungsbeamte w i r d daher schon von vorneherein mit all seinen etwaigen zukünftigen Partnern ein Kompromiß- und Kooperationsklima aufrechterhalten, i n dem alle möglichen auftretenden Streitfragen „irgendwie lösbar" erscheinen. I n dieser allgemeinen demokratischen Kompromißstimmung kommt das Nachgeben schon vor dem Streit. Dann aber entsteht die Gefahr der Herrschaftsenthaltsamkeit: Machtversuche werden schon gar nicht mehr unternommen, weil die Unmöglichkeit des Kompromisses voraussehbar ist. Die Folge ist nicht nur eine Verfestigung bestehender Zustände, welche i n der Kompromißdemokratie viel leichter eintreten kann und i n der Regel viel weiter geht als i n Staatsformen mit stärkerer Befehlsgewalt — Verkrustungen des Arbeits- und Sozialrechts, anhaltende Tabuisierungen, wie etwa i m Bereich der Mitbestimmung, sind ein deutliches Beispiel. Dies alles könnte ja noch der Erstarrung und damit einer gewissen Befestigung der Herrschaft dienen. Doch dahinter steht etwas wahrhaft Anarchisierendes: Die eigentliche Herrschaftsfrage w i r d gar nicht mehr gestellt, i m Dauerkompromiß werden Herrschaftsprobleme, die sich aber i n der
5. Machtabschwächung der Demokratie i m Kompromiß
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politischen Wirklichkeit stellen, unter den Tisch gefegt. Dies ist dann die Politik des Ausklammerns, die i m Grunde nicht mehr Herrschaftsabschwächung, sondern Herrschaftsaufhebung, eine A r t von Untätigkeitsanarchie des Staatlichen bedeutet. Die Techniker dieser Kompromißungewalt, denn anders kann man sie nicht bezeichnen, haben der späten Volksherrschaft bisher nie gefehlt, am höchsten hat sie ihre jongleurhafte Kunst i n Italien entwickelt. Diese politischen Figuren sind wandelnde Formelkompromisse, ihre Kontinuität auf der politischen Bühne w i r d durch Herrschaftslosigkeit gesichert, i n ihrer Tätigkeit werden Formen der Anarchie zur politischen Dauereinrichtung. Und dieser Verlust an Befehlspersönlichkeit ist übrigens den aktiven Vertretern des anarchischen Terrorismus besonders verhaßt. Da ist aber auch die Kompromißtechnik der „extremen Positionen", der harten Verhandlungsstellungen; i n ihnen glaubt die Volksherrschaft etwas wie Kraft dem Bürger zu beweisen, w i r d hier doch mit unvereinbar Scheinendem lautstark begonnen. I m Grunde sind es jedoch, bei entwickelter Kompromißtechnik, nurmehr Kraftworte, damit dann das Kompromißtheater ablaufe und noch als Machtspiel irgendwie interessant bleibe. Darüber hinaus aber geht es vor allem noch u m ein anderes: Durch das Einnehmen extremer Positionen soll Kompromißspielraum geschaffen werden, größere Chancen, mehr von der eigenen Auffassung am Ende i n die Entscheidung einzubringen. Darin liegt sicher zunächst etwas Dezisionsgünstiges, denn die Akteure müssen sich ja auf den Entscheidungsgehalt dessen besinnen, worüber nun letztlich abgestimmt werden soll, und gerade i m Kompromiß über Extremhaltungen findet zumindest eine harte Diskussion u m das qualitativ Besondere der jeweiligen Positionen statt. Aber eben meist auch nur eine Aussprache, während der Kompromiß dann erst recht all das Machtabschwächende zeigt, i n dem sich die Grundstimmung der Anarchie weiter entwickeln kann. Das radikale Wortgetöse übertönt das bescheidene Abstimmungsergebnis, die politische Kraft hat sich i n der Diskussion, i m Vorfeld des Kompromisses, erschöpft, sie folgt nun dem Befehl. Aus den extremen Positionen hat man große Schritte aufeinander zu getan, damit man u m so kleinere gemeinsam i n die Zukunft unternehme. Der Zwang zur Extremisierung der Positionen ist dem Kompromiß wesentlich, der Mehrheitsherrschaft der Demokratie, doch er ist Machtillusion, Camouflage der Herrschaftslosigkeit; und all dies beginnt bereits m i t dem Donner der Wahlschlacht, er w i r d zum Bühnendonner für den erfahrenen Bürger der Demokratie. Er weiß nicht nur, daß die Herrschaft schwach ist, er nimmt sie nicht einmal mehr — so ernst wie sie es noch ist. 10·
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V. Der Mehrheitsgrundsatz als Rechtsprinzip der Anarchie e) Vom Kompromiß
zur „politischen
Technokratie"
Alle diese Formen der Technisierung der Kompromisse und ihrer Verfeinerung begünstigen i m letzten eine eigentümliche „politische Technokratisierung der Herrschaftsausübung" i n der Demokratie. Über die Technokratisierung der Herrschaft und ihre Grenzen ist viel Gültiges ausgesagt worden, vor allem, seit sie i m gaullistischen Frankreich, aus den intellektuellen Herrschaftstraditionen dieses Landes heraus, i n größerem Stil versucht worden ist. Ihre letzte Unvereinbarkeit mit der Dynamik der basisbewußten Volksherrschaft liegt auf der Hand; doch nun entwickeln sich hier, wie auch i n den anderen Demokratien des Westens, neue Formen der politischen Kompromißtechnokratie. Formeln, Kunstgriffe und Kunststücke gegenseitigen Nachgebens lassen sich eben, bis zu einem gewissen Grade, erlernen und immer weiter perfektionieren. Wahre Lehrbücher des demokratischen Kompromisses könnten heute bereits geschrieben werden, wollte man nur die Weisheiten von parlamentarischen und anderen Geschäftsordnungen, ungeschriebenen Geschäftsordnungsgrundsätzen, mit all dem verbinden, was die großen, erfolgreichen Einzelkompromisse ermöglicht hat. Es würde zumindest ein wertvolles Formularbuch des demokratischen Kompromisses entstehen, das den Verhandlungskommissionen der Sozialpartner gute Dienste leisten könnte. Diesen politischen Technokraten ist etwas mit den Spezialisten der natur- und verwaltungswissenschaftlichen Technokratie gemeinsam: Sie präsentieren sachliche Lösungen, sie repräsentieren nicht mehr den politischen Willen. Hier „hat die Sache das Wort", und nach so viel ermüdendem politischen Willen und Streit w i r d dies der erschöpften Volksherrschaft zur wahren Erlösung. Der erfolgreiche Kompromißtechniker braucht eigentlich gar keiner Partei mehr anzugehören, er ist wesentlich Makler; m i t Kompromißkapazität muß er sich sachübergreifend einsetzen und w i r d damit geradezu zum Typ des Abgeordneten, morgen des Ministers, des Verwaltungsführers, der „seine technischen Spezialisten" kombiniert. M i t diesen „technischen Technokraten" verbindet die „politischen Kompromißtechnokraten" ein oft erstaunlich gutes Verhältnis, letztere übersetzen ja die technologischen Sachzwänge und die organisatorischen Notwendigkeiten i n die höhere, insbesondere i n die parlamentarische Politik. Damit nähern w i r uns dem Typ des idealen parlamentarischen Ministers, des Fraktionsführers par excellence, beide Rollen lassen sich gerade deshalb auch i n der Praxis so leicht vertauschen, obwohl es doch eigentlich in der Logik der Volksherrschaft und ihrer Gewaltenteilung läge, daß hier ganz unterschiedliche Persönlichkeiten tätig werden sollten.
5. Machtabschwächung der Demokratie i m Kompromiß
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I n der Arbeit dieser Kompromißtechniker laufen Mehrheit und Demokratie tagtäglich weiter, vielleicht nur i n ihr. Für den Vorwurf der Charakterlosigkeit haben sie nurmehr ein Lächeln; den Ineffizienzeinwurf entkräften sie durch ihre ständige Gegenwart an den Hebeln der Macht. Über eines aber kann all dies nicht hinwegtäuschen: Die politische Kompromißtechnokratie ist ebenso unvereinbar mit den Grundlagen der Volksherrschaft, mit deren Anspruch, den Willen der Bürger i n die Politik zu tragen, wie alle anderen Formen der „Herrschaft durch Technokraten". Hier geht der Willensstrom verloren, i n dem allein demokratisches Herrschen liegt; hier beginnt der Eiertanz der Macht, und damit ihre Schwerelosigkeit, ihre Befehlsarmut, letztlich ihre Inhaltslosigkeit. I n der Kompromißtechnik bleiben die Positionen irgendwie „nebeneinander stehen", sie werden geschickt überdeckt, doch unter dieser Decke ist — die Anarchie des politischen Nebeneinander, nicht der Befehl der integrierten Anordnung. Zum Schluß noch ein Wort über die notwendig steigende Komplikation der Kompromißtechnik — sie ergibt sich schon aus all dem eben Dargestellten. Gerade u m die Herrschaftsverdünnung des Kompromisses nicht zu deutlich werden zu lassen, kann nur eines helfen: eine Vielfalt komplizierter Formen, eine Überlagerung zahlloser Kompromisse. Damit die persönliche Willensentleerung i n Kompromißbereitschaft nicht i n die Augen falle, auf daß der Vorwurf der politischen Charakterlosigkeit gar nicht erst erhoben werden könne — dem allem kann nur durch immer kompliziertere, weniger durchschaubare Kompromisse vorgebeugt werden. I n den Befehlsverschachtelungen sind dann am Ende zwar — überhaupt nurmehr Schachteln, keine Inhalte, i m Kern bleibt überall nur der Formelkompromiß; doch wer entschnürt alle diese parlamentarischen Pakete, mit ihren Widersprüchen, ihrem gegenseitigen Nachgeben, ihren quantitativen Entscheidungsresten! Die getarnte Entscheidungslosigkeit wächst immer weiter. A m Ende, wenn es hier überhaupt ein solches geben kann, steht dann die überkomplizierte, nahezu gänzlich unwirksame Herrschaft — eine Form der Herrschaftslosigkeit; oder, weit wahrscheinlicher noch, das Desinteresse des Bürgers für die undurchschaubare Macht — und wieder eine innere Emigration i n Anarchie.
V I . Das Mehrparteiensystem — erste organisatorische Annäherung der Staatlichkeit an die „demokratische Anarchie" Der Mehrparteienstaat ist die notwendige Organisationsform einer „echten" Mehrheitsherrschaft; ohne die organisatorische Verfestigung solcher Möglichkeit zu wechselnden Mehrheiten hat sich das Majoritätsprinzip noch immer zur Quasi-Einstimmigkeit entwickelt, weil es nurmehr eine Fassade ist, hinter der ein Herrschaftsclan Macht ausübt. Alles spricht daher dafür, daß dem Mehrparteiensystem als solchem schon alle anarchisierenden Tendenzen eigen sind, die i m vorstehenden Kapitel aus dem Mehrheitsprinzip heraus erkannt wurden. Hier jedoch gilt es zu zeigen, wie konkrete demokratische Organisationsstrukturen zu etwas werden wie Trägern institutionalisierter Machtabschwächung. I n diesen Institutionen selbst schon erscheinen Elemente der Herrschaftslosigkeit, mit den radikalen Zügen der Anarchie.
1. Die fehlende Machtaneignung durch die Parteien — anarchische Machtf erne der Machtträger a) Das monarchisch-aristokratische
Gegenbild
Die K r i t i k am Mehrparteiensystem, an den Parteien überhaupt, ist vielleicht abgeflaut, weil sie heute als unentrinnbares politisches Schicksal erscheinen, i m Grunde läuft sie aber noch immer weiter; und i n dem ständig beklagten Desinteresse für ihre Arbeit, i n der Engagementschwäche der Demokratie, i n den nur allzu oft rein egoistischen parteipolitischen Karrieren — i n all dem sind Grundprobleme der demokratischen Herrschaft noch immer nicht überwunden. Die Parteienkritik, soweit sie prinzipieller ansetzt, kommt i n aller Regel aus monarchisch-aristokratischem Denken, das sich bis i n die Volksherrschaft hinein, noch immer, fortsetzt. Hier w i r d die Professionalisierung der Politik festgestellt, i m Grunde aber doch meistens beklagt, das Desinteresse m i t der Mechanisierung der Herrschaftsvorgänge und mangelnder A t t r a k t i v i t ä t mancher politischer Positionen erklärt. Doch die Demokratie mag dem durch Erhöhung von Ministergehâltçrn und Abgeordnetenpensionen noch SQ sehr abhelfen — die
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Parteien sind nicht so populär wie sie es sein sollten, sie werden zur staatsfinanzierten Einrichtung. Die eigentlichen Gründe liegen tiefer, vor allem darin: Der Bürger steht den Parteien fern, weil die Parteien dem eigentlichen Herrschen fernstehen. I m Mehrparteienstaat ist ja etwas verlorengegangen, was das Herrschaftsinteresse aller anderen früheren Staatsformen ausgemacht hatte: eine gewisse Eigentumsqualität der Herrschergewalt. Der Monarch „besaß" diese Herrschaft ebenso wie der Aristokrat der oligarchischen Herrschaft oder der monarchischen. Seit der aufgeklärten Monarchie mochten sich die Monarchen als Inhaber oberster Staatsämter fühlen — doch immer war die Macht mit ihnen untrennbar verbunden; die juristische Verselbständigung des monarchischen Amts hat sie vielleicht beschränkt, ihre patrimoniale Verbindung mit der Herrscherperson blieb bestehen. Gegen diese private Eigentumsqualität der Herrschaft wendeten sich ja i n erster Linie die demokratischen Revolutionen, gegen die „Appropriation" einer Macht, welche doch auf ewig dem Volke zustehen sollte. Die Parteien der heutigen Demokratie sind dem weithin treu geblieben — wo immer sie sich Gewalt appropriieren wollen, da steht sogleich die vernichtende K r i t i k der „Staatspartei" bereit. Nun hat aber der Neoliberalismus die dynamische Bedeutung, die Effizienz des eigenverwalteten Eigentums neu entdeckt; die „freien Demokraten" ziehen gerade daraus ihre eigentliche Legitimation gegenüber den doch befehlsstärkeren Regimen des Ostens, daß die ständige Verbindung von Freiheit und Eigentum ganz neue, entscheidende Bürgerkräfte in der Marktwirtschaft hat freisetzen können. Und i n dieser selben demokratischen Gemeinschaft soll nun doch die ökonomisch so wichtige Staatlichkeit nicht appropriiert werden können, damit aber i n einer Ineffizienz verharren, welche i n der eigentumsorientierten, i n der „vom Bürger besessenen Wirtschaft" überwunden worden ist! Die Demokratie hat also i n der Gesellschaft einen Rückweg i n die wirksamen Appropriationen der Monarchie angetreten — was die Macht anlangt, soll all dies i m Mehrparteienstaat nicht stattfinden. Wenn aber etwas daran war, daß die monarchisch-aristokratische Machtausübung gerade durch die engen, persönlichen Beziehungen zwischen Macht und Person sich hat halten und wirksam steigern lassen, dann bleibt die Demokratie i m entscheidenden Bereich von diesen Kräften der Herrschaftlichkeit, nach wie vor, ausgeschlossen. Es versuchen zwar die westlichen Demokratien gerade i n ihrem Parteiensystem zu neuartigen Formen der Machtaneignung zu finden; sie reichen von dem noch zu erörternden Zweiparteiensystem bis h i n zu
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den Vorstellungen von den „staatstragenden Parteien", den „verantwortlichen Gruppierungen", den „demokratischen Parteien", oder wie immer sonst die demokratische Vorzüglichkeit gewisser Zusammenschlüsse umschrieben zu werden pflegt. I n all dem liegt sicher der Ausdruck eines unbestimmten politischen Angstgefühles, daß die demokratische Gewalt von den Parteien nicht hinreichend „angeeignet sei", daß sie dieselbe als Spielball mit Fußtritten bedächten, sie nicht als ein demokratisches Vermächtnis hüteten. Doch gerade diese meist recht vorsichtigen Versuche der „Machtannäherung" i n Richtung auf eine echte Machtaneignung sind bisher stets i n den Anfängen stecken geblieben: Aus den Grundprinzipien der Demokratie heraus läßt sich eben die Macht nicht „besitzen", eine persönliche Beziehung zu ihr kann nicht hergestellt werden. Gelegentlich verwundert die Sympathie, mit welcher Demokraten den „gesunden politischen Ehrgeiz" mancher politischer Führer begleiten, i n dem sie geradezu etwas Herrschaftsnotwendiges zu erblicken scheinen — zurecht i m Grunde, denn hier w i r d aristokratische, wenn nicht monarchische Herrschaftsaneignung angestrebt; doch wehe, wenn sie gelingt! Dann setzt das demokratische Scherbengericht dem ein jähes Ende. Macht darf eben nicht zum Eigentum werden — dann aber w i r d ihr immer etwas von jener Kraft fehlen, m i t der sie entschieden gegen alle Anarchie festgehalten wird, effizient als eigenes Gut verwaltet werden kann. Ein Wort hier noch zur Bürokratie: Was an ihr heute kritisiert wird, ist es eigentlich etwas anderes als ein Versuch der Herrschaftsaneignung seitens der Verwaltung? Und hat Herrschaftsappropriation i n der Vergangenheit nicht immer über die vollziehende Gewalt begonnen, i n der Einzelentscheidung der Fürsten und Herren? Doch Bürokratie w i l l die Demokratie nicht dulden, wahre Herrschaftsinstinkte des Bürgers wenden sich gegen diese Herrschaftsaneignung, durch welche ja auch die Herrschaftsferne des Mehrparteiensystems praktisch unterlaufen würde. Welche Instinkte kommen jedoch hier, wie i n aller Ablehnung von Herrschaftsaneignung, zum Ausdruck? Doch nur die der ursprünglichen demokratischen Anarchie, die keinem Organ echte Herrschaftsnähe gewähren kann — selbst wenn es dann keine eigentliche, effiziente, überzeugte, weil eben besessene Herrschaft gibt. Und von Herrschaft ist nur besessen, wer sie besitzt. b) Die kommunistische
Kritik
an den „volksfernen
Parteien"
I n diesem Punkt unterscheidet sich die sozialistisch-kommunistische K r i t i k am westlichen Mehrparteienstaat nicht von Inhalten monarchigçh-aristokratisçhçn Denkens: Auch nach ihr vertreten die Parteien
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nicht die Interessen, u m die es eigentlich geht, die der arbeitenden Klasse; mehr noch: „Sie vertreten eben nur", sie verkörpern nicht, wie jene Partei der Werktätigen, welche eine viel engere Verbindung zur Basis erwarten kann, weil sie selbst weit nähere Verbindung zur Herrschaft aufgenommen hat — sie hat sich diese ganz und gar angeeignet. Die kommunistische Demokratie ist die Staatsform der angeeigneten Macht, sie gibt Fürsten und Herren darin recht, daß die Herrschaft i m Staat nicht nur einen unfaßbaren Träger haben kann, das westliche „Volk". I n der Diktatur des Proletariats halten greifbare, harte Hände die Macht fest, sie gehört menschlichen Trägern. Die westliche Staatslehre hat sich dem immer i n der Vornehmheit der geistigen Konstruktion überlegen geglaubt; sie übersieht jedoch, daß ihr jenes Gefühl für die echte Macht abgeht, die eben besessen sein muß. Ihre Herrschaft hat schon etwas vom luftleeren Raum — der Anarchie an sich, i n den niemand vordringen darf, weil ja auch niemand dort politisch frei atmen könnte. Die kommunistische Staatspartei und ihre Funktionäre „besitzen die Macht", vielleicht nicht in den Theoremen des Regimes, wohl aber i n der Wirklichkeit, und dies ist ihre Effizienzchance; werden sie erniedrigt zu repräsentierenden Akteuren eines machtfern bleibenden Proletariats, was sich etwa i n den Entpersönlichungsversuchen der Herrschaft immer wieder zeigt, so endet dies i n entscheidendem Herrschaftsverlust. Der Rätestaat muß, an der Spitze wenigstens, persönliche Herrschaft zeigen, geht er allzu weit ab vom Persönlichkeitskult, so fällt er i n die Machtabschwächung der westlichen Demokratien, und diese läßt sich mit deren Mehrparteiensystem besser organisieren. Die gemeinsame K r i t i k von rechts und links läuft also auf dasselbe hinaus: daß in diesem Mehrparteienstaat nicht eigentlich Herrschaft ist, daß alle Formen der Macht nur ganz oberflächlich über Untiefen hinweg laufen, i n denen aber stets Anarchie lebendig bleibt. Das Mehrparteiensystem kann diese seine politischen Gruppierungen seinem Wesen nach gar nicht zu echten Machtzentren entwickeln, schon weil es eben mehrere Gruppen sind, die hier u m die Macht kämpfen, wie noch zu vertiefen sein wird. Staatliche Macht aber, vielleicht Macht als solche, hat man — oder man besitzt sie nicht; dann aber fragt es sich, ob es sie hier überhaupt gibt. Das Mehrparteiensystem versucht eine Zwischenlösung, doch sie bleibt machtpolitisch unfaßbar, ja sie ist i n sich widersprüchlich: Diese mehreren Parteien sollen u m die Macht streiten, u m sie dann nie besitzen zu dürfen — wie wäre dies möglich? Was können diese Parteien mit einer stets nur auf Zeit geliehenen
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Macht beginnen, was anderes, als immer weiter vor der Anarchie zurückweichen? Kampf u m „politische Mietwohnungen" — gibt er politische Kraft? c) Parteienkampf
um die Macht — ein Herrschaftsersatz
Der Volksstaat w i l l den Herrschaftsbesitz durch eine politische Gruppierung nicht; er nimmt dafür nicht nur einzelne Reibungsverluste, sondern eine große, systematische Ineffizienz bewußt i n Kauf. Gerade dies aber gehört zum Wesen aller Herrschaftsverneinung: daß keine politische Kraft die Herrschaft auf Dauer erfassen, sich aneignen könne. Auch für das anarchische Denken spielt ja die Effizienz insoweit nicht die entscheidende Rolle, als sie eben systematisch geopfert wird, nur damit niemand herrsche. Zur Theorie der Demokratie gehört es zwar, dem Wort nach, daß alle Gewalt vom Volke ausgehe; darin liegt jedoch auch ein anderes: daß eben dieser Souverän i m letzten unbeherrscht bleibe. Er organisiert die Gemeinschaft in einem Divide et impera, damit das Wesen der Gewalt bei i h m liege, d. h. aber i m Grunde: bei jedem einzelnen Bürger, i n einer A r t von Naturzustand. Theoretisch führt so ein gerader Weg von eindeutig anarchischen Naturzustandsvorstellungen zum Mehrparteiensystem der Demokratie. Und praktisch zeigt sich diese Form der Herrschaftslosigkeit als solche ebenfalls täglich: Die Herrschaft w i r d durch den Kampf um die Herrschaft ersetzt. Die Vorstellung vom Ring, i n dem unter den Augen des spiel- und wettbegeisterten Volkes Kämpfe u m den politischen Sieg stattfinden, ist der Mehrparteiendemokratie seit ihren englischen Anfängen stets wesentlich geblieben. Natürlich ist dabei das Entscheidende der Kampf, nicht der Sieg, denn jener interessiert den Volkssouverän, weit weniger das Ergebnis; an dieses Volksinteresse glauben die Demokraten bis auf den heutigen Tag, daß es nämlich das eigentliche Interesse an der Herrschaftsentscheidung überdecke. Doch nicht nur, daß der Kampf der Parteien an sich schon wichtiger ist als der Sieg — ein solcher Sieg ist eben gerade nicht Herrschaft, sondern, ganz wesentlich, nur der Beweis der größeren Stärke gegenüber der anderen politischen Gruppierung. Der Idee nach w i r d also i n diesem politischen Ring überhaupt nicht das Volk beherrscht, sondern nur der politische Gegner geschlagen; darin liegen ganz entscheidende Unterschiede gegenüber der eigentlichen Vorstellung einer lastenden Beherrschung. Die Demokratie geht nach ihrer Idee davon aus, daß das Volk irgendwie stets „Zuschauer" bleiben könne, etwas
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von der uralten Vorstellung der römischen Zirkusspiele, welche das Volk beruhigen sollten, ist selbst i m „herrschenden Volk" der Volkssouveränität erhalten geblieben: Parteien können Trophäen i n die Hand nehmen, Wanderpokale, nie dürfen sie die Hand nach der Herrschaft ausstrecken. Die Demokratie ist daher stolz darauf, daß i n dem Wort „Partei" schon der Begriff des „Teiles" liegt, der als solcher das Ganze nie vertreten kann; und sie werfen den Einparteienregimen den inneren Widerspruch der Machtaneignung durch eine solche Teilgruppierung vor. I n Wahrheit besteht der Widerspruch dort nicht, denn es hat eben ein Teil die Macht ergriffen, er herrscht, i n der Diktatur des Proletariats, der herrschenden Rasse oder welcher Gruppierung immer, über den Rest der Bürger. Darin liegt wirkliche Herrschaft, angeeignete Macht, die eben über irgend jemanden ausgeübt werden muß; und eine Degenerationserscheinung des Kommunismus ist es daher, wenn er die „Diktatur des Proletariats" verschweigen w i l l — damit verzichtet er auf Herrschaft, die ihn aber legitimiert. So dürfen denn die zahlreichen Parteien allenfalls Willen zur Macht zeigen, i h n jedoch nie befriedigen. Sie werden so weit i m geistigen Vorfeld bereits von der Macht, von der Herrschaft abgeschlagen, daß der große unbeherrschte, unbeherrschbare Raum der Demokratie — der Anarchie stets erhalten bleibt. d) Demokratische „Ämter" und „Beamte" ein Widerspruch in sich
—
Demokratische Parteien mögen „Organe" der Gemeinschaft in einem Sinne sein, der allerdings nie rechtlich w i r d voll bestimmt werden können — daß man sie als „Träger politischer Willensbildung" bezeichnet; doch dies ist zunächst nur ein elegantes Wort: Willen dürfen sie bilden, ihn vielleicht, punktuell, da und dort einmal durchsetzen — doch ist dies Staatlichkeit, Herrschaft? Und wenn sie zu herrschen beginnen wollen, nach der Krone greifen, so begehen sie die demokratische Majestätsbeleidigung. Was also sollen diese „Gemeinschaftsorgane als Diskussions-Willens-Bildner", sieht man sie einmal von dem aus, was doch dieser Staat auch muß, aus dem Herrschen heraus? Da ist schon etwas ganz anderes das „ A m t " der früheren Monarchien und Oligarchien, dem selbst i n der Volksherrschaft noch etwas von Macht erhalten bleibt, aber eben nur bei der vollziehenden Gewalt: Hier ist die engere, laufende Verbindung mit dem Amtsträger, der Idee nach jedenfalls, hergestellt; doch es fragt sich sehr, ob das demokratische Staatsamt noch vergleichbar sein kann mit den früheren Ämtern; sie wiesen einen Zug zur wesentlichen Machtaneignung auf, deshalb konnten sie, mußten sie ja irgendwann einmal erblich, käuflich
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werden. Daß darin nicht Degeneration, sondern folgerichtige Fortentwicklung der Herrschaftsaneignung liegt, wurde bereits betont. Kann die Demokratie überhaupt noch zum Begriff des Amtes finden, wenn darin schon ganz wesentlich die Trennung von Träger und Befugnis angelegt, damit aber jede Machtaneignung an der Wurzel abgeschnitten ist? Hier stellt sich die Frage nach der Möglichkeit demokratischer Ämter, damit aber nach der demokratischen Gewalt überhaupt. Die konsequente Antwort i m Mehrparteienstaat wäre: Letztlich gibt es nur Parteien, nicht Ämter; und deshalb ist dann die Parteipolitisierung der Exekutive nicht etwa eine Degenerationserscheinung der Volksherrschaft, sondern ihre höchste Steigerung — allerdings i n die Anarchie hinein. Die Praxis ist damit übrigens wieder einmal klüger als die demokratische Staatstheorie: Die Parteipolitisierung der Beamtenschaft ist die Kehrseite der Käuflichkeit der Ämter, sie ist das Endziel der Demokratie, so wie Vererblichkeit der Ämter das Endziel der „systematisierten Monarchie" stets gewesen ist. Und daß es kommunale und politische Beamte gibt, die nur auf Zeit und prekär unangeeignete Macht ausüben dürfen, das ist aus dieser Sicht dann nicht etwa eine Denaturierung des Beamtenrechts, sondern der Ausgangspunkt des neuen, demokratischen Beamtenstatus — nur fragt es sich, ob dieser noch einen solchen Namen verdient. Vom Mehrparteienstaat muß es eben heißen: Ich kenne keine Beamten mehr, ich kenne nurmehr Parteien; weil er, i m Grunde, die Macht nicht kennen darf. 2. Die Machtblockade im Mehrparteiensystem a) Parteienkoalitionen
— Machtabschwächung und Machtauf hebung
Parteikoalitionen gehören zum Wesen der Volksherrschaft. Wenn diese Ordnung dem einzelnen Bürger nahe kommen, aus den Individualitäten ihre Kraft ziehen will, so muß sie, der Idee nach, viele Parteien kennen, diese dann aber durch Koalitionen zur Herrschaft zusammenordnen. Das Zweiparteiensystem ist entweder Ausdruck einer bereits staatsmanipulierten Bürgerindividualität, oder aber es zeigt einen Zustand, in welchem die Parteien nicht als Vertreter der Bürger, sondern primär als Staatsakteure i m Kampf u m die Macht verstanden werden; dann aber ist dieses Parteienregime doch Ausdruck einer Oligarchisierung, wie dies ja i n den angelsächsischen Herkunftsländern stets der Fall war: Organisierte politische Clans kämpfen unter den Augen der Bürgerschaft u m die Macht, Hier ist der Bürger Schieds-
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richter, nicht lebendige Quelle einer Macht, welche vom Abgeordneten für ihn ausgeübt wird. Seit der Französischen Revolution hat sich die Demokratie immer mehr von solchen Vorstellungen entfernt: Sie legitimiert sich ja gerade über jene Machttransmission, welche vom Bürger über den Abgeordneten i n die Herrschaft laufen soll: Die Partei soll den Willen konkreter Bürgergruppen darstellen und durchsetzen, nicht unter den Augen einer prinzipiell parteifernen und daher auch immer wieder stark fluktuierenden Bürgerschaft u m die Macht kämpfen. Sinnlos ist es also, aus demokratischer Sicht, das Zweiparteiensystem als eine A r t von „demokratischem Idealzustand" hinzustellen; es ist eine ganz andere Form der Volksherrschaft als die der repräsentativen Demokratie, mag es auch von der einen zur anderen Übergänge geben. Eigentliche „Volksherrschaft" aber ist und bleibt nur dort, wo mehrere Parteien bestehen oder doch stets politisch möglich sind. Dieser konsequente Mehrparteienstaat aber, der die Individualität der Bürger i n die Politik transformieren w i l l , macht es sich besonders schwer: Auch bei i h m bleibt ja das Verbot der Machtaneignung bestehen, doch auf der anderen Seite w i l l er aus der vielfachen Individualität des pluralistischen Gemeinwesens politische Kraft ziehen. Er muß daher versuchen, laufende Koalitionen der Parteien zu bilden, i n ihnen das B i l d einer „Bürgergemeinsamkeit" herzustellen, die sozusagen aus dem Naturzustand der ursprünglichen Ungebundenheit herauswächst. Koalitionsvereinbarungen sind denn auch hier keine eigentlichen Verträge, sie haben noch nichts von einer voll formierten Ordnung an sich; sie bedeuten ein höchst flexibles politisches Nebeneinander, das aber doch von Dauer sein soll — und aus dieser rechtlich kaum faßbaren Konstruktion heraus soll dann echte und auch noch dauernde Herrschaft entstehen! I m Zweiparteienregime ist noch etwas wie Streben nach Herrschaft. Die Koalitionsdemokratie dagegen w i l l den „Kampf u m die Macht" durch „Koexistenz hinter der Macht" ersetzen. Doch nachdem auch die Koalitionsparteien sich diese Macht nicht aneignen dürfen, bleibt nur ein Ausweg: Sie müssen diese gemeinsam nicht zu besitzende, sondern nur zu verwaltende Macht abschwächen, soweit wie möglich aufheben. Dies geschieht denn auch laufend i n der Koalitionspraxis. Hier ist jener Kompromiß System geworden, dessen anarchisierende Wirkungen bereits oben (V/5) beschrieben wurden. Doch die Parteienkoalition geht über den Kompromiß einen entscheidenden Schritt hinaus: Sie ist Dauerverbindung politischer Gruppierungen, welche sich i m Wahlkampf u m die Macht heftig befehden. Ihre Zusammenarbeit muß also durch eine weitgehende Aufgabe jener
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politischen Individualität bezahlt werden, i n deren Namen die Vertreter vom Volk gewählt wurden, welche die Demokratie gerade i n ihrer Verbindung zur Basis legitimiert. I n der Notwendigkeit der Parteienkoalitionen verliert daher die Volksherrschaft ganz wesentlich an Herrschaftsbegründung und an Herrschaftskraft: Der organisierte Dauerkompromiß macht entweder aus dem gemeinsamen Programm etwas ganz anderes, als es dem ursprünglichen Herrschaftswillen der Partner und der hinter ihnen stehenden Bürger entsprach — insoweit verstärkt sich die Illegitimität der Herrschaft, beim Bürger aber i n der politischen Praxis das Gefühl der absoluten Machtferne, das er i n Herrschaftsverneinungen immer wieder zum Ausdruck bringen wird, wo er nur kann. Oder der ursprüngliche politische Wille bleibt bei den Partnern erhalten — dann kann er nur i n der gegenseitigen Blokkade zur partiellen Herrschaftsnegation werden. Die eine Seite hat u m mehr Mitbestimmung gekämpft, darauf ihre ganzen Anstrengungen gerichtet, die andere Seite dagegen — finden sie sich i n Dauerkoalitionen, so liegt darin nichts anderes als Herrschaftsabbau i m Kern dessen, was die beiden Parteien doch hatten bilden wollen: den politischen Willen der Gemeinschaft. Blockiert w i r d also i n der Koalition immer, entweder der herrschaftsbegründende Willensfluß vom Bürger zum parteipolitischen Repräsentanten, oder die Willensverwirklichung durch diesen. Es ist, als sei Herrschaft i n solchen Regimen weithin, oft sogar i m Entscheidenden, nurmehr ein Vorwand, u m gewählt zu werden, während das eigentliche Ziel spätere gemeinsame Verwaltung ist, i n mehr oder weniger großer Ferne vom Bürger. Wenn aber Herrschaft von der Basis kommen soll, und wenn Herrschen etwas anderes und mehr ist als Verwalten, wie kann dann dieses Mehrparteienregime dem Vorwurf entgehen, hier werde letztlich, ja i m Zentrum, überhaupt nicht mehr geherrscht? Und wie oft hat man nicht i n der praktischen Politik das Gefühl, daß solche Koalitionen geschaffen und immer wieder „gewählt" werden, weil dem Bürger damit die süße Befehlslosigkeit bleibt — Anarchie als Staatsform, kann man es hier nicht schon sagen? b) Die „Volkspartei"
— Überwindung
der Herrschaftsblockade?
Nicht nur die größeren Parteien, jede „bessere" Partei i m Mehrparteienregime muß, über kurz oder lang, versuchen, sich als Volkspartei vorzustellen. Der politische Schritt über die Interessenpartei hinaus wird, paradoxerweise, gerade durch den Pluralismus i n Verbindung mit der Nivellierung der Bürgerschaft erzwungen: Da ist ständig von der Vielfalt der Gruppen, von der Unterschiedlichkeit ihrer Ideen die Rede, zugleich aber w i r d doch laufend eingeebnet; der Par-
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teipropagandist muß beidem Rechnung tragen, dies aber geschieht i n der Ankündigung der Volkspartei: Hier findet einerseits jede pluralistische Gruppe ihr Haus, zum anderen können so die vielen Gleichen nebeneinander wohnen i m gemeinsamen größeren Haus und damit Egalität genießen. Die Praxis handelt i m einzelnen viel einfacher — man bietet eben „jedem etwas". Diese Volkspartei mag auf den ersten Blick als ein Instrument der Anarchieüberwindung i m Mehrparteienstaat erscheinen. Hier w i r d ja, aus der Basis heraus, aus dem Naturzustand der scheinbar gar nicht manipulierten Bürgerschaft, etwas wie ein teilweiser Sozialvertrag hergestellt, ein noch wenig geordnetes, politisch fluktuierendes Nebeneinander verschiedener Richtungen, das aber doch schon seine primärdemokratische Form, wenn auch noch nicht Ordnung, gefunden hat — eben die große Volkspartei. I n ihr scheint das anarchisch wogende Volk zu einer ersten „Form" zu kommen, aus der heraus dann die größere Ruhe der Ordnung i n Parlament und Regierung ganz natürlich erwachsen kann. Koalitionen und gegenseitige Blockade finden dann, so scheint es doch, nicht mehr i n solcher Schmerzlichkeit statt, wie wenn erst nach der Wahl die formierten Parteien aufeinandertreffen; vor allem aber gibt es nicht die Verfälschung, die Verdrehung des Herrschaftswillens der Bürger i n undurchsichtigen Kabinettskunststücken von Koalitionsvereinbarungen, die Bürgerströmungen setzen sich kontinuierlich fort bis ins Parlament, ins Kabinett hinein, wo jede von ihnen ihren politischen Ausdruck findet. So erscheint die Volkspartei nicht als ein mehr oder weniger zufälliges politisches Phänomen, sondern geradezu als eine staatsgrundsätzlich notwendige Stufe i n der Entwicklung der geordneten, ordnenden Volksherrschaft. Wichtig daran ist sicher, daß durch die Schaffung eines größeren parteilichen Rahmens politische Fluktuationen i n frühen Stadien aufgefangen und i n eine gewisse Ordnung gebracht werden, und zwar ohne daß es hier der scharfen, staatlich-normativen Anordnung bedürfte. Die anarchischen Urgründe der Demokratie finden insoweit i n der Tat eine natürlichere Kanalisierung ihrer Strömungen, die Überleitung i n die staatliche Ordnung erscheint i n weniger Unterbrechungen gefährdet. Notablierungen wie sie jede Ordnung braucht, entstehen schon i m parteipolitischen Vorfeld, nicht erst an den Schalthebeln der Macht; w i r d damit nicht „weniger" geherrscht und doch wirksam, ist so nicht die Machtblockade überwunden? Die Machtblockade ist nur verschoben. Sie ist i n die Volkspartei selbst verlegt, findet schon i m Vorfeld ihrer machtstrebenden Entscheidungen statt. Es entsteht die „Demokratie der Strömungen", jener italienischen Correnti, welche innerhalb der Parteien Gruppierungen,
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kleine Unterparteien schaffen. Sozialausschüsse und landwirtschaftliche Vertretungen haben zwar noch berufsständische Ausgangspunkte, sind jedoch zum Teil auch i n Deutschland bereits i n ähnlicher Weise allgemeinpolitisiert. Das italienische Beispiel zeigt, daß auf diese Weise zwar immer weiter überlebt, daß jedoch immer weniger geherrscht werden kann. Es findet eine Vervielfachung der parteipolitischen Richtungen innerhalb der Volkspartei statt, die Reibungsverluste nehmen zu; für den Bürger sind die Formationen überhaupt nicht mehr i m einzelnen durchschaubar, er wählt immer mehr bianco. Was daher an parteipolitischer Geschlossenheit gewonnen wird, geht an Effizienz sogleich wieder verloren: Die Partei hat zwar nach außen weniger Gegner, da diese aber in ihrem Kern bereits etabliert sind, w i r d sie immer mehr bewegungsunfähig; die deutschen „Volksparteien" sind dafür ein gegenwärtiges Beispiel. Es fehlt gerade an den Herrschaftsanstößen, ohne die nicht nur Herrschen unmöglich, ohne welche nicht einmal mehr der Weg zur Macht beschritten wird. Parteikolosse bewegen sich auf tönernen Füßen, ihre Organisationen werden zum Ausdruck verfestigter und antizipierter Kompromisse. I n Riesenfraktionen kann immer weniger durchgesetzt — oder es muß hart eingepeitscht werden, dann aber geht demokratische Legitimation verloren. I n ständigen Parteitagen finden Versuche der Basisanbindung statt, und immer mehr von solchen Resolutionen bleibt auf dem Papier, weil es eben nicht mehr in Herrschaft übersetzbar ist. Die Volkspartei w i r d horizontal und vertikal manövrierunfähig. Da wollen dann Konservative nicht nur sozial, sondern auch noch liberal denken, Sozialisten erklären dasselbe, bis am Ende niemand mehr irgend etwas Präzises wollen kann. Kompromiß ist zwar, so scheint es, unnötig, zugleich aber w i r d er auch entscheidend erleichtert zwischen den großen Parteien, weil ja in allen alle Kräfte wirksam sind, also auch überall ihre Partner finden können. Dann aber verstärken sich die herrschaftsabschwächenden und -ausschließenden Tendenzen der Koalition, die Machtblockade findet i n den Volksparteien i n der ersten Dimension statt, zwischen ihnen i n der zweiten. Das Offenheitsgesetz der Demokratie ist gebrochen, alles ist i n Kryptobewegungen verlagert, i n diesen geheimnisvollen unzähligen Koalitionsgesprächen aber läuft nur eines ab: immer weniger Herrschaft. So w i r d die Volkspartei wahrhaft zum Ausdruck jener Volksherrschaft, i n der überall Volk ist, nirgends Herrschaft. c) Die knappe Mehrheit — Herrschaftslähmung durch Angst vor dem Machtwechsel Volksparteien und Parteienkoalitionen haben noch i n einem ganz anderen Sinne zur Machtabschwächung geführt, zur Verstärkung demo-
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kratischer Anarchie: I n ihnen kommt es zu knappen, prekären Mehrheiten. Sie werden von Demokraten mit Sorgen betrachtet, als eine Abschwächung der Demokratie, doch sie sind kein Rand- oder Zufallsphänomen der Volksherrschaft, sondern deren notwendige spätere Entwicklungsstufe, eben aus dem Mehrparteiensystem heraus: U m politischen Willensverlust zu vermeiden, w i r d man ja Koalitionen nur ungern auf Dauer weiter ausdehnen, als dies zur Herstellung der Mehrheit erforderlich ist; Parteienverbindungen führen zur knappen, immer knapperen Mehrheit. Wo andererseits die Bildung der Volkspartei gelingt, w i r d sich ihr bald eine andere Gruppierung i m selben Namen gegenüberstellen; auf die Dauer w i r d es ihr möglich, diesen Namen zu verdienen, also zur starken Partei zu werden — wieder kommt es zur knappen Mehrheit. Das Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, Italiens und Frankreichs, i n immer stärkerem Maße auch Großbritanniens, zeigt die typischen Machtabschwächungen, welche sich aus diesem Schicksal der späten Volksherrschaft ergeben: Alles ist durch die Sorge vor der starken Opposition bestimmt. Da sie stets nur einen Schritt vor der Macht steht, möglicherweise täglich durch Demoskopie als die „eigentliche Mehrheit" ausgewiesen wird, kommt es zu Demokratieabläufen, die sich immer weiter von dem Ideal entfernen, i n dessen Namen die kraftvolle Mehrheitsidee als Vorstellung vom „allgemeinen Willen" angetreten ist: Die Mehrheit w i r d zur „ständig besorgten Gewalt". Sie richtet alle ihre Machtäußerungen von vorneherein auf mögliche Gegenzüge einer immer selbstbewußter werdenden Opposition ein; diese politische Gegengruppierung beeinflußt nicht nur durch überzeugende Argumente und i n Diskussionen vor dem Forum des Volkes korrigierend die Mehrheit, wie es demokratischer Theorie entspricht, sie w i r k t in erster Linie verunsichernd. Es ist ja etwas ganz anderes, ob eine Opposition nur Fehler entlarvt, aber keine Chance hat, es selbst besser zu machen — oder ob jede Machtkorrektur sie schon zum Sieg führen kann. Eine Theorie der Opposition müßte jedenfalls zwei Konstellationen stets deutlich unterscheiden: Die hoffnungslose Minderheit, die wesentlich durch kritische Überzeugung wirken muß, und die mehrheitsnahe Opposition; sie agiert schon i n den Vorphasen der Herrschaft, sie w i r d geradezu zu einer Form der schweigenden Mitregierung. I n all dem jedoch verstärkt sich die anarchisierende Schwäche der Volksherrschaft: Die regierende Mehrheit muß ständig versuchen, mögliche Züge der Opposition vorwegzunehmen, ihre eigene Politik an der etwaigen K r i t i k derselben von vorneherein auszurichten; oft genügt auch dies nicht mehr, es muß dann, wie i n der Bundesrepublik Deutschland seit langem, der Kompromiß mit der Opposition laufend gesucht werden. 11 Leisner
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Was all dies praktisch an Herrschaftsblockade bedeutet, kann gar nicht überschätzt werden, mögen es auch die Akteure sorgsam verschleiern, die Regierung, damit ihr enger Handlungsspielraum nicht zu deutlich erscheine, die Opposition, damit sie sich nicht als Kumpan der Herrschenden offenbare. Doch dieser Kryptoabbau der Herrschaft fällt allenthalben i n die Augen, am stärksten vielleicht i n der Spätdemokratie Italiens: Da bedeutet Herrschen letztlich einfach das Überleben an der Spitze, da findet Herrschaft als Stillhalten statt. Der Entwicklung solcher Herrschaftsparalyse ist es eigentümlich, daß ihr weiteres Fortschreiten immer wieder politisch als ganz unmöglich anmutet, und doch immer wieder möglich wird. Manchmal scheint es, als wolle die Demokratie geradezu beweisen, wie wenig an Staatsgewalt überhaupt noch nötig sei, damit doch „noch alles funktioniere". Die Annäherung an eine „Herrschaftslosigkeit als Staatsform" ist jedenfalls eindrucksvoll. Da fällt schon am Ende kein hartes Wort mehr gegen die anderen Parteien, da werden die Wahlkämpfe immer „loyaler" geführt, aus der Angst heraus, es könne ein „radikaleres Wort" den Umschwung der ganz Wenigen zur Gegenseite bringen; da ist immer mehr demokratischer Respekt vor dem Gegner, weil immer weniger Machtwille besteht. Vor dem Bürger läuft eine ihm lange Zeit unbekannte demokratische Vornehmheit ab, die Angst vor dem nahen Mehrheitsverlust w i r d zum Ausdruck demokratischer Seriosität. Ordnende Herrschaft hat i n sich immer etwas Ungezwungenes, Rücksichtsloses, hier geht es nahezu völlig verloren. Das Mehrparteienregime kennt in seiner letzten Verfeinerung nurmehr Statthalter, nicht Herrschende. Es w i r d Regentschaft, aber nicht mit dem Blick auf einen jugendlichen König, sondern auf etwas, das ebenfalls ständig wächst, die Herrschaftsablehnung, die Anarchie. 3. Parteienangleichung als Machtabbau a) Die Suche nach dem Konsens und die Parteienangleichung I n keiner Staatsform ist so viel die Rede vom Konsens wie i n der Demokratie. Verständlich ist dies, wenn man die anarchischen Grundlagen dieser Ordnungsversuche erkennt: I m Konsens soll sich ja dann i n einer Form des demokratischen Wunders der Phönix der Gemeinsamkeit aus der Asche der glühenden Urwälder des Naturzustandes erheben. A n sich ist die Demokratie zwar der Versuch, diesen Vorgang der politischen Gemeinsamkeit zu organisieren, i h n nicht einem Konsens-Wunder zu überlassen; doch auch sie kann nicht anders: Das Wunder kommt vor der organisierten Herrschaft — es müßte vorher stattfinden.
3. Parteienangleichung als Machtabbau
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M i t einer A r t von geschichtlicher Notwendigkeit t r i t t nach einiger Zeit i n den Volksherrschaften die Suche nach diesem Konsens auf und sie führt praktisch zu Versuchen der Parteienangleichung. Lautstark w i r d zwar, nach wie vor, betont, wie sehr die politischen Gruppierungen sich voneinander unterscheiden müßten, daß aus ihrem Kampf die belebenden Lösungen der Volksherrschaft entstünden; doch i n der Praxis ist man meist schon müde geworden. Eines vor allem gelingt ja politisch nicht: die Parteien irgendwie i n einem „gleichen politischen Abstand" voneinander zu halten, etwa nach einem Gesetz, nach dem sie ursprünglich einmal, bei der Schaffung der jeweiligen Volksherrschaft, angetreten sind. Sicher w i r d man immer diese „ursprünglichen Abstände" als etwas Ideales ansehen, die Parteien auch i n der Zukunft daran festhalten wollen; der Versuch, den als „ideal" unterstellten politischen Parteienabstand i n der Bundesrepublik nach 1949 weiter zu halten, ist nur ein Beispiel. I n dieser Verfestigung ursprünglicher Gegensätze w i r d dann — der „dauernde Konsens" gesehen. I n der politischen Praxis hat sich etwas Derartiges jedoch kaum je durchhalten lassen. Entweder die Parteien entfernen sich immer weiter voneinander — dann entsteht das Problem der politischen Radikalisierung, des Endes des „Verfassungskonsenses", der „demokratischen Gemeinsamkeit"; oder sie nähern sich eben einander an, und dies ist i n der Regel ihr Schicksal, schon aus einem Grund: Die Konsenssuche w i r d rasch zur Konsensangst dort, wo gewisse Grundprinzipien i n den Verfassungen verfestigt erscheinen, nunmehr also mit normativem Zwang von allen bejaht werden müssen. Da w i r d dann die freie politische Gemeinsamkeit, jener Konsens, der doch etwas wesentlich Extranormatives ist, verengt zu einer durch die Verfassung erzwungenen Gemeinsamkeit, wer sie bricht, gleitet i n die Radikalität ab. Die Verfassungsgerichtsbarkeit ist eine gefahrvolle institutionelle Verfestigung solcher Konsenssuche, welche zur Gerichtsangst wird. So verstärkt sich denn mit einer demokratischen Notwendigkeit der Zug der Parteien zur Angleichung: I n der normativen Festlegung dessen, worüber Konsens bestehen muß, einerseits — wer möchte auch schon sich außerhalb der Verfassung stellen; zum anderen aber, und vielleicht noch mehr, durch einen tiefen Defekt des Mehrparteiensystems: Dieses geht ja davon aus, daß zu jeder wichtigen Frage zumindest ja und nein gesagt werden kann, zwei Lösungen jedenfalls denkbar sind. Immer mehr aber zeigt sich i n der hoch technisierten Entwicklungsphase der Spätdemokratie, daß dies der Wirklichkeit nicht entspricht. Die Parteien werden daher zu künstlichen Gegensätzen gezwungen, zu einem demokratischen Schattenboxen, zu K r i t i k und Verneinung, wo doch nur eine technisch mögliche Lösung gegeben ist. Eine 11·
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solche „ K r i t i k u m der K r i t i k willen", die keinem Volk wohl suspekter ist als dem deutschen, läßt sich nirgends auf Dauer durchhalten, sie widerspricht ja auch dem gleichzeitigen Glauben an den demokratischen Fortschritt: Diese Staatsform glaubt eben nicht nur an technischen Fortschritt, sondern an politische Errungenschaften. Zu ihnen aber kann nur gemeinsam ja gesagt werden. So ist denn die Demokratie nicht nur durch Konsenssuche geprägt, sie steht unter Konsenszwang; i n i h m w i r d der Kompromiß zur Staatsgrundlage, weil die Parteien, die Träger der Staatlichkeit, sich einander annähern oder i n Radikalität untergehen müssen. Doch dieser Konsens bringt nun nicht notwendig, wie es scheinen mag, eine Herrschaftsverstärkung, vielmehr geht i n i h m jene Flexibilität der Demokratie weithin verloren, i n der anarchische Stöße aufgefangen werden, vor allem aber findet so eine geistige Verengung des Mehrparteiensystems statt, welches die Herrschaft inattraktiv macht und ihre Kraft abschwächt. b) Die Programmangleichung — Programmverlust als Herr schaf tsverlust Die Parteiprogramme zeigen seit langem klare Angleichungstendenz, i n den Einzelheiten, wie, vor allem, i m Grundsätzlichen. Hier kommt der Zug zur Volksparteilichkeit zum Ausdruck. Oft nur noch i n Nuancen finden sich Akzentunterschiede, die sich erst bei eingehender Analyse erschließen — obwohl doch das Parteiprogramm durch Eindeutigkeit, durch holzschnitthafte Einprägsamkeit wirken sollte. Doch diese Programmwirkung w i r d ja gar nicht mehr angestrebt, mehr oder weniger schreiben alle politischen Gruppierungen dasselbe auf ihre Fahnen: Selbstverständlich w i l l man ebenso „sozial" sein wie die Gegenpartei, zugleich aber auch die Marktwirtschaft i n ihren Rechten belassen, die Emanzipation der Frau verstärken — und doch die Familie ehren und so weiter und so fort. Das Mehrparteiensystem entwickelt sich von den Behauptungen der Parteien, Alternativen zu bieten, hin zum Versprechen, dasselbe zu leisten, nur „besser"; was dies aber ist, bleibt dunkel. I m Grundsätzlichen sind eigentliche Alternativen auch kaum möglich. Wie sollte hier Gegensätzliches geboten werden, ohne daß die eine Seite sogleich i n Radikalität sich verliert? Hier müßte ja jene Systemveränderung auf die Fahnen geschrieben werden, die nicht sein darf, aus Gründen der Verfassung oder der Volksparteilichkeit. Wenn schließlich bei den allgemeinen Formeln der Freiheiten, der Staatsform, der sozialen Zukunft grundsätzliche Gegenpositionen aufgebaut würden, so müßte dies nahezu notwendig „zu weit führen" — eben aus dem Verfassungskonsens heraus. Die Übereinstimmung i m Grundsatz-
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liehen aber setzt sich eben geradezu notwendig bis i n die Einzelheiten fort. Damit werden jedoch die Parteiprogramme, die großen Diskussionsgegenstände des vergangenen Jahrhunderts, mehr und mehr — inattraktiv. Welcher Bürger kennt sie noch, wer hat zumindest noch Umrißkenntnisse, wer fühlt noch die Unterschiedlichkeit programmatischer Grundstimmungen? Und welcher Parteibürger wäre zu vollem Einsatz für etwas bereit, was die politische Konkurrenz nahezu mit den gleichen Worten anbietet? Denn nicht nur, daß sich die Programme zu Formelkompromissen verflüchtigen — diese allgemeine Tendenz des parteiendemokratischen Lebens wurde bereits dargestellt — die Programmangleichung, bis in die Einzelheiten hinein, macht das Wechselwählen weithin überflüssig, sie läßt die Politik schlechthin uninteressant werden. Der Programmverlust der Parteien w i r d so zum politischen Kraftverlust des Mehrparteiensystems überhaupt. Vom Programmatischen kann eben gänzlich abgesehen werden, die Parteipolitik verfällt i n Pragmatik. Dies aber ist für jeden demokratischen Ordnungsversuch eine besonders schwere, wenn auch weithin noch unerkannte Gefahr: Die von der Partei getragene Regierung mag lavieren müssen, vor allem i n Mittel- und Kleinstaaten sich i n Reaktion auf die jeweilige Weltlage erschöpfen; doch die politische Partei definiert sich dadurch, daß sie weitere, strategische Programmatik zum Einsatz bringt. I n ihrem Namen sollen ja die Bürger zusammengefaßt werden, erstmals, nach dem Heraustreten aus dem „Naturzustand" der politischen Ordnungslosigkeit, eine flexible Integration auf ein gemeinsames Ziel h i n finden. Das Wirken rechtverstandener Parteilichkeit ist vor allem teleologisch bestimmt, von Fernzielen geleitet. Verdämmern sie i m Programmverlust, so werden die Parteien zu Vereinen der Tagtäglichkeitspolitik. Darin aber verlieren sie entscheidend an jener Integrationskraft, welche die Bürger zur politischen Ordnung der Demokratie in einer A r t von „Primärversammlung" zusammenfassen sollte; denn dies ist ja der eigentliche Sinn der Parteien: daß die Bürgerversammlung der Anarchie zum Bürgerverein der Ordnung werde — der Verein aber beruht auf der Satzung, auf dem Programm. Die politischen Parteien sollten kollektive, politische Individualität der Bürgergruppen sein; so wie eine politische Persönlichkeit nicht ohne Persönlichkeitsprogramm vorstellbar ist, so die Partei nicht ohne das eigenwillige, das besondere Parteiprogramm. I n der Angleichung der Parteiprogramme findet ein „Persönlichkeitsverlust der Parteien statt", der persönlichkeitsbewußte, individuell denkende Bürger gruppenweise aus der Herrschaft treibt, i n offener oder i n stiller Auswan-
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derung. Darin aber w i r d die Demokratie immer schwächer gegenüber anarchischen Kräften, denen sie den politischen W i n d hatte aus den Segeln nehmen wollen, durch erfüllbare und unerfüllbare Programme. c) Der Kampf um Personen — Persönlichkeitspolitik oder Figurendemokratie? Die Parteien müssen sich profilieren. Was sie nicht mehr durch Programme vermögen, versuchen sie durch Personen. Die politische Dynam i k soll i m Kampf der Führungspersönlichkeiten verstärkt, die Politik so wieder attraktiv und individuell werden, damit Ordnungsinteresse entstehe. I n der Tat kommt es immer mehr, i n allen späten Demokratien, zu eigentümlichen Formen von Persönlichkeitskämpfen. Nicht so sehr Programme treten gegeneinander an als die Parteiführer, die führenden Mannschaften. Die Volksherrschaft hofft, auf diese Weise ihr schweres Führungsproblem zu lösen, Persönlichkeitswerte i n ihre mechanisierten, normativen Staatsinstitutionen einzuführen. Und i n der Tat hätte es keine Macht nötiger als sie, die sie vom Bürger, vom Menschen ausgehen w i l l , beim Menschen, beim Leader auch zu enden. Kommt es dann nicht zu jener Machtaneignung durch Personen, ohne die keine wirkliche Herrschaft bestehen kann? Bietet nicht nur der Mann auf dem Wahlplakat der Anarchie die Stirn der Persönlichkeit? Es ist eine der gefährlichen und denaturierenden Entwicklungen der späten Volksherrschaft, daß sie es, nahezu mit Notwendigkeit, i n all dem nur zur Figurendemokratie bringen kann, daß sie auch hier die Persönlichkeitspolitik letztlich verfehlt. Diese Personen werden ja vor allem, laufend und ganz wesentlich, i n den Wahlkämpfen eingesetzt, darin sollen sie Bürger anziehen, nicht so sehr durch die spätere Ausübung der Macht. Zwischen Theorie und Praxis hat hier eine verhängnisvolle Trennung stattgefunden: Da w i r d vom Bürger erwartet, daß er die Persönlichkeit wähle, von welcher er später die beste Machtausübung erwarte; i n der Praxis aber ist meist die heutige Sympathie etwas ganz anderes als die Erwartung späterer Sachlichkeit. Über diese letztere w i r d ja auch vor der Wahl weniger und weniger diskutiert, schon weil der Programmverlust vorausgegangen ist. So geht es denn letztlich darum, wie der Kandidat sprechen kann, ja wie er aussieht. Die rationale Staatsform der Demokratie überantwortet sich weithin tatsächlich der Sympathie Wirkung von Gesten und Gesichtern, von denen doch sogar ein Napoleon sagen konnte, er habe sich jedesmal getäuscht, wenn er auf sie geblickt habe. Diese Figurendemokratie, i n der sich die Führer m i t immer weniger Worten legitimieren, am Ende nurmehr durch ihr Gesicht, bringt nicht
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einen Persönlichkeitsgewinn für die Macht — eine Verbindung von Macht und Persönlichkeit stellt der Bürger ja gar nicht mehr her — sondern i m Ergebnis nurmehr eine große Entsachlichung des Mehrparteienregimes. Die Personen ersetzen die fehlenden Programme nicht, sie machen dieses Defizit erst w i r k l i c h deutlich. Immer mehr nähert sich das Regime „Herrschaftswetten auf Personen", den durch Farben bezeichneten Wagenwettspielen der Spätantike vergleichbar. Vielleicht hat man nie wirklich zu bedenken gewagt, was es bedeutet, wenn die politische Wahl dergestalt vom Richtigkeitskriterium abgeht, sich Personen zuwendet, die Persönlichkeiten sein mögen, i n diesem Regime aber nurmehr Attraktionsfiguren sein dürfen. Bei näherem Zusehen zeigt sich auch, daß sie vom Bürger i n einer A r t von anarchischer Erwartung gewählt werden: Sie sollen repräsentieren und verwalten, nicht aber wirklich herrschen. Soweit sind sie eigentlich gar nicht bekannt, daß sie „gewählt" werden könnten, auf sie ist „gesetzt" worden. Sie erscheinen als Machtverwalter, die sich zeitweise Zuständigkeiten nur durch ihre Sympathiekraft erworben haben, immer seltener durch bewiesene Kompetenz. Politische Sympathie aber verpflichtet den Bürger zu nichts, sie kann weit leichter zurückgenommen werden als die Anerkennung der Herrschaftskraft einer Persönlichkeit, die sich irgendwie doch aus sich selbst legitimiert. Einer solchen „Macht" gegenüber bleibt der Bürger also i n einer A r t von Naturzustand der Herrschaftsferne stehen, er blickt aus ihr auf den Ablauf jener Figurendemokratie, i n der sich letztlich nurmehr Gladiatoren der Macht zu seiner politischen Unterhaltung schlagen; dies mögen psychologische Endzustände verfallender Volksherrschaft sein, angelegt sind sie schon heute. Die anarchische Hoffnung dieser „Bürger der Figurenwahl" ist es, daß sich ihre politischen Akteure i n erster Linie stets m i t sich selbst beschäftigen, auf sich selbst einschlagen werden, nicht auf den Bürger und seine immer herrschaftsloser werdende Freiheit. Und i n der Tat ist die politische Selbstbeschäftigung i n der späten Volksherrschaft ein unruhiges Phänomen der Herrschaftsabschwächung geworden. Die Politiker finden Geschmack an einer Macht, die sich m i t der politischen Gegnerfigur beschäftigt, auf jeden Zug einen Gegenzug weiß. Doch damit geht so viel an politischer, originärer Stärke verloren, daß dann zum eigentlichen Herrschen, zur Schaffung der auf den Bürger bezogenen Ordnung nurmehr die wenigste Kraft bleibt. Regierung und Parlament zeigen es ja täglich: Wieviel muß nicht an Energie auf gewendet werden, u m mehr oder weniger demagogische Argumente der Gegenseite zu entkräften, oder auch nur u m darauf zu antworten, obwohl doch allen klar ist, daß „der Ordnungsfaktor" für den Bürger i n
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all diesen Diskussionen gleich N u l l ist! Wie rasch, mit welcher Selbstverständlichkeit — und sogar mit welcher erstaunlichen Übereinstimmung — werden dann die eigentlichen Herrschafts- und Ordnungsaufgaben erledigt! Demokraten mögen darin ein Zeichen des Konsenses sehen, der Zeit läßt für das Staatstheater der Figurenkämpfe. Beim Bürger entsteht eben doch, auf Dauer, ein Gefühl für die Leere dieser Auseinandersetzungen, für die abnehmende Sachlichkeit und Zeitintensität, i n der die eigentlichen Ordnungsaufgaben bewältigt werden; damit aber verliert sich Ordnungslegitimation. Weiß man eigentlich, wie weit heute Herrschaft nicht nurmehr akzeptiert w i r d — u m des politischen Vergnügens w i l l e n am Streit der Parteipersonen? So oft hat man den Bürger der Spätdemokratie mit dem der Spätantike verglichen, der nurmehr Panem et Circenses wünscht, sein politisches Interesse darin befriedigt. I n der modernen Formulierung müßte es heißen: Soziale Sicherung und politischer Figurenstreit i n den Medien — was braucht der Bürger mehr? Doch ist dies noch eine wirklich geordnete Gemeinschaft, w i r d hier nicht nurmehr eine schon weithin anarchisierte Menge ernährt und unterhalten? Die Macht selbst — w i r k t sie noch ordnend auf den Bürger, beschäftigt sie sich nicht nur, i n diesem Antagonismus der Personen, m i t sich selbst, ist dies nicht ein Rückzug, der letztlich die zu beherrschenden Menschen der A n archie freigibt? d) Anarchisierende Legitimationssuche im Mehrparteiensystem: Herbeigeredete Gegensätze Jede politische Macht braucht den Gegensatz, die mögliche Alternative, sonst kann sie nicht herrschen, nichts überwinden, keinen „neuen Zustand herbeiführen". Der unerhörte Energieverlust des Mehrparteiensystems, von dem i n den vorstehenden Kapiteln die Rede war, w i r d von den demokratischen Akteuren gefühlt; sie haben ein Gespür dafür, daß sie der Bürger, den sie immer mehr emanzipieren, letztlich weniger und weniger „braucht". Damit das Demokratieinteresse nicht nachlasse, i n Wahlmüdigkeit und verstärkten Versuchen machtferner Selbstverwaltung, müssen die demokratisch Herrschenden versuchen, Gegensätze zu erfinden, wo es sie nicht gibt. Die neueste Zeit zeigt zahlreiche Erscheinungen solch künstlicher Divergenzen: Da werden immer neue Schulsysteme angeboten und es w i r d mit ihnen experimentiert, auch wenn es Eltern und Schüler vor allem u m ruhige Fortentwicklung ginge, denn die Politik muß auf diese Weise ihr Interesse für diesen zweifellos wichtigen Gegenstand zeigen, anders vermag sie es nicht i n der Demokratie, und nur so glaubt sie, u m Bürgerinteressen werben zu können. Da müssen ganze Problem-
3. Parteienangleichung als Machtabbau
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f elder, wie etwa „die Familie" oder „die soziale Sicherung", durch zahlreiche Einzelinitiativen „besetzt werden", für die gar keine dringenden Bedürfnisse bestehen, nur damit nicht etwa die Gegenseite vordringe oder, was noch gefährlicher sein könnte, die ganze Angelegenheit dem „Konsens" überlassen oder i n Ruhe gelassen werde. Alle diese Bewegungen mögen i m energieschwachen Mehrparteienregime geradezu herrschaftsnotwendig sein; doch diese herbeigeredeten Gegensätze verstärken die Herrschaft nicht, sie machen sie suspekt und schwach. Der Bürger erkennt ja hier oft nur zu deutlich den Abfall vom „Richtigkeitskriterium", er sieht die Parteien kämpfen „um des Streites willen", oder nur, damit ihre Figuren sich profilieren können. Und er zieht sich dann erst recht vor diesen Formen der trickreichen Herrschaft zurück, die sich mit hergeholten Gegensätzen auf seinem Rücken aufbauen möchte. Vor allem aber ist dieses Vorgehen für die demokratische, egalitäre Herrschaft, gerade aus der Sicht der Anarchie, welche sie ordnend überwinden w i l l , höchst gefährlich: Hier werden ja laufend sozusagen „Divergenzschulden" aufgenommen, die aufgerissenen Unterschiede müssen i n Herrschaft sodann wieder aufgefüllt werden. Wie aber, wenn Herrschaftsinteresse und Herrschaftskraft beim Bürger und bei den Parteien und ihren Figuren dazu nicht ausreichen, wenn das aufgenommene Kapital immer neuer politischer Gegensätze kaum genügt, die Herrschaftszinsen zu bezahlen? W i r d sich das ganze Kapital eines Tages in neuer Ordnungsmacht zurückbezahlen lassen? Muß nicht der Bürger, der überall nurmehr unüberbrückbare Gegensätze sieht, am Ende annehmen, es sei schon Anarchie ausgebrochen, w i r d nicht gerade dies heute schon weithin so gedeutet? Und wenn er dann noch Ordnung w i l l — w i r d er das Mehrparteiensystem auch für fähig halten, eine solche zu schaffen? Die Mehrparteiendemokratie darf also ihre Legitimation stets nur höchst vorsichtig einsetzen; Gegensätze mag sie aufsuchen, sie darf sie nie schaffen, sonst verliert sie sich i n Anarchie. Doch gerade hier w i r d sie von ihrem Schicksal, den herzuredenden Gegensätzen, immer weiter getrieben, dorthin zu laufen, wovor sie das „Herrschaftsinteresse des Bürgers an den Gegensätzen" doch schützen s o l l — i n die Anarchie. W i r d sie diesen Versuchungen ihrer eigenen Herrschaftsschwäche w i derstehen können?
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V I . Das Mehrparteiensystem
4. „Radikale Parteien" — „eingebaute Anarchie im Mehrparteienregime" a) Radikale Gruppierungen
— eine demokratische
Notwendigkeit
Mit radikalen Parteien und Gruppen muß die Volksherrschaft nicht nur leben, ihre Existenz ist für sie eine Lebensnotwendigkeit, gäbe es sie nicht, so müßte sie sie erfinden. Darin aber w i r d sie stets zu einem gefährlichen Anarchieeinbau i n ihr Herrschaftssystem gezwungen, der dasselbe sprengen kann. Die Herausforderung der Demokratie an die Anarchie rechtfertigt diese Staatsform. Grundsätzlich kann sie niemanden aus ihrem Herrschaftssystem treiben, weil eben alle zu dessen natürlichem Herrschaftssubstrat, zur Bürgerschaft, ganz natürlich gehören. Das typisch demokratische Ausbürgerungsverbot trägt auch bis zur Duldungspflicht der politisch ganz anders Denkenden. Doch darüber hinaus gibt es noch eine ganz andere Radikalennotwendigkeit für die funktionierende Demokratie. Sie versucht, ihre Herrschaftsgrundlage i n einem Konsens zu finden, der sozusagen vor allem staatlichen Machteinsatz schon besteht. Eine solche Übereinstimmung kann sich jedoch, die politische Erfahrung zeigt es immer wieder, nicht nur für, sie muß sich auch gegen etwas bilden können. Konsens als Abwehrreaktion aber verlangt den politisch radikalen Gegner, denn die Ubereinstimmung bezieht sich ja auf Grunddaten des Zusammenlebens, welche von irgend jemandem geleugnet werden müssen. Die Komprimierung der diffusen politischen Ansichten, welche aus dem „Naturzustand" heraus kommen, den die Demokratie dergestalt kanalisieren w i l l , diese Verdichtung findet nur unter dem Druck einer gewissen Radikalenangst statt. Wenn die Volksherrschaft versucht, als „wehrhafte Demokratie" diesen notwendigen Gegner völlig zu eliminieren, so ist sie i n doppeltem Sinne zum Scheitern verurteilt: Es kann ihr dies nie gelingen, sie treibt i h n nur i n den Untergrund der Anarchie und verstärkt deren Macht; und sie verliert selbst die politische Kraft, welche sie zu immer neuen Stabilisierungsanstrengungen legitimiert. I n der völlig selbstverständlich gewordenen Volksherrschaft müßte sich erst recht Anarchie ausbreiten. Eine schwierige politische Gratwanderurig sollte also eigentlich die Demokratie zwischen Überstrenge und weicher Nachgiebigkeit hinführen; mit Recht hat deshalb das Grundgesetz das Verbot der politischen Parteien i n das Antragsermessen der Regierung gestellt. Doch die Anzeichen sprechen heute dafür, daß es der Volksherrschaft kaum gelingen kann, auf diesem Weg die Begegnung mit der Anarchie zu
4. „Radikale Parteien"
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vermeiden, die sie einerseits braucht, die aber letztlich übermächtig zu werden droht. b) Die Notwendigkeit
des „echten Radikalismus"
Das Mehrparteienregime der Demokratie kann dem Herrschaftsproblem nicht dadurch entfliehen, daß es auf etwas vertraut wie eine „abgemilderte Form der Radikalität", auf Konsens-Radikale. Die historische Erfahrung hat noch immer gezeigt, daß der Versuch, allen etwas zu geben, jedermann i n die politische Macht irgendwie einzubinden, die anarchischen Stöße nicht aufhebt, sondern sie erst recht entstehen läßt. I n diesen systematischen Kompromissen kommt ja Herrschaftsschwäche bis zur Denaturierung der Macht zum Ausdruck, sie aber kann sich nicht gegen jenen Machtwillen durchsetzen, der irgendwie auch das Anarchische treibt. So bringen große Koalitionen erst recht Radikalität hervor, weil dann ja das „ganze System" verändert werden muß, nicht nur das Regime insoweit, als es mit einer der Parteien identifiziert würde; dies möchte durch Machtablösung noch gelingen. Die große Koalition i n Deutschland und die nationale Koalition des Gaullismus in seinen Anfangsphasen haben später diese anarchischen Gefahren nur noch begünstigt. Regierungen „nationaler Einheit" sind die ersten Phasen späterer Anarchie. Jener Radikalismus also, den die Demokratie zur „Herrschaftskomprimierung" braucht, muß mit einer seiner Säulen wenigstens außerhalb des Regimes stehen, er muß etwas Systemveränderndes an sich haben. Nur indem er alle Herrschaftsbasis, auch seine eigene, letztlich in Frage stellt, w i r d er originell, attraktiv, zur bekämpfbaren Herrschaftsalternative der Volksmacht. Eine eigentliche Alternative aber, i m Sinne einer formierten Ordnung, braucht er naturgemäß nicht zu bieten, er darf es gar nicht, sonst ist er kein ebenbürtiger Gegenspieler der schon so offenen Volksherrschaft mehr. Sinnlos ist also die K r i t i k an der Radikalität, welche von ihr formierte Alternativen verlangt. Sie w i l l zerstören, zunächst sich darin erschöpfen; denn was formierbar, demokratisch institutionalisierbar ist, das sollte ja eigentlich i m Mehrparteiensystem schon seinen Ausdruck gefunden haben. Alle diese radikalen Kräfte muß nun die Demokratie i n täglicher Überzeugung aufzulösen versuchen, dabei i n Kauf nehmend, daß sie sich immer neu bilden. I n der politischen Praxis jedoch fehlt ihr meist dazu die Kraft: Sie öffnet sich ihnen entweder viel zu weit — dann werden ihre Parteien oder eine von diesen anarchisiert; oder sie versucht, die Radikalität durch Normativität und Rechtsstaatlichkeit niederzuschlagen — dann verliert gerade ihr Mehrparteiensystem die Überzeugungskraft, welches nicht in der Lage war, sich so weit zu öffnen,
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V I . Das Mehrparteiensystem
und die Radikalität macht dieses System zum Widerspruch i n sich: Sie formiert sich als „Partei i m Untergrund", als Partei außerhalb des Mehrparteiensystems, als außerparlamentarische Opposition. Wenn das Mehrparteiensystem überhaupt überleben soll, dann kann es eine wahrhaft außerparlamentarische Opposition auf Dauer nicht geben. Wo immer sie einsetzt, ist i h m das Ende nahe. Dies also ist das Radikalenproblem für die Demokratie: Es muß eine Systemverneinung stattfinden, die diesen Namen verdient — und sie darf sich noch nicht außerhalb des Systems wirklich verfestigen können. Wo kann hier eine Lösung liegen? c) Unterwanderung
der Regimeparteien
durch Radikale
Die Volksherrschaft ist dazu verurteilt, jene Radikalen, derer sie bedarf, i n ihr System zu integrieren; am nächsten liegt es, sie i n ihre Parteien aufzunehmen und sie dort zu majorisieren. Dies ist der große Herrschaftsversuch, die Herrschaftschance des Sozialdemokratismus: Die eigentlich virulenten anarchischen Kräfte, die sich links von i h m ansiedeln, sollen i n die Partei hineingenommen werden, auch wenn sie Anarchie einbringen; der ständige Kampf der Anarchieauflösung soll i n den Parteistrukturen selbst ablaufen. Niemand w i r d den sozialdemokratischen Parteien eines streitig machen können: Dies ist ein großartiger Versuch, Anarchie i n Demokratie zur Ordnung werden zu lassen, sie ständig i n Randgruppen zu drängen, sie dort aber auch zu belassen. Das Problem ist übrigens nicht auf die politische Linke beschränkt, „rechts" muß seine Bewältigung ebenso laufend politisch versucht werden, i n der politischen Auseinandersetzung mit Autoritarismen nicht-marxistischer Herkunft, mag man sie zurecht Faschismen nennen oder nicht. Die großen Parteien und vor allem die Sozialdemokratie begeben sich hier aber i n politische Gefahren, denen sie, wie es scheint, auf Dauer kaum gewachsen sind. Sie öffnen sich ganz bewußt Unterwanderungen, in denen die kleinen, radikaleren, vor allem aber die anarchisierenden Gruppierungen immer mehr Technik, ja meist Herrschaft entwickeln. Sie müssen m i t ihren großen, wenig beweglichen Apparaten i n Kauf nehmen, daß kleine, aktive Gruppierungen jede Gelegenheit der Anarchisierung ergreifen, jede Herrschaftsniederlage zur Herrschaftsverneinung ummünzen wollen. Die Parteien müssen versuchen, genug Widerstandskräfte gegen diese bewußt verschleierten Anarchismen aufzubringen und sie müssen bestrebt sein der Taktik der „kleinen Schritte" zu begegnen, i n der gelegentliche Widerstände zur großen Herrschaftsnegation langsam aufgebaut werden. Die Partei-
4. „Radikale Parteien"
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tagstechniken solcher anarchisierender Gruppierungen sind bereits bekannt: Unter geschickter Ausnutzung von Majoritätsschwächen werden einzelne anarchisierende Widerstandsreaktionen, etwa i m Bereich des Umweltschutzes, zur Infragestellung des ganzen innerparteilichen Herrschaftssystems, insbesondere der Parteioligarchie, hochgetrieben. Die großen Parteien brauchen Ruhe und ständigen Erfolg, u m derartigem laufenden Widerstand, mehr noch: dem langsamen Marsch durch die Institutionen erfolgreich begegnen zu können. Die Mehrparteiendemokratie hat sich ganz bewußt von „Radikalen" allenthalben unterwandern lassen. W i r d es ihr gelingen, diese Unterminierung auf Dauer auszuhalten? Denn da ist ja noch etwas, das sie schwächt: Die Bürgerenttäuschung über die „Anarchie i n den staatstragenden Parteien". Die Bürgerschaft, die sich i n der Ablehnung der Radikalität, ja i n der Radikalenangst zum Konsens der staatstragenden Parteien zusammengefunden hat, muß erleben, daß ihr i n diesen selben Parteien wiederum Radikalität entgegentritt. Dies ist eines der schwersten Probleme des Mehrparteienstaates. Er scheint doch so viele politische Alternativen zu eröffnen — kann er hier nicht wenigstens „immun" bleiben gegenüber der Herrschaftsverneinung, muß sie sich auch noch i n seinem Herzen zeigen, i m „grünen Holz der Demokratie"? Dies ist die Problematik der staatstragenden Parteien: Sie sind legit i m letztlich als Formen der Entgiftung des Radikalen — und sie müssen die Wirkungen dieses Giftes an sich dauernd dem Bürger zeigen. Die Demokratie muß und w i r d sich zu reinigen suchen. Die Radikalen werden eben doch, meist grundsätzlich und sehr rasch, zu Randgruppen, nur als solche dürfen sie i n den Parteien agieren. Damit aber müssen sie immer außerhalb der Herrschaft bleiben, ganz wesentlich „nicht integriert". Die Parteien wollen sie als Kräfte der Anarchie zur Ordnung nutzen, i n der Hoffnung, daß sie über das Regime niemals ihre letzten Ziele erreichen können. Darin aber ist der „ordnungschaffende Anarchieeinbau" der Radikalen i n die Volksherrschaft letztlich gescheitert. Die Radikalität ist ein notwendiges Herrschaftsphänomen des Mehrparteienregimes, doch dieses kann mit i h m nicht wirklich fertig werden; die Anarchie ist ins System aufgenommen, sie w i r d dort aber verdrängt — oder doch immer versuchen, alle Herrschaft zu relativieren, den Bürger i n der Überzeugung zu bestärken, daß er sich nicht auf eine Macht verlassen könne, i n der nirgends „ w i r k l i c h Law and Order" ist, i n der überall Radikalismen die Unterwanderung begonnen haben. Kann eine Macht auf Dauer herrschen, welche die entschlossene Anarchie braucht, bekämpft, rezipiert und dann — ignoriert?
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V I . Das Mehrparteiensystem
5. Entpersönlichung der Herrschaft als Anarchisierung im Mehrparteienregime Die These lautet: Die politischen Parteien sollten, von ihrer Idee her, i n besonderem Maße persönlichkeitsgeprägt sein, Kräfte politischer Individualitäten staatsordnend zum Tragen bringen. I n Wahrheit jedoch findet i n ihnen ein sich ständig verstärkender Persönlichkeitsverlust statt, der zu einer anarchisierenden Abschwächung der demokratischen Herrschaftsgewalt führen muß. a) Vom Parteiführer
zum Apparatschik
Die politischen Parteien der neuesten Zeit haben sich alle, so oder so, i n einer großen Linie entwickelt: von der Persönlichkeit zum Apparat. I n der Französischen Revolution waren dies noch echte Gruppierungen von Individuen und Individualitäten, da war noch nicht einmal ein Parteiführertum, geschweige denn eine Parteiorganisation. I n den liberalen Gruppierungen des 19. Jahrhunderts setzt sich dies noch lange fort, 1848 war noch immer weit mehr ein Streit der Parteipersönlichkeiten als der Gruppen als solcher. I n der Gestalt Bismarcks erstand zwar der Führer, nicht aber der Parteiführer, war es doch dieser Persönlichkeit wesentlich, daß sie nahezu völlig organisationsfrei wirken konnte, getragen vom Vertrauen des Monarchen, der selbstgewichtigen politischen Durchsetzungsfähigkeit und allenfalls noch von der Kraft zur Kombination politischer Kräfte. Doch die folgenden Jahrzehnte sollten eine rasche Entwicklung der Parteiorganisation bringen, aus ihr konnte sich nur zuzeiten noch starkes Parteiführertum herausheben; fast scheint es, als habe historisch die Parteiorganisation sogleich die Parteiführerpersönlichkeit überrollt, als habe es eigentlich die „Phase der Leaders" gar nicht gegeben; schon i n der Weimarer Zeit jedenfalls w i r d ihr Fehlen zum großen politischen Problem. Immerhin — i m vorfaschistischen Italien, i m Frankreich der Dritten Republik, vor allem aber i n England gelingt es den Parteien für einige Jahrzehnte, die steigenden Organisationsnotwendigkeiten mit den Persönlichkeitskräften der Parteiführer zu verbinden. Und hier erreicht denn auch das Mehrparteiensystem seine größte politische Kraft, i m Frankreich eines Clémenceau, i m England eines Winston Churchill. I n Deutschland scheint jenes Parteiführertum, das es vorher eigentlich nur i n der antidemokratischen Ausprägung Adolf Hitlers gegeben hat, nach dem Zweiten Weltkrieg nochmals Wirklichkeit zu werden, in der Gestalt Konrad Adenauers. Doch hier, wie auch i m Italien de Gasperis oder i m Frankreich eines Robert Schuman setzt sehr rasch die
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neue Phase der Parteiapparate ein — die Parteien fressen ihre eigenen Väter. Selbst den Räten gelingt es nicht, diesen Kreislauf zu durchbrechen — sie müssen immer wieder gegen den Personenkult Front machen. Und bei den letzten größeren Führergestalten, von denen noch etwas vom Charisma der mächtigen politischen Individualität ausgeht, ist es, als reichten sie aus einer vergangenen Welt i n die Gegenwart hinein, trotz aller Fortschrittsvisionen. Die politischen Parteien unserer Tage haben neue Namen und Kompetenzen für ihre Führer entdeckt: Da sind die zeitlosen Ehrenpräsidenten, denen Ehren gebühren, aber kein wirklicher Vorsitz; da sind Parteiideologen, die wirkungslose Grundsatzprogramme ausarbeiten dürfen, welche der tägliche Pragmatismus des Apparats überrollt; und da ist vor allem die Figur des Landesvaters, ein wiedergekehrter Monarch auf Zeit, der lächeln darf und sein, aber nicht wirken. I n i h m ist etwas lebendig vom völlig entindividualisierten Persönlichkeitskult . . . I m übrigen aber haben sich die politischen Parteien entwickelt vom Zusammenlauf Gleichgesinnter über die organisierte Gruppe zum festgefügten Verein, von dort zur politischen Aktiengesellschaft, zur wahren Société anonyme der Macht. Hier gibt es mächtige InteressenAktionäre und ein allgegenwärtiges politisches Management, das sich immer mehr von Persönlichkeits- zu sachbestimmten Organisationsformen entwickelt. Die Notwendigkeit dazu erscheint ja auch unausweichlich: Da sind die überpersönlichen Herrschaftsgelüste der Partei, die über die Macht einer Persönlichkeit gar nicht mehr befriedigt werden können; da sind die Notwendigkeiten der Dauer eines Apparats, der nicht mehr mit einer oder wenigen Personen stehen und fallen kann, soll demokratische Kontinuität bewahrt bleiben. Solange diese Staatsdauer noch von einer anderen Institution, vom Monarchen repräsentiert wurde, solange sich die Parteien nur als eine freiheitliche Ergänzung dieser Dauerherrschaft par excellence sehen konnten, mochten sie, auch i n ihrem Apparat, noch Kontinuitätsverluste hinnehmen; selbst zum Träger des Dauernden i n die Herrschaft geworden, können sie sich dies nicht mehr leisten. Schließlich und nicht zuletzt aber ist es der immer größere politische Einsatz, u m den die Parteien kämpfen, die stärkere Organisation der in ihnen repräsentierten Gruppen, welche zu einer Verdichtung des politischen Intrigenspiels geführt haben, der auch die stärkste politische Persönlichkeit nicht standhalten kann. So w i r d denn der Apparatschik zum nahezu notwendigen Ziel der Parteienentwicklung, die Organisation senkt sich von oben nach unten durchtechnisierend i n den Parteienbereich hinein; hier findet eine erstaunliche Umkehr dessen statt, was doch die Parteiidee und die Parteiengesetze fordern: den Aufbau von unten nach oben; i n Wahrheit
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vollzieht sich die apparatmäßige Durchtechnisierung zuerst an der Spitze, sodann immer weiter nach unten — wer darin große Fortschritte bringt, w i r d auch noch als besondere Führerpersönlichkeit gefeiert; und er ist es i n der Tat, denn er hat den Zug der Zeit erkannt, über seine eigene Persönlichkeit hinaus. Da mag sich gelegentlich noch K r i t i k regen, Widerstand gegen die „Kaderpartei", er ist von der Parteienidee her berechtigt, von der notwendigen Entwicklung her gesehen aber sinnlos. Der Zug i n diese apparatisierten Kader ist schon deshalb nicht aufzuhalten, weil ihn das Mehrparteiensystem erzwingt: Die dauernde Konkurrenz von Organisationen steigert nahezu notwendig, jedenfalls i m Parteienbereich, deren Intensivierung, sie schaukeln sich gegenseitig hoch. Wenn i n der Ordnung der wirtschaftlichen Konkurrenz der Zug zur Großorganisation heute schon eine Selbstverständlichkeit ist, warum sollte dies nicht i m harten politischen Wettbewerb sich wiederholen? Diese Konkurrenz führt eben, wie vielleicht jede A r t von Wettbewerb, nicht nur zu Unterschieden, sondern, auf längere Sicht, eher noch zu Angleichungen, weil die erfolgreichen Instrumente und Gedanken vom Gegner übernommen werden müssen; dies aber gilt i n erster Linie für die Organisationsformen. Und Persönlichkeiten kann man nur selten vom Konkurrenten abwerben, weit weniger als i n der konkurrenzgetragenen Wirtschaft, dem steht ja die eigentümliche politische Moral unserer Tage entgegen, nach welcher der Parteiführer eben auf ewig zur Fahne schwören muß. Persönlichkeitsgeprägtes i n der Politik aber läßt sich doch kaum w i r k lich imitieren, abwerben; mögen solche Versuche auch immer wieder gemacht, politische „Erfolgsrezepte" großer Persönlichkeiten aufgesucht werden — die Sozialdemokraten konnten keine Adenauer-Politik machen, die christlichen Demokraten nicht die Gestalt W i l l y Brandts bruchstückweise erlernen und übernehmen. Die bereits erwähnte Figurendemokratie (vgl. oben 3/c) ist für diesen Persönlichkeitsverlust kein Ersatz. Sie bleibt an der Oberfläche, hier w i r d u m Galionsfiguren gestritten, nicht u m Kapitäne. Bürger sollen angezogen werden, die Herrschaftsvoraussetzungen gilt es vorzubereiten, dann hört dieses Persönliche wieder auf. Wenn ein Unterschied gemacht werden kann zwischen Demagogie und Macht — hier ist er greifbar: Die Wahlfiguren sind eigentlich nur Demagogen, mag auch die Demokratie aus der Hoffnung leben, daß sie zugleich Leader-Gestalten sein oder werden können; doch diese Hoffnung hat immer wieder getrogen. Was ist es denn nun u m diesen geheimnisvollen „Persönlichkeitsverlust" des Politischen, den alle beklagen und niemand eigentlich
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definieren kann? I n einem vielleicht w i r d er greifbar: I n i h m beginnt Herrschaft abzugleiten i n Anarchie. b) Persönlichkeitsverlust
als Herrschaftsverlust
Der Apparat ist organisierte Herrschaftsmöglichkeit; i n seiner Dauerhaftigkeit und steigenden Verfeinerung sollte er doch eigentlich jene schwer faßbare, aber allgegenwärtige, ja unentrinnbare Herrschaft bringen, auf die der Gleichheitsstaat denn auch setzt. Doch gerade hier beginnt er besonders deutlich i n Anarchie umzuschlagen, gerade i n den Instrumenten seiner politischen Kraft: Der Apparat ersetzt die Persönlichkeitskraft nicht, er w i r d zur Herrschaftsabschwächung. Da ist zunächst jener politische Kraftverlust, der stets mit dem Zurücktreten der Persönlichkeit hinter den mechanisierten, rationalen Druck droht. Wenn ein „Wille zur Macht" überhaupt etwas Reales hat — dem Apparat muß er fremd sein, von einer Persönlichkeitsbasis kann er nicht getrennt werden, mit all ihren Irrationalitäten, ihrer Bereitschaft für einen Einsatz, auch wenn er rational nicht geboten oder gar sinnlos erscheint; daß aber i n diesem politischen credo quia absurdum etwas ganz wesentlich Politisches ist, hat eben die mechanisierte Mehrparteiendemokratie verlernt. Da ist der Identitätsverlust der Herrschaft mit der Basis: Wo keine Persönlichkeiten mehr tätig sind, mit all ihren Vorteilen und Fehlern, da kann sich der Bürger gerade nicht m i t der Herrschaft identifizieren, was aber doch das Wesen der Demokratie, ihr politisches Grundgefühl ausmachen soll. Die Volksherrschaft begeht hier einen weiteren grundlegenden Fehler: Sie w i l l sich als die rationale, die berechnende, letztlich die perfekte Ordnung; und der Apparat tendiert zur Perfektion, mit dieser Begründung eliminiert er immer weitere Persönlichkeiten, weil das Individuelle eben nicht perfekt sein kann. Ganz abgesehen davon, daß er damit sein Perfektionsziel auch oft noch verfehlt — er verkennt die Herrschaftspsychologie von der Basis her: Der Bürger dort w i l l nicht etwa den öden perfekten Politiker an der Spitze sehen, sondern einen Menschen m i t vielen Fehlern und noch mehr Qualitäten, dies ist der Sinn des ständigen Rufs nach dem „Vollblutpolitiker". Der Demokrat muß sich auch i n die Fehler seiner politischen Führer verlieben können, sich i n ihren menschlichen Mittelmäßigkeiten wiederfinden. A n diesem Problem der politischen Identifizierung scheitern irgendwie alle Apparate, besonders gefährlich jedoch die Unpersönlichkeitsherrschaft der Mehrparteiendemokratie. Durch sie w i l l j a die Partei die Herrschaft heben, an der Basis aber sind, bei allem Gerede über die amorphe Bürgermasse, doch immer Menschen mit all ihrer Unvergleichbarkeit; und die Demokratie hatte sich j a gerade das hohe 12 Leisner
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V
Das Mehrparteiensystem
Ziel gesetzt, sie i n dieser freiheitlichen Individualität, mit deren Kräften, über die Parteien i n die Macht zu führen. Da ist schließlich der starke, Effizienzverlust, der erfahrungsgemäß immer dort droht, wo nicht mehr „angeeignete Herrschaft" ausgeübt wird, weil,dann ja eine Entfesselung von allen Kontrollen stattfindet. So w i r d denn der Apparat zugleich auch noch das machtmäßig Unkontrollierbare, viel Möglichkeit und wenig Verwirklichung; nicht nur die Räteregime zeigen es. Die Parteien werden durch diese Entpersönlichung deshalb besonders, i n ihrer Grundidee selbst, getroffen, weil ihre Legitimation gerade darin liegt, daß hier „noch wenig Apparat" wirksam sein sollte. Sie werden ja verstanden und gebildet als erste Versammlungsräume jener Bürger, welche aus dem Naturzustand der Herrschaftslosigkeit zur geordneten Macht geführt werden. Gerade i n diesem Augenblick aber sollte ihnen noch sehr viel mehr von jener „Natürlichkeit" erhalten bleiben, welche das Individuum nicht bereits durch Herrschaftsstrukturen rationalisiert. Das Gegenteil aber geschieht i m Sieg der Apparate: Typisch staatliche Herrschaftsstrukturen werden durch die Parteiapparate i n den gesellschaftlichen Bereich hinein vor- und i n die Basis hinunter verlegt, die parteipolitische Durchorganisation des Volkes ist nichts als eine Vorverherrschaftliçhung, bevor die eigentliche staatliche Gewalt einsetzt. Darin verfällt die Demokratie einer großen Illusion, daß sie glaubt, dies alles nun als Formen „natürlicher Ordnung" dem Bürger präsentieren zü können, der aus dem Bereich der grundsätzlichen Ordnungslosigkeit i n die staatliche Gemeinschaft eingefügt werden soll. I n Wahrheit w i r d er partei- und damit organisationsmüde, noch bevor er dem Staat begegnet ist, nein: weil er i h m bereits i n den Parteien immer deutlicher begegnet. Denn dies ist ja das Wesen dieses Persönlichkeitsverlustes i n den Parteien, dieses Zuges zur Verselbständigung der Apparate, daß die Parteien damit etwas mehr und mehr Staatsähnliches annehmen. Die Parteien sollen die Staatsgewalt tragen, gelingt ihnen dies aber über längere Zeit, so ist die Übernahme von staatlichen Herrschaftsstrukturen und, mehr noch, Staatsmentalitäten durch sie gar nicht aufzuhalten; es kommt dann eben doch i n diesem Sinn — zu „Staatsparteien", damit aber zum Verlust all jener Freiheitlichkeit, i n der die anarchischen Gefühle i n einer ersten Ordnungsbündelung durch menschliche Persönlichkeitsführung zusammengefaßt und für spätere Herrschaft langsam vorbereitet werden sollten.
5. Entpersönlichung der Herrschaft
c) Partei gegen Staat — anarchisierender
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Herrschaftsantagonismus
So w i r k t denn die Anarchisierung durch den Persönlichkeitsverlust auf verschiedenen Ebenen, aber i n die gleiche Richtung: durch den Verlust an Identifizierung von Herrschenden und Beherrschten und i m Effizienzverlust der Machtausübung; i n der zu früh einsetzenden Herrschaft — und Herrschaftsmüdigkeit, die sich dann von den Parteien auf den Staat überträgt, ein ganz gefährliches Phänomen i n der Demokratie; und nicht zuletzt noch i n neuen Reibungsverlusten zwischen zwei Organisationsformen, welche sich immer mehr angleichen, jedoch nicht völlig zusammenfallen können: Hier ist das Problem „Partei und Staat" angesprochen. I n keiner ihrer Spielarten hat die Demokratie dies bisher bewältigen können, das Nebeneinander immer mehr staatsgleicher Parteiorganisationen und parteigetragener Staatsorganisation. Da werden dann Staatsämter verwaltet mit der Unbekümmertheit der Parteipolitik, und umgekehrt w i r d mit der legalistischen Pedanterie der rechtsstaatlichen Verwaltung das lebendige Spiel der politischen Kräfte i n den Parteien lahm gelegt. I m Rätestaat ist einfach eine Herrschaftsverdoppelung erfolgt, i n der sich aber selbst diese so harte Befehlsordnung i m Ergebnis immer wieder abschwächt. I m Mehrparteiensystem vervielfältigen sich diese Spannungen, i n ständigen Fensterstürzen der Staatsmächtigen aus den Parteien heraus, i n der Sklerosierung der Parteiapparate oder gar i n den undemokratischen Versuchen, Staatsgewalt für Parteipolitik einzusetzen — und den heftigen Abwehrreaktionen der Gegner. Hier w i r d wirklich Herrschaftsmißtrauen systematisch gezüchtet, es findet bereits organisatorische Träger i n den „Nebenregierungen", den Parteiapparaten — wenn nicht der Regierungsapparat zur Nebenregierung wird, worin sich dann erst recht Abschwächung der Herrschaftsgewalt ausdrückt. Denn welche Mächtigen wären es denn, i n den Augen des Bürgers, die i n solcher Bindung zu „staatsfernen", „gesellschaftlichen" Organisationen und deren Apparaten stehen dürften? Der ganze Widerstand des herrschaftsbewußten, nach Ordnung sich sehnenden Bürgers gegen die Mehrparteienherrschaft kommt doch i m letzten daraus, daß es gar nicht mehr „sein Staat" sei, der i h n hier beherrschen wolle, sondern eine wenig durchsichtige Organisation, die vielleicht i m letzten auch nurmehr seine politischen Gegner vertritt. Gegen den Staatsapparat als solchen mag schon Mißtrauen bestehen, die Parteien sollten hier eigentlich die lebendige Persönlichkeitslegitimation einbringen; wenn sie nichts anderes zu bieten haben als „noch einen Apparat", der nur noch weniger kontrollierbar ist, muß sich da nicht die Herrschafts12*
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V I . Das Mehrparteiensystem
ablehnung verschärfen, gerade wenn diese Herrschaft als solche nicht einmal überzeugend ist? Doch letztlich liegen die Anarchiegefahren des Persönlichkeitsverlustes noch weit tiefer: Wenn Ordnung etwas wie einen Befehl i m letzten verlangt, der beugen w i l l , dem man sich beugt, so muß wohl etwas von einem Persönlichkeitsbezug erhalten bleiben, weil die Persönlichkeit m i t ihrer unauswechselbaren, individuellen politischen Kraft eben doch auch anerkannt wird, und sie allein. Der Apparat mag laufen, soweit er die eigenen Interessen des Bürgers bedient; doch u m des Apparats w i l l e n w i r d dieser nicht gerne Ordnungsopfer bringen. Die rechtsstaatliche Demokratie kann sich ihre Legalapparate leisten, ihre Ämter und Gerichte, ihre Parlamente und Normen — aber nur solange, wie die lebendige Befehlskraft aus den Parteipersönlichkeiten i n diese Ordnung überzeugend einfließt. Und w e i l dies nicht genug und immer weniger geschieht, breiten sich so viele Auflösungserscheinungen aus, ist die Volksherrschaft immer weniger fähig, w i r k l i c h zu ordnen — vom Streik bis zur Demonstration, vom anarchisierenden Unterricht bis zur anarchisierten Familie. So weist gerade das Mehrparteiensystem, das Kernstück der freiheitlichen Demokratie, über sich selbst hinaus, i n seinem Hauptdefekt, i m Persönlichkeitsverlust: Nur dort kann wieder Herrschaft befestigt werden, wo stärkere Persönlichkeiten Legitimation und Aktionsraum finden. Und deshalb mag es ein letztes Schicksal der Spätdemokratie sein, daß sie i n die Persönlichkeitsgewalt flieht, dort ihre neue Herrschaft suchen w i l l — und sie vielleicht auch dort nicht mehr finden kann.
V I I . Der Machtwechsel — Grundprinzip der Demokratie und Ausdrucksform institutionalisierter Anarchie 1. Ständiger Machtwechsel — ein Demokratieprinzip a) Machtwechsel als Institution Für alle politischen Regime ist der Machtwechsel ein Schicksal, für die Demokratie ist er eine Notwendigkeit, für die Spätdemokratie ein Weg i n die Anarchie. I n Monarchien, i n autoritären Regimen fällt der Machtwechsel besonders i n die Augen, hier scheint die Kontinuität i n gefährlicher Weise gebrochen; die Demokratie w i r d gerade als eine Form der Verstetigung des Machtwechsels gepriesen, hebt sie i h n i m letzten nicht sogar auf? Gelingt es ihr damit nicht, eine besonders gefährliche Einbruchsstelle der Anarchie i n die organisierte politische Gewalt zu beseitigen? Denn daß politische Machtwechsel größeren Stiles stets nicht nur Gelegenheit zu anarchischen Ausbrüchen gewesen sind, sondern zugleich immer auch anarchisches Denken auf Dauer verstärken konnten, das bedarf hier keines Beleges. Gesetz und Ordnung sind ja etwas, das ständig existieren muß, weil ihre Formen sonst zu w i l l k ü r l i c h erscheinenden Befehlen degenerieren, gegen die erst recht anarchischer Widerstand einsetzt. Wer einmal die Stunde N u l l der Gewalt erlebt hat, i m Zusammenbrechen aller Ordnungen, wie dies i m Deutschland von 1945 der Fall war, der hat ein Gefühl gewonnen für die wahrhaft berauschende Bindungslosigkeit eines Augenblicks, für die Urkraft der Anarchie — selbst wenn diese dann sogleich i n neue stärkere Besatzungsherrschaft umschlug. Diese Kräfte wirken weiter, irgendwie herrschaftsabschwächend auf Dauer. Wer Anarchie wirklich gesehen hat, kann vielleicht niemals mehr ein ganz ungebrochenes Verhältnis zur Herrschaft gewinnen. Der Demokratie steht das Herz nicht still wie dem Monarchen, doch sie hat das laufende, das notwendige Herzversagen des politischen Organismus gebracht. Es w i r d sich zeigen, daß darin weit mehr Herrschaftsauflösung liegt, als i n jenem Herrschaftsstillstand, der bei autoritären Regimen zwar total sein kann, aber immer unvorhersehbar bleibt, damit nicht i n gleicher Weise voraus- und nachwirkt. Etwas wie
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V I I . Der Machtwechsel
eine force majeure muß jede Ordnung hinnehmen, sie kann sie einbauen, wenn sie nur selten auftritt; so ist es mit dem Tode des Monarchen. Demokratische Herrschaftswechsel dagegen sind etwas anderes, hier erscheint „die Ordnung vom Stillstand umgeben", hier ist nichts mehr von der gelegentlichen Sintflut, die auch wieder mächtig Ordnung schaffend wirken kann, hier ist wirklich etwas wie „Anarchie als Staatsform". Die demokratische Herrschaft ist voll auf Machtwechsel ausgerichtet. Ohne ihn hat ihre politische Freiheit keinen eigentlichen Sinn, vor allem nicht eine Meinungsfreiheit, welche das Neue bringen soll; nur durch Wachablösung ist jene belebende Fluktuation von der Basis i n die Herrschaft vorstellbar, ohne welche Volksherrschaft ein Wort bleibt. Eigentliche, laufende Macht kann ja vom Volk nie ausgehen; „alle Macht geht vom Volke aus" — das kann doch nur heißen: aller Wechsel der Macht. Und dies nun ist das typisch Demokratische: Der Machtwechsel kann nicht nur, er soll stattfinden; und es genügt nicht, wenn er zu allen heiligen Zeiten eintritt, Volksherrschaft verlangt, der Idee nach jedenfalls, den dauernden Machtwechsel. b) Tatsächliche, nicht nur mögliche Wachablösung Davon allerdings w i l l die Demokratie wenig hören; sie sieht sich auch bestätigt dort, wo jahrzehntelang, wie i n Schweden, die gleiche Mehrheit in die gleiche Richtung regiert; genügt ihr nicht doch die jederzeitige Möglichkeit, ersetzt sie nicht sogar die Aktualität der Machtverschiebung? Doch Schweden ist eben gerade kein demokratisches Beispiel; die Jahrzehntemehrheiten i n der Bundesrepublik werden eher zum demokratischen Problem. Nicht nur, daß sich Herrschaftsverkrustungen einstellen bis h i n zur Korruption, daß Phantasielosigkeit den bürokratisierten Apparat beherrscht — die Dauermehrheit schließt eben i m Grunde doch den wirklichen Machtwechsel aus: Was dann sich ändern kann, sind nurmehr Galionsfiguren, welche aber die Jahrzehntepolitik ihrer Vorgänger fortzusetzen haben, sie auf den Beamtenbeton nur noch fester schrauben, den ihnen das Dauererbe überlassen hat. Es bleibt also doch eine Frage, die viel diskutiert, aber nur selten vertieft wird: Wie hält es die Demokratie mit der Periodizität des Macht wechseis; ist sie nicht doch begriffsnotwendig für diese Herrschaftsform, und zwar i n engeren zeitlichen Grenzen? Eine Möglichkeit zum Machtwechsel, die man immer wieder vorübergehen läßt, bringt keine Veränderung; und die Problematik liegt ja auch darin, ob nicht
1. Ständiger Machtwechsel — ein Demokratieprinzip
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in dem Wechsel der Herrschenden an sich, u m jeden Preis, etwas Gutes sei, ob sie nicht einfach ausgewechselt werden — müssen. Wiederwahlverbote für südamerikanische Präsidenten fallen leicht der demokratischen Ironie zum Opfer — sehr zu Unrecht, nimmt man die Volksherrschaft vom Grundsätzlichen her ernst. I n ihnen kommt doch die durchaus demokratische Überzeugung von der Notwendigkeit eines Machtwechsels zum Ausdruck. Ist es denn nicht unlogisch, die Bestätigung der Güte einer Politik durch Wiederherstellung derselben Mehrheit genügen zu lassen, weil eben die Opposition „ihre Chance gehabt habe"? Selbst wenn dies zutreffen sollte — hat die Bürgerschaft nicht nur gezeigt, daß diese Politik gut war, ist denn darüber entschieden, ob eine Gruppierung es nicht noch besser machen könnte, der aber gerade diese Chance nicht gegeben wurde? Hiër liegt doch i m Begriff der „Chance" eine unverzeihliche Zweideutigkeit: Eine Regierungschance hat nur, wer an die Regierung gekommen ist. Auf dieser letztlich unlogischen Grundlage beruht die gesamte Machtwechseltheorie, welche aus dem angelsächsischen Bereich übernommen worden ist; sie ist nicht durchdacht und nur Ausdruck eines machtpolitischen Experimentierens. Mehr noch: Eigentlich w i r d hier nur eine Chance eingeräumt: die der Demagogie, der Werbung ohne Beweis. Dies bedeutet: Jenes Grundprinzip, das die Demokratie leiten und auch weithin legitimieren sollte, ist nicht rational vollziehbar. Die ganze Staatsform ist auf den Machtwechsel ausgerichtet, vermag jedoch nicht zu bestimmen, wann und wie oft er eigentlich, optimal, stattfinden sollte — und i n der Praxis versucht sie, aus Angst vor politischer Schwäche, ihn möglichst selten ablaufen zu lassen. Konsequent wäre nur eine Lösung: die der Römischen Republik, mit dem jährlichen, notwendigen Machtwechsel aller Potentaten, verbunden noch mit dem Wiederwahlverbot. Keine der neueren Demokratien versucht auch nur eine Annäherung an dieses Ideal, alle streben sie von i h m weg. Hat man eigentlich einmal bedacht, was es für diese angeblich so rationale Staatsform bedeutet, daß sie auf der vollen Irrationalität des nicht näher bestimmbaren Machtwechsels aufruht?, Wenn sie nicht überzeugend ordnen kann, was sie doch halten soll,, wenn diese „Ordnungsöffnung zur Anarchie" so unbestimmt ist — w i r d dann nicht die „ganze Anarchie" durch diese Bresche eindringen? Und die Volksherrschaft weist ja nicht n u r an der Spitze, i n der parlamentarisch verantwortlichen Regierung, dieses Ordnungsdefizit auf, daß niemand bestimmt, wieviel Machtwechsel eigentlich, „optimal"
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V I I . Der Machtwechsel
sein sollte, niemand hier die doch so notwendige Ordnung versucht; auf allen Stufen der Demokratie, i n allen Autonomien und Gremien stellt sich ja diese selbe Frage, und sie bleibt ebenso überall grundsätzlich ungelöst. Das alles aber spielt sich ab vor dem Hintergrund der Gegenstaatsform der Räte, welche konsequent den Machtwechsel ablehnt — und sogleich i n Freiheitsverlust endet. Wieviel Überzeugungskraft haben eigentlich die „freiheitlichen" Demokratien, wenn sie sich zum Machtwechsel nicht grundsätzlich ordnend äußern können? Menschenrechte aber ohne organisierte Wachablösung bleiben leer, und hier liegen auch die Grenzen der neueren Menschenrechtspropaganda gegenüber den sozialistischen Regimen: Nur i m Machtwechsel würden sie zu westlicher Freiheit finden können. So muß denn hier eine Frage deutlich gestellt werden: Ist die freiheitliche Demokratie nicht schon darin eine „anarchische Staatsform", daß sie ihren eigenen, ihren eigentlichen Machtrhythmus nicht ordnen kann, den des Machtwechsels? Wenn er selbst, dieser Machtwechsel, bereits ganz wesentlich Anarchie ist, wie sich i m folgenden zeigen wird, wenn er aber auch noch ungeordnet erfolgt — ist dann i n dieser Staatsform nicht etwas wie eine Anarchie i n höherer Potenz?
2. Machtwechsel — die große Anarchiestunde der Demokratie Die Volksherrschaft, welche aus dem Machtwechsel lebt, hat m i t i h m an der Spitze der Demokratie eine staatsbegründende Stunde der Anarchie institutionalisiert. Dies ist nicht nur eine Unterbrechung der Herrschaft, es ist ein legitimierendes Atemholen i n einem „Zurück i n die anarchischen Untergründe dieser Staatsform". I m Augenblick des versuchten oder realisierten Machtwechsels ist i m Staate eine A r t der Anarchie, sie w i r k t vor und sie w i r k t weiter. a) Das Stillstehen
aller Gewalt
Das Ende eines Königs, eines Diktators kann eine Wachablösung bedeuten, sie w i r d jedoch hier nicht systematisch, periodisch versucht, liegt nicht i m System. I n den Machtwechselversuchen oder -Wirklichkeiten der Demokratie aber steht das Herz des Staates oft und periodisch stille. Geschäftsführende Regierungskomparsen mögen weiter dienen, sie können nur verwalten, die politische Regierung hört auf. Nirgends vielleicht kann man deutlicher den Unterschied zwischen Verwalten und Herrschen bestimmen. Und dies ist nicht nur ein logischer Augenblick, i n Wahlvorbereitung, Wahl- und Regierungsbildung ziehen sich die legitimierenden Stunden der Demokratie über Wochen, j a Monate hin.
2. Machtwechsel — die große Anarchiestunde der Demokratie
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Tage des möglichen Machtwechsels sind die eigentliche hohe Zeit der Demokratie, ihre Hochzeit von Doge und Meer, von Herrschaft und Volk. Auf diese Zeit hin, für sie arbeitet der ganze Staat, ja die ganze Staatsform, aus ihr zieht sie später legitimierende Kraft. Diese Stunde N u l l der Demokratie ist ein geplanter historischer Augenblick, hier w i r d Geschichte vorherbestimmt — i n Anarchie. Es gehört zu den beeindruckenden Akten der Volksherrschaft, wenn i n diesen Stunden, i n der Wahlnacht, mit einem Mal etwas wie der große unsichtbare Souverän sich zeigt, umgeben von dem mächtigen Theater der Medien. Diese Augenblicke, i n denen die Herrschaft aus der NichtHerrschaft heraustritt, wirken charismatisch, tragen über sich hinaus, sie sind vergleichbar mit der Krönung und Weihe des Königs, dem ja ebenfalls seine Gewalt originär von oben kommt. Hier t r i t t die Volksgewalt wie aus dem Nichts der zahllosen machtlosen Bürger hervor, die normative Kraft des Faktischen w i r d sichtbar. Die Legitimation der Demokratie liegt nur hier, i n diesem Machtbeginn „aus der Anarchie heraus", was dann folgt, sind i m Grunde nurmehr Abläufe. Hier w i r d der gewinnenden Partei der ganz große Staatskredit eingeräumt, der über Jahre hinaus halten muß, vielleicht weit noch über Legislaturperioden hinaus genügt; denn m i t einem Wahlsieg w i r d dem Gewinnenden jene Regierungsfähigkeit bescheinigt oder bestätigt, die eine A r t von „Herrschaft dem Grunde nach" darstellt, möglicherweise für eine viel längere Periode. Jede Herrschaft kennt, i n irgendeiner Form, die Majestät dieser legitimierenden Stunde. Sogar Machtbestätigung w i l l da noch irgendwie eine Form des Machtwechsels sein. Doch i m Machtwechsel der Demokratie liegt mehr als ein Übergang aus einer Stunde der NichtGewalt i n die neue Herrschaft, der demokratische Machtwechsel trägt in besonderer Weise die Zeichen der Anarchie an sich, auf welcher die Volksherrschaft aufruht, die sie immer legitimierend begleitet. Dies zeigt sich allein schon darin: Nur i n der Volksherrschaft, mit ihrem Wahl-Machtwechsel, bedeutet dieser Vorgang nicht notwendig den Beginn einer neuen Herrschaft: Es kann ja auch die bisher „regierungsfähige" Macht eben i n diesem Wahlakt zerfallen, sich entscheidend abschwächen, bis zu lang dauernder, stagnierender Unregierbarkeit. I n der Demokratie ist der Wechsel wichtig, nicht die neue Macht. Aus jedem versuchten Machtwechsel führen ja zwei Wege i n die Zukunft: Der eine i n eine neue oder fortgesetzte Herrschaft, der andere i n das herrschaftliche Nichts einer Demokratie, die sich zu Tode wählt, immer mehr in die Anarchie hinein. Die eigentliche, große Souveränität des Bürgers i n der Wahl liegt nicht i n der Auswahl zwischen verschiedenen Herrschaftsalternativen, sondern vor allem i n der Wahl zwischen
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V I I . Der Machtwechsel
Herrschaft und Nicht-Herrschaft, Regierungsfähigkeit und Unregierbarkeit; und wie oft hat sich der Bürger nicht für das letztere entschieden . . . Noch in einem anderen zeigt der Machtwechsel die Anarchie als die eigentliche Demokratiegrundlegung, mit ganz praktischen, politisch schwerwiegenden Folgen: Jede andere, „neue" Gewalt, die eines Königs, einer Oligarchie, eines Diktators, ist i m Augenblick ihrer Einsetzung grundsätzlich schwächer als i n ihrer späteren Regierungszeit, i n der sie sich dann festigen kann. Irgendwie hat sie immer etwas von einer Investitur auf Probe an sich. Sie zieht ja ihre eigentliche Legitimation aus der Fortsetzung der früheren, der gebrochenen oder verstorbenen Macht. Ganz anders die neue demokratische Regierung: Nie hat sie so viel Kraft, so hohe Legitimation wie i n dem Augenblick, in welchem sie das erste Mal ins Rampenlicht t r i t t , bestätigt oder neu. Warum? Zum Greifen nahe ist ihr noch jene Anarchie, aus der sie herausgewachsen ist, die sie i m Machtwechsel geschaffen hat. Demokratische Macht kommt letztlich nur aus dem Brechen früherer Macht, so ist sie i n den antimonarchischen Revolutionen entstanden, dies trägt sie als Erbe und Schicksal mit sich; sie kann nur leben i m Töten der früheren Gewalt. I n der Demokratie verschlingt die Anarchie stets von neuem ihre Kinder, w i l l sie ein neues gebären — und dies gelingt nicht immer. Wer die demokratischen Wahlen als einen einfachen Organisationsvorgang der Volksherrschaft begreift, hat nichts von der Weihe und Majestät dieser Entscheidung begriffen. Irgend etwas von einem „es hört alles auf" oder „es könnte alles aufhören" fühlt hier jeder sensible politische Beobachter. Dies gerade erregt den Bürger und erhält die Staatsform — aber eben darin, daß hier die Anarchie immer wieder und ganz unmittelbar zum Produktionsfaktor aller Macht wird. I n der Demokratie sind die Stunden der Ordnung stets gezählt, die der Unordnung nie. Sie ist die eigentliche Staatsgrundlage; sollte man dies nicht als eine „Staatsform der Anarchie" bezeichnen dürfen, wenn Anarchie nicht nur die letzte Grundlage aller Gewalt ist, wenn diese sich vielmehr u m so stärker zeigt, je näher sie der Anarchie noch steht? b) Die anarchisierenden
Vorwirkungen
des Machtwechsels
Doch das Herz der Demokratie steht nicht nur eine Stunde still, nicht nur einen Tag i m stets wiederholten Versuch des Machtwechsels. Er w i r k t lange herzlähmend voraus; je näher der Wahltag rückt, desto mehr verdünnt sich die Herrschaft der bisher Mächtigen, bis sie am Tage der Entscheidung auf N u l l gesunken ist.
2. Machtwechsel — die große Anarchiestunde der Demokratie
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Irgendwie ist dies dem Bürger ganz praktisch bewußt, wenn er davon ausgeht, bei seinen Anträgen und Hoffnungen an die Staatsgewalt, daß einige Monate vor der Wahl noch möglichst rasch alles erreicht werden muß — vor der Sintflut — oder, noch häufiger, daß i n dieser Zeit schon kaum mehr etwas an wirklicher Herrschaft möglich ist. Die Demokraten haben sich wie selbstverständlich daran gewöhnt, daß es vor großen Wahlen zu zeitlich begrenzten Partialanarchien kommt. I n den Vereinigten Staaten pflegt man sich für ein Viertel der gesamten Herrschaftszeit auf derartige Machtverdünnung einzustellen. I n der Bundesrepublik Deutschland kommt hinzu noch eine zweite Erscheinung: die laufenden Herrschaftsverdünnungen i n den Landtagswahlen, welche die Mehrheitsverhältnisse i m Bundesrat verändern können und damit Unregierbarkeit, ja Machtwechsel, jedenfalls aber Anarchieformen hervorbringen könnten. Alle westeuropäischen Demokratien stehen i n dieser Entwicklung: Sie kennen Nachwahlen wie i n Großbritannien, politische Testverfahren über Kommunal- und Regionalwahlen i n Frankreich und Italien, Länderwahlen i n Deutschland. Überall ist die Wirkung gleich oder doch vergleichbar: Die Zentralgewalt schaut immer mehr und eigentlich ständig auf die sich häufenden Stunden Null, welche einen Machtwechsel bringen oder doch voraussagen. Für Demokraten liegt darin ein Freiheitsgewinn, i n der ständigen Verunsicherung einer Zentralgewalt, die sich jedes Jahr bestätigen muß. Doch i n einer Periode, die immer mehr und längere Planungszeiten verlangt, kann diese Form der Verunsicherung nur machtstörend, ja geradezu anarchisierend wirken. Die Erscheinungsformen der machtabschwächenden, ja anarchisierenden Vorauswirkungen künftig möglicher Machtwechsel sind Legion. Da ist zunächst die Wahlkampagne selbst: Während ihr w i r d eigentlich gar nicht mehr geherrscht, sondern nurmehr geworben, versprochen. Doch eine versprochene Herrschaft ist keine reale Macht; zwar fehlt noch eine überzeugende Theorie des „Herrschaftsversprechens", doch soviel immerhin ist klar: I n der Ankündigung, i m Programm steigt die Macht von ihrem Podest. Minister und Kanzler legen Wert darauf, als Parteiführer zu sprechen, ohne staatliche Gewalt. Hier bleibt dem Staat von der Macht nurmehr das — Prestige; es ist sehr viel, aber allein überwindet es noch nicht die anarchischen Grundströmungen dieser Monate. Zwar hat der „Staat als Versprechung" eine lange Tradition, seit dem römischen Kaiserreich ist doch so oft und lange nur mit Hoffnungen dirigiert worden; doch wer solche Perioden politisch wach erlebt, der fühlt, wieviel hier Unrealisiertes ist, wieviel Erwartetes, Unwirkliches. Man hat der Anarchie stets den Vorwurf gemacht, sie lebe allein von Erwartungen; hier zumindest tut es ihr die Demokratie gleich.
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V I I . Der Machtwechsel
Da ist ferner, und jenseits aller Wahlversprechen, eine merkwürdige „Ruhe der Macht" vor dem Sturm der Wahlen. Selbst dort, wo noch gehandelt werden kann, wo regiert werden sollte, w i r d der geschickte Demokrat nur zu häufig das Nichtstun wählen, denn wer schläft, sündigt nicht, nach alter kirchlicher Weisheit. I n dieser Zeit t r i t t die Macht von Bund, Ländern und Gemeinden i n einen eigentümlichen Halbschlaf ein, als wenn sich hier erweisen sollte, daß für demokratische Macht Nicht-Sein besser sein kann als ein Sein, das über Fehler zum totalen Machtverlust führt. Und hier ist letztlich nur die Spitze eines Eisbergs: Ist es denn nicht so, daß es i m Wesen dieser Staatsform liegt, daß das gefährliche Herrschen schlechter ist als die ungefährliche, bewahrende Machtruhe? Nur — ist sie etwas anderes als eine Vorstufe der Anarchie, oder gar laufende Nicht-Herrschaft? I n den Vorzeiten der Wahlen pflegen die Bewerber nur zu oft etwas abzugeben, was man als Form eines „Anarchieversprechens" bezeichnen könnte: W i r werden nichts, nicht allzuviel ändern, dies und jenes nicht unternehmen, denn unsere Herrschaft ist dem Bürger ja nicht gefährlich, nie w i r d sie lastend sein und so weiter und so fort. I m Grunde bedeutet dies: „Wählt uns, w i r werden nicht allzusehr herrschen". Die „Angst vor Experimenten", ein typisches Zeichen der Spätdemokratie, treibt die Herrschaftsbewerber i n solche Formen eines „negativen Wahlkampfes" m i t Untätigkeits-Wahlversprechen, und sie sind, bei näherem Zusehen, heute schon häufiger als man annehmen möchte. I n der Logik der Volksherrschaft liegen sie dann, wenn das Selbstbewußtsein des Bürgers so weit entwickelt ist, daß i h m seine Repräsentanten vor allem eines bedeuten: Garanten dafür, daß sich nichts ändere. Ob vielleicht die oft gepriesene Kontinuität der Demokratie nicht doch nur Herrschaftsuntätigkeit ist? Das demagogische Wähler-Lob, i n dem sich die späten Demokraten immer mehr überschlagen, ist es nicht auch nur ein Preislied auf die Anarchie? Ernüchternd, beschämend ist es, wie die neuere Wahlpropaganda selbst Beerdigungsreden übertrifft: Der Bürger ist gut, er w i r d jedenfalls richtig wählen, deshalb eben diese oder jene Partei. Die einzige Bescheidenheit, welche i n diesen Zeiten die Parteien noch kennen, ist ja die, daß sie ihre Verdienste dem Bürger zuschieben, der sie bestätigen soll. Doch i n all dem liegt letztlich nur eine tiefe Demagogie h i n auf Anarchie: Der Bürger ist ja an sich schon gut, er bedarf der Macht nicht, u m besser zu werden. Hier versagt sich die Demokratie selbst die große Legitimation aus der Paideia, aus der Erziehung zum Höheren. Hoch ist nur eines, der Naturzustand des Bürgers, aus dem heraus er wählen und bestätigen soll — letztlich also wiederum die Anarchie, das, was eigentlich am besten keiner Herrschaft bedürfte.
2. Machtwechsel — die große Anarchiestunde der Demokratie
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Diese und andere Anarchie-Grundstimmungen w i r d jedermann aus dem politisch-Atmosphärischen der Vor-Wahlzeit bestätigen können. Doch hinzu kommen ganz klare, institutionelle Ausprägungen eines Herrschaftsstillstands vor der Wahl. Da darf die Regierung ihre Erfolge nicht mehr anpreisen, damit nicht durch ihre Öffentlichkeitsarbeit Steuermittel für Parteipropaganda verwendet werden. Da w i r d die Wahlgesetzgebung unabänderlich, auf daß Manipulationen vermieden bleiben. Irgendwie ist es auch demokratisch illegitim, daß die Regierung, welche sich ja nicht loben darf, allzuviel tut, wofür sie sich loben könnte — also erfolgreich herrscht. Zu wenig hat man bisher diese Stillhalteverpflichtungen der demokratischen Regierungen als Formen einer sich verstärkenden Anarchie auf Zeit gesehen; doch i n ihnen liegt so viel davon. I n all dem w i r d der Volkssouverän umworben, nur zu oft umgirrt. K l a r w i r d ihm, wie bedeutend er ist, wie schlecht und prekär dagegen alle Herrschaft, die nun vor seinen Augen über Monate hinweg k r i t i siert, geistig demontiert wird. So bringt denn jede Wahl m i t ihrem möglichen Machtwechsel nur immer mehr Selbstbewußtsein noch beim Bürger hervor — und wie weit ist es von dort zu etwas, was man eben doch Anarchiebereitschaft nennen könnte? c) Die anarchisierenden
Nachwirkungen
des Machtwechsels
Der Logik der Legitimation der Volksherrschaft entspräche es eigentlich, daß die i m Machtwechsel unterbrochene Herrschaft nach ihrer Bestätigung oder Neueinsetzung nun sogleich mit voller Kraft sich durchsetzte, die verlorene Herrschaftszeit der Wahlvorbereitung durch demokratische Machtintensivierung nach der Wahl sofort einzuholen versuchte. Jede siegreiche Ordnung w i r d sicher solches versuchen; doch es liegt i n der Logik des Machtwechsels selbst, daß hier meist praktisch nur eine „Suche nach der verlorenen Zeit" beginnt. I n ihr setzen sich herrschaftsauflösende Kräfte fort — oft solange, bis schon wieder die Vorwirkungen des nächsten Machtwechsels einsetzen. So t r i f f t denn die Demokratie der Machtwechsel i n besonderer Weise herrschaftsabschwächend: Zu seiner Vorbereitung geht viel an Zeit verloren, und i n dem Augenblick, i n dem die große, legitimierende Kraft der Wahl noch ganz nahe ist, kommt es zu den Verzögerungseffekten des „Hineinwachsens i n die neue Herrschaft", die ja eben grundsätzlich als eine neuartige, nicht als Fortsetzung der alten gewollt ist. Gerade i n der Demokratie ist dieses Hineinwachsen i n die neue Macht besonders beschwerlich: Da gilt es zunächst, neue Koalitionen zu bilden, die sogleich nach der Integration des Wahlaktes aufbrechenden
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V I I . Der Machtwechsel
Gegensätze innerhalb der großen Parteien i n der Regierungsbildung und den ersten Aktivitäten der neuen Mehrheit zu überhöhen. Die in der Wahl siegreiche politische Einheit war ja meist nur das Ergebnis der Verschleierung vieler innerer Gegensätze. Sie können nun nicht zu einer Herrschaft ganz neuer rascher Befehle führen — ganz abgesehen davon, daß die komplizierten demokratischen Herrschaftsstrukturen, insbesondere i n der Gesetzgebung, stets längere Vorbereitungs- und Anlaufzeiten benötigen. Gerade wenn der Machtwechsel wirklich eintritt, wenn die bisherige Mehrheit nicht nur bestätigt wird, muß ja diese Machtänderung erst einmal politisch effektiv, i n alle Verästelungen des Systems hineingetragen werden, bevor die technischen Vorbereitungen der neuen Gesetzgebung, der neuen Verwaltungszielsetzung überhaupt anlaufen können. Da gilt es dann, eine Beamtenschaft auf die neue Linie zu führen, ihre Spitzenvertreter, die politischen Beamten, müssen ausgewechselt werden; wenn der Machtwechsel w i r k sam werden soll, so darf gerade hier Kontinuität nicht sein. Die Institution der politischen Beamten, die beim Machtwechsel ausgetauscht werden können, ist oft und mit guten Gründen kritisiert worden — aber eben stets aus anderen, nicht voll demokratischen Staatsvorstellungen heraus: Der Machtwechsel verlangt i n der Tat die Auswechslung aller wirklichen Befehlsträger; zu ihnen aber gehören jene Spitzenbeamten, die doch auch nicht kontinuitätsstärker werden dürfen als ihre politischen Herren, wollen sie ihnen nicht durch ihre Kompetenz allzusehr überlegen sein. Die Demokratie hat übrigens oft große Not, ihren Machtwechsel wirklich ernst zu nehmen, i h n entschlossen auch nach außen zu zeigen. Kaum ist er vollzogen, da w i r d auch schon wieder alles getan, u m ihn, vor allem i n der Außenpolitik, abzuschwächen und die Fortdauer des bisherigen Kurses zu betonen. Voll Mißtrauen blicken ja die ausländischen Partner, aber auch die Wahlbürger, auf jene neue Macht, die sie — überwiegend gewünscht haben. Denn — haben sie i m Grunde nicht etwas anderes gewollt: daß sich zwar etwas bewege, aber doch nicht allzuviel ändere, daß Menschen verschwinden, Lösungen aber bleiben sollten? Dies alles mag kontinuitätswahrend und damit irgendwie auch ordnungserhaltend wirken, doch zugleich schwächt sich darin die Herrschaftsdynamik der Demokratie ganz entscheidend ab, weil sie eben ihren neuen Schwung, ihre Wahl-Legitimation nicht eigentlich nutzen kann. Damit kommt es dann zur Machtverzögerung; jene Gewalt, die aus der Anarchie herausgewachsen ist, braucht oft allzuviel Zeit, u m zu wirklicher Herrschaft zu werden — obwohl sie doch i n der Demokratie von der ersten Stunde an, gerade i n ihr, eine solche hätte sein sollen.
3. Die „neue Herrschaft" als Gegenmacht
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Die ganze Mechanik des Machtwechsels zeigt also eines: I n der Demokratie w i r d die Herrschaft nicht fortgesetzt, sondern i m Machtwechsel wirklich neu begründet, deshalb schwächen sich die Regierungsmöglichkeiten auf die Wahl zu ab und sie wachsen nur langsam wieder aus der Wahl heraus. Eigentlich ist dies ja auch ganz selbstverständlich, denn i n der echten Demokratie w i r d die Macht hier neu geboren, nicht von der früheren Herrschaft der Gegner abgeleitet. Die Legalität, das Weiterleben der Herrschaft, ist eine rein rechtliche Fiktion, i n der Wirklichkeit „ist jede Mehrheit unmittelbar zum Bürger", damit aber i m Grunde — zur Anarchie. Man mag sich fragen, ob die Demokratie hier den Einsatz einer Idee versucht, die oft eine eigenartige Kontinuität geschaffen hat: einer Renaissance, i n der, nach langer Unterbrechung, das Alte wieder neu geboren wird. Doch i m Grunde ist diese Staatsform auch Renaissancefeindlich: Wer nach längerer Zeit an die Macht zurückkehrt, kann die alte Gewalt nicht einfach fortsetzen, als ob es Zwischenglieder nie gegeben hätte; und i n diesem Sinne war der Versuch eines de Gaulle, nach der Unterbrechung durch das Pétain-Regime, die demokratische Legalität der Dritten französischen Republik durch Annullierung aller zwischenzeitlichen A k t e einfach fortzusetzen, gewiß nicht demokratisch gedacht. I m letzten nimmt die Volksherrschaft den Machtwechsel, und damit sich selbst, auch i n ihren Institutionen ernst, wenigstens i m Parlamentarismus: Nur ihre Staatsoberhäupter, denen immer etwas von früheren Zylinder-Präsidenten bleiben wird, sie sollen die Kontinuität halten — deshalb sind sie auch politisch so schwach. Das Fazit ist deutlich: Die Herrschaftsunterbrechung i m Machtwechsel dauert viel länger als man gemeinhin annimmt, sie greift viel tiefer als es erscheint, und überall werden zwischen diesen Machtabschwächungen Phänomene der Anarchie sichtbar. 3. Die „neue Herrschaft" als Gegenmacht, als anarchisierende Antithese Wenn es nun aber, nach allen Machtabschwächungen und -Unterbrechungen, wirklich zur neuen Gewalt gekommen, wenn die neue Mehrheit nicht nur regierungsfähig, sondern regierungsmächtig geworden ist, dann t r i t t diese „Wechselgewalt" als echte Antithese auf; darunter aber leidet — nähere Analyse zeigt dies deutlich — die Idee der Herrschaft selbst, nicht nur die ihrer Kontinuität; gerade darin entfalten sich weitere anarchisierende Grundstimmungen; und auch sie setzen, i n der laufenden, institutionalisierten K r i t i k , schon weit früher ein.
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a) Gibt es „gegensätzliches Herrschen"? I n der Spätdemokratie gerät eine einfache Wahrheit immer mehr i n Vergessenheit, auf der aber diese Staatsform beruht: daß nach dem Machtwechsel auch andere Politik, und nicht nur Politik von anderen betrieben werden soll. Der Interesseverlust an der Volksherrschaft, der hier ja stets zugleich zur Legitimitätsabschwächung werden muß, kommt nicht zuletzt daraus, daß der Bürger häufig zufrieden sein wird, nicht selten geradezu hofft, daß neue Mehrheiten nicht allzuviel verändern. Doch irgendwann w i r d er des reinen Persönlichkeits-Wechselspiels doch auch wieder überdrüssig. Soviel Macht haben eben einzelne Persönlichkeiten i n der Demokratie gar nicht — es soll ja auch nicht sein — daß ihre Auswechslung allein etwas bedeuten könnte; und die steigende K r i t i k daran, daß über allem Machtwechsel doch das „System" erhalten bleibe und immer schlechter werde, das alles beweist die Notwendigkeit der „neuen Politik", die ja allein der Idee des Machtwechsels entspricht. Doch dies muß nun deutlich betont werden: Es müßte eine antithetische Politik sein, damit der Machtwechsel sinnvoll sei; hier aber wäre einmal vertieft darüber nachzudenken, ob es etwas wie eine „Gegenherrschaft" überhaupt geben kann. Die Demokratie steht vor einem Dilemma: Entweder sie verliert an Legitimation, weil trotz Machtwechsels die alte Politik fortgesetzt w i r d — oder sie w i l l eine „Gegenpolitik" hervorbringen, dann muß dies ernst genommen werden, soll nicht auch hier nur politischer Schein entstehen. Man kann sich also nicht damit beruhigen, daß es „ i n der Praxis eben doch kontinuierlich weiterlaufe": Gerade wenn dies zutrifft, t r i t t der Legitimationsverlust sogleich ein. Die Frage der Möglichkeit einer „institutionalisierten Gegenherrschaft" bleibt gestellt. Gegenbefehle mag es geben — doch sind Gegenordnungen möglich, immer wieder, alle vier oder fünf Jahre? Das eigentliche Problem ist, ob hier noch der Begriff der „Ordnung" ernst genommen werden kann, die doch die neue Mehrheit aufnehmen und fortsetzen soll. Wie immer man den Ordnungsbegriff i m staatlichen Bereich verstehen w i l l , i n i h m steckt ein Richtigkeits-, ein Kontinuitäts-, ein Unbedingtheitsanspruch. Dies soll ein Raum sein, außerhalb dessen nichts ist als eben — Unordnung. Dann aber gilt es, hier weiterzufragen: ob es eine bedingte Ordnung m i t absehbarem Ende geben kann, ob hier nicht schon ein Gegensatz zur innersten Ordnungsidee liegt. b) Laufende Kritik
— vorweggenommene
Gegenmacht
Vor allem aber geht es gar nicht nur u m die Ordnungsabschwächung durch eine Gegenmacht, die vielleicht einmal kommt oder schon in
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Sicht ist; die „Gegenordnung" ist schon gegenwärtig i n der laufenden, institutionalisierten K r i t i k , sie ist die vorweggenommene, geistig bereits „koexistierende" Gegenordnung. Dann aber fragt es sich, ob es der Ordnungsbegriff, besser: die Ordnungsidee aushalten kann, daß sie laufend, i m Grunde ununterbrochen, bekämpft, kritisiert, systematisch i n Frage gestellt wird, von einer Opposition, die als „Organ der Gegenmacht" auftritt — und dann, an die Macht gekommen, endlich diese kritisierte, oft verhaßte Ordnung doch sogleich beseitigen muß! Machtwechsel mag ein schönes Wort sein; doch bedeutet er nicht Ordnungszerstörung des Früheren? Vielleicht ist heute noch gar nicht der Zustand erreicht, i n dem voll sichtbar würde, wieviel dem Ordnungsbegriff von seiner Verbindlichkeit durch diese laufende Infragestellung, i n einer Staatsform der „dissenting votes", ständig verlorengeht. Vom Bürger w i r d der volle Einsatz für den Staat verlangt, das heißt aber, aus seiner oft recht einfachen Sicht, für den Staat, so wie er sich konkret, mit all seinen heutigen Herrschenden, mit all seiner Ordnung darstellt; doch gerade von diesem Staat fällt, i n laufender K r i t i k , nicht nur alle Romantik ab, alles, was man überirdische Legitimation nennen könnte, es bleibt kaum mehr etwas anderes übrig, als ein kritisch-mathematisches Machtkalkül der gerade gegenwärtigen Herrschaftsmehrheit. I n der Permanenz der K r i t i k , i n den Vorstufen der „Gegenmacht", schwächt sich die Verbindlichkeit der Normen, der Ordnungen des Staates laufend ab, weil ja auch stets Alternativen angeboten werden, die vielleicht morgen schon die neue Ordnung sind. Hier versagt auch, bei näherem Zusehen, etwas, worauf die Demokratie mit Recht viel setzt: der „kritische Gehorsam". Befehle, die nicht leichthin und sklavisch akzeptiert, sondern kritisch durchdacht und dann doch befolgt werden, haben i n der Tat andere Überzeugungskraft, wirken länger und tiefer. Doch dies ist i m wesentlichen ein individueller Vorgang, der sich i m einzelnen Bürger, i m Befehlsempfänger abspielt; er mag durch die Existenz einer formierten Dauerkritik erleichtert werden, doch gerade diese geht weit darüber hinaus: Hier w i r d eine virtuelle kritische Gegenmacht errichtet, die stets und zu allem sagt, wie sie es anders und besser nicht nur machen wolle, sondern machen werde. Sie bietet dem Bürger nicht nur Argumente für seinen kritischen Gehorsam, er muß vielmehr ständig damit rechnen, daß die heutige Ordnung unter dem Vorbehalt ihrer Ablösung steht, daß sie nichts von einem Absolutheitsanspruch erheben kann. Darauf w i r d er sich einrichten, damit aber nicht mehr den vertieften Gehorsam üben, sondern eine A r t von eigentümlichem Vorbehalts-Gehorsam. I n i h m schiebt sich etwas von Anarchie i n die Ordnung. 13 Leisner
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c) Macht aus „Verfassungskonsens"? Nun sucht allerdings hier die Volksherrschaft Schutz bei ihrer Verfassung: Aller Machtwechsel soll sich ja i n ihren Formen, i m Konsens ihrer Grundwerte vollziehen, er soll nur stattfinden unter einem „Verfassungsbogen". Sogleich muß aber angemerkt werden, daß dieser recht flexibel und keineswegs stets durch gemeinsame Wertüberzeugungen bestimmt w i r d — wer stark genug ist, t r i t t ebenfalls i n einen solchen Pseudokonsens ein, wie die kommunistische Partei i n Italien; i m internen Bereich wie i n der internationalen Politik kann eben noch immer der Starke Konsens und Koexistenz „auf sich hinbiegen". Doch selbst wenn man hier die großen, leeren Verfassungsformeln ernst nehmen und mit Sinn erfüllen könnte — w i r d man damit den Ordnungsgedanken vor der zersetzenden Kraft der Gegenherrschaft retten, die sich i m Machtwechsel vollendet? Eine Opposition kann die Macht nicht erreichen, wenn sie nicht alles Wichtige, alles real Veränderbare auch ändern w i l l . I n der praktischen Politik besteht jener „Verfassungskonsens, der alles überdauern soll", aber nur über das, was sich eben überhaupt nicht ändern läßt. Was jedoch an einer Ordnung i m gegebenen Augenblick sinnvoll zu kritisieren ist, das muß auch geändert werden, soll der Machtwechsel irgendeinen praktischen Sinn haben. Dies erklärt die heutige politische Praxis, welche die „größeren Änderungen" — Neutralisierungen, Austritte aus Bündnissen, große Schläge gegen das Eigentum und ähnliches mehr — immerhin andeutet, wenn auch vielleicht nicht konkret fordert — ganz zurecht aus der demokratischen Logik heraus; ohne diesen Hintergrund der Bereitschaft zur größeren Änderung hätte es kaum Sinn, aufwendige Wahlschlachten zu führen. Und der Machtwechsel bedeutet eben letztlich, daß alles und jedes i n Frage gestellt werden kann und muß, was die heutige Ordnung trägt; ein Strich zwischen Konsens und Diskutabilität läßt sich i n der praktischen demokratischen Politik überhaupt nicht ziehen, oder er besteht nur aus einer Linie von Formeln. Dann aber h i l f t auch der demokratische Verfassungskonsens nicht über die ordnungszerstörenden Wirkungen des Machtwechsels hinweg. Die Demokratie ist stolz darauf, daß sie jeden Bürger, vor allem den einfachen Mann, i n ihre Herrschaft führt. Gerade er aber begegnet der konkreten Ordnung fast nur i n dem, was ein Machtwechsel ändern soll und ändern wird. Es ist an sich schon eine schwere Frage für die Demokratie, ob jene Bürgermasse, u m die es ihr herrschaftsmäßig geht, überhaupt Kontinuitätsträgerin sein kann, i n ihr ändert sich doch täglich allzu vieles, wenn auch meist unbemerkt. Doch wie soll sie nun auch noch jene Überkomplikationen begreifen können, welche ihr die Demokratie „zum Glauben vorstellt": Die Notwendigkeit des
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Machtwechsels — aber nur bis zu einem gewissen Grade, bis zur Grenze des Verfassungskonsenses; laufende K r i t i k , die aber der konkreten Ordnung nicht schaden soll; den ständigen Angriff auf die Regierenden, die aber doch gut und herrschaftswürdig bleiben sollen. Hier w i r d vom einfachen Mann die Feudal-Noblesse dessen verlangt, der den Gegner zuerst schießen läßt, die Ritterlichkeit des Jagdfliegers, die dem Todfeind hilft. Sind all dies nicht aristokratische Grundstimmungen, kann das von jenem „einfachen Mann" psychologisch erwartet werden, der Für und Wider sieht, beides so ganz? Ist hier die Volksherrschaft nicht eine überkonstruierte Staatsform, deren antithetischen Mechanismen der Bürger zuzeiten erstaunt folgt — bis er i n eine Resignation fällt, i n der i h m scheint, „es sei ja doch alles gleichgültig", und wer wollte leugnen, daß dies immer stärker w i r d i n der Spätdemokratie? Wieviel von der Ordnungsidee i n all diesem institutionalisierten Wechsel noch überbleibt — am besten sieht man es vielleicht i m Niedergang des promissorischen Eides: Was bedeutet heute noch dieses feierliche Versprechen auf den Staatskonsens, welches Beamte ablegen müssen, obwohl sie doch Herren dienen, die alles und jedes verändern wollen, jener Verfassungseid, den die Minister sprechen, immer wieder von neuem, obwohl sie doch gerade ausziehen, u m das abzubauen, was ihre Vorgänger i m Namen eben dieses Eides jahrelang geleistet haben? I n Deutschland hat es eine Generation gegeben, welche vier oder fünf Regimen solche Eide geschworen hat, die sich untereinander heftigst bekämpften; heutige Beamte haben es leichter, die wechselnden Regierungen sollen ja doch das Grundsätzliche stets bestehen lassen. Doch wieviel ist dies denn noch, und schwören nicht nur die Beamten deshalb so leicht, weil sie i m Grunde doch wissen, daß sie nicht nur eine Formel sprechen, sondern sich auch nur zu Formeln bekennen? So ist denn i n der Demokratie i m Grunde doch die Ordnung ein Opfer des Machtwechsels geworden, geblieben ist der wechselnde Befehl; und Josef Goebbels wurde ja das böse Wort zugeschrieben, entscheidend sei nur, daß es ihn gebe, welchen Inhalt immer er auch habe. Sollte dies auch der Demokratie darin nützen können, daß wechselnde Anordnungen der Heiligkeit des Befehls nicht schaden? d) „Widerruf
der Ordnung" — ein
Anarchiephänomen
Gegen all dies w i r d nun der Einwand kommen, es möge sich vielleicht u m Grundstimmungen handeln, doch was werde denn i n Wahrheit schon rückgängig gemacht? Was kommen müsse, sei eben das Neue, eine Ordnung, welche nur veränderten Verhältnissen Rechnung trage, welche angleiche, nicht zerstöre. 13·
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Doch all dies sind nur Worte, die Wirklichkeit ist eine andere: Eine neue demokratische Mehrheit, die sich zu ihrer Legitimation bekennen, diese steigern oder doch forttragen w i l l — sie kann nichts anderes sein als ein Organ der Ordnungsselbstvernichtung. M i t welcher Begründung sollte auch gerade i m Augenblick eines Machtwechsels, der vielleicht erst nach vielen Jahren eintritt, eine „natürliche Angleichungsnotwendigkeit an etwas Neues", just i n dieser Stunde bestehen? Warum gab es sie nicht früher, warum t r i t t sie nicht erst später auf? Man mag die politische Zukunft planen, mit ihr auch den Machtwechsel, doch damit kann man ihn doch nicht legitimieren, daß sich i n i h m nichts anderes vollziehen werde, als etwas, das bereits i n der Entwicklung, soz. außerpolitisch, angebahnt worden sei. Der politische Zufall, i n dem vielleicht zwei oder drei Prozent der Wählerstimmen alles entscheiden, führt zur politischen Dezision, nicht zur technischen Adaptierung an eine neue Zeit. Die Ordnung zerstört sich i m Staat mit ihren eigenen Mitteln und erneuert sich darin, sie w i r d nicht durch irgendwelche neue Entwicklungen automatisch „umgezaubert". Die Verfassung setzt solcher Rückgängigmachung früherer Ordnungen kaum wirkliche Grenzen; Jahrzehnte einer ausgebauten Verfassungsrechtsprechung haben gerade i n Deutschland darüber belehrt. Meist hat sie nur zu einem geführt: daß sich die Änderungstechniken verfeinern mußten, h i n zu noch kleineren Schritten, unter Berücksichtigung eines gewissen Kontinuitätsvertrauens des Bürgers und wie all diese Taktiken sonst noch heißen mögen. Oder sollte vielleicht der früheren, der nunmehr abgelösten Gewalt, etwas wie eine Rahmengesetzgebungskompetenz gegenüber ihrer Nachfolgerin zustehen? I n der Praxis mag dies da und dort eintreten, was übrigens wieder legitimitätsabschwächend für die Demokratie w i r k t ; i m Prinzip ist es i n der Volksherrschaft unannehmbar — die lex posterior t r i t t ganz hart an, das spätere Gesetz verlangt seinen Vorrang, weil sich ohne i h n die neue Macht j a gar nicht legitimieren könnte, und so muß es zur Aufhebung früherer Ordnungen kommen, schon auf daß etwas geschehe, damit der Machtwechsel sich rentiert habe. Nicht ohne eine gewisse demokratische Abscheu muß aufgehoben werden, was früher i m Namen der Demokratie geschaffen wurde. Diese institutionelle Selbstzerstörung mag auch einmal wirklich „neuen Verhältnissen" Rechnung tragen — i m Grunde berücksichtigt sie immer nur eines: daß man über die Verhältnisse nun anders denkt. Damit aber t r i t t hier ganz deutlich eine A r t von „Widersprüchlichkeit der Macht" i n Erscheinung; diese Staatspolitik ist nicht ein Halt i m A u f und A b des Lebens, das jeder Bürger an sich schon erfährt, sie verstärkt es noch, sie w i l l Macht und Legitimation gerade darin bewahren.
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Man hat der Demokratie vorgehalten, sie habe kein Gefühl für Zeit entwickelt, ihre Herrschaftsmethoden seien schnellebig wie die keiner anderen Staatsform. I m Grunde sollte eher das Gegenteil zutreffen: Für die Demokratie müßte ein Tag solange dauern wie hundert, denn andernfalls könnten sich ihre Machtwechsel zu nahe aneinanderschieben, und es entstünde der Eindruck einer ständigen Gegenmacht — wie sollte aber dann die Volksherrschaft dem Vorwurf entgehen, sie sei nur ein Reich, das i n sich uneins sei und zerfallen müsse? Allerdings hilft manchmal auch wieder die vielberufene Schnellebigkeit unserer Epoche der Demokratie, diesen gefährlichen Anschein der Widersprüchlichkeit zu vermeiden: Wenn der Machtwechsel eintritt, ist schon ganz vergessen, wie früher einmal geherrscht worden ist. Doch für diejenigen, welche vertiefter politischer Betrachtung fähig sind, und i n den Herrschaftsstrukturen selbst, bleibt etwas gefährlich Mahnendes an jenes Reich, das in sich uneins ist; der Zerfall würde dann eben die demokratische Anarchie sein. e) Das demokratische Nein zur Tradition — Demokratie als Verlust der „politischen Klassik" I n der Monarchie und i n oligarchischen Herrschaften soll irgendwie politisch die Zeit stehen bleiben, i m Sohne setzt sich der Vater fort. I n der Traditionsgebundenheit dieser Lösungen kommt solche Herrschaft dem Wesen der Ordnung sicher sehr nahe. Die Demokratie dagegen mag vielleicht noch einen gewissen Sinn für Kontinuität sich bewahren, Traditionen i m eigentlichen Sinn müssen ihr fremd sein, der Machtwechsel unterbricht sie immer wieder, w i r d er nur ernst genommen, legitimiert er die Staatsform wirklich. Beides zugleich kann die Demokratie nicht erreichen: sich aus Wechsel und Tradition legitimieren; und so ist denn auch demokratisches Mißtrauen stets dann angebracht, wenn sich Parteien auf allzu lange Geschichte, auf allzu kontinuierliche Forderungen und Politiken berufen. Denn dann hat der Übergang i n Notablierung und Oligarchisierung eingesetzt, was aber ist da noch w i r k lich, lebendig demokratisch — und nicht nurmehr Ausdruck einer müden Spätdemokratie? Traditionsfeindlichkeit ist Kraftzeichen der Demokratie, die mutige Bereitschaft, Früheres i n Ruinen stehen zu lassen und ihm neue politische Ruinen hinzuzufügen. Daß in der demokratischen Absage an die Tradition eine Hinwendung zu anarchisierender Politik liegt, w i r d man kaum bestreiten können. England, das so viele Formen der Demokratie entwickelt hat, durfte sich früher mit Recht nie als Demokratie, sondern „nur" als ein Staat der Freiheit empfinden: Wechsel sollte sein, aber allzuviel konnte sich nicht ändern i n einer Ordnung, die i n ganz besonderer Traditionalität
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festgelegt war, die gerade darin nur einen höchst begrenzten politischen Machtwechsel vertrug. Erst als dieser Begriff nun wirklich ernst genommen wurde, mit den ersten Labour-Regierungen nach dem Krieg, erst i n diesem Augenblick hat England zur eigentlichen Demokratie gefunden, zum Machtwechsel, damit aber auch zum Ende seiner Tradition — und seiner Ordnung. Der Verlust der Tradition t r i f f t die Ordnungsidee entscheidend, sie leidet auch unter dem, was man selbst i m politischen Bereich den „Verlust der Klassik" nennen könnte: Wo der Machtwechsel zum institutionellen Prinzip erhoben ist, da kann es keine quasi-idealen früheren politischen Zustände geben, nichts, was als solches restauriert werden müßte. Das Regime ist auf Machtzerstörung, nicht auf Machtreparatur angelegt, mag es auch manchmal noch dahin kommen; doch i n der politischen Wirklichkeit zeigt sich, gerade i m jüngsten Deutschland, daß die Beschwörung früherer „goldener" Zeiten, etwa einer Ära Adenauer, i n einer wirklich demokratisierten Welt ohne entscheidende Durchschlagskraft bleibt. Diese Selbstzerstörung der Ordnung findet auch nicht etwa nur auf der Höhe der Gesetzgebung der „großen Politik" statt. Sie senkt sich herab i n die staatliche Bürokratie, über ausgewechselte politische Beamte, neu aus politischen Gründen Beförderte: Jeder w i r d und muß irgendwie versuchen, den Machtwechsel i n seinen kleinen Bereichen fortzuführen; und die letzte demokratische Konsequenz wäre es, daß er sich auch noch i m Leben aller Bürger, i n ihren freien Gestaltungen, fortsetzte. Die Gesellschaft demokratisieren — das hieße doch, die Idee des Machtwechsels und seine Wirklichkeit überall h i n zu tragen, i n jedes Haus. Solange die Bürgerschaft das H i n und Her der Machtablösungen engagiert mitträgt, mag sich die Kraft der Herrschaft erhalten; steht sie aber nicht i n der großen Anarchiegefahr, daß sich i m Zickzackkurs die Ordnungsidee verliert, daß der Bürger sich durch sie hindurch, oder über sie hinweg, seinen eigenen Weg bahnt oder abschätzt, daß er also die Machtwechsel zwar einkalkuliert, aber immer mehr versucht, sich ihren gegenläufigen Wirkungen zu entziehen? f) Im raschen Machtwechsel von der Ordnung zum Befehl I n der Logik der Demokratie liegt es nicht, daß irgendwann einmal Machtwechsel möglich sei oder stattfinde, es muß dies möglichst häufig der Fall sein, soll die Annäherung an die eigentliche Basis dieser Staatsform stets erhalten bleiben. Alle festen Wahlperioden i n demokratischen Ordnungen, i n denen die Mandatsträger nicht abberufen werden können, sind letztlich Zugeständnisse an Ordnungsnotwendigkeiten, die sich aber aus dem Wesen der Demokratie nicht rechtfertigen
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lassen. Die Leichtigkeit, mit der man über das Problem der Wahlperiode hier hinwegzugehen pflegt, sie irgendwo zwischen vier, sechs oder noch mehr Jahren ansetzt, zeigt ein bedauerliches Grundsatzdefizit: Dies sind die eigentlich fundamentalen Fragen der Volksherrschaft, und es fragt sich wirklich, was eine Verfassung bedeuten soll, welche nicht gerade dies in allen Einzelheiten festlegt. Wenn also die Demokratie ihrer Logik folgte, so müßten die Machtwechsel sich häufen, das eine Jahr der römischen Magistratur wäre dann vielleicht noch zu lange. Daß dies i n der Praxis nichts anderes bedeuten würde als helle Anarchie, bedarf keines Beleges: Es gäbe überhaupt nurmehr Vor- und Nachwahlperioden, von Ordnung auch nur einiger Dauer könnte gar nicht mehr gesprochen werden. Doch selbst beim Vierjahresrhythmus und dem aus demokratischer Sicht so oft gelobten kontinuierlichen Wechsel der Regierungsmehrheiten stellen sich bereits deutlich anarchisierende Effekte ein; denn es gibt eben zahlreiche Ordnungsaufgaben, deren Lösungen ganz wesentlich den Zeitraum der wenigen Mandatsjahre überdauern müssen. So w i r d denn heute i n England nicht zu Unrecht die weitgehende Eigentumsunsicherheit scharf kritisiert: Der laufende Machtwechsel zwischen Labour und Konservativen hat zu einem H i n und Her i n wichtigen Entscheidungen geführt, welche mit dem Wesen des Privateigentums, das doch vor allem auf Berechenbarkeit angelegt bleibt, nicht mehr vereinbar ist. Damit sind so wichtige Ordnungseinrichtungen, auf denen weithin das Wirtschaftsleben aufruht, nicht etwa geändert, sondern praktisch der Inkalkulabilität, der Unsicherheit, der Anarchie schlechth i n ausgeliefert worden — i m Namen eines Machtwechselprinzips, von dem man gerade diese wichtigen Grundlagen nicht ausnehmen konnte; und dies ist ja konsequent demokratisch gedacht. Die zeitliche Straffung der Machtwechsel, die sich i n der Entwicklung der Spätdemokratie eher noch steigern wird, muß eines Tages dazu führen, daß nicht mehr regiert wird, sondern daß der Bürger nurmehr unter wechselnden Befehlen lebt. Von der Entwicklung der „Ordnung zum Befehl" war schon die Rede; sie ist ein typisch anarchisches Phänomen. Denn die Herrschaftslosigkeit akzeptiert weit eher den Befehl, wenn er nur nicht der Anfang größerer Ordnungen ist, damit eine Unterworfenheitsmentalität systematisch erzeugt. Schon deswegen erscheint ja der Befehl als das tragbare Herrschaftsminimum selbst aus anarchischer Sicht, weil er jene Unterworfenheitsstufe darstellt, gegen die sich dann auch der Widerstand richten kann; denn gegen Befehle gibt es eben den Widerstand i n ganz anderer Weise als gegen eine Ordnung, aus der man ausbrechen
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müßte — dem kleingewordenen Bürger von heute ist ein so großer Schwung nahezu unmöglich. Die Demokratie der raschen Machtwechsel w i r d also zur Befehlsfolge, sie verzichtet auf die Ordnungssystematik. Und wenn es wahr ist, daß echte Ordnung stets umgekehrt verhältnisgleich sich entwickelt zur Zahl der Befehle, die sie i m einzelnen stützen müssen, so findet i n der Volksherrschaft ein ständiger Ordnungsabbau statt. Dies ist auch die typisch demokratische Legitimation der heute so oft beklagten Übernormierung, der Gesetzesflut: Sie ist nicht nur technisch-bürokratisch bedingt; i n ihr vollziehen sich jene zahllosen, oft gar nicht mehr mit den Wahlperioden synchronisierten Mächtigkeitswechsel, welche diese Staatsform ständig w i l l . Gesetzesflut ist der Ausdruck der dauernd fluktuierenden Macht, damit aber setzt sie sich auch anarchisierend i n alle Bereiche ständig fort; und daß hier ein echter Ordnungsabbau schon stattgefunden hat, w i r d niemand bestreiten wollen: I n der Unzahl und Unübersehbarkeit der oft sich noch untereinander widersprechenden Normbefehle muß eine allgemeine Normmüdigkeit und Normskepsis wachsen; sie aber ist nichts anderes als Ausdruck der Anarchie, wenn die Norm das eigentliche Herrschermittel der Demokratie darstellt. Zu einfach wäre es also, wollte man sich i n einem solchen Regime nur gegen die zahllosen Regelungen wenden, i n ihnen eine allgemeine Degeneration des Herrschens sehen; sie sind Ausdruck der machtwechselnden Demokratie, eines bewußten Fehlens der Machtkonstanz i n dieser Staatsform. Ein gewisser Selbstauflösungseffekt, ein sich selbst ad absurdum-Führen liegt nicht nur i n der Gesetzesflut, er ist der Ausdruck der machtablösenden Demokratie als solcher. 4. „Radikaler" und „gemäßigter" Machtwechsel Die Volksherrschaft ist gegenüber ihren radikalen K r i t i k e r n i n einer eigentümlichen Lage, die durch folgende These gekennzeichnet werden mag: Ihre „staatstragenden", „systemerhaltenden" Kräfte müssen, aus der demokratischen Logik heraus, den Machtwechsel bejahen und wünschen; damit schwächen sie demokratische Herrschaftsgewalt ab — die anarchisierenden Effekte wurden bereits aufgezeigt. Die radikalen Gegner der freiheitlichen Demokratie dagegen lehnen zwar den institutionalisierten Machtwechsel ab, doch auch sie arbeiten, i n ihrer K r i t i k an der Staatsform, anarchisierend. So wirken Systemerhaltung und Systemkritik zusammen in einem Sinn: dem der Anarchie.
4. „Radikaler" u n d „gemäßigter" Machtwechsel
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a) Anarchiev er Stärkung durch Anarchie g e gner schaft Fast aller wirksame Widerstand gegen die freiheitliche Demokratie kommt letztlich aus der Überzeugung, daß hier Herrschaft i n Anarchie zerfalle, daß das gemeine Wohl irgendwelchen Gruppeninteressen ausgeliefert werde, welche es i n mittelalterlichen Feudalkämpfen zerstörten. Hinter der Demokratiekritik steht also heute, soweit sie irgendwie noch konstruktiv ist, stets die Anarchieangst. Doch es ist das Schicksal eben dieser Gegner der Staatsform, die man Radikale zu nennen pflegt, daß auch sie von derselben Anarchie erfaßt werden, welche sie bekämpfen wollen, daß sie sie gerade durch ihren Widerstand noch verstärken. „Radikale" links und rechts lehnen ja nicht etwa den Machtwechsel an sich ab, sondern nur seine institutionalisierten, machtschwächenden Formen; sie wollen ihn ein für allemal, durch Systemveränderung, insoweit übernehmen auch sie die Kategorie des Machtwechsels, nur i n einem viel weiterreichenden, eben „radikalen" Sinn; und deswegen w i r d es ihnen i n der Demokratie auch immer leicht sein, sich i n das Regime zu schieben, es „zu unterwandern", weil sie ja die Reichweite dieses von ihnen angestrebten Machtwechsels nicht sogleich völlig offenlegen müssen. So muß also diese Volksherrschaft stets mit einer großen Zahl verdeckter Radikaler leben, weil sie ihren Gegnern mit der Machtwechselkategorie eine Denkform anbietet, i n die beliebig viel von Änderungswünschen hineingeschoben werden kann; und deshalb werden „Radikale" immer behaupten, gerade i n ihren radikalen Änderungswünschen seien sie bessere Demokraten. A u f diesem Wege konnte sich der Einmarsch des Kommunismus i n die westlichen Demokratien vollziehen. Doch zwischenzeitlich wirken die anarchieablehnenden radikalen Gegner der machtwechselnden freien Volksherrschaft kräftig zur Verstärkung der Anarchie mit. Dies geschieht vor allem i n einer „Politik des Schlimmsten", welche die Unhaltbarkeit der bisherigen Ordnung erweisen soll; sie stellen ja die Staatsform selbst i n Frage und eröffnen damit unmittelbar den breiten Weg in die totale Herrschaftslosigkeit. Eine politische Ordnung aber, welche sich ständig mit jenen auseinandersetzt, die sie ganz grundsätzlich ablehnen, verliert eben etwas wie ihre geistige Unschuld, ihre Selbstverständlichkeit, eine Selbstsicherheit, die ihr aber eigen sein muß, soll aus ihr wirklicher Aktionismus gegen Anarchie kommen. So schreitet die Anarchie denn i n der freiheitlichen Demokratie mit einer eigenartigen List der Vernunft voran: Gerade die Kräfte, welche keinen Machtwechsel mehr wollen, die „Radikalen", wirken besonders anarchisierend — zunächst, eben, doch diese Übergangszeit pflegt i n
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der Demokratie zu dauern und schwächt sie entscheidend, solange, bis ihre Ordnungsidee nahezu völlig aufgebraucht ist; Italien ist hier ein warnendes Beispiel. „Ordnungsbewahrende" und „ordnungszerstörende", „radikale" Kräfte anarchisieren hier also gemeinsam, und zwar soz. i n verkehrter Frontstellung: Demokratiegegner wirken anarchisierend i m Namen ihrer gesteigerten Ordnungsidee; die „Demokraten" durch die Ablehnung des totalen Umschwungs und i m Bekenntnis zu einer fluktuierenden „Ordnung", die sich aber immer weniger noch als eine solche erweisen läßt. So werden denn all diese politischen Kräfte ihrer Ausgangsidee irgendwie untreu, sie verwickeln sich in Widersprüche und verstärken damit eine Herrschaftsproblematik, die i m Geiste des einfachen Bürgers nur zur Herrschaftsmüdigkeit führen kann, zum Weg i n die anarchische Resignation. b) Die demokratische Diskussion um das „wünschbare Quantum an Machtwechsel-Anarchie" Doch „Radikalität" ist eben i n der freiheitlichen Demokratie i n allem und jedem ein relativer Begriff; gerade bei der Betrachtung des Machtwechsels zeigt sich dies deutlich. Daß er i n dieser Form aufhören soll, ist eine gemeinsame Forderung aller antidemokratischen K r i t i k . Doch wie weit soll nun dieser Machtwechsel i m einzelnen getrieben werden, wo muß er enden — dies ist ein entscheidender Diskussionspunkt nicht nur zwischen Systemgegnern und Systemverteidigern, sondern auch unter den letzteren. Keine Partei, die sich „demokratisch", „verfassungstreu" nennt, gibt es heute, i n der nicht gerade diese Diskussion offen oder versteckt geführt würde: wie weit nämlich Herrschaftsflexibilität bestehen solle, Machtwechsel verstärkt oder eingedämmt werden müsse. Darauf laufen auch viele jener Streitigkeiten u m die stärkere Beteiligung der „Basis" hinaus, hinter denen ja meist das Dogma von der notwendigen Erleichterung des Machtwechsels steht; und i n welcher Partei ginge es heute nicht darum, schon weil das doch so „echt demokratisch" erscheint! Doch nach all dem, was w i r bisher feststellen konnten, bedeutet dies immer nur eines: die Diskussion u m das wünschbare Quantum von Anarchie i n der staatlichen Ordnung. Es läßt sich dies auch anders ausdrücken und paradox: Debattiert w i r d darüber, wie weit Anarchie zum Ordnungsinstrument der Demokratie werden solle. Wie groß auch immer die vermeintliche K l u f t zwischen den Demokraten und ihren „radikalen" K r i t i k e r n sein mag — es drängt sich fast eine Frage auf: ob diese freiheitliche Demokratie nicht ein gemeinsamer Weg aller Kräfte sei, zurück zur Anarchie, wobei der Streit
5. Der demokratische M acht Wechsel als institutionalisierte Revolution 203
nur darum geht, wie weit er verfolgt werden soll; ob das Wesen der Demokratie letztlich überhaupt nur i n einer Auseinandersetzung darüber liegt, i n welchen Formen die Anarchie i n staatliche Gemeinschaft eingebaut werden soll; und ob nicht ein letzter Konsens aller Demokraten und Nicht-Demokraten heute schon darüber besteht, daß mit der Ordnungslosigkeit der Anarchie irgendwie ein „politischer Kontakt" zu halten sei — es fragt sich eben nur, auf welche Weise . . . Und damit ist die politische Radikalität i n der freiheitlichen Demokratie nicht nur inhaltlich ein relativer Begriff, sie ist vielleicht überhaupt auch eine Erscheinung von — relativer Radikalität; und ist nicht gerade dies wiederum ein Anarchiebeginn, wenn „Radikalität" als solche gar nicht mehr faßbar ist, wenn sie beginnt, systemkonform zu wirken? 5. Der demokratische Machtwechsel als institutionalisierte Revolution a) Machtwechsel als Revolution Der tiefste Sinn des Machtwechsels als Staatsprinzip liegt darin, daß er den politischen Aufstau entspannen, die gewaltsame Revolution verhindern soll. Legitimiert werden diese Formen vom Bürger her und seinem Willen, Staatsweisheit sollen sie sein als Revolutionsvermeidung. I n der Tat ist der demokratische Machtwechsel i n seinen klassischen Ländern stets eine Form der „Révolution en miniature" gewesen; seine Wirkungen sind dieselben — Herrschaftsverdünnung, Herrschaftsstillstand, Neuformierung der Herrschaft, Hineinwachsen i n die neue Macht. I m Grunde läuft dieser Kreislauf genau i n derselben Weise ab, wie der der großen und größten Revolutionen. Daraus scheint sich die Ersetzbarkeit des einen durch das andere zu ergeben, und wieder mag England als Beispiel dienen: Dreihundert Jahre hat es ohne Revolution überstehen können, weil es einen gewissen Machtwechsel gepflegt hat. Gerade wenn dies aber unbestreitbar und aus der Sicht eines gewaltfreien Bürgerlebens erstrebenswert ist, gibt es doch zu denken, was die Anarchie anlangt: daß sich i n Revolutionen anarchische Kräfte entladen, unterliegt keinem Zweifel und w i r d noch näher zu betrachten sein. Wenn der demokratische Machtwechsel Revolutionen ersetzen kann, so muß aber wohl auch i n i h m etwas von dieser anarchisierenden Sprengkraft liegen, es gilt dann, dies hinter seiner institutionellen Verbrämung sichtbar werden zu lassen. Zwar hat der unblutige Ablauf des Machtwechsels entscheidend die Gewaltlosigkeit für sich, doch dafür
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droht hier eine ganz andere Gefahr: daß er sich zu einer A r t von „permanenter Revolution" entwickeln könnte, die allerdings der Anarchie weit näher kommen w i r d als jede, auch die grausamste Revolution, welche ja gerade dann meist rasch i n Formen der Restauration zurückfindet, wenn sie blutig verlaufen ist. M i t anderen Worten: Die A n archiegefahr der Revolution ist bekannt und, historisch wenigstens, absehbar; die Anarchiegefahr des demokratischen Machtwechsels als permanenter Revolution ist meist noch gar nicht erkannt. b) Machtwechsel··Anarchie — in demokratischer Verfassung kanalisierbar? Die Demokratie unternimmt Kanalisierungsversuche der Auswirkungen des Machtwechsels, mag dies auch nicht immer mit bewußtem Blick auf die anarchisierenden Wirkungen dieser Institution geschehen: Sie liegen i n den demokratischen Verfassungen. Hier hat man versucht, das niederzulegen, was bei jedem Machtwechsel, über jede kanalisierte politische Umwälzung hinweg erhalten bleiben muß: die Grundrechte und die Staatsform, die organisatorischen Grundstrukturen des Staates. Darin soll sich Machtwechsel von Revolution unterscheiden. Doch gerade dies w i r d der Demokratie zum Problem, und damit kommt es zur „Entfesselung der Machtwechsel-Idee". Zuwenig ist ja bewußt, daß die Verfassungsidee i m Grunde nicht aus der Demokratie entwickelt worden ist, daß sie vielmehr ein Bestandteil des konstitutionalistischen Denkens ist, i n dem Demokratie, Aristokratie und Monarchie i m 18. und 19. Jahrhundert verbunden werden sollten. Nicht umsonst hat die ursprüngliche Schweizer Demokratie ebensowenig eine „Verfassung" gekannt wie die englische, die amerikanische Ausprägung war einerseits durch den Föderalismus erzwungen, zum anderen kam sie noch aus dem konstitutionalistischen Denkens des 18. Jahrhunderts, wie ja auch der amerikanische Verfassungsstaat bis i n die neueste Zeit mehr Oligarchie denn konsequente Demokratie gewesen ist. Nichts führt an der Grunderkenntnis der Demokratie vorbei, daß diese Staatsform eben nur i n einem liegt: i m Parlament und seinem souveränen Willen. Der neuere englische Verfassungszustand ist insoweit keine angelsächsische Anomalie, er ist der Ausdruck konsequent demokratischen Denkens. Daraus kommt der Verfassung als einer Kanalisierung des Machtwechsels an sich schon eine erhebliche Schwäche: Der demokratische Wille der Mehrheit w i r d hier durch eine Vergangenheitsentscheidung festgelegt, die m i t der Zeitlosigkeit aristokratischen Denkens i n die Zukunft w i r k e n soll. Da werden dann die „Väter des Grundgesetzes" beschworen, die doch i n irgendeiner Weise als erleuchtet angesehen werden müssen, als charismatisch begabt mit höherer Einsicht, nachdem
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sie für alle Zeiten festlegen konnten, was nur mit erhöhter Mehrheit, politisch-praktisch oft überhaupt nicht zu ändern sein sollte. Doch dieser Verfassungsinhalt ist ebenso historisch zufällig fixiert worden, wie es die Höhe der qualifizierten Mehrheit ist, mit der die Verfassung geändert werden darf. Das Problem dieser verfassunggebenden Gewalt, welche auch die Wirkungen der periodischen Machtwechsel soll anders kanalisieren können, ist eines der vielen grundsätzlich unlösbaren Probleme der Demokratie. Selbst wenn man aber alle diese historischen und grundsätzlichen Schwierigkeiten überspringen wollte, es für rational und begründbar erachtet, daß der Wille von zwei Dritteln der Abgeordneten von heute alle künftigen einfachen Mehrheiten beschränken kann — und warum übrigens gerade die Zweidrittelmehrheit? — selbst dann zeigt die verfassungsgeschichtliche Entwicklung der neuesten Zeit die ganze Problematik solcher Versuche, eine revolutionierende Ausuferung demokratischer Machtwechsel zu kanalisieren: Nicht nur, daß sie als solche, „demokratisch" gesehen, schon problematisch sind — sie haben entweder nicht wirksam werden können, oder sie wenden sich gegen die Idee des Machtwechsels überhaupt, gehen also viel zu weit. Die geringe Wirksamkeit der Kanalisierung der neuen Mehrheit durch die Verfassung wurde bereits betont; nahezu alle wichtigen Fragen stehen eben doch bei jedem „ordentlichen" Machtwechsel zur Disposition; das Bundesverfassungsgericht hat die gesamte Wirtschaftsordnung dieser gesetzgeberischen Mehrheit ausgeliefert; was bleibt da noch an Kanalisationswirkung der Verfassung, für den Bürger greifbar, erhalten? c) Verfassungsänderung
— eine demokratische
Crux
Doch die andere Seite soll uns hier vor allem beschäftigen: Wenn und soweit es möglich ist, der einfachen Mehrheit und damit dem Machtwechsel gewisse Grenzen zu ziehen, seine revolutionierende, anarchisierende Wirkung einzudämmen, muß dies durch die Verfassung geschehen — die Entwicklung hat aber gezeigt, daß es gerade dann zu einem echten „größeren" Machtwechsel i n wichtigen Bereichen praktisch überhaupt nicht kommen kann. A n einem Problem nämlich sind die Demokratien bisher nahezu alle gescheitert: an dem der Verfassungsrevision. I m Frankreich des 19. Jahrhunderts sind viele Experimente mit Verfassungsänderungsklauseln gemacht worden; keines von ihnen hat die immer erneuten Revolutionen aufhalten können, und noch 1958 ist die letzte parlamentarische, die Vierte Französische Republik daran zer-
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V I I . Der Machtwechsel
brochen, daß die Verfassung eben doch „nicht leicht genug" abänderbar war, damit de Gaulle an die Macht kommen konnte. I n Deutschland blieb i n der Weimarer Zeit der Demokratie gar nicht mehr die Zeit für einen größeren, legalen Machtwechsel durch ordentliche Verfassungsänderung, sie wäre dazu wohl auch kaum i n der Lage gewesen. Nach 1949 aber hat es zwar viele Grundgesetzänderungen gegeben, doch es waren immer nur Randkorrekturen, allenfalls noch Erosionen gegenüber dem ursprünglichen Föderalismus, die i n der großen Entwicklungslinie des Verfassungsgeschehens lagen. Einen echten Kanalisationseffekt revolutionärer Fluten durch Verfassungsänderung können w i r nicht aufzeigen. Dies aber bedeutet: W i r d einmal der demokratische Machtwechsel kanalisiert i n Verfassungen, so ist dieses Bett dann, i m großen und ganzen, nicht mehr veränderbar; i n diesen Bereichen w i r d eben die ursprüngliche demokratische Idee der Wachablösung nahezu völlig aufgegeben. Demokratisches Schicksal scheint es zu sein, das Problem der Grenzen des Machtwechsels nicht lösen zu können: Entweder es geschieht hier praktisch nichts — oder soviel, daß es zur „demokratischen Ablösung" i m Größeren, i m Verfassungsbereich, nicht mehr kommen kann. Damit aber ist eine Kanalisierung des Machtwechsels i m letzten gescheitert. Es zeigt sich eben, daß man ein solches Grundprinzip der Demokratie i n dieser Staatsform entweder zulassen — oder völlig ausschließen kann, daß ein dritter, ein mäßig konservierender Mittelweg nicht gangbar ist. Und wer i m Machtwechsel den Einbruch des Anarchischen i n diesen Staat sieht, den kann dies auch nicht verwundern: Anarchie bringt eben letztlich eine so große, wenn nicht überhaupt unbestimmte Dimension zum Tragen, hier ragt eine solche politische Unendlichkeit i n die Zeitlichkeit der Demokratie hinein, daß sie sich nicht erfassen, nicht kanalisieren, nicht als solche institutionalisieren läßt. Das anarchische Risiko i m politischen Machtwechsel der Demokratie kann man eingehen — oder nicht. Geschieht es, so muß man wohl auch die ganzen Folgen der quasi-revolutionären Veränderungen akzeptieren, mögen sie nun i n einem besonders bedeutsamen Mehrheitsumschwung explosiv i n Erscheinung treten oder i n der laufenden Machtabschwächung ständig wechselnder Majoritäten. Formen der Anarchie, wie der Machtwechsel, sind wohl fixierbar, nicht aber die Grenzen ihrer Wirkungen. Es scheint, als fänden diese herrschaftsüberwindenden Kräfte hier zu ihrer ganzen Ursprünglichkeit zurück. Wer den Machtwechsel i n seiner Wirkung begrenzen w i l l , der treibt Kräfte aus der freiheitlichen Demokratie heraus, er verliert sich i n Staatsschutzversuchen; was er sichern w i l l , die Grundlagen der
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Herrschaft, er macht sie auf Dauer immer nur noch brüchiger. Denn Demokratie ist eben eines: Machtwechsel der unbegrenzten Möglichkeiten. A m Schluß dieses Kapitels läßt sich also feststellen: Nichts ist für die freiheitliche Demokratie so wesentlich, geradezu konstitutiv, wie die Möglichkeit und Wirklichkeit des Wechsels der politischen Macht; wer ihn beschränkt, eliminiert die Staatsform. Zugleich ist aber dieser Machtwechsel eine deutliche Form von Anarchie. Wer den Machtwechsel i n Grenzen halten w i l l , muß dauerhafte Ordnung schaffen, Ordnung, welche diesen Namen verdient; so w i r d wirklich Anarchie zurückgedrängt. Demokratie aber und Anarchie werden dann zusammen absterben, so wie sie zugleich gekommen sind — und könnte die grundsätzliche Verbindung der beiden Begriffe, der beiden „Denkformen über Herrschaft" irgendwo noch deutlicher werden? Zeigt nicht der Machtwechsel, der Kern der Volksherrschaft, diese Demokratie als Fortsetzung der A n archie mit anderen Mitteln?
V I I I . Das Parlament als anarcbisierendes Forum Die Volksvertretung, die Erste Gewalt i n der Demokratie, ist auch diejenige Institution, von der anarchisierende Effekte in besonderem Maße aus- und auf die gesamte Staatlichkeit übergehen. I m Parlament w i r d ja das machtabschwächende Mehrparteiensystem zur staatlichen Einrichtung; i n den Kammern findet jene Dauerkritik statt, i n der sich alle Ordnung notwendig abschwächt. Die ganze bisherige Parlamentsk r i t i k hat denn auch immer wieder auf die Gefahren hingewiesen, welche der demokratischen Macht aus der Schwäche, der Inkompetenz, der Selbstblockade dieses Verfassungsorgans drohen. Doch hier soll nicht all dies aufgegriffen, es soll vielmehr untersucht werden, ob nicht i n der Institution des Parlamentes als solcher Strukturen geschaffen worden sind, aus denen heraus die Anarchiegewalt abschwächend, ja gewaltaufhebend wirksam werden kann. Die „redende, nicht tatende Gewalt" — kann sie die Spitze einer wahren Herrschaft sein? Historisch ist die Volksvertretung geschaffen worden als Gegenmacht, i n der sich die Gewalt des Monarchen abschwächen sollte; kann diese Gegenmacht, nun die erste und i m Grunde einzige i m Staate, zu voller Herrschaftsgewalt erstarken, muß sie nicht doch immer weiter schwächen —« sich selbst und den Staat? 1. Herrschen — in Vertretung? a) Vertreten — wen eigentlich? Die Grundidee des Parlamentarismus, seine eigentliche Legitimation, liegt i n der Vertretung des Volkes. Doch seit langem sind die schier unauflöslichen Probleme bekannt, welche sich gerade aus diesem Begriff der Repräsentation ergeben: Nichts hat er gemein mit der Vertretung des Bürgerlichen Rechts; dem Abgeordneten w i r d ein derart befreites Mandat gegeben, daß es i m Zivilrecht sogleich sittenwidrig und damit nichtig wäre. Vertretung — das ist nahezu gänzlich zum leeren Wort geworden: Der Listenabgeordnete handelt für seine Partei, und auch dem Wahlkreisvertreter bleibt allenfalls noch eine höchst abgeschwächte Fürspracheposition i n einem großen Abstimmungskörper. Wann ward es denn i m Bundestag schon erlebt, daß ein Abgeordneter
1. Herrschen — i n Vertretung?
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überzeugt i n Vertretung seines Wahlkreises sprach, und wie sollte auch, geschähe dies wirklich, eine Gemeinsamkeit zwischen all den Männern und Frauen hergestellt werden, die sich ständig „Kollegen" nennen, denen aber gerade dann nichts mehr gemein wäre, wenn sie wirklich ihre Wähler verträten — zumindest müßten sie i n zwei große Gruppen zerfallen, die Listen- und die Wahlkreisrepräsentanten; und auch i n ihrer Legitimation wären sie j a dann ganz verschieden, es müßte Abgeordnete minderen Rechts geben. M i t welcher grundsätzlichen Leichtigkeit, wenn nicht Leichtfertigkeit, w i r d doch die Organisation dieser obersten Gewalt betrieben, nur darauf hin, daß sie „funktioniere", nicht aber daß sie wirklich repräsentiere; nur deshalb kann man so diskussionslos gegenläufige Prinzipien wie Wahlkreis- und Listenwahl einfach verbinden i m Namen der Repräsentation. Volk und Wähler werden also nicht wirklich vertreten vom Abgeordneten, aber auch das Wort von den „Vertretern der Parteien" hat keinen rechten Grund. Die Abgeordneten sind doch führende Organwalter dieser Parteien, sie handeln für diese, sie vertreten sie nicht etwa i n dem Sinn, daß sie dazu von der Partei oder irgend jemandem sonst ein Mandat erhalten hätten: Sie sind die Partei, sie vertreten sie nicht; andererseits w i r d der Hinterbänkler i m großen parlamentarischen Halbkreis durch Fraktionszwang und Parteidisziplin derart eng an die Partei gebunden, daß „ i n i h m die Partei regiert", nicht etwa er sie vertritt. I m Begriff der Volksvertretung liegt mehr als ein „rechtliches Handeln f ü r . . . " , hinter i h m stünde notwendig ein Auftrag — gerade er ist nicht faßbar. Volksvertretung hat also i m letzten keinen Sinn, sie hat nichts von einer Repräsentation, i n welcher Weise immer man diese verstehen w i l l : Die Verbindung zum Volke ist zu entfernt, ja rein theoretisch, die zur eigenen Partei zu eng. Zumindest bei den Spitzenabgeordneten findet etwas statt wie eine Selbsternennung i n kleinen Zirkeln, die von einer fernen Masse bestätigt wird. Vertreten können solche politischen Persönlichkeiten i m eigentlichen Sinne nichts außer jener politischen Linie, die gerade sie der Partei vorgeben. Die Realität der Parlamentswahl ist die einer Kooptierung i n kleinen politischen Kreisen. Und nur an einem Punkt mag etwas wie „Vertretung" über das Parlament Wirklichkeit werden, gerade dort, wo es heute so heftig kritisiert wird: indem Repräsentanten der Verbände den Parteien zur Wahl aufgezwungen werden. I m übrigen aber vollzieht sich i n diesen parlamentarischen Kreisen, die eben eigentlich niemanden vertreten, die auch kaum „von außen" kontrolliert werden können, immer mehr eine große Notablierung. 14 Leisner
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Trotz aller Fraktionsdisziplin — eines w i r d i n der Praxis wohl ernster genommen, als man glaubt: der Grundsatz jenes A r t . 38 des Grundgesetzes, nach dem der Abgeordnete nur dem eigenen Gewissen verpflichtet ist: Volksvertreter sind eben niemandem anderen Rechenschaft schuldig als anderen Volksvertretern, nur ihnen wieder verpflichtet. Damit aber ruht i n der Volksvertretung die Herrschaft nicht auf einer mandatsmäßigen Gewaltübertragung, sie findet ihre eigentliche Grundlage — i n sich selbst, wie es eben das Wesen aller Notablierung ist, herrscht doch der Notabel i m Namen seiner eigenen Würde. Hier aber zeigt sich auch sogleich die Herrschaftsabschwächung: Noch nie haben Notabelherrschaften feste, aktive Politik auf Dauer gestalten können. Ihre Machtquellen fließen zu dürftig, i m Grunde handeln sie aus sich selbst heraus, i m Namen von niemandem und daher auch bald von nichts. Soweit also i m Parlament Parteiennotabeln herrschen — und es ist ja gerade ein Wesenszug der späten Demokratie, daß dies sich verstärkt — wenn politische Ehrenpersönlichkeiten bis zur Erschöpfung ihrer geistigen und physischen Möglichkeiten ihre Kraft nicht dem Volk weihen, sondern der Volksvertretung, dann hat sich eine frei schwebende Herrschaftsstruktur gebildet, deren Ziel allenfalls auf Selbsterhaltung gerichtet ist; unter ihr, i n ihr kann sich dann überall Herrschaftsabschwächung vollziehen, bis h i n zur Anarchie. Volksvertretung — das wäre an sich ein großer Gedanke, doch es ist nurmehr ein großes Wort. Die politischen Machtströme sollten so aus der Basis i n die Herrschaft übergeleitet werden, aus der Staatsgewalt wiederum herrscherlich belebend ins Volk zurückkommen. Doch dieser ganze Kreislauf, der i n Wahrheit legitime Macht und effektive Gewalt garantieren würde, ist seit langem abgeschwächt, wenn nicht unterbrochen; er ist es immer mehr i n einer späten Demokratie, i n der das Volk sich an Bestätigungspraktiken gewöhnt hat, mit der Machtausübung durch andere zufrieden ist, die sich i n kleinen Kreisen fest formiert haben. Und weil diese Herrschaft letztlich so weit entfernt ist von den Beherrschten, weiter als i n manch anderer Staatsform, deshalb kann unter ihr leichter als irgendwo sonst Anarchie wachsen, sie w i r d erst bemerkt, wenn sie hoch steht. b) Herrschen — für andere? Doch die Parlamentsherrschaft ist nicht nur, ihrem Wesen nach, i n Notablierung geschwächt, sie ist auch und gerade dann prekär, wenn sie sich wirklich als das versteht, was sie i n der Demokratie ja sein soll: als Machtausübung für andere.
1. Herrschen — i n Vertretung?
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Eigentliche Herrschaft muß angeeignet sein, i m eigenen Namen ausgeübt werden, davon war schon die Rede. I m Parlament fehlt es, mehr als irgendwo sonst, gerade daran. Da sollen die politischen Führer des Landes sich versammeln, diejenigen, denen man politischen Ehrgeiz bescheinigt, bei denen man i h n sogar sucht. Doch wenn sie dessen fähig sind — wie sollen sie dann ständig i m Namen irgendwelcher Vertretener handeln, Herrschaft ausüben? Sicher ist auch i m Bürgerlichen Recht der Vertreter kein Bote, der nur fremden Willen weiterträgt; doch der Vertreter handelt eben i n fremdem Namen, i m Interesse anderer, so aber läßt sich die Herrschaft nicht mit jener Intensität ausüben, die sie als Macht immer braucht. Reden mag der Abgeordnete „ i n Vertretung", herrschen kann er letztlich so nicht, und deshalb sollte niemand die Parlamente schelten, wenn i n ihnen so viel — nur geredet wird: Hier wollen sie doch wahre Vertreter sein. Könige haben das Herrschen verlernt, als sie die ersten Vertreter des Staates wurden; die Parlamentarier haben das Herrschen eigentlich nie lernen können, weil sie, und gerade die politisch ehrlichen unter ihnen, stets vom schlechten Herrschaftsgewissen der Vertretung geschwächt wurden. Der eigentliche „Volksmann", der aus seiner Berufsgruppe, aus seinem Verband, aus seiner Heimatstadt heraus i m Parlament regieren w i l l , der zu all dem, was i h n legitimiert, noch eine tatsächlich enge menschliche Beziehung hat, er ist der wahre Demokrat, aber wohl nicht die wirkliche Herrschergestalt. Er ist sehr fest verankert i n der Gemeinschaft, die er nun zugleich von oben beherrschen und gestalten soll. Er ist Herrschender und Beherrschter zugleich. Er hat nach wie vor bedeutende private Interessen, deshalb gerade w i r d er ja ins Parlament gesandt; sie vertritt er, und damit i n der Tat stellvertretend ähnliche private Interessen vieler anderer. Doch gerade dagegen, gegen die wohl einzige echte Repräsentation, die i m Parlament immer stattfindet, gegen die Wahrnehmung privater Interessen — dagegen wendet sich neuerdings immer stärker demokratischer Puritanismus. Da w i r d beweglich die steigende „Korruption" der Volksvertreter beklagt, Β er atungs Verträgen und Berufsvorteilen w i r d nachgespürt. Als ob nicht gerade dies etwas von dem privaten „Herrschaftsinteresse" wäre, i n dessen Namen doch der Bürger-Abgeordnete i m Halbkreis sitzt! Welchen Herrschaftswillen kann er denn noch dahin mitbringen, wenn er gerade von den belebenden Strömen abgeschnitten wird, i n deren Namen er sich doch dieser Herrschaft verschrieben hat? So ist denn die parlamentarische Herrschaft i n sich schon schwach, weil sie für andere herrschen soll, aber nicht herrschen kann, für sich selbst nicht herrschen darf. Und schwach ist sie auch, weil sie, „für andere ausgeübt", immer prekär bleibt: Die dauernde Bestätigungs14*
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suche, bei der eigenen Partei oder beim Wähler, bringt zwar ein klares Mandat, hat aber letztlich die parlamentarische Gewalt i n ihrem Wesen verändert. Die Regierung mag noch zu gestalten versuchen, der Abgeordnete müßte eigentlich „nach unten hören", als Mann des Volkes immer versuchen, Entwicklungen i n die Herrschaft zu transformieren. Doch eines w i r d dabei stets verkannt: I m Volk, an der Basis finden ja keine typischen „Herrschaftsregungen" statt, der Bürger denkt und handelt, i n welchem Regime immer, ganz wesentlich außerstaatlich, nicht mit Blick auf Herrschaftsnotwendigkeit und Machtmöglichkeit. Wenn gerade dies aber der Abgeordnete aufnimmt und i n die Herrschaft überleitet, so kommt es letztlich auch zu einer ständigen „Anarchieeinleitung i n die demokratische Herrschaft". Die Praxis zeigt es ja täglich: Da berichtet der Abgeordnete seinen Gremien, daß i n „seinem Wahlkreis" Widerstand sich rege gegen die oder jene Machtäußerung des Staates — von einem Bedürfnis der Basis nach mehr staatlicher Macht w i r d er nur selten berichten können. Machtabbau und finanzielle Hilfen, diese Bitten w i r d der Volksvertreter fast immer weiterzugeben haben, weit seltener ein Verlangen nach Regelung und Ordnung. So ist er denn insoweit auch ein wirkliches Organ der Freiheit, weil sich i n seiner Tätigkeit die Balance fast immer und notwendig verschieben muß, h i n zur Herrschaftsverdünnung, zur Herrschaftslosigkeit. Und selbst wo er für Unterstützungen eintritt, kommt es doch gerade damit zur Abschwächung der staatlichen Herrschaft, weil der Staat finanziert, nicht mehr befiehlt. Oft sieht man gerade darin besonders feine, moderne Herrschaftsinstrumente; man sollte aber nicht vergessen, daß die Subventionsregierung letztlich doch auf viel direkte Ordnungsmacht verzichten muß, daß gerade i n der Demokratie große Förderungsmittel der Kontrolle und damit der Herrschaft i n privaten Kanälen entgleiten. So kann vom Abgeordneten nicht erwartet werden, daß er für andere herrscht, wenn er immer für andere bitten muß — und andere bittet. Und deshalb eben transformiert er die Bürgerbitten machtauflösend in den Staat hinein, weil er sich selbst so bestätigen muß, weil der Abgeordnete den Bürger doch laufend bittet — daß er für ihn bitten dürfe. Der Parlamentarismus hat hier eine wahre Bettelgewalt" über alles gesetzt. Sie muß beim Bürger vor allem einem entgegenkommen: dem Bedürfnis nach Herrschaftslosigkeit. Darin aber lenkt sie die Anarchie i n den Staat. I n einem sind Abgeordnete Volksvertreter: als Repräsentanten von Anarchiebedürfnissen. So w i r k t denn diese Volksvertretung i n vielem und laufend anarchisierend: Wer weiß schon, wer wirklich für wen und wie lange er herrschen kann. Diese institutionalisierte Herrschaftsunsicherheit aber ist der Nährboden der Anarchie, vielleicht schon ihre Form.
2. Herrschaftsverlust i n Kollegialität
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2. Herrschaftsverlust in Kollegialität a) Herrschaft durch Masse? Das Parlament ist das Urbild aller demokratischen Kollegialität. I n ihm kommen die Bürger aus einer A r t von „herrschaftslosem Zustand" erstmals zusammen, sie „sitzen auf Zeit gemeinsam", stets mit dem offenen Rückweg i n die neue Wahlentscheidung. So ist denn die eigentliche Urkompetenz dieser Volksvertretung nicht Regieren, eher ein gemeinsames Verwalten auf Zeit — doch gerade dies ist ja, i n der gewaltenteilenden Demokratie, nicht ihre Aufgabe. Damit aber ist diese Kollegialität i n ihrer Wurzel schon überfordert. Denn bei der weiterwirkenden Herrschaftsentscheidung, die nun andere, die Bürger binden soll, treten all jene schweren Reibungsverluste der kollektiven Herrschaft auf, welche bereits dargestellt wurden: Die Kompromisse, die Überdeckung der eigentlichen Gegensätze, der Verantwortungsverlust i n der Anonymisierung der Zahlreichen. I m Parlament versteckt sich die demokratische Herrschaft vor sich selbst. Da so viele dasselbe tun, weiß letztlich niemand, auf wen es zurückführt. Hier w i r d wirklich der Versuch der Herrschaft durch sehr viele gemacht, nicht nur der Herrschaftsabschwächung durch die Kollegialität mehrerer; zwischen beiden ist ein großer, grundsätzlicher Unterschied: Kollegialität bedeutet die Herrschaftszusammenordnung mehrerer Teilkompetenzen, i m Parlament findet „Herrschaft durch Masse" statt; diejenigen, welche sich hier Kollegen nennen, sind es nicht eigentlich, denn sie haben kaum mehr selbständige Kompetenzen. A m ehesten mag noch der Äusschuß ein Herrschaftsinstrument sein, also gerade das, was stets am demokratischen Rande des Parlamentarismus steht, sein Hilfsorgan bleibt. I n dieser „Herrschaft durch Masse" aber treten mit Notwendigkeit all jene anarchischen Unordnungen auf, die sich dort entfalten müssen, wo i n einem größeren Kreis ganz bewußt auf Befehlsordnung verzichtet w i r d — dies aber ist das Wesen des Parlaments, und diese institutionelle Anarchie i m großen Halbkreis findet an der Spitze der Herrschaft statt! Und da w i l l sich der Bürger beschweren über Unruhe, Undisziplin, Beleidigungen und Turbulenz i n „dem, was doch der großen Zahl ist" und damit stets „der Unordnung sein muß"! Gerade dort aber, wo sich die große Zahl der Parlamentarier nun doch i n einer „Vielfalt der parlamentarischen Arbeit" bemerkbar macht, treten neue anarchisierende Effekte auf, welche von der Parlamentskritik auch sogleich gerügt werden. Man denke nur an das „Parlament als Ausnahmegesetzgeber", zu desni die^Volksvertretung i n der
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Tat i n nicht wenigen Fällen wird: Große, einheitliche Regierungsvorlagen werden durch die interessenvertretenden Abgeordneten i n dem oder jenem Punkt, für das eine Gebiet oder die andere Interessengruppe, durch Ausnahmen abgeschwächt, durchlöchert. Widersprüche, Gegenläufigkeit kommen so i n die klaren Linien einer Regierungspolitik häufig, wenn nicht i n der Regel durch jene Volksvertretung, die darin wiederum anarchisierende Basisbewegungen i n die Herrschaft einleitet. Doch das Herrschaftsproblem der demokratischen Kollegialität liegt tiefer: Es fragt sich, inwieweit i n solcher Massenkollegialität wahre Entscheidungsmöglichkeit liegt, ob also derartige Großparlamente, ihrem ganzen Wesen nach, nicht weit eher Beratungs- als Dezisionsgremien sein können. Kollegialgremien als intellektuelle, nicht als eigentlich voluntative Entscheidungsorgane — mit dieser historischen Problematik w i r d sich die Demokratie noch oft, und gerade i n ihrer Spätzeit, zu beschäftigen haben. Wenn i m Parlament etwas von der früheren ständischen Vertretung weiterlebt, etwas von der einstigen zünftischen Verkörperung der Gemeinschaft, aus der doch die Volksvertretung herausgewachsen ist, so ist ihr Wesen weit mehr Selbstverwaltung einerseits, Regierungsberatung zum anderen, nicht aber Regierung an der Spitze. W i r d aber dergestalt ein wesentliches Beratungsorgan zur Herrschaftsspitze, kann dann die Gefahr wirklich gebannt werden, daß die intellektuelle und interessenmäßige Vielfalt sich anarchisierend i n sich zerreibt, sie, die aber doch aufgerufen wird, zu entscheiden, nicht zu vertreten? b) Der Niedergang der
„Parlamentsführung"
Die Probleme einer „Herrschaft durch Viele" können heute auch nicht mehr überzeugend dadurch gelöst werden, daß parlamentarische Kollegialität durch ein echtes „Parlamentsführertum" überbrückt wird. Eine Volksvertretung als Entscheidungsorgan müßte i n der Weise innerlich strukturiert werden, daß beherrschende Persönlichkeiten die Dezision gewährleisten, ohne daß aber die Vielfalt der Repräsentation i n Einflußlosigkeit der Hinterbänkler sich verliert. Je näher die Demokratie diesem Ideal kommt, desto größere Herrschaftschancen hat sie noch. Doch immer mehr scheint es, als werde diese kunstvolle Balance zwischen Führertum und „Konvent von Persönlichkeiten" gebrochen. Einerseits formieren sich die Parteispitzen, der Rest der Volksvertreter sinkt zur Bedeutungslosigkeit der gelenkten Stimmen ab; die eigentliche demokratische Legitimation des großen Kollegialorgans geht verloren, die Staatsform entwickelt sich aus der Demokratie i n die politische Oligarchie mit demokratischem Beiwerk hinein. Dort mag dann
2. Herrschaftsverlust i n Kollegialität
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Anarchie zurückgedrängt werden — nicht aber bei der Gegenentwicklung, wenn die Parlamentsführerschaft sich abschwächt, sei es, daß ihre Träger die ruhige Macht der Regierungsämter vorziehen, sei es, daß eine Parteien- oder Richtungszersplitterung jede Parlamentsführerschaft unmöglich macht. Dann nämlich hebt die parlamentarische Anarchie ihr Haupt, die Volksvertretung w i r d zum Organ der Herrschaftsauflösung. Die zahlreichen Persönlichkeiten und nach Vertretungsmacht nahezu bedeutungslosen Abgeordneten erreichen i n solcher Führungslosigkeit einen politischen Gewichtsgewinn, der viele von ihnen zu Aktionen verführt. Bald beginnt dann der parlamentarische Kampf aller gegen alle, der Dschungel von Kommissionen und Fraktionen, der ideale Aktionsraum für herrschaftsauflösende Intrigen, i n die nur einer nicht mehr hineinsehen kann: der eigentliche Volkssouverän. Hier hat sich dann die Kollegialität wiedergefunden, indem jeder Abgeordnete anders handelt — und gegen den anderen. Doch darin verlieren sich die klaren institutionellen Linien der Demokratie. A n ihrer Spitze w i r d das Parlament geradezu zum Anarchieforum. Das eigentliche Problem des Parlamentarismus liegt darin, daß er sich diesem Zustand mit einer gewissen Gesetzmäßigkeit nähert: Gerade wenn er selbstverständlich und einigermaßen geordnet erscheint, wandern die Parlamentsführer i n die gesicherten Staatspositionen ab, vor allem i n die Regierung. Von dort aus aber kann das Parlament, seinem ganzen Wesen nach, dann immer schwerer ferngesteuert werden, obwohl gerade dies das Dogma der parlamentarischen Staatsform ist. Es kommt eben doch zu Interessengegensätzen zwischen den „besitzenden" Regierungschefs und Ministern und den führungslos allein gelassenen Abgeordneten, welche deren Herrschaftsgrundlage bilden sollen. Ihnen bleibt nur ein Herrschafts weg — hinein i n jene Parlamentsturbulenz des täglichen allgemeinen Krieges, i n dem das Parlament seine Daseinsberechtigung gegenüber der ordnenden Regierung nur durch eines mehr w i r k l i c h beweist: durch die drohende Unruhe der Parlamentsanarchie. Überzeugte Demokraten sind mit dieser Führungsabschwächung i m Parlament denn auch stets zufrieden; aus ihrer Logik heraus mit Recht, ist doch die Gestalt des machtlosen Hinterbänklers ein demokratisches Ärgernis. Die Idee des „Leader" steht letztlich gegen die parlamentarische Idee, weil sie mit der Kollegialität nicht vereinbar ist. Schließlich ist und bleibt doch der große Halbkreis jener Raum, wo man Dolche trägt unterm Gewände, i n dem Caesaren ermordet werden . . .
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3. Die anarchisierende Wortgewalt Wem Kollegialität etwas Wirksames bedeutet, der muß Gespräch und Überzeugung ernst nehmen. Nur darin kann sich ja die Vervielfältigung der Entscheidungsträger rechtfertigen, daß i n dem vielberufenen Prozeß von trial and error letztlich die Wahrheit zutage t r i t t . Abgesehen davon, daß hier prozessuale Gedanken auf eine Institution übertragen werden, die eben gerade nicht den letztlich entscheidenden, den geschäftsleitenden Richter kennen — i m Grunde ist die gesamte Überzeugungskraft des politisch-parlamentarischen Wortes schon seit langem zerbrochen. Hier w i r d vielmehr das politische Wort zum Anarchisierungsinstrument, das Parlament zum Forum der Herrschaftsauflösung durch Begriffsverschleiß. Niemand w i r d heute noch behaupten wollen, daß eine Rede i n Plenum oder Ausschuß wirklich der Uberzeugung der Gegenseite dient. Viel ist es schon, wenn sie verunsichert, den Gegenspieler zu Abschwächung oder besserer Begründung seiner Position veranlaßt. Auch darin könnte ja der ursprüngliche, der Wortbewegungseffekt i m Politischen erreicht werden; doch selbst dazu kommt es immer seltener. Schwerlich w i r d sich doch leugnen lassen, daß die eigentliche Entwicklung der Parlamentsroutine dahin treibt, daß zerredet wird, daß Argumente entkräftet, Begriffe durch zahllose Erwiderungen sinnentleert werden. Laufend gehen von der Volksvertretung solche Effekte aus, sie setzen sich verhundertfacht i n den Medien fort; diese lernen wirklich von der Herrschaft die Herrschaftsentleerung durch Worte. Es ist hier nicht der Ort, den viel erörterten modernen Techniken der „Besetzung von Begriffen", der Umprägung bisher eindeutiger Worte nachzugehen. Sie lassen sich überall mit Erfolg einsetzen, wo i n Massen und zu Massen gesprochen wird. Doch daß es eine Institution an der Staatsspitze gibt, die sich darin bewegt, geradezu bewegen muß, solche Praktiken zu verfeinern, i m Zentrum der eigentlichen politischen Macht — das ist ein geschichtliches Novum und zugleich ein Weg i n das, was man die politische Wortanarchisierung nennen könnte. Wo das politische Wort seine Überzeugungskraft immer mehr einbüßt, wo es sich entwickelt zu einem Instrument der Auflösung gegnerischer Positionen, verliert es auch seine eigentliche Herrschaftsmacht, denn Herrschaft kann vom Worte doch nur i n Überzeugung ausgehen. Das Wort w i r d zum Medium der Bestreitbarkeiten, ein Begriff ruft den anderen, löst sich i n i h m wieder auf. Es mag das vornehme Vorrecht des intellektuellen Austausches sein, daß er geistige Auflösung, ja Anarchie i n Kauf nimmt, i m intellektuellen Spiel auch Kräfte dahin i n Bewegung bringt. Doch all dies sollte eben i m „Vorherrschaftsraum"
4. Inkompetenz als Machtauflösung
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erfolgen, dort, wo Entscheidungen vorbereitet, wo ihre geistigen Grundlagen geschaffen werden. Hier jedoch, i m Parlament, geschieht etwas ganz anderes: Die geistige Atmosphäre w i r d m i t all ihrem unfaßbar-Anarchischen i n die Herrschaftsspitze hineinverlegt, i n die „Entscheidungen" selbst. Als Kommunikationsmittel hat das Wort bei jeder Entscheidungsfindung, auch i n den technischen Abläufen der Bürokratie, eine bestimmte Bedeutung. Doch i m Parlament gewinnt es ganz andere Dimension, weil hier das Forum den Worten, den großen Reden einen Selbstzweck verleiht, weil eben der Volksvertreter i n erster Linie eine eigentümliche Form der Redegewalt ausübt. Diese aber w i r k t nur zu oft nicht auf Ordnung hin, sondern verwirrend, damit aber anarchisierend. I n der politischen Wortabnutzung, welche hier i m ständigen Schlagabtausch notwendig sich vollzieht, verlieren die Begriffe ihre ordnende Kraft. Wenn dann all dies Beschlossene von der Regierung an den Bürger weitergegeben wird, i n Form von Gesetzen oder Verwaltungsbefehlen, so stecken darin bereits alle jene Vorbehalte und Abschwächungen, welche die Parlamentsdebatten gebracht haben. Ein Glück war es sicher für die parlamentarische Demokratie und eine normative Notwendigkeit, daß der Wille der Väter eines Gesetzes über Auslegung nicht entscheiden soll, sonst würde sich ihre geistige Anarchie unmittelbar i n die täglichen Entscheidungen hinein fortsetzen. Der anarchisierende Eindruck auf den Bürger bleibt aber doch: A n der Spitze w i r d i n erster Linie geredet, zerredet, entschieden nur, wenn es nun wirklich sein muß, als sei dies fast schon ein Zufallsprodukt, mit dem Odium der abgebrochenen Diskussion belastet. I n diesen vielen Worten und Gegenworten zeigt sich eben eines als möglich, was doch i m Staat unmöglich bleiben sollte: daß es auch gar nichts an Herrschaft, an Entscheidung geben kann — eben Anarchie. 4. Inkompetenz als Machtauflösung a) Regnum incompetentiae „Technische" Kompetenz i m weitesten Sinne des Wortes kann der Parlamentarier nicht besitzen, er w i r d auch nicht dazu gewählt. Parlamentarischen Idealvorstellungen entsprechend bedient sich ja die demokratische Herrschaft der technischen Zuständigkeit der Regierung, welche von den Volksvertretern eben letztlich doch nur i n ihren Ergebnissen korrigiert werden kann. Doch diese Einflußmöglichkeiten schwinden rasch dahin, mit der steigenden Komplexität moderner Regierungsprobleme. Und wissenschaftliche Assistenten können dem A b geordneten nicht den mangelnden Sachverstand ersetzen, den er ja
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gar nicht besitzen darf, soll er sich mit allem befassen können. Abgeordneten-Spezialisten für diese oder jene Frage, das vielberufene „Sich-Einarbeiten" i n neue Probleme — all dies sind letztlich nur schöne Worte, fast könnte man sagen eine Form der Regime-Demagogie. Derart massierte „Spätberufungen" i n Fragen, zu deren Vertiefung man meist seine Jugend hätte opfern müssen, ist, i n der großen Zahl der Fälle wenigstens, nichts als reine und durchaus bekannte Illusion. Wäre dies möglich, so müßten ja auch kleinere Parteien notwendig an schwerem Kompetenzrückstand leiden, denn sie können mit ihren wenigen Volksvertretern doch nie die Spezialisierung größerer Gruppierungen erreichen — wenn diese möglich wäre; weil es aber nicht der Fall ist, mußte auch eine solche Unterlegenheit der kleinen Parteien noch nie ernstlich gerügt werden. Eine eigentliche fachliche Kompetenz der Abgeordneten widerspräche ja auch wiederum jener romantisierenden Grundvorstellung, welche i m Parlament ein Gegengewicht des „gesunden Volksempfindens", der unverbraucht politisch denkenden Volkstribunen sieht gegen die steigende Gefahr von Technokratie und Bürokratie. Eines allerdings steht damit auch fest: daß von einer Ausübung der Regierungsmacht durch das Parlament, von einem echten „Gouvernement d'Assemblée" i n neuester Zeit überhaupt nicht mehr die Rede sein kann. Die Volksvertretung kontrolliert, sie regiert nicht. Und auch diese Kontrolle w i r d stets eine inkompetente sein müssen, denn die Mehrzahl selbst der Ausschußmitglieder kann nicht letztlich spezialisiert sein für gerade die zu entscheidende Frage. Es vollzieht sich hier eine eigentümliche Wandlung von der Regierung h i n zur Kontrolle; sie findet besonders deutlichen Ausdruck i n der parlamentarischen Überwachung durch Fachfremde, doch darauf ist sie nicht beschränkt. Überall ist die Demokratie, so scheint es, nur mit Kontrollieren, nicht mit Regieren beschäftigt — auch der Minister muß ja nicht wirklich kompetent sein, auch er versucht nur, „sich einzuarbeiten"; seinen leitenden Beamten, die i h m i n politischer Treue verbunden sein müssen, fehlt ebenfalls nicht selten der wirkliche Sachverstand, es soll ja genügen, wenn auch sie kontrollieren, und so steigt die Kontrolleuphorie hinab i n die unteren Ränge der Technokratie und Bürokratie, erst dort findet sich derjenige, der wirklich „etwas von der Sache versteht". Dieser „Ersatz der Regierung durch Kontrolle" führt zu einer ganz eigenartigen Herrschaftsform, immer weiter ab von den eigentlichen „technischen Problemen"; darin aber kann nur eines liegen, gerade i n einer hochtechnisierten Welt: die Gefahr steigender Anarchie. Besonders entschieden, ja stolz bekennt sich die Demokratie m i t ihrem ober-
4. Inkompetenz als Machtauflösung
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sten Organ, dem Parlament, zu dieser offen sachfremden Entscheidungsstruktur. Ohne weitere Diskussion geht man darüber hinweg, daß es doch einmal dieses Parlament hatte sein sollen, das wirklich für den Bürger regierte und entschied. I m Wandel von der Regierung zu einer Kontrolle, die oft gar kein technisch begründetes Entscheidungssubstrat mehr vorfindet — weil eben überall nurmehr „kontrolliert" w i r d — darin droht die Dogmatik der demokratischen Kontrollmechanismen zu einer Dogmatik der Anarchie zu werden. Und nichts hat wohl, ganz allgemein i n der Gemeinschaft, der Idee des Wissens als Macht, von der Jahrhunderte gelebt haben, so geschadet wie die Leichtigkeit, m i t der i m Parlament höchste Macht von wenig Wissenden ausgeübt wird. Daß man sich weithin dabei beruhigt hat, weil es angeblich „anders nicht geht", ist noch längst kein Beweis dagegen, daß hier nicht nur das Prestige des Wissens gelitten hat, sondern zugleich die Idee der Macht selbst. b) Parlament als Störgewalt Doch nicht nur darin entfalten sich anarchische Erscheinungen; das Wesen der parlamentarischen Mentalität und der parlamentarischen Arbeit drängt die Volksvertreter, täglich und immer mehr, zu einem Verhalten, i n dem sich die anarchisierenden Effekte ihrer „technischen" Inkompetenz verstärken müssen. „Es muß doch etwas geschehen" in diesem Parlament, gerade wenn ihm nicht allzu viel Kompetenz nachgesagt werden kann. Reine Kontrolle dessen, was eine technokratisch ausgerüstete Regierung vorgibt, kann doch das politische Interesse nicht wachhalten, ohne das sich niemand i n der Volksherrschaft an der Spitze auf Dauer behaupten kann, auch keine Institution. So werden denn die Volksmänner i n die inkompetente A k t i v i t ä t geradezu getrieben, durch das Gesetz, nach dem sie angetreten sind. Damit aber w i r d das Parlament zu einer eigenartigen Form der politischen „Störgewalt", welche immer wieder die klaren Kreise der spezialisierten Verwaltung stört, stören soll. Es ist schon wirklich eine erstaunliche Globalromantik, m i t der Demokraten nach wie vor davon ausgehen, daß die gefährlichen Auswirkungen der Übertechnokratisierung durch Formen eines politischen „Naturburschentums" sachgerecht kompensiert werden können, wenn dieser respektlose Ausdruck erlaubt ist; immerhin t r i f f t er wohl viele Bürgerhoffnungen. Der Bürger sieht mit Wohlgefallen zu, wie der perfektionistischen Bürokratie immer wieder bescheinigt wird, „so gehe es eben doch nicht", wenn hier zu fein gedacht werde, so sei eine Kraft da, welche plötzlich, wie aus einem Urgrund heraus, irgend etwas auch „zerschlage". Was liegt darin eigentlich anderes, ist man einmal ehrlich mit den eigenen politischen Gefühlen, als die Freude an einem be-
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grenzten „Zurück i n die Anarchie", an einem Regieren mit Formen „warnender politischer Fehlzündungen" — was ist das anderes als eingebaute Anarchie? Das Parlament muß seine Macht oft, immer häufiger durch Störungen beweisen, jeder Ministerialbeamte richtet sich darauf ein. Darin zeigt sich übrigens, daß die Demokratie eine Grundfrage nicht hat lösen können: Sie hat i n ihren Volksvertretern, trotz aller Anstrengungen, nur sehr selten den eigentlichen „senatorialen Typ" hervorbringen können. Er wäre es ja, der i n Ruhe, wenn auch ohne allzu große Kompetenz, wahrhaft kontrollierte, der sich immer dort zurückhielte, wo er allenfalls ein Abgleiten i n übertechnisierte Sinnlosigkeit verhindern, nicht aber die bessere Lösung weisen kann. Doch stets ist ja auch der große Unterschied zwischen dem Volkstribun und dem Senator betont worden; die neuere Demokratie kennt nurmehr Volkstribunen. Denn der Senator mag zwar inkompetent sein — i m Grunde bescheinigt man i h m allerdings auch die größeren Fähigkeiten — dies t r i t t nicht anarchisierend i n Erscheinung, weil er i n Ruhe auf seinem Sessel sitzt, letztlich der Vertreter einer aristokratischen, oligarchischen Idee. Der unruhige Volksmann dagegen muß sich politisch bewegen, ob er es nun verstehe oder nicht. Und haben Volkstribunen nicht schon das alte Rom mit den ersten Stößen wahrer Anarchie erschüttert? Das Parlament ist Spitze und Legitimation demokratischer Herrschaft zugleich. Durch diese Institution fließt täglich Anarchie i n den Staat. Ihr Schicksal ist es vielleicht sogar, daß sie nur i n großen, außerordentlichen Momenten zu wahrer Herrschaftskonzentration findet. I m Normalgeschäft ist viel Herrschaftsauflösung. Und sie geschieht hier „aus der Gleichheitsherrschaft heraus", durch ein Staatsorgan, das sich nur aus Gleichheit legitimiert.
I X . Anarchiephänomene in der vollziehenden Gewalt Die Exekutive ist das stärkste Bollwerk gegen alle Anarchie; solange sie für die Staatsgewalt schlechthin stand, i n starken Formen der Monarchie, war Anarchie weit zurückgedrängt. Mißtrauische Eindämmung, ja Entmachtung der Verwaltung i n der parlamentarischen Demokratie öffnet der Anarchie neue Tore. Nimmt man Herrschaft ernst, so ist es auch heute noch immer die Verwaltung, i n der sie sich zeigt; doch gerade sie ist i n letzter Zeit zunehmend i n anarchisierende Strömungen geraten. Stets ist i n der neueren Verfassungsdoktrin von den „Gegengewichten" die Rede, und fast immer denkt man dabei an die Kontrolle der Exekutive durch das Parlament; man sollte erkennen, daß das Gegenteil ebenso wichtig ist: Die kompetenzmäßige, die eigentlich herrscherliche Kontrolle der parlamentarischen Unruhe durch die Verwaltung. Sie aber kann nur stattfinden, den anarchisierenden Luxus so mancher parlamentarischer Dynamik kann sich die Demokratie nur leisten, wenn i n der Verwaltung stets harte Herrschaft bleibt. Gerade dies aber ist nicht mehr der Fall. 1. Verwaltungsanarchisierung durch Parlamentskontakt Die Aufgabe des Parlaments i n der Demokratie ist es, die Verwaltung zu kontrollieren und ihr den Willen des Volkssouveräns i n geeigneter Weise, allgemein oder i m einzelnen, aufzuzwingen. Zwar hat die Staatslehre versucht, einen selbständigen „Bereich der Regierung" zu konstruieren, so daß das Parlament sich auf Anfragendruck und Rücktrittszwang beschränken sollte. Doch es ist sehr fraglich, ob dies der Idee der Volksvertretung entsprechen kann — vor allem i n der Praxis. Bleibt nämlich allein ein Rücktrittszwang, der zudem noch über die Person des Regierungschefs geleitet w i r d und auf die ganze Regierung sich erstrecken muß, so fällt die parlamentarische Kontrolle i n sich zusammen, sie kann dann gerade nicht i n jener täglichen Normalität wirken, die doch allein aus dem Kontrollparlament ein legitimes Staatsorgan werden läßt. Der parlamentarischen Demokratie entsprechen also an sich schon jene laufenden Versuche direkter Einflußnahme auf Minister, Verwaltungschefs, ja ausführende Beamte, wie sie die Praxis
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ständig zeigt. Der Abgeordnete, der von irgendeinem Beamten nähere Informationen i n einer Frage verlangt, die orientierende Einmischung i n die Personalpolitik der Exekutive, die Drohung mit peinlichen Fragen an Beamte i n Ausschüssen, die Untersuchungsausschüsse für ganze Verwaltungsbereiche — dies alles entspricht vielleicht nicht der dogmatischen Konzeption einer unabhängigen Exekutivgewalt, es gehört jedoch zur Grundidee der wirksamen parlamentarischen Demokratie. Doch für Beamte ist und bleibt dies alles weit mehr als eine Störung ihrer laufenden technischen Arbeit; sie werden verunsichert, konfrontiert mit ganz anderen Denkweisen als die jener ruhigen Technokratie, i n der sie Meister sind. Schon bei den ersten Vorplanungserwägungen muß ja mit all jenen Formen einer Kooperation m i t dem Parlament gerechnet werden, i n denen meist Überlegungen politischer Durchsetzbarkeit an die Stelle technischer Richtigkeit treten. Verzögerungen entstehen, Rückfragen werden nötig, Auskünfte müssen erteilt werden, die Initiativen an der Wurzel brechen. Insgesamt reicht eben etwas wie ein „unsachlich-politischer Stil" laufend bis i n die Zentren der Verwaltungen hinein — und dies sind nicht die Spitzenbeamten; sie mögen es vielleicht als weniger störend empfinden, sind sie doch, mehr und mehr, bereits aus dieser selben Politik herausgewachsen. Die ganze „parlamentarische Anarchie", von der vorstehend die Rede war, dringt i n unzähligen Kanälen ins Zentrum der anti-anarchischen, der echten Herrschaft vor; und dabei bleibt diese parlamentarische Macht, die doch stets kontrollieren w i l l , ihrerseits wesentlich unkontrolliert. Zwar w i r d das Amtsgeheimnis laufend gebrochen, doch es deckt alle Verletzungen sogleich wieder zu. Keiner empirischen Forschung kann es je gelingen, den Umfang jener Anarchisierung exakt zu bestimmen, die sich von der Ersten auf die Zweite Gewalt ständig überträgt; und i m Mehrparteienstaat, bei Koalitionsregierungen, muß dann mehreren Herren gleichzeitig gedient, gegenläufigen Sachlichkeiten — und Unsachlichkeiten — aus dem Parlament zugleich entsprochen, wenn schon nicht gehorcht werden. Dies alles ist der parlamentsanarchisierte Zustand unserer heutigen Beamtenschaft, nicht nur i n Ministerien und Spitzenverwaltungen, sondern bis hinunter i n jene Kommunen, i n denen sich die vielgepriesene Lokaldemokratie entfaltet, die Mutter aller Volksherrschaft. 2. Politisierung des öffentlichen Dienstes — Anarchisierung in parteipolitischer Clanherrschaft Gegen die Parteipolitisierung des öffentlichen Dienstes, die sich immer tiefer herabsenkt, längst nicht mehr auf Spitzenpositionen beschränkt ist, wurde schon vieles und Richtiges kritisch bemerkt: daß
2. Politisierung des öffentlichen Dienstes
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sie gegen ein klares Verfassungsverbot verstößt, daß sich in ihr die Unabhängigkeit und damit die Existenzberechtigung des Berufsbeamtentums abschwächt, daß die Vorstellung von einem wie immer bestimmten Allgemeinwohl leiden muß, weil selbst i m öffentlichen Dienst zunächst nur einer Partei gedient wird. I n dieser „Parteiprivatisierung der Ämtergewalt" liegt aber auch ein äußerst gefährlicher Anfang echter Anarchie. Befohlen und gehorcht w i r d zwar auch hier noch, vielleicht mehr als i n der parteiunabhängigen Beamtenhierarchie, gibt es doch vieles parteipolitisch zu befehlen und vieles durch Gehorsam zu erlangen. Doch es sind eben immer nur Interessen politischer Gruppen, i n deren Namen letztlich gehandelt wird, und sei es auch mit der Unterschrift des Staates, die nur verschleiert. I n diesen Parteiinteressen als Allgemeininteressen, welche ein konsequent politischer Beamter stets vertreten muß, w i r d schon etwas vom Anspruch jener allgemeinen Herrschaft aufgegeben, welche doch gerade in der Exekutive noch ihr Organ finden sollte. Dadurch aber schwächt sich demokratische Herrschaft an sich schon entscheidend ab. Weit gefährlicher i m Sinne der Anarchisierung sind jedoch Unsicherheit und Blockade, welche damit i n die Verwaltung getragen werden. Die Karriereberechnung w i r d für den Einzelnen auf Grund seiner Leistung nahezu unmöglich, dringt er i n höhere Bereiche vor. Nicht nur, daß er sich dann parlamentarischen Anarchisierungen besonders leicht öffnen wird, von denen schon die Rede war, nur u m sich i n der Laufbahn zu steigern; der politische Beamte und die viel zahlreicheren noch, die es werden könnten, die „virtuell politisierten Beamten", sind schon heute dabei, i n unbemerkter Weise „prekär zu verwalten", stets unter dem Vorbehalt einer Parteipolitik, die man i n die eigene Karriereplanung mit einbeziehen muß. Auf diese Weise werden sie zu Selbststörern ihrer eigenen Arbeit, soweit sie sich dem nicht beugen, w i r d diese sehr massiv durch politische Ernennungen ihrer Vorgesetzten durchkreuzt und gestört. Denn darüber kann kaum ein Zweifel bestehen: Der i m Dienst nicht politisch denkende und handelnde Karrierebeamte w i r d stets die politische Vorgesetztenernennung als eine anarchisierende Störung der an sich doch unpolitischen Verwaltung verstehen; er mag resignieren, erkennen, daß er sein „technisches" Verwaltungsideal hier opfern muß, seine eigentliche Arbeitslinie ist anarchisierend gebrochen. Härter noch t r i f f t die Verwaltung die Selbstblockade, zu welcher die Politisierung der Ämter notwendig führt. Verwaltung ist und bleibt doch eine Befehlsordnung, i m eigentlichen Sinne kann sie nur funktionieren, wenn nicht Gegenbefehle, Gegenstöße ständig zu erwarten sind.
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Gerade dazu aber führt die Parteipolitisierung, und zwar w i r d dies besonders von jenen gefühlt, die noch nicht i n der Führungsspitze stehen, aber häufig die „eigentliche Arbeit" zu leisten haben und dabei ständig gegenläufigen Einflüssen verschiedenster A r t unterliegen. Da gibt es den neuen Verwaltungschef i n der politischen Färbung des Ministers; doch unter i h m tut noch ein Abteilungsleiter Dienst, welcher einer früher herrschenden, heute oppositionellen Richtung nahe steht, wenn er nicht gerade wegen seiner abweichenden parteipolitischen Überzeugung gehalten w i r d — ein schönes Beispiel der parteipolitischen Toleranz des Ministers. Da w i r d gesteuert und gegengesteuert, i n zahllosen kleinen Zügen und Winkelzügen; dem Referenten bleibt die Entwurfgewalt, er w i r d früh an Alternativen gewöhnt, nicht aber an das, was eine Verwaltung stets leisten sollte: Herrschaft v e r w i r k lichen. So werden denn i n die zielstrebige verwaltende Arbeit zahllose anarchisierende Störungen täglich getragen. Vor allem aber eines: eine Stimmung politischer Zufälligkeit, i n der nicht mehr allein aus Leistungsüberzeugung heraus gearbeitet wird, u m zum Erfolg zu gelangen. Wenn aber eine Gewalt i m Staat ihrem eigenen Grundprinzip untreu wird, jener „technischen" Leistungseffizienz, wenn i n sie die Mentalität des Parlaments, einer anderen Gewalt, eindringt, so ist mehr erfolgt als ein geistiger Bruch der Gewaltenteilung, die Verwaltungsgewalt selbst w i r d verunsichert, gebrochen. Und wem sollte dies mehr zugute kommen als der Anarchie? Jeder Beamte w i r d seinen Dienst auch i m privaten Karriereinteresse verrichten; geschieht dies jedoch zugleich noch i m partikularen, politisch-privaten Interesse einer Parteigruppierung, so zerfällt das öffentliche Tun der Verwaltung i n private Clanaktivität auf verschiedenen Ebenen, es beginnt ein privater, allgemeinheitsfeindlicher Interessenkampf — eine typisch verwaltungsmäßige Anarchieform. 3. Der Hierarchieverlust Das Bundesverfassungsgericht hat einst das Wesen von Verwaltung und Beamtenschaft i n einem „Über/Unterordnungsverhältnis" gesehen; i n den vergangenen Jahren ist systematisch der Hierarchieabbau innerhalb der Zweiten Gewalt versucht worden. Weit über das technisch Erforderliche hinaus sind mit oft ideologisierender Intensität Kollegialitäten und Teamarbeit eingeführt worden; auf Titel und Amtsbezeichnungen w i r d verzichtet, sie werden abgeschafft oder gar der Lächerlichkeit preisgegeben; das Recht auf Einsicht i n die Personalakten hat die Beurteilungsgewalt der Vorgesetzten praktisch nahezu völlig entwertet; Befehl und Anordnung haben einen schlechten Klang, es sei denn,
3. Der Hierarchieverlust
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sie decken den Nachgeordneten — sie selbst werden kaum noch gedeckt; der Untergebene ist Vergangenheit, und wo gäbe es eine subalterne Beschäftigung, i n der nicht auch irgendwelche „Führungsaufgaben" entdeckt würden — kurz: Die Pyramide verfällt, und es bedarf kaum noch der Personalräte, u m das Werk zu vollenden. I n all dem hat der Gleichheitsstaat nur Positives gesehen: Hierarchieabbau werde dem Bürger mehr Freiheit, Herrschaftslosigkeit bringen. Diese Hoffnung trügt nicht, sie w i r d wohl bald noch vollständiger i n Erfüllung gehen, als es manche demokratische Richtungen wünschen: bis hinein i n eine Verwaltungsanarchie, die zu Formen der Gemeinschaftsanarchie führt. Denn richtig ist eben das Dogma von der Außenwirkung der inneren Befehlslosigkeit, auf den Bürger, auf die Gemeinschaft. Weil er eine menschliche Einheit bleibt, w i r d der Beamte stets dem Bürger ähnlich begegnen, wie i h m der Vorgesetzte gegenübertritt. Ist hier strenge Herrschaft, so w i r d auch er nach außen befehlen und ordnen; schwächt sich die Hierarchie i n eine privatrechtsähnliche Gleichordnung von Vorgesetzten und Mitarbeitern ab, die sich i n Vereinbarungen und Absprachen begegnen, die „zusammenarbeiten", so w i r d auch dem Bürger gegenüber „Kooperation" sein, Gleichordnung, Arrangement. Das Beamtenrecht, ein Teil des Besonderen Verwaltungsrechts, ist ein Modell, ein Vorläufer des allgemeinen Staat-Bürgerverhältnisses, das i n denselben Grundlinien stets geordnet sein wird. Und deshalb sollte ja die Obrigkeit i m Beamtenstatus gebrochen werden, damit sie auch dem Bürger gegenüber nicht mehr herrschaftlich auftreten könne. Das Ende des Beamtenstatus wäre das Ende der alten Staatsgewalt. Diese Rechnung scheint nur allzu gut aufzugehen: A l l e anarchisierenden Erscheinungen, welche Behördenleitungen heute beklagen, w i r ken sogleich, wenn auch meist undefinierbar, auf die Bürgerschaft über. I n der Verwaltung sollte der Bürger dem festgefügten antianarchischen Kern der Staatlichkeit begegnen. Wenn er hier auf „Behördenstimmungen" trifft, in denen Anordnungen nicht mehr gegeben und nicht mehr befolgt werden, i n denen niemand mehr eigentlich Verantwortung tragen kann, i n denen der Bedienstete immer mehr zwischen zwei Herren gerät, Behördenleitung und Personalrat, dann kann es leicht geschehen, daß dem Bürger gerade die Verwaltung, der Prototyp der Herrschaftseinheit, als der Beginn einer Anarchie erscheint, wie er sie in dieser Weise i n seinem privaten Leben noch gar nicht kennengelernt hat. Fast scheint es, als nehme sich die Spätdemokratie hier vor, den Bürger „zur Anarchie zu erziehen", ihn „anarchisch zu regieren", sie, welche doch seine anarchischen, privaten Regungen i n der Behördenordnung hätte auffangen sollen. Wenn einmal der Dienststreik zur 15 Leisner
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Gewohnheit geworden ist, läßt sich dann leugnen, daß die Anarchie ganz offen, vom Zentrum des Staates aus, „regiert"? Mehrmals schon konnten w i r feststellen, daß sich die Gleichheit selbst zerstören kann, i n Anarchie; hier geschieht es ganz offen; denn was im öffentlichen Dienst durch Hierarchieabbau versucht wird, ist totale Gleichheit — i n der Verwaltung selbst, viel mehr noch nach außen, w i r k t dies alles als Anarchie. 4. Legalitätsübersteigerung — Umschlag in Unordnung Die strenge Legalität verlangt, daß jeder Eingriff i n Freiheit und Eigentum des Bürgers nicht nur i m Rahmen der Gesetze erfolge, sondern auf ausdrücklicher gesetzlicher Grundlage. Dies muß notwendig, i n einer hochentwickelten Industrienation, zu einer Legalitätsübersteigerung führen: Eingriffe aller A r t vervielfachen sich, so wie das Planungsnetz sozialistischer Staaten immer enger geknüpft werden muß, ebenso muß sich das Legalitätsnetz der Demokratien verdichten, welche sich freiheitlich nennen; und i m Grunde ist ja auch dies nichts anderes als ein Versuch, möglichst alle Lebensbereiche irgendwie regelnd zu erfassen, damit aber ein Ansatz zu einer A r t von normativer Vollplanung. Eines Tages w i r d man erkennen, wie wenig sich eine „durchnormativierte Legalitätswirtschaft" von einer vollen Planwirtschaft unterscheidet. Die Demokratie sieht i n all dem zunächst nur einen großen Freiheitsgewinn: Normen sollen herrschen, nicht Menschen, das normative System mag ein Eigengewicht entfalten, i n vielem sich zu einer „technischen Unmenschlichkeit" entwickeln, gerade dann aber hört, so scheint es doch, der Druck des einen menschlichen Willens auf den anderen auf, Herrschaft ist i n normative Ordnung verwandelt. Auf den ersten Blick mag es scheinen, als finde eine Verwaltung i n all dem nur Grundlagen und Instrumente immer perfekterer Ordnung. Löst nicht die notwendige Konsequenz der „gleichen Norm" jede W i l l k ü r des Gegenbefehls auf, damit aber Ansätze zu einer gefährlichen Anarchisierung, welche aus dem ungebundenen Belieben der Verwaltenden heraus kommen könnte? Dies ist die i m Grunde durchaus antianarchische Legalitätsidee, sie hat wahrhaft ordnend wirken können, solange eben Gesetze und Verordnungen nur das leisten sollten, was ihnen wesentlich ist: einen Rahmen schaffen, der überschaubar bleibt und Bewegungsraum für das Individuelle läßt. Doch nun kam es, gerade i m Gleichheitsstaat, zur normativen Übersteigerung. Die Verwaltung w i r d i n allem und jedem gebunden, ihr
4. Legalitätsübersteigerung — Umschlag i n Unordnung
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Ermessen w i r d auf N u l l reduziert, es verliert sich i n der Selbstbindung der Verwaltungsvorschriften oder i n einer Selbstegalisierung der Entscheidungen, weil eben kein Beamter es wagen kann, i m Gleichheitsstaat sich durch einen „besonderen Zugriff" — zu unterscheiden. Auch darin liegt noch antianarchische Entwicklung, Machtsteigerung des Gleichheitsstaats. Sogleich setzt aber der Umschlag ein: Alles muß ja nun normativ erfaßt werden, die Gesetzes- und Verordnungsflut erreicht die Verwaltung. Sie mag es zunächst beklagen, doch bald richtet sie sich i n diesem Gestrüpp ein, das nur sie selbst zu durchschauen vermag. Und nun beginnen neue Formen der Verwaltungsanarchie: Kontrollmöglichkeiten schwächen sich i n der Unübersichtlichkeit ab, der Beamte findet zu seiner kleinen, persönlichen Verwaltungsmacht zurück, er darf eben dem einen etwas an seinem Bauwerk genehmigen, was ein anderer nie erreichen kann, m i t dem einen Bürger über Abgaben sich arrangieren, die der andere ohne Widerspruch entrichten muß. Die Unterschiede, die so oft als „Menschlichkeit" auch noch gelobt werden, mögen i n der Praxis so groß nicht sein — beim Bürger aber schafft die Unübersehbarkeit der übersteigerten Legalität, der Verwaltungsdschungel, ein allgemeines Gefühl einer anarchieähnlichen Machtausübung, und es trügt i h n nicht: Hier eben vollendet sich ein Hierarchieabbau, der als solcher, wie bereits dargestellt, nur anarchisierend w i r ken kann. Zu wenig ist bisher erkannt worden, daß m i t jeder Verfeinerung der Verwaltungsbindung deren „Technizität" und damit Unüberschaubarkeit steigt, daß wachsende Legalität eine gefährliche Abschwächung der Führungsmöglichkeit i n der Verwaltung bedeutet. Umzugskosten und Gebühren sind total verrechtlicht, das Besoldungswesen bis i n Kleinigkeiten geordnet — alle diese Materien „wandern zu Spezialisten ab", kein Behördenleiter, kein Verwaltungschef kann sich hier den Durchblick bewahren; damit aber entwickeln sich zahllose kleine Zentren autonomer Verwaltungsmacht, auf den Ebenen höchst kompetenter Inspektoren und Sekretäre. Die „Ordnung" w i r d vielleicht nicht aufgehoben, eher noch intensiviert, aber sie w i r d i n einer Weise vervielfältigt, daß niemand sie überschaut, weder der Bürger noch der Vorgesetzte, bis sie am Ende sich selbst nicht mehr sieht, bis sie beginnt, sich zu widersprechen. So endet die Legalität nahezu notwendig i n einer „VerwaltungsKleingewalt", gegen die dem Bürger kaum Gegenwehr bleibt. Hier zeigt sich eines: Auch eine Masse von Befehlen kann Unordnung schaffen, Anarchie. Die Raster-Herrschaft der modernen Verwaltung kann die Geschlossenheit des menschlichen Machtwillens nicht ersetzen, der 15·
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auch i n dem heute so weit zurückgedrängten Ermessen seinen gültigen Ausdruck findet. Denn die „anarchisierenden Raster" bringen ja auch einen anderen Anarchisierungseffekt: Was durch sie fällt, darum kümmert sich nun w i r k l i c h keine Herrschaft mehr, i n der mechanisierten Übertechnik der Herrschaft liegt stets auch eine Versuchung und eine Chance für den Bürger, sich dieser entmenschlichten Macht zu entziehen. 5. Bürokratie — Instrument der Anarchie Nirgends w i r k e n heute i m Verwaltungsbereich Anarchiestöße stärker als i n der oft radikalen Ablehnung dessen, was so pauschal als Bürokratie kritisiert wird. I n der Tat wendet sich j a der Bürger gegen Schwerfälligkeit und Anonymisierung der Verwaltungsmacht mit allen Mitteln, bis h i n zum verdeckten oder gar offenen Widerstand, und n i r gends ist er der Sympathie vieler anderer sicherer, als wenn er hier gegen die Macht aufsteht. Bürokratiekritik ist die Form des „sympathischen Herrschaftswiderstandes" schlechthin geworden. Doch dabei w i r d eines übersehen: Bürokratie bringt Anarchie nicht nur dadurch hervor, daß sie zum offenen Widerstand des Bürgers führt, sie ist selbst eine Organisationsstufe, aus der i n der Verwaltung echte Anarchie entstehen muß; und darum geht es hier. Jene bürokratischen Strukturen, welche so oft als unerträgliche Herrschaftsintensivierung erscheinen, i n denen i n der Tat manchmal Herrschaftsaneignung versucht wird, sie begünstigen zugleich auch Machtverdünnung, Legitimitätsverlust, Effizienzabfall, Widersprüchlichkeit i n der Verwaltung, i n all dem aber kann Bürokratie nur anarchisierend wirken. Es bedarf gar keines Definitionsversuches des Wesens der Bürokratie, u m dies zu erhärten, wenige Bemerkungen mögen genügen, die von der herkömmlichen Bürokratiekritik ausgehen: Die Größe der Verwaltungsapparate, ihr Anwachsen, gilt als Wesensmerkmal aller Bürokratie. Doch darin werden die Apparate zugleich auch unüberschaubar, unkontrollierbar, uneinsetzbar für alle Herrschaft. Der gliederungslose Riesenapparat mit seinen tönernen Füßen ist das Gegenteil eines Machtinstruments, mit dem Herrschaft gezielt wirken kann. Bürokratie w i r d stets die Tendenz haben, sich abzukapseln, zu autonomisieren, eben weil sie sich i n sich dreht, mit sich selbst nur beschäftigt ist. Daraus ergibt sich nicht nur wiederum Herrschaftsabschwächung, es entsteht ein Gegeneinander i n der Verwaltung, i n den eigensüchtigen Interessen zahlreicher Bürokratien/ Wenn es nurmehr darum geht, die eigenen Kompetenzen zu festigen, sich die Arbeit zu erleich-
5. Bürokratie — Instrument der Anarchie
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tern und Planstellen zuzulegen, wenn man darin i m Streit liegt mit vielen anderen Bürokratien, die ähnliche „private Amtsinteressen" verfolgen, so zerbricht hier, i n einem neuen Zünftebürokratismus, die Einheit der Herrschaft, der Bürger gerät i n das Kreuzfeuer von Zuständigkeiten, die sich überdecken, seinen Widerstand hervorrufen und letztlich gar nicht mehr auszuüben sind; die Verwaltung führt den kleinen Grenzkrieg i m Interesse der Beamten anstatt der großen Herrschaftsschläge gegen den Bürger. Bürokratisierung bedeutet vor allem auch einfach die Zunahme der Zahl der Herrschenden i n der Verwaltung, damit aber Abnahme ihrer jeweiligen Herrschaftsmacht. Ihre immer größere Dichte mag dem Bürger lästig werden, es belästigen sich aber auch die Verwaltenden untereinander. Bürokratie ist sicher ein Versuch friedlicher Koexistenz immer zahlreicherer Verwaltender — irgendwann führt sie zu einer Verwaltungs-Platzangst, die sich i n Widersprüchlichkeiten entlädt, i n kleiner Anarchisierung. So ergibt sich denn: Bürokratie ist vor allem Selbstbeschäftigung, Rückzug aus dem „Außenbereich der Herrschaft" — Unzugänglichkeit. Doch darin liegt nichts anderes als Herrschaftsabschwächung, „Herrschaftsrückzug". Herrschaftswirkung w i r d umgekehrt verhältnisgleich zur Größe des Apparats, es findet damit ein höchst bedenklicher Verwaltungsverzicht statt, der nichts anderes schafft als tatsächliche A n archie. Langsamkeit und Schwerfälligkeit, die Vorstufen bürokratischer Selbstgenügsamkeit, heben heute nur zu oft i n weiten Bereichen eine demokratische Herrschaft faktisch völlig auf, die eben „nicht mehr ist", wenn sie derart zu spät kommt. Vor allem aber w i r d sie nicht mehr als solche gefühlt, als wahre, effiziente Verwaltung anerkannt, wenn sie sich i n belächelten Formen der Selbstbeschäftigung verliert. Bürokratie — das bedeutet letztlich „Verwaltung als Besatzung", als verständnisloses Halten der Ordnung von außen. Wie jede Besatzung aber kann dann auch diese nur Bereitschaft zu anarchisierendem Widerstand hervorbringen; und sie selbst schwächt sich derart, daß sie am Ende sogar die strategischen Punkte nicht mehr verteidigen kann. Die am meisten berechtigte K r i t i k an der Bürokratie aber richtet sich wohl gegen die ständigen Energieverluste, denen eine überkonzentrierte Verwaltung unterliegt. Sie kostet zu viel, zu vieles verliert sich i n sinnlosem Formalismus, A l l ; dies ist aber nichts anderes als eine gefährliche Quelle der Anarchie: Wo immer die bürokratisierte Verwaltung ihr Ziel verfehlt, i n der Abneigung seitens des Bürgers, i m Grabenkrieg mit Konkurrenzbürokratien — überall dort entstehen sogleich kleine und größere Räum« der Herrschaftslosigkeit. Der Bürger baut sich hier oft ganze Systeme von Schlupfwinkeln und Gräben,
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i n denen er von einer Herrschaftsverdünnung i n den anderen Herrschaftsfreiraum flüchten kann. Das Schlimmste an der Bürokratie ist ja wohl, daß sie i m Geiste des Bürgers eine A r t von „Gegenbürokratie", eine Mentalität systematischer Machtflucht i n kleinen Schritten erzeugt und legitimiert. Der Gewaltunterworfene leistet der Bürokratie nicht nur offenen Widerstand, er lernt sehr rasch ihre Spielregeln, spielt Bürokraten und Bürokratien gegeneinander aus und lebt darin ungefährlich, i n erstaunlicher Anarchie. So schafft denn diese lastende Verwaltungsform, die so typisch ist für den alles nivellierenden Gleichheitsstaat, überall Wege nach außen — aber nicht i n eine rahmengeordnete Freiheit, sondern i n einen Untergrund der Anarchie. Anarchie setzt, i n all ihren Formen, immer auf eines: daß der Bürger den Herrschenden entfremdet werde; nirgends vielleicht kann sie so spektakuläre Erfolge aufweisen wie i n diesen Erscheinungen einer Verwaltungsperfektionierung, die sich selbst zerstört. Hier laufen alle Formen des Krieges ab, vom offenen frontalen Angriff der Bürokratiekritik bis i n die Guerilla der bürokratiekonformen Herrschaftsflucht.
6. Planungsanarchie in der Verwaltung Der Idee nach bedeutet Planung das Ende aller Anarchie, i n einer Zukunftsprojektion der Ordnung, i n der alles wenn nicht befohlen, so doch vorhergesehen ist. I n seiner großen Planung hat der Sowjetstaat jener Anarchie, m i t der er angetreten ist, ein für allemal ein Ende bereiten wollen. Antianarchisches Ordnungsstreben trägt auch die PIanungsversuche der westlichen Demokratien. Doch nirgends hat sich vielleicht i n letzter Zeit so viel an echter Herrschaftslosigkeit, ja Unordnung dem Bürger gezeigt, wie i n dem, was man nun wirklich die Planungsanarchie der freiheitlichen Verwaltung nennen kann. Bauplanungen, auf die man sich lange Zeit einrichten sollte, die aber bereits morgen und übermorgen durch konkrete Interessen durchkreuzt werden; Erziehungsplanungen, i n deren Namen experimentelles Chaos veranstaltet wird; politische Planung gar noch an der Spitze, die sich dann i n laufendem Reagieren auf außenpolitische und innenpolitische Datenänderung nurmehr als organisierter Pragmatismus auswirkt — all dies sollte zu denken geben, ob jene Exekutivgewalt, welche doch allein die Planungsdaten und die Planungsmacht besitzt, i n dieser ihrer ordnenden Vorausschau nicht am Ende nur eines bewirkt: neue Formen der Anarchie.
6. Planungsanarchie i n der V e r w a l t u n g
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Es beginnt bereits mit der notorischen Planungsunsicherheit aller rechtsstaatlichen Demokratien: Sie können sich ja, ihrem ganzen Wesen nach, nicht eindeutig entscheiden, von welcher Qualität diese Planung sein, ob sie befehlend ordnen oder doch nur orientierend wirken soll. Und was sind schon Orientierungen, welche ständig durchkreuzt werden können, durch staatliches Andersdenken oder gar durch private Willensänderung? W i r d hier nicht nur ein Schein von Rechtssicherheit geboten, hinter dem erst recht nichts anderes steht als ungebundenes privates und öffentliches Belieben? Die westliche Demokratie kennt die ordnende Norm, den ordnenden Plan hat sie bisher nicht entdecken können. Alle dogmatischen Versuche von Zwischenkategorien zwischen Einzelentscheidung und allgemeiner Normdezision sind bisher immer wieder gescheitert. I n diesem Sinn also ist der Plan für die rechtsstaatliche Dogmatik nichts anderes als eine nicht herrschaftskonforme, d. h. aber letztlich: eine anarchisierende Rechtskategorie. Doch die Schwierigkeiten planender Ordnung liegen tiefer, i m Wesen der freiheitlichen Verwaltung selbst. Diese Verwaltung bleibt eben, ihrem ganzen rechtsstaatlichen Wesen nach, eine Macht der Einzeldezision, sie vollendet sich i n der unvorhersehbaren Ermessensentscheidung. Sie kennt i m Grunde nur zwei Denkformen: zum einen die der harten Anwendung von Normen — einer wirklich rechtsstaatlichvollziehenden Verwaltung muß jedoch, vom geistigen Habitus her, ein gestaltend-normfreies Regieren fremd, ja ein Ärgernis sein, wie es die Planung aber verlangt. Der Rätestaat kann es seiner Verwaltung zumuten, die weit weniger legalistisch gebunden ist. Die freie westliche Demokratie hat ihren Gesetzesvollzug — das „Normfreie" kann ihre Verwaltung geistig i m großen nicht bewältigen. Und auch ihre andere Denkform, die des freien, einzelfallgestaltenden Ermessens findet i n der Planung nicht eigentlichen Raum. I n diesen Einzelentscheidungen behält sich die Verwaltung ein wirkliches Hoheitsrecht vor, „die Dinge auf sich zukommen zu lassen", gerade das Gegenteil von dem, was eine Planung verlangt, welche ihrerseits die Probleme „ i n der Zukunft schon einzuholen" versucht. Wenn es einen „Bereich der Regierung" gibt, so ist es eben dieser Einzelvollzug i n nicht normierbarer Freiheit, also i n einem nicht planbaren Belieben. Wer planen w i l l durch Verwaltung, müßte vertieft darüber nachdenken, ob er in dieser „Vollzugs- und Ermessensgewalt" Gehirne und Denkformen vorfindet, die i n Planungskategorien sich bewegen können. So muß denn für die Verwaltung der Planungsversuch immer etwas Chaotisches, Anarchisierendes behalten: Einerseits w i r d er durchbrochen durch die Änderung der großen Rahmendaten seitens der Ge-
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I X . A n a r c h i e p h ä n o e n e i n de vollziehenden Gewalt
setzgebung, des Parlaments; zum anderen muß es sich die Verwaltung, ihrem Wesen gemäß, vorbehalten, ihre eigenen Kreise stets wieder durch Einzelentscheidungen zu durchkreuzen. Daraus kommt Verwaltungsanarchie, Bestrebungen einer Gewalt, die i n sich uneins ist und darin zerfällt. I n der deutschen demokratischen Verwaltung, wie i n der manch anderer westlicher Länder, kommt dazu noch ein weiteres: Die herkömmliche und durchaus verwaltungstypische Autonomisierung der Zweiten Gewalt. Während das Parlament immerhin jene Einheit präsentiert, aus der heraus größer geplant werden kann, fehlt all dies i n einer Exekutive, welche kommunalisiert, föderalisiert, autonomisiert erscheint. Hier kann es allenfalls zur Partialplanung kommen, die dann aber wieder mit anderen, gleich- oder übergeordneten Planungen koordiniert werden muß. Daraus entsteht typische Planungsanarchie, denn jede Planung möchte ja i m Grunde sich absperren i n einer möglichst absoluten Wirkung, kann also nur unter größten Reibungsverlusten m i t anderen Planungen koordiniert werden; dies ist das Schicksal selbst der sowjetischen Planung, wie zentralisiert sie auch erfolgen mag. Planungsanarchie ist also auch eine Gefahr der föderalisierten, kommunalisierten Verwaltung. Und insgesamt zeigt sich die Planung nur zu oft als eine institutionalisierte Form staatlicher Unordnung. So ist denn die demokratische Verwaltung, das große Bollwerk gegen die Anarchie, heute schon von dieser weithin unterlaufen worden; i n vielem, i n immer mehr ist sie nichts anderes als ein — Vollzug systematischer Unordnung. Nur i m Vollzug ist sie noch i n Ordnung — das aber ist auch alles, was bleibt. Und oft w i r d i n der Verwaltung ja auch nur geplant, damit nicht gehandelt werde . . .
X. Gerichtsbarkeit als Anarchieinstanz I n der parlamentarischen Demokratie gilt die Gerichtsbarkeit als eine der wichtigsten Herrschaftsinstanzen. I n ihrem Spruch erst w i r d die Norm, der Ausdruck der höchsten Gewalt, wirklich verbindlich. Wenn es das Endgültige ist, welches vor allem die Herrschaft ausmacht, das Unwiderrufliche, Unwidersprochene, so liegt i n der Gewaltausübung durch den Richter ein wahres Zentrum staatlicher Macht. Hier steigert sich die Volksherrschaft, so scheint es doch, zu einer Widerspruchslosigkeit, welche personale Regime kaum erreichen können: Die Macht ist hier sogar an sich selbst gebunden, sie kann gar nicht anders als absolut wirken. Doch eben die Garantien, mit denen andererseits die Demokratie diese Machtäußerung wieder umgeben muß, aus ihrem Wesen heraus, können aus der Gerichtsbarkeit eine Instanz der Anarchie werden lassen, und zwar gerade dann, wenn sich die politische Herrschaft i m übrigen ohnehin i n Widersprüchlichkeit abzuschwächen beginnt. 1. Die „entpolitisierte Gewalt" als anarchisierender Störfaktor Montesquieus Wort von der Gerichtsbarkeit als einer „gewichtslosen Gewalt" t r i f f t i n der Mehrparteiendemokratie noch weit mehr zu als in der damaligen Periode des niedergehenden monarchischen Absolutismus. Nicht so sehr i n dem Sinne fehlt hier das politische Gewicht, daß der Richter zur Durchsetzung seiner Entscheidungen stets auf eine andere Gewalt angewiesen ist, nicht so sehr auch deshalb, weil er ganz wesentlich ohne „eigenes" politisches Interesse entscheiden soll — gewichtslos w i r d seine Tätigkeit vor allem i n der Loslösung von der Parteipolitik, damit aber von der Politik schlechthin, denn eine andere kennt die parlamentarische Demokratie nicht. Sicher steht der unpolitische Richter hier i n einem schwierigen Dilemma: Einerseits soll er ja die politischen Normbefehle der Volksvertreter vollziehen, fortsetzen, verfeinern. Darin liegt eminent politisches Wirken. Doch wie dies zu geschehen hat — darin eben ist er keinem Befehl unterworfen, er handelt i n „anordnungsfreiem politischen Denken". Es mag dahinstehen, ob es etwas Derartiges überhaupt geben kann, ob hier nicht der Richter an sich schon überfordert ist,
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X . Gerichtsbarkeit als Anarchieinstanz
wenn er seinen unpolitischen Auftrag ernst nimmt, ob er nicht immer entweder doch als ferngesteuertes Instrument der Politik tätig werden, oder eben Politik-Sabotage i n seiner Unabhängigkeit betreiben muß. Herrschaftstatsache bleibt eines: I n der Figur des politisch unabhängigen Richters w i r d ein „Politikbegriff i n Befehlslosigkeit" an die Spitze der demokratischen Herrschaft gestellt, damit aber das Politische überhaupt alteriert, dessen Wesen doch gerade i n der Durchsetzung konzentrierten politischen Wollens stets gesehen wird. Eine anordnungsfreie Herrschaft an der Spitze — kann es etwas Derartiges überhaupt geben, macht nicht dies bereits jeden Richter, jede Gerichtsinstanz zu einer virtuellen Zelle der Anarchie? I n der Praxis wirken sich denn auch die judikativen Aktionen nur zu oft als Störung konsequenter, konzentrierter parteipolitischer Herrschaft aus. Da w i r d eine Norm eben anders ausgelegt, als es den erklärten Intentionen des Gesetzgebers entsprach, sei es i n ihrem Einbau i n eine frühere Systematik, welche aber gerade durch das neue Gesetz gebrochen oder doch fortentwickelt werden sollte, sei es auch i n einer gesellschaftspolitischen Grundvorstellung des Richters, welche m i t dem gesetzgeberischen Konsens nicht übereinstimmt. Hier sind die Ansätze für die Gerichtsbarkeitskritik i n der modernen Demokratie: Die einen halten der Judikative vor, sie mißbrauche ihre Unabhängigkeit zu einer bourgeoisen Klassenjustiz, von den anderen muß sie hören, hier habe Systemveränderung durch Richterspruch den Weg durch die Institutionen bereits angetreten. Und es fragt sich ja auch wirklich, ob der Richter nicht zu dem einen oder dem anderen verdammt ist; keinesfalls können doch des Gesetzgebers Gedanken wirklich seine Gedanken sein, denn er ist eben — eine ganz andere Gewalt. I n der politisch unabhängigen Judikative verzichtet also die Demokratie nicht nur auf die Einheit ihrer Gewalt, i n gewisser Hinsicht verzichtet sie auf Gewalt überhaupt. A n der Spitze ihrer Macht richtet sie eine andersartige Gegengewalt ein, befehlsfrei, letztlich unvorhersehbar i n ihrer „Rechtsprechungspolitik". Liegt i n dieser Selbstaufgabe der Macht nicht — institutionalisierte Anarchie? Denn davon kann doch keine Rede sein, daß hier etwas politisch Neutrales ablaufe i n dem Sinne, daß es für den Bürger politisch gewichtslos sei: Er fühlt ja gerade diese Entscheidung, nicht das abstrakte Wollen der parteipolitischen Herren; und je mehr sie untereinander uneins sind, etwas wie parteipolitische Anarchie u m ihn herum schaffen, desto stärker sieht er die Herrschaft gerade i n diesem Spruch, der nur zu oft den widerstreitenden Vorstellungen von Staat und Gesellschaft, von Recht und Billigkeit noch eine dritte, eine endgültige hinzufügt, die des Richters. Ist darin nicht erst recht Anarchie, ist die „parteipolitisch neutrale"
2. Gerichtsbarkeit als Verzögerungsmechanismus der Macht
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Gerichtsbarkeit nicht die Instanz, welche u m so stärker anarchisierend w i r k t , je mehr Anarchie bereits i m Gemeinwesen institutionell verfestigt ist? 2. Gerichtsbarkeit als Verzögerungsmechanismus der Macht Ein besonders antianarchisch wirkendes Herrschaftselement ist die rasche Folgerichtigkeit der Entscheidungsfindung. Ungeahnt viel Sprengstoff der Anarchie liegt ja i n jenen Verfahrensregelungen, welche lange Phasen der Diskussion i n den Willensbildungsprozeß einbauen, so daß die Anordnung schon i n ihrer herrscherlichen Geburt verkümmert. Der Zeitfaktor spielt hier ebenso eine Rolle wie die Intensität der diskutierten Interessen, die Zahl derer, welche zu Worte kommen. I n der Demokratie soll zwar durch ein solches Verfahren vor allem späterer anarchisierender Widerstand ausgeschaltet werden. Dieses „rechtliche Gehör als Gehorsamsvehikel" i n der Verwaltung ist aber nicht mehr vergleichbar mit dem kontradiktorischen Verfahren vor Gericht, mag man auch dogmatisch versuchen, Verwaltungsverfahren und Gerichtsverfahren gerade hier weithin gleichzusetzen — sie laufen mit verschiedener Zielsetzung vor unterschiedlichen Instanzen ab. Die Verwaltung w i l l letztlich einen Befehl durchsetzen, der Richter die normativ zutreffende Entscheidung finden. Deshalb w i r d und muß er dieses rechtliche Gehör i n einer Weise steigern, ja überziehen, daß es zu einer A r t von Selbstzweck wird, damit aber vor allem zur Verzögerung der Macht. Das verwaltungsgerichtliche Verfahren zeigt es ja deutlich: Hier werden durch den Prozeß nur lange Verzögerungsphasen i n den Erlaßvorgang eines Verwaltungsaktes eingeschaltet, und dies nicht nur bei hochpolitischen Kernkraftwerksgenehmigungen. Fast jeder Bauprozeß findet seine Rechtfertigung schon i n dieser Verzögerung, welche meist auch noch risikolos erfolgt, Disziplinarentscheidungen können i n ihrer Wirksamkeit jahrelang verschoben werden, der Gewerberechtsbrecher findet hier weiteren Aufschub. Über solchen Effizienzverlust, über die Schwerfälligkeit der Gerichtsbarkeit w i r d viel geklagt, doch i m Grunde läuft all diese K r i t i k an der Dritten Gewalt vorbei und w i r d deshalb auch solange dauern wie diese selbst: Der Richter ist kein Effizienzmechanismus, bei i h m steht alle Herrschaft monate- und jahrelang still. Sein Wesen geradezu ist das einer Diskussionsgewalt mit dem Bürger, wie es die Exekutive, die zentrale politische Herrschaft, stets nur in Ansätzen sein kann. Der eigentliche Grund aber dafür, daß solche Verzögerungen, daß Schwerfälligkeit mit dem Richter vorgegeben und auch immer mit der
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X . Gerichtsbarkeit als Anarchieinstanz
unabhängigen Gerichtsbarkeit hinzunehmen ist, liegt noch tiefer: Der Richter ist letztlich eine intellektuelle, keine Willensinstanz, er erkennt, er befiehlt nicht, denn hinter seinem politischen Willen stünde ja keine eigentlich legitimierende Macht. Wille und politischer Befehl stehen i n der Zeit, haben eine ganz wesentlich temporäre Dimension. Für Erkennen und Richtigkeit, die Kategorien des Richters, spielt dies i m Grunde keine Rolle, immer w i r d und muß er die Wahrheit höher stellen als die Zeit, die bei ihrer Findung verlorengeht. Die Exekutive beschränkt denn auch das rechtliche Gehör, verdient sie nur ihren Namen, auf das, was sich gerade mit dem Durchsetzungsinteresse der Entscheidung noch vereinbaren läßt; beim Richter w i r d die Kontradiktorietät in den Dienst der Wahrheit gestellt, damit hat sie i m Grunde keine Grenzen mehr; und wer an die Wahrheitsfindung i n Rede und Widerrede, i m Advokatorischen auch nur etwas glaubt, für den muß hier Kontradiktorietät zum Selbstzweck werden. Schicksal und Wesen einer Gerichtsbarkeit, welche sich ernst nimmt, ist es daher, daß sie stets überlastet ist; ihre Entscheidungen mögen zu spät kommen, wenn sie nur richtig sind. I n all dem liegt fest und auf Dauer institutionalisierte Anarchie: einerseits i n der Machtabschwächung, welche mit der Verzögerung verbunden ist; jeder, auch der wichtigste, der vitale staatliche Befehl steht ja unter diesem nahezu unabsehbaren gerichtlichen Vorbehalt. Wenn es zutrifft, daß späterer Befehl ebensowenig derselbe ist wie ein Adressat, dem er erst Jahre später zugeht, so erfolgt i n der Gerichtsbarkeit eine für den Staat geradezu unabsehbare Befehlsalterierung seines Wollens, damit aber eine anarchisierende Anordnungsabschwächung durch undefinierbare Gegengewalt. Doch zum anderen w i r d auf diese Weise Herrschaft als solche i n ihrem K e r n getroffen, es findet eine degenerierende Machtmutation statt: Aus dem Befehlsw i l l e n w i r d die Entscheidung herausgenommen und i n die Richtigkeitserkenntnis verlagert. Stat pro ratione voluntas — als Richtigkeitsersatz hat man stets i n der Geschichte den Befehl, das Wesen des Herrschens verstanden. I n der unahängigen Gerichtsbarkeit der parlamentarischen Demokratie w i r d dieser Satz auf den Kopf gestellt — höher als politisches Wollen steht richterliche Vernunft. Und aus all diesen Gründen spielt für den Richter auch ein K r i t e r i u m keine Rolle, m i t dem die Verwaltung steht und fällt: Die Durchsetzbarkeit, jene Realisierbarkeit, welche heute Machbarkeit genannt wird. Welche Herrschaft aber wäre es, die nicht stets unter dem Vorbehalt des Durchsetzbaren, des Ausführbaren stünde, wie das schon i m Wort der Exekutive angelegt ist! Dies sind auch nicht nur Voraussetzungen einer, der Zweiten Gewalt, es sind Wesensmerkmale jeder Herrschaft,
3. Anarchie durch „richterliches Ordnen"
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und der Richter herrscht eben nicht, er erkennt, damit aber muß er stets — entherrscherlichen. Daß hier eine Staatsinstanz Effizienz letztlich überhaupt nicht kennt, ohne die Absicht der Herrschaftsrealisierung entscheidet, dies alles ist nun aber keineswegs auf den entschiedenen Fall beschränkt; Fern- und Weiterwirkungen gehen gerade auf die Exekutive, das Zentrum der antianarchischen Demokratiegewalt aus: Wenn der Grundsatzprozeß i n höheren Instanzen der Verwaltungsgerichtsbarkeit anhängig ist, so hält eben die Staatsgewalt allgemein den Atem an; w i r d ein Gerichtsverfahren wegen Verfassungszweifeln ausgesetzt, so sind irgendwie auch alle anderen vergleichbaren suspendiert; und die Exekutive nimmt diese gerichtliche Verzögerung oft als willkommenen Vorwand, u m ihre eigene, schon demokratisch anarchisierte Herrscherlichkeit noch weiter abzuschwächen — u m auf Zeit gar nicht mehr herrschen zu müssen: Man „läßt es eben auf den Prozeß ankommen", entschieden w i r d nicht mehr — „Klagt doch!", ruft der Staat seinen Bürgern zu. Die Untätigkeitsklage der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist durchaus nicht nur eine Errungenschaft der Rechtsstaatlichkeit, sie ist auch eine Versuchung der Exekutive zur Anarchie i n der Zeit, zur begrenzten Herrschaftslosigkeit i n Erwartung der Erkenntnis einer letztlich unabsehbaren Gegengewalt; und „Erkenntnis", nicht Entscheidung sollte man dies nun wirklich nennen. 3. Anarchie durch „richterliches Ordnen" Doch durchaus nicht immer sperrt sich der Richter ein i n den intellektuellen Elfenbeinturm seiner Erkenntnisse; immer häufiger t r i t t er aus i h m heraus m i t einem wahrhaft politischen Ordnungswillen — aber fast stets eben dann, wenn er außerhalb seiner Welt der Gerichtssäle schon eine Anarchie vorzufinden glaubt, die er gerade durch seine Intervention heilen w i l l , die er aber letztlich nur noch verstärken muß. Vor allem in jenem Italien, das i m vierten Jahrzehnt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer mehr i n demokratische Anarchie versinkt, ist dies besonders fühlbar geworden, die ungeahnte politische Ordnungsanstrengung der Gerichtsbarkeit: Der kleinste Amtsrichter w i r d allmächtig und fühlt es, weil die anderen Ordnungsinstanzen, vor allem das Parlament, i n Widersprüchlichkeit oder Entscheidungslosigkeit abdanken. Er greift ein, schafft Ordnung i m Einzelfall, er findet zur Herrschaftlichkeit einer der großen Gerichtsmaximen zurück: Pereat mundus, fiat Justitia! Doch die Herrschaftswelt der Demokratie geht nicht schon i n jener Beurteilung eines isolierten Falls zugrunde, aus der dieser Satz entstanden sein mag, sie bricht sich an der richter-
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X . Gerichtsbarkeit als Anarchieinstanz
liehen Entscheidung nur dann wirklich, wenn diese m i t größerem Ordnungsanspruch auftritt, wenn es einer Verfassungsgerichtsbarkeit gleichgültig ist, welche „Unordnung" nun von Parlament und Regierung beklagt werden muß; wenn das Verwaltungsgericht Entscheidungen i n Verkehrs- oder Bausachen trifft, welche zum partiellen Chaos führen müßten, wollte man sie so ernst nehmen, wie der Richter sie sich gedacht hat; wenn der Bau von Großkraftwerken blockiert und damit Zukunft aufs Spiel gesetzt w i r d durch einen Richter, der hier mit seinen Umweltüberzeugungen an die Stelle des Gesetzgebers treten will. Daß er gerade dies nicht dürfe, ist sein Auftrag; doch wenn der Gesetzgeber den seinen verfehlt, ist er dann nicht gefordert, nicht nur wenn es gilt, Gleichheit zwischen Mann und Frau herzustellen, sondern auch wenn die Energiezukunft des Landes auf dem Spiele steht, oder die Gesundheit aller Bürger? Das Bundesverfassungsgericht hat sich hier m i t wahrer Grandezza geäußert: Derartige Regierungsentscheidungen waren doch immer schon Aufgabe (und man müßte hinzufügen: Größe, denn so versteht es das Gericht) der Gerichtsbarkeit... Zu all dem treibt den Richter nicht nur eine A r t von institutionellem Schwung, seine eigene politische Unabhängigkeit — diese seine Ordnungsversuche sind sogar i n aller Regel von einer gewissen politisch-moralischen Überzeugung getragen: Hier schlägt das grüne Holz der Gesellschaft aus, der Einzelbürger, welcher der Anarchie der demokratisch Herrschenden müde ist, der ohne Rücksicht auf Verluste am Tag vor dem Untergang noch einen justiziellen Baum pflanzt. Was ist er aber i m Grunde darin anderes, als das i n seiner richterlichen Unabhängigkeit isolierte Individuum, das letztlich irgendwie sich selbst und seiner Uberzeugung wenn nicht Ordnung, so doch eine A r t von ethisch befriedigenden Raum schaffen w i l l , das sich gegen die zerbrechende Ordnung stemmt i m Namen einer Entscheidung, die aber letztlich nichts anderes sein kann — als Anarchie? Denn wenn die großen demokratischen Säulen brechen, können i n den Ruinen auch durch Liktorenbündel nicht Hütten abgestützt werden. Manchmal mag es gelungen sein, durch einen solchen richterlichen Schlag verantwortungslose politisch Herrschende aufzurütteln, i n aller Regel verstärkt sich hier nur noch anarchische Befehlsvielfalt i n Ordnungsversuchen, die oft nurmehr richterliche Verzweiflungsakte sind. 4. Ordnungsauflösende Einzelfallgewalt Diese Ausbruchsversuche der Richter i n Formen gesamtordnender Gewaltausübung bleiben jedoch insgesamt Ausnahme. I n aller Regel schlägt das Wesen der richterlichen Entscheidungsfindung durch, die
4. Ordnungsauflösende Einzelfallgewalt
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Einzelfallgewalt; aber auch sie bedeutet nur zu oft Anarchisierung, und zwar gerade dann, wenn die politischen Gewalten eine allgemeine Ordnung nicht mehr halten können. Gerichtsbarkeit schafft das Diskussionsforum zwischen Einzelnen, die i n diesem Augenblick jedoch geistig aus dem Zusammenhang der Gemeinschaft weitgehend herausgehoben, i n ihrer unauswechselbaren Individualität einander gegenübergestellt werden. Geistig bedeutet das Gerichtsverfahren nach wie vor einen herrschaftsfreien Raum, i n dem Gottesfriede ist — man kann es auch Herrschaftslosigkeit, A n archie nennen. Hier findet die reine Verteilung statt, die durch kein wie immer geartetes Herrschaftsinteresse getragen wird, dies wenigstens ist die Grundidee des Zivilprozesses, aus i h m ist dies auch i n das verwaltungsgerichtliche Verfahren übertragen worden. Reine Zuteilung dieser A r t , von A zu Β — ist dies an sich noch Wesen des Herrschens, muß die Regierung nicht i n jeder ihrer Machtentscheidungen eigene, höhere, eben Herrschaftsinteressen verfolgen? Sicher — sie liegen auch i n der Ordnung des reinen Zuschiebens, vom einen zum anderen, denn auch hier w i r d Ordnung bewahrt. Doch es ist schon eine Ordnung eigener A r t , die eben vom „dritten Interesse", dem der Herrschenden, weithin isoliert ist. Jeder Prozeß, der diesen Namen verdient, steht aber jenem Zivilverfahren nahe, das ganz wesentlich von Bürger zu Bürger verschiebt, damit aber auf ein Wesenselement der Herrschaft verzichtet, auf Wahrung des übergeordneten Herrschaftsinteresses. Darin liegen herrschaftsabschwächende, letztlich doch anarchisierende Tendenzen des gerichtlichen Einzelverfahrens. Und die anarchisierenden Effekte der Gerichtsbarkeit als Einzelfallgewalt reichen sehr weit. Recht gesprochen w i r d stets und in erster Linie zwischen zwei von der Gemeinschaft i n diesem Augenblick isolierten Bürgern, die gesamte Einzelfallgerechtigkeit bedeutet damit aber die Aufgabe des primären Gemeinschafts-, des Herrschaftsbezugs der Entscheidung. Natürlich soll sie sich immer einordnen lassen i n die größeren Zusammenhänge, Präjudiz sein können für viele andere Fälle. Den obersten Gerichten ist denn auch die Wahrung jener Rechtseinheit auf getragen, i n der die Einzelfallentscheidung zur Norm für alle, zur Herrschaftsdezision wird. Doch die Gerichtsbarkeit ist und bleibt eben doch weithin dem Einzelfall verhaftet, i m Vertrauen auf seine Besonderheit letztlich w i r d der Richter aufgesucht, nicht, damit nur die an sich schon bekannte Norm auf ihn angewendet werde. Der letzte Sinn der Gerichtsbarkeit als Institution liegt, versucht man einmal tiefer einzudringen, i n einer Hoffnung auf Herrschaftslosigkeit, darauf, daß es „doch nicht ganz so sein könnte, wie es die Norm vorschreibt". Und beim Richter w i r d dem auch stets eine letzte Präjudizienabneigung entsprechen, der Versuch,
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X . Gerichtsbarkeit als Anarchieinstanz
nicht nur der Rechtseinheit zu dienen; denn wäre dies nur seine Aufgabe, warum hätte dann nicht der Gesetzgeber verfeinert sprechen sollen? Man w i r d eben dem Wesen der unabhängigen Gerichtsbarkeit nicht gerecht, sieht man sie stets nur als „Entscheidungsinstanz für den nicht normierten Fall" — sie „erkennt i m nicht normierbaren Fall", und dies ist ein feiner, wichtiger Unterschied: Der Richter w i r d dort tätig, wo auch der verfeinerte demokratische Gesetzgeber letztlich gar nicht herrschen könnte, weil hier eine andere Welt beginnt, die des Einzelfalles, damit aber doch, sprechen w i r es aus, eine A r t von A n archie, jedenfalls von der Norm her gesehen. Die Demokratie verlangt ja, daß möglichst alles an der Herrschaft normförmig sei. Wo dies aber nicht mehr möglich ist, wo der Richter eintritt, beginnt da nicht, von der Idee her, das Ende ihres Herrschens, damit aber — demokratische Anarchie? Dies also ist das eigentliche und unaufhebbare Wesen der unabhängigen Gerichtsbarkeit: Zwei Bürger begegnen sich i n der „Besonderheit eines Falles", sodann trennen sie sich wieder, nach der richterlichen Entscheidung; ein kurzer Ordnungskontakt hat stattgefunden, i n i h m war aber noch nicht wirklich — Herrschaft. Die Praxis mag diese tieferen Bezüge ignorieren, doch tagtäglich spielt sich hier Herrschaftsverdünnung bis hinein i n die Unvorhersehbarkeit des Anarchischen ab: Der Richter entscheidet eben doch anders, als es Rechtsexperten und höchstrichterliche Rechtsprechung haben vermuten lassen — er hat eine „Besonderheit des Einzelfalls" entdeckt, i m Grunde nur eine spezielle tatsächliche Gestaltung, auf die sich das bisher Kalkulierbare, eben die Herrschaft, die Rechtseinheit, nicht hat erstrecken lassen. So schöpft er Recht für den Einzelfall — was ist dies anderes als Anarchie? Herrschaft reicht nur so weit, wie der Befehl noch i n etwa vorhersehbar ist, sonst kann sie vielleicht i m Augenblick beugen, nicht aber wirklich ordnen. Der Bürger, der zum Richter kommt, dem aber sein A n w a l t sagen muß, wie hoch doch das Prozeßrisiko noch immer ist, er sucht dort i m Grunde nicht so sehr vorhersehbare Ordnung, als vielmehr irgendeine Möglichkeit des erfolgreichen „Weiterexistierens gegen einen anderen", ohne den Zwang zum Nachgeben gegenüber der gegnerischen Forderung. Geht es i h m wirklich immer so entscheidend um Ordnung, darum, daß das Recht durchgesetzt werde? Meistens w i l l er doch nur — irgendwie obsiegen, dies aber ist anarchisch gedacht, nicht herrscherlich. Das Prozeßrisiko, die Folge des Einzelfalles, bedeutet eigentlich immer nur eines: das Anarchiequantum, das die Gerichtsbarkeit i n die herrscherliche Rechtssicherheit des Bürgers hineinträgt. Und er ist damit ja nur zu oft zufrieden, er sucht es sogar; der Prozeßbürger ist der Lotteriebürger, der
5. Verfassungsgerichtsbarkeit — die Norm-Gegengewalt
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spielbegeisterte Gewaltunterworfene einer i n Gerichtsbarkeit anarchisierten „Einzelfallordnung". 5. Verfassungsgerichtsbarkeit — die Norm-Gegengewalt Nirgends treten viele der anarchisierenden Wirkungen unabhängiger Gerichte deutlicher i n Erscheinung als i n jener Spitze der Judikative, i n welcher die Demokratie die „Herrschaft der Richter" hat errichten wollen; i n der Verfassungsgerichtsbarkeit. Hier sollte zwar gerade eine höchste Herrschaftsinstanz geschaffen, die Macht der Normen durch richterliche Sanktion absolut werden. Diese Instanz muß doch den Streit zwischen den anderen Staatsgewalten schlichten, damit auch ganz wesentlich die Anarchie an der Spitze überwinden. Hier sollen Statik und Kontinuität der demokratischen Macht bis i n zementierte Herrschaft hinein verfestigt werden. Doch jene selbe Instanz, i n der die Herrschaft stillestehen soll i n der Majestät des Richterspruchs — i n ihr steht sie auch still i n einer Machtblockade bis zur Anarchie. Die Verfassungsgerichtsbarkeit bedeutet Herrschaft par excellence, bis h i n zur Veränderung der Normen, ins Machtzentrum der Demokratie. Doch diese Institution kann nur kassieren, sie w i r k t als rein „negative Herrschaftsinstanz", mag sie auch durch Herrschaftsratschläge da und dort ihre Entscheidungen positiv verdeutlichen. Es bleibt also dabei: Hier hat die Volksmacht eine A r t von „negativer Herrschaft" etabliert, eine wahre normative Gegengewalt. Sie kann die Pläne der Parteipolitik zunichte machen, ihre Herrschaftsentscheidungen auflösen, und wenn sie heute legitimes Gewicht hat i n der Bundesrepublik Deutschland, so wohl nicht zuletzt aus einer Stimmung heraus, die anarchisch geprägt ist: Der Bürger begrüßt es, daß dieser ganze komplizierte Herrschaftsapparat mit einem Wort doch noch angehalten werden kann, zurückfallen muß i n einen ganz neuen Herrschaftsbeginn. Es wäre sicher der empirischen Untersuchung wert, wieweit das Bundesverfassungsgericht letztlich als Instanz der Ordnung — oder als Hoffnung auf Ordnungsende bejaht wird. Denn hier kann doch etwas sein, was sonst nie sein darf: daß plötzlich zentrale Herrscherge wait aufhört, und zwar durch den Spruch einiger Männer, die eben — gar nicht herrschen sollen. Was kann Anarchie eigentlich anderes bedeuten? Die Unabhängigkeit der Richter w i r d hier zum anarchisierenden Herrschaftsrisiko. Aus politischen Gründen kommen sie zwar i n aller Regel i n ihre Funktionen, doch sodann hört jede greifbare Kontrolle über sie auf. Eine derartig unkontrollierte Freisetzung politischer Kräfte, politischer Persönlichkeiten kennt nun allerdings die Demokratie auch i n anderen Bereichen, man denke nur an das Staatsober16 Leisner
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X . Gerichtsbarkeit als Anarchieinstanz
haupt. Es mag dahinstehen, ob hier nicht schon ein anarchisierender Grundfehler begangen wird: daß man die doch wesentlich stets kontrollbedürftige Parteipolitik kontrollfrei stellt, ihr eine A r t von Selbstentfaltung i n der Notabelpersönlichkeit der Berufenen gestattet — als ob Parteipolitik, i n Konkurrenz und Kontrolle entstanden, jemals in Notabelruhe weiterwachsen könnte; sie w i r d allenfalls psychologisch weiterwuchern. So viel negative Macht einer Instanz zu gewähren, die i m Grunde nur eines repräsentiert: entparteilichte Parteipolitik — ist dies überhaupt noch eine institutionelle Herrschaftsentscheidung? Wenn hier ein Heilmittel entsteht gegen die Exzesse der Parteipolitik, so ist es wirklich eine praktische List der Vernunft, theoretisch ist dies, aus den Grundlagen der Demokratie heraus, schlechthin nicht zu bewältigen. I n der Verfassungsgerichtsbarkeit findet, mehr noch als vor jedem anderen Richter, Entscheidung über Politisches nach Richtigkeitskriterien statt. Hier w i r d i m Namen des Rechts entschieden gegen die dynamische Gewalt, i m Namen der Verfassungsrichtigkeit sogar gegen die demokratische Legitimation. Höher kann der Anspruch der juristischen Wahrheit gegen den politischen Willen kaum mehr gesteigert werden, mit all jenen anarchischen Folgerungen, welche die praktische Politik nach jedem großen Verfassungsentscheid zu fühlen bekommt. Hier ist wirklich eine A r t von Richtigkeits-Illuminismus an die Spitze des Staates gestellt, die Begründungen sind u m so eingehender, je weniger dies letztlich Sinn hat; wie anders sollte man Illuminismus definieren? Und immer noch haben derartige „Erkenntnis-Gewalten" etwas zutiefst Gewalt-Passives i n sich getragen, weil eben i n ihnen der Wille zur Macht gebrochen wird. Doch gelähmt werden die anderen, die eigentlich antianarchischen Staatsgewalten, gerade durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, wenn sie diesen Namen verdient und sie vom wirklichen Verfassungsrespekt begleitet wird. Verfassungsrisiko ist ein Wort für all das, was lange Prozeßdauer, Unvorhersehbarkeit und nicht korrigierbare Fehlerhaftigkeit verfassungsgerichtlicher Entscheidungen an Grundstimmung i m Staate und bei den Bürgern verbreitet haben. Hier findet Herrschaft statt, ein demokratischer Einfluß auf sie aber ist nicht möglich. Das Beratungsgeheimnis ersetzt die offene Diskussion, der Geist weht wie, wo und, vor allem, wann er w i l l . I n all dem findet die Herrschaft zwar zu ihren Wesenszügen zurück, absoluter hätte auch der große französische König nicht herrschen können. Doch all diese Gewalt w i r d mit der Beliebigkeit, ja Zufälligkeit der gerade sich bietenden Gelegenheit ausgeübt, i n völliger Unsystematik, weil eben rein reaktiv. Zu selten ist bisher darüber nachgedacht worden, daß Initiativgewalt nicht nur
5. Verfassungsgerichtsbarkeit — die Norm-Gegengewalt
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Herrschaftsintensivierung, sondern auch Disziplinierung bedeutet, einen großen Zwang zur Verantwortung und Konsequenz, weil „man es eben auch anders machen muß". Die Verfassungsgerichtsbarkeit ist all diesen Zwängen enthoben, wenn sie irgendwie, irgendwann — nein sagt. I n diesem an der Spitze institutionalisierten Nein zur Staatsgewalt aber liegt nichts anderes als etwas von Anarchie als Staatsform — oder wie sollte man es sonst deuten? Die Verfassungsrichter werden politisch gewählt, damit sie politisch handeln, insbesondere die herrscherliche Konsequenz ihrer Entscheidungen bedenken; und dies geschieht gar nicht selten. Doch zugleich sind sie auch, ja vor allem, die höchsten Bewahrer der Freiheit; das Bundesverfassungsgericht zieht letztlich seine Legitimation aus der Rolle des großen Freiheitstribunals. Eine Freiheitsinstanz mit solcher Macht begabt, derart an der Spitze — wird, muß sie nicht immer wieder i n Anarchiegefahren verfallen, u m ihre eigene Legitimation zu verstärken, die der stets eben doch anarchie-geöffneten Freiheit? Die Verfassungsrichter sind die juristischen Machtnotabel der Demokratie. Notabel können raten, doch hier werden sie zu Taten aufgerufen, i m Namen der Freiheit; es sei dann immerhin die Frage gestattet, ob nicht darin bereits eine institutionelle Entscheidung zur A n archie liegt, daß an die Spitze des Staates ein Rat m i t wesentlich negativen Herrschaftskompetenzen gestellt wird. I n der Verfassungsgerichtsbarkeit hat die Demokratie den Gedanken des englischen Richterkönigtums aufnehmen wollen. Regiert soll hier werden, nicht geherrscht, damit aber w i r d bereits ein monarchischer Verfallszustand verfestigt. Und die Verfassungsrichter sind ja auch gar nicht mehr die englischen Lordrichter, sie gestalten nicht endgültig, sie kontrollieren und kassieren. Ihnen steht weniger die positive gesetzgeberische Macht des Präjudizes zu als vielmehr zunächst das Recht zur demokratischen Machtdemontage. Müssen sie damit nicht, i n allen Richtungen, diese Idee des Richterkönigtums ad absurdum führen, aus einer Herrschaftsinstanz nurmehr einen Rat der Entherrschaftlichung werden lassen? Und bei all dem funktioniert doch heute nichts besser, kaum etwas unumstrittener als Gerichtsbarkeit und vor allem Verfassungsgerichtsbarkeit. Sollte dies ein Zeichen der Gesundung sein — oder ein Beweis, umgekehrt, dafür, daß die Volksherrschaft nurmehr i n institutionalisierter Anarchie unumstritten ist? Und wäre der Richter als Organ einer solchen nicht bei weitem der Beste? I n i h m hat doch die Anarchie juristisches Niveau erreicht.
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X I . Die Dekadenzautonomie — ein Weg in die Anarchie 1. Autonomie — notwendige Organisationsform der Demokratie Nach angelsächsischem Vorbild sind Autonomieformen nach 1945 i n den westeuropäischen Demokratien zu hohen Ehren gelangt. Daß dies gelegentlich unkritisch, i n naivem Übernahmeschwang erfolgte, ändert nichts daran, daß hier ein „Zurück zur Natur der Demokratie" versucht wurde, zu Organisationsformen, welche i n dieser Staatlichkeit i m Grunde denknotwendig und daher grundsätzlich auch geeignet sind, ihre Abwehrkräfte gegen alle Formen der Anarchie zu verstärken. Hier mag Bekanntes, ja Selbstverständliches und weniger Bewußtes nur kurz angedeutet werden. Historisch ist lebensfähige Demokratie stets aus den Wurzeln der Autonomie heraus gewachsen; sie war i m Grunde nichts als eine ins Politische gesteigerte, ins Nationale verbreiterte Form derselben. Das gilt sowohl für die politischen Strukturen der englischen Grafschaften wie für die der Schweizer Kleinkantone, es t r i f f t aber auch zu für die Ursprünge der Demokratie i n Deutschland und Italien, mit ihren Stadtautonomien des Mittelalters. Solange die Verbindung zu diesen Kraftquellen der Volksherrschaft gehalten werden konnte, war diese, selbst auf nationaler Höhe, stets lebendig, mochte auch ein Zug von Provinzialität ihr anhaften, wie er etwa die englische Isolationspolitik immer wieder begleitet hat. Das große Problem der französischen Demokratie dagegen ist es stets geblieben, daß sie als eine Form geometrischer Konstruktion mit einem Schlag entstanden ist, daß sie i n dem Augenblick gerade die historischen Wurzeln ihrer Autonomien zerstört hat, i n dem sie erstmals, und sogleich ganz groß, entstehen sollte. Die einfach-einleuchtenden Aufbauvorstellungen „von unten nach oben", die Idee vom Vorrang der Induktion vor der Deduktion — all dies gilt eben nicht nur i n der Zeitlosigkeit der demokratischen Staatsdogmatik, es ist eine Übernahme historischer Gesetzmäßigkeit i n diese Theorie. Nur selten vielleicht ist die politische Historia dem Staatsrecht so unmittelbar zur Magistra geworden. I m Wahlkreis Englands hat die lokale Demokratie ihren greifbaren Übergang in die nationale Demokratie gefunden: Abstimmungsraum wie Abstimmungskörper werden aufgeteilt i n zahlreiche kleinere Be-
1. Autonomie — notwendige Organisationsform der Demokratie
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zirke, dies aber ist nur legitim, wenn i n ihnen Eigenständigkeit besteht, wenn es dort „eigene Angelegenheiten" gibt, welche auch gemeinsam beraten, entschieden, dem Abgeordneten zur Erledigung m i t ins Parlament gegeben werden können. Diese Autonomie als Grundlage der Wahlkreisdemokratie ist etwas grundsätzlich-Notwendiges i n der Volksherrschaft, nicht etwa eine beliebig auswechselbare Organisationsform; deshalb hat England auch lange Zeit an der gewachsenen Wahlkreiseinteilung festgehalten — nicht nur aus einer eigentümlichen Liebe zum Historischen, sondern aus der Überzeugung heraus, daß die Idee des Abgeordneten, damit aber die der Demokratie, gerade durch diese natürlich gewachsenen Einheiten konstituiert wurde. Als i m 20. Jahrhundert diese Einteilung dann doch mehr und mehr der Geometrie der gleichen Kreise geöffnet wurde, da war dies nur ein Phänomen eines demokratischen Legitimationsabstiegs der englischen Volksherrschaft. Es ist daher auch rational nicht begründbar, ja es widerspricht den Grundprinzipien der Demokratie, wenn man glaubt, Wahlkreis- und Listenabgeordnete beliebig nebeneinander stellen zu können, wie dies i n der Bundesrepublik Deutschland geschieht; der Wahlkreisabgeordnete steht nicht nur näher an den Quellen der Demokratie, er verkörpert eine ganz andere, die Autonomiedemokratie, nicht die mathematische Zahlendemokratie. Autonomie als Grundlage des Wahlkreises und damit der herkömmlichen Wahl — das zeigt auch, daß sich die Demokratie heute immer mehr von ihren historischen Wurzeln löst und sich einer bedenklichen Machtgeometrie verschrieben hat: Die lokalen Führer, die Bürgermeister vor allem, werden durch Unvereinbarkeitsregelungen von jenem Parlament ferngehalten, das doch gerade, seiner Uridee nach, ein Konvent von Lokalnotabeln sein sollte; i n Frankreich hat immerhin der Député-Maire als einzige institutionelle Figur stets die autonomen Kräfte des Landes wirksam i n der Nationalversammlung verkörpert. Mehr noch: Der große Abstimmungskörper der Bürgergemeinschaft läßt sich i n der Demokratie logisch kaum als Machtträger wirklich begründen, es sei denn über einen Nationalismus, der heute weit überwiegend abgelehnt wird, zu dem auch die späten Demokratien gar nicht mehr die Kraft aufbringen. Die Listenwahl ist denn auch i m Grunde nichts anderes als die Staatsform des Nationalismus — Frankreich hat es i m Modell gezeigt. Und selbst sie kann nur verstanden werden als eine allerdings recht erstaunliche Steigerung von Autonomieideen: Parlamentsabstimmungen können letztlich nur stattfinden, wenn das ganze Staatsgebiet als ein großer Autonomieraum verstanden w i r d ; und hier helfen die Vorstellungen von einem „größeren Europa", als dessen „nationale Wahlkreise" sich die einzelnen westlichen Demokratien verstehen, diesen Ordnungen auch dann wenigstens geistig,
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X I . Die Dekadenzautonomie — ein Weg i n die Anarchie
wenn eben diese Partikulardemokratien — alles tun, u m die größere, europäische Demokratie wirkungslos zu machen. Zugespitzt läßt sich formulieren: Die Nationaldemokratie ist nichts als eine degenerative Übersteigerung der Autonomiedemokratie. Die Volkssouveränität ist immer wieder gegen die Autonomie ausgespielt worden, vor allem i n Frankreich; i m Grunde w i r d sie aber nur durch Autonomie legitimiert: Hier soll ja die demokratische Herrschaft i n die Beherrschten hineinverlegt werden. Wie könnte dies aber anders geschehen als durch Annahme von „eigenen Angelegenheiten", die diese kleineren Bürgergruppen als solche anerkennen und dann entscheiden? Angenommen und unwiderleglich ist die Volkssouveränität nur i m kleinen Umstand der Schweizer Abstimmungsgemeinschaft, die eben zugleich auch das „eigentliche Volk", den Kanton bedeutet — über dem es dann letztlich nicht mehr einen Staat, sondern nurmehr eine Genossenschaft von Staaten, eine Eidgenossenschaft geben kann. Hier ist die Autonomie zum Staat geworden, nicht der Staat delegiert an den Bürger Autonomie — was sich doch eigentlich nie Volkssouveränität nennen kann. Nur dort, wo die „eigene Angelegenheit" noch nicht gänzlich zur Fiktion geworden ist, wo Autonomiebegeisterung bleibt, nur da kann die eigentliche, die dogmatisch reine Demokratie bestehen — gerade jene, welche immer wieder zur Zerstörung der Selbstgesetzlichkeit und der kleineren Körper mathematisierend eingesetzt wird. Die Volonté générale ist und bleibt i m letzten ein unerträglicher demokratischer Kunstgriff; nur dort ist sie, dies wurde schon dargelegt, demokratische Realität, wo i n ihr noch die Tendenz zur Volonté de tous stets irgendwie lebendig bleibt; dies aber wiederum ist nur möglich, wenn hinter der nationalen Gemeinschaft, i n ihr bereits, jene Autonomien politisch wirken, bei denen nun einmal der Wille aller gefordert wird, nicht ein imaginäres allgemeines Wollen. Wie immer also Volksherrschaft verstanden w i r d — Selbstverwaltung i m weitesten Sinne des Wortes ist i n ihr nicht eine von vielen möglichen Organisationsformen, wie ja überhaupt die Demokratie nicht als eine glückliche Proteus-Staatsform aufgefaßt werden sollte, deren Stärke i n der Möglichkeit des Einbaus von „allem Möglichen" gesehen wird. Autonomie ist demokratische Notwendigkeit, Entfernung von ihr bedeutet demokratische Dekadenz. 2. Autonomie als Herrschaftsauflösung Eine schicksalhafte Gefahr der Volksherrschaft liegt darin, daß gerade jene Kräfte, aus denen sie wächst, von einem bestimmten Entwicklungszustand an i n ihr Machtauflösung bewirken können. Und dies
2. Autonomie als Herrschaftsauflösung
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t r i f f t vor allem zu für die Autonomie, mehr noch: für die vielen Autonomien. Wie Autonomie die Volksherrschaft i n eine historische, i n eine Ablaufgesetzlichkeit stellt — weil sie eben aus der Selbstverwaltung herauswächst — so bleibt diese Zeitdimension aber auch i m weiteren erhalten: Uber die Autonomien wächst die Demokratie i n die Anarchie hinein. Dies läßt sich i n der neuesten Verfassungsgeschichte, i n der praktischen Politik, ebenso erweisen wie i n einer staatsgrundsätzlichen Betrachtung solcher Formen der Dekadenzautonomie. α) Νeo-Autonomismus
— Teilkapitulation
der Staatlichkeit
Autonomisierung sollte die westlichen Demokratien lebensfähiger machen — als Dezentralisierungsform sind diese Selbstverwaltungen meist nichts anderes geworden, als Zugeständnisse an die Anarchie oder gar Ausdrucksform derselben. I n Spanien und Frankreich soll herkömmlich-anarchisierende Unzufriedenheit, bis h i n zu Volksaufständen gegen die Volksherrschaft, nunmehr durch Dezentralisierungen, ja Ansätze zu echter Föderalisierung, aufgefangen werden. Alles spricht dafür, daß hier nur Teilkapitulationen der nationalen Demokratie, damit aber der einheitlichen Herrschaft überhaupt, stattfinden: Autonomie w i r d sogleich, wie ja auch i n Belgien schon geschehen, zur Teilstaatlichkeit gesteigert, welche den Zerfall der Einheitsstaatlichkeit vorbereitet; und selbst England ist nicht frei von solchen Gefahren, mag es hier auch, i m schottischen und walisischen Selbständigkeitsstreben, noch an historische Kraftquellen föderierter Staatlichkeit angeschlossen sein. Nimmt man das ernst, was man solchen „Neo-Autonomismus" nennen könnte, so w i r d er wohl immer eine total zentrifugale Tendenz aufweisen, weil i n i h m eben anarchisierende Stöße aufgefangen werden sollen, die sich hier aber sogleich institutionell verfestigen. Eine andere Form von Dekadenz-Autonomie zeigt Italien: Hier sollte durch Regionalisierung der „Staat näher zum Bürger gebracht werden"; abgesehen davon, daß dies weit besser durch Ausbau der entwickelten Kommunalisierung hätte geschehen können, i n der ja ohnehin schon bürgernahe Demokratie bis zur Kirchturm-Anarchie verwirklicht war — die eigentlichen Hintergründe der Regionalisierung waren und sind deutlich anarchisierend: Da ist das zentrifugale Streben der Randgebiete, i n Südtirol, Savoyen, Sardinien und Sizilien, Erscheinungsformen, die mit französisch-spanischer Anarchiekanalisierung vergleichbar sind. Da ist aber vor allem auch Regionalisierung als Ausdruck parteipolitischer Anarchisierung: Diejenigen Kräfte, welche auf gesamtstaatlicher Ebene weder die Kraft zum Sieg noch die Schwäche der w i r k lich Unterlegenen zeigen, ihnen sollte i n den Regionen der institutio-
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X I . Die Dekadenzautonomie — ein Weg i n die Anarchie
nelle Raum für Mitregierung geschaffen werden — i n der italienischen Situation konnte es nur organisierte Gegenregierung sein, Anarchie im staatsorganisatorischen Sinne des Wortes. Die Bundesrepublik Deutschland aber — ist sie nicht der Staat gewordene Beweis für die neu stabilisierenden Kräfte der Selbstverwaltung, auch wenn sie aus Dezentralisation eines Einheitsstaates heraus w i r ken? Keineswegs: Soweit sie Herrschaft bewahren und verfestigen, A n archie erfolgreich zurückgedrängt haben, kamen sie noch aus den starken Wurzeln der deutschen historischen Autonomie; und schließlich ist der Nationalsozialismus hier ja nichts als eine Episode gewesen. I n der Bonner Demokratie wurde jedoch dann der Scheideweg erreicht, von i h m aus hat sich der Staat i n beide Richtungen entwickelt. Einerseits öffnet er sich, dies w i r d sich noch zeigen, i n Selbstverwaltung eben doch nicht ungefährlich der Anarchie; zum anderen aber verläßt er diese Autonomien eben dort, wo er noch Kraft genug zu haben glaubt, u m wirklich zu herrschen — der Abbau des Föderalismus zeigt es. b) Autonomie als anarchisierende
Gewaltzersplitterung
Staatsgrundsätzlich ist der Nachweis der Anarchieneigung aller Autonomie nicht schwerer zu führen als i n der praktisch-politischen Entwicklung. Selbstverwaltung bedeutet zunächst jene vertikale Gewaltentrennung, die, wie jede Gewaltenteilung, starke und anarchisierende Reibungsverluste i n Kauf nimmt, nicht immer aber zu beherrschen vermag. Hier werden nicht nur Institutionen einander entgegengesetzt, ja bewußt gegeneinander ausgespielt; i n Zweiten Kammern werden Teilstaatlichkeiten deutlich „gegeneinander institutionalisiert", der politische Kampf der Bürger i n der Ersten Kammer wächst zum Streit der Gemeinschaften i n der Zweiten, dieser anarchisierende In-sich-Prozeß der Staatlichkeit w i r d erst auf der höchsten Ebene der Verfassungsgerichtsbarkeit entschieden. Autonomie ist nur legitim, wo sie der Freiheit dient, stets ist sie primär als Freiheitsinstitution i n der westlichen Welt verstanden worden; selbst i n sozialistischen Regimen mag sie als ungewollte Freiheit wirken. Das alles aber bedeutet, daß jene Herrschaft ganz bewußt zurückgedrängt wird, i m Namen von Gegenherrschaft geradezu aufgehoben erscheint, i n der doch heute das Wesen aller Macht immer mehr sich findet: die Zentralgewalt. Die zentralisierenden Tendenzen des modernen gesellschaftlichen Zusammenlebens bedürfen keines Beleges. Immer mehr haben sie aus der Zentralgewalt die Herrschaft par excellence werden lassen. Wer sie nun zurückdrängt, und wiederum sogar noch i m Namen einer Form von Staatlichkeit, der baut nicht nur praktisch Herrschaft ab, er schwächt die Herrschaftsidee selbst, und
2. Autonomie als Herrschaftsauflösung
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aus solchen Wurzeln entwickelt sich ja die neuere Föderalismuskritik; ihr würde man sicher nicht gerecht, wollte man sie allein als Effizienzstreben verstehen. Das Individuelle, das Unauswechselbare der kleineren Gemeinschaft soll durch Selbstverwaltung gepflegt werden. I n ihr liegt eine wesentlich individualisierende Tendenz, Verbindung zu jenem Individualismus, der der Anarchie am nächsten steht. Und ein anarchisierendes Hochrechnen i n immer kleinere Autonomiekreise ist ja der Selbstverwaltung eigen: Warum sollte denn die kleinere, und nicht die noch kleinere Gemeinschaft ihre eigenen Angelegenheiten besorgen? Gebietsreformen mit ihren Zusammenfassungen „lebensunfähiger Gemeinden" sind autonomiefeindlich gedacht, nur i n der immer weiteren Zersplitterung bewährt sich echte Autonomie, i n einer Auflösung i n Kleineres, an deren Ende der Anarchiebürger steht. Und weil diese Grundtendenz i n jeder Gemeinde, i n jeder Region, jedem Land die politisch-institutionelle Grundstimmung bildet, ist Autonomie nicht etwas Stabiles, sie ist immer unterwegs, i n der Richtung auf anarchisierende Herrschaftsauflösung. Autonomie w i r d gelobt, weil hier „Herrschaft näher ans Volk getragen werde"; darin soll sich Macht intensivieren. I n Wahrheit jedoch findet oft das Gegenteil statt. Nicht nur, weil sich das Machtgewicht auf lokaler Ebene abschwächt, sondern vor allem, weil der Herrschaftsabstand abnimmt, i n dem der Bürger den Mächtigen gegenübersteht; eine Lehre moderner Herrschaft müßte aber wohl berücksichtigen, daß es eines gewissen Herrschaftsabstandes bedarf, damit überhaupt von Macht gesprochen werden könne, weil eben die Interessen der Bürger und kleinen Gemeinschaften nur durch starke Gegeninteressen gebeugt, weil nur darin geherrscht werden kann; wo aber sollten sie sich anders bilden, als autonomiefern, i m Gesamtstaat? Die Autonomie erreicht also i m Grunde, was sie sich vornimmt: Herrschaft findet immer weniger statt; und sie w i l l ja auch Ordnung bedeuten ohne Herrschaft. Darin liegt eine eigentümliche Annäherung an die Anarchie, i n dieser Wendung von lokaler Ordnung gegen nationale Herrschaft, eine echte Institutionalisierung der Anarchie. Bleibt nur eine Frage: Wer hält diese lokalen Ordnungen? Bedarf es dazu denn nicht doch letztlich — der Herrschaft? Jede Autonomie muß, w i l l sie überleben, Selbststeigerung erstreben. Sie muß versuchen, sich hoch zu entwickeln, ohne Rücksicht auf A n archie — oder sie w i r d i n der Dezentralisation als uninteressante Verwaltungsinstanz absterben. Wie die nationale politische Gemeinschaft, ganz notwendig zur Allzuständigkeit gedrängt, Autonomie immer weiter gebrochen hat, so muß auch die Selbstverwaltung versuchen, zur
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kleinen Societas perfecta zu werden. Kommunaler und föderaler Egoismus w i r d viel beklagt, aber selbst die K r i t i k gesteht ein, daß lebendige Autonomie nur i n dieser Form Wirklichkeit bleiben kann. Und wie jede vollkommene Gemeinschaft stets versuchen wird, sich abzusperren, selbst auf Kosten von Kampf und Krieg, gegen andere Gemeinschaften, so liegt i n der Autonomieidee auch die Grundvorstellung vom friedlichen Bürgerkrieg der zahllosen Gemeinschaften, immer unter dem Dach einer größeren, gemeinsamen Demokratie — das aber eben durch die ständigen anarchischen Stöße aus den Autonomien heraus erschüttert wird. Und es wäre sicher einmal einer staatsgrundsätzlichen Überlegung wert, inwieweit das Subsidiaritätsprinzip i n seiner Herrschaftsatomisierung, in der Steigerung des Selbstbewußtseins „immer weiter unten", konsequent fortgesetzt, nicht nur i n einem enden kann: i n Formen der Anarchie. Eines jedenfalls hat sich gezeigt: Autonomie ist, der Idee nach, antianarchischer Kraftquell der Demokratie i n ihren frühen Stadien; zugleich aber w i r d sie zu Formen der Herrschaftsauflösung i n der Spätdemokratie. Demokratischer Herrschaft gegenüber ist sie ambivalent, ihr Anfang und ihr Ende. Um Autonomien herrschaftskonform i n der Demokratie einsetzen zu können, müßten deren Herrschende jeweils wissen, i n welchem Entwicklungszustand sich ihre Staatsform befindet. Und wenn sie es wüßten — wollten sie es wahrhaben? 3. Anarchisierende Wirkungen des Föderalismus Der Föderalismus zeigt sehr deutlich die beiden Gesichter der Autonomie: Das eine ist zu stärkerer Ordnung gerichtet, das andere zur Anarchie. Die föderale Ordnung i m Aufbau, eine Staatlichkeit, welche i n den Ländern noch stark, als Herrschaft perfekt ist und sich dann mit anderen Staatlichkeiten zu föderieren beginnt, vermag i n dieser Phase eine bedeutende Ordnungsmacht zu sein, der Anarchie wirksam zu begegnen. Die eigentlichen Herrschaftsgrundlagen sind hier ja unerschüttert, die Verbindung zur Basis ist fest, das „Originäre" der Ländergewalt nicht nur ein Wort; und in dieser Lage kann der Zusammenschluß mit ähnlichen Gewalten stark integrierend wirken. Der Aufbau der deutschen Staatlichkeit, zweimal aus dem Föderalismus heraus, nach 1871 und nach 1945, ist dafür ein Beispiel. Doch derselbe Föderalismus muß i n Desintegration umschlagen, bis h i n zu anarchisierender Machtauflösung, wenn er als Dezentralisationsform eingesetzt, besser: mißbraucht w i r d — hier ist Föderalismus nichts mehr anderes als überschießende Dezentralisation, ein unbewältigtes Nebeneinander mehrerer Machtzentren, welche als „originär" letztlich
3. Anarchisierende W i r k u n g e n des Föderalismus
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eben einander nicht an die Seite, sondern nur gegeneinander gestellt werden können. Die allgemeine Föderalismuskritik t r i f f t hier, i m Grunde, instinktiv das Richtige: Der Aufbauföderalismus w i r d ja nur selten als Machtabschwächung angegriffen, doch wenn einmal die Zentralgewalt sich wirklich etablieren konnte, wenn dorthin „die" Herrschaft sich verlagert hat, dann w i r d jede Gliedstaatengewalt zum Ärgernis, dann muß auch sie noch verschwinden; letztlich ist all dies nur ein Beispiel dafür, daß eben der Gewaltunterworfene, der Bürger, nur einem Herrn dienen, nur i n den Kategorien einer Gewalt denken kann. Ist diese einmal „oben" verfestigt, so muß sie, „unten" ebenfalls angesiedelt, zur institutionalisierten Anarchie entarten. Und dies ist der Weg des bundesdeutschen Föderalismus: Irgendwann i n seiner Entwicklung bleibt i h m nurmehr eine Chance der Selbsterhaltung: Föderalismus muß zur Selbstverwaltung, diese Selbstverwaltung muß zur Verwaltung absterben. Betrachten wir, zum Beweis dieser These, die anarchisierenden W i r kungen dessen, was gemeinhin als „funktionierender Föderalismus", als ein Gleichgewicht also zwischen „originären" Gewalten auf Bundesund auf Landesebene verstanden wird. a) Herrschaftserschwerung
durch
Einstimmigkeitszwang
Ein Föderalismus, der diesen Namen verdient, bedeutet „Staat durch ständigen Staatsvertrag". Die Bundesländer sind vor dem Föderalismus gleich, seien sie groß oder klein, alt oder neu, bedeutend oder schwach. Doch das einzige Herrschaftsinstrument unter Gleichen ist außer Kraft gesetzt — die Regel der Mehrheit. Häufig verdeckt auch sie schon lediglich latente Herrschaftsunfähigkeit; das „reine Nebeneinander" der Bundesländer i m Föderalismus verstärkt noch die Herrschaftsnot, denn nun gibt es ja nurmehr eines: Einstimmigkeit bis zum letzten, schwächsten Glied der Kette. Beispiele für Herrschaftsabschwächung, für Ordnungsverzögerung durch diesen Einstimmigkeitszwang zeigt die Staatspraxis der Bundesrepublik und anderer föderaler Ordnungen täglich. Nur deshalb ist ja i m Grunde allenthalben die Verlagerung zur Zentralgewalt unumgänglich, weil der „ständige Staatsvertrag zwischen den Ländern" nicht gelingt, insbesondere nicht i n wichtigen, hochpolitischen Materien. Es gibt zwar etwas wie „typische Einstimmigkeitsmaterien", i n denen die Gleichartigkeit „technischer" Probleme den Konsens erleichtert. So mag dies i m Verwaltungsverfahren gelingen, bei der Schulorganisation an Landesgrenzen. Doch schon bei Lehrinhalten und Bildungsniveau beginnt die Einigungsnot — hier erreicht man hochpolitische Materien und damit die natürlichen Grenzen des Einigungsföderalismus.
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I m Grunde ist es aber nur diese Ordnung durch Einstimmigkeit, welche den Namen Föderalismus wirklich verdient; denn er steht und fällt eben m i t der originären Eigenstaatlichkeit der Länder. Sie aber kann sich wiederum nur i n einem bewähren: i m Verhandlungszwang bis zur einstimmigen Lösung. Daß man damit echte, i n einem höheren Sinne politische Ordnung aufbauen kann, ist jedoch innerstaatlich ebenso eine Illusion, wie es i m internationalen Bereich stets unmöglich geblieben ist. So wenig wie zwischen den Staaten eine tiefere Ordnung i n Einstimmigkeit geschaffen und bewahrt werden kann, ebensowenig gelingt dies zwischen Bundesländern, welche diesen Namen noch verdienen, welche eben noch „Bundesstaaten" sind. Der „volle Föderalismus" der Einstimmigkeit ist letztlich ebenso unmöglich wie die politische Weltregierung durch das Unisono der mehrheitslos gleichen Staaten. Beides existiert nur i n der Staatstheorie, dieses irreale Gouvernement de Pologne. Die Dogmatik des Staatsrechts ist bisher überhaupt am eigentlichen Grundproblem des Föderalismus gescheitert: Sie konnte nicht bestimmen, wie sich denn hier die Einstimmigkeit institutionell erleichtert vollziehen solle. M i t eingängigen Worten ging man über das Problem hinweg: Die Regeln des internationalen Rechtes sollen hier nicht gelten, „Bundestreue", „Ländertreue" der Bundesglieder untereinander soll herrschen und Einstimmigkeit schaffen. Doch wer soll wem hier treu sein, wie weit dem anderen gegenüber i m Namen solcher Treue nachgeben? Da gibt es schon keine Regel und noch viel weniger jemanden, der die Befolgung einer solchen erzwingen könnte — dies wäre ja bereits ein Widerspruch zum Föderalismus. Die ganze Theorie vom „besonderen Koordinatensystem der föderalistischen Einung" ist eben — nichts als Theorie. I n der Praxis aber bleibt eines: Der eigentliche, der Einstimmigkeitsföderalismus ist als Ordnungsinstrument i n wichtigen Fragen unmöglich; wo er funktioniert, ist der Föderalismus entweder bereits i n Unwichtiges abgedrängt, oder er ist schon zum Ratifikationsritual von Entscheidungen geworden, die auf ganz anderer Ebene getroffen werden, insbesondere i n den Direktionen der bundeseinheitlichen Parteien; und so vollzieht sich Föderalismus weithin i n der Bundesrepublik. Dies bedeutet also: Eigentlicher Föderalismus ist ein Zustand der ungebundenen Herrschaftslosigkeit, der „internationalen Anarchie". Ordnung durch Einstimmigkeit kann eigentlich nurmehr i n einem degenerierten Föderalismus entstehen. Wo Föderalismus wirklich lebendig ist, da w i r d er stets mehr anarchisieren als ordnen. Und dies ist ja auch der berechtigte Kern aller Föderalismuskritik.
3. Anarchisierende W i r k u n g e n des Föderalismus
b) Gewaltenzersjplitterung
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nach unten
Gewaltenteilung w i r k t an sich schon, auf welcher Ebene immer, ordnungsabschwächend. Trennt sie Gewalten einer zentralisierenden Ordnung, so w i r k t sie anarchisierend durch Gewaltenantagonismus. T r i t t jedoch die „vertikale Gewaltenteilung" des Föderalismus hinzu, so geht dieser Antagonismus „nach unten hin" i n eine Gewaltzersplitterung über, i n welcher eigentliche Herrschaft immer weniger faßbar wird. Die Gesetzgebung der deutschen Bundesländer zeigt es. Hätten sie kein eigenständiges Gesetzgebungsrecht, so wäre Föderalismus nur ein Wort, von Eigenstaatlichkeit könnte nicht mehr die Rede sein. Doch wo dieses eigentliche, zentrale Staatsprivileg der Demokratie noch bei den Ländern liegt, wie etwa i m Polizeirecht oder i m Schulbereich, da ist es zu einer Zersplitterung des Rechtszustands gekommen, welche, vom Ganzen der Nation her gesehen, oft nurmehr als wirkliche Ordnungsgefahr bezeichnet werden kann. Der Gesetzgebungszustand ändert sich ununterbrochen, i n einem der zahlreichen Länder bewegt sich immer etwas. Ein „Gemeines Deutsches Landesrecht" läßt sich hier kaum mehr feststellen, und wo es noch gelingt, liegt eben der Föderalismus bereits i m Sterben. Aus den eigentlichen Materien der Landesgesetzgebung hat sich denn auch die Dogmatik des Staats- und Verwaltungsrechts zurückgezogen; hier herrscht weithin Buchstabenauslegung der Gerichte, die geistige Konstruktionskraft des Rechts und der Rechtswissenschaft w i r d geschwächt. Zu selten ist bedacht worden, daß damit zwar Vielfalt bewahrt, der geistige Anspruch rechtlichen Ordnens aber weithin aufgegeben wird. Der Richter ist gezwungen, aus der geistigen Höhe seiner rechtskonstruktiven Pandektistik herabzusteigen und in der Auslegung lokaler Normen als eine A r t von Stadtnotar zu fungieren; dem Bürger geht viel von der durch Vielfalt doch zu gewinnenden Freiheit wieder verloren, weil er bei dem rechtseinheitlich geschulten A n w a l t keine Hilfe mehr findet: Herr über die Auslegung des Landesrechts sind dessen ministeriale Spezialisten, wenn nicht die mittleren und unteren Instanzen der Verwaltung; für sie allein ist dies ja meist eine rechtlich relevante Ordnung. Nicht weniger deutlich ist die „Ordnungsauflösung nach unten" i m Bereich der Verwaltung: Diese Zweite Gewalt, das Zentrum der Herrschaft, ihre Speerspitze gegen die Anarchie, sie w i r d i m echten Föderalismus „wesentlich veruneinheitlicht". Damit aber verliert sie an Kraft gegenüber dem anarchisierenden Freiheitsdrang der Bürgerschaft, und sie gewinnt nichts dadurch hinzu, daß sie „näher an die Gewaltunterworfenen" getragen wird. Diese föderalen Einzelverwaltungen sind ja nicht i n der Höhe der nationalen Exekutive aufgehängt, hinter ihnen steht nicht die Kraft einer Zentralregierung, auf welche
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lokaler Einfluß kaum zu nehmen ist; bis i n die Mini-Ministerien der Länder reicht noch immer der A r m lokaler Interessen, mit denen die Verwaltung i n Ordnungsversuchen zusammenstößt. Und die zahllosen Organisationsformen auf Landesebene führen wiederum zu jener Unübersichtlichkeit, i n welcher das dogmatische Recht seine Ordnungskraft verliert, sie verstärken einen Bürokratismus, i n dem sich eben Anarchie unbemerkt ausbreiten kann. Die beiden Bewegungen der Gesetzgebungs- und Verwaltungszersplitterung kombinieren sich i n den Ländern auch noch zu weiteren anarchisierenden Entwicklungen: I n eine „immer weiter unten" parlamentarisch kontrollierte Verwaltung fließt auf allen Ebenen jene Parlamentsanarchie ein, von der schon die Rede war. Der Gleichheitsstaat also, welcher seine Macht i m Föderalismus möglichst nahe herantragen w i l l an jeden Bürger, dem er dadurch die Gelegenheit geben möchte, seine Forderungen nivellierend auch i m kleinsten Kreise durchzusetzen — i h m gelingt all dies nur u m den Preis von viel Ordnungsverlust, jedenfalls aber einer „Verkleinerung der Ordnungsperspektiven". Und ein Ordnungsraum kann eben so klein werden, daß er den Namen der Ordnung, der Herrschaft, nicht mehr verdient. c) Ordnung durch das Bundesratsprinzip? Keine föderale Ordnung könnte bestehen, würde sie nicht durch die Institution der Zweiten Kammer, des Bundesrates i n Deutschland, i n die Gesamtstaatlichkeit integriert. Nicht die Eigenständigkeit der Länder, sondern der Bundesrat ist die zentrale, typische Institution des funktionierenden Föderalismus. Hier t r i t t wieder das Mehrheitsprinzip i n seine Rechte, hier „funktioniert" das Zersplitterte i m Zusammentreten derjenigen, welche i n ihren Bereichen zu Herren dieser „zerstückelten Ordnung" geworden sind: der Ministerialbeamten der Länder. Keine Institution hat die Herrschaft i n der Bundesrepublik besser befestigt als diese, nirgends ist stärker Kontinuität der Macht bewahrt, Sachlichkeit durchgesetzt — mit einem Wort: der Anarchie entgegengearbeitet worden. W i r k t damit nicht der Föderalismus i n einer großen List der Vernunft doch herrschaftsstabilisierend, findet nicht er, der doch nur aufzulösen scheint, i n diesem Föderalsenat zur eigentlichen Ordnung zurück? Das Bundesratsprinzip ist ein institutionelles Glück der egalitären Demokratie, doch ein ganz unverdientes: Es bedeutet Anleihen beim „Gegenprinzip zur Volksherrschaft". Einigung, Integration, Mehrheitsbildung werden hier möglich, weil nicht Volksvertreter, sondern Beamte,
3. Anarchisierende W i r k u n g e n des Föderalismus
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die früheren „Räte" der Monarchie, zusammentreten; konstruktiv w i r ken können sie insoweit, als hinter ihnen eben nicht der parteipolitische Druck der egalitären Riesenparlamente und ihrer Parteien steht. I n diesem Bundesrat, dem „Parlament der Verwaltung", w i r d weithin Gewaltenteilung aufgehoben, die Verwaltung w i r d zu ihrem eigenen Gesetzgeber. Die anarchisierenden Stöße der Bürgerinteressen erreichen dieses geschlossene Gremium nicht, die Herrschaft findet zu ihrer eigentlichen Macht zurück: Sie w i r d nur i n Spitzen ihrer Eisberge dem Bürger sichtbar, die gehalten sind durch unsichtbares Regieren, von den Telefonrunden der Ministerialreferenten bis zu den vertraulichen Gesprächen der Landesminister, welche auch von den Parteizentralen so oft als Parlamentäre der Sachlichkeit zwischen die erstarrten Fronten des Bundestages gesandt werden. Doch i n all dem, was hier stabilisierend w i r k t , ist Regierungsmacht, nicht egalitäre Volksvertretung, i m letzten „Technik", nicht „Politik". Würde aber einmal dieser Bundesrat „demokratisch" ernst genommen, würden, wie i n der Weimarer Zeit, die Bundesratsstimmen der Länder in Sitzungen der Landesparlamente „fest instruiert", erhielten Landesminister und Landesministerialbeamte feste politische Handlungsinstruktionen aus der Landespolitik i n allem und jedem — der Bundesrat würde vom Integrationsinstrument zum Hebel der Unordnung werden, eine echte Institution der Anarchie. Schon heute liegt i n i h m ja beides: Das „stille Funktionieren der Ministerialgesetzgebung" ebenso wie „politische Blockade der Ordnung durch Landespolitik". Den alten deutschen Reichsföderalismus hat man ein monstro simile genannt — wohl m i t tieferem Recht, muß doch jeder funktionierende Föderalismus etwas Monströses an sich haben. I m Bundesrat w i r d dies besonders deutlich, er ist der Adler mit den zwei Köpfen — der eine gewendet zur Regierungsordnung durch funktionierende Sachlichkeit, der andere zur Nationalblockade durch anarchisierende Länderstaatlichkeit. d) Das „föderale
Unordnungsgefühl"
Stärker anarchisierend als blockierende Institutionen ist jedoch das föderale Staats- und Verwaltungsgefühl, das i m Bundesstaat sich hält und oft schwer faßbar ausbreitet: daß die staatliche Ordnung eben doch nicht nur eine sei, sondern i n vielfachen Ausprägungen sich zeige. Welche von ihnen wäre nun die richtige, die beste? Es bedarf stets starker, junger Ordnungskräfte, u m Wettbewerb, Vielfalt zu ertragen, der Spätdemokratie gehen sie immer mehr verloren. Ihre Bürger machen ein Fragezeichen nach dem anderen hinter den Wettbewerb und seine Reibungsverluste, Verschwendungen, „Unrichtigkeiten". Und ebenso-
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wenig werden sie i n der Lage sein, die föderale „Ordnungskonkurrenz" auf Dauer zu verstehen und, mehr noch, zu ertragen; schon heute wollen sie nicht hinnehmen, daß ein Schulsystem anders sein kann als das andere, sogleich setzt die Frage nach dem „richtigen", dem „besten" ein — sie endet regelmäßig beim Abbau des Föderalismus. Aus der Sicht der Herrschaft m i t einer gewissen Berechtigung: Denn wo Ordnungsvielfalt i m Bundesstaat herrscht, da w i r d etwas vom „einmaligen Richtigkeitsanspruch" der Lösung aufgegeben. I m föderalen Staatsgefühl geht ferner heute mehr und mehr der Sinn dafür verloren, daß dies alles ja Kanäle neuer Ordnung „von unten nach oben" sein sollten. Dem Bürger erscheint es dagegen als eine desintegrative Zersplitterung, wiederum mit Recht: Föderalismus als Dezentralisierung — und was haben w i r denn noch anderes? — ist letztlich nichts als laufende Ordnungskapitulation, Zugeständnis an den Druck oder jenen, am Ende bald nurmehr eigenartiges Staatsprivileg. So vor allem w i r d der späte Föderalismus zur Anarchie. I n i h m entwickelt sich die Vorstellung von einer „fernen Staatsgewalt", die sich i n Kaskadenform, stufenweise und immer weiter verlangsamt, dem Bürger und seiner Freiheit nähert. Bürgernähe w i r d zur Machtabschwächung, die Ordnung entfernt sich vom Bürger, ihre Idee selbst verdämmert. Wo ist denn dieser Staat „eigentlich", wo liegt sein Zentrum? Und gäbe es Macht ohne Mittelpunkt? Föderalismus bedeutet für die Staatlichkeit einen „Verlust der Mitte" ihrer Macht. W i r d sie diesen i m Kampf gegen die Anarchie überwinden? Und wenn das alles möglich wäre, so muß die föderale Ordnung an einem scheitern, zum Instrument der Unordnung werden: Die gesellschaftliche Entwicklung der technisierten Welt egalisiert und nivelliert immer weiter. Dies ruft nach großflächiger Macht. I n sie versucht der Föderalismus die Sonderraster der Länder einzubauen. Wenn sie auf die Dauer i n der egalitären Großmaschine von Staat und Gesellschaft nicht zerbrechen, so werden sie diese verklemmen, blockieren — als ein anachronistisch wirkendes Relikt früherer Vielfalt oder als verzweifelter Ausbruchsversuch aus der Gleichheit. Wie immer — bald werden sie nurmehr „funktionieren i m Blockieren". Und dann sind sie Staat gewordene Anarchie. e) Niedergang des Föderalismus — Sieg über die Anarchie? Der Niedergang des Föderalismus ist, jedenfalls i n Deutschland, bekannt und unaufhaltsam. I n i h m liegt sicher ein egalitäres Ordnungsstreben, welches gegen die anarchisierenden Gefahren eines Spätföderalismus Front machen w i l l . Doch es fragt sich sehr, ob durch solchen
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Machttransfer an die Spitze dort wieder antianarchisch gehärtet werden kann, was „unten" zersplittert worden war. Die Erfahrung hat gelehrt, daß i n der Regel „Geschwächtes nach oben übertragen" w i r d und auch oben geschwächt bleibt; man denke nur an Hochschulgesetzgebung, Studienplatzvergabe, Forschungskompetenz. M i t zahllosen Vorbehalten beladen kommen solche Zuständigkeiten zur Zentralgewalt, aus ihnen entsteht dann nicht eine neue „kaiserlich-napoleonische Universität Frankreichs", sondern die unlösbare Aufgabe einer Experimentierhochschule durch Bundesentscheidung. Es ist, als brächten all diese neuen Bundeskompetenzen ihre Ordnungsschwächen mit, i n eine Zentralgewalt hinein, die zu ihrer Lösung vielleicht noch die Finanzen, nicht aber die politische Entscheidungskraft hat. Und die Länder sind ja nun auch keineswegs aus allem verdrängt. Generationen kann es dauern, bis ihre Rechte wirklich verschwunden sind, und inzwischen sind sie nurmehr i n einer Richtung tätig: Immer mehr blockierend halten sie das Letzte an früherer Macht noch fest — das Nein der Anarchie. Eines w i r d ja wohl auch noch auf lange Zeit, vielleicht auf Dauer den Ländern bleiben: die Verwaltungshoheit. Damit führt die Verstärkung der Zentralgewalt i n Gesetzgebung und Finanzen nur zu einer Vertiefung der Gewaltenteilung zwischen Erstem und Zweitem Pouvoir. Dann aber muß sich der anarchisierende Gewaltenantagonismus zwischen Befehl und Ausführung immer weiter steigern, darin gerät die Ordnung i n Gefahr, die doch nichts anderes ist als die optimale Einheit von Anordnung und Durchsetzung. Anarchisierend w i r k t , w i r sahen es bereits, nicht der Föderalismus an sich vielleicht, wohl aber stets der Verfallsföderalismus. Er jedoch schwächt die Herrschaft nicht nur dort, wo er noch wirksam ist, sondern selbst noch i n seinem Abbau. Er, der als „Staatlichkeit von unten" neue antianarchische Kraft bringen sollte, hinterläßt i n dezentralisierendem Verfall überall Staatskrankheit. Die egalitäre Demokratie zerstört den Föderalismus. Wo w i r d sie wieder einen solchen Kraftquell der Herrschaft finden? Föderalismus war Macht aus Einigkeit. Was bleibt nach dem Ende der Einigkeit, was anderes als Anachiegefahr? Kommt nach dem Monstrum der rational nicht zu bewältigenden Bundesstaatlichkeit ein noch größeres Monstrum herauf? 4. Kommunalisierung — Anarchie unter vielen Wappen a) Die Kommune als Widerstandszentrum Von jeher i n der Geschichte waren die Kommunen zentrifugale Kraftzentren. I n den Städten Oberitaliens — und nicht nur dort — 17 Leisner
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wurde der Widerstand gegen Kaiser und Reich organisiert; die Auflösung der Reichsidee wurde durch die geistige und verwaltungsmäßige Konzentration i n den Städten des Spätmittelalters eingeleitet. Selbst das starke Territorialfürstentum fand an den Toren der großen Städte politische Schranken. Die Kommunen waren so von jeher Widerstandszentren gegen jede Herrschaft von einiger Größenordnung, gegen die „große Macht" überhaupt. So sind sie stets Träger politischer Anarchie, jedenfalls i n der deutschen und italienischen politischen Geschichte gewesen. Zum Kampf gegen die Zentralgewalt trat nur zu oft der Antagonismus kommunaler Kräfte untereinander; i n den Städtekämpfen liegt ein deutlicher Beginn der außenpolitischen bürgerkriegsähnlichen A n archie i n Europa. Diese ganze Kommunalgeschichte der Rivalitäten scheint jetzt Vergangenheit zu sein; doch die Kräfte des Kommunalismus, aus denen sie einst erwuchsen, sind heute von neuem lebendig, vor allem dort, wo die Zentralgewalt der Spätdemokratie politische Müdigkeit und Schwäche zeigt. Anarchisierende Schwäche erfaßt die Spätdemokratie ja besonders „von oben her": A n der politischen Spitze des Staates wirken die Reibungskräfte der Gewaltenteilung auflösend, schwächt sich die Macht i n Föderalismus ab. Solchen Machtabbau kennen die Kommunen nicht. I n ihrem Bereich t r i t t die Gewaltenteilung zurück, der Rat der Stadt verwaltet und gibt „Gesetze". Der staatlichen Machtzersplitterung steht i n der Spätdemokratie mit ihrer steigenden Kommunalisierung eine Machtkonzentration i m Gemeindebereich gegenüber. A n der Spitze w i r k t der Persönlichkeitsverlust gravierend, die Herrschaft w i r d mit den Politikern aufgerieben, welche sie tragen, die politische Persönlichkeit w i r d ersetzbar. I n der Kommune entwickelt sich das Gegenteil: Die Bürgermeisterpersönlichkeit bewährt sich i n ihrer Einmaligkeit, i m Namen ihrer menschlichen Kraft und i m Namen der Sachlichkeit überwindet sie spaltende, herrschaftsabschwächende Parteipolitik. I n der Gemeinde haben die antianarchischen Kräfte der alten Aristokratie noch Wirkungsraum, hier gilt noch immer der Notabel; und der Bürgermeister bleibt der Kleinmonarch, mit aller antianarchischen Herrschaftskraft der früheren Staatsform belehnt. So ist denn i n der Kommune heute viel mehr von jener aristokratischen Frühdemokratie erhalten als i m Zentralstaat, die Volksherrschaft verwelkt rascher an der Spitze als i n ihrem kommunalen Stamm. Darin liegt an sich eine große demokratische Chance, wenn über die Kommunen die Kräfte und Säfte der Basis an die Spitze weitergege-
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ben werden, wenn es insbesondere gelingt, antianarchische aristokratische und monarchische Potenzen i n den Spitzenbereich der nationalen Macht zu transformieren. So w i l l es die Basisidee der Demokratie, die mit Recht die Kommunen als ihre Grundlage sieht — doch gerade dieser Mechanismus erschöpft seine Kraft, und zwar aus der kommunalen Idee selbst heraus. Die Kommunen sperren sich, i n kommunaler Isolation werden dann aber Städte und Gemeinden wieder zu dem, was sie immer waren, zu anarchieverstärkenden Zentren des Widerstands; und ihre Stärke nimmt mit der Schwäche der Spitze zu. b) Die Kommunalanarchie
der Kontaktlosigkeit
Gemeinden haben Grenzen und damit Kontakte zu anderen; i n neuerer Zeit kooperieren sie immer größerflächig, wo sie dazu nicht willens sind, da erzwingt es der Staat. So entsteht das B i l d einer Kommunalkooperation, eines „Herrschaftsgeflechts i m Nebeneinander", das vielen geradezu als das Modell einer kooperativen Zukunft erscheint. Soweit dies noch gelingt, ist es Zeichen demokratischer Gesundheit, Beweis der politischen Herrschaftskraft des Gemeinwesens — nicht aber Ausdruck der kommunalen Idee als solcher. Denn dies w i r d meist verkannt: Zum Wesen des Kommunalen gehört Kontaktarmut bis h i n zur Kontaktlosigkeit. Zentrum und Legitimation dieser Institutionen bildet der Kommunalegoismus. Die steigende Zahl der „übertragenen Aufgaben" hat den Blick dafür getrübt, daß der eigentliche Sinn der Kommune eben doch i n den „eigenen Angelegenheiten" liegt. Sie aber müssen eigensüchtig bewahrt werden, bis h i n zur Absperrung gegen jedes andere öffentliche oder private Interesse, soll der ganze Aufwand der lokalen Demokratie noch einen Sinn haben. Nun aber treten anarchisierende Gefahren i n dreifacher Richtung auf: — Entweder der Staat überfrachtet die Kommunen mit der Erfüllung seiner Pflichten, die Gemeinden sind fast ausschließlich mit „übertragenen Aufgaben" beschäftigt — dann w i r k t sich die Kommunaldemokratie nurmehr als eine Demokratisierung des Verwaltungsvollzuges aus. Damit aber kommt i n die niederen Ränge der Exekutivgewalt all das an parlamentarisch-politischer Störung, was doch von der strengen hierarchischen Exekutive ferngehalten werden muß, soll sie ihre Herrschaftskraft i m Vollzug des Volks willens wirklich durchsetzen. Kommunalisierung w i r k t dann nurmehr als demokratisierende Verwaltungsanarchisierung. — Oder die „übertragenen Angelegenheiten" treten zurück, die „eigenen" der Kommune i n den Vordergrund — dann verstärkt sich zugleich jener Kommunalegoismus, die „kleinen öffentlichen Inter17*
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essen" der lokalen Ebene wenden sich entschlossen gegen die übergeordneten Interessen der Gemeinschaft. Die Kommunalisierung findet dann zu ihrem eigentlichen Wesen zurück, zum kommunalen Widerstand. — Oder aber es kommt schließlich zu einer Konfusion beider Bereiche — die übertragenen Angelegenheiten werden „ m i t dem Geist der eigenen Angelegenheiten" erfüllt, die Kommunen versuchen eine „Aneignung der Zentralgewalt i m eigenen Interesse". Die Folgen sind erst recht anarchisierend — Zersplitterung der übergeordneten Interessenverfolgung, wenn nicht Auflösung der größeren Belange i n Lokalinteressen. Geschichte und tägliche Praxis der Kommunal aufsieht zeigen diesen Kommunalwiderstand, dem m i t den rechtsdogmatischen Mitteln der Trennung von „eigenen" und „übertragenen" Angelegenheiten nicht beizukommen ist; denn die selbständige kommunale Verwaltung w i r d stets auch die übertragenen Angelegenheiten zu eigenen werden lassen. So führt denn die staatliche Rechtsaufsicht einen erbitterten und immer weniger erfolgreichen Kampf gegen den Kommunalpartikularismus. Überall und vor allem i n politisch wichtigen Bereichen, wie dem des Bauens oder dem des öffentlichen Dienstrechts, wenden sich heute die Kommunen entschlossen und oft bis zur Rücksichtslosigkeit i m Namen ihrer eigenen, „ganz anderen" öffentlichen Interessen gegen die des Staates. Dahinter steht das Selbstbewußtsein wahrhaft originärer Gewalt, mag diese den Kommunen nun i n den Gemeindeordnungen ausdrücklich zugestanden sein oder nicht. Und die Kommunalaufsicht, die manchmal i n ihrer Härte, aber doch auch wieder Begrenztheit, fast an ein Besatzungsregime erinnern muß, aus dem sie ja auch früher entstanden ist, sie hat vielleicht rechtlich, nicht aber politisch auf Dauer eine Chance, die Übermacht zu gewinnen: Sie w i r d j a von jenen Ländern getragen, deren föderale Staatskraft immer weiter zurückfällt. I m Zweifrontenkrieg gegen Bund und Gemeinden werden die Länder langsam aber sicher aufgerieben; oben ist noch immer „echte Macht", unten sind „echte, greifbare Interessen"; i n der Mitte bleibt das Land als „Polizei", als politisch immer schwächerer Wächter. Die Kontaktlosigkeit des Kommunalegoismus w i r d so ganz zentral durch jene eigenen Angelegenheiten bestimmt, zu denen alles wird, was die Hände der Kommune erreichen. Doch kontaktlos sind die Kommunen noch i n einem anderen Sinne: Obwohl doch so bedeutende Machtträger der Zweiten Gewalt, sind sie, anders als die Länder, nicht mit der Gesamtgewalt des Staates verklammert. Hier gibt es keinen Bundesrat, keine Instanz, i n der sie sich i n zentralen Angelegenheiten einem Mehrheitswillen beugen müßten. Und i n den Städtetagen lebt
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nur etwas von der politischen Unverbindlichkeit weiter, die alle „altdeutschen Tage" von jeher gekennzeichnet hat. Damit aber ist der Einbau dieser zahllosen Machtzentren i n die Gesamtherrschaft unvollständig. Politische Integration hat noch nie allein durch Aufgabenübertragung und Kontrolle von deren Erfüllung wirksam geschehen können. Immer bedarf es der gemeinsamen Organisation; weil sie hier fehlt, muß die staatsorganisations-kontaktlose Kommune irgendwann zum anarchisierenden Gegenzentrum entarten. Die Kontaktschwäche besteht auch nicht nur nach oben zur Zentralgewalt, zur Aufsicht, noch ausgeprägter ist sie, dem Wesen des Kommunalen entsprechend, zwischen den Kommunen. Die kommunale Kooperation ist i n den meisten Fällen staatlich erzwungen. Oft bleiben die dadurch überdeckten Interessengegensätze nur allzu lebendig. Wo aber Zusammenarbeit aus den Kommunen selbst heraus wächst, aus den technischen Notwendigkeiten des Miteinander, da entsteht aus den Zweckverbänden nur eines: die größere kommunale Einheit, das mächtigere kommunale Gegenzentrum wider die Staatsgewalt, das dann immer schwerer von dieser zu beherrschen ist. So ist denn auch kommunale Kooperation weder ein Modell für die Zukunft noch ein Heilmittel der Spätdemokratie: Entweder sie läßt sich eben doch nicht letztlich durchsetzen, oder sie verstärkt nur die zentrifugalen Kräfte. I n all dem aber ist individualisierende Herrschaftsauflösung; denn der Weg zum bindungslosen Bürger führt über das bindungsfreie Kleinkollektiv. c) Kommunale Integration
durch „Finanzierung
von oben"?
Die Kommunen leben vom Staat, und die meisten Demokraten sehen heute i m System der Finanzzuweisungen und des Finanzausgleichs jene Kandare, an der die Kommunen i n der staatlichen Herrschaftsmanege stets i n Strenge geführt werden. Diese Subventionsbeherrschung ist sicher effizient, doch auf sie wirken selten bedachte anarchisierende Gefahren: Bund und Länder haben das Steuermonopol nahezu erreicht, Kommunalabgaben bleiben am Rande. Damit ist zwar zentrale Herrschaftsgewalt beim Staat konzentriert, doch m i t ihr auch das Steuerodium, einer der wichtigsten Widerstandsgründe gegen die Macht. Den Kommunen dagegen bleibt die Verwendung zugewiesener Mittel, politisch liegt bei ihnen weniger Erhebungslast ab Ausgabeerfolg. Wie sehr immer sie durch Auflagen gebunden sein mögen — bei ihnen geht es ums Ausgeben, damit aber können sie immer des lebendigen Interesses
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der Bürger sicher sein. Der Staat dagegen entwickelt sich mehr und mehr zu einer Geldentzugsinstanz mit beschränkter Ausgabezuständigkeit. Bei der Besorgung ihrer eigenen Angelegenheiten müssen daher die Kommunen nur selten m i t anarchischem Widerstand der Bürger rechnen, hier sind die Interessen greifbar, „fremdes Geld" w i r d verteilt. Der einsame Staat dagegen hat die Last der anarchisierenden Resistenz zu tragen und zugleich noch die des feudalähnlichen Kampfes der Kommunen u m die stets zu geringen Mittel. So w i r d die Kommune nicht nur zur attraktiven Ausgabegewalt „unten", sie w i r d und muß stets eine zusätzliche Antistimmung gegen jene Geldsammeigewalt des Staates erzeugen, die an sich als solche schon unbeliebt ist. Die Kommunen entwickeln sich zu öffentlichen Instanzen der Abwälzung des politischen Odiums des Bürgers auf die zentrale Herrschaft des Staates. Die desintegrativen Kräfte dieser Bewegung wären des Auslotens wert. d) Anarchisierende
Kommunalpolitisierung
I n den Kommunen entfaltet sich am gefährlichsten eine Politisierung der Verwaltung, welche die öffentliche Ordnung zur Clanherrschaft degradiert, sie bestreitbar werden und zerfallen läßt. Alle anarchisierenden Tendenzen, die bei der Parteipolitisierung beobachtet wurden, treten hier i n verstärktem Maße auf. Vor allem i n kleineren lokalen Bereichen w i r d deutlich, wie oft die angeblich so hohen öffentlichen Interessen doch nur private Belange Einzelner oder gewisser Gruppierungen sind. Hier vor allem fällt es dem Bürger auf, wenn sie rücksichtslos durchgesetzt werden, und dies reizt i h n zum Widerstand. I n den Kommunen kommt es, weit mehr noch als i m Staate, zu einer Personalisierung politischer Kämpfe, i n denen etwas vom alten anarchischen Krieg der Clans wieder auflebt. Kommunalpolitisierung schwächt nur zu oft die Durchsetzung der „Pol i t i k von oben" schon dadurch, daß selbst den Parteien der Durchgriff auf die lokale Ebene nicht mehr gelingt, eben weil sich hier ihre Exponenten mit der Legitimation eigener Interessen halten können. Umgekehrt aber w i r k e n laufend die kommunalegoistischen Kräfte, bis h i n zu rücksichtsloser anarchisierender Interessenverfolgung, i n den Herrschaftsapparat der Parteien hinein, der sich ja i n der Demokratie von unten nach oben aufbauen soll. Die Parteikommunalisierung w i r d so zu einer wichtigen Entwicklungslinie der Desintegration aus der Basis heraus. Wo immer „Politik" gegen „Herrschaft" steht, i n der Verfolgung persönlicher oder Gruppeninteressen, i m Abgehen von technischer
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Sachlichkeit — i n all dem ist die kommunale Ebene der erste und beste Aktionsraum. I n i h m erfaßt ja auch eine solche Politisierung zugleich alle Instanzen, Verwaltung und Gesetzgebung des Gemeinwesens i n einem, welche hier nicht i n gleicher Weise wie beim Staat durch die Gräben der Gewaltenteilung getrennt sind. Wenn die Politisierung zur Clanbildung, zur Privatisierung der Staatsgewalt, damit aber zum anarchischen Widerstand der anderen führen muß, so w i r d zu diesem Geist i n den Kommunen erzogen, und vor allem i n den größeren unter ihnen, da nämlich, wo die Verhältnisse doch schon so unübersichtlich sind, daß dem Bürger keine eigentliche Kontrolle mehr möglich ist, wo sie aber noch für die überschaubar bleiben, welche hier greifbare Interessen an den Schalthebeln der Macht verfolgen können. Von der Größenordnung her ist die Kommune der ideale Korruptionsraum, hier läßt sich noch mit fremdem Geld wuchern. Und die größte und heiligste aller Korruptionen der Demokratie, die Politisierung, erfaßt hier entlegitimierend einen Teil der ganzen Staatsgewalt, der gegen die Anarchie stehen sollte und nun droht, zu ihrem Ausdruck zu werden. e) Vom Aufstand der Verwalteten
zur Revolte der
Administration
I n den Kommunen hat sich die Demokratie Machtzentren erhalten, deren Schwerpunkt i n der Verwaltung liegt. Damit erreichen anarchische Phänomene eine neue Dimension: Ist es herkömmlich der verwaltete Bürger, der i m Widerstand aufsteht gegen die Verwaltung, die Bürokratie, den Gesetzgeber selbst, so findet er hier nun öffentliche Gewalten, die für ihn gegen den Staat vorgehen. Und es sind nicht gewählte, isolierte Vertreter i m Parlament, sondern zentrale Figuren der eigentlichen, der Zweiten Gewalt. Hier w i r d der „Aufstand der Basis gegen die höhere Ordnung", der alle Anarchie kennzeichnet, zur Revolte von Verwaltung gegen Staatsgewalt. I n den laufenden und so typischen Abordnungen der Bürgermeister und Gemeinderäte zu Regierungen und Ministerien, zu Bund und Ländern, i n diesen organisierten Deputationen der modernen Zeit, läuft mehr ab als ein Ritual lokaler Bitten. Ständig werden hier die zentralen Staatsgewalten durch Forderungen erschüttert, hinter denen nicht selten der politische Druck der lokalen Parteibasis steht. Hier w i r d verhandelt, und es werden öffentliche Interessen ver-handelt. Da werden Schwimmbäder vergeben und Universitäten, Industriestandorte und Museen, ebenso wie die Privilegien der alten Zeit, und auch zum selben Zweck: damit Anarchie besänftigt, feudale Mächte beruhigt werden. Hier ist ein innerer Kampf u m Staatsgewalt, u m Staatsnutzen i m Laufen, der noch stärkere Gegensätze zum Tragen bringt als der Gegensatz der Gewalten
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untereinander; denn hier kommt zum Kampf der einen Gewalt gegen die andere der des „Unten" gegen „die da oben" — und die vertikale Dimension ist noch immer die eigentlich anarchieträchtige gewesen. Sicher — diese „Aufstände" sind heute noch weithin Verhandlung, aber mit Vertretern immer selbstbewußterer, öffentlich organisierter Gemeinwesen. Damit aber dringt etwas vom Geist innerer Anarchie in die Zentren der Staatlichkeit, w i r d es nicht immer wieder i n einer gemeinsamen Loyalität ausgeglichen; diese aber muß das demokratische Recht unterstellen, es kann sie nicht hervorbringen. Nicht unterschätzen sollte man schließlich schon heute die Kommunen als politische Machtzentren, mögen sie auch von der staatsrechtlichen Dogmatik noch immer i m wesentlichen als Verwaltung abgewertet werden. Die Kommunen haben sich i n den vergangenen Jahrzehnten immer wieder als günstige Plattformen für politische Kraftanstrengungen kleinerer Gruppen mit nicht selten anarchisierenden Zielsetzungen erwiesen. Was i n der größeren Gemeinschaft keine Mehrheitschancen hatte, sollte nun i m lokalen Bereich durchgesetzt werden. Die Erfahrungen reichen hier von den Antiatomvolksbegehren hessischer Gemeinden über den Versuch der Durchsetzung der direktiven Mitbestimmung i m öffentlichen Dienst i n den Kommunen Nordrhein-Westfalens bis zu Schul- und Kindergartenexperimenten „progressiver" Gruppen. Die nur „rechtsaufsichtlich besetzte" Kommune ist als solche nicht nur manchmal Anarchieinstanz, sie ist fast immer eine gute A n archieplattform. Hier kann der einzelne Bürger aus eigenem Recht gegen das Höhere antreten, gegen die Herrschaft. Dies alles ist sicher nur ein Teil der kommunalen Medaille, und kein Bürgermeister w i r d sie nach außen tragen. Doch das Wesen demokratischer Anarchie liegt ja gerade darin, daß sie einhergeht i m Namen des Herrschens. 5. „Gesellschaftliche Selbstverwaltung" — der neue Privatfeudalismus Die eigentliche große Anarchiegefahr der Herrschaftsauflösung durch eine Pluralität der Machtträger droht jedoch der Demokratie weder von einem niedergehenden Föderalismus noch aus einer Kommunalisierung, welche doch „immer unten" angesiedelt bleibt. Alles deutet vielmehr darauf hin, daß es die neuen Formen „gesellschaftlicher Selbstverwaltung" sind, i n denen Autonomie i n Anarchie übergeht.
5. „Gesellschaftliche Selbstverwaltung"
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a) Das neue Zünftewesen Die kontinentaleuropäische Demokratie hat i n der Französischen Revolution ihre Herrschaft auf den Ruinen der Zwischengewalten, der zerstörten Zünfte und Corporationen, errichtet; seither ist „Ständestaat" ein A n t i w o r t zur Demokratie geblieben. Doch die Volksherrschaft geht heute Schritt u m Schritt zum Ancien Régime zurück, vor allem i n einem: i n der Renaissance jener Zünfte und Corporationen, welche schon die alte Königsherrschaft m i t Anarchie bedrohten. Daß dies auch demokratisches Schicksal werden kann, läßt sich heute schon absehen. Die öffentlich-rechtlichen Berufsorganisationen, bis h i n zu den Handels- und Handwerkskammern, bieten zwar weithin ein ruhiges, herrschaftsgehorsames B i l d notablierter Selbstbeschäftigung. Den p o l i tischen Elan hat das Berufsständische nicht wieder erlangen können, im Grunde hat es nie den Schlag der Französischen Revolution überwunden. Doch ein neues Zünftewesen entwickelt sich i n unseren Jahrzehnten mit einer Macht, die aus dem Berufsständischen kommt, bei i h m aber nicht stehenbleibt. Die Gewerkschaftsbewegung ist der Ausgangspunkt: Hier wurden private Berufskräfte i n solcher Größenordnung organisiert, daß sie, in einer freiheitlichen Demokratie zumal, i n den Staat hineinwirken, diesen weithin schon übernehmen mußten. So kam es zur „gesellschaftlichen Selbstverwaltung" der Sozialversicherung und der Arbeitsverwaltung, zum maßgeblichen Einfluß „gesellschaftlicher Kräfte" auf die audiovisuellen Medien. Große Bereiche herkömmlicher Staatlichkeit sind i n solchen Formen der Autonomie bereits von „gesellschaftlichen Kräften" übernommen worden, i n anderen, bei Post, Bahn und Daseinsvorsorge, verstärkt sich der Mitspracheeinfluß i n den immer weiter autonomisierten Verwaltungseinheiten, i n Verwaltungsräten und anderen Kontrollgremien, ständig. Die Entstaatlichung der Macht schreitet rascher fort als es die liberal-demokratische Staatsrechtsdogmatik wahrhaben w i l l ; „der eigentliche Herrschaftszustand" ist immer schwerer zu beschreiben. Denn wenn auch die Finanz- und Gesetzgebungsmacht noch beim Staate liegt, die Verwaltung und die Ausgabegewalt wandern rasch „ i n die Gesellschaft" ab und i n ihre Autonomie. Überall waren und sind es die Gewerkschaften, welche durch ihre faktische Macht: überhaupt erst solche Institutionalisierungen möglich gemacht haben; über sie kommt es dann zu einer „Mitreißung" anderer „gesellschaftlicher Kräfte" hinein i n den neuen Privatfeudalismus; die Gewerkschaften sind sogar stark genug, an sich schwache oder nieder-
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gehende gesellschaftliche Mächte, Arbeitgeber, Kirchen, Hochschulen, dadurch indirekt zu befestigen, daß sie ihnen, durch ihren starken Arm, den gesellschaftlich-autonomen Privatregierungsraum erkämpfen. Folgerichtig ist es, daß die Gewerkschaften neuerdings die Forderung nach einer weitgehenden Entstaatlichung großer Bereiche aufstellen: Das Gesundheitswesen und die Hochschulen, ja die gesamte Bildung und das ganze „Soziale" sollen aus der staatlichen Macht herausgenommen und i n „gesellschaftliche Selbstverwaltung" übertragen werden, i n der dann die Gewerkschaften den „maßgeblichen Einfluß" ausüben — ein neues Wort für Herrschaft. Denn daß dort letztlich nur herrschen kann, wer Millionenkraft hinter sich weiß, bedarf keiner Begründung. Die Idee der „gesellschaftlichen Selbstverwaltung" geht aber noch weit über dies alles hinaus, sie findet dort Modelle, nicht ihre Grenzen. Wenn Bürgerverwaltungen i n Stadtviertelräten eingerichtet werden, wenn Eltern- und Schülerräte i n Schulen bestimmen, ganz zu schweigen von der „Mitbestimmung des Personals" i m öffentlichen Dienst — i n all dem läuft nichts anderes ab als dieselbe große Entstaatlichung der Herrschaft. Und es ist ein neues Zünftewesen, das hier entsteht. Großflächiger w i r d hier zwar „gesellschaftlich geherrscht" als i n den engen früheren Corporationen, doch eines, das Wesentliche ist der alten Ordnung gleich: Wesentlich private, nicht-staatliche Kräfte übernehmen Staatsfunktionen, dem Namen nach i m öffentlichen, i n Wahrheit i n ihrem eigenen, beruflichen, Gruppen-, Klasseninteresse. Das Zünftewesen definierte sich ja nie durch die Macht der Schuster und Schneider, sondern stets dadurch, daß private Interessen als öffentliche herrschten. Dies aber geschieht i n der modernen gesellschaftlichen Selbstverwaltung, der Staat stellt die Formen seiner öffentlich-rechtlichen Autonomie zur Verfügung, i n der sich private Macht gewaltige Trutzburgen errichten kann, gegen die immer schwächer werdende Zentralgewalt. I n sie glaubt der niedergedrückte Bürger des Gleichheitsstaates fliehen zu müssen, damit er „noch etwas i n diesem unmenschlichen Mechanismus bedeute", bewege. Hier werden die Anhöhen besetzt, von denen aus die staatlichen Heerstraßen kontrolliert, Beutezüge zu den staatlichen Kassen unternommen werden können. Diese privatfeudalen Mächte sind heute schon viel zu stark, als daß man sie noch mit der alten Raubritterschaft vergleichen könnte. Staatliche Autonomieformen des Föderalismus und der Kommunalisierung bilden hier kein Gegengewicht, sie verstärken nur die große neue Autonomie: Der Föderalismus öffnet noch i m Niedergehen, durch Dezentralisierung die Staatsgewalt dem gesellschaftlichen Einfluß; und
5. „Gesellschaftliche Selbstverwaltung"
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selbst i n den Kommunen bringt der Niedergang des lokalen Gemeinsamkeitsbewußtseins eine Verstärkung sachbezogenen Autonomiedenkens — wiederum ein neues Feld einer gesellschaftlichen Selbstverwaltung, die sich unter dem Schutz der Kommunalisierung, i n dieser selbst zu entwickeln vermag. So sind alle Autonomietendenzen heute auf das Gesellschaftliche der Selbstverwaltung gerichtet, und das entspricht der Autonomieidee selbst: Stets hat sie ja über Föderalismus und Kommunalisierung hinausgegriffen, gerade durch diese Formen, zusammen mit ihnen das Zünftische, das Ständestaatliche, das gesellschaftlich-Autonome entwickelt. Die französischen Revolutionäre wußten wohl, weshalb sie einst mit einem Schlag alle Autonomien, auch die der Kommunen und Regionen, beseitigen mußten: Wer glaubt, nur sie erhalten, sie vielleicht sogar dem Zünftisch-Ständischen entgegensetzen zu können, der hat die große Dynamik der Autonomieidee nicht erkannt. Nur weil i n Deutschland Föderalismus und Kommunismus weit stärker geblieben sind, konnte es hier zu einer beispiellosen gesellschaftlichen Selbstverwaltung kommen, zum Erstarken jener Gewerkschaften, welche nicht i n Konfrontation, sondern i n Partizipation herrschen wollen — i n gesellschaftlicher Autonomie. b) Die Staatsauflösung
in „gesellschaftliche
Autonomie"
Gewerkschaften gegen Staat, Medien gegen Regierung — Anarchiesorgen erscheinen plausibel; doch sind sie wirklich begründet, ist nicht diese gesellschaftliche Autonomie das Ordnungsbild der Zukunft? Hier kommt es doch zur Gesamtordnung von Staat und Gesellschaft, die inneren, nicht selten anarchisierend wirkenden Antagonismen der staatlichen und außerstaatlichen Herrschaftsmächte werden aufgehoben. Die „Staatsangst" verblaßt — in der Selbstverwaltungsordnung t r i t t nicht der Polizist, die Obrigkeit, es t r i t t der Bürger nur dem Bürger entgegen. Demokratische Formen werden verbreitert und erweitert, w i r d damit nicht politische Demokratie legitimiert, befestigt? Der zerfallende Föderalismus und der Kommunalismus werden gesellschaftlich unterwandert, damit aber wieder eingebaut i n die einheitliche Gesellschaftsstaatsgewalt. Und all dies vollzieht sich i n den kleinen, selbstgesetzlichen Schritten einer unausweichlich erscheinenden Gesetzmäßigkeit. Was könnte Ordnung denn besseres bedeuten? Dennoch — hier setzen anarchische Kräfte an den zentralen Bastionen demokratischer Staatlichkeit an. Nur wenige Bemerkungen dazu: — Die Kräfte der gesellschaftlichen Autonomie wollen nicht eigentlich, nicht i m letzten ordnend herrschen, sie wollen fordernd erreichen.
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Wo sie breite Bevölkerungsschichten vertreten, muß wohl ihre Politik Allgemeinwohlstreben für sich i n Anspruch nehmen; doch i m Grunde geht es nach wie vor darum, „den Staat zu sich h i n zu ziehen", i m letzten bleiben all diese Mächte Auszehrungsgewalten der Staatlichkeit, nicht Aufladepotenzen von deren Ordnung. Aus dem Gesetz, nach dem sie angetreten, ist diesen gesellschaftlichen Kräften anderes auch nicht zuzumuten. Nur konsequent sind die Gewerkschaften, wenn sie nach wie vor und i n erster Linie „für die Arbeitnehmer fordern", auch wenn dann i m Nachsatz dies selbe als das „öffentliche Interesse" bezeichnet wird. Selbstverständlich ist es, daß die Eltern ihre privaten Erziehungsvorstellungen i n der Schule durchsetzen wollen, ohne Blick auf das öffentliche Interesse. Normal bleibt es, daß der Personalrat staatlicher Verwaltungen sich nicht als Staatsorgan fühlt, sondern als Vertreter privater Belange der Bediensteten. Noch so viel von Verantwortung mag man hier reden, verdeckt w i r d dadurch nur eines: das private Interesse, das unter dem Deckmantel und mit der Weihe des öffentlichen verfolgt wird. Damit aber bricht die eigentliche Anarchie i n den Staat ein, denn auch demokratische Herrschaft setzt immer eines voraus: den rocher de bronze des für alle Geltenden, weil allen Dienenden. — Die privatfeudalen Interessen der gesellschaftlichen Selbstverwaltung werden nie voll zum öffentlichen Interesse, sie drängen dieses vor allem durch eines zurück: durch ihre unübersehbare, unvorhersehbare Vielfalt. Denn all diese privaten Interessen, welche i n die Herrschaft eingeflossen sind, bleiben eben privat, d.h. aber unbestimmbar, höchst differenziert, durch Gesetz und Richterspruch nicht definierbar. Die proteushafte Formenvielfalt des Privaten überlebt j a dessen Transformation i n das öffentliche Interesse, sie lebt unter ihm, i n i h m weiter. Die Gewerkschaften können kein einheitliches Staatsprogramm durchsetzen, sich letztlich nicht an Gesetze binden, stets werden sie sich nur an das halten, was sie vertraglich selbst ausgemacht haben. Darin liegt tiefe private Konsequenz: Diese Organisation muß auf die Basis ständig hören, ganz anders als die demokratische, institutionell verfestigte Staatsgewalt. Hier gibt es keine Wahlperioden, hier entsteht das Interesse der Arbeitnehmerschaft täglich neu, es muß nach oben transformiert werden, i n die Herrschaft. Damit aber kommt i n alle gesellschaftliche Autonomie etwas unvorhersehbar-Schwankendes, etwas laufend virtuell-Revolutionäres, und, vor allem, ein ständiges unübersehbares Gegeneinander von Kräften. Hier kann, unversehens, immer weiter „Herrschaft individualisiert" werden, kleine und kleinere Interessenfragmente und Gruppen üben unabsehbaren Einfluß aus. Definierbar zu ordnen ist nichts mehr auf Dauer, wohl nur
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deshalb sind die Vertreter dieses neuen Modells so hoffnungsfroh, weil sie i n dieser Bewegung Ruhe zu finden hoffen. Doch es ist eine Bewegung anarchisierender Kräfte. — I n der gesellschaftlichen Selbstverwaltung werden all jene individualisierenden Tendenzen sichtbar, welche zum Wesen des anarchischen Denkens gehören. Die Träger dieser Autonomie stehen ja letztlich doch beziehungslos nebeneinander; daß sie sich einem „Ganzen" verpflichtet fühlen wollen, ist letztlich nur ein Wort. Ihre Legitimation ziehen sie nicht aus ihm, sondern nur aus sich selbst, aus ihren partikularen, individuellen Interessen. Eines findet hier wirklich überhaupt nicht mehr statt: der Umschlag i n einen einzigen „allgemeinen Willen". Der feudale Kampf der Verbände der Industriearbeiter gegen die Vereine der Bauern, der Verbände der Freiberuflichen gegen die Bünde der Beamten w i r k t belebend dort, wo eine starke demokratische Herrschaftsgewalt noch alles hält. Werden aber diese Verbände mit ihren oft beziehungslosen Interessengegensätzen in die Staatlichkeit selbst hereinverlegt, eben i n der „gesellschaftlichen Autonomie", so ist da nurmehr ein Gegeneinander, mit einer schwachen Hoffnung der Einung. Und wie diese zu erreichen ist, darüber sagt die Autonomie nichts aus. Dies aber ist eben doch — ein Ende von Ordnung. — Nicht nur, daß die „gesellschaftlichen Kräfte" i m Grunde lediglich partikulare Interessen vertreten, auch die gesellschaftlichen Autonomien, i n denen sie zusammengefaßt werden, sind ihrer Kompetenz nach stets irgendwie partiell. Darin aber splittert sich die Ordnung immer weiter auf, sie nähert sich dem Ende der „Globalzuständigkeiten", damit aber der Auflösung der Staatsidee. Denn das Globale, das Allmächtige und Allgegenwärtige, war und ist es doch noch heute, welches das Besondere der Staatlichkeit als höchsten Ausdruck des Geistigen i m Sinne von Hegel ausmacht. W i r d dies in gesellschaftlicher Selbstverwaltung aufgelöst, so ist der Gott auf Erden gestürzt, es gibt nurmehr die Bischöfe und Heiligen der alten Feudalzeit. Doch dann ziehen wieder germanische Gefolgschaften nebeneinander und durcheinander, der Römische Staat muß erst neu gefunden werden. — Der Zugriff der „gesellschaftlichen Kräfte" auf den Bürger ist i n der Autonomie partiell und prekär, nie der Unentrinnbarkeit der alten staatlichen Macht vergleichbar. Zwischen den Fronten der inneren Autonomiekämpfe und denen der verschiedenen Autonomien untereinander kann sich der Bürger einrichten, bis h i n zur Ungebundenheit wahrer Anarchie. Autonomie ist träge, und bis ihre
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X I . Die Dekadenzautonomie — ein Weg i n die Anarchie
Netze so fein werden, daß sie ihn erfassen, w i r d viel Zeit vergehen, und auch dann kann er ja immer noch — diskutieren . . . — Eines ist aller gesellschaftlichen Autonomie gemeinsam, die diesen Namen verdient: Sie w i r k t nicht aus Parteipolitik heraus, sie sieht sich nur zu oft als eine Überwindung, jedenfalls eine Überhöhung derselben. Politikenttäuschung, Politikmüdigkeit ist es doch meistens, aus der der Gleichheitsbürger i n die Verbände flieht, i n die gesellschaftlichen Selbstverwaltungen; und entschlossen setzen die Großverbände der Gewerkschaften berufsständisches Denken, wenn nicht gar ihr Klassenprinzip, der müden Parteipolitik entgegen; darin sind sie eine wahre Reservegewalt, eine Macht mit Zukunft. So dringt denn ein ganz neues geistiges Ordnungsprinzip oder doch sein Anspruch i n die Zentren der Staatlichkeit vor, stellt das parteipolitische Prinzip i n Frage, w i r k t damit entlegitimierend auf die gesamte demokratische Staatlichkeit. Wenn es etwas wie eine Staatsgrundstimmung gibt, so muß sie i n der Demokratie durch Parteipolitik geprägt sein. I n gesellschaftlicher Selbstverwaltung kann sich diese nur abschwächen und letztlich degenerieren. Wenn ès zu einer Grundentscheidung kommen muß, dann hier: Parteidenken oder Verbandsdenken, zwei Göttern kann der Bürger i m letzten nicht dienen. Gesellschaftliche Selbstverwaltung könnte dann belebend wirken, zukünftige Ordnungen hervorbringen und befestigen, wenn ihre Kräfte durch eine starke Zentralgewalt gehalten und kontrolliert wären. Werden diese Organisationsformen jedoch eingebaut i n eine bereits durch innere Anarchie erschütterte Staatsform wie die der Spätdemokratie, so können sie nur noch weiter und entscheidend herrschaftsabschwächend wirken. Dann werden sie eben zu dem, was ja jede Autonomie i m Kerne ist, zu einem sich-Absperren gegen äußere Machteinflüsse, zu Nestern anarchisierender Bestrebungen, die sich mit der bestehenden Ordnung nicht identifizieren wollen. So entsteht auch immer wieder eine wahre tabula rasa bisheriger Organisationsformen; wer wesentlich Neues w i l l , kann und w i r d gerade hier ansetzen. Dieses „irgendetwas Neues wollen" ist aber i n aller Regel und zuerst ein Schritt i n die Richtung der Anarchie. Nicht umsonst waren es anarchische Kräfte der Russischen Revolution, welche die bedeutendsten Modelle „gesellschaftlicher Selbstverwaltung" entworfen haben und zuzeiten sogar realisieren konnten. Den trotzkistischen Formen der Arbeiterselbstverwaltung haben ihre kommunistischen Gegner stets i n erster Linie den V o r w u r f der A n archie gemacht, nicht zu Unrecht: Hier sollte ja ganz radikal alles bisher Staatliche überwunden werden, der Staat nicht i n einer fernen Zu-
5. „Gesellschaftliche Selbstverwaltung"
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kunft, sondern sogleich absterben; hier war gesellschaftliche Autonomie als ein wahres Kampfinstrument gedacht, zuallererst zur Zerstörung des Bisherigen einzusetzen; hier würde i n der Räteordnung eine „andere Demokratie", jenseits selbst der kommunistischen Parteipolitik, durchgesetzt werden; hier sollte aber vor allem die neue Macht sich von unten nach oben aufbauen, stets i n Verbindung m i t der anarchischrevolutionären Basis. Die große kommunistische Theorie der gesellschaftlichen Selbstverwaltung, die einzige, die es heute gibt, ist i n sich konsequent. W i r d eine demokratische gesellschaftliche Selbstverwaltung jemals einen anderen Weg gehen können? Ihren Grundgesetzen widerspricht dies; wenn sie vom freien Bürger ausgeht, muß sie seinem Willen letztlich auch immer neue anarchische Spielwiesen bereiten, es bleibt ihr die Hoffnung, daß sie die Zäune halten kann. Demokratie bedeutet j a auch irgendwo, daß sich jeder seine eigene Volksherrschaft aufbauen darf, seinen eigenen Abstimmungskörper, seine eigenen Majorisierungsformen. Nur eine Frage bleibt eben immer: Ist „Ordnung zulassen" i m letzten noch Ordnung, muß eigentliche Macht nicht die Ordnung selbst hervorbringen? Wenn die Demokratie so viel, immer mehr gesellschaftliche Autonomie zuläßt, w i r d sie dann nicht eines Tages eine Staatsform passiver Anarchie sein?
X I I . Die Negativ-Ideologie der Demokratie — Lob des Widerstandes und der Revolution 1. Die „negative Ideologie" — ein Wesenszug der Demokratie „Ideologie" ist i n breiten Randzonen für das Recht ein schillernder Begriff geblieben; mächtige historische Bewegungen der neuesten Zeit, Faschismus und Kommunismus vor allem, haben i h m jedoch einen faßbaren historischen Kern gegeben. So bezeichnet denn heute Ideologie einen systematischen Zusammenhang von politischen Grundsätzen, denen ein besonders hoher Rang zukommen soll — so hoch, daß ihre Bedeutung sogar über die nationale Gemeinschaft hinausreichen, Weltgeltung beanspruchen kann. Ideologie ist ferner eine besonders geschlossene Form der Grundentscheidung, die für andere Werte der politischen Gemeinschaft keinen Raum mehr läßt. Und schließlich ist es aller Ideologie, i m neueren Verständnis, eigen, daß sie mit der parareligiösen Intensität einer wahren Staatsmoral durchgesetzt wird, sodaß ein Verstoß gegen sie nicht nur Rechtsbruch, sondern politische Sünde bedeutet. Allgemeiner Meinung entspricht es, daß die freiheitliche Demokratie eine derartige Staatsideologie nicht kennen kann, noch weniger eine alles umfassende Gesellschaftsideologie. Sie steht ja als Staatsform gerade wider jede Form religionsähnlich eifernder Politik. Wenn sie sich gegen etwas eindeutig abgrenzt, wenn ihre Freiheit einen faßbaren Inhalt hat, so darin, daß sie die Volksherrschaft zur ideologiefreien Organisation par excellence machen w i l l . Doch i n dieser Überzeugung, die häufig von Demokraten zwar nicht i n quasi-ideologischer Intensität, wohl aber i n ideologie-ähnlichem Stolz vertreten wird, bleibt die Staatstheorie der Volksherrschaft an der Oberfläche: Sie übersieht, daß Demokratie nur einer „positiven Ideologie" unzugänglich ist, daß sie sich nicht zu einer positiven PolitWeltanschauung bekennen kann. Je mehr sie sich aber zu dem entwickelt, was w i r die Spätdemokratie nennen, desto mehr entfaltet sie Formen, die man nicht als Ersatzideologien abqualifizieren sollte, die vielmehr zu echt ideologischer Intensität emporwachsen und sich nur i n einem unterscheiden: Sie sind das, was w i r i m folgenden „NegativIdeologien" nennen wollen, besondere politische Intensitäten zur Wand-
1. Die „negative Ideologie" — ein Wesenszug der Demokratie
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lung, Umwertung, zur Zerstörung, zum politischen Nein. Damit aber sind w i r mitten i n unserem Hauptthema: I n diesen Formen negativer Ideologie erhebt die Volksherrschaft Anarchie zum Staatsgrundsatz. Daß die Demokratie einer „positiven Ideologie" weder bedürftig noch mächtig ist, bedarf keiner näheren Begründung: Ihr Zentrum und Ziel ist die politische Freiheit, sie aber muß ungerichtet und ziellos bleiben, sie darf nie auf politische Höchstziele fixiert werden, sonst ist sie eben nicht mehr die Freiheit, welche die Demokratie und w i r alle meinen. Wo immer sich Zielvorgaben der Freiheit andeuten — i n der „Funktion", welche das Eigentum für den Besitzer haben, i n der „konstruktiven Richtung", i n der von einer Meinung Gebrauch gemacht werden soll — i n all dem liegen gefährliche Wucherungen eines unbewußt ideologisierenden Denkens, meist Formen einer „positiven A b wehr-Ideologie", welche etwa der kommunistischen Ideologie Wind aus den Segeln nehmen w i l l ; dabei aber leidet die Demokratie Schaden an ihrer Seele, an der Freiheit. Die Volksherrschaft kann auch i m Begriff der Ordnung als solcher nicht ideologische Festigkeit erreichen. Zwar mag es zuzeiten i n der Geschichte möglich gewesen sein, funktionierende großräumige Ordnungen als solche geradezu ideologisch aufzuladen, von der Pax Romana bis zur Pax Britannica. Doch die Ordnung als solche kann nur dann Ideologieträgerin, ideologiemächtig sein, sogar den Verzicht auf die ferne und utopische Ziel-Ideologie ermöglichen, wenn hinter ihr eine besonders geschlossene, große politische Mächtigkeit sich aufbaut. Sie fehlt heute allenthalben den parlamentarischen Demokratien. Schon deshalb kann die Ordnungsidee, wie hoch sie auch gesetzt werden mag, sich i n ihnen nie zur positiven Ideologie steigern; und der nahezu komplexhafte Widerstand gegen alles, was nur entfernt an „Law and Order" erinnert, ist so unberechtigt nicht, er zeigt das kritische Selbstbewußtsein einer sich immer mehr abschwächenden Herrschaft. Doch auch wenn all dies nicht wäre, ergäbe sich für die freiheitliche Demokratie die Unmöglichkeit der positiven Ideologie schon aus ihrem vielberufenen Wertpluralismus heraus: Wo es keine gemeinsamen Wertvorstellungen gibt, wo eine staatsrelevante Paideia nicht stattfindet, da kann ideologisch nie etwas anderes sein als jener politische Sektenhaufen, als welcher die westliche Demokratie östlichen Betrachtern erscheinen mag. Dies alles aber schließt Ideologie i n anderer, i n negativer Form keineswegs aus, vielleicht fordert es sie: Wo sich Staat und Bürgerschaft nicht zu etwas bekennen können, zu einer festen Verteilung, einer bestimmten Zukunft, einheitlicher politischer Verehrung i n Glaubenssätzen, da müssen sie gegen etwas gemeinsam stehen, m i t derselben 18 Leisner
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X I I . Die Negativ-Ideologie der Demokratie
Intensität wie die positiven Ideologien. Diesem Anti-Credo muß dieselbe Allgegenwart und derselbe Zug i n die Unendlichkeit eigen sein wie den positiven Glaubenssätzen, denen dies zumindest von den platonischen Ideen geblieben ist. Diese Negativ-Ideologie ist etwas wie eine unendliche Ablehnung, ein unbedingtes Nein i m Politischen, und wogegen könnte es sich anders richten als gegen alle Formen der Macht und der Herrschaft? Hier seien nur die wichtigsten Gründe genannt, aus denen heraus die späte Demokratie Formen negativer Ideologien entwickeln muß: — Der Staat ist auf Normen gebaut, er gipfelt i n einer allgemeinen, geschriebenen Regel-Verfassung. Woraus sollte hier deduziert, wie sollten diese höchst generellen Normen auf alle kleinen und größeren Einzelfälle angewendet, auf sie einfach auch nur gerichtet werden, wenn nicht aus übergreifenden Regionen geistiger Systematik heraus, die eben stets i n ideologischer Höhe angesiedelt sind? Ideologie als normatives Produktionsprinzip, als normative Deduktionshilfe braucht gerade die Volksherrschaft, und es w i r d sich zeigen, daß dies nicht nur i m Positiven möglich ist, daß auch die Negativ-Ideologie solches zu leisten vermag. — Wenn die Spätdemokratie Ansätze einer positiven Ideologie zu entwickeln scheint, so in eigenartigen, aber allen Demokratien gemeinsamen Formen des radikalen Pazifismus. Es mag hier noch offen bleiben, ob sich dahinter nicht bereits die Negativ-Ideologie der radikalen Gewaltablehnung verbirgt, ob, politisch jedenfalls, Pazifismus überhaupt etwas wie eine Positiv-Ideologie sein darf. Jedenfalls aber kann eine derartig quietistische Staatsform, die auf so viele materielle Gewalt-Erfolge ganz bewußt verzichtet, anders kaum bestehen, als durch die Entwicklung von negativen, gegen alle Gewalt gerichteten Ideologien, d.h. aber sehr bald: durch eine Anti-Haltung wider die Macht als solche. — Seit Jahrzehnten bereits hat sich die unbestritten geringe Begeisterungsfähigkeit der demokratischen Staatsform gegenüber der Jugend zu einem wahren Trauma der Volksherrschaft gesteigert. „Jugend ohne Ideale" — das ist häufig nur die selbstkritische Erkenntnis des Problems einer Herrschaft über aktive Menschen ohne Ideologie. Und weil Anziehen und Abstoßen nur zwei Seiten einer politischen Medaille sind, weil das Entscheidende für das Staatsverhältnis zur Jugend i n der Bewegung liegt, deshalb haben sich i n der Demokratie Negativ-Ideologien von Revolution und Widerstand entwickelt; fast scheint es, als vermöchten sie die Jugend i n ähnlicher Weise zu begeistern wie früher glorreiche Schlachtfelder und Triumphbögen.
2. Widerstand als Anarchie
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— Endlich und vor allem aber kommt auch die Spätdemokratie irgendwann nicht an der Hegeischen Herausforderung vorbei — sie muß sich zum Staat des höheren geistigen Seins erheben, i n dem politische einzelmenschliche Gedanken größere transpersonale W i r k lichkeit werden können. Wenn ihr dies nicht gelingt i n den Vorstellungen von Herrschaft und Reich, wenn sie nicht absinken w i l l i n reine Wohlstandsbewahrung, damit auf jedes höhere geistige Sein verzichtend, bleiben ihr nur die Gegenideologien, die geistigen Anti-Herrschaftsbilder. I n ihnen setzt sie zum Höhenflug an und wenn sie der strahlenden Freiheit zu nahe kommt, stürzt und i n all ihrer inhaltsleeren Geistigkeit an dem harten Boden der Welt zerschellt, so war es doch ein phaethonisches Ende. So kann denn die Demokratie ohne Negativ-Ideologie nicht bestehen, vielleicht ist dies einfach ein Schicksal der ungerichteten, irgendwo inhaltsleeren Freiheit. Und das Entscheidende ist nun: Es ist diese Negativ-Ideologie i m Grunde nichts anderes als die große Anarchie mit all ihrer herrschaftszerstörenden und unendlich bewegenden Kraft. W i r werden sehen, wie Widerstand, Revolution und die Tendenzen zur internationalen Anarchisierung, die von der Demokratie ausgehen, nichts anderes sind als kanalisierte Erscheinungsformen der totalen und unbedingten Herrschaftsablehnung. Heute sind es noch Flüsse i n institutionellen Ufern, doch sie drängen nach dem Meer der großen anarchischen Gewaltlosigkeit. Was sie mit i h m jetzt schon verbindet, ist das größere negative Endziel. Auf diesem Hintergrund wollen w i r i m folgenden Erscheinungen kanalisierter Negativ-Ideologie i n der Demokratie betrachten: Hier verbinden sich i n der Höhe des Geistigen Anarchie und Spätdemokratie noch weit mehr als i n den Einzelheiten der praktisch gewendeten Institutionen. Je mehr die Betrachtung der Demokratie aufsteigt i n die Höhen des Staatsgrundsätzlichen, desto häufiger begegnet sie dort der wahren Anarchie; je weiter hinab aber i n das Geflecht der Institutionen sich der Blick senkt, desto mehr trägt die Volksherrschaft Machtinstrumente früherer Monarchien und Oligarchien fort. Deshalb vielleicht blieb das Problem der Anarchie Juristen so weithin unbewußt, deren Blick eben stets auf die institutionelle Basis gerichtet ist. 2· Widerstand als Anarchie a) Widerstand als Grundlage der Demokratie Widerstand liegt i n der Basis jeder Demokratie, historisch wie vor allem auch dogmatisch. Nur einige Bemerkungen dazu: 18*
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X I I . Die Negativ-Ideologie der Demokratie
— I m Namen der Freiheit war und ist Widerstand stets erlaubt, mehr noch: stets nötig. Wenn Freiheit wahrhaft Staatsgrundlage sein soll, tiefer und stärker i m Grunde als alle Macht, die durch sie doch nur legitimiert wird, so muß der Widerstand gegen Gewalt noch vor jeder Macht kommen. „Freiheit als Staatsgrundlage" — das hat überhaupt nur dann Sinn, wenn der Widerstand das Höchste ist und bleibt. — Der demokratische Mechanismus besteht, bei näherer Betrachtung, überall aus Formen des Widerstandes gegen politische Gewalt, aus i h m heraus rechtfertigen sich die Institutionen des Staates — die demokratische Wahl, der Anfang aller Volksherrschaft, zeigt es, ist sie doch, i m Grunde und zuallererst, ein Abwählen, ein Machtwechsel i n Formen kanalisierter Résistance. — Anerkennung einer Gesellschaft, ihre Einbindung i n den demokratischen Prozeß über Parteien, Autonomien, gesellschaftliche Kräfte, konstituiert all diese Instanzen als Zentren organisierten, zumindest potentiellen Widerstandes gegen die Staatsgewalt. Gerade weil sie, nach demokratischem Credo, nicht eigene positive Mächtigkeit entfalten sollen, sich hier vielmehr stets dem Gewaltmonopol des Staates zu beugen haben — gerade deshalb liegt ihre eigentliche demokratische Legitimation i n der Gewaltabschwächung, i n der Gewaltblockade, i m Widerstand, jedenfalls aber i n der Verlangsamung der Staatsmacht. Eben wer das Machtmonopol des Staates i n der Demokratie unterstreicht, kann die gesellschaftlichen Gewalten nur legitimieren, wenn er i n ihnen echte Widerstandszentren erkennt. — Das Wesentliche i n der Volksherrschaft ist nun, daß all dies nicht einmalig-zufällig bleibt, daß es vielmehr zum institutionalisierten Widerstand auf Dauer wird. Darin finden all diese Formen ihre Verbindung zur Höhe der Negativ-Ideologie, daß sie Ausdruck eines „Gegenstaates i m Staat" sind. Demokratie — das bedeutet also eine Bündelung von Formen der permanenten, organisierten Widerstandsmöglichkeit gegen die Staatsgewalt, letztlich gegen alle Formen der Macht. Blickt man nur durch die Brille des Begriffs des Widerstandes, so lösen sich die meisten, die typischen demokratischen Organisationsformen auf i n Erscheinungen beginnender Anarchie. b) „Grundrechte
auf Widerstand"
Die Demokratie begnügt sich nicht mit der Organisation anarchischer Kräfte, sie hebt den anarchischen Widerstand i n ihre höchsten normativen Herrschaftsformen, sie verfestigt ihn i n den Grundrechten. Von
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der Anarchieneigung aller Grundrechtlichkeit war bereits die Rede, hier zeigt sie sich i n besonderer Deutlichkeit unter dem Aspekt der Résistance: — Meinungsfreiheit ist i m letzten nichts anderes, w i r d sie nur ernst genommen, als ein Recht zum geistigen Widerstand gegen alles i n Staat und Gesellschaft, auch gegen ihre höchsten Werte. So ist es denn nur konsequent, wenn das Bundesverfassungsgericht auch der „staatsfeindlichen" Äußerung den Schutz dieses höchstrangigen Grundrechts der Volksherrschaft gewährt. Damit erweist es, i n gutem demokratischen Gespür, der Anarchie eine Reverenz, der Widerstandsgrundlage der Staatsgewalt. Denn dieses Recht auf die „andere Meinung" ist ja nicht nur dem gegeben, welcher Herrschaftsalternativen aufzeigen w i l l zur heutigen Macht; der Bürger hat das Recht auf Machtfeindschaft schlechthin, und i m Grunde kann heute, angesichts der starken technischen Verfestigung der Staatsgewalt, wahre politische Alternative stets nur mit der Schubkraft weiterreichender und absoluter Herrschaftsablehnung Erfolg haben. Daß schließlich diese Anarchie nur „auf das geistige Wirken" beschränkt sein soll, das mag den Anarchismus praktisch behindern, geistig stärkt es ihn und ist i n höherem Sinne systemkonform i n der Demokratie, und hier irren vielleicht auch Verfassungsrichter: Zum demokratischen Credo gehört es nicht, daß sich politische Gedanken totlaufen, sondern viel eher, daß sie eben eines Tages doch stärker werden als ihre institutionellen Behinderungen. Wo bliebe denn sonst auch die Herrschaft des Geistes . . . — Wissenschaftsfreiheit gewährt der Volksstaat, und der viel k r i t i sierte „Maulkorb der Verfassungstreue" (Art. 5 Abs. I I I GG) kann daran nichts ändern, ist er doch nichts als eine unintelligente Verkennung des Wesens aller Wissenschaft: Solange sie sich selbst treu bleibt, w i r d sie als solche nicht zur A k t i o n übergehen, der entwürdigenden Begrenzung hätte es also nicht bedurft. Doch gerade i n dem Versuch, Lehre und Forschung von ihrer politischen Wirkung zu trennen, liegt eine erstaunliche und i m letzten wahrhaft ungeistige Illusion: Als ob man geistige Reflexion i n sterile Studierstuben bannen könnte, als ob der wahre Wissenschaftler nicht bereit sein müßte, für „seine Wahrheiten zu sterben"! Wissenschaft ist Widerstand gegen das vermeintlich oder w i r k l i c h Unwahre. M i t der Anerkennung der Wissenschaftsfreiheit als Grundrecht hat die Demokratie den geistigen Widerstand dogmatisiert, ohne daß es dieser Staatsform oder irgendeiner anderen möglich sein könnte, „Wissenschaft" überzeugend zu definieren. Frühere, viel kritisierte Staatsordnungen wußten vielleicht besser, was Wissenschaft wirklich be-
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deutet, welches Widerstandsrisiko sie der Politik aufbürdet — deshalb versagten sie Galilei die Freiheit. — Kriegsdienstverweigerung mit grundrechtlichem Rang bedeutet Anerkennung des Widerstands gegen die Staatsgewalt dort, wo diese potentiell i n der elementarsten Weise bedroht ist — i n ihrer Existenz. I n Spätzeiten hat es sie, so oder so, immer gegeben, ihre konsequenten Endformen sind Söldnerheere, bis h i n zu Germanenlegionen oder Türkendivisionen. Die Aufnahme dieses Rechtes i n das Grundgesetz ist nicht bedenkliche oder gar antidemokratische Konzession, sondern nur konsequent institutionalisierter Widerstand. Hier w i r d übrigens auch die herrschaftsbegründende Gleichheit i n sich, i n ihrem Zentrum gebrochen: Ungleichheit besteht i m wichtigsten, nur der eine muß „berufsmäßig" sein Leben einsetzen. Wer hier glaubt, pragmatisch manipulieren zu können, Kriegsdienstverweigerung je nach Militärbedarf weiter auszudehnen oder einzuschränken, hat nichts begriffen von den Widerstandsgrundlagen der Demokratie. Wenn irgendwo i n diesem Staat Grundsätzliches ist, dann dort. Und übrigens sollte man doch i m Gleichheitsstaat einmal über ein Grundrecht nachdenken, das man nur i n der Hoffnung gewährt, daß nicht jeder von i h m Gebrauch machen w i r d . . . — Vom Streik als Form der Anarchie w i r d noch die Rede sein. Hier sei nur sein Widerstandscharakter betont: Widerstand, ja Aufstand ist der Streik i n seinem innersten Wesen, und zwar mit jener Besonderheit, daß er eben nicht voll gezielt ist, nicht zur langweiligen Pflichtübung werden darf, daß er vielmehr überall dort, wo er seine elementare Urgewalt entfaltet, überschießende Tendenz zeigt und „ i n alle Richtungen" zu wirken bereit ist. Gerade dies aber sind alles Erscheinungsformen echter, wenn auch heute noch kanalisierter Anarchie. Und gerade deshalb kann der Streik i n der Demokratie letztlich auch nur durch ein Grundrecht gewährt werden, auf der höchsten Ebene des Staatsgrundsätzlichen. — Widerstandsbegünstigung ist ein nobile officium der Demokratie, eine Späterscheinung vielleicht, nicht ein Entartungsphänomen. Grundrechtlich geschützte Demonstrationsfreiheit, Privilegierung von Streikposten bei großen Arbeitskämpfen, Abschwächung des Staatsschutzes, Rechte auf Hausbesetzungen i m Namen eines „Rechtes auf Wohnung" — dies alles muß i n konsequenter Demokratizität nicht nur möglichst weitgehend zulässig sein, es ist einzubeziehen i n grundrechtliche Legitimation. Hier ist ja überall Widerstand gegen die Mächtigen des Staates oder die Herren der Gesellschaft, denen jene ihre bewaffnete Hand leihen. Folgerichtig ist es auch, nicht etwa danach zu fragen, ob die Mächtigen demokratisch legitimiert
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sind — Widerstand an sich ist ein Wert, ihn gilt es zu stärken, und letztlich ist ja eben die „Anarchie" mehr und höher als die „Arche", auch i n der Demokratie. — Konsequent ist schließlich die Widerstandsbegünstigung durch den Staat gegen die Mächte der Gesellschaft i n all ihren Formen, und dies immer wieder i m Rückgriff auf Grundrechte: Da w i r d der Widerstand der Kinder gegen die Eltern i m Namen der Kindesrechte gestärkt, der Schüler gegen die Autorität der Schulen. Da w i r d vor allem der gesellschaftliche Widerstand gegen jene Formen der Bindung und damit Machtausübung unterstützt, welche das „bürgerliche" Vertragsrecht geschaffen hat — Arbeitnehmer gegen Arbeitgeber, Mieter gegen Vermieter usw. usf. Immer stärker, immer systematischer werden alle diese kleineren und größeren Aufstände, die noch einer eingehenden Analyse i m einzelnen wert wären. Hier sei nur eines vermerkt: daß es sich i n all dem nicht u m vereinzelte, zusammenhanglose Erscheinungsformen einer Staats- oder Gesellschaftsverdrossenheit handelt, daß es auch nicht immer nur darum geht, irgendwelchen Mißständen punktuell durch Druckverminderung zu begegnen. Dies alles möchte Ausdruck der Staatskunst, oder wenigstens der Staatstaktik sein. I n der Demokratie reicht es weit tiefer: Hier ist am Widerstand „immer etwas Berechtigtes", wenn er einigermaßen massiv auftritt, dies aber kann nur sein, weil er an sich gut ist. Soweit allerdings muß er erstarkt sein, daß er anarchische Intensität erreicht, andernfalls handelt nur ein Parksünder, den es hart zu bestrafen gilt. A l l dies wäre nichts als Herrschaftsfeigheit und würde nur Monate überleben können, stünde dahinter nicht immer die geistige Kraft der Anarchiebejahung, welche die Staatsform trägt. Und daher sind einzelne Grundrechte noch zu wenig, es muß ein grundrechtliches Recht auf Widerstand geben. c) Das Recht auf Widerstand
— Grundrecht auf Anarchie
Das Recht auf Widerstand, welches spät erst i n das Grundgesetz eingefügt wurde, ist keine demokratische Entgleisung, sondern ein bewußter Schritt i n die anarchisierende Spätdemokratie. Es mag der späten Volksherrschaft eigentümlich sein, zu sagen ohne zu wagen, nicht w i r k l i c h das Gewährte zu meinen; und i n der Erkenntnis ihrer eigenen Grundlagen ist sie noch immer mehr k l u g gewesen als mutig. So hat sie denn auch hier das Grundrecht des Bürgers auf Widerstand mit vielen .Kautelen umgeben — daß demokratisch-rechtsstaat-
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liehe Abhilfe nicht, schon gar nicht erreichbar sein dürfe. Wollte man dies aber ernst nehmen, so könnte man das Recht getrost aus der Verfassung streichen, nie würden seine Voraussetzungen eintreten, und wäre es der Fall, so könnte dies nie mehr festgestellt werden. Wenn also hier auch nur einigermaßen ein Grundrecht so interpretiert werden soll, wie es die Grundrechtsdogmatik allgemein verlangt — auf Wirksamkeit nämlich — so muß dies bedeuten: I m letzten ist die Herrschaft dem Bürger ausgeliefert, i n seiner rechtlichen Kompetenz liegt es, ob er sie annimmt, annehmen muß oder nicht. Der Sinn des Grundrechts auf Widerstand kann nur der einer großen Anarchieklausel sein. Dies ist an sich natürlich das genaue Gegenteil dessen, was der Verfassunggeber gewünscht hat: Er wollte eine nahezu unwiderlegliche Vermutung für die Rechtmäßigkeit der Machtausübung schaffen, doch gerade damit hat er sie geistig entscheidend unterminiert: Nunmehr muß sich dieser demokratische Staat i m letzten dem Bürger gegenüber begründen und beweisen, das Legalitätsdogma, nach dem Eingriffe i n Freiheit und Eigentum nur auf spezieller, nachzuweisender Grundlage möglich sind, w i r d bis i n die Staatsgrundlagen hineingetragen, i n die Staatsberechtigung als solche — auch diese muß immer am Ende „bewiesen" werden. Damit aber kommt es gerade zur Umkehr jener letzten Vermutung: I m Zweifel ist eben die Staatsgewalt keine rechtmäßige, i n jenem äußersten Zweifel, i n dem der Bürger aufstehen darf und über dessen Vorliegen er ja auch selbst entscheidet. Was soll übrigens auch „Vermutung", wenn es u m Legitimation der Macht geht? Wer sich beweisen muß, hat keine Vermutung hinter sich. So ist also das geschriebene Recht auf Widerstand auch juristisch weit mehr als es scheint: Es ist eine ganz grundsätzliche Beweislastregelung gegen die Macht — und dies, obwohl es gemeinhin als das Gegenteil verstanden wird, als eine probatio diabolica, die dem Bürger auferlegt wird: daß der Staat nicht legitim zur Stelle sei. So verstanden würde dieses Recht ein Nichts sein. Ein Sinn liegt i n der stillschweigenden Beweislastumkehr gegen den Staat, i m Namen des grundsätzlichen Rechts auf Anarchie. Das Recht auf Widerstand ist noch mehr: Es bedeutet die Legalitätsbrücke zur nächsten Staatsform. Wer erfolgreich Widerstand gegen die Demokratie geleistet hat, kann sich i n der nachfolgenden Staatsform darauf berufen, daß dies i m Namen der vorhergehenden geschehen sei, so daß die Legalität eigentlich nie juristisch unterbrochen worden ist. Nachdem aber i m Falle eines Erfolges des Widerstandes niemand aus dem alten Staat die Macht haben kann, die Unzulässigkeit dieser Résistance festzustellen, gibt es, i m Namen der Widerstandsklausel, überhaupt keine gelungene Staatsumwälzung mehr, keine Revolution;
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der neue Staat, wie gewaltsam immer er entstanden sein mag, setzt stets den bisherigen fort. Und so ist denn, ein Paradox, die heutige Demokratie die juristische Mutter all ihrer Nachfolgerinnen, mögen diese sie auch wie immer, de facto, erschlagen. Noch eine weitere rechtliche Konsequenz des geschriebenen Widerstandsrechts sollte nicht vergessen werden: Alle Staatsorgane haben nun stets das Recht und vor allem die Pflicht, den Widerstandsfall zu prüfen, sich irgendwie doch ständig mit i h m juristisch auseinanderzusetzen. Damit aber w i r k t das grundrechtlich verbürgte Widerstandsrecht i n schwer abschätzbaren Vorwirkungen weit über den Ernstfall hinaus, die ganze Staatsgewalt hat sich i n jedem Augenblick als eine bedingte, bestreitbare zu verstehen. Nicht nur, daß sie sich beweisen muß, sie w i r d durch dieses Widerstandsrecht laufend abgeschwächt, verunsichert, und wie dies geschieht, auch ohne eindeutiges Widerstandsbewußtsein der Staatsorgane, zeigt deren Praxis fast täglich. Die Widerstandsklausel ist eben der juristische Beweis dafür, daß Anarchie mehr bedeutet als Macht, vor ihr da war und auch heute noch i m letzten über ihr steht. So ist denn die Widerstandsklausel der offene Einbruch der Anarchie i n die Verfassungsordnung. Es mag dahinstehen, ob sich allzu viel änderte, müßte dieses Recht nur als ein ungeschriebenes und damit vielleicht noch höheres verstanden werden. Denn dem Selbstverständnis der Demokratie kann nur diese Selbstabschwächung entsprechen, die allerdings dann besonders deutlich und darin auch sehr weit fortgeschritten ist, wenn sie sich i m geschriebenen Spitzenrecht der Verfassung niederschlägt. M i t der Dogmatik des „letzten Wortes", der Instanz, „die über den Ausnahmezustand entscheidet", läßt sich diese Rechtsfigur kaum mehr bewältigen — konsequent wäre nach ihr nur: Hier dem Bürger diesen höchsten Ausdruck der Souveränität zurückzugeben, damit aber eines anzuerkennen, i m Sinne von Carl Schmitt — die Souveränität der Anarchie. Wobei dann übrigens noch offenbleibt, wie dieser „höchstrangige Verfassungswiderstand", der ja nach dem Grundgesetz ein unabänderlicher Rechtsgrundsatz ist, mit den anderen ebenso unabänderlichen Verfassungsgrundsätzen zu harmonisieren ist — wenn etwa der Bürger i m Namen des Widerstands sich erhöbe gegen den Rechtsstaat oder die sozialstaatliche Ordnung. Nach alledem sollte man die anarchische Kraftquelle, welche i m ausdrücklich gewährten Recht auf Widerstand liegt, nicht unterschätzen: I m letzten Zweifelsfall entscheidet der Bürger, nicht jene Staatsgewalt,
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die sich doch i n der Regel dadurch legitimiert, ja damit definiert wird, daß sie Zweifelsfälle entscheidet; Demokratie denkt über ihr Ende hinaus, sie läßt sich durch Instanzen beurteilen, die jenseits ihrer Herrschaft stehen, die also nur aus der Anarchie heraus zu legitimieren sind, sie unterwirft sich der Beurteilung durch die Anarchie; schließlich liefert sie sich i n all dem nicht nur dem einzelnen Bürger aus, seiner individuellen und damit politisch kraftlosen Überzeugung. Stillschweigend akzeptiert sie die Formen der weit wirksameren Kollektivanarchie, der Zusammenrottung beliebiger Massen, mehr noch: den Aufstand bereits bestehender, i n der Demokratie organisierter Gruppen, etwa der Gewerkschaften, gegen sich selbst. Sie stellt dem Bürger alle ihre Organisationsformen, bis h i n zu staatlichen Teilgewalten, etwa denen der Länder, zur Verfügung, u m Widerstand gegen die höhere Zentralgewalt zu ermöglichen. Der Bürger ist nicht i n die aussichtslose individuelle Vereinzelung des anarchistischen Attentäters geworfen; schon der gewerkschaftliche Zusammenhang der Einführung der Widerstandsklausel zeigt, daß dieser demokratische Staat die Reservegewalt, den Reservewiderstand seiner mächtigsten Gruppen von vorneherein i m Grundsatz billigt. Das Wort von der gewerkschaftlichen Reservegewalt ist keine Usurpation von Funktionären, sondern ein konsequentes Fortdenken desorganisierter Staatlichkeit. Wie man nach all dem sagen kann, die Widerstandsklausel sei inhaltslos, ist schwer verständlich. Für Amtsgericht und Landratsamt, für die tagtägliche Jurisprudenz mag dies zutreffen. Wer diese Demokratie dagegen grundsätzlich betrachtet, der sieht, daß hier die schwarzen Fahnen der Anarchie aufgezogen werden, hinter den Farben der Republik. d) Widerstand als Anarchieform Daß Widerstand als solcher stets i n der Nähe der Anarchie anzusiedeln ist, wurde schon in der vorstehenden Betrachtung der institutionalisierten Widerstandsformen der Demokratie klar. Doch daß diese Erscheinungsformen des Widerstands i m letzten nichts anderes sind als Ausbrüche der Anarchie, das zeigt sich bei näherer Betrachtung dessen, was sie recht eigentlich als Résistance konstituiert: — Dem Widerstand, der diesen Namen verdient, ist es eigen, daß er sich nicht punktuell gegen eine Ordnungserscheinung, sondern generell gegen die Ordnung schlechthin wendet. Dies ist jene überschießende Tendenz, welche über den isolierten Anlaß stets und grundsätzlich hinausreicht. Eine Haus- oder Fabrikbesetzung wäre kein staatspolitisch bedeutsames Phänomen, beschränkte sie sich wirklich nur auf ein Haus, auf einen einzelnen Betrieb. Sie nimmt
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sie nur zum Anlaß, w i l l an ihrem Beispiel auf größere Mißbräuche, auf Systemschäden aufmerksam machen. Nicht nur deshalb aber, von seinem Ziele her, gleitet der Widerstand gegen die Staatsgewalt nahezu notwendig, wenn auch oft ungewollt, zum allgemeinen Ordnungswiderstand ab. Das Ausufern i n allgemeinere ordnungsfeindliche Anarchie ist schon deshalb meist sein Schicksal, weil gegen ihn, auch bei kleinen Anlässen, stets die gesamte Staatsmacht eingesetzt wird, v i r t u e l l jedenfalls; denn hinter jedem Polizisten steht die schier unerschöpfliche Totalmacht der Staatlichkeit bereit, der Widerstand zielt daher notwendig über ihn hinaus auf das Ganze der Macht. Häufig mögen sich eigentliche Widerstandsphänomene i n der Résistance gegen eine Erscheinung der Ordnung zeigen, welche besonders wichtig ist, etwa Verkehr oder Landesverteidigung; eindeutiger aber drückt sich die Widerstandsbereitschaft doch darin aus, daß sie, grundsätzlich jedenfalls, „ohne Rücksicht auf Verluste" erfolgt, wie dies ja i m Grunde jedem größeren Streik eigen sein muß: Wer Herrschaftsgewalten von grundsätzlich unbeschränkter Mächtigkeit herausfordert, darf nicht sogleich auf die möglichen Verluste sehen. Was also den Ordnungshütern als eine bedauerliche Entartung erscheint, ist i m Grunde das innere Gesetz des Widerstandes: die Lawine zum Größeren. Diese Degeneration aber ist nichts als der Zug ins Unendliche der Anarchie. — Widerstand macht keinen Unterschied zwischen der vom Staat geschaffenen und einer von i h m nur „zugelassenen" Ordnung. Er greift ebenso unmittelbar die bewaffnete Macht der Staatlichkeit an wie die „sozialen Gewalten", die sich auf das „System von Privatvertrag und Privateigentum" stützen, welches die Staatlichkeit nur schützt, nicht schafft. Arbeitskämpfe und Hausbesetzungen zeigen es ebenso, wie Demonstrationen gegen „private W i l l k ü r " . Widerstand ist damit wesentlich „drittgerichtet", er wendet sich gegen alle Formen staatlicher und gesellschaftlicher Macht, ignoriert eigentlich deren Unterschiede — eben darin ist er wahrer Ausdruck der A n archie, kann doch auch diese keinen Unterschied zwischen staatsgeschaffener und vom Staate zugelassener Ordnung anerkennen. — Widerstand wendet sich nicht nur gegen die Ordnung als solche, er negiert sie i m Grunde stets total, i n dem Augenblick jedenfalls, i n welchem er wahrhaft Résistance ist. Widerstand unter Vorbehalt gibt es nicht, Grenzen können i h m nicht gesetzt sein, denn er ist i m letzten — Krieg, der bis zur Niederwerfung, bis zur debellatio der Gegenordnung geführt wird. Für dieses absolute Njet gibt es keine Begrenzung der Mittel, und daher werden i m Grunde stets die rechtlichen Versuche der Eingrenzung von Demonstrationen auf „friedliche Formen" Papier bleiben — entweder es bedarf ihrer
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nicht, weil noch kein Widerstand geleistet wird, oder sie müssen ignoriert werden, aus seinen inneren Gesetzen heraus. Diese Unbegrenztheit der Mittel aber ist ein Wesenszug aller Anarchie. Daher kann es hier auch keinerlei Güterabwägung mehr geben, der Widerstand steht immer unter dem obersten Gesetz der Unverhältnismäßigkeit der Mittel — i n scharfem, unauflöslichen Gegensatz zu aller demokratischen Ordnung, welcher die Verhältnismäßigkeit der Mittel wirklich oberstes Gesetz sein muß. M i t diesem Ende der Güterabwägung t r i t t der Widerstand heraus nicht so sehr aus aller Ordnung, als vielmehr gerade aus der demokratischen Ordnung, welche diese Abwägung aufs höchste gesteigert und verfeinert hat, seit den Anfängen des Liberalismus. Güterabwägung ist der Gegenpol zu jedem Widerstand, i n ihr w i r d sein eisernes Rückgrat, seine Unbedingtheit gebrochen. Das Ende der Güterabwägung i m Widerstand aber gehört zum Wesen des Anarchischen, zu seiner hochfliegenden Unendlichkeit, die das Gegeneinander kleiner Erdengüter hinter sich läßt. Widerstand ist jedem gegeben, als einzelnem, als isoliertem Bürger i n erster Linie. Die Demokratie erlaubt ihn sogar, dies wurde schon bemerkt, als Kollektivrecht, sie öffnet hier den Weg zu vernichtender Wirksamkeit. Doch i m Grunde, seinem Wesen nach und in seiner innersten Legitimation, ist und bleibt der Widerstand ein Individualrecht, das Kollektive ist i h m eine sekundäre Erscheinungsform, seine Kraft kommt daraus, daß jeder einzelne bereit ist, allein dem Exekutionskommando i n die Augen zu sehen. So kann denn auch das geschriebene Widerstandsrecht der Verfassung nie ein originäres Verbands-, etwa ein Gewerkschaftsrecht sein, und zutreffend ist es daher auch bei den obersten Staatsgrundsätzen verbürgt worden, nicht i m Rahmen der Koalitionsfreiheit. Hier gerade aber zeigen sich die anarchischen Wurzeln des Widerstands, kann doch die absolute Herrschaftslosigkeit stets nur den Einzelnen kennen, das Kollektiv immer nur als einen Weg zu ihm, heraus aus seiner letzten Isolation. Der Widerstand hat kein positives Programm, keinesfalls gehört es zu seinem Wesen, daß er für Ordnungsalternativen kämpft. So wie die Ordnung, gegen die er sich wendet, aus ihrem Selbstverständnis heraus alternativlos sein w i l l , so kann sie wirksam i m letzten auch nur durch alternativlosen Widerstand bekämpft und beseitigt werden. M i t Recht verlangt daher die Verfassung vom Widerstandskämpfer kein restauratives Programm, seine Résistance ist nicht nur legitim dann, wenn sie die alte Rechtstaatlichkeit wieder befestigen w i l l . Dieser alternativfreie Widerstand aber ist nichts als eine Erscheinungsform der Anarchie, die nie Alternativen auch nur
2. Widerstand als Anarchie
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ins Auge zu fassen vermag. Und wirkmächtig ist, die Historie hat es stets gezeigt, der Widerstand i n seinem Nein, schwächlich bis zur Wirkungslosigkeit i n seinen späteren Aufbauversuchen, man blicke nur auf die geistigen und politischen Rekonstruktionen aus den Widerstandsbewegungen des Zweiten Weltkriegs heraus. Schon dies begründet erste und schwere Zweifel daran, ob sich auf einer Widerstandsideologie überhaupt ein Staat errichten läßt. Das italienische Beispiel der zweiten Nachkriegszeit scheint nur eines zu zeigen: daß aus Widerstand heraus nichts gebaut, daß nur das Geschaffene nachträglich durch Widerstandsideologie demontiert werden kann. Dies alles aber ist nicht Schwäche des Widerstands, sondern seine Stärke, weil eben — Anarchie. e) Institutionalisierter
Widerstand
— Anarchie als Herrschaft?
I m Widerstand kann sich Anarchie „organisieren" ; i n seiner Möglichkeit schon w i r d sie zu einer dauernd bedrohlichen Reservegewalt. Aus dem Widerstand heraus wächst immer wieder neue Ordnung, die sich wenigstens i n ihren Anfängen als von Anarchie und Résistance bedingt versteht. I m Widerstand w i r k t daher die Anarchie nicht nur als ein Produktionsprinzip neuer Ordnung, fast scheint es, als stelle sie selbst schon Ordnungen bereit, als könne es eben doch etwas geben wie eine „institutionalisierte Anarchie" i n reiner Form — und wie weit kann dann noch der Schritt sein zur Anarchie als Dauerinstitution? Sollte es dann aber wirklich unmöglich sein, einen Staat der Zukunft voll auf Anarchie zu bauen, kann die Widerstandsideologie nicht doch, entgegen all den eben geäußerten Zweifeln, geistige Grundlage einer funktionierenden Volksherrschaft sein? W i r glauben es nicht, denn hier würde das Produktionsprinzip m i t der hervorgebrachten Ordnung verwechselt: Anarchische Ausbrüche mögen die Lava herausschleudern, Häuser bauen sie aus ihr nicht, und wenn sie erkaltet ist, verliert das Anarchische seine Leuchtkraft, seine produktive Wirksamkeit. Dies bedeutet allerdings nicht, daß Anarchie nicht gewisser AnsatzInstitutionalisierungen auf Zeit fähig ist, die sich sogar zu embryonalen Ordnungen vorübergehend verfestigen mögen. Derartiges zeigt gerade der Widerstand als Anarchiephänomen, und es gilt, sie zu analysieren, damit der Unterschied zur eigentlichen, zur unbedingten, zur dauernden Ordnung klarer ins Blickfeld trete. Zwei Phänomene verdienen hier vor allem unsere Aufmerksamkeit: — Widerstand bedeutet nicht Ablehnung des Befehls, sondern Ablehnung der Ordnung. Der Unterschied zwischen beidem t r i t t gerade hier deutlich hervor: Résistance wendet sich gegen den „höchsten
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Befehl", gegen die systematische, allgegenwärtige Anordnung, nicht gegen die engere, punktuelle Weisung auf der niederen Ebene. Aufstand ist j a gar nicht möglich, ohne daß derartige punktuelle neue Befehlsstrukturen aus dem Nichts geschaffen oder, bereits bestehend, auf kurze Zeit verabsolutiert werden; der Militäraufstand zeigt es deutlich: Verweigert w i r d der höhere Befehl, i m Namen der kleinen Befehle nachgeordneter, putschender Offiziere und Unteroffiziere; und so ist der Obrist stets eine Aufstandsfigur gewesen. „Oben" ist der Unrechtsstaat — unten der brave Mann, dem i m Namen der Freiheit gehorcht wird, der Truppenoffizier, der „kleine Gefreite" des Hitlerbildes, der aufsteht gegen die mächtige Republik. Dies ist sogar der typisch anarchische Befehlsprozeß des Widerstandes, wenn man so sagen kann: Absterben der höheren Ordnung, während der kleinere Befehl bleibt und sich nur noch verstärkt. Es geht etwas vor sich wie ein Absinken i n die Anarchie auf der schiefen Ebene der Befehle, etwas wie ein Ende der Ordnung i n Anordnungen. Widerstand ist sogar, seinem ganzen Wesen nach, sehr oft harter Befehl, und dieser kann u m so schärfer durchgreifen, als all dies geschieht ad maiorem Anarchiae gloriam; der Einzelne gehorcht, weil er weiß, er t r i t t gerade dadurch aus der höheren Ordnung. Doch damit trägt dieses Befehlsnetz des Widerstands auch die ganze Bedingtheit, all das Prekäre der Anarchie schon i n sich: Es ist von Anfang an zum Zerreißen gespannt und es muß sich lösen, wenn es nicht i n neuer Ordnung aufgefangen w i r d — durch einen Napoleon. I h m gibt es dann sogar noch etwas von der absoluten Härte und Tragfähigkeit der anarchischen Befehlsgewalt weiter. — Die zweite Erscheinungsform, die andere Seite der Medaille eigentlich nur, die uns hier beschäftigen soll, ist der Augenblick des „siegreichen Widerstands", in der es wieder zu einer Fata Morgana von Ordnung kommt. Jakobiner-, Bolschewistenherrschaften haben gezeigt, daß sich hier i m Namen des großen Erfolges Formen „reiner Ordnung" auf kurze Zeit entfalten, sich aus sich selbst heraus legitimieren können, i n reiner Kraft herrschen, darin an sich das Gegenbild aller A n archie. Denn nun nehmen die siegreichen Haufen auf nichts und niemanden Rücksicht, sie regieren mit der brutalsten aller Gewalten, i m Namen der „neuen Gewaltlosigkeit". Dem Bürger werden nur Bajonette als Sitz angeboten, einer Verbindung zu einer wie immer verstandenen Basis bedarf es nicht, die ohnehin sogleich i n ängstliches Schweigen zurückfällt. Diese anarchische Herrschaft des siegreichen Widerstandes w i r d zum Besatzungsregime, zu einer Form des Zusammenlebens i n Gewalt,
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die sich meist wieder ins Nichts auflösen muß, aus der nur sehr selten, und auch dann nur indirekt, neue Formen wirklicher ziviler Ordnung entstehen können. Denn dieser siegreiche Widerstand muß ja letztlich genau das wieder, i n anderer Form, errichten, was er erfolgreich bekämpfen konnte: den Unrechtsstaat, von dem nichts mehr als „ordnend" angenommen wird. So verhält sich auch heute stets erfolgreiche Résistance, weil sie i m Namen ihres Sieges nicht mehr der Annahme einer Ordnung bedarf, die sie ja i m Grunde auch gar nicht bringen w i l l , ist und bleibt sie doch nichts anderes als Anarchie. Was also stattgefunden hat, ist der Kreislauf, i n dem nurmehr Kräfte der Anarchie wirksam sind: Eine Ordnung, die keine mehr sein konnte, w i r d durch eine neue beseitigt, die keine sein w i l l ; eine Anarchieform w i r d durch die andere eingeholt, überholt. W i r sehen vor uns Kreisläufe der Ordnungslosigkeit, das typische „Funktionieren der Anarchie" — denn etwas Derartiges gibt es eben zuzeiten. Nur daß daran nichts, aber auch gar nichts ist, was Ordnung inspirieren, legitimieren, ideologisch halten und untermauern könnte. Dies aber war es, worum es auf diesen Seiten ging: daß Widerstand eben doch nichts anderes ist als eine reine Negativ-Ideologie, ein anarchischer Einbruch, auf den sich Staatlichkeit nicht bauen läßt, mag hier auch zuzeiten befohlen und sogar geherrscht werden. Doch gerade dies versucht immer wieder die freiheitliche Demokratie, und gerade heute; sie, die sich doch so tief i n ihrer „Basis" verankern w i l l , lobt und verherrlicht jenen Widerstand, der nach seinem Sieg zu reiner Besatzung wird, der schon i n seinem Kampf nur sehr teilweise der Basis bedarf, nach seinem Sieg überhaupt nicht mehr. Und darin liegt vielleicht das Schicksal der freiheitlichen Volksherrschaft, daß sie sich nicht völlig trennen kann von ihren anarchischen Urgründen. Dies sei nochmals betont: Wenn sie den Widerstand glorifiziert, so ist dies nicht apotropäisch, es ist als Legitimation gedacht. 3. Exkurs: Die Glorifizierung des Widerstandes — ein demokratischer Mythos a) Widerstand
— eine demokratische Tradition
Widerstand gegen die bestehende Ordnung, i m Namen einer noch unbekannten oder nur in Umrissen erkennbaren neuen Form des Zusammenlebens, ist der Ausgangspunkt aller großen Demokratien der Neuzeit gewesen. Wie eine A r t von Staatsmythos liegt er am Anfang ihrer demokratischen Staatsgeschichte, von den Taten des Wilhelm Teil über die Leiden der französischen Monarchomachen bis zu den Pilger-
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vätern der amerikanischen Geschichte. Alle wahre Volksherrschaft kommt aus solchem siegreichen Aufstand heraus, mag auch später, wie i n Holland und der Schweiz, i n bürgerlicher Notablierung, i n perfekter Ordnung, fast alles von der alten Anarchie sich wieder verloren haben. Daß der deutsche politische Geist i m letzten Grunde nicht demokratisch weht, das zeigen die gescheiterten Versuche demokratisch-anarchistischer Aufstände i n den Bauernkriegen, die i n diesem Lande gebrochen wurden, gerade i m Namen der geistig-religiösen Revolution der Lutherischen Reformation, i n welcher das anarchische Denken weit hinter neue Ordnungsvorstellungen zurücktrat. Ihre historischen Anarchien aber haben die anderen, die großen Demokratien stets verherrlicht, aus ihnen ziehen sie ihre Aeneiden, ihren Staatsmythos. Nichts anderes haben die französischen Republikaner i n der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts m i t ihrer Glorifizierung der Revolution bis h i n zur Terreur versucht, bis zu der Vorstellung eines Volkes, das sich i n permanentem Aufstand, jede Generation zumindest einmal, i n blutigem Widerstand zusammenrottet — 1830, 1848, 1870/71. Von diesen Barrikaden des Widerstandes kam der Demokratie ihre eigentliche, ihre anarchische Legitimation, und die Französische Revolutionsgeschichte zeigt sogar noch eine bemerkenswerte Variante, welche bis auf den heutigen Tag i m politischen Bewußtsein des Volkes weiterwirkt: Auch die „Rechte", auch die Konservativen hatten ihre heilige Stunde des Widerstandes, daher ihre — so paradox es scheinen mag — demokratische Legitimation: Der Volksaufstand i n der Vendée gegen die Revolutionsheere hat, i n der Betrachtung politischer Moral, entscheidend dazu beigetragen, daß der Konservativismus immer wieder hoffähig bleiben konnte, selbst i n der Demokratie. Und dieser Widerstand und Gegenwiderstand, i n dem sich die Große Revolution schon i n ihren Anfängen aufzureiben drohte, hat sie soviel von ihrer politischen Legitimation gekostet, daß sie, nicht zuletzt gerade deshalb, ihre bürgerkriegsähnliche Besatzungsgewalt schon bald i n die Hände des Kaisers legen mußte, der daraus neue, dauerhafte Ordnung entstehen ließ. Er aber entfesselte nun neuen Widerstand, i n Spanien, Italien und anderswo; und wo er sich, wie i n diesen Ländern, nicht alsbald i n Demokratie verwandeln konnte, da lief er zurück i n einen Anarchismus, der bis heute andauert. I n deutschen Landen aber hat der alsbald aristokratisierte Widerstand der Befreiungskriege nur zur verschütteten Demokratie geführt, eben weil er sogleich neue Ordnung schuf, sich von seinen anarchischen Wurzeln entfernte. Eine Konstante durchzieht diese viel verschlungene Historie: Demokratie aus Anarchie, Demokratie auf der Grundlage des Widerstands.
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b) Antideutscher — und deutscher — „ Widerstand" bis zum Zweiten Weltkrieg Die demokratische Widerstandstradition fand mit dem Sieg von 1870 bereits, und dann immer stärker, einen neuen Gegner: die Deutschen, das Volk der neuen „Ordnung", ja Hëgemonie; und hier erreichte der demokratische Widerstand eine höhere Dimension — die außenpolitische, sie sollte bis über den Zweiten Weltkrieg hinaus dominant bleiben. Nicht die „reinste aller Unordnungen", die des Bürgerkriegs, stand nun legitimierend i m Vordergrund, sondern die Bedrückung von außen; und wie die „Nation", das nach außen gewendete Volk, der exteriorierte Ausdruck der inneren, absoluten Volkssouveränität wird, so t r i t t die außenpolitische, die kriegerische Anarchie vor die revolutionär-innerstaatliche. Damit scheint sich der Widerstand doch i n etwa von seinen anarchischen Quellen entfernt zu haben. Zwar bekämpft er noch immer zugleich auch den „inneren Feind", vor allem die kapitulationsbereite eigene Regierung; doch der eigentliche Feind steht außen, an i h m kann sich der Widerstand organisieren, verfestigen, i n seiner Vertreibung und i n der Wiederherstellung der nationalen Souveränität ein positives Ziel gewinnen. Und damit w i r d dieser Widerstand auch viel allgemeiner annehmbar, er verliert das Odium des systematischen Bürgerkriegs, der endgültigen Herrschaftsverneinung. Ein Ordnungsinstrument scheint er von Anfang an zu sein, mit i h m kann sich die Volksherrschaft als eine Ordnung etablieren. Doch nun kommt das Entscheidende, viel zu wenig Bemerkte: daß nämlich dieser primär außenpolitisch gewendete „nationale" Widerstand dennoch i n sich alle Wesensmerkmale und Kräfte des Anarchischen weiterträgt, die er sodann schnell und wirksam auch wieder i n seiner ursprünglichen innenpolitischen Stoßrichtung einzusetzen vermag: Aus dem außenpolitischen Widerstand entsteht die innenpolitische Anarchiebereitschaft. Schon i m Kriege von 1870 hatte es die deutschen Greuel gegeben, gegen welche sich das Volk i n der Levée en masse erheben mußte, doch i n einer aristokratisch-bürgerlich beherrschten Welt konnten FrancTireurs noch nicht v o l l hoffähig werden. Immerhin erklomm das Volk wieder einmal Barrikaden i n der Commune, i n einer eigentümlichen Zielmischung von außenpolitischem Widerstand und innenpolitischer Kollaborateur-Bekämpfung, i n sozialem Anarchismus. Die i n Europa zunächst isolierte große französische Demokratie predigte die Volksrache für den Verlust von Elsaß-Lothringen, die Volks10 Leisner
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herrschaft w i r d zur Form der militärischen Organisation der Revanche, als solche vor allen Franzosen legitim. Schon i n der Kriegsgeschichte des Ersten Weltkriegs bescheinigen sich die Demokratien, i n die sich rasch auch die englische Aristokratie, wenigstens nach außen, einreiht, ihre moralische Vorzüglichkeit i m Widerstand gegen den deutschen Eindringling, der i n Belgien und anderswo mit allen Mitteln bekämpft werden darf, nicht nur, weil er Greuel begeht, zu Wasser und zu Lande, sondern weil die demokratische Staatsform moralisch höher steht als die der überlebten Aristokratie. Ganz allgemein w i r d die Demokratie zur Staatsform des Widerstands gegen die deutsche Unterdrückung, doch rasch entfaltet diese Résistance, selbst i n staatlichen Ordnungsformen, auch ihre anarchisierenden Wirkungen: Es beginnt die Anarchisierung des Kriegsrechts, die Auflösung der festen bisherigen Regeln von Kriegserklärung, Blockade und Bombardement, i m Namen des Widerstands u m jeden Preis. M i t dem Sieg von 1918 schlagen sich die Demokratien jedoch selbst schwere Wunden: Sie tragen die legitimierende Kraft des Widerstandes mit der demokratischen Staatsform i n das besiegte Deutschland. Es beginnt der „deutsche Widerstand" gegen Versailles und seine Folgen, wieder bis h i n zur Auflösungsbereitschaft jeder Ordnung, zur internationalen und zur nationalen Anarchie. Die historische Wertung macht es sich hier meist bisher zu leicht, wenn sie i m nationalistischen, später nationalsozialistischen Widerstand i n Deutschland nichts anderes sieht als Relikte der Vergangenheit. I n den Anstrengungen und Erfolgen des Nationalsozialismus ist mehr: Das Völkische ist i n Bewegung gesetzt, es gelingt, jene Massen anzusprechen, welche sich i n der neuen Demokratie emanzipieren konnten. I m Namen ihrer neuen Freiheit fallen sie sogleich wieder ab von dieser Staatsform, i m Namen einer noch neueren Demokratie — und gerade die Nationalsozialisten nennen sich ja Demokraten — wenden sie sich gegen die junge Staatsform. Weil diese die Folge der militärischen Niederlage tragen, das Diktat akzeptieren muß, die neue Ordnung Europas, stehen gegen sie Kräfte auf, die i n ihren Urgründen gerade nicht aus Law and Order, sondern aus Anarchie gespeist sind. So beginnt der Nationalsozialismus aus Utopismus und Anarchismus heraus, und ganz w i r d er beides nie ablegen. Aus der Anti-Versaillesbewegung w i r d die Anti-Regimecampagne, die revolutionäre Wendung der Bewegung gegen ausländische und „jüdische Besatzung". Alternativen zu dieser Ordnung werden nicht eigentlich angeboten, i n der Frühzeit der Partei ist diese Anarchie so
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nahe, daß sie immer wieder ihre Selbstauflösung erwägt. Doch auch die demokratische Verbindung reißt nicht ab: Die Nationalsozialisten erklären sich als die eigentlichen, als die besseren Demokraten. Keine K r i t i k des Nationalsozialismus dringt wohl tiefer ein als jene, welche auf die nahezu rein negative politische Programmatik hinweist, die uns schon aus dem Parteiprogramm entgegentritt. Anarcho-Demokratie i m Namen des äußeren und, i n seiner Folge, des inneren Widerstandes — das sind die eigentlichen Wurzeln dieser Bewegung. Deshalb auch sollte sie es so schwer haben, sich eine wirkliche, geschlossene Ideologie zu geben, weil sie, ganz anders als ihre kommunistische Gegenspielerin, nicht primär antrat mit der Vorstellung einer neuen Ordnung, sondern vor allem anderen mit dem innen- und außenpolitischen „Niemals" des absoluten Widerstandes. Übrigens wäre es wohl eines Tages einer vertieften Betrachtung wert — heute verbietet sie noch politische Leidenschaft — ob die deutsche negative Widerstands-Ideologie nach 1945 nicht i n verdeckten Bewußtseinsschichten dadurch begünstigt wurde, daß i n sie sogar ihre Gegenbewegung einfließen konnte, die alte nationalsozialistische W i derstandsbereitschaft. c) Der Widerstand
nach 1940
Nie ist von Widerstand wohl soviel gesprochen, nie ist er so begeistert glorifiziert worden, wie während des Zweiten Weltkrieges und i n den Jahren nach diesem. Es war das j a auch die Sternstunde der freiheitlichen Demokratien, ihr großer, bis heute ihr einziger historisch bedeutender Sieg. Daß er nicht durch Volksaufstände errungen wurde, sondern durch die entschlossene Reaktion starker oligarchieähnlicher Führungsschichten i n England und den Vereinigten Staaten einerseits, durch den erbitterten Widerstand des kommunistischen Totalitarismus andererseits, daß demokratisches Widerstandsdenken allenfalls die Motivierung der Bevölkerung erleichtert haben mag — dies alles t r i t t zurück hinter dem großen Sieg, der einer ebenso großen Legitimation bedarf: Für den freien Westen kann sie nur gefunden werden i n der erfolgreichen Résistance. Es ist allen nachträglichen Geschichtsmoralisierungen eigen, daß i n gescheiterten Attentaten und siegreichen Schlachten Gottesgerichte gesehen werden. So diente denn auch dieser große Widerstandsbegriff einerseits zur Legitimierung der eigenem Siege und all dessen, was zu ihrer Erreichung erforderlich war, zum anderen, und gerade für die geschlagenen Kontinentaleuropäer, i n erster Linie dazu, die eigene Niederlage i n Sieg zu verwandeln oder doch am Endsieg der Verbündeten teilzuhaben. Dies alles ist heute unproblematische Historie, und 19*
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der Résistance-Begriff hat für viele Europäer, vor allem für Franzosen und Italiener, schon darin seinen außenpolitischen Zweck voll erfüllen können. Nicht dies interessiert auf diesen Blättern, sondern ein anderes: Die modernen kontinentaleuropäischen Demokratien, und unter ihnen ja auch die Bundesrepublik, sind aus diesem Nährboden gewachsen, er hat ihnen die Negativ-Ideologie des Widerstandes mitgegeben. Auch heute w i r d ununterbrochen i n fast allen kontinentaleuropäischen Ländern dieser Widerstand beschworen, aus i h m leben geradezu die Volksherrschaften, nachdem sie nicht auf Siegen sich aufrichten konnten. U m ihre Stärke oder Schwäche zu erkennen, bedarf es der Analyse gerade dieser Widerstandsideologie u m den Zweiten Weltkrieg. Wie nahe steht sie der Anarchie, läßt sich auf ihr ein Staat errichten, kann eine funktionierende Demokratie aus ihr wirklich leben? Die erste Frage, nach dem Anarchiegehalt der Résistance, ist mit einiger Eindeutigkeit, und sie ist insgesamt positiv zu beantworten. Außerhalb von Deutschland sind es zwei politische Kräftegruppierungen, welche die Résistance vor allem tragen: Da ist zuerst der demokratisch-freiheitliche Widerstand, der aus dem national denkenden Bürgertum und aus der Aristokratie vor allem i n Frankreich kommt und mit seinen Aktionen einsetzt, noch bevor m i t dem deutsch-russischen Krieg der kommunistische Widerstand beginnt. Hier dominiert deutlich die Außenpolitik, der Kampf gegen die Invasion. Doch darin kommt auch schon ein antiherrschaftliches Element zum Tragen — der Widerstand gegen die hierarchischen Überordnungsvorstellungen des Faschismus, der i m eigenen Land neue Ordnungen errichten w i l l . Sodann aber setzt der große, der viel wirksamere kommunistische Widerstand ein. Er ist von Anfang an weit radikaler und er hat vor allem eindeutig anarchisierende Zielsetzungen: Dem „feindlichen Bruder", dem nationalen Sozialismus gilt sein Kampf bis zum letzten; doch nicht nur er soll geschlagen und vertrieben, nicht nur die deutsche Herrschaft soll beseitigt werden: Es gilt, bei dieser Gelegenheit die Macht der Bourgeoisie zu brechen, den neuen antikapitalistischen, kommunistischen Staat zu errichten. Hier nimmt man totale Ordnungszerstörung i n Kauf, Ordnungslosigkeit über längere Zeit hinaus, Bürgerkrieg. I m Geiste der leitenden Kommunisten mag das neue Staatsund Gesellschaftsbild schon klar sein, an der Widerstandsbasis, i n der eigentlichen Résistance war damals, das zeigen heute alle Untersuchungen, nichts als ein unbestimmtes Gefühl, daß es gelte, ein großes, seit langem lastendes Joch endlich abzuschütteln. Darin aber lag, bei aller paramilitärischer Organisation, viel wahre, tiefe Anarchie. Aus all dem lassen sich gewisse Entwicklungsgesetzlichkeiten des Widerstands ableiten: I n der Résistance herrscht der Radikalere, er
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bestimmt i m letzten sogar ihren Begriff, und so ist es fast überall den Kommunisten gelungen, sich die Glorie des Widerstandes zu appropriieren. Doch weiter zeigt die Geschichte der Résistance m i t Deutlichkeit: Den Widerstand beherrscht immer der, welcher der Anarchie am nächsten steht; hier waren es die kommunistischen Bewegungen, weil sie mehr und auf längere Dauer zerstören wollten als ihre bürgerlicharistokratischen Mitstreiter. Gerade die Résistance nach 1940 trägt daher deutliche Züge der Anarchie: — I m Grunde war sie rein negativ, vorzunehmen brauchte sie sich wenig oder nichts; selbst die kommunistische Alternative nach dem Sieg war nur eine Möglichkeit, kein klares Ziel für alle. Wenn man die politischen Ideen der Résistance, über die so viel geschrieben worden ist, vor allem i n Frankreich, auf das h i n untersucht, was sie der künftigen Politik haben mitgeben können, so ist es nur wenig, die Vorarbeiten zur Verfassung von 1946 zeigen es. Der eigentliche Grund dafür liegt auch nicht nur darin, daß es eben zunächst einmal galt zu siegen; es war i m Grunde weithin anarchisierender, bereits anarchisierter Widerstand, und wie sollte er Staatstheorie entwickeln? — Die Anarchie i n diesem Widerstand zeigt sich i n seiner überaus großen Bereitschaft zu jeder Gewalt, die immer und global durch die angebliche oder wirkliche Gewalt der Gegenseite legitimiert wurde, diese zum Teil auch wieder i n einem Spiralvorgang hervorbringend. Wenn die absolute Freiheit der Mittelwahl ein Wesensmerkmal aller Anarchie ist — hier war es erfüllt. — Anarchie w i r k t allseitig-ungeordnet — so war es fast überall i n der Résistance, i n der oft jeder jeden bekämpfte, i n welcher sich nur höchst rudimentäre „Ordnungen", punktuelle Befehlszustände erhalten konnten. — Zum Innersten der Anarchie gehört es, daß sie die Frage nach dem Recht nicht stellt — für die Résistance gab es nur das eigene. Selbst das „Volk", dem man i n unklarer Demokratiebegeisterung dienen wollte, verdämmert völlig i n den Vorstellungen der Widerstandskämpfer. Irgendwo w i r d i h m „Unrecht getan", das es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt; weit häufiger noch ist es einfach Ablehnung der Niederlage, die alles legitimiert. Bis auf den heutigen Tag führt kein juristischer Weg daran vorbei: Die meisten Formen der Résistance, und gerade ihre zuhöchst gepriesenen, waren rechtswidrig, nach allen damals irgendwo geltenden Völker- oder internrechtlichen Rechtsgrundsätzen. Der Widerstand hat
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längst begonnen, bevor es zu den großen Übergriffen der Besatzungsmacht kam; er fand auch dort statt, wo sie nicht nachzuweisen waren. Nicht durch sie wurde er damals i m Grunde legitimiert — weithin waren sie ja noch unbekannt — sondern einfach durch die Ablehnung einer Ordnung, welche sich für die besetzten Länder aus ihrer Niederlage ergeben hatte. Diese Ordnung aber war i n jahrhundertelanger völkerrechtlicher Entwicklung des Kriegs- und Besatzungsrechts legitimiert und sie konnte den zivilen Widerstand gegen uniformierte Truppen nicht rechtfertigen. Wenn dies dennoch geschah, so kam die Legitimation zunächst einmal nur aus den Urgründen der anarchischen Machtablehnung, des Kampfes gegen die Invasion. I n ihrem Namen nun, u m eines außenpolitischen Ideals der unabhängigen Nation willen, wandte man sich zugleich auch gegen die innere Kollaboration, am Ende gegen alle Formen der Ordnung, welche i n dieser Zeit überhaupt geschaffen worden waren. A m konsequentesten war die Reaktion de Gaulles nach seiner Rückkehr nach Frankreich: Alle Akte des „Usurpators" Pétain wurden ohne Ausnahme für n u l l und nichtig erklärt. So hat denn diese Résistance der Jahre nach 1940 zugleich ihre allgemeinste Verbreitung, ihre größte Anarchienähe und ihre bedeutendste Demokratie-Legitimationskraft gefunden. Und eine Randbemerkung sei noch erlaubt: Nicht umsonst wurde übrigens dieser Widerstand, vor allem i n Frankreich, insbesondere von Gruppen geleistet, die einigermaßen am Rande der früheren großund kleinbürgerlichen staatstragenden Schichten angesiedelt waren: von kommunistischen Proletariern auf der einen Seite, von aristokratischen Offizieren auf der anderen. Beide hatten sich eben einen wacheren Sinn für Widerstand bewahrt als das ordnungsmächtige, satte Bürgertum. Welch schweres Anarchieerbe Demokratien tragen müssen, die sich aus solchen Bewegungen legitimieren, die immer noch diese Résistance oder doch deren Geist zur Bewältigung ihrer inneren Probleme heute einsetzen wollen, das zeigen die Beispiele Frankreichs und Italiens — doch auch wieder die entscheidenden Unterschiede: Dort ist es gelungen, die Anarchie zurückzudrängen, weil der Erste Résistant zugleich die neue Ordnung schuf; hier aber führte das Widerstandsdenken alter italienischer Anarchietradition zu Parteifeudalismen, zum Ordnungsverlust, zum Rückzug des Staates.
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d) Der deutsche Widerstand I n der Bundesrepublik Deutschland w i r d seit ihrer Gründung ein Versuch der Staatsideologisierung des Widerstandes unternommen, der sich i n bemerkenswerter Weise von anderen demokratischen Widerstands-Glorifizierungen unterscheidet: Hier ist es der erfolglose Widerstand gegen Adolf Hitler, welcher der Gemeinschaft eine geistig-politische Konsensgrundlage geben soll. Von den Selbstdarstellungen des Staates in Feiern und Reden über dén Lehrstoff der Schulen bis h i n zur „inneren Führung" der bewaffneten Macht — Widerstandsdenken soll vor allem einer Jugend vermittelt werden, welche Gründe und Tragik dieser Résistance nicht erlebt hat, ihren Geist aber weitertragen soll. Das Unterfangen, Widerstandsbewegungen i m Wege einer „NegativIdeologie" i n die geistigen Staatsgrundlagen einzubauen, war und ist schon für die außerdeutschen großen und traditionellen Demokratien ein höchst gefährliches Wagnis, schufen sie sich hier doch an ihrer geistigen Spitze Bewegungen der Anarchie. Dem deutschen Widerstand stehen jedoch nicht so sehr diese Bedenken als vielmehr andere entgegen, soll er als geistige Staatsgrundlage begriffen werden. Nur die wichtigsten seien hier angedeutet, weil sie diese Bewegung als eine ebensowenig demokratische wie anarchische zeigen und damit neue Einsichten ins Wesen der Anarchie, sozusagen vom Negativen her, vermitteln: — Widerstand als negative Staatsideologie braucht den großen Erfolg. A u f den ganz großen Sieg, oder doch auf Legenden und Überzeugungen von ihm, lassen sich Staaten gründen, nicht auf Niederlagen, es sei denn, es folge ihnen i n wenigen Tagen eine Auferstehung von den Toten. Doch hier war nicht Erfolg und Sieg, sondern nur tragischer Untergang; und es gab keine Auferstehung, sondern nur fremde Erfolge, welche es erlaubten, der eigenen Erfolglosigkeit ehrend zu gedenken. Die Historie bietet bisher kein Beispiel, daß man Armeen durch Kapitulationsversuche hätte begeistern, der Jugend i m Scheitern von Verschwörungen weiterweisende staatskonstruktive Ziele hätte stecken können. Gescheiterter Widerstand als Staatsfanal — das verlangt eine moralische Höhe der Betrachtung, wie sie der großen Zahl nicht eigen ist, eine Erfolgsverachtung, deren kaum eine Führungsschicht, noch weniger die zahllosen Gleichen unserer Tage fähig sind. Sie müssen den Erfolg fühlen, den Triumph sehen, und sei es auch erst später, und komme er auch nicht mit Waffengewalt. Sublimierte Geistigkeit, die diesem deutschen Widerstand eigen war, die i h n vielleicht auch zur Erfolglosigkeit verdammen mußte i t hat weder damals das „ V o l k " zu er-
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fassen vermocht, noch w i r d es leicht sein, es heute mit ihr zu gewinnen. — Widerstand als negative Staatsideologie verlangt die gemeinsame große Anstrengung — auch an ihr hat es seinerzeit gefehlt. Das B i l d dieser Résistance ist heute durch viele Veröffentlichungen so klar gezeichnet, daß w i r wissen: Hier kämpften zunächst nur einzelne oder kleinste Gruppen, sie konnten schon an sich nicht die Dimension erreichen, deren staatsgrundlegender Widerstand bedarf. Der einzigen großen Anstrengung, der des 20. Juli, fehlte jene volksverbindende Gemeinsamkeit, welche allein den demokratischen Widerstand konstituiert. Dieser Widerstand kam ganz wesentlich „von oben", aus den konstituierten Gewalten eines Militärstaats i m Kriege heraus. U m Konsens mochte er damals werben, Konsensbasis i n späterer Zeit kann er als solcher kaum sein. — Der eigentliche, tiefere Grund aber, weshalb der deutsche Widerstand des 20. J u l i wenig oder nichts gemein hat mit jener demokratischen Résistance, welche der Volksstaat zur negativen Staatsgrundlage machen w i l l , liegt darin: Diese Widerstandsbewegung war eben gerade nicht von anarchischen, ordnungszerstörenden Kräften primär getragen, hier war nichts von dem „Wesen des W i derstands", der letztlich nur i n der Anarchie gefunden werden kann. Der deutsche Widerstand war — ein echt deutsches Phänomen — ein Ordnungswiderstand gegen die beginnende Katastrophe, gegen eine Staatsgewalt, welche i m Namen der Ordnung den Staat i n den totalen Untergang, i n den völligen Ordnungsverlust treiben wollte. Die Träger dieses Widerstandes kamen meist aus Kreisen, die von jeher gegen jede Anarchie gestanden hatten, aus den Traditionen der Preußischen Armee, der Aristokratie, des großen Bürgertums. Und sie handelten m i t primären Ordnungsvorstellungen, auf die Bewahrung eines Minimums von Ordnung hin, nicht auf die Zerstörung bestehender Staatlichkeit. Sie machten Front gegen eine Diktatur, welche i n ihren Augen nur i n die militärische und politische Anarchie führen konnte, gegen eine Bewegung, deren bereits erwähnte anarchische Wurzeln gerade darin aufbrachen, daß sie sich nunmehr ganz i n die Götterdämmerung zu werfen bereit war. Dies war ja auch die große Schwäche des Widerstandes, daß er sich wenden mußte gegen eine anarchisierende, aber völkische Umwertungsbewegung aller Werte, daß die Kraft der Anarchie, selbst i n der beginnenden Niederlage, noch immer auf der Seite des Diktators stand, nicht bei jenen, welche ihn durch neue, bessere Ordnung ersetzen wollten. Und Widerstand und Revolution bedürfen vielleicht der Kraft der totalen Unordnung,, u m siegen zu können — all des-
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sen, was den Männern des 20. J u l i versagt bleiben mußte. Man hat sich oft gefragt, weshalb so viele moralische und religiöse Skrupel diese Verschwörer hemmten und schwächten. I m letzten erklären sie sich aus ihrem Unterfangen, aus der Ordnungsrevolution, aus dem Widerstand gegen die Anarchie, der nichts hat von der komplexlosen Radikalität des eigentlichen Widerstands. Sie wollten nicht Unordnung u m jeden Preis, sondern Minimisierung des Ordnungsverlustes, ein gewaltsamer Widerstand mußte denen ein Greuel sein, welche die Unordnung beim Diktator sahen. I h r Widerstand richtete sich doch gegen die utopische Politik einer Herrschaftsselbstvernichtung. Er wandte sich gegen den ordnungszerstörenden Mißerfolg, und dieser war nicht Anlaß des Widerstands, sondern seine tiefste Legitimation. I n all dem unterscheidet sich der 20. J u l i ganz grundsätzlich von jenem „demokratischen Widerstand", der eine neue, volksnahe Ordnung schaffen w i l l ; und so waren denn auch die konkreten Ordnungsvorstellungen dieser Verschwörer alles andere als radikal demokratisch. Dies alles zeigt die Grenzen, die einer Staatsgrundlegung der Demokratie aus dem Widerstand des 20. J u l i gesetzt sind: Dies ist die eigentümliche Erscheinung eines Ordnungswiderstands. I h m fehlt das grundsätzlich-Ideologische der Résistance; hier war nichts unbedingt-Demokratisches; damals wurde Widerstand versucht gegen die beginnende nationale Ohnmacht des verlorenen Krieges, nicht primär gegen übermächtige Gewalt. Sie wurde bekämpft nur, weil hinter ihr bereits das Ende aller Ordnung sichtbar wurde. Der 20. J u l i ist daher ein antianarchischer Aufstandsversuch gewesen, weit entfernt von anderen, schwächeren Formen gleichzeitiger antideutscher Résistance. W i r d nun aber heute dieser Widerstand staatsideologisierend eingesetzt, so schieben sich i n sein wahrhaft verdientes Lob meist ganz andere Zielvorstellungen, gerade diejenigen, gegen welche damals diese Männer stehen wollten: die Ideologie der demokratisch-anarchischen Widerstandsbegeisterung. Soldaten und Schüler erfahren nun, daß es rechtens sei, sich gegen die Ordnung als solche zu wenden, auch wenn sie noch nicht i n anarchischer Auflösung steht, wenn sie nur „böse" ist, und was eine schlechte Ordnung ist, darüber bestimmen sie natürlich i m letzten allein, sie fühlen sich dann zum Aufstand berechtigt, selbst wenn u m sie herum nicht ein Reich und all seine Ordnung zerbricht. So findet denn i m Einsatz des deutschen Widerstands für eine allgemeine Widerstandsideologie eine Umwertung all jener Werte statt, für welche jene Verteidiger deutscher Ordnung damals:ge&torhen .sind.
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e) Vom widerstandsanfälligen
Gleichheitsstaat
Der Gleichheitsstaat vor allem ist es, der den Widerstand verherrlicht, er glaubt sich in seiner Herrschaftsform gefeit gegen Aufstände, die doch eigentlich aus einer i n Nivellierung befriedeten Masse kaum entstehen können. I n der Tat waren es ja bisher meist Ungleichheiten, welche Widerstand hervorgebracht und über ihn zu noch mehr Egalität geführt haben. Doch es gibt keinen historischen Beweis dafür, daß Widerstand gegen den Gleichheitsstaat begrifflich unmöglich oder auch nur unwahrscheinlich wäre. I m Gegenteil: Viele Strukturen dieser neuen Beherrschungsform sprechen gerade dafür, daß sie nur i m Widerstand enden kann: — Die Machtsensibilisierung der Gleichen ist gerade durch die Egalität extrem hoch. Jeden Unterschied empfinden sie letztlich schon als Form der Beherrschung. Wenn ihnen also die lastende Gewalt bewußt wird, der sie gerade i n ihrer Atomisierung unterliegen, die ganze Unausweichlichkeit und Allgegenwart dieser Herrschaft, von der i n einer früheren Untersuchung die Rede war, so kann sich eigentlich eine gewisse Freiheitsverzweiflung nur i n einem entladen — i m bedingungslosen Widerstand. — Die Gleichheit ist es, welche dem Widerstand seine natürliche, erste Organisation schafft. Hauptproblem allen Widerstandes ist es ja, daß sich jenseits der bestehenden Ordnung, aus dem herrschaftsmäßigen Nichts heraus, Organisationsstrukturen aufbauen müssen, i m zufälligen Zusammenlaufen vieler Gleichgesinnter. Die Gleichheit erleichtert dies, sie schafft die Kommunikationsmöglichkeiten wie die Interessenparallelitäten, bis h i n zu den Organisationsformen von Abstimmung und Mehrheit. I n keiner Staatsform findet daher der Widerstand eine so selbstverständliche organisatorische Leichtigkeit wie i m Gleichheitsstaat. — Der Gleichheitsstaat hat seinen Egalitätswert so hoch gestellt, daß es ihm undenkbar erscheint, daß eine politische Bewegung auf anderes gerichtet sei, als auf noch mehr Gleichheit. Doch dies t r i f f t gerade für den Widerstand nicht zu. Aus seinen anarchischen W u r zeln heraus wendet er sich schlechthin gegen die Herrschaft und i m letzten nur gegen sie, i n all ihren Formen; er zielt nicht auf neue Staatlichkeit, auf verbesserte Ordnung, damit auch nicht wesentlich auf mehr Gleichheit, sondern auf weniger Herrschaft. So aber läuft die Résistance i n ihrem innersten Wesen an aller zukünftigen Ordnung vorbei, auch an „mehr Gleichheit" — eben weil sie i m letzten nur eines ist: Anarchie. Dann aber genießt der Gleichheitsstaat das nicht, worauf er stets hofft — ein Widerstandsprivileg anarchischer Unanfälligkeit.
3. Exkurs: Die Glorifizierung des Widerstandes
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— Die Widerstandsideologie schwächt ganz wesentlich jede Macht, weil sie vor allem dort w i r k t , wo der Staat mit dem Widerstand zusammenstößt: Bewaffnete Macht w i r d durch die Résistance-Idee letztlich doch demoralisiert; die Polizei sieht sich durch Demonstrationsideologien verunsichert; i n den Schulen w i r d Widerstand i n oft romantisierter Form gelobt, ja gelehrt — gerade auf diese drei Mächte aber muß sich der Gleichheitsstaat in besonderer Weise stützen, auf die „Schulen der Nation der Gleichen" wie auf jene Kräfte, welche den äußeren Rahmen der Egalität i n Ordnung halten müssen. Der Ordnungserosion durch Widerstandsdenken unterliegt daher das Zusammenleben der Gleichen vielleicht noch stärker als manche andere Ordnung, genügt doch oft ein geringer Anstoß schon, u m jene „kleinen Unterschiede" entstehen zu lassen, die dann zu empörtem Widerstand führen. Fassen w i r also zusammen: Eine negative Staatsideologie des Widerstandes mag versucht werden, doch letztlich w i r d hier nur eines geboten: die Theorie der Anarchie als Staatsgrundlage. Man nehme nicht an, dies beschränke sich nur auf historische Rechtfertigungen früherer Aufstände. Hier ist die Historia Magistra schneller zur Hand: Aus dem Nachempfinden früherer Aufstandsbegeisterungen w i r d die Hoffnung auf künftige Umwälzung, auf jene Anarchie, die doch hinter allen politischen Dingen steht. Nicht umsonst sind es übrigens die drei eben genannten Mächte, i n denen die Widerstandsideologie besonders tiefe Wurzeln schlagen kann — Militär, Ordnungskräfte und Schule: I n ihrem Bildungswirken sind sie wahre Vorbereitungs-Gewalten der Zukunft, i n der Bewahrung der Ordnung von heute umschreiben sie deren künftige Möglichkeiten. So könnte man denn hier eine Theorie der „Vorbereitungsgewalten der Zukunft" i m Staate entwickeln. I n der negativ-ideologisierten Widerstands-Demokratie sind sie der Anarchie besonders weit geöffnet. Und besonders effizient, denn zugleich handelt es sich ja hier u m Institutionen, Gewalten, die, i n ihrem Wirken jedenfalls, wenn nicht i n ihrer täglichen Arbeit, eine A r t von „Institution i m Wartestand" sind, Militär und Polizei i n Erwartung des „Ernstfalles", die Schule i m Blick auf den fernen Ernstfall des Lebens, i n dem ihre Saat aufgeht. Gerade diese „Warte-Gewalten" sollte eigentlich der Gleichheitsstaat freihalten von jeder Widerstands-Ideologie; und eben hier glaubt er, sich der Anarchie öffnen zu können, in dieser Ideologie des Ordnungsverlustes.
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4. Revolution — Sternstunde von Demokratie und Anarchie I n der Betrachtung des Widerstandes als einer negativen Staatsideologie ist schon vieles vorweggenommen, was nunmehr zum Verhältnis Revolution — Anarchie — Demokratie zu sagen ist. Dennoch gilt es, dies alles noch einmal an der Theorie der Revolution zu erweisen: daß es nämlich gerade die egalitäre Volksherrschaft ist, welche ganz wesensnotwendig nicht nur die einzelne, begrenzte Widerstandsbewegung begünstigt, ja glorifiziert, daß dieser Staat sogar noch viel weiter geht, daß er selbst revolutionsoffen ist. Darin aber liegt ein entscheidendes geistiges Ordnungsrisiko. Revolution erwächst aus Widerstand, doch Revolutionstheorie ist mehr als Widerstandsbetrachtung: Der reinen Résistance-Bewegung fügen sich hier drei Elemente hinzu: Die größere Dimension des A u f stands, ihr Erfolg, die „neue Ordnung", welche aus ihr kommt. Unsere These ist hier: Revolution ist ebenso i n ihrem innersten Wesen Anarchie wie der Widerstand, aus dem sie erwächst; hier aber läßt sich das institutionelle Vordringen der Anarchie i n die Demokratie hinein am klarsten erkennen. Denn die freiheitliche Demokratie ist die Staatsform der Revolution, nur i n ihr kann man die Umwälzung w i r k lich erfassen, weil die Demokratie alle Anstrengungen unternimmt, u m eines zu werden — auf Dauer institutionalisierte Revolution. Darin aber liegt ein großer, ein geradezu systematischer Ordnungsverzicht. a) Stufen der Revolutionsideologie Jede Staatsform w i r d versuchen, das Revolutionsphänomen juristisch zu erfassen. Gerade i n der A r t , wie dies geschieht, zeigt sich, inwieweit sie sich als eine „geschlossene Ordnung" versteht, der Ordnungsvorstellung einen Primat zuerkennt, oder ob sie umgekehrt dynamischen Veränderungen sich öffnet, bis h i n zur Anarchie. A u f diesem Wege ist keine Staatsform weiter gegangen — das hat sich immer wieder gezeigt — als die freiheitliche Volksherrschaft. Dies mag durch die Betrachtung folgender Stufen der Revolutionstheorie verdeutlicht werden: — Erste Stufe ist die Anerkennung einer „Legitimität über der Legalität". Geht man von der bestehenden Ordnung und ihrer alleinigen Berechtigung aus, was i m Grunde das Wesen jedes Staatsverständnisses ist, so endet m i t der Revolution die juristische Legalität, damit aber alles, was dieser Staat hat, seine ganze Legitimation und Kontinuität. Eine „Legitimität", welche diese Legalität überdauern
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könnte, gibt es nicht, mit der Legalität der Rechtsordnung bricht auch die Legitimität des Staates zusammen. I n allen Staatsformen ist der Versuch gemacht worden, über dieses eigene juristische Ende hinauszudenken, und aus dieser Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem Revolutions-Tod sind alle jene Vorstellungen einer „legalitätsübergreifenden Legitimität" geboren, die keine Staatsform höher entwickelt hat als die Demokratie. I m Namen „höherer Berechtigung", etwa gesteigerter Volksnähe, sollen Änderungen „aus demokratischer Sicht rechtens sein", die mit dem geltenden Recht und seinen Traditionen kaum vereinbar sind. Der unvermittelte Einsatz von Volksbefragungen bei „großen Anlässen" i n Staaten parlamentarischer Tradition ist dafür ein Beispiel. A u f diese Weise ist die Revolution überspielt, die Staatlichkeit setzt sich scheinbar bruchlos fort, i n der „legalitätsergänzenden Legitimität". Doch nun entwickelt die so entstandene „Legitimität" ihr normatives Eigenleben, sie schützt nicht mehr die Kontinuität der staatlichen Ordnung, der Legalität, sie berechtigt zu ihrem Bruch, der dann eben, i m Namen ihrer höheren Berechtigung, keiner mehr sein soll. Und hier setzt sich die Stufenleiter der Revolutionstheorien fort, es beginnen die Stufen der Revolutionsbegründung. — I n „argen Fällen" ist der Bruch der Legalität, die Revolution i m Namen der Legitimität berechtigt, die Revolution w i r d zum „Staatsnotrecht". Ordnung und Revolution stehen aber immer noch i m Regel-Ausnahme-Verhältnis. I n diesem Sinn könnte etwa eine „demokratische Gegenrevolution" gegen eine nach demokratischer Legalität an die Macht gekommene Regierung gerechtfertigt werden. Anerkannt w i r d „Legalitätsbruch aus Legitimität" i m Einzelfall. — Dann erscheint demokratische Legitimität als das grundsätzlich Höhere gegenüber der juristisch i m einzelnen etablierten Ordnung, sie w i r k t auf diese laufend mit Veränderungen ein, dies ist rechtmäßig auch dann, wenn damit die bisherige Ordnung außerhalb der dafür vorgesehenen Formen verändert wird. Hier w i r d bereits etwas wie eine „Revolution i n Permanenz" proklamiert, i m Namen der dynamischen Staatsgrundlagen. Etwas Derartiges kann es i n oligarchischen oder monarchischen Staatsformen kaum mehr geben, radikaleren Demokratievorstellungen ist es durchaus vertraut, man denke nur an neuere Theorien vom Verfassungswandel: Da werden Kategorien wie der „Bewußtseinswandel der Bürgerschaft" oder der „allgemeine Demokratisierungsprozeß der Gesellschaft" eingesetzt, u m revolutionsähnliche Umgestaltungen der Eigentumsordnung zu begründen, welche durch das herkömmliche Verfassungsverständnis
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kaum mehr gedeckt wären. Eine derartige demokratische Verfassungsdoktrin der „extrem offenen Verfassung" kann leicht auch den Anschluß an die marxistischen Überbauvorstellungen finden, nach denen sich alles Recht, auch die Staatsgrundsätze, nach den ökonomisch-gesellschaftlichen Veränderungen zu richten hätte. — Die höchste Stufe der Revolutionsöffnung w i r d dort erreicht — und sie ist der Demokratie vorbehalten — wo die permanente Revolution als einzige Staatsgrundlage erkannt ist und daher dauernd dominant wirksam bleiben soll: Nur i m Revolutionären, wo über die kleine, tagtägliche juristische Realität hinausgegangen wird, dort allein liegt die wirkliche Legitimität der radikalen Demokratie. Diese Stufenbetrachtung, die unschwer noch weiter verfeinert werden könnte, zeigt bereits: I n der Revolutionsöffnung sind allein der Demokratie keine inneren, kategorialen Grenzen gesetzt, i m Gegenteil: Ihre innere Konsequenz treibt sie eigentlich, geistig gesehen, i n eine immer größere Revolutionsnähe, der Begriff der reinen juristischen Legalität, der Kontinuität der rechtlichen Herrschaftsformen, muß für sie stets weiter an Bedeutung verlieren, weil sie auf einer anderen Grundlage erbaut ist, auf jener dynamischen Volkslegitimität, die sich i n einzelnen Legalitätsformen, i n bestimmten Institutionen nie endgültig binden kann. Dies ist das geistige Programm der Demokratie: daß sie immer wieder zurückfinde „zu ihrer Revolution", daß sie diese stets begleite. Auch dieses „Zurück zu ihrer Natur" bedeutet aber nur: Zurück zur Anarchie.
b) Die Anarchiegrundlage
des Revolutionären
Die Anarchienähe all dessen, was man Revolution zu nennen pflegt, bedarf kaum eines Beleges. — Die eigentliche „Revolution" kommt stets von „unten" — ebenso wie alle anarchischen Bewegungen, wobei dieses „Unten" nicht soziale Schichtung, sondern Herrschaftsabstand bedeutet. Revolution ist daher stets Reaktion der Gewaltunterworfenen, nicht Wechsel innerhalb der Mächtigen. Die „Ordnungsrevolution" ist nichts als ein Anstoß i m Wechsel der Herrschenden, aus der Sicht demokratischrevolutionärer Theorie ist sie mehr Usurpation als Revolution. Die Palastrevolution verdient diesen Namen nicht, und der Putsch unterscheidet sich gerade hier von der revolutionären Bewegung; so jedenfalls w i l l es ein Sprachgebrauch, der insoweit tief i n das
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Wesen der politischen Erscheinungen eindringt, als er eben — Revolution durch Anarchienähe definiert. — I n der Revolution liegt, ebenso wie i n allem Anarchischen, stets der „Anfang i m Individuellen". Sie entwickelt sich ganz wesentlich i n jenem „Zusammenlaufen Vieler aus parallelen Interessen", i n dessen erster Phase etwas Ungeordnetes liegen muß. Es ist nicht das „bedauerlich Anarchische" der Frühphasen jeder großen Revolution; es liegt i n ihrem Wesen, daß sie i n einem nahezu zufälligen Zusammenwirken heterogener Interessenverfolgungen ausbricht. I n der Französischen Revolution und ihren vielfachen anfänglichen doléances, den so verschiedenartigen Forderungen an König und Nationalversammlung, läßt sich dies ebenso ablesen wie an den Frühstadien der Russischen Revolution, i n welcher ebenfalls unterschiedliche Kräfte i m Ergebnis zunächst i n eine Richtung wirkten. Das eigentlich Revolutionäre aber ist dies, eben jene anarchische Auflehnung, „aus welchen Interessen auch immer". Und die bolschewistischen oder jakobinischen Zustände stellen bereits den zweiten Takt dar, sie sind eigentlich schon mehr neue Ordnung als wahre Revolution. — Revolution ist, genauso wie Anarchie, Wendung gegen die Ordnung als solche, nicht gegen den einzelnen Befehl, der auch von Revolutionären befolgt wird. Revolution kann sich geradezu definieren als Kampf des einzelnen Befehls gegen die höhere Ordnung. Das Dauernde der Herrschaft, das Allseitige w i r d zerschlagen in neuen Kategorien: i m „Augenblicklichen", i m „Punktuellen", i n der „Befehls-(nicht: Ordnungs-)Causa" des Handels — als ob sich hier drei neue kantische Kategorien entfalteten, als ob hier ein weit engeres, momentbezogenes Denken i n Raum, Zeit und Kausalität die bisherige weitere, zeitlose Ordnung ersetzte. Gerade darin aber kommt eine Revolutionsbetrachtung dem Anarchischen besonders nahe. — Revolution wendet sich gegen die Unbedingtheit einer Ordnung, sie erschöpft sich eigentlich gerade darin. Alles w i r d nun prekär, bedingt, vorübergehend, wie es die ersten Zeiten der Französischen und der Russischen Revolution eindrucksvoll beweisen. Alles legitimiert sich ja nur aus der eigenen, aus einer ad hoc zusammengelaufenen Kraft — wenn nicht aus einer Revolutionsidee selbst, also aus der negierenden Anarchie als solcher. Diese Prekarietät der Revolution ist eine „Ordnung des Ungeordneten", ein Floating politischer Kräfte, die zunächst einfach nur wirken. Was wäre Anarchie anderes? — Revolution t r i t t , wenn sie diesen Namen verdient, absolut gegen die Ordnung an, gegen die Macht als solche; daher muß sie stets bis zum letzten gehen, Grenzen kann sie nicht kennen, alles muß sie
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zerstören, und nur i n einer Theorie der Grenzenlosigkeit, die zugleich die der Unaufhaltsamkeit der Revolution würde, läßt sich ihr Wesen wirklich erfassen. I n diesem Sinne ist die Umwälzung eben ein „Wert an sich", der stets geschwächt wird, wenn er frühere Götter der Ordnung neben sich bestehen läßt. Nach alledem ist es eigentlich kaum verständlich, daß man von „großen" Revolutionen spricht — wenn sie so genannt werden, so müssen sie diese Dimensionen erreichen, alles andere ist Degeneration einer Idee. Und i n diesem Sinne etwa hat die „legale Machtergreifung" von 1933, wie ihre sozialistischen K r i t i k e r i n den eigenen Reihen wohl erkannt haben, die revolutionäre Idee verraten. — Die Revolution ist, wie jede Anarchie, das wesentlich Gewaltsame, denn hier w i r d „Gewalt" ja nicht als etwas Negatives anerkannt, weil es als solches immer nur durch die bisherige Ordnung hätte definiert werden können. Die Revolution dagegen kennt nur eine Kategorie: die der Wirksamkeit, weil es ihrem Wesen entspricht, daß sie Herrschaft brechen, unwirksam machen w i l l . Und auch A n archie kann letztlich ein negatives Urteil über Gewalt nicht anerkennen, sie müßte ja sonst eine Ordnung akzeptieren. — Revolution ist, nicht anders als Anarchie, i n ihrem Ausgangspunkt, damit aber i n ihrem eigentlichen Wesen, absolut negativ, sie bietet nicht die neue, positive Lösung an, und auch dies ist kein Defekt des Revolutionären, weil es eben seinem anarchischen Wesen entspricht. Die Geschichte hat immer wieder gezeigt, daß Revolutionen sich viel „reiner", „stärker" bewähren, wenn und solange sie „rein destrukt i v bleiben", eben weil auch ihr Urgrund es ist, die Anarchie. Gemeinsam haben Revolution und Anarchie schließlich den Zug zu dem, was aus der Sicht der Ordnung „Utopie" genannt wird. Nebulose neue Prinzipien sind es, welche die eigentlichen Revolutionen, die Französische und die Russische, der Welt verkündet haben, Weltvereinigung, Menschenrechte, Weltrevolution. A l l dies ist echt anarchisch gedacht, die Revolution macht ihrem Namen Ehre, solange ihre Prinzipien entweder i n sich gegenläufig-widersprüchlich sind, und damit allenfalls Ordnungsmaterial für spätere Konstruktionen, nie aber schon aktuelle Ordnung darstellen, oder wenn sie an sich nicht zu verwirklichen, sondern immer nur anzustreben sind. Entfernt sich eine revolutionäre Bewegung allzusehr von diesen Utopien, setzt sie mit neuen Ordnungsvorstellungen sogleich ein, so degeneriert sie i n ihren Anfängen schon zum „Putsch". Nur i n der inneren Inkonsequenz liegt die eigentliche revolutionäre Macht, eben das alles Zerschlagende der Anarchie.
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Es scheint, als wirke i n all dem etwas wie eine eigentümlich transpersonale Macht i n der Revolution — die anarchische Idee. Die revolutionären Akteure werden geradezu getrieben i n immer neue revolutionäre Höhen, i n immer weitere anarchische Inkonsequenz — gesehen aus der Sicht der Ordnung. So ist denn die Revolution „stets klüger als die Revolutionäre", sie führt sie über sich selbst hinaus i n immer weitere Zerstörungen. I n diesem Sinne des „ i n sich Negativen" ist die Robespierre-Gestalt die eigentliche Figur des Revolutionärs, ja der Revolution geworden, jenseits aller historischen Wirklichkeit. I n sie haben ihre damaligen Gegner und spätere unkritische Betrachter all das furchtbar-Irrationale hineingelegt, das der Revolution „an sich" eigen sein „müßte", so daß erst heute ein neues und i n vielem durchaus unrevolutionäres historisches Robespierre-Bild entstehen kann. Doch aus der Sicht der Revolution — und so doch auch historisch — „richtig" ist auch die fürchterlichste Robespierre-Darstellung, weil man i n ihr personifizierend das Wesen der Revolution i n ihrem anarchischen Kern erfaßt. So kommt es denn zu einem historischen Paradox: Die transpersonale Kraft der Revolution scheint sich i n dem höchst Persönlichen der Revolutionsführer auszudrücken — doch es scheint eben nur so, denn durch sie hindurch w i r k t die allgemeine Kraft der unbedingten Herrschaftsablehnung. c) Die Revolution — Umrisse einer anarchischen Ordnung Schon bei der Betrachtung der Widerstandsbewegungen hat es sich gezeigt, daß sie nicht nur zu neuen Ordnungen führen, daß sich i n ihnen selbst, i n gewissen Formen politischer Wirkkraft, Ordnungsansätze eigener A r t entfalten, etwas wie „anarchistische Ordnungselemente". Deutlicher w i r d dies noch i n der Größenordnung der siegreichen Revolution. Hier läßt sich die These aufstellen: I n der siegreichen Revolution erwächst die Anarchie zu einer A r t von „Ordnung sui generis", erst damit hat sie die Chance, als Ideal auf die Ideologie einer anarchiegeöffneten Staatsform wie der Demokratie überhaupt einzuwirken. Hier erst w i r d „Anarchie politische Wirklichkeit" : — I n der Stunde N u l l der völlig vernichteten alten Ordnung „stehen alle Räder still" — auch das ist eine „Ordnung", nicht nur das Drehen der Räder, es ist ein „Gesamtzustand". Wer nur i n juristischen Ordnungen denkt, vermag nicht zu erfassen, daß es i n Wahrheit i m politischen Zusammenleben i n erster Linie u m „Gesamtzustände" geht, daß aber ein solcher Gesamtzustand auch, jedenfalls für Augenblicke, der der totalen Ordnungslosigkeit sein kann. Und 20 Leisner
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diese „Stunde Null" w i r k t weiter, über sich hinaus, sie vermittelt die Erkenntnis, wie wenig die Ordnung eigentlich gebraucht wird, wie hoch die Werte stehen, die sich entfalten, wenn sie nicht durch Ordnungen überlagert sind. Wer solche Augenblicke am Ende aller Ordnung i m Jahre 1945 bewußt erlebt hat, braucht keine Verdeutlichung. Ein Organ für das „Negative allen juristischen Ordnens" w i r d so gezüchtet, wäre dies nicht schon eine — negative Ordnungskraft? I n höher entwickelten, industrialisierten Staaten hört, so scheint es doch, mit dem Zusammenbruch einer bestimmten verfassungsmäßigen Ordnung nicht jede Ordnung schlechthin auf. Weggefallen sind nur die Wirkungen der bisherigen politischen Kräfte, doch auch ohne sie „geht es weiter", weil der technisch-gesellschaftliche Apparat als solcher und von selbst eine gewisse, und sei es auch rudimentäre Weiterentwicklung ermöglicht. Wenn die Revolution auch nur eine bestimmte, etwa eine besatzungsähnliche Ordnung aufrechterhält, besteht dann nicht doch etwas wie eine „Ordnung ohne Herrschaft"? I n den kontinentaleuropäischen Staaten hat sich dies am Ende des Zweiten Weltkriegs gezeigt. „Technokraten" mögen hier sogar noch weitergehen: I m Wegfall der politischen Ordnungen sehen sie sich von Belastungen frei, und deshalb war noch immer das große Management industrialisierter Staaten mit einer geheimen Seite seines Herzens Anhänger solcher „ordnungsbefreiender Umbrüche". I n der Tat ist ja durch die Revolutionen hindurch, sozusagen unter ihnen hinweg, auch i n Zeiten, die bei historischer Betrachtung als nahezu ordnungslos, als völlig anarchisch erscheinen, kulturell und geistig, aber auch technisch, so vieles „vorwärts gelaufen", was eigentlich Ordnungen voraussetzen sollte. Könnte es also unter der politischen Ordnung eine „heimliche Ordnung" geben, welche von der Revolution nur i n ihre Rechte gesetzt wird? Hier mag vieles Romantik sein, doch es w i r d sich kaum leugnen lassen, daß Ordnungszerstörung i n der Revolution zugleich eine große Stunde des Geistigen ist. Jeder kann sich nun, ganz für sich, „seine eigene, eine unendliche geistige Herrschaftswelt" aufbauen, ihr sich unterwerfen, i n ihr leben. Dies sind Augenblicke eines nunmehr „ins Innere verlegten" persönlichen Herrschaftsstreben jedes Menschen, Stunden der Herrschaftshoffnung, die neuen Herrschaften vorausgehen — und auch i n ihnen ist schon etwas wie Ordnung. Nichts ist noch politisch erreicht, die Stunde aller Möglichkeiten scheint offen. Darin liegt nicht nur geistig-politischer Reichtum, der ja Revolutionsperioden immer gekennzeichnet hat, sondern eine eigentümliche geistige „Ordnung der Virtualitäten". Sie
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aber gibt es gerade für einen Bereich, der sonst nur i m voll Realisierten zu bestehen scheint, i n der Politik. — Dieser ganze geistig-zivilisatorische Gesamtzustand, von der Revolution bloßgelegt, schlägt aber dann auch bald politisch nach außen, die Revolution entlädt sich i n der Produktion zahlreicher, zahlloser Herrschaftsformen, i n einer ungeahnten Experimentierkraft vieler, heterogener Ordnungsansätze. Das unerreichte Beispiel solcher anarchisierender, vulkanhafter Kraft ist die Französische Revolution, mit ihren jährlichen, ja monatlichen Verfassungsexperimenten und -Zusammenbrüchen. Hier kommt es zu einer ungeheueren Dynamik der Ordnung, einer eigenartigen „Ordnung ohne Festlegung", ja zu einem Aufgehen der staatlichen Ordnung i n Dynamik schlechthin. Der Zusammenbruch einer dieser Verfassungen nach der anderen, von 1791 bis zu den ersten Grundgesetzen Napoleons, bedeutete i m Grunde nicht Rückschlag oder Enttäuschung, sondern eine große normative Flut der Weiterentwicklung, i n der den einzelnen Verfassungsdokumenten nur die Bedeutung einer Verdeutlichung dessen zukam, was begonnen hatte: die große republikanisch-revolutionäre Tradition. Diese erstaunliche Ordnungsproduktivität hat als solche bereits etwas virtuell Ordnendes, nicht nur i n dem Sinn, daß hier politische Kräfte analysiert werden, sondern daß immer neue politische Formen bereitstehen; daß das jeweils Geschaffene also nicht sorgfältig behütet werden muß, weil es nie in das Nichts zurückfallen, sondern sich immer zu neuen, ebenso dynamischen Herrschaftsformen entwickeln wird, welche diese revolutionäre Kraft hervorbringt. M i t normativen Kategorien läßt sich all dies nicht erfassen, derart feste Ordnungen sind von einer Revolution nicht zu erwarten. Noch i n diesen ihren laufenden „Ordnungsausbrüchen", i n welchen die Revolution so ganz Anarchie ist, zeigt sie sich als Mutter aller kommenden normativen Ordnungen, die viele von ihnen noch töten wird, bis eine überleben kann. Dies ist eine A r t von „positiver Ordnungszerstörung", indem aus dem Niedergang eines der neuen revolutionären, der typisch prekären und vorübergehenden Ordnungsansätze sogleich ein neuer entsteht, bis langsam, ganz langsam die Wogen i n diesem Meer der Anarchie zur Ruhe kommen, i n einem neuen Kanalsystem der Normen oder der systematischen Befehle. Wer diese höchst dynamischen Seiten der Revolution nachzeichnet, wer hier nicht juristisch, sondern historisch denkt, der hat etwas von den Ordnungskräften der Anarchie erfaßt. Nur i n den großen Stunden des siegreichen Widerstandes der Revolution erreichen diese hohen Wellen die politischen Gestade. 20*
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d) Demokratie — Staatsform der Revolution Die Revolution war für die egalitäre Demokratie stets weit mehr als nur ihr historischer Ausgangspunkt oder ein ferner, legitimierender Hintergrund ihrer Institutionen. Immer hat sie aus der Kraft einer wahren Ideologie i n diese Staatsform hineingewirkt. Die Allgemeinheit und die moralisierende Kraft, welche jeder Ideologie eigen sein muß, hat die Revolution der egalitären Demokratie i n eigentümlicher Weise vermittelt: einerseits durch die Unbedingtheit, zum anderen durch die Unbestimmtheit, die sie i n diese Staatsform einführt. Die Unbedingtheit, bis h i n zur totalen Zerstörung der früheren Ordnung, ohne Rücksicht auf die eingesetzten Mittel, all dies hat der egalitären Demokratie eine A r t von unendlichem Hintergrund gegeben, den ihre Anhänger begeistert mit ihrer demokratischen Seele suchen konnten. So ist es immer wieder i n der Demokratie zur Revolutionsromant i k gekommen, und zwar nicht nur dann, wenn Umsturz und Gewalt nötig erschienen, vor den Toren standen, sondern gerade i n „guten Zeiten", als ein politisch-institutionelles Sehnsuchtserlebnis. Die Revolutionsbegeisterung der satten jungen Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg hat es zur Genüge bewiesen. Die Demokratie ist die einzige Staatsform, i n der sich Revolutionsromantik permanent zu halten vermag, ist sie doch die reinste Form ihrer Negativ-Ideologie. Und wo man weit von Barrikaden entfernt ist und i n pazifistischer Demokratizität jede Gewalt ablehnt, da kann man sich doch an der blutigen Aufstandsvergangenheit einer Commune begeistern. Damit aber dringt, unbemerkt, ungewollt sogar, weit mehr an Ordnungsauflösung geistig i n die Strukturen des Staates als dessen Hüter glauben, welche hier historische Revolutionsspiele zulassen wollen, damit i n der Gegenwart ein Umsturz nicht stattfinde. Durch ihre institutionelle Unbestimmtheit w i r k t Revolution nicht minder stark, als ein Sehnsuchtsbild, auf diese Staatsform. Wie dargelegt kann sie ja volle Ordnungen nie hervorbringen, nur „ordnungsbefreite Zustände" vermag sie zu schaffen, die unendliche und dauernde Fluktuation sich ablösender politischer Experimente. Gerade deshalb ist sie unerschöpflich i n ihrer Allgemeinheit, allgegenwärtig und i n tausend Gestalten immer bereit, Institutionen geistig zu dynamisieren, zu verändern =— bis h i n zu ihrer Zerstörung. I n dieser „Möglichkeit zum Unbestimmten" legt die Revolution einen gefährlichen ideologischen Keim i n die egalitäre Demokratie, deren nur zu oft öde Nivellierungsformen sie mit der Hoffnung auf unbestimmte Ausbrüche erfüllt. I n all dem w i r k t vor allem eine Anziehung: Die Revolution ist gegenüber der egalitären Demokratie eine A r t von absolutem Gegen-
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bild. Dort ist alles i n atomisierter Gleichheit vollständig, bis ins Kleinste geordnet — hier weht die heilsame, die unendliche Unordnung; dort ist alles Programm und Vorausberechnung, zu immer mehr Gleichheit — hier ist der Reiz der unvorhersehbaren institutionellen Bewegung; dort ist die Gewalt hinter der Gleichheit verschwunden und w i r k t nur unsichtbar weiter — hier zeigt sich die Revolution endlich wieder ihre Gewalt selbst, sie findet das Feindbild, auf das sie ihre Kanonen richten kann, darin ist sie Lösung und Begeisterung zugleich. Doch die eigentümliche negativ-ideologische Wirkung der Revolution gegenüber der freiheitlichen Demokratie erweist sich nicht nur darin, daß die Umwälzung ein Gegenpol ist, der mächtig anzieht; zugleich — und darin liegt die besondere Kraft — führt auch ein nahezu bruchloses Spektrum von der egalitären, voll institutionalisierten Volksherrschaft bis hinein i n die tiefste Revolution, und wieder zurück. Historisch gilt dies ebenso wie institutionell: — Hier w i r d es von geradezu ideologischer Bedeutung, daß die egalitären Demokratien aus anarchistischen Revolutionen entstanden sind, hier w i r k t ihr „institutioneller Urzustand" i n die v o l l formierte Staatsform hinein. Alle anderen Verfassungen mögen ihre „neuen Ordnungen i m Palaste suchen", Demokratie geht stets auf die Straße, von der sie kommt. — I n der egalitären Volksherrschaft funktionieren laufend weiter Ordnungsinstrumente, welche noch eine ferne Verwandtschaft aufweisen zu den elementaren Modi vivendi der Revolution, zu dem „Zusammenlaufen zu den Waffen", zu den elementaren Organisationsformen der Ersten Stunde: I n der formierten Volksherrschaft bleibt davon ja immer noch die Mehrheit i m demokratischen Umstand, die stets nur „vorläufige Regierung", welche i n ihrer steten Verantwortlichkeit etwas vom Revolutionskomitee bewahrt. Die Rudimentär-Institutionen der Revolution haben sich hier verfeinert, perfektioniert, die Verbindung zu ihren revolutionären Ursprüngen haben sie stets bewahrt. — I m institutionellen Machtwechsel wurde bereits die Ordnungsabschwächung der Demokratie deutlich. Doch i n diesen vielen kleinen institutionellen Revolutionen bleibt stets die „große Revolution" gegenwärtig, jene finden statt, damit diese — Ideologie bleiben könne. I n ihrem institutionellen Fluktuieren schaut die egalitäre Volksherrschaft täglich der großen Revolution ins Auge. — Die Volksherrschaft, i n der noch etwas von Freiheit ist, findet darin eine Ungebundenheitsdynamik, welche stets „nach oben offen ist" — wohin? Hinauf i n die größere Freiheit der Revolution. Volksherr-
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schaft bedeutet „kleine Freiheit", aber eine Ungebundenheit, die i n jedem Augenblick größer werden kann, bis hinein i n die große Anarchie der Revolution. Wenn nicht etwas von dem revolutionären Gott, i n einer A r t von institutionellem Pantheismus, i n allen Adern der Einrichtungen des Volksstaats gegenwärtig ist, fällt dieser Staat legitimitätslos i n sich zusammen — doch dieses göttliche Feuer hat ihn auch immer wieder i n Anarchie verbrannt. — Und schließlich reicht die egalitäre Demokratie mit einem unmittelbar i n die Revolution hinein, das als das Unrevolutionärste erscheinen mag, das aber schon dadurch der großen Umwälzung stets nahe ist, daß es sie immer wieder hervorgebracht hat: die Gleichheit selbst. Nicht nur darin ist Demokratie revolutionsgeneigt, daß sie die furchtbare Gewalt ihres Gleichheitsstaates zum Ausbruch in die Revolution treibt. Historisch hat die Gleichheit immer wieder die Voraussetzungen der ganz großen Revolutionen erst geschaffen, i n jener Angleichung der Klassen und Schichten, jenem Aufsteigen, das Revolutionen verhindern sollte und sie, i n Frankreich, Rußland und anderswo, erst eigentlich hervorgebracht hat, wenn sich frühere Beherrschte und Herrschende zu nahe kamen, und der Funke der Gleichheit überspringen und alles i n Brand setzen konnte. So ist denn die egalitäre Demokratie stets unterwegs nicht nur zur belebenden Fluktuation der Revolutionsausläufer, sondern zur großen Revolution selbst. e) Die demokratische Theorie der permanenten Revolution die verfassunggebende Gewalt des Volkes
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Die verfassunggebende Gewalt von Monarchien und Aristokratien kommt „von oben", aus sakralen, geistigen Ordnungsvorstellungen. Die Demokratie hat der verfassunggebenden Gewalt erst ihre eigentliche Bedeutung gegeben, muß sie doch ihre Staatsfundamente neu schaffen, die andere Ordnungen aus transpersonalen Ideologien ableiten können. Nirgends w i r d also die verfassunggebende Gewalt i n vergleichbarer Weise zum geistigen und institutionellen Problem, zur großen Aufgabe wie i n der Demokratie — sie w i r d zur wahrhaft ideologischen, zugleich aber zur stets lebendigen Verbindung der politischen Ordnung zu jener großen anarchischen Unordnung, die hinter ihr steht: zur Revolution. Die Theorie der verfassunggebenden Gewalt ist so, demokratisch zu Ende gedacht, die Theorie der permanenten Revolution; als eine solche ist sie vor allem i m Land der Revolution, i n Frankreich, entwickelt worden. Politisch, wenn nicht institutionell, ist sie dort noch immer gegenwärtig, mag sie auch durch Jahrzehnte einer von persönlicher Gewalt gefärbten Staatlichkeit überdeckt worden sein.
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M i t der Vorstellung von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes soll dieses, als eine natürliche „Institution", i n jene Ordnung eingebunden werden, i n welcher der revolutionäre Schwung kanalisiert wird. Doch daß dies nie ganz möglich war, daß etwas von der revolutionäranarchischen Unendlichkeit stets über alle Institutionen hinausging, das hat sich gerade i n den Kämpfen um die Verfassungsänderung in Frankreich, von der Französischen Revolution bis zur Fünften Republik immer wieder gezeigt. Wenn die verschiedenen Republiken periodisch an der Unmöglichkeit scheiterten, ihre Verfassung veränderten Umständen anzupassen, wenn der dynamische Wille des Volkssouveräns sich über alle Institutionen immer wieder hinwegsetzte, wenn sogar unter der härtesten aller französischen Institutionalisierungen, der Gaullistischen Verfassung, 1968 noch etwas wie ein Verständnis für einen neuen volkssouveränen Ausbruch blieb — i n all dem zeigt sich nur eines: daß alle demokratische Verfassung stets etwas Bedingtes sein muß, etwas Vorläufiges, Provisorisches, das auch nur als solches überdauern kann, weil nur dann i n i h m das Höchste w i r k sam bleibt, die revolutionäre, originäre Volkssouveränität. So kann denn eine Unterscheidung von verfassunggebender und verfassungsgesetzgebender Gewalt in einer wahren Demokratie nie gelingen, die verfassungsgesetzgebende Gewalt ist nichts als eine Form der gewöhnlichen Gesetzgebung, als Verfassunggebung wäre sie reine Degeneration; der revolutionäre Verfassunggeber läßt sich nicht an die Fesseln der Ordnung legen, er zieht sich nur zuzeiten hinter diese zurück. Doch über diese vielleicht stille, aber stets gegenwärtige verfassunggebende Gewalt w i r k t er anarchisch-revolutionär immer weiter hinein i n die Institutionen: Es kommt zur „Theorie der natürlichen Institutionen", die nichts anderes sind als Fortsetzungsversuche der Revolution. A n einem Punkt ist dies, i n mehreren Ländern, deutlich sichtbar geworden: i m Ausbruch i n Formen der unmittelbaren Demokratie. Der Volkssouverän läßt sich eben letztlich auch nicht i n Wahlen fesseln, er ruft immer wieder nach dem, worin der institutionsfreie, der revolutionär-anarchische Zustand Wirklichkeit wird: Referendum und Plebiszit über die entscheidenden Fragen. Hier bedarf es keiner besonderen Legitimation, fast natürlich fügen sich diese Formen in die Volksherrschaft ein, selbst i n die altehrwürdigen Institutionen der englischen Repräsentativdemokratie. Allenthalben wachsen neue demokratische Originärkräfte an die Oberfläche, Abstimmungskörper formieren sich i n der Demokratisierung der Gesellschaft, der Schulen, der Universitäten. Und gerade hier ist es systemkonform für die revolutionär-egalitäre Herrschaft, wenn die Hochschuldemokratie i n revolutionären Aufständen erzwungen und sodann vom demokratischen Gesetzgeber ratifiziert wird, der darin nur eine weitere Entfaltung
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„natürlicher Institutionen" erkennen zu können glaubt — i n denen unendlich viel von alten Ordnungen untergeht. I m Grunde bedeutet all dies eine Weiterentwicklung der revolutionär-anarchischen verfassunggebenden Gewalt i n die Institutionen hinein. Diese verfassunggebende Gewalt hat die Demokratie für sich geradezu monopolisiert, nur i n „demokratischen Formen" kann die Verfassunggebung, kann ein institutioneller Neubeginn geschehen. Gerade weil die Revolution als solche akzeptiert ist, kann auch i n ihr nur Demokratie sein, sie darf nurmehr demokratisch wirken. Was als eine große, wahrhaft liberale Zukunftsöffnung begann, das Ja zur Revolution, w i r d zur geistigen Verengung durch ein Denken i n egalitären Formen der Volksherrschaft. Die revolutionäre Demokratie-Ideologie hat sich, vor allem i n Frankreich, noch höher gesteigert, bis zur Überzeitlichkeit einer „republikanisch-revolutionären Tradition". Die Einzelrevolution ist lediglich ein Phänomen, sie bedarf gar keiner Legitimation an sich, ist sie doch nur Ausdruck dessen, was immer hinter den Institutionen steht: der laufend sich entfaltenden Volksgewalt. Hier kommt es zu einem erstaunlichen Umschlag: I n der höchsten Steigerung der Negativ-Ideologie der Revolution schlägt diese um i n ihre Gegenkategorie, i n jene Tradition, die die stärkste Legitimation der bleibenden Ordnung ist. Aus ihr zogen Anarchien und Oligarchien ihre Begründungskraft, sie w i r d nun, i n der Dauerfluktuation des Revolutionären, zum ständigen Negativ-Aufruf gegen alle Ordnung. Demokratie und Revolution litten unter ihrer Geschichtslosigkeit, welche so oft für sie Legitimationsschwäche bedeutet hat. Hier nun hat die Demokratie die Geschichtlichkeit okkupiert, mit dem, was doch eigentlich gar keine Geschichte haben oder auch nur zulassen kann, mit den anarchischen Formen der Revolution. I n der republikanisch-revolutionären Tradition des demokratischen Frankreichs ist etwas geschaffen worden wie ein Herkommen der Herrschaftslosigkeit, die Anarchie hat sich i n der Zeit ebenso ausgedehnt, wie sie sich i n alle Institutionen hinein verbreiternd durchsetzt. Und in der Tat ist dies nicht antianarchisch, sondern höchst anarchiekonform gedacht: Die systematische Herrschaftslosigkeit nimmt ja für sich die Legitimation des Unvordenklichen, des uralten herrschaftsfreien Naturzustands i n Anspruch; warum sollte sie dann nicht ihre Geschichte haben, sich i n ihrer Tradition i n zahllosen Erscheinungsformen stets selbst gleichbleiben und sich dadurch gerade besonders legitimieren? Monarchischen und oligarchischen Regimen hat man Traditionssuche nachgesagt; i n Wahrheit aber drängt kaum eine Bewegung stärker i n die Tradition als die der demokratischen, ja der anarchischen Révolu-
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tionäre. Sozialistische Richtungen, welche doch rein zukunftszugewandt sich dem Bürger präsentieren, suchen denn auch, mehr als andere politische Kräfte, stets ihre eigene Geschichte, etwa die der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts, sie nehmen es i n Kauf, daß sie i n der alten, kaum mehr verständlichen Sprache dieser Tradition sprechen, daß sie Probleme lösen, die längst vergangen sind — alles u m einer Traditionssuche willen, die nicht mehr nur ein Geschichtsdefizit auffüllen soll, i n der sich vielmehr der zeitlose anarchische Untergrund dieses Denkens selbst bestätigen möchte. Nur aus einer revolutionären Tradition heraus, i n der die verfassunggebende Gewalt des Volkes stets gegenwärtig ist, kann es denn auch zu einer „Theorie der permanenten Revolution" i n der Demokratie kommen, i n welcher deren Negativ-Ideologie der Anarchie wohl am nächsten kommt. Die ständig wirksame verfassunggebende Gewalt belebt die Institutionen und transformiert sie laufend. Was immer hier i n der rechtlichen Diskussion ausgeführt w i r d über „offene Verfassungen", „sich ändernde Umstände", „gewandeltes Bewußtsein der Bürger", bis h i n zur Theorie des radikalen Verfassungswandels — hinter all dem stehen keineswegs nur Dynamisierungsversuche aus angeblich verkrusteten Verfassungsstrukturen heraus; an politischer Dynamik bieten ja schon die laufenden Wahlen mehr als genug. I n der Demokratie ist all dies vielmehr Ausdruck des permanenten, virtuell-revolutionären Wandels, den der Überbau der Institutionen verdecken mag, den er nie aufhalten kann. Wo aber die egalitäre Demokratie kein Organ mehr hat für diese permanente Revolution, da entwickelt sie sich i n der Tat in „undemokratische Ordnungsvorstellungen hinein", dort w i r d sie wirklich zur unbewußten Fortsetzerin monarchisch-oligarchischer Staatsgewalten; und nichts anderes hält ja die K r i t i k der Entwicklung i n der Bundesrepublik i n den letzten Jahrzehnten vor. Demgegenüber w i r d nun immer wieder die ideologische Fackel der Volkssouveränität entzündet, und kann, muß sie nicht u m so heller brennen, je stärker „unten", i n Administration und Judikative, die Ordnung verfestigt — erscheint? Doch solche revolutionären Sorgen sind i m letzten unbegründet: Der Ordnungsverlust ist groß genug; und er liegt i m Geistigen, weil er eben aus überinstitutioneller Negativ-Ideologie kommt. Nur i n der Demokratie gibt es diese Theorie der Revolution, nur dort w i r d sie doch irgendwie „positiv" bewertet, als Reservegewalt geradezu eingesetzt und damit, wenn man so sagen darf, „theoretisch institutionalisiert". Alle Staatlichkeit aber, die von solcher Kraft i m Höchsten gehalten wird, bleibt damit bedingt, sekundär i m Geiste ihrer Bürger. Was dies
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jedoch bedeutet, das erleben die Herrschenden täglich. Und sie können dagegen nicht reagieren mit den Ordnungsvorstellungen anderer Staatsformen, i n denen es nicht nur Verbrechen, sondern Sünde ist, sich grundsätzlich gegen die Ordnung zu wenden — geschieht dies i n der egalitären Volksherrschaft, so kommt es aus der höheren Vernunft der revolutionären Negativ-Ideologie, und wie könnte eine Staatsgewalt es wagen, hier wirklich zu strafen? Für alle Volksbewegungen ist es entscheidend, daß sie sämtliche politischen Räume so besetzen können, daß „außerhalb von ihnen nichts mehr sein kann" als der Widerstand der Wenigen und Gestrigen. Die egalitäre Demokratie hat das Gebot „Laßt euch nicht überholen!" stets ernst genommen, bis i n ihre Ideologie der Revolution hinein; radikaler als sie kann niemand sein, so scheint es doch, dynamischer als ihr anarchisch fluktuierender Verfassunggeber, das egalitäre Volk, vermag keine politische Kraft zu wirken. Wenn es also außerhalb von ihr nichts geben darf, kann sie dann nicht den Ordnungsverlust ertragen, weil da niemand ist, der eine Gegenordnung aufzurichten vermöchte? Darf aber dann die egalitäre Demokratie nicht den Ausbruch aus ihrer Gleichheitsgewalt i n revolutionäre Anarchie i n grundsätzlicher Gelassenheit hinnehmen, da sie doch alles „grundsätzlich besetzt hält", i m Raum und, über ihre revolutionäre Tradition, sogar i n der Zeit? Hier stellt sich die letzte Frage dieser Negativ-Ideologie: Kann es einen Ausbruch aus ihr noch geben? Es gibt ihn, die Geschichte hat es immer wieder bewiesen: i n die persönliche Gewalt des Diktators.
X I I I · Exkurs: Der internationale Ordnungsverlust — Anarchieexport der Demokratie Die egalitäre Demokratie ist das K i n d des Nationalismus, nur i n der Bedeutungssteigerung des Staatselements „Volk" w i r d sie wirklich legitim, die nach außen, i m internationalen Zusammenleben, die „souveräne Nation" hervorbringt. Darin lag und besteht noch immer eine bedeutsame Ordnungschance des internationalen Rechts: daß sich nämlich die Demokratien selbstgenügsam und friedlich auf die Ordnung ihrer inneren, ihrer einzigen, nämlich ihrer völkischen Angelegenheiten zurückziehen. Die Französische Revolution hat dem Volk die absolute Souveränität nach innen gebracht; kann es nicht gerade deshalb Souveränitätsbeschränkungen nach außen, durch fremde Hoheit, anerkennen? I n diesem Sinne hat die Demokratizität nicht selten gewirkt, aus solchen Grundideen heraus sind Völkerbund, Vereinte Nationen und überstaatliche Zusammenschlüsse aus demokratischem Denken gewachsen. Verständlich ist es daher, daß die revolutionär-anarchische Friedund Ordnungslosigkeit i m Innern manchem erträglich scheinen mag mit Blick auf eine mögliche Weltordnung, in der all dies i n höherer Demokratie zur Ruhe kommt. Ohne solche positiven Seiten zu vergessen — i m Zusammenhang dieser Untersuchungen gilt es, einmal die Gegenfrage zu stellen: W i r k t nicht die dynamisch-anarchische, die institutionalisierte staatsrechtliche Unfriedlichkeit der Volksherrschaft, die zum inneren Ordnungsverlust führt, über die Grenzen hinaus? Gibt es nicht doch etwas wie einen „Anarchieexport der Demokratien", zerstört er nicht auf Dauer vieles an jener internationalen Ordnung wieder, welche demokratische Friedfertigkeit geschaffen hat? Daß dies hier noch i m Anschluß an das Problem der ideologischen Grundlagen der Demokratie erörtert wird, hat einen guten Grund: Über die Grenzen hinausgetragen w i r d ja, die Entwicklung hat es immer wieder gezeigt, nur ein Denken, das i n ideologisch begründeter Mächtigkeit wirken kann. Das pragmatisch-politische K a l k ü l mag stets dasselbe sein, i n der Innen- wie i n der Außenpolitik, doch es bewegt nichts „von innen nach außen". Nur wo ideologische Allgemeinheit über Innenpolitik hinauswächst, wo moralisierende Intensität eingesetzt wird, da kann und darf sich die Politik nicht auf nationale Ord-
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nungen — oder Unordnungen — beschränken. A m Problem des „Anarchieexportes der Demokratie" w i r d sich also zugleich noch einmal die ideologische Intensität erweisen, mit der hier der Verlust der Ordnung einhergeht. 1. Die „wesentliche Grenzüberschreitung" der „demokratischen Ideologie" Grenzüberschreitende Wirkungen der Staatsformen lassen sich immer wieder i n der Geschichte beobachten. Denken und institutionelle Formen, vor allem der Monarchie, haben das beginnende moderne Völkerrecht wesentlich geprägt. Da entstanden nicht nur völkerrechtliche Ordnungen, ja internationalrechtliche Kategorien aus den monarchisch-familiären Rechtsformen und Instituten der Familiengewalt, der Heiraten, der Territorialherrschaft; internationalisierend über die Grenzen hinaus wirkte der monarchisch-aristokratische Lebensstil, die Internationalisierung und Verflechtung der herrschenden Schichten. Doch der Einfluß, der auf solche Weise von den monarchisch-aristokratischen Staatsformen auf die internationale Ordnung ausging, betraf vor allem einzelne rechtliche Kategorien, die sich damals entwickelten, Kontakt- und Handlungsformen i m zwischenstaatlichen Bereich. Darüber hinaus mochte es zu ständigen Versuchen der konkreten Machterweiterung bestimmter Dynastien und Staaten kommen. Darin lag aber noch nicht systematisch-institutioneller Herrschaftsexport, i n dem die Durchorganisation anderer Staaten nach eigenem inneren Vorbild versucht worden wäre. „Exportiert" wurden Personen, Prinzen, Dynastien. Erst i n den Spätperioden einer sich bereits von demokratischen Erschütterungen bedroht fühlenden Monarchie, von den Zeiten der Restauration an, kommt es zu Versuchen des Zusammenschlusses dieser Staaten und der gemeinsamen Anstrengung, ihre Staatsformen international durchzusetzen oder wenigstens zu erhalten. Doch dies ist bereits nurmehr eine Reaktion auf die demokratische Herausforderung aus Amerika und aus dem revolutionären Frankreich. Monarchien und Aristokratien ist es denn auch weiterhin nicht gelungen, mehr zu exportieren als regierende Familien, während inzwischen der große Herrschafts- und der Anarchieexport aus den Demokratien anlief. Die internationale Politik der vergangenen zwei Jahrhunderte zeigt eine nicht mehr abreißende Serie von politisch-ideologischen Expansionen des immer radikaleren demokratischen Denkens i n die inneren Ordnungen fremder Staaten hinein. Sicher — viele dieser Gedanken
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wurden auch gerufen, der Raum für ihre Entfaltung war bereitet. Doch dies ändert nichts daran, daß es fast immer zunächst geistige Invasionen waren, die mit typisch demokratischer Radikalität die Grenzen überschritten; und nicht selten folgten ihnen die Volksheere. Mochte noch i m Verhältnis der jungen amerikanischen Demokratie zum beginnenden französischen Volksstaat der Revolution eine vielfache Wechselwirkung geistiger Exporte und Re-importe stattfinden, die neue französische Demokratie trug ihre Ordnungs-, vor allem aber ihre anarchischen Vorstellungen explosionsartig und mit militärischer Gewalt über die Grenzen, geistig über die ganze Welt. Was dies an Anarchisierung des internationalen Zusammenlebens hätte bedeuten können, ist nie wirklich deutlich geworden, wurde es doch alsbald durch Napoleons Rückkehr zum Aristokratismus überdeckt, mehr noch durch eine mächtige Restauration. Sie hat das Völkerrecht erst recht i n festen monarchischen Ordnungen zementiert, eben aus der Furcht heraus, eine sich allenthalben durchsetzende Demokratizität könne alle Grundlagen der bisherigen Völkerordnung zerstören. Und so stark war diese Festlegung, daß sie spätere radikal-demokratische Anarchisierungsexporte weithin überbauen konnte, schon weil diese nicht mit jener Allgemeinheit kamen, welche allein eine Systemveränderung, eine neue „internationale Ideologie" hätte schaffen können. Die Russische Revolution hat dann erneut radikal-egalitären Ideologieexport unternommen, mit ihren ursprünglichen weltrevolutionären Territorialöffnungsversuchen ebenso wie i m Recht der Diplomatie oder der Verträge. I n manchen Punkten, bei den Schuldenregelungen und der de facto-Anerkennung, wichen die traditionellen Ordnungsstrukturen des internationalen Rechts zurück, es kam zu Ordnungsabschwächungen, zur Anerkennung revolutionärer Faktizität, welche vorher kaum denkbar gewesen wäre, doch die wesentlich undemokratische Ordnung der internationalen Beziehungen überdauerte diese Stöße. I m Ersten Weltkrieg war es zu weltweiter Verunsicherung, vor allem i m Kriegsrecht, gekommen; i m Namen des „Kampfes der Nationen u m ihr Überleben", aus i m Grunde demokratischer Ideologie heraus also, hatte man manche bisher geheiligte Kampfregel aufgeben müssen. I m Selbstbestimmungsrecht der Völker kamen neue populistische Rechtsvorstellungen herauf, welche die bestehende internationale Ordnung anarchisiert hätten, wären sie nicht sogleich durch den konservativen Willen der Siegermächte i m Keime erstickt worden. I m Zweiten Weltkrieg sollte sich all dies i n größerer Dimension wiederholen: Die Einbrüche i n die ordnenden Regeln des Kriegs- und des Neutralitätsrechts, Massenvertreibungen und Massenausbürgerungen — all dies wurde geistig gerechtfertigt mit dem Hinweis auf die „vitalen
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Interessen der kämpf enden Völker", der Notwendigkeit, ihren „Lebensraum" auf Dauer zu sichern. Mehr noch, von westlicher wie von östlicher Seite wurden nunmehr „Kreuzzugsideologien" entwickelt, mit denen die jeweilige demokratische Vorstellung mit Gewalt den besiegten Feinden aufgezwungen werden sollte, ohne Rücksicht auf deren nationale Traditionen. Nur die Vollständigkeit der Niederlage hat vergessen lassen, welch beispielloser demokratischer Export damals unternommen worden ist, i n welch ungehemmter Weise sich eine wahre geistige Invasion nicht nur i n die besiegten Länder, sondern weit darüber hinaus, mittelbar i n alle Staaten der künftigen Dritten Welt, entfalten konnte. M i t der Rechtfertigung des großen Sieges, der besten, die es gibt, drang demokratisches Denken i n die internationalen Rechtsstrukturen ein, bis h i n zur Schaffung der Vereinten Nationen als „Weltparlament". Und schließlich hat er versucht, ideologisierend die Weltherrschaft demokratisch-politischer Strukturen zu errichten. Auch i n neuester Zeit setzt sich dieser Ideologieexport, trotz so mancher politischer Rückschläge, noch immer nahezu ungebrochen fort, und an i h m beteiligen sich nunmehr mit besonderem Eifer jene Demokratien, welche verspätet zur Volksherrschaft gekommen sind, wie die Bundesrepublik Deutschland: M i t kaum verhülltem international-politischen Druck, bis h i n zu hartem Boykott, w i r d fremden Staaten die Grundstruktur des eigenen politischen Denkens aufgezwungen — freie Wahlen, Mehrparteienregime. Die Europäische Gemeinschaft, welche die Mitgliedschaft von der Erfüllung derartiger demokratischer Postulate abhängig macht, hat sich auf diese Weise zu einem großen „Freihandelsplatz demokratischer Ideen" entwickelt. Mehr noch: M i t der Forderung nach Gewährung der Menschenrechte versucht die freiheitliche Demokratie den Vorstoß bis i n die Zentren der autoritären, der totalitären Gewalten hinein. Wie immer man dazu moralisch stehen mag — daß es auf diesem Wege zu massiver Einmischung i n die inneren Angelegenheiten fremder Länder kommen muß, läßt sich, nach herkömmlichem Völkerrecht jedenfalls, kaum bestreiten. Doch solange laufen schon die Versuche dieses Demokratieexports, derart mächtig haben sie gewirkt, i n solcher Tiefe konnten sie das Bewußtsein der demokratischen Staaten prägen, daß all dies heute bereits als ein Ausdruck der politischen Moral erscheint, die ganz selbstverständlich i n jedem Völkerrecht mitgedacht sei. Bewiesen w i r d dadurch allerdings nur eines: der wahrhaft ideologische Charakter dieser demokratischen Grenzüberschreitungen. Jede Staatsform, welche internationale Erfolge aufzuweisen hat, mag ein Vorzüglichkeitsgefühl der eigenen Werte entwickeln, und es ent-
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spricht vor allem angelsächsischem, aber auch deutschem Denken, daß dies sogleich mit moralisierender Intensität i n Erscheinung tritt. Doch dies allein würde die beispiellosen Grenzüberschreitungen nicht erklären, stünde dahinter nicht die Dynamik der freiheitlichen Demokratie als solcher, i n ihren innersten Denkgesetzen: Über den nationalen Abstimmungsgremien erscheint die „Menschheit" geradezu als eine höchste Regierungsinstanz, die auf Menschenrechten aufgebaut ist und sich i n Abstimmungen zu äußern hat. Hier werden die Staaten letztlich eben doch nur als Autonomieträger mit begrenzter Kompetenz verstanden, welche nie gegen „höhere Normen" sich vergehen dürfen. Und i n diesem eigentümlichen Sinne ist die Kelsensche Stufenlehre zur juristischen Grundlegung dieser demokratischen Grenzüberschreitungen geworden. Der „andere demokratische Zug", der radikal-egalisierende des Kommunismus, hat übrigens demgegenüber seine eigene, ebenso massive Grenzüberschreitung schon früh, nahezu gleichzeitig und i n besonderer Intensität entwickelt: Weltrevolution, Vereinigung der Proletarier aller Länder, Befreiungskriege. Konzentrisch aus Ost und West laufen so Angriffe i m Namen der „Demokratie" auf jene Souveränität der Einzelstaaten, die einst einmal heilig sein sollte — gerade i m Namen des Volkes; und was „Volk" sein darf, bestimmen eben nun andere, Stärkere . . . 2. Die anarchisierenden Wirkungen des „Demokratieexports" I n einem w i r k t all dieser Demokratieexport ganz grundsätzlich ordnungsauflösend, anarchisierend, i n den betroffenen anderen Ländern wie i n den internationalen Beziehungen als solchen: I n das Element „Herrschaft" w i r d von außen eingegriffen, die nach internationalem Recht ja grundsätzlich geschlossene Staatlichkeit w i r d nach außen durchlässig, und zwar i m Zentrum ihrer Ordnungsmacht. Das Selbstbestimmungsrecht der Staaten, diese Grundlage des modernen Völkerrechts, ist i m letzten monarchisch, vielleicht noch konstitutionalistisch gedacht, nicht aber radikal-demokratisch. Dieses Recht verlangt ja die Undurchdringlichkeit der Herrschaft von außen, die absolute innere Souveränität. Vor ihr muß alles Halt machen, auch wenn es i m Namen einer angeblichen „politischen Moral" aus dem Ausland kommt. Wenn das Schlagwort vom Imperialismus überhaupt einen greifbaren Inhalt hat, so diesen: daß i m Namen irgendwelcher übergreifender politischer, freiheitlich-demokratischer oder kommunistischer, Staatsvorstellungen versucht wird, fremde Herrschaft von
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außen ideologisch aufzubrechen. Wenn dies nämlich gelingt, ohne daß es zu Kolonialismus oder zur Weltherrschaft kommt, so w i r d der internationale Bereich anarchisiert, weil seine Rechtsträger „aufgelöst" werden; die innere Anarchie w i r d begünstigt, indem den bereits bestehenden Widerstandskräften noch sozusagen „Widerstand von außen induziert" wird. Demokratien mußten schon nach dem Ersten Weltkrieg, sie müssen heute noch mehr für jenes eigenartige „Selbstbestimmungsrecht der Völker" eintreten, das verständlicherweise noch immer vom klassischen Völkerrecht abgelehnt worden ist, weil es seine grundsätzlichen Ordnungsvorstellungen zerstören müßte. Denn was soll ein „Volk" i n diesem Sinne denn konstituieren, wie sollen die Abstimmungskörper geschaffen oder auch nur anerkannt werden? Aus radikal-demokratischem Denken heraus ist dies leicht vorstellbar, es ergeben sich all diese „Völker" eben „ganz natürlich", ohne die Vermittlung irgendwelcher Herrschaft. Da das Volk „zu Hause" als etwas Natürlich-Vorgegebenes erscheint, das unbeschränkt wirksam sein darf, muß es doch auch i m Außenraum „Völker" geben, ohne jede Ordnung, sozusagen i m Naturzustand. Davon geht alle Demokratie „ganz natürlich" aus, seit ein Stuhl freibleiben mußte für „la Pologne". I n diesem Sinn war auch der deutsche Kampf gegen Versailles nach 1919, i m Namen des Selbstbestimmungsrechtes der Völker, nur i n der neuen Demokratie möglich und wahrhaft aus demokratischer Ideologie heraus entfacht. Wer das Selbstbestimmungsrecht der Völker ernst nimmt, hat damit grundsätzlich den Staat, die Herrschaft, damit aber die Ordnung unter das Volk gestellt, unter die ungeordnete anarchische Vielfalt. Befreiungskriege müssen aus solcher Ideologie heraus immer mehr anerkannt werden, bis h i n zum Vorwand für eigenes Eingreifen. Und hier sind es keineswegs nur die bekannten Auswirkungen kommunistischer Ideologie, welche international anarchisierend bei anderen Unordnung schaffen: Längst vorher schon wurde das Recht der Anerkennung der Kriegführenden, ja der Aufständischen entwickelt, und nicht umsonst war es die große amerikanische Demokratie, welche es auf ihrem Kontinent durchgesetzt hat; denn es ging hier nicht nur u m die rasche Anerkennung faktischer Lagen und damit die Wahrung eigener Interessen i n diesen, dahinter stand stets auch ein eigentümlicher favor für das i n Revolution und Anarchie aufstehende fremde „Volk". Immer weiter wurde die „Vermutung für die Berechtigung der bestehenden Herrschaft" zurückgedrängt. I n denselben anarchisierenden Zusammenhang gehört es, daß aus demokratischer Grundeinstellung heraus immer rascher der revolutionäre Umsturz i n fremden Ländern anerkannt wurde. Dahinter moch-
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ten, vor allem bei der englischen Politik der frühen Anerkennung, eigene Interessen stehen, die zunächst gewahrt werden sollten; doch i n dieser unverhohlenen Revolutionsbegünstigung zeigten sich eben immer mehr und häufiger auch demokratische Überzeugungen von der Berechtigung all dieser Bewegungen, die durch die „Theorie des Faktischen" nur verschleiert waren. Damit aber wurde die Möglichkeit für einen raschen „Umschlag der inneren Anarchie nach außen" geschaffen, welcher sodann bereitwillig von den Nachbarstaaten i n demokratischem Geist ratifiziert wurde. Der demokratische Ideologieexport geschieht heute vor allem über die Medienkritik, die vor keiner Grenze Halt macht. Daß es hier zu laufenden Subversionsversuchen kommt, von Ost wie aus dem Westen, daß sich darin ständige anarchisierende Stöße auf die internen Ordnungen der betroffenen Länder richten, w i r d hier wie dort immer nur aus einem gerechtfertigt: daß das Volk zu befreien sei, daß i h m i m Namen der Demokratie bei seiner Herrschaftskritik von außen Hilfe geleistet werden müsse. Es ist konsequent, wenn nicht selbstverständlich, daß es dann nicht gelingen kann, derartiges durch internationale Konventionen zu verhindern; was vermöchten auch Recht und Vertrag gegen eine Ideologie, die, i n allen „demokratischen" Ländern wenigstens, über ihnen steht? Der anarchisierende Demokratieexport gegen die fremde Ordnung läßt sich auch leicht noch steigern. Da ist der „Volkszorn", welcher sich gegen fremde Missionen entlädt und den man, aus demokratischer Überzeugung, auch wirksam steuern darf; und er läßt sich ja auch organisieren. Da sind aber schließlich die „Freiwilligen", die zum Befreiungskampf i n die „undemokratischen Länder" gesandt werden dürfen, wenn nicht müssen. Wohl steht hinter so massiven Aktionen meist schon der traditionelle Versuch der Ausweitung eigener Macht; doch nicht selten und regelmäßig i n den Anfangsstadien geht es nur u m eines: u m anarchisierende Zerstörung dortiger Ordnung, ohne daß schon absehbar wäre, welche neue Ordnung nun kommen soll; und solche Hilfen lassen sich ja auch — humanitär leisten. I n all dem mag politischer Expansionswille liegen, oft ist es aber auch wirklich nur eine ideologisch getragene Anarchisierungswelle, welche die Grenzen überschreitet, i m Namen der Demokratie.
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3. Internationale Anarchisierung durch nationalen Ordnungsverlust Rechtlich betrachtet w i r k t dieser Anarchieexport der Demokratie auf zwei Ebenen: I n erster Linie bedeutet er Ordnungsabbau i n den anderen Staaten. Doch zugleich kommt es über diese „Durchlässigkeit der Souveränitäten" zu einem Ordnungsverlust i n der internationalen Gemeinschaft als solcher, zu einer Anarchisierung der internationalen Beziehungen selbst. Manche demokratische Grenzüberschreitung mag mehr i n dem ersteren Sinne wirken — wie etwa die gezielte Propaganda — andere führen i n erster Linie zu Anarchisierungen i n den internationalen Beziehungen, etwa die Verwilderung der Kriegssitten i m Namen der „Rechte des Volkes". Politisch lassen sich aber letztlich all diese Wirkungen kaum i n solcher Weise aufspalten, der „Ordnungsverlust außen" bildet, aus internrechtlicher Sicht, weithin eine politische Einheit: Wer die fremde Souveränität mißachtet, den Durchgriff durch sie i m Namen der Demokratie zuläßt, der hebt die klare Ordnung der Völkerrechtssubjekte auf und beeinträchtigt damit die zwischenstaatliche Ordnung als solche. Das Völkerrecht der neuesten Zeit ist eben i n erster Linie eine Exteriorierung innerstaatlicher Ordnungen, darum w i r d es nicht mehr allein, wie i n früheren Zeiten, durch eine Völkerrechtsleugnung gestört, welche aus übersteigertem innerstaatlichem Souveränitätsbewußtsein käme. Ebenso Ordnungsschwächend w i r k t vielmehr der Verlust der inneren Ordnung i n Anarchie; sehr häufig ist die Souveränitätsübersteigerung mit ihren völkerrechtsleugnenden Effekten nurmehr Schwächereaktion einer bereits von innerem Ordnungsverfall bedrohten Staatlichkeit. Wie sehr der Verlust der inneren Ordnungen m i t der der internationalen Ordnung einhergeht, zeigt das Phänomen des internationalen Terrorismus: I n erster Linie stets eine Erscheinung moderner RadikalDemokratisierung, w i r k t er rasch i n die internationale Ordnung hinüber, welche nicht mehr i n der Lage ist, seine anarchisierenden Auswirkungen dort zu regulieren. Die große Hoffnung schließlich, daß eine moderne internationale Demokratie, daß die Vereinten Nationen all das wieder an Ordnung ersetzen könnten, was sich i m Inneren der Einzelstaaten abschwächt, hat sich nicht erfüllt — i m Gegenteil: I m Namen zahlreicher „VolksAnsprüche" w i r d die internationale Ordnung fast täglich weiter geschwächt, immer häufiger finden interne Anarchien hier ein w i r k kräftiges Forum. Was sich aber i n den Vereinten Nationen vollzieht, ist nur das A b b i l d der Entwicklung des modernen Völkerrechts. Seine Abschwächung verstärkt, umgekehrt, sogar noch den Ordnungsverlust
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seiner Gemeinschaftsmitglieder, weil dort ihre internen Unordnungen international ratifiziert werden. 4. „Anarchie außen" — eine demokratische Hoffnung Anarchieexport w i r d jedoch von Demokraten vielleicht als ein gefährliches politisches Geschäft, es w i r d i n i h m aber keineswegs grundsätzlich eine Form der Selbstzerstörung gesehen. Oft soll hier nichts anderes stattfinden als eine Schwächung fremder Positionen durch Export eigener Ideen, wie i m Rahmen der besonders hoch entwickelten demokratischen Kriegspropaganda. Und versiegelte Salonwagen mit Revolutionären hat jedes Regime gern i n feindliche Länder geschickt. Hinzu kommt nun aber eine typisch demokratische Intensität des überzeugten Anarchieexports; sie w i r d aus verschiedenen Quellen gespeist: — Ins Ausland wird, durch Propaganda oder staatspolitische Aktionen, getragen, was i n heimischer Politik keine Verwirklichungschance hat. Eine ganz typische Erscheinung der entwickelten Spätdemokratie ist es, daß all jenes Überschießende, an dem anarchische Bewegungen ja so reich sind, alle utopischen Spitzen politischer Programmatik, i n erster Linie nach außen gerichtet werden, würden sie sich doch i m Inneren an der bestehenden Ordnung brechen. Dieser anarchisierende Wunschexport findet nicht nur häufig i m Rahmen entwicklungshelferischer Sozialarbeit statt, er ist demokratischer Außenpolitik schlechthin eigen, welche den autoritären Splitter i m Auge des Freundes schärfer erkennt als die Balken unverwirklichter Radikaldemokratie i m eigenen Lande. Grenzüberschreitende Menschenrechtsbegeisterung ist hier ein heute schon historisches Beispiel. — Doch all dies ist nicht nur Wunsch und Utopie, es lassen sich auch gute politische Gründe für diese überschießende Außentendenz demokratischer Ideologisierung finden: Was i m internen Bereich sprengend wirken könnte, ist es nicht erträglich i n einer „größeren Ordnung der internationalen Gemeinschaft", w i r d es dort nicht „aufgefangen", kanalisiert? Kann, muß nicht so viel mehr an Demokratie exportiert werden, als i m Inneren gebraucht wird, schon weil sich die Preise für demokratische Ideen auf dem internationalen Markt ohnehin nach unten einpendeln werden? Muß nicht jede Ideologie i n der kompromißgeprägten Atmosphäre des zwischenstaatlichen Zusammenlebens mit besonderer Macht antreten, weil es so viele Reibungsverluste von vorneherein einzukalkulieren gilt? Und ist nicht der „Programmkoeffizient" nach außen gewendeter 21·
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Ideologie von vorneherein schon viel stärker, als wenn sie i m Inneren verkündet würde, wo ihr doch stets recht bald die Realisierungsfrage gestellt wird? — Und übrigens: Die internationalen Beziehungen sind ja viel weitergehend demokratisierungsbedürftig als internes Recht und innerstaatliche Politik. Der überzeugte Demokrat w i r d einen Niedergang des herkömmlichen Völkerrechts sogar noch positiv sehen, ist doch diese Ordnung aus feudalistisch-monarchistischen Perioden übernommen, gilt es doch, sie von autoritär-kolonialistischen Verkrustungen zu reinigen, ihre Illegitimität durch demokratische Strukturen aufzuheben. Und so gibt es etwas wie demokratische Vorbehalte gegen das herkömmliche Völkerrecht als solches, welches W i derstand und Revolution zwar mehr als früher ratifiziert, sich der großen Revolution als einem juristischen Produktionsprinzip aber noch immer „nicht hinreichend geöffnet" hat. — Für demokratische Ideologie ist und bleibt der „Weltstaat" oder kleinere, kontinentbegrenzte Weltstaaten stets ein fernes Ziel, kein Traum, und auf diesen Weg soll der Demokratie-, ja der Anarchieexport führen. Die kleine Utopie des anarchisch-demokratischen Durchgangszustandes i n den Staaten w i r d i n Kauf genommen u m der großen und immer realeren Utopie der Welteinigung willen, i n der alle Demokraten eins sein werden. Hier erreicht die Demokratie eine heute nurmehr selten offen zugegebene, eine immer innerlich bewahrte, i m höchsten Sinne ideologische Intensität. So erklärt sich eine gewisse Teilnahmslosigkeit, mit welcher überzeugte Demokraten nicht nur das Ende undemokratischer Ordnungen i n Nachbarländern, sondern selbst den Abbau völkerrechtlicher Ordnungen verfolgen. Eigentlich möchte man meinen, Abschwächung und Untergang so vieler früherer internationaler Ordnungsformen, von der Kriegserklärung bis zum Verbot der Kommandounternehmen auf fremdem Staatsgebiet, könnten die Hoffnungen auf den künftigen Weltstaat trüben, müßten von Demokraten verabscheut werden. Doch viel stärker ist eben die demokratische Teleologie, die aus anarchischem Unendlichkeitsstreben kommt: Ordnungsverlust, der ad maiorem Democratiae gloriam stattfindet, ist das an sich Gute, gleich, ob er i m fremden Land oder i n der zwischenstaatlichen Ordnung sich auswirkt. Und weil Herrschaft für Demokraten ganz wesentlich „von unten kommt", kann sie nicht aus den Höhen des internationalen Rechts erwartet werden, das es vielmehr von unten aufzulösen gilt; hier trennt sich die demokratische Ideologie auch vom Kelsenschen Stufenbau. Sie denkt i n Herrschaftsauflösungen, nicht i n Ordnungschaffung.
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5. Der anarchische Rückschlag: Re-Import der Ordnungslosigkeit von außen Doch der Ideologie- und Institutionenexport i n fremde Staaten wie in die internationalen Strukturen — hier wollen w i r dies als eine Einheit betrachten — w i r d zum Bumerang der Ordnungslosigkeit: Exportierte Anarchie kann verstärkt zurückkommen. Wenn dies nur Herrschaftsabbau bedeutet, so mag es die Demokratie akzeptieren; doch es w i r d zu mehr — zum Verlust gerade der demokratischen Ordnungskraft. Daß es zu einem ordnungsauflösenden Rückschlag von außen i n die innerstaatlichen Ordnungen kommen muß, liegt auf der Hand. Westlicher Liberalismus hat demokratische Ideen und Herrschaftsauflösung nach Osten exportiert, i n einer riesigen geistig-politischen Rückbewegung kommen sie radikalisiert i n kommunistisch-sozialistischer Ideologie nach dem Westen zurück. Hier vollzieht sich auch nicht nur eine Ordnungsauflösung der westlichen Volksherrschaften, zugleich geraten diese i n die Gefahr, unter fremde, ideologische und politische Beherrschung zu fallen. Viele Jahre hindurch hat der Westen Demokratieund Anarchieexport nach Persien geleistet, von dort w i r k e n auf ihn nun anarchische Schübe i n vielfacher Brechung, über die islamische Welt, aber auch unmittelbar, wieder zurück; geistig vor allem muß er diese Radikalrevolutionen bewältigen, und dies geschieht ja durchaus nicht nur i n Ablehnung. Steigende internationale oder doch supranationale Verflechtung führt zu einem sofortigen Rückschlag und Durchschlag anarchischer Entwicklungen einzelner Länder i n die Rechtsordnung der anderen. Von Bauernprotesten in der Europäischen Gemeinschaft bis zum Beamtenstreik in den europäischen Verwaltungen — überall vollzieht sich sehr rasch eine Osmose anarchischer Bewegungen, welche die Bürger eines M i t gliedstaates „vom anderen über die europäische Gemeinsamkeit lernen"; und der Durchgriff des europäischen Rechts auf die nationalen Rechtsordnungen kann dies bald auch noch institutionalisieren. Was also als ein besonderer Fortschritt der modernen Überstaatlichkeit gepriesen wird, das Absterben der nationalen Ordnungen, gerade dies öffnet sie alle den sämtlichen Anarchismen, die i n einer solchen Gemeinschaft schon wirken. Privilegiert ist hier jeweils die stärkste Anarchie in ihrer ausufernden Wirkkraft. Demokratien exportieren i n fremde Länder vor allem Autonomievorstellungen, aus denen heraus nur zu häufig die Staatlichkeit i n diesen Gebieten auseinanderbricht. Doch die Autonomie-Ideologie, eine besondere Unterform des Demo-Anarchismus, kennt keine Grenzen,
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die exportierte Demokratie kehrt hier oft i n ganz anderer Weise wieder zurück, als sie exportiert worden ist — die baskischen AutonomieAnarchismen sind ein warnendes Beispiel für Spanien und Frankreich. Sympathien für fremde Befreiungskämpfe i m Namen der Volksherrschaft, die Abschwächung der internationalen Reaktion gegen ihre Ordnungsverachtung, dies alles müssen die Demokratien — das zeigt sich schon heute — sehr bald auch mit innerem Ordnungsverlust bezahlen: Aufstandsbegeisterung entwickelt sich i n den Formen des „Terrorismus" — und wie könnte es in einigermaßen festgefügten Ordnungen anders sein, wie hätte je ein Befreiungskrieg anders begonnen? Es fällt dann schon schwer, diese Bewegungen i m Strafrecht festzuhalten, diesen Aufständischen nicht den Status der „Kriegsgefangenen" zuzuerkennen; konsequente Demokratizität tut dies m i t dem einfachen Hinweis darauf, daß ein Widerstand gegen die Demokratie ja ex definitione nicht stattfinden dürfe, eine wahrhaft allzu leichte Lösung! Und schließlich werden die Demokratien auch die Angst nicht mehr los, es könnten derartige Bewegungen vom Ausland finanziert, von fremden Geheimdiensten gelenkt werden; was wäre es übrigens anderes, als ein neuer Befreiungskrieg, der doch mit soviel Zustimmung betrachtet wird, wenn er „fern i n der Türkei" stattfindet? I n diesem internationalen Hin- und Herfließen der Anarchismen verstärkt sich aber vor allem i m Geistigen die Revolutionsromantik, insbesondere i n einer Jugend, die immer wesentlich über die Grenzen drängt. Ihr w i r d Verständnis, ja Sympathie für fremde Anarchie nahegebracht, warum sollte sie nicht zu Hause versuchen, was draußen gut ist? Soll sie daran eine Staatsgewalt hindern, welche doch i m Namen der Welt-Demokratie gerade bestrebt ist, die Unterschiede zwischen „außen" und „innen" abzubauen? Nicht zuletzt aber ist es eben eine große Ordnungsgefahr, die heute noch kaum erkennbar sein mag, die aber aus dem Wesen des Ordnungsdenkens selbst kommt: Irgendwie gibt es eine Einheit des Legalitätsbegriffs — über die Grenzen hinweg — des Rechtsgehorsams, der Ordnungsgewöhnung. W i r d dies an einer Stelle dieser Erde gebrochen, so verlieren hier, geistig-grundsätzlich, alle anderen Ordnungen irgendetwas von ihrer Verbindlichkeit. Es ist ja nicht nur immer die Legitimation einer bestimmten Ordnung, aus der heraus der Bürger ihr gehorsam ist, es gibt etwas wie das Selbstgewicht des Ordnens; den Selbstwert der Ordnung sucht gerade jenes breite Volk, dem sich die Demokratie stets verpflichtet fühlt. Schwächt sich dieses Selbstgewicht der Ordnung i n fremden Ländern oder, noch mehr, i n den internationalen Beziehungen ab, so kann man derartige Verbindlichkeitsverluste nicht einfach durch interne Machtverstärkung ausgleichen. I n
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diesem Sinne war es auch immer ein Irrtum, interne Souveränität übersteigert gegen internationale Ordnung auszuspielen; i n Wahrheit wachsen beide parallel, beide gehen auch zusammen unter. Sie sterben ab i m Herzen der Bürger, weil i m letzten die Ordnungsvorstellung stets nur eine sein kann. Und es bedarf schließlich gar nicht einmal mehr des Hinweises auf die allerletzte Gefahr des Anarchieexports: daß er nämlich die internationale Ordnung auflöst und damit fremder Gewalt das Übergreifen auf den eigenen Staat nur erleichtern kann. 6. „Selbstzerstörung von außen" Gerade die Demokratie muß unter diesen Anarchie-Rückschlägen leiden, sie gerät durch ihren Ideologieexport i n die Gefahr der „Selbstzerstörung von außen". Die innere Demokratie erleidet zunächst schon dadurch einen wesentlichen Legitimationsverlust, daß i n sie von außen Demokratievorstellungen hinein- oder zurückgetragen werden, welche sich von denen des Innenbereichs unterscheiden oder ihnen sogar konträr sind. Anarchische Kraft, zugleich aber auch Schwäche der DemokratieIdeologie ist ja deren Vielfalt, die sich i n der großen Bipolarität „freier" und kommunistischer Demokratizität keineswegs erschöpft. Die westliche Demokratie steht also stets i n der Gefahr, daß sie nach außen freiheitlich-anarchische Vorstellungen exportiert, daß jedoch kommunistische Demokratizität zu ihr zurückkommt, die hier nun i n ganz besonderer Weise anarchisch-ordnungsauflösend w i r k t — demokratiezerstörend. Daß radikale Minderheitsgruppen, möglicherweise vom Ausland unterstützt, i m Inneren ordnungsauflösend tätig werden, ist i m Grunde nur die praktisch-politische Auswirkung dieses größeren ideologischen Export-Import-Mechanismus. Demokratie ist dagegen nicht gefeit, sie ist solchen Gefahren besonders geöffnet. I n der Supranationalität findet heute, davon war schon die Rede, weithin nicht Ordnungsverstärkung, sondern eher eine Potenzierung gemeinsamer Anarchismen statt. Zugleich bedeutet sie aber auch einen Abbau der inneren Demokratie: Der Volkssouverän, die internen Parlamente, verlieren Entscheidungsmacht an supranationale Regierungsbürokratien, Verfassungsgerichte müssen sich sogar schon schützend vor die intern-demokratischen Grundrechte stellen, welche eben i n der Supranationalität bei weitem nicht i n gleicher Weise gesichert sind. Zwar sollte i n dieser Überstaatlichkeit ein Abbau nationaler Ordnungen zugunsten eines „größeren Volkes" stattfinden; i n Wahrheit aber breiten sich häufig nur Anarchismen von oben nach unten aus, jeden-
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falls aber w i r d demokratische, unmittelbar volkskontrollierte Ordnung durch eine Regierungsordnung ersetzt, welche sich immer weiter von den Quellen der Volksmacht entfernt, trotz aller Direktwahlen supranationaler Parlamente. Die supranationale „Ordnung i n fieri", mit all ihren offenen und versteckten Anarchismen, drängt die wohl formierte innerdemokratische Ordnung der Volkssouveränität zurück. Hier findet auch der Gleichheitsstaat des inneren Rechts seine Grenzen, i n diesem Ausbruch i n allzu oft nur ungleichheitsträchtige supranationale Privilegiengeflechte. Die Demokratie, wenigstens die freiheitliche, rüstet i n oft anarchisierenden Friedensvorstellungen ab, nicht allein innenpolitisch, sondern auch außenpolitisch gibt sie sich weithin preis, nicht nur i m Namen der materiellen Interessen der vielen Gleichen, welche Rüstungen nicht bezahlen wollen, sondern i n echt ideologischer Überzeugung von der Unmöglichkeit einer „Herrschaft durch Waffen". Doch auf absehbare Zeit w i r d es immer noch Regime geben, mögen sie sich nun demokratisch nennen oder nicht, welche solche pazifistische Ordnungsverzichte nur ermutigen können, eben diese freiheitlichen Demokratien zu zerstören. Gerade i m Schutze der aus den Demokratien der internationalen Ordnung induzierten Anarchie können die nicht-freiheitlichen Regime sich als „geschlossene" erhalten, ja sogar verstärken. Kann nicht der demokratische Ordnungslosigkeitsexport die Volksherrschaft eines Tages so schutzlos machen, daß aus der exportierten Freiheit fremde Gewalt zurückkommt? Dies alles verstärkt sich noch darin, daß sich die Volksherrschaft am weitesten der von ihr weithin international schon hervorgebrachten Unordnung öffnet, sie aber damit gerade antidemokratischen, auch fremdstaatlichen Kräften die Möglichkeit zum „institutionellen Übergreifen" i n ihre Welt bietet. I n dieser Volksherrschaft w i r d ja der Staatsschutz notwendig abgebaut, damit aber fallen die Sperren für einen Re-Import der Unfreiheitsanarchie, einer harten Gegengabe für früheren Freiheitsexport. Und schon i m Namen der Informationsfreiheit überschreitet fremde Anarchie so die Grenzen. Eines der vielen Ende der egalitären Demokratie ist die Bildung außenpolitisch orientierter Fraktionen i m Staate. Wo immer sich ein Denken i n „amerikanischen", „russischen", „französischen" oder „europäischen" Parteien entwickeln kann, hat sich bereits eine eigentümliche Form der „Ordnungsauflösung von außen" vollzogen: Fremde Interessen greifen auf die innere Ordnung über; da sie doch ganz wesentlich „stets außen bleiben", nie wahrhaft ordnungsproduktiv i m Inneren einer Gemeinschaft w i r k e n können, droht sich hier die Volksmacht i n extrovertierter Ideologie aufzulösen, i n einer „Demokratie der Gemein-
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samkeiten über die Grenzen hinweg", die i m Grunde nichts ist als beginnende nationale Anarchie, weil auch der Versuch schon aufgegeben wird, aus den eigenen Interessen heraus wirklich zu ordnen. So läßt sich denn eine A r t von Kreislauf der „internationalen A n archie" in drei Takten bestimmen: Die Ordnungslosigkeitsvorstellungen werden i n die internationalen Beziehungen getragen; sie führen dort zur Abschwächung dieser Ordnung und zur Verstärkung eines anarchieähnlichen bellum omnium contra omnes; dessen Anarchie und, mehr noch, i n seinem Schutz fremde Anarchie — und fremde Herrschaft! — kommen herrschaftszerstörend ins Innere zurück. Demokratische Überzeugung mag nun allerdings all dem gelassen zusehen, i n der Sicherheit, daß eben aus diesem Fluktuieren der internationalen Anarchismen nur immer noch mehr Demokratie entstehen wird. Hier aber zeigt sich vor allem, wie sehr das Ideologie bleibt, i n diesem Zusammenhang denn hier auch behandelt werden konnte: Die historische Erfahrung belegt, daß sich i n solchen Anarchiebewegungen sehr leicht ein Umbruch i n das Gegenteil von allem Demokratischen vollziehen kann — i n die persönliche Gewalt des Diktators. Der Weltraum des Internationalen ist eben, bis auf weiteres, nicht voll demokratisch beherrschbar; dort sind keineswegs so einheitlich die Voraussetzungen einer Demokratie gegeben wie i m Inneren einzelner Staaten, so daß etwa aus Anarchie nur Demokratie entstehen könnte. Von außen kann i m Schutz dieser internationalen Demokratie gerade undemokratische Beherrschung kommen, i m Inneren vermag sie sich zu entwickeln i m Namen einer Verteidigung der Demokratie, zu welcher diese i n anarchischer Selbstauflösung selbst nicht mehr i n der Lage ist. Je mehr die Demokratie an innerer Ordnung verliert, desto größer w i r d auch die Gefahr, daß die anarchischen Schwächen der internationalen Ordnung durch die neue persönliche Gewalt der Staatsverteidigung i m Inneren kompensiert werden müssen, u m so größer w i r d aber auch das Risiko, daß i n das Vakuum der inneren Herrschaftslosigkeit die Beherrschung von außen einfließt. Beherrschung durch den Diktator — Beherrschung durch Besatzung, das sind die demokratiezerstörenden Endlösungen einer demokratischen Ideologie der Ordnungslosigkeit, die Anarchie exportiert und sich dafür eines Tages eigene oder fremde Bajonette einhandeln könnte.
X I V . Christliche Heilsvorstellungen als Verstärkung des demokratischen Anarchismus Die bisherigen Betrachtungen haben gezeigt, daß die Volksherrschaft sich nicht nur i n vielfachen institutionellen Formen einer grundsätzlichen Herrschaftslosigkeit öffnet, daß sie vielmehr geradezu eine anarchisierende Negativ-Ideologie des Herrschaftsverlusts entwickelt hat. Dieses Kapitel über die geistigen Grundlagen des Demo-Anarchismus kann nicht schließen ohne einen Blick auf jene geistige Kraft, die über Jahrhunderte hinweg i n unseren Landen Trägerin aller wahren Ordnung gewesen ist, die bis i n die neueste Zeit stets das geistige Ordnungsdefizit der Staatlichkeit aufgefüllt hat: die christlichen K i r chen und ihre Heilsvorstellungen. Die Frage lautet: Kann die freiheitliche Demokratie aus ihrem jetzt problemlos erscheinenden Zusammenleben mit den christlichen Kirchen grundsätzliche Ordnungskraft schöpfen für ihren Gleichheitsstaat — oder verstärkt sich i n christlichem Staatsdenken heute, gerade umgekehrt, die demokratische Anarchie nur noch weiter, i n neuen, immer bewußter entwickelten Formen einer Heils-Anarchie auf Erden? I n der Untersuchung zur „Demokratie — Selbstauflösung einer Staatsform" war schon die Rede von der Suche nach einem neuen Demo-Papismus; sollte dies nur eine Einheit zur Anarchie sein? Seinerzeit konnte festgestellt werden, wie schwer ein Zusammenleben der Demokratie selbst mit einer demokratisierten Kirche stets bleiben muß: Dort herrscht die Gottesidee, das wesentlich Monarchische — hier kommt die Herrschaft von unten; dort hält sich, trotz allem, der hierarchische Aufbau, i n Priestertum, Sakramentenspendung, Heilsauftrag — hier ist jeder Bürger unmittelbar zur Staatsform und ihrer Macht; dort sind Dogmen und Lehre — hier die Freiheit, welche die Volksherrschaft auch gegenüber Heilswahrheiten gewährt; und dort ist vor allem der sündige Mensch — hier der mündige Bürger. So kann denn eigentlich, i m Geistig-Grundsätzlichen, kein Miteinander, allenfalls ein vorsichtiges Nebeneinander erwartet werden. Nun aber gilt es, die Frage zu vertiefen: Gibt es nicht doch eine Gemeinsamkeit von Demokratie und christlichem Denken, die gerade heute, i n der Demokratisierung der Kirchen, i n Erscheinung t r i t t , nämlich i n jener eigentümlichen „Anarchieneigung", welche der Spätdemokratie wie
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der sich auf Ursprünge zurückbesinnenden Kirche gemeinsam sein könnte? Und wenn dem so ist, was bedeutet Anarchienähe an ordnungschaffender Gemeinsamkeit? 1. Anarchisierende Demokratie — eine kirchengünstige Ordnung Immer haben die Kirchen versucht, und bis in die neueste Zeit hinein, die staatliche Ordnungskraft für sich einzusetzen; gerade dies hat ihnen jedoch bittere K r i t i k eingetragen, die Suche nach Distanz zum Staat verstärkt. M i t der grundsätzlich laizistischen, kirchenunabhängigen Demokratie ist diese Trennung, über alle konkordatären Relikte hinweg, weithin Wirklichkeit i m Westen Europas geworden. Damit aber entfällt, das muß man nun klar erkennen, für die Kirche auch das Interesse an einem stärker ordnenden Staat, vielleicht überhaupt an der staatlichen Ordnung. Denn sie w i r d sich nun ja allzu leicht gegen Kirche und Heil wenden, wenn sie nicht mehr für sie einzusetzen ist. Oder gilt hier nicht das Wort, daß gegen mich ist, wer nicht für mich sein will? I n vielem haben weder der Staat noch die Kirchen bisher diese Trennung wirklich ernst genommen. Kommt es einmal dahin, so können die Kirchen, aus ihrem Selbstverständnis heraus, nur eines wünschen: den ordnungsschwachen Staat. Kirche — das bedeutet, nach der ganzen tausendjährigen Entwicklung dieser Gemeinschaften, i m letzten eben doch den Versuch einer „staatsähnlichen Gegenmacht". Sie mögen das Reich ihres Herrn und ihr eigenes noch so sehr ins Jenseits verlegen, ihrem Wesen nach bleiben sie, jedenfalls i m katholischen Bereich, societates perfectae, was immer moderne Theologie an diesem Begriff heute kritisch bemängeln w i l l : Die starke Gemeindeidee, die ja i n ihrer W i r k k r a f t immer weiter gesteigert werden soll, kann nur, i m Praktischen wie i m Geistigen, i n Konkurrenz zur staatlichen Gemeinschaft treten; die kirchliche Moral ist soweit entwickelt, ja verästelt, daß sie allenthalben mit den staatsethischen Vorstellungen der politischen Gemeinschaft sich treffen, mit ihnen kollidieren muß; und schließlich entwickeln sich alle Kirchen ja nicht etwa aus diesen Berührungen und Rivalitäten zurück, sondern, i n einem wie immer verstandenen Öffentlichkeitsauftrag, stets noch näher an die staatliche Gemeinschaft heran. Dann aber muß sich doch die Konkurrenzsituation verstärken, sie wiederum kann jedoch nur eines bringen: den kirchlichen Wunsch nach dem geistig ordnungsschwachen Staat, damit sich die Ordnungskräfte der Kirche u m so mächtiger entfalten. Für die Kirche gehört zum Zentrum ihres Heilsauftrages ein bestimmtes „sozialethisches Verhalten", i n der Nächstenliebe und all ihren
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gesellschaftsbestimmenden Formen, von der Krankenpflege bis in alle Arten von Entwicklungshilfe. Aus ihren innersten Grundideen heraus muß sie damit wiederum zur Konkurrentin einer Staatsgewalt werden, deren weiteres Erstarken sie nicht wünschen kann, soll sie selbst ihrem Auftrag gerecht werden. Die Medien, die modernen Formen staatlich-gesellschaftlicher Beherrschung, werden für die Kirchen immer mehr zum wichtigsten Weg zu den Menschen. Der kirchliche Anspruch kann hier keine Grenzen finden, die Unendlichkeit des missionarischen Auftrags darf nur bedeuten: Wenn die Kirchen sich mit einem bestimmten Einfluß auf die Medien zufriedengeben, verfehlen sie schon ihren eigentlichen Auftrag. Medienvielfalt, die aber letztlich stets etwas Anarchisches haben wird, müssen sie also stets erstreben, weil nur darin, i m Rückzug staatlichen Ordnens aus diesen Herrschaftsformen, ihre geistige Macht sich verstärken kann. Kirchlichkeit w i r d immer einen internationalen, grenzüberschreitenden Anspruch anmelden, die Demokratie bleibt, bei allem Anarchieexport über die Grenzen, eine ganz wesentlich nationale Ordnung, auf das konkrete Volk gegründet und durch seinen Willen legitimiert. Damit aber die Kirchen über die Grenzen hinaus wirken können, müssen sie die schwache, die wenig selbstbewußte, die internationalisierende Demokratie wünschen — d. h. aber, nach aller bisherigen Erfahrung, die ordnungsschwache Volksherrschaft. Der starke Volksstaat würde die Kirchen in nationale Grenzen einsperren. Für die Kirchen war es stets, und vor allem i n letzter Zeit i n Deutschland, ein großes und unvergessenes Erlebnis, daß die Menschen aus der zerbrochenen staatlichen Ordnung zu ihnen gekommen sind. 1945 war aus diesem Grund der größte Augenblick der neueren deutschen Religionsgeschichte. Wie sollten da die Kirchen die Stärkung jenes Staates wünschen, dessen Ordnungen eben, bei aller Unterschiedlichkeit, doch eine gewisse Alternative zu den ihren sind? Und u m es deutlich zu sagen: Hier geht es nicht nur u m Machtneid, es geht u m Ordnungskonkurrenz. Daß die Kirchen den mächtigen Staat fürchten, weil er seine Gewalt gegen sie einsetzen könnte, ist selbstverständlich; aber sie müssen i m Grunde überhaupt die „staatliche Ordnung" mißtrauisch betrachten, weil sie eben doch, in der säkularisierten Welt von heute, an zahllosen Punkten eine Alternative zu ihren Anstrengungen bedeutet. Die „Zwei Reiche" haben sich nie wirklich trennen lassen, sie liegen heute mehr denn je i m Gemenge. Das Ergebnis kann also nur sein: Die Kirche ist insoweit der Demokratie nah, als diese den i n Anarchie geschwächten Staat zeigt. Gleichgerichtete Interessen einen, schon bei äußerlicher Betrachtung, christ-
2. Anarchieneigungen des demokratischen u n d christlichen Denkens
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liches und demokratisches Denken auf ein Ziel hin: daß i n der politischen Gemeinschaft nicht allzu viel Ordnung, daß dort Ordnungsverlust sei. Doch die Konvergenz zum staatlichen Herrschaftsverlust ist, zwischen Demokratie und Kirchen, noch weit tiefer begründet. Das christliche Denken zeigt, gerade i n seinen heutigen Ausprägungen, i m Zentrum des Religiösen eine Anarchieneigung, eine Öffnung für ordnungsloses Fluktuieren, das i m Religiösen leichter zu überhöhen sein mag, das aber, ins Staatlich-Politische gewendet, nur die Gefahr des großen, geistigen Ordnungsverlustes verstärken muß. Hierzu mögen i m folgenden einige Beispiele genügen. 2. Gemeinsame Anarchieneigungen des demokratischen und des christlichen Denkens: Idealität, Unfaßbarkeit, Utopie Kirchen und Demokratie begegnen sich darin, daß sie bereit sind, ihre Grundlagen i n Unfaßbarkeit verdämmern zu sehen, daß sie sich sogar der Utopie stellen, dem credo quia absurdum. Die Kirchen sehen sich i n dieser Welt stets auf dem Wege, in dauernder Suche nach dem Unsichtbaren, nie zu Erreichenden. Ihre Grundlagen sind von Geheimnissen umgeben, die i n Bekenntnisakten angenommen, nicht i m letzten erkannt werden können. Das Heutig-Diesseitige ist Abglanz und Versuchung, es öffnet sich aber i n die Höhen einer besseren Welt. I n der Demokratie ist vieles nur Säkularisierung solcher Kirchlichkeitsvorstellungen: Auch sie ist i n all ihren Lösungen stets unterwegs, permanenter Selbstkritik setzt sie sich aus. Eine sichtbar-endgültige Ordnung, wie sie der Monarch verkörperte oder herrschende Familien, gibt es nicht i n ihr, alles wahrhaft Macht-Zentrale bleibt unsichtbar, läßt sich nur i n Annäherungen erkennen, so wie der Wille des Volkes i n heutigen Wahlen. Dennoch aber ist das Höchste, der Volkssouverän, auch ebenso allgegenwärtig i n seiner Welt der normativen Legalität wie jener Gott, den die Kirchen i n allen Dingen finden, und nicht zuletzt reagieren Demokratien wie Kirchen mit der gleichen radikalen Unbedingtheit: I h r Heil liegt nie extra muros. Bei näherem Zusehen aber enthüllen sich diese Gemeinsamkeiten gerade als Formen, i n denen Anarchisches den Menschen bewußt wird: in dem Sinn für das Unsichtbare, das Unfaßbare, das Absurde — all dies sind ja eigentlich nur Gegenbegriffe für Ordnung und Herrschaft, die Gott auf Erden ebensowenig errichtet hat, wie die Demokratie sie endgültig anzubieten vermag. Ein geistiges Geheimnis der Unvorstell-
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barkeit umgibt die letzten Tiefen der Religion wie der Demokratie, Volkssouveränität bleibt unbegreiflich wie die Dreifaltigkeit. Und doch — ist nicht i n beidem eine A r t von ordnungslosem Herrschen, oder auch nur Sein, eine „höhere Anarchie"? 3. Die eschatologische Bedingtheit aller Ordnungen Gemeinsam ist der Demokratie und den christlichen Kirchen ein Grundgefühl für die Bedingtheit aller Werte auf dieser Erde, für eine gewisse Ziellosigkeit aller politischen und geistigen Verläufe. I n dieser Überzeugung, die bis i n unbedeutend erscheinende Einzelheiten, bis i n tägliche Routineentscheidungen und -bewertungen hineinreicht, kommt aber auch eine kritische Grundeinstellung allem Ordnen gegenüber zum Ausdruck, das immer doch nur sich zeigt als ein kurzes Ruhen in der Erscheinungen Fluß. Für alles christliche Denken ist diesseitige Ordnung prekär, sie trägt ihr Ende i n sich, sie ist geöffnet gegenüber der Unendlichkeit eines Schöpfers, i n welcher sie letztlich aufgehoben wird. Hier auf Erden muß daher, weithin und eigentlich grundsätzlich, Unordnung sein. Das Tohuwabohu der Genesis, diese Erde, auf der nur Unordnung ist, hat geistig mit dem Sündenfall wieder begonnen, die Wirrnis setzt sich fort bis zu jenem Ende der Zeiten, auf das alles ausgerichtet, durch welches alle Ordnung bedingt ist. Die Kirchen wissen ihre Gläubigen auf einem Weg durch die Unordnung des Diesseits, der Zweifel und Unsicherheiten — also der Anarchie. Und ist dies nicht gerade der politische Diesseitsweg der Demokratie? Die Demokratie macht keinen Versuch, die endgültige Ordnung auf Erden politisch zu errichten, sie ist keine Civitas Dei, deren Ideal doch nur aus spätrömischen imperialen Vorstellungen erklärlich ist. Sie läßt alles offen, täglich ist sie bedingt durch neue Revolutionen, permanenten Widerstand. I n der Praxis mag sie sich selbst monarchisierende Ordnungen vorspielen, mit Präsidenten, Diplomaten und Staatstheater die Kleider der Könige anlegen, i m Geistigen ist sie, ebenso wie das christliche Denken, offen gegenüber einer letzten Eschatologie der großen Revolution, die eigentlich gar nicht kommen wird, die schon i n ihr begonnen hat. Sicher — die Wertungen sind verschieden, denn für die Demokratie liegt i n all dem nichts Negatives, zu Erlösendes, sondern die einfache Volks Wahrheit auf Erden. Darin aber konvergiert demokratisches und kirchliches Denken i m Grunde erst recht, überlassen doch die Kirchen dem Volksstaat die prekäre Organisation i n einem Diesseits, das sie in Eschatologie einst erlösen werden, das heute so sein muß und insoweit
4. V o m Höchstwert der Persönlichkeit zur „Befreiung"
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sogar etwas „Gutes" bedeutet, weil wahrhaft gut ja auch stets das zu Erlösende ist. Es gibt aber, über allem demokratischen Lob der Bewegung und der Revolution, etwas wie eine permanente demokratische Weltuntergangsstimmung, da ja diese Staatsform bereit ist, immer wieder zurück zu ihren Quellen zu gehen, hinein in die unendlich fluktuierende Anarchie. Und zu nichts anderem konvergiert nun diese Gemeinsamkeit des Christlichen und des Demokratischen in ihrem Bedingtheitsdenken als in die Richtung einer großen Herrschaftslosigkeit, die für den Volksstaat hinter seinen Ordnungen stets sichtbar bleibt, von den Kirchen i n der Ordnungsüberhöhung des Jenseits geglaubt wird. 4. Vom Höchstwert der Persönlichkeit zur „Befreiung" A m engsten berühren sich Kirchen und Volksstaat i n der Achtung vor dem Zentrum der Einzelmenschlichkeit, vor der Persönlichkeit. Gerade darin aber verehren sie gemeinsam auch den Ausgangspunkt und das Ziel aller Anarchie. Für die Kirchen ist, trotz all ihrem solidaristischen Modernismus, der Mensch i m letzten ganz und gar Individuum, so allein und unauswechselbar geschaffen wie einst sein Urvater. A l l e i n w i r d er geboren, allein muß er sich einst rechtfertigen, allein ist er i n den wichtigsten Augenblicken des Lebens, i n denen er sich i n Reue und Buße mit seinem Gott wieder versöhnt. Das Ebenbild Gottes trägt er durch diese Welt, vor i h m muß sich auch die Kirche beugen, vor seiner letzten Instanz, dem Gewissen. I n der christlichen Gewissensvorstellung ist anarchisches Denken i n reiner Form i n die Religion eingegangen, hier bleibt der Mensch ganz allein i n seiner Entscheidung, über der nichts und niemand steht. Dies aber ist das Wichtigste i n seinem Leben, seine eigene Ordnung, i n deren Namen er alle Ordnungen u m sich herum brechen darf, zerstören muß, weil sein Gesetz es befahl. Vor dem christlichen Gewissen verblassen alle staatlichen und kirchlichen Ordnungen dieser Welt, hier steht das Individuum i n reiner Anarchie seinem Gott gegenüber, der nicht zuerst Ordnung, sondern unendliche, fluktuierende, herrschaftsfreie, ordnungsüberhöhende Liebe ist. I n seinen diesseitigen Niederungen hat das der demokratische Staat überzeugt übernommen. Wie sehr die Meinungsfreiheit, sein erstes, staatsformkonstituierendes Grundrecht, aus der christlichen Gewissensfreiheit herausgewachsen ist, bleibt seit Georg Jellinek Gemeingut der Staatslehre. I n den letzten Jahrzehnten hat sich die Demokratie aber
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X I V . Christliche Heils Vorstellungen
noch weiter abgeklärt, sie hat zu ihren wahren Grundlagen, zur Persönlichkeit gefunden. Und wie die Meinungsfreiheit nichts ist als säkularisiertes Gewissen, so bedeutet der Persönlichkeitsrespekt die verdiesseitigte Imago-Dei-Lehre. Ein wahrhaft systemkonformes Bekenntnis der Volksherrschaft war der Satz von der Menschenwürde an der Spitze des Grundgesetzes; eine geistige Großtat dieser Staatsform bleibt die Entfaltung eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts, i n dem das Recht auf Privacy, auf die eigene Ordnung, stärker w i r d als die umgebenden Ordnungen der Gemeinschaft. Und darin ist alle staatliche Gewalt wie jedes kirchliche A m t der Persönlichkeit gegenüber sekundär, daß sie es i m letzten nicht unternehmen, die Menschen zu ändern, daß sie sie vielmehr als Persönlichkeiten belassen — i n ihrem anarchischen Persönlichkeitszentrum. Denn nichts anderes bedeutet ja dieser Persönlichkeitsrespekt als die Anerkennung der höchsten eigenen Ordnung jedes Menschen, der gegenüber irgendwo eben doch alle äußere Ordnung verblassen muß. Eines w i r d man den Anarchisten nie vorwerfen können: daß sie keinen Sinn für Persönlichkeit hätten; der anarchische Zustand definiert sich doch recht eigentlich durch die höchste Steigerung der Personalität. Kirchen wie Volksherrschaft werden nun zwar vor der Übersteigerung des Persönlichen warnen — doch dies ist eben die Frage: Läßt sich i n einem solchen Höchstwert überhaupt etwas übersteigern, ist nicht mit der Öffnung zur Persönlichkeit schon die Anarchie da, i m kirchlichen wie i m demokratischen Bereich, so ganz und absolut wie sie eben nur sein kann, nicht Steiger-, nicht übersteigerbar? Wo es aber „zu dieser Persönlichkeit noch nicht gekommen", sie noch nicht geachtet ist, da müssen Volksherrschaften wie Kirchen gemeinsame Anstrengungen unternehmen, u m sie hervorzubringen, und dies bedeutet eine Emanzipation, i n der sich wieder christliche und weltliche Gewalten i m letzten einig sind. Nicht i m Gleichtakt allerdings haben Volksherrschaft und Kirche hier ihr Organ für die dynamische Befreiung der Persönlichkeit entwickelt; i n der Politik war es zunächst der kommunistische Zweig der Demokratie, i n der Kirche sind es erst spätere Entwicklungen, die dahin drängen. Doch heute ist überall, da wie dort, das Bewußtsein der Emanzipation geschaffen, die Volksherrschaft dreht sich i n Befreiungsversuchen, die Kirchen i m Bemühen, nicht allzu gefährliche „Befreiungstheologien" zu entwickeln — oder doch zuzulassen. I n all dem gewinnt die Persönlichkeit die letzte Dimension, die ihrer Einmündung i n die Anarchie noch fehlt — das Dynamische der unablässigen und i m letzten ziellosen Bewegung.
5. Nächstenliebe u n d demokratische Sozialpolitik
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5. Nächstenliebe und demokratische Sozialpolitik — ein anarchischer Zweiklang Für kirchliches Denken ist die Nächstenliebe, das Zentrum der diesseitigen Verantwortung, ein Auftrag jenseits aller Ordnung. Primär ist das Geben, gleichgültig, woher die Mittel kommen, i n welchen Leistungsordnungen sie produziert werden. I n allem Kirchlichen, das diesen Namen verdient, liegt die Tendenz zur Auflösung aller Ordnungsformen, die sich dem verströmenden Geben i n den Weg stellen könnten; alle Herrschaft ist nur da, u m zu geben, u m sich darin selbst zu verlieren, kann doch dieses christliche Geben nie w i r k l i c h Herrschen bedeuten. Da sind die Klöster als Sammelstellen der Armen, da ist die franziskanische Ordnungsverweigerung i m Namen der Verteilung, und wenn es ein Christentum i m letzten nicht ohne Klosteridee geben kann, wenn Geben seliger ist nicht nur als Nehmen, sondern auch als Schaffen, so daß das Betteln immer gut bleibt — was trennt dann noch diesen Aufbruch zur großen Liebe von der anarchischen Verachtung jeder leistungsorganisierenden Ordnung? Wohl wollen auch Armenpflege und Krankenbetreuung „organisiert" sein, doch nicht i n der Schaffung dieser Formen und Ordnungen haben die Kirchen ihr Größtes geleistet; das faszinierend-Christliche ist stets nur eines geblieben: das unbegrenzt-ungeordnete Geben, das „sich Verströmen", eine ungeordnete Ordnung des „Gebens ohne Eigentum", die für staatliche Ordnungshüter immer etwas Anarchisches haben muß. Hier gibt es j a eines überhaupt nicht mehr, auf dem aber i m letzten jede Ordnung, auch die des sozialen Bereichs, ruht: den Austausch der Leistungen und Interessen. Die christliche Nächstenliebe ist, i n all ihrer Sozialorganisation, letztlich nichts als eine große Einbahnstraße, die i m Namen der Caritas hinwegführt über Vertrag, Interessenausgleich, ordnendes Geschäft. Aus dieser christlichen Nächstenliebe und ihren kirchlichen Tätigkeitsformen haben immer wieder i n der Vergangenheit anarchisierende Stöße begeisternder Unordnung auf den Staat gewirkt, sie haben seinen diesseitigen Egoismus der politischen Machtgelüste i n Frage gestellt, „aufgelockert". Bis dieser Staat nun, i n demokratischen Formen, m i t seiner Sozialpolitik ähnliches, wenn auch nicht gleiches, versucht. Die Kontinuität kirchlichen und staatlichen Sozialdenkens w i r d wohl immer deutlicher erkannt werden, die säkularisierten christlichen Wurzeln des Sozialismus liegen schon heute zutage. Bei allen Unterschieden i n der Organisation — i m letzten ist es derselbe Geist, der hier i n der demokratischen Sozialpolitik weht und i n der kirchlichen Caritas: 22 Leisner
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— Der Primat des Gebens vor dem Ordnen, des Sozialstaats vor der Rechtsstaatlichkeit. — Das Zurücktreten der austauschenden Gerechtigkeitsvorstellungen i m Gesamtraum der sozialen Bemühungen der Demokratien. — Die Bereitschaft, dem zu geben, „der gerade kommt", der es „eben brauchen kann" — i n demokratischer Form: „der fordert", der sich lautstark bemerkbar macht und damit sein Bedürfnis politisch beweist. — E i n großer „Wildwuchs" aller Sozialtätigkeit, der i m Grunde nichts Negatives bedeutet, sondern nur Ausdruck ist des allgegenwärtigen, des sich verströmenden Gebens i n alle Richtungen hin. — Gegenüber diesen Aufgaben t r i t t das Eigentum zurück, die Ordnungsmacht der Güter; diese werden nicht primär i n ihrer statischen Ordnung geschützt, sondern i n ihrer i m letzten auf das Soziale, auf das Geben gerichteten Dynamik. Weil es bei dieser Sozialpolitik u m „reines Geben" geht, nicht u m ein Verdienen, i n Kirche wie Staat, nimmt die Demokratie selbst die A b schwächung ihrer Herrschaft i n der Trägheit der Leistungsempfänger i n Kauf, weil sie sich als Ordnung des Eudämonismus, der bedürfnisbefriedigenden Glückseligkeit i n der Welt versteht, i m Glück des Empfangenden — während die Kirche die Glückseligkeit beim Gebenden sieht, der nur darin die Rechtfertigung finden wird, daß er über alle Ordnung hinweg gibt. Gemeinsam aber ist beiden, Volksherrschaft und christlichen Kirchen, ein Grundzug, der nur anarchisch genannt werden kann: die letztliche „Auflösung aller Leistung", die hinter das Geben zurücktritt, weil Leistung eben ein Ordnungselement bedeutet, das i m reinen Geben der Nächstenliebe wie der Sozialpolitik sekundär wird. Das große Nachlassen der Leistungskraft mag kommen — nach i h m verheißt die Kirche eine Ewigkeit i n Rechtfertigung, die Demokratie noch mehr Fluß i n Gleichheit. Gemeinsam ist beiden Mächten: ein sich „aus der Herrschaft Geben" — oder Nehmen. Herrschaft und Ordnung sind i m letzten überflüssig, überlebt, ihre statischen Strukturen werden durch die Dynamik der Nächstenliebe überflutet, i n ständiger Bedürfnisbefriedigung aufgelöst. Eine derartig sozialpolitisch sich verströmende Demokratie w i r d dann eben, wie die Kirchen auch, das tägliche Brot geben, stets das, was gerade noch der heutige Tag i n anarchischer Einmaligkeit gewährt. I n all dem triumphiert nur eines: die absolut dynamische, über jede Ordnung hinausgreifende Aktion. I m letzten ist Nächstenliebe ebenso,
6. Der Populismus — Gottes V o l k als Volkssouverän
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aus der Sicht der Ordnung, absurd wie eine Sozialpolitik, der es eigen ist, daß sie das Morgen vorwegnimmt, die Zukunft nicht mehr bezahlen kann. Beide hoffen auf das Gleichnis von den Lilien des Feldes, die i n Anarchie wachsen. 6. Der Populismus — Gottes Volk als Volkssouverän Gemeinsam ist Kirchen und Volksherrschaft eine weitere Grundvorstellung: Die Heiligkeit des Volkes und seines Willens, nicht der i n Ordnung verfaßten Gemeinschaft, sondern der großen Zahl, die zusammengekommen ist — i n Anarchie. Den Kirchen war stets das „irgendwie zusammengelaufene Volk", das von oben, aus der göttlichen Heilssicht, nicht aus irdischen Ordnungen definiert wird, ein heiliges Organ göttlichen Willens auf Erden. Wenn zwei oder drei i n Seinem Namen versammelt sind, gleich wie und i n welcher Ordnung — oder auch i n keiner — so w i r d Er mitten unter ihnen sein; die Gemeinde ist offen, i n Mission muß sie sich ja ständig erweitern, und wenn das Priestertum nicht angenommen wird, so gibt es i n ihr kaum noch irgendwelche Ordnungsstrukturen. I n keinem Falle aber ist sie durch Ordnung heilig, sondern i n ihrem gemeinsamen, ordnungslosen Glauben nach oben. So ist diese plebs Dei eine A r t von großer, anarchisch zusammengetretener Masse. I h r Vorbild schon, das Volk Israel, wurde zwar immer wieder geführt — doch immer von neuem brach es aus dieser Führung auch aus, die nicht eigentlich Herrschaft war, sein langer Marsch führte i m Grunde durch Anarchien i n Anarchien. Anarchisch gedacht ist auch die Vorstellung von der Erleuchtung dieser Masse, von der vox populi vox Dei. Woher diese Stimme des Rufenden kommt, aus welcher Wüste, bleibt gleich, zur Verkündung seines Willens bedarf dieses Volk keiner Ordnung, und die Kirchen hören gerade auf dieses Volk i m Urzustand seiner nur dem fernen Gott unterworfenen Anarchie. Anarchische Freiheit, über alle Ordnungen hinweg, ist auch an der Spitze der Kirche, i n jenen Synoden und Konzilien jedenfalls, denen das göttliche Recht zusteht, i m Namen der Versammlung des Volkes Ordnungen zu brechen, bis h i n zur virtuellen Ordnungslosigkeit der christlichen Freiheit; etwas von diesem Geist hat selbst die Katholische Kirche i n ihrem letzten großen Konzil erlebt. Denn der Geist weht eben, wo er w i l l , i n der Anarchie des Denkens, und er leitet die Kirche geheimnisvoll zu ihrem Heil, das Volk Gottes auf Erden, die ganz ungebunden fluktuierende „Heils-Masse" Gottes. 22*
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Zu diesem Volk kommen immer neue Bekehrte, andere fallen ab, doch alles ohne feste Ordnungen, wie ja überhaupt i n diesem ganzen christlichen Populismus nirgends eine prästabilierte Ordnung erkennbar ist. I n so vielem ist der demokratische Staat nur ein Echo auf diese christliche Volkserhöhung, i n seiner Volkssouveränität. Auch sie ist ja, mehrmals wurde es schon betont, i m letzten etwas „Natürliches", eine Zufallsbildung, i n ihren Mehrheiten wie Minderheiten. Auch i n dieser Demokratie werden die Wahrheiten m i t der Stimme des Volkes verkündet, nicht i n Ordnungen entfaltet. Auch die Volksherrschaft kennt die Turbulenz ihrer Leitungsgremien, ihr Parlamentsanarchismus w i r d zum Spiegelbild synodaler Ordnungslosigkeit. Gemeinsam ist all dem der anarchische Untergrund: Der Souverän als Bildung des Zufalls, so wie ihn die Demokratie sieht, ist nichts anderes als das Gottesvolk, die unfaßbare Ordnung, die von oben ausgeht. So finden denn heute die Kirchen m i t einer erstaunlichen Leichtigkeit zu jenem „ V o l k " zurück, für das ihnen ihr religiöser Populismus stets das Organ bewahrt hatte; und es ist nun nicht mehr die von Notabein und Aristokraten geleitete Herzogsdemokratie des 19. Jahrhunderts, auch nicht die große liberale Frühdemokratie, sondern der Populismus verbindet das christliche Denken m i t der Spätdemokratie und ihren Anarchismen. Dort fluktuiert eben das Volk i n voller Freiheit, es bedarf kaum noch der Führung auf seinem Weg, auf dem es von oben geleitet w i r d — oder von selbst zu gehen vermag, auf dem, u m es wieder i n die demokratische Sprache zu übersetzen, auch große Reibungsverluste i n Kauf genommen werden, damit alles „von selbst laufe". Der Volkssouverän als säkularisiertes Gottesvolk muß alle Fesseln der diesseitigen Ordnung abstreifen, der Populismus führt Staat und Kirche gemeinsam auf anarchischen Bahnen, und nicht nur zu anarchischen Zielen. 7. Anarchie mit christlichem Segen Der demokratische Staat, der sich aus christlichem Gedankengut festigen w i l l , muß eines wissen: Für dieses Denken kann es keine eigentlichen, festen Ordnungen m i t Selbstwert geben, wenn schon nicht i n den Kirchen, dann erst recht nicht i m Staate. Nichts kommt ja aus dem Diesseits i n wahrer Legitimation, keine Leistung, keine Rechtfertigung — also auch keine Ordnung. Diese heutigen religiösen Gemeinschaften sind gewiß keine „Rechts-Kirchen" als Ordnungsmächte mehr, wenn sie es je gewesen sein sollten, sie stehen unter der Lex Charitatis, einem Gesetz, daß diesseitige Ordnungen systematisch i n
7. Anarchie m i t christlichem Segen
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Frage stellen muß, i m Namen einer höheren Liebesdynamik ins Unendliche hinein. Hier also empfängt i m Grunde nur die diesseitige Anarchie Sichtbarkeit und Weihe zugleich. Hier erreicht sie erstmals eine hohe moralische Rechtfertigung, die ja aus diesseitigen Ordnungen nie kommen könnte. Hier wird, mehr noch, die Anarchie w i r k l i c h zur „höheren Ordnung", zu einem reinen „Ordnungszustand i n Hoffnung". Der radikalen Volksherrschaft aber, die solche Ordnungsauflösung mit kirchlichem Segen tagtäglich hinnehmen muß, ohne daß sie sich heute vielleicht schon bewußt wäre, auf welchem gefahrvollen Weg sie sich mit den Kirchen trifft, ihr öffnet sich immerhin die Hoffnung, daß all das, was sie i n dieser Welt, m i t ihren Machtmitteln, nicht halten kann, letztlich „ i m Himmel" gehalten wird, jedenfalls von oben. Dieser Volksherrschaft bleibt dann am Ende nur eines: Sie muß jenes Rationale selbst verlassen, i n dessen Namen einst Aufklärung angetreten war, die Demokratie zu errichten. Weil der überzeugte Demokrat die feste Ordnungschaffung aus der Rationalität ebenso ablehnen muß, i m Namen seiner Revolutionsideologie, wie die Kirchen i m Namen ihres Jenseitsauftrages, gerade deshalb hat — ein großes Paradox! — die Volksherrschaft am Ende nurmehr eine Wahl: Sie muß selbst beginnen zu glauben, sie fällt immer tiefer i n ihre eigene Ideologie. Und i n dieser irrationalen Glaubensbereitschaft, dort begegnen sich heute Demokraten und überzeugte Christen wirklich. Dann aber gewinnt das große Wort „et i n coelis" — von der gleichen Ordnung i m Diesseits und i m Jenseits — einen ganz anderen, einen ordnungsfreien Sinn: I m Diesseits der Demokratie wie i m Jenseits der Kirchen w i r d es nur eines geben: die letzte „göttliche Anarchie". Darin wollen nun die christlichen Kirchen ihre Krisen überleben. Viele Jahrhunderte lang haben sie i n staatsähnlicher Ordnung gewirkt, als größte Ordnungsmächte. Wenn all diese Ordnung i m Grundsätzlichen aufgehoben wird, wenn die Anarchie stärker ist als selbst der Gleichheitsstaat, w i r d dann ihr Gott w i r k l i c h i n Ordnungslosigkeit auf die Welt herabsteigen — oder muß er nicht ganz unerreichbar werden, w i r d nicht in der Anarchie auf Erden das so befreite Individuum sich auch von ihnen befreien, nurmehr u m sich selbst kreisen? Die Volksherrschaft aber muß ihre Rechnungen m i t „so erneuerten" Kirchen jedenfalls revidieren: Eine aus früheren Ordnungen geworfene Kirchlichkeit stabilisiert nichts i n ihrem Raum, sie desintegriert sich selbst und die staatliche Ordnung zugleich.
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8. Ende in Sekten — für Kirche und Staat? Dem demokratischen Staat droht heute eine Gefahr, die über Jahrhunderte hinweg vor allem die der Kirchen war, meist von ihnen bewältigt wurde: Demokratie steht nicht mehr der bedrohlichen kirchlichen Konzentration gegenüber, sondern dem i n Sekten sich auflösenden Christentum. Und daß diese Auflösung sich nicht nur i n organisatorischen Verselbständigungen gegenüber den großen Kirchen zeigt, daß sie i n ihnen selbst immer stärker w i r k t , das kann kein Staat mehr übersehen. Für den „schwachen Staat", als den sich die Demokratie w i l l , i n all ihrer Anarchienähe, ist aber kaum etwas schwerer zu tragen, als ein Leben m i t Sekten oder m i t Kirchen, i n denen sektiererischer Geist lebt. I n unerwartetem Fanatismus entladen sich hier radikale Anarchismen, die allerdings i n sich neue und sehr feste wuchernde Zellen bilden, an denen jede andere Ordnung zugrunde geht. Und diese Sektierer sind ja zugleich Bürger der Demokratie, Parteigenossen, Parteiführer. Die Volksherrschaft muß erwarten, daß der Sektengeist nicht nur aus i h r kommt, alle Ordnungen auflösend, sondern daß er i h r von jenen K i r chen übertragen wird, die so lange Zeit, ganz umgekehrt, die staatlichen Ordnungen befestigt haben. „Liberal" konnte ein Staat werden, i n dem eine geschlossene Kirche als Ordnungsmacht wirkte. Dies ist nun vergangen: Staatlich-politisches Sektierertum wird, nach aller Voraussicht, eine Etappe später kommen als die Sektenentwicklung i n den Kirchen; wieder einmal ist die geistliche Gewalt u m eine lange, historische Phase der weltlichen vorausgeeilt, wie sie es auch i n der Schaffung der Ordnung war. Sektierertum hat religiöse Anarchie i n der Vergangenheit immer wieder zum Ausbruch gebracht und damit zuzeiten selbst den Staat erschüttert. Wenn es sich verstärkt, so muß der Staat, die Demokratie, i n den eigenen Bereichen all dessen gewärtig sein, was Sektenausbrüche kennzeichnet — erbitterte Glaubenskriege, Anwendung jeder Gewalt i m Namen des Höheren, Irrationalisierung der Überzeugungen, Niedergang intellektueller Kritikfähigkeit, schließlich ein Illuminismus, der ein elementares Führertum an die Spitze ungeordneter Haufen stellt. Aus all dem mag einmal die heutige Zivilisation entstanden sein, auf diesen Wegen könnte sie sich wieder auflösen. Denn i n all dem, i n der Ordnungsauflösung m i t christlichem Segen wie i n den christlichreligiösen Formen des Sektierertums, greift dann nur eine Macht immer stärker auf jene Demokratie über, die bei der Kirche Festigkeit Êuçht: diç Anarçhie.
8. Ende i n Sekten — f ü r Kirche u n d Staat?
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Die Volksherrschaft sucht und findet heute bei den Kirchen nicht wenig Diesseitsideologie, vom Öffentlichkeitsauftrag ganz allgemein bis i n die einzelnen Bereiche des sozialen Engagements hinein. Doch die Demokraten sollten sich nicht täuschen lassen: I m letzten bietet die Kirche dem Staat doch immer nur Jenseitsideologie — und aus ihr heraus Formen der Diesseitsanarchie. Den Kirchen mag ein Ausweg, ein Ausbruch aus all dieser Ordnungsauflösung für ihren Bereich bleiben, sie haben Gott als den ruhenden Pol i n der Erscheinungen Flucht i m Jenseits, das Papsttum, die bischöfliche Gewalt auf dieser Welt. Sie können auflösen und anarchisieren, weil ihnen die letzte archimedische Grundlage bleibt, aus der heraus sie alles aus den Angeln zu heben vermögen. Doch übersetzt man nun all dies i n die politischen Mechanismen der Demokratie, so kann es nur zu einer Forderung führen: Auch hier muß der „persönliche politische Gott" den Halt bieten, aus der Anarchie gelingt nurmehr der Ausbruch i n die Personalgewalt des Diktators. Und wenn sich die Spätdemokratie an die anarchisierenden Kirchen anschließt, die ihren Halt i n der höchsten Persönlichkeit finden, so kann es nur ein wahrer Caesaropapismus sein, i n dem eine zerfallende Volksherrschaft neue Ordnungen findet. Die monokratische Gottesidee erlöst immer wieder den Christen und seihe Kirchen aus der Unordnung. Der Demokratie ist all dies fremd, sie hat eben — w i r kehren zum Ausgang unserer Betrachtungen zurück — nicht die positive, sondern nur negative Ideologien. Welche positive Persönlichkeits-Ideologie w i r d sie sich aufbauen müssen?
X V . Anarchische Phänomene in der Spätdemokratie Aus den Höhen der Demokratie-Ideologie soll nun nochmals ein Weg ganz tief i n die Niederungen des täglich-Demokratischen herabführen — gerade i n der Spannung dieses Bogens mag die Allseitigkeit und Macht des Phänomens der demokratischen Anarchie deutlich werden. I n den früheren Kapiteln sollte gezeigt werden, wie eine gewisse institutionelle Nähe zur Anarchie, wenn es derartiges geben kann, gerade der späteren Volksherrschaft eigen ist. Sinn der Betrachtung der Ideologie war der Nachweis, daß hier nichts zufällig ist, daß sich vielmehr die Spätdemokratie nach einem zwar schwer faßbaren, aber doch erkennbaren ideologischen Plan entfaltet. Nun geht es darum, die „ A n archie auf dem Weg" zu sehen, aus den demokratischen Institutionen heraus, und dabei, immer mehr, gegen diese antretend. I n den folgenden Abschnitten werden w i r Phänomene ansprechen, die häufig mißverstanden werden als Schwächen der Demokratie, welche es zu überwinden gilt — i n Wahrheit handelt es sich u m demokratiekonforme Erscheinungen, u m immer weitere Entfaltungen der Grundsubstanz gerade des Gleichheitsstaates, die aber zugleich zu seiner Überholung ansetzen. Sicher könnte das eine oder andere dieser Phänomene fehlen oder anders sich ausprägen, historische Zufälligkeiten sind i m Spiele. Letztlich aber liegen sie doch alle irgendwo i n der Logik des Systems. Man sollte sich denn auch hüten, diese Etappen der Spätdemokratie als Verfallsdemokratie zu vereinfachen. Hier gehen Institutionen ihren selbstgewählten Weg aus ihren eigenen Ordnungen heraus konsequent weiter, vielleicht zu Ende. Und spätere Betrachtung w i r d der heutigen Demokratie eines bescheinigen: daß sie m i t logischer Folgerichtigkeit den anarchischen Weg aus sich heraus gegangen ist, nach jenem Gesetz der Rationalität, nach dem sie angetreten. 1. Von der freien Meinung zur anarchischen Demonstration a) Meinungsfreiheit
— anarchische Grundlage der Demokratie
Meinungsfreiheit als Grundlage aller zentralen Institutionen der Demokratie, als Steuerung all ihrer Regelungsmechanismen — das ist
1. V o n der freien Meinung zur anarchischen Demonstration
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heute eine ebenso banale wie immer wieder begeistert gefeierte Feststellung. Ausdruck einer wahren Demokratienaivität ist es jedoch, wenn gemeinhin die freie Meinungsäußerung als das „an sich Gute" angesehen wird; dahinter steht die Vorstellung, daß stets soviel Demokratie sei, wie Meinungsfreiheit verwirklicht werde, daß es daher „gar nicht genug von dieser Freiheit" i m Staate geben könne. Nur mit größter Vorsicht bemühen sich die Instanzen der Spätdemokratie, hier noch irgendwelche Randkorrekturen anzubringen, Mißbrauchstatbestände zu schaffen — all dies bleibt ohne Überzeugungskraft, denn ein Mißbrauch der Meinungsfreiheit ist eben letztlich nichts als ein Widerspruch i n sich. Wer an freie Meinung glaubt, kann i n ihr keine Gefahren erblicken. Übersehen w i r d bei all dem eines, was uns schon mehrfach beschäftigt hat: die ganz wesentlich anarchisierende Kraft der Meinungsfreiheit. Beweise für ihre herrschaftsauflösenden Wirkungen müssen heute kaum mehr erbracht werden: I n ständiger Rede und Gegenrede versinken ordnungschaffende und ordnungserhaltende gemeinsame Wertvorstellungen i n Bestreitbarkeit; der Pluralismus, den die Meinungsfreiheit herbeiführt, ist mehr anarchischer Zustand, als bewußte, auch nur einigermaßen feste Ordnung; i n ständigem Reden und Erklären w i r d der Befehl des Staates zwar erträglicher, zugleich aber auch relativiert; Ordnungen und Anordnungen werden durch spätere frei fluktuierende Meinungen gebogen und verbogen, weg vom ursprünglich gemeinten Ziel, die Interpretationskraft der Gegenmeinung i n Verwaltung und Gericht siegt über die Meinung des Gesetzgebers. Vor allem aber schwächt sich die Meinungsfreiheit als Libertät laufend selbst, mit jeder neuen Meinung verlieren alle bisherigen und sie selbst etwas an Überzeugungskraft, bis der politische Wille des Bürgers i n resignierendem Agnostizismus gebrochen wird. Unübersehbare Fluten von Veröffentlichungen und Sendungen — als solche doch sicher nicht Mißbrauch der Meinungsfreiheit, sondern nur ein Mehr an ihr — führen zur Unmöglichkeit der Aufnahme, zur Vertiefungs- und schließlich zur Interesselosigkeit am politischen Gedanken schlechthin. I n all diesen Entwicklungen steht unsere heutige Demokratie. Die Meinungsfreiheit schwächt also nicht nur alle staatlichen Gewalten, sie schwächt sich selbst als die große geistig ordnungschaffende Reservegewalt der Demokratie. Hier dreht sich eine anarchisierende Spirale, mit jedem Herrschaftsversuch durch das Wort w i r d etwas mehr an Herrschaftsverlust i n die Ordnung getragen. Keine Rede kann also davon sein, daß Meinungsfreiheit für die demokratische Ordnung als solche gut und daher „ i m Zweifel" zu verstärken sei. Der Zweifel muß vielmehr an einem ganz anderen Punkt ansetzen;
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X V . Anarchische Phänomene i n der Spätdemokratie
bei der Erkenntnis, daß Meinungsfreiheit als solche weder „gut" noch „schlecht" ist, daß es vielmehr jeweils eine gute und schlechte Quantität erlaubter Meinungen gibt. M i t anderen Worten: Nicht die Meinungsfreiheit und ihre Verstärkung ist das demokratische Ordnungsproblem — sondern die Frage nach dem „letzten Wort", das hier wirklich Ausdruck demokratischer Souveränität ist, weil es die Diskussion schließt, weiteres Meinen verbietet. Wie kaum eine andere Freiheit trägt also gerade diese zugleich Herrschaft und Anarchie i n sich, i n Steigerungsversuchen der Herrschaft wächst sie i n die Herrschaftslosigkeit hinein. Die anarchische Spätdemokratie fragt, wie sie mehr Meinungsfreiheit ertragen könne, die Ordnungsdemokratie müßte fragen, wo die Diskussion abzubrechen sei. Die naive Meinungseuphorie, der sich sogar die Staatslehre immer wieder öffnet, hat i m letzten keine andere Rechtfertigung als das alte angelsächsisch-demokratische Dogma, das aus t r i a l and error die „Wahrheit" geboren werde — als ob nicht mit derselben Legitimation gefragt werden könnte, ob sie dort nicht gerade verloren geht; und überhaupt — was ist gerade hier „Wahrheit", soll sie denn wirklich bei politischen Entscheidungen erkannt werden? Hinter den Potenzierungsversuchen der Meinungsfreiheit steht also letztlich der grundsätzliche systematische Fehler, daß die Mechanismen der justiziellen Wahrheitsfindung, Äußerungsformen einer „wesentlich unpolitischen Gewalt", die zentralen politischen Entscheidungen i m Staate tragen sollen. Wie auch immer — das Dogma „mehr Meinungsfreiheit" kann nur, ganz grundsätzlich schon, zum Abgleiten i n immer mehr Anarchie führen. b) Die Unbegrenzbarkeit
der Meinungsfreiheit
Nun w i r d man aber Demokraten zugestehen müssen, und die politisch-juristische Praxis zeigt es ja täglich, daß sich Meinungsfreiheit nur mit größten Schwierigkeiten und nie wirklich überzeugend begrenzen läßt. I n ihr liegt eine ungeheure Sprengkraft, welche die Demokratie immer von neuem, immer näher an die Anarchie heranführt. A n keiner Stelle w i r d deutlicher als bei der Meinungsfreiheit, wo sich die Schrauben verfassungsgerichtlicher Begrenzungsversuche leer drehen: Wenn etwa das Bundesverfassungsgericht dazu aufruft, i n den Begrenzungen der Meinungsfreiheit doch wieder den Wert dieses so hohen Grundrechts zu berücksichtigen, so liegt darin eben der logische progressus ad infinitum, der aus der juristischen Logik herausträgt, an dessen Ende aber immer wieder nur Meinungsfreiheit und damit letztlich Anarchie stehen kann.
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Die entscheidende anarchische Gefahr i n der Unbegrenzbarkeit der Meinungsfreiheit liegt darin, daß es keine Ordnung gibt, von der ihre herrschaftsauflösende Kraft ferngehalten werden könnte; dazu nur einige Bemerkungen: — Die herkömmliche Staatslehre sieht die Meinungsfreiheit stets als eine Vorbereitungskraft der politischen Entscheidungen, über sie soll i n Diskussion an das Gesetz herangeführt werden, ebenso an seine Veränderung oder Abschaffung — auch darin soll sie stets nur „vorbereitend" wirken. Man geht also von einem klaren Zweitakt aus, i n dessen erster Phase allein die Meinungsfreiheit ihre Berechtigung hat, während sie sich dann sogleich zurückzuziehen und zu beugen hätte, wenn die Entscheidung gefallen, wenn die Geltungskraft von Gesetz, Verwaltungsentscheidung, Richterspruch eingetreten ist. I n Wahrheit jedoch wirken diese beiden Phasen ineinander, und gerade darin zeigen sich die anarchisierenden Effekte der Gedankenfreiheit: Die Entscheidung w i r d als eine i n K r i t i k abgeschwächte bereits geboren, die K r i t i k setzt sich fort und schwächt sie während ihrer Geltungszeit weiter, bis sie zu Fall gebracht ist, i n Interpretation, weicher Anwendung oder Rücknahme. Man könnte wohl die Geschichte mancher wichtiger Gesetze, ihrer Anwendung und ihres Endes daraufhin untersuchen, wie laufend sie von einer ständig anarchisierenden, ihre Ordnungen abschwächenden k r i t i schen Meinungsfreiheit begleitet waren. I m Grundsätzlichen ist dies auch ganz berechtigt: Wo überall Meinungsfreiheit das Höchste ist, da kann eben auch die Herrschaftsentscheidung letztlich nichts anderes sein als „eine Meinungsäußerung der Herrschenden", die „bedeutsamer" sein mag, aber schon während ihrer Geltungsdauer nie unbedingt gelten wird. Was dies für den Gesetzesgehorsam m i t sich bringt, hat sich i m neueren Staatsschutzrecht oder bei Versammlungsverboten deutlich gezeigt. Doch mit dieser Demokratie hat sich eben eine allgemeine „Opinisierung des Zusammenlebens" vollzogen, alle Positionen, auch die der Herrschaft, sind letztlich nurmehr — ver-meintlich . . . — Die naiv-demokratische Vorstellung von der reinen Güte der Meinungsfreiheit beruht auf der durch nichts bewiesenen Unterstellung, daß es nur die „ehrliche" Meinung gebe. Die Wirklichkeit der demokratischen Praxis zeigt jedoch das schiere Gegenteil: Meinungsfreiheit w i r d zum großen Verschleierungs- und Verunklarungsmechanismus politischer Interessen und Zielsetzungen. Die selbstverständliche Folge davon ist die wesentliche Subversionsneigung aller politischen Meinungsäußerungen i n der Volksherrschaft. Die täglichen Versuche des Ordnungabbaus m i t geistigen Mitteln, welche die Demokratie besonders hart treffen, weil j a auch ihre normative
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Ordnung mehr über geistige Aussagen w i r k t , werden doch nie offen anarchische Zielsetzungen verraten; ein Staatsschutz, der geistige Subversionsabsichten nachzuweisen versuchte, würde stets an einer wahren probatio diabolica scheitern. Die Meinungsfreiheit w i r d dabei doch heute immer mehr von einer entwickelten dialektischen Taktik unterlaufen; w i l l die Staatsgewalt hier enthüllen, so muß sie sich i n odioser Gesinnungsschnüffelei, i n bestreitbaren Vermutungen, jedenfalls aber i n Freiheitsbeschränkung verlieren — und damit verliert sie erst recht an Legitimation. — Gerade wenn man mit der demokratischen Doktrin davon ausgeht, daß i n der Meinungsfreiheit etwas von der Suche politischer Wahrheit vor sich gehe, so erscheint jede Begrenzung dieser Freiheit durch Akte der Staatsgewalt schlechthin als illegitim, kann dann doch die Wahrheitserforschung nur mit Richtigkeitskategorien, nicht mit der Macht des i n seinem Wesen irrationalen politischen Befehls eingegrenzt werden. So zeigt sich denn auch neuerdings, daß Verwaltung und Gerichtsbarkeit i n ihren staatsschützerischen Bemühungen immer mehr i n Wahrheitsdiskussionen gedrängt werden; sie müssen dem Widerstand nachweisen, daß er aussichtslos und damit unrichtig sei, darin aber bleiben sie stets gerade so bestreitbar, wie es die Anarchie w i l l , welche sie auf diese Weise intellektuell angreift. Denn darin, daß die politische K r i t i k der Meinungsfreiheit mit intellektuellen Wahrheitskriterien gegen die Willensmacht der Herrschaft vorgeht, überrennt die Anarchie m i t ihrer geistig unendlichen Kraft die kleinen Befestigungen heutiger Interessen, die sich Herrschaft nennen. Nicht umsonst greift ja auch solche kritische Meinung stets zu Ordnungen verfestigte Interessen, „Privilegien" an, i m Namen einer anderen „Wahrheit". — Die Unbegrenzbarkeit der Meinungsfreiheit durch demokratische Herrschaft, damit aber ihre herrschaftsauflösende Kraft, zeigt sich vor allem i n dem bruchlosen Spektrum, das die Meinungsfreiheit herstellt, von der „kleinen" punktuellen K r i t i k zur großen, grundsätzlichen Ablehnung von Staat und Gesellschaft. Der Journalist prangert einen Mißstand an — wer w i r d es i h m verübeln, wenn er es mit solcher Intensität unternimmt, daß dahinter eine wahrhaft regimeablehnende Grundeinstellung sichtbar w i r d — und wer kann ihn daran hindern, es i h m wenigstens beweisen? Er hat doch nur den Finger i n eine Wunde gelegt, und an ihrer Existenz zweifelt niemand. Hier zeigt sich die tiefe Weisheit der subversiven Planung, welche immer wieder zur Suche nach kleinen Mißständen aufruft, aus denen dann die große Herrschaftsablehnung kommen kann. Ob Studiengeld zu bezahlen ist, darüber läßt sich trefflich streiten; doch wenn einmal Studentenmassen mobilisiert sind, w i r d der
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Minister, die K u l t u r p o l i t i k der ganzen Regierung, werden Staat und Gesellschaft i n den Strudel der K r i t i k gezogen. A l l dies ist, w i r sahen es schon i n früheren Kapiteln, geradezu das Wesen des anarchischen Fortschritts i n die Unendlichkeit der absoluten Herrschaftsverneinung. — Das bruchlose Spektrum der Meinungen, das sich durch einen Herrschaftseingriff kaum unterbrechen läßt, w i r k t vor allem ins Negative hinein, und deshalb kann es den Staatsinstanzen juristisch nicht gelingen, einen Begriff der „Systemveränderung" überzeugend zu definieren. Wo endet der „kleine Mißstand", wo liegt die „Systemschwelle", was ist eine Ordnung, über die nicht mehr kritisch nachgedacht werden darf? Der Demokratie ist es doch ohnehin eigen, daß sie am stärksten und am konkretesten „unten" wirken kann, dort, wo ihre zahllosen Normen i n festgefügter Bürokratie und Gerichtsbarkeit angewendet werden. Wo aber die „weiteren Normen", die „größeren Formulierungen" verwendet werden, sind Beamte und Richter schon i n der Anwendung, i n der Interpretation noch weit mehr, völlig überfordert, sie sollen hier eine Regimephilosophie entwickeln, welche der Gesetzgeber i n Großformeln elegant offengelassen hat. Dazu aber haben sie gerade nicht jene Kraft, welche das demokratische Regime trägt: die Legitimation der Volkswahl. So ist denn die Systemveränderung ein geistig aus demokratischem Denken heraus gar nicht vollziehbarer Begriff, und wenn er vollziehbar wäre, gäbe es niemand, der die demokratische Macht hätte, ihn wirksam zu definieren. Damit aber t r i t t die anarchisierende Meinungsfreiheit m i t Notwendigkeit über die demokratischen Ordnungsufer; und nur zu oft w i r d die Staatsorgane das wahrhaft frustrierende Gefühl befallen, daß sie hier antreten zum Kampf gegen den Geist — obwohl es doch i m Grunde auch nur politische Mächte sind, die dergestalt entfesselt wurden, eben durch eine Grundentscheidung der Spätdemokratie. c) Meinung als Gewalt Der ordnende Staat muß versuchen, stets ein Gewaltmonopol zu halten; was Gewalt ist, sollte nur er definieren. Für die Demokratie, welche aus Meinungsfreiheit lebt, w i r d es zum schier unlösbaren Problem, daß auch Meinung bereits Gewalt ist, daß sie sich von der Gewalt nicht w i r k l i c h überzeugend abgrenzen läßt, daß sich aber dann ein nahezu bruchloses Spektrum von Gewalt zu Gewalt fortsetzt. Bei der Betrachtung der Widerstandsideologie wurde aber gerade dies, die Unabgrenzbarkeit und die Unbegrenzbarkeit der Gewalt, als das Wesen anarchischer Ausuferung erkannt. Die Problematik der Grenzen zwi-
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sehen geistiger und physischer Gewalt wurden offenbar, die nur durch eine stets bestreitbare äußerliche Betrachtung, j a durch ein naives Körperlichkeitsdenken gezogen werden können, welches überdies noch die Einheit von Geist und ausführender Hand i n kaum verständlicher Weise ignoriert. Hier gilt es, all dies zu vertiefen aus der Sicht der Meinungsfreiheit, mit besonderem Blick auf jene Demonstrationsfreiheit, welche i m Anschluß daran behandelt wird, zu welcher eine sich i n Gewalt entwickelnde Meinung führen muß. I m Mittelpunkt aller Stabilisierungsversuche der Demokratie steht die Aktionismus-Theorie; nach dem Bundesverfassungsgericht etwa liegt gerade i n dem Übergang zur staatsbekämpfenden A k t i o n die eindeutig feststellbare Grenzüberschreitung der Meinung. Eine solche Abgrenzung hat den unbestreitbaren Vorteil der Praktikabilität für sich; Gewalt ist als solche feststellbar. Damit aber ist noch nicht das Zweite geleistet, worauf gerade die freiheitliche Demokratie nicht verzichten kann: die Legitimierung dieser Grenzziehung, und hier zeigen sich die entscheidenden Schwächen der Aktionismus-Theorie: Sie ist eben i m Grunde ein reines Praktikabilitätstheorem, i n diesen Höhen der Staatsgrundsätzlichkeit kann aber eine Praktikabilitätsbegründung nicht mehr überzeugen, welche i n den Niederungen der Steuertechnik legitimieren mag. Die Unabgrenzbarkeit von Meinung und Gewalt zeigt sich vor allem i n folgendem: — Bei aller angeblichen Praktikabilität ist sie auch praktisch nur schwer durchzuhalten. Wie etwa sollte die „flammende Rede" eingestuft werden — als Gewalt, als ihre Vorstufe, als engagierte Meinung? Wo steht die „zündende Vorlesung", i n der den Hörern die verkündete wissenschaftliche Wahrheit als das einzig Erstrebenswerte gepriesen w i r d — und als was soll sie eigentlich sonst verkündet werden? Genießt denn den Schutz der Meinungsfreiheit nur die langweilige, die einschläfernde Äußerung? Wächst aber die Meinung m i t dem Engagement, das hinter ihr steht, aus ihrem Wesen heraus, i n die Gewalt hinein — wie kann dann die Volksherrschaft den „engagierten Bürger" wünschen, der allein sie zu tragen vermag? I n den Anfangszeiten der deutschen Republik wurde die Überzeugung als Wesenskern der Meinung bestimmt — soll nun der Umschlag ins Gegenteil eintreten, die unbedingt überzeugte Meinung sich von dem Grundrechtsschutz entfernen, soll dieser nurmehr der zweifelnden, j a der dubiosen Stellungnahme vorbehalten sein? Oder soll es w i r k l i c h ein überzeugender, staatsgrundlegender Ausgangspunkt für die Gewaltdefinition werden, was i m Beamtenrecht entwickelt wurde, die Regel etwa, daß der Beamte sich, i m
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Namen der von i h m stets zu übenden „politischen Zurückhaltung", aus Versammlungen zurückziehen soll, wenn es dort „heiß hergeht"? Wann aber beginnt diese „Hitze", kann es sie i m Geistigen gar nicht geben? — Der Übergang vom Wort zur Tat w i r d i n der Rechtsordnung weithin ohne jedes Bedenken hingenommen, geradezu gerechtfertigt. Zum Begriff der Meinung gehört auch die Geste, die drohende Handbewegung, das beleidigende Unterlassen des Grußes usw. usf. Wo liegen hier die Grenzen des „Aktionismus"? A k t i o n und Gewalt sind jedenfalls Meinungsäußerung, dies entspricht der ganz herrschenden Lehre; warum sollte dann nicht umgekehrt auch — Meinung schon Gewalt sein können? Von der Gleichwertigkeit von Meinung und Gewalt geht doch, ganz natürlich, von jeher das Straf recht aus. Nicht nur, daß die schwere verbale Beleidigung ähnlich bestraft w i r d wie zumindest die leichte körperliche Gewaltanwendung; das Strafrecht rechtfertigt diese letztere sogar als A n t w o r t auf den schweren A n griff m i t Worten, durch Meinung. Es gibt also nach den Grundvorstellungen unseres Rechts eine Gleichwertigkeit zwischen Worten und Taten, Worte dürfen Taten hervorrufen, sie rechtfertigen sogar eine gewisse Gewalt. Dann aber kann es ganz grundsätzlich nicht rechtens sein, den Übergang zum Aktionismus als Gewalt zu verdammen, zu etwas „ganz anderem" zu stempeln als das angreifende Wort. Gedanke und A k t i o n — dies ist dann i n keinem Fall der richtige Begriffsgegensatz, das Verbotene muß weit früher, bereits mitten i m Denken und Sagen beginnen; davon ging ja auch stets die Staatsschutzgesetzgebung aus, wenn sie die Aufforderung zum Ungehorsam, die Staatsbeleidigung, dem gewaltsamen Angriff gleichstellte. Von dieser Pönalisierung des Meinens aber entfernt sich ganz konsequent eine Demokratie, welche i n der Rechtsprechung ihres obersten Verfassungsgerichts folgerichtig immer mehr jede Form des nichtaktionistischen Meinens straffrei stellen w i l l . Sie müßte erkennen, daß sie damit nicht nur i n sich unglaubwürdig wird, sondern einen Bruch m i t herkömmlichen Grundformen ihres Strafrechts vollzieht, daß sie dann auch bald Verleumdung nicht mehr bestrafen kann, wenn sie die Staatsverleumdung zuläßt, welche i n „ruhiger Wissenschaftlichkeit" erfolgt. — Bietet aber nicht gerade das herkömmliche Strafrecht Hilfe, i n seinem Anstiftungsbegriff? Wenn sich dort eine Schwelle festlegen läßt, jenseits welcher Sagen und Denken zum kriminellen Wollen hochwächst, kann nicht i n gleicher Weise auch politisches Meinen vom staatskriminellen T u n abgegrenzt werden? Es ist unmöglich, die Tatbestände sind eben unvergleichbar: I m Strafrecht geht es u m die dort wesentlich eigeninteressierte, die „private" Aktion, u m die
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„konkrete Tat". Politische Meinung, politische A k t i o n dagegen zielen stets auf etwas viel Allgemeineres, eben auf die „Änderung von Staat und Gesellschaft". Damit werden jedoch Tatbestände verwirklicht, die vielleicht, äußerlich betrachtet, auch „privat" realisiert werden; hinter ihnen aber steht eine ganz andere, weil eben unvergleichlich viel allgemeinere Zielsetzung: Politische Meinungsäußerung ist immer zugleich Aufruf — „generelle Anstiftung". Von der „privaten Anstiftung" unterscheidet sie sich dadurch, daß hier „die Allgemeinheit zu Allgemeinem angestiftet w i r d " . Gerade dies war stets das Wesen des „Politischen", eben dies wurde als solches privilegiert, darauf beruht die Meinungsfreiheit der Demokratie. Wollte man also über Anstiftung Meinung von Gewalt unterscheiden, so müßte man die Gewalt viel früher beginnen lassen, als es der heutigen Staatsschutztheorie des Bundesverfassungsgerichts entspricht. Die herkömmlichen kriminalrechtlichen Anstiftungsvorstellungen sind daher generell ungeeignet, die Gewaltschwelle i m Politischen zu bestimmen — wenn man von den politischen Privilegierungen der Demokratie ausgeht, von der anarchisierenden Straffreiheit für politisches Denken; denn i m Grunde wäre ja Ordnung i m Meinungsbereich wohl über den Anstiftungsbegriff zu schaffen. — Von der ungeistigen Vorstellung der Trennbarkeit von Gehirn und Hand war bereits die Rede. Es ist, als mache sich hier der p r i m i t i vierende Versuch breit, zwischen einer „reinen" und einer „praktischen" Vernunft zu unterscheiden, die ganz verschiedenen Gesetzen gehorchten — wo doch gerade i n dieser letzteren Kategorie die Einheit von Geist, Herz und Hand unübertrefflich gefeiert worden ist. Daß solche Abgrenzungen, die jeder Psychologie, jeder historischen Erfahrung widersprechen, gerade der Staatsform der Rationalität schlecht anstehen, als welche die Demokratie groß geworden ist, wurde schon betont. Und man frage einmal den geistig bedeutenden Journalisten, wo bei i h m reines Denken aufhört, politischer Aktionismus beginnt! Wie w i l l die Volksherrschaft die „Campagne" juristisch erfassen, das gerade, was sie doch bewegt und weiterführt? I n ihrem gesamten Medienrecht kapituliert sie vor der „geistigen Gewalt", diese muß sie, als ihre vornehmste Grundlage, global privilegieren. Kann sie dann dieses Privileg einer Schicht — oder schon einer Kaste — vorbehalten, dem Bürger verweigern, der mit seinen Mitteln des individuellen geistigen Widerstands gegen sie aufsteht? — Ist sie schließlich nicht gänzlich unmoralisch, diese Unterscheidung zwischen Denken und Aktion, zwingt sie nicht den Überzeugten dazu, innezuhalten i n dem Augenblick, i n welchem i h n sein Gewissen zum Handeln treibt? Gibt es i n der Demokratie denn keinen
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Gewissensaufruf zu handeln, bedeutet die Aktionismustheorie nicht einen Zwang der Überzeugung zur Selbstkastration, gerade i n dem, wo sie nun w i r k l i c h sich treu sein w i l l , zur A k t i o n emporwächst? Oder w i r d die Demokratie die moralische Kraft jener Richter des 19. Jahrhunderts stets aufbringen, die nach einem harten Schuldurteil sich erhoben und vor dem Staatstäter verbeugten, u m i h m die Verehrung der Staatsform für sein Gewissen zu bezeugen? Derartiges haben neuere Prozesse nicht mehr gesehen. So hat denn die Aktionismustheorie nur zwei Entwicklungswege: Entweder sie w i r d die Freiheit weit zurückdrängen, dann muß sie i m Überzeugungsstrafrecht enden, das die Demokratie nie dulden kann; oder sie entfaltet sich zum Freibrief für jede Gewalt, weil sie die heute wirksamste Gewaltanwendung, die geistige, nicht unterbinden kann. Dann aber beginnt i n der Meinung der staatsablehnende Widerstand, er muß sich hinaufpflanzen von Gewalt zu Gewalt. Soll man dann wirklich nach den äußeren Formen verurteilen, nicht auf das Tragende des Geistes blicken? Verdammt dann allein der Besitz der Bombe, während die explosiven Ideen frei von Verfolgung und Strafe bleiben, kuriert hier nicht die Staatsmacht nurmehr an Zufälligkeiten, an Gewaltformen herum, aus denen übrigens der Geist i m Namen der Meinungsfreiheit i n immer neue straffreie Gewaltsamkeiten flüchten wird? Wenn nur der Aktionist geschlagen wird, ermuntert dies nicht nur Schreibtischtäter zu noch mehr A k t i v i t ä t — und noch mehr verschleiernder Feigheit? Und dies alles i n einer Zeit der immer subtileren, geistigeren Gewalt! Es ist, als wolle man Gewalt definieren als den Kampf m i t den alten Schwertern der Ritter, die Feuerwaffen jedoch vom Gewaltbegriff ausnehmen — das Feuer des Geistes? Doch es brennt weiter, von Gewalt zu Gewalt hinauf, i n die Anarchie hinein. d) Die Anarchisierung
des Meinens in Demonstration
I n der Demonstration w i r d die Grenze vom Meinen zum Handeln überschritten, darin besteht geradezu ihr Wesen, und dies geschieht i n erster Linie i n der Stoßrichtung gegen die Ordnung. I n jeder Demonstration liegt wesentlich Aktionismus: I n der Zusammenfassung der vielen „Meinenden" zur gemeinsamen Darstellung ihrer Uberzeugung; i n der A k t i o n des Marschierens, der Transparente, der Gesänge; i m Zeigen der Gemeinschaft zu gemeinsamer Aktion. Daß sich die Demonstration ihrem Wesen nach und i n erster Linie gegen etwas richtet, wider die bestehende Ordnung, haben alle bisheri23 Leisner
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gen Erfahrungen bewiesen. Selbst i n „positiven Forderungen" ist die Anti-Stellung gegen bestimmte Positionen fast immer das Primäre. Bei der Demonstration geht es ja darum, zunächst einmal den Widerstand gegen Forderungen zu brechen, dazu kommt sie zusammen, zur Schaffung der gewollten Ordnung selbst wäre sie, ihrem Wesen nach, ganz unfähig. Natürlich ist es ihr daher, daß sie sich i n diesem ersten, negativen Takt meist erschöpft. Dann aber und darin ist sie ein Zeichen wahrer Anarchie. Die Demonstration trägt ja auch i n sich nicht etwas von Ordnungsstrukturen, sie ist ganz wesentlich i n sich selbst nicht Herrschaftsverband, nicht einmal i m Ansatz, sondern jene A r t von „zufälligem Zusammenlaufen", welche eben die Anarchie bestimmt. Und mit dem Anarchischen gemeinsam hat sie schließlich den ursprünglichen Individualbezug, die Herkunft aus dem isolierten Einzelmenschen, der sich hier mit anderen vereint. Dieses Zusammentreten aber schafft eben keine Ordnung, sondern nur wiederum — viele einzelne, die Demonstration ist die große Parallelität der Individual willen, jenes individuell-Kollektive, i n dem selbst i n der Masse noch Vereinzelung bleibt, fortdauernde Anarchie; das Einzelkämpfertum zahlloser Demonstranten hat es immer wieder leidvoll den Ordnungskräften gezeigt. Nach Zielrichtung wie innerer Struktur ist also die Demonstration ein deutliches Anarchiephänomen. I n all dem hält jedoch die Demonstration stets ihre Verbindung zu jener Meinung, aus welcher sie hervorgewachsen ist, weil Meinung eben nichts ist als abgeschwächte Demonstration, während i n letzterer, nur i n größeren Dimensionen, der Ordnung Meinung entgegengetragen wird. I n der Demokratie ist die wirksame Meinung letztlich immer Demonstration, diese Staatsform muß wünschen, und w i l l j a auch tatsächlich, daß es viele Demonstrationen gebe, weil sich i n ihnen allein der Reicht u m des Volks willens entfalten kann, weil nur auf diese Weise die private Meinung zum politischen Faktum emporwächst. Die Ängstlichkeit, mit welcher so manche demokratische Ordnungshüter Demonstrationen betrachten, die institutionellen und administrativen Versuche, sie doch immer wieder einzugrenzen, all dies steht i m klaren Gegensatz zu der Staatsgrundsätzlichkeit einer Regierungsform, die sich i m Grunde gar nichts anderes wünschen kann als — überall Demonstration. Wie aber i n der Meinung bereits die Unbegrenzbarkeit liegt, die Unabgrenzbarkeit zu aller Gewalt, so t r i t t dies noch weit deutlicher i n ihrer „höheren politischen Stufe" i n Erscheinung, i n der aus innerer Notwendigkeit ins Grenzenlose ausufernden Demonstration.
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e) „ Ausarten" — ein inneres Gesetz jeder Demonstration Demokratisch-anarchische Levée en masse
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Schon das ältere Versammlungsrecht und auch heute noch die neuere Demonstrationsfreiheit wollen stets eines i n der Demokratie verhindern: ein „Ausarten" der Demonstration, ihr Ausgreifen vor allem i n Gewalt. Da w i r d „Friedlichkeit" ihr abverlangt und Waffenlosigkeit, da sollen Ziele angegeben werden und Wege, und das Ideal demokratischer Demonstration wäre wohl der einigermaßen schläfrige Marsch vieler lächelnder Bürger, mit denen sich, i n ihren eigenen Reihen, uniformierte Ordnungshüter unterhalten. Den Polizeigewaltigen w i r d Lob gespendet von demokratischer Politik, wenn sie auf diese Weise den demonstrierenden Volkswillen „entschärfen", wenn sie die Manifestation „ i m Griff" der Ordnungsmacht halten konnten. Der Bürger aber, der sich doch so gerne als Volkssouverän sieht, ist es zufrieden, wenn auf diese Weise die Demonstration zum Spektakel gerät, bei dem letztlich nichts „passiert" — weil eben nichts geschieht. Denn was hier abläuft, ist i m Grunde ja nur Demokratietheater. Demonstration ist etwas ganz anderes — die Geschichte hat es immer wieder gezeigt — als ein scherzender Spaziergang m i t polizeilichen Begleitkräften. Nach allen Erfahrungen läßt sich geradezu die These aufstellen: Entweder die Demonstration degeneriert, oder sie bleibt politisch wirkungslos. Alle eigentlichen Wirkungen einer wahren demokratischen Demonstration liegen stets und ganz wesentlich schon jenseits dessen, was heutige Staatsgewalt an „rein denkender Meinungsäußerung" dem Bürger noch erlauben w i l l . I n ihr rafft sich eben Unbestimmtes, Undefinierbares zusammen, i n den Zielen ebenso wie i n den rudimentären Organisationsformen, und aus all dem heraus muß die Demonstration „ausarten" : — Man mag Aufrufen folgen, doch die Demonstration ist ihrem Wesen nach „offen", und i n der A r t , wie sie das Gewollte vorbringt, kann sie nur Unbestimmtes fordern. Verwunderlich sind daher die ständigen Klagen der Demokraten, Demonstrationen seien „durch andere Ziele" unterlaufen worden, die Klagen von Demonstranten, sie hätten „eigentlich dies nicht gewollt". Gewollt w i r d j a i n erster Linie die Anti-Ordnungsdemonstration, irgendwo treten die Ziele sogar zurück; wer sich hier anschließt, muß immer wissen, daß die Demonstration über „sein" Ziel hinausgehen kann, es überschreiten wird. I n all dem aber ist Anarchie. — Organisation gibt es bei Demonstrationen nur i m Ansatz, und ebensowenig sinnvoll wie die ständigen Klagen über die Zielveränderun23·
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gen der Demonstration sind die Vorwürfe gegen die Veranstalter, sie hätten i n der Disziplinierung ihrer Massen versagt. Demonstrationen rufen Geister, daß ihre Führer sie nicht loswerden, ist eine Selbstverständlichkeit; sie w i r k e n j a nur als Anstoßgewalten, sie veranstalten, sie führen nicht durch. Wer sich aber am wogenden Volk erfreuen w i l l , der darf nicht ängstlich auf Ordnung bedacht sein. — Das Ur- und das Idealbild aller Demonstration ist schließlich die Massendemonstration; jede kollektive Äußerungsform der Meinung w i l l zu einer solchen werden, ist eine Massenveranstaltung i n fieri. I n der Massendemonstration w i r d das eigentliche Wesen politischer Meinung i n der Demokratie erst deutlich. Der anarchische Dolch i m Gewände jeder Meinung w i r d hier offen gegen die Ordnung gezeigt, gezückt. I n der Massendemonstration w i r d die politische Drohung jeder Meinung gegen die Herrschaft sichtbar, gegen die Macht an sich. Hier w i r d die Reserve Wirkung enthüllt, die i n jeden politischen Gedanken eingebettet ist, gerade i n ihrer Unbestimmtheit besonders gefährlich: „Die Ordnung zieht sich zurück: Aber w i r wissen nicht — sagen noch nicht — was geschehen w i r d — was w i r t u n wollen". Dieser Mechanismus politischer Angsterzeugung ist nichts als das Wirken einer Anarchie, die eben gerade nicht sagen wird, wie es kommen soll, weil ihre Stärke nicht nur darin liegt, daß sie die künftige Ordnung nicht vorhersagt — sie gibt nicht einmal an, i n welchen Formen sich etwas ändern soll; auch dies wäre ja schon wieder eine Ablaufvorhersage, eine Ordnung. Hier lassen sich die Teilnehmer der Demonstration und vor allem die Veranstalter so gerne durch die innere anarchische Dynamik der Demonstration überrollen, „ w i r können sie ja nicht halten". Deshalb müssen sich dann die Ordnungskräfte so häufig zurückziehen, weil da niemand Verantwortlicher mehr ist, mit dem ein Dialog stattfinden könnte, weil die „ausartende" Massendemonstration — die hier nur ihren inneren Gesetzen folgt, sie wiederfindet — das ganze furchtbare Gesicht der tausendköpfigen Hydra der A n archie zeigt. — Und übrigens zeigt sich der demokratischen Ordnungsmacht hier noch ein anderes, nicht minder Furchtbares, etwas Geistiges: Hier wogt eben die Volksmacht, jene große Zahl, die bereits ein faßbarer Teil des Volkssouveräns ist; sie darf nicht nur nicht m i t Schußwaffen, sie darf i m Grunde überhaupt nicht bekämpft werden. Dies steht hinter der Waffendiskussion i m Demonstrationsrecht; sie w i r d immer demokratische Spiegelfechterei bleiben.
1. V o n der freien Meinung zur anarchischen Demonstration
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Die Meinung drängt zur Demonstration, die Demonstration zur Massenveranstaltung, die Massendemonstration zur Massengewalt, i n all dem ist nur eines: die belebende Kraft der Anarchie. f) Die „Pressedemonstration" Doch u m nicht mit Blut und Gewalt zu schließen — die Demokratie hat andere Formen der Demonstration i m Großen entwickelt, und hier kommt es wirklich zur unabsehbaren Massendemonstration: i n allen Formen der Pressedemonstration; ihre Theorie müßte noch geschrieben werden. I n den Medien erfolgt ja jene oben beschriebene Potenzierung der Meinung über die Demonstration zur Massenveranstaltung tagtäglich, und i n zwei großen Strömen, von denen der zweite der w i r k l i c h medienkonforme, der bedeutendere ist: — „Demonstration geschieht" eigentlich heute ja ohnehin nur durch die Medien, i n ihrem Echo allein erreicht sie die Bürgerschaft als solche, die demokratisch-politische Dimension. Was Presse und Rundfunk nicht aufnehmen, bleibt wirkungsloser Zwischenfall, es fällt zwischen zwei Ordnungen, diejenige, die vorher war und die andere, die sich sofort wieder anschließt, und es bleibt zwischen ihnen ungehört liegen. Die Medien heben die Meinung des Einzelnen, des Politikers, des Wissenschaftlers i n die demonstrative Höhe, sie schieben ihren Autor, sie zwingen i h n i n das meinungsüberschreitende Engagement. Die Medien zeigen dem Bürger i n der A k t i o n der ganz Wenigen den kommenden Großaufstand; die Medien entfalten aus der Großdemonstration die Kleinrevolution. A l l dies geschieht ohne bösen demokratischen Willen, allein aus den Gesetzen der Publizität heraus, und deshalb erfolgt es ebenso ununterbrochen wie i n einer scheinbar teilnahmslosen Objektivität. — Doch darüber hinaus sind die Medien, ihrem ganzen Wesen nach, Demonstrationsgewalten an sich. Wenn niemand demonstriert — sie t u n es täglich; und wenn nichts an wirkmächtiger Meinung hinter ihren Campagnen stehen sollte — die Größenordnung der Verbreitung w i r d allein schon zur Demonstration. So w i r d diese Mediendemonstration zur „Demonstration ohne Demonstranten", der Mechanismus der Meinungsfreiheit verselbständigt sich, seine mächtigen Instrumente w i r k e n „meinungsbildend ohne spezifische Meinung". Deshalb ist es auch gleichgültig, wie stark der politische Energieverlust an Demonstrationskraft i n der Bürgerschaft sein mag, der sich ja heute schon zeigt, sieht man von kleinen Gruppen ab. Für die Großdemonstration sorgen, über all jene Bürgererschöpfung hinweg, Bildschirm und Schnellpressen. Hier hat sich die
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geistige Institution der Meinung organisiert und technisiert, sie kann hier funktionieren nahezu ohne Inhalte, ohne stürmisches Engagement, allein aus der Kraft ihrer Verbreitung. Immer unbestimmter w i r d sie so, immer drohender, immer allseitiger-politisch. Und in ihrer zahllosen Gegenläufigkeit wogt nicht nur das Völkische, sondern vor allem das von jeder völkischen Basis bereits nahezu Losgelöste — die immer reinere Anarchie. So führt denn diese Pressedemonstration eigentlich i n ein Kapitel, das hier nicht geschrieben werden kann: I n die Medienanarchie, in der „reines Meinen", sogar i n all seiner Abschwächung und Zufälligkeit, doch zu einer furchtbaren, allgegenwärtigen Aktionsmacht emporwächst. Wenn es der Ordnung gelänge, alle Demonstration i n Gas und Wasser zu ersticken, die größere Demonstration der Anarchie würde bleiben, und geht sie nicht von jenen aus, die da „nur meinen"? Hier führt eine große Straße vor allem aus dem Gleichheitsstaat, hat er doch gewollt, daß jedermann das aufnehmen könne, was irgendwie gesagt w i r d — i n täglicher Anarchie.
2. Eigentumsanarchie — Herrschaftsverlust durch Eigentum — oder „gegen Besitz"? Stillschweigend steht das Privateigentum i m Zentrum der Anarchiediskussion und stets von neuem zeigt es sich, als Gegenstand spektakulärer K r i t i k vor allem. W i r k t es anarchisierend dadurch, daß es als Stein des Anstoßes immer wieder die Demokratie aus der Ordnung w i r f t — oder w i r d es gerade dort angegriffen, wo grundsätzliche Herrschaftsverneinung T r i t t gefaßt hat? a) Herrschaftsverlust
aus Privateigentum?
Die freiheitliche Demokratie wurde einst auf die Interessen des Privateigentums gegründet, zu ihrem Schutze vor allem geschaffen. Doch heute hält demokratische — und nicht nur kommunistische — K r i t i k dem privaten Besitz vor, er bedeute Herrschaftsverlust der Demokratie, Ordnungsverlust sogar der Freiheit. Führt nicht das private Eigentum einen unablässigen, zähen Kampf gegen die öffentlichen Interessen, i n einem unübersehbaren Grabenkrieg, i n dem es jeden Durchbruch der staatlichen Ordnung verhindert? Liegt nicht seine Überlegenheit, gerade i n der Demokratie, schon darin, daß es zugleich auch „ i n der Herrschaft sitzt", i n den „Eigentumsvertrçtçrn" i m Parlament? I§t nicht audi darin typisch demokratische
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Anarchie, daß sie, diese Eigentumsabgeordneten, doch nie Ordnung wollen, immer nur Interessen? Und bieten sie nicht ein wahrhaft anarchisches Schauspiel, wenn sie nicht nur den Staat i m Namen dieser Belange bekämpfen, sondern — sich selbst, den Konkurrenten, das „nächste Eigentum"? Solche Fragen richten sich — über das Eigentum hinweg, aber immer durch dasselbe vermittelt — vor allem auf den Wettbewerb. W i r d nicht in seinem Krieg aller gegen alle eine „Ordnung aus Unordnung" erstrebt, die aber nur i n letzter Unordnung oder doch i n der Zerstörung der Konkurse enden kann? Hilflos erscheint ja auch die demokratische Staatsgewalt weithin gegen diese eigentumsvermittelten Mächte, die auf dem Markt, dem Anarchieraum des Besitzes, völlig unvorhersehbar, bar jeder Ordnung, die Werte bestimmen, die einzigen Ordnungselemente, die es i m Eigentum gibt — und die i m Grunde eben keine Ordnung sind. Wenn es aber der Staat unternimmt, eine „Ordnung der Konkurrenz" mit Gewalt aufrechtzuerhalten, mit Gesetzen gegen unlauteren Wettbewerb und gegen wirtschaftliche Macht, kann er dann diesen anarchischen Kreislauf des Eigentums wirklich unterbrechen? I m letzten zielt all dies doch meist nur auf Schutz für kleineren, schwächeren Besitz, der gerade heute nur zu oft unwirksam bleibt; und wo er w i r k t , verewigt er den desintegrativen Krieg des Wettbewerbs. Mag dieser auch noch leistungssteigernd wirken, damit Ordnungsmöglichkeiten produzieren, der entscheidende Ordnungsverlust t r i t t dann doch erst recht und immer wieder i m Politischen auf, wenn dieses wettbewerbsrechtlich geschützte Eigentum sich i n politik-relevanter Konkurrenz bekämpft, wenn es, feudalisiert und verbandlich organisiert, den „Staat auseinanderreißt i n seine jeweiligen Interessen". Da w i r d dann der verzweifelte und hoffnungslose Kampf der demokratischen Politik gegen die immer stärkeren geheimnisvollen Bankund Industriemächte beschworen, i n der grenzüberschreitenden Unfaßbarkeit all dieser Kräfte sollen die eigentlichen Formen der modernen Anarchie entdeckt werden. Wenn es heute eine weit verbreitete A n archieangst i n der Gemeinschaft gibt, so die, daß „großer Besitz" das Ende von Ordnung bedeute, von jener Herrschaft, die doch der Gleichheitsstaat allein meinen und bringen kann. Stark durch dieses Eigent u m gegen die demokratische Ordnung geworden, drängt das Individuum, so scheint es doch, aus einem „Menschenbild des Grundgesetzes", welches gerade jenes isolierte Individuum nicht erlaubt, das sich i n den Mauern seines Besitzes gegen alles Ordnen wehrt. Es gehört zur Tragik der Spätdemokratie, daß ihre Vertreter dort Anarchie zu entdecken glauben, wo ihre Ordnungschancen liegen, es ist die große List der Vernunft der demokratischen Anarchie, daß sie die
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Ordnungskräfte i n Anarchieangst zum Angriff gegen das Eigentum treibt — i n Wahrheit gegen sich selbst. b) Eigentum als Ordnungsmacht Die Gegner des Eigentums sind immer wieder m i t ihren Argumenten gescheitert, daß das Eigentum ordnungsauflösend wirke; nach kurzem mußten sie sich darauf zurückziehen, daß der Besitz eben gegen diejenige Ordnung stehe, welche sie als die beste erkannt hätten: Denn über die Wertung des Eigentumsordnens mögen die Meinungen auseinandergehen, die Ordnungskraft des Besitzes läßt sich nicht bestrebten. Das Privateigentum ist i n der ganzen bisherigen Entwicklung der Demokratien stets deren stabilisierendes Element, immer eine Kraft gegen alle Formen der Anarchie gewesen. Eigentum ist eben der Prototyp des Ordnens, hier t r i t t sogar Macht und Herrschaft hinter die Ordnung zurück. Nur i n höheren Steigerungs- und Ballungsformen w i r k t Privateigentum mächtig, ordnend ist es immer. Und weil Macht und Befehl — w i r sahen es bereits — nicht die eigentlichen Gegensätze zur Anarchie sind, kennt doch auch sie den „Befehl zur Ordnungslosigkeit", läßt sich der Ordnungsverlust nicht so sehr durch den Gegenbefehl aufhalten, als vielmehr durch die ruhige, die kleine wie die große Ordnung des reinen Besitzens. Die Anarchie des Ersehnten und die Ordnung des Erreichten treten wohl nirgends so deutlich gegeneinander, wie i m Gegensatz von Eigentum und Anarchie. Einige Lichter auf das Privateigentum mögen dies erhellen: — Alles Eigentum ist wesentlich statisch, es bewegt sich nur i m Willen des Besitzers und schon deshalb nur äußerst begrenzt, durch dessen bürgerlichen Horizont. „Von außen" w i l l es sich nicht bewegen lassen, daher auch nicht dynamisieren auf größere Ziele hin. Sein Urbild ist und bleibt jenes Grundeigentum, das es zu bewahren gilt, jener Aktienbesitz, der „immer pari steht", nicht verändert wird. Was sich an Dynamik aus dem Eigentum entwickelt — und i n der kommerzialisierten Welt ist es wahrlich sehr viel — das bleibt stets wesentlich begrenzt durch das i n sich statische Gesetz der Wertund Gewinnmaximierung, es folgt den Ordnungen wirtschaftlicher Vernunft, nicht der Dynamik politischer Anarchie. — Eigentum — das bedeutet wesentlich und durch das Recht schon: „Grenze". Damit steht es i n seinem Kern gegen die grenzenlose Fluktuation der anarchischen Hoffnungen und Träume. Das abgegrenzte Kleinsteigentum, das j a auch die egalitäre Demokratie dem Bürger bewahren w i l l , mag dem Urzustand der Anarchie noch ent-
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sprechen, i n der jedermann ordnungslos elementare Bedürfnisse befriedigt; jenem modernen „bürgerlichen" Eigentum, das ganz wesentlich größer und kleiner werden kann, ist eine andere Idee der Abgrenzung eigentümlich: Der Ausschluß aller Rechtsgenossen vom Zugriff, von Nutzung und Verfügung. Diese Ausgrenzung ist nicht die reine Isolation der Anarchie, sie gibt faßbare Rechte zur begrenzten A k t i o n — und was könnte Ordnung anderes sein? — So wie „Persönlichkeit" ganz wesentlich dem herrschaftslosen Urideal zugeordnet ist, i n ihrer Unfaßbarkeit und Unbeherrschbarkeit, so ist Eigentum, umgekehrt, i n seinem Zentrum „ i n Ordnung", weil es nur durch Ordnung, durch dauernde Macht und Herrschaft, überhaupt existiert. Was es an „Besitz" i n anarchischen Idealzuständen oder ihren Annäherungen geben könnte, das wäre ein „lediglich persönlichkeitsvermitteltes Eigentum", ein Besitz, der nur i n engen Grenzen der Entfaltung dieser Persönlichkeit diente und bei deren Überschreitung illegitim würde — eben wiederum das Tascheneigentum kommunistischer Herrschaft, das „ m i t eigenen Händen Beherrschbare" mancher westlicher Sozialreformer. Hier bedarf es eigentlich nicht der „Eigentumsdefinition aus Ordnung", weil das „persönlichkeitsdefinierte Eigentum" genügt, das keine Macht nehmen wird. Jenes Privateigentum aber, wie es die freiheitliche, liberale Demokratie versteht, beginnt mit der Herrschaft und ihrer Ordnungschaffung und geht mit ihr unter, es w i r d durch die Staatsmacht konstituiert; und ein weiser Ausdruck dessen ist der Satz i m Grundgesetz, nach dem „Inhalt und Grenzen des Eigentums durch die Gesetze bestimmt werden" — man hat aus i h m immer nur das Recht des Staates zur Begrenzung des Eigentums ableiten wollen, i n Wahrheit zeigt sich hier der wesentliche, der begriffliche Zusammenhang von Eigentum und Staat, von Besitz und Ordnung. Nicht unbedenklich ist es daher, wenn i n der Rechtsprechung der Verfassungsgerichte neuerdings Eigentum nur dort legitim sein soll, wo es der Persönlichkeit dient — dies wäre ja gerade das anarchische Persönlichkeitseigentum, nicht das herrschaftsgeschaffene, das ordnungschaffende Eigentum als solches. — Alles Eigentum ist — der Marxismus hat es klar erkannt — schon deshalb eine Form der Ordnung, weil es eine Form des Herrschens ist. „Herrschaft über den Arbeitnehmer" i m Namen des Eigentums an den Produktionsmitteln, „Macht über den Mieter" i m Namen des Grundeigentums — i n all dem gibt das Eigentum die Kraft weiter, durch welche es konstituiert ist: die Herrschaftsgewalt, aus der Ordnung kommt. Man mag sie ablehnen — sie bleibt ganz wesent-
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lieh Ordnung, durch Eigentum; und die anarchisierende Spätdemokratie müht sich vergeblich m i t dem Problem, diese Ordnungen durch andere zu ersetzen. — Schließlich ist Eigentum schon deshalb i n seinem Kern Ordnung, weil es Ungleichheiten schafft und befestigt. Der Gleichheitsstaat aber, der gerade deshalb gegen den privaten Besitz aufsteht, w i r f t sich darin selbst aus der Ordnung, er geht über sich selbst hinaus, er fällt gerade darin nicht i n die Ordnung des Kleinstbesitzes — deren es gar nicht bedarf — sondern i n die Anarchie der riesigen Vermögensmassen, die keine politische oder wirtschaftliche Kraft mehr wahrhaft zu ordnen vermag. Und deshalb muß wahre Anarchie stets einsetzen mit dem Kampf gegen das Privateigentum. c) Ordnungsverlust
durch Verteilung
Der Gleichheitsstaat ist seinem Wesen nach Verteilungsstaat. Dadurch gefährdet er das Eigentum i n seinem Kern, auf diesem Wege baut er seine eigene innere Ordnung anarchisierend ab. Umverteilung w i l l allerdings, i n der Theorie, etwas ganz anderes — eine neue, gerechtere Ordnung schaffen. Das Eigentum soll ja, wenigstens nach den weniger radikalen Verteilungslehren, nicht aufgehoben, es soll i n bessere, meistens nur bedürftigere Hände gelegt werden, dadurch neue Legitimation gewinnen. Nach solcher Auffassung geht also das Privateigentum gestärkt aus der Umverteilung hervor. I n Wahrheit geschieht das gerade Gegenteil, Umverteilung anarchisiert. I n ihr w i r d ja die Ordnungskraft des Privateigentums an der Wurzel gebrochen: Eigentum ist ganz wesentlich „Zuordnung" von Gütern zu Menschen, ordnend w i r k t es eben darin, daß diese Zuordnungsbeziehung hergestellt und, was noch weit wichtiger ist, daß sie erhalten wird. Leistet das Privateigentum dieses letztere nicht mehr, so w i r d das Eigentum und mit i h m die Ordnung prekär. Der Umverteilungsempfänger erhält i m Grunde ein bereits weit weniger wertvolles Eigentum als der Vorbesitzer, weil i h m eben die vertrauenschaffende Kraft auf die dauernde Zuordnung abgeht. M i t jeder Umverteilung w i r d das entzogene Eigentum mit neuen Vertrauensverlusten belastet. Umverteilung ist, i n der Praxis, noch immer v i r t u e l l ein progressus ad infinitum gewesen, eine unendlich sich drehende, immer weiter ausgreifende Mechanik. Eine Ordnungsabschwächung ruft hier die andere — und was wäre dies anderes als ein Weg i n die Anarchie, i n der Dynamik und Grenzenlosigkeit der Ordnungsabschwächung?
2. Eigentumsanarchie
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Die Fernwirkungen solcher Verteilungen bringen weitere Anarchie hervor, das Gegenteil der festen Zuordnung durch Eigentum: Niemand kann nun wissen, wann es ihn treffen wird, mögen auch bestimmte Güterkategorien besonders „verteilungsgeneigt" und damit bereits „geistig ent-eignet" sein. Es setzt die Eigentumsunsicherheit ein, die Eigentumsangst, das Gegenteil aller Ordnungskraft des Besitzes. Hier w i r d nun wirklich, in einem „Rette sich wer kann", i n großer Kapitalflucht, eben jene Ordnungsmacht zum Unordnungsfaktor, der Kampf aller gegen alle u m die Sicherung des ständig bedrohten Besitzes entfremdet den einen Bürger dem anderen, den Bürger dem Staat. So sind denn alle Umverteilungen Formen von Klein-Anarchien; m i t ihnen mag sich der Betroffene abfinden, er w i r d sich stets dementsprechend aus einer Staatlichkeit geistig oder gar materiell zurückziehen, er w i r d eben „fliehen wie das Eigentum", aus der Ordnung, hinein i n die innere Emigration einer geistigen Anarchie. Wer also umverteilen w i l l , sieht sich rasch i n die ganz großen Lösungen gedrängt, w i l l er neue Ordnungen schaffen — i n die Sozialisierungen, die Massenenteignungen. Haben nicht Kommunisten recht, wenn sie das Privateigentum überhaupt als solches aufheben wollen, weil i n dessen umverteilender Belassung stets nur ordnungsabschwächende Anarchie sein könne? (Wobei übrigens das Tascheneigentum stets bleiben kann, weil es, wie dargelegt, kein „wirkliches Eigentum" ist, sondern lediglich Persönlichkeitsausstrahlung). Wie immer, so ist auch hier die radikal-kommunistische Lösung i n sich geistig geschlossen; sie vermeidet die anarchisierende Schwächlichkeit der Umverteilungen. Doch damit ist sie noch längst nicht der anarchisierenden W i r kung des Eigentumsentzuges entgangen. Hier nun setzen nämlich ganz andere und noch größere Anarchiegefahren ein: Die großen Gütermassen werden aus der „zuordnenden Ordnung" des Privateigentums gerissen, welche sie i n zahllosen KleinHerrschaften der Macht der Menschen unterworfen, sie für den Menschen überhaupt erst erfaßbar gemacht hatte. Dort hatte ja das Privateigentum seine größte Ordnungskraft entfaltet, wo es nicht mehr i m Riesenbesitz, in den Latifundien zusammengeballt selbst für den Magnaten kaum mehr appropriierbar erschien. I m liberalen, i m kleineren und größeren Eigentum hatte sich der Mensch wirklich die Erde, die Güter Untertan gemacht, jedem war meist doch nur soviel gegeben, wie er auf Dauer noch beherrschen konnte. Jener Kommunismus, der nun hier massiv entzieht, muß wiederum riesige Gütermassen zusammenballen — damit aber werden sie auch für ihn, für seine Staatsgewalt immer schwerer beherrschbar, überschaubar, kaum daß er sie überhaupt noch verwalten kann.
X V . Anarchische Phänomene i n der Spätdemokratie
Hier beginnt das große Drama des Staatsmonopolkapitalismus m i t seinen Bürokratien, auf deren anarchisierende Wirkungen schon hingewiesen wurde. Es ist, als wenn die Güter die Menschen beherrschten, sich deren Ordnungsmacht letztlich einfach entzögen. Weil es nicht mehr gelingt zu definieren, was wem gehören soll, wer auf welche Leistung wirklichen Anspruch hat, beginnt erst recht der Dschungelkampf der „geordneten Anarchie", i m Ansturm auf die Riesenfonds, welche von Nichteigentümern interesselos „zerwaltet" werden. M i t ungeheurem Machteinsatz müssen Staat und Gesellschaft hier dauernd Gütermassen ordnen, die niemandem gehören. Sie haben nur eine Hoffnung noch: daß immer größer die Trägheit der rechtlosen Beziehermassen werde — auch dies aber wäre die Richtung auf eine A n archie, i n der nichts niemandem mehr gehört, i n der damit der Sinn der Herrschaft aufhört; und überdies trügen solche Hoffnungen, der Verteilungskampf w i r d nur härter. Die freiheitlichen, umverteilenden Demokratien gehen ähnliche Wege ebenfalls bereits mit ihren von staatlichen oder „gesellschaftlichen" Instanzen verwalteten Riesenfonds. Hier kann dann kein Bürger mehr auch nur eine Stunde „ i n seinem Besitz schlafen", ständig w i r d er zum Kampf aufgerufen, u m sich ein Stück aus dem großen Topf herauszureißen, in immer größerer Unruhe. Der Verteilungskampf ist nicht geordnet, er ist nur institutionalisiert und verewigt, er ist härter geworden und kann, i m Grunde, von niemandem mehr wirklich gewonnen werden. Damit aber dreht sich diese Volksherrschaft immer weiter in ruhelosen Ordnungsverlusten i n die Anarchie hinein. Die Fabrikbesetzungen der französischen Sozialbewegung nach dem Ersten Weltkrieg haben das erste Mal offen den demokratischen Rechtsstaat der Republik herausgefordert und gebrochen, Verwaltungen und Gerichte wichen zurück vor der Arbeitergewalt. Damals schon hat man darin den Beginn der demokratischen Anarchie gesehen, und i n „Besetzungen" äußert und verstärkt sie sich auch heute wieder: Das Eigentum muß eben anarchisiert werden, damit die größere Herrschaftslosigkeit komme, zuerst das Grundeigentum, die Fabrikhallen, Wohnungen. Und so haben heute i m Grunde alle recht: diejenigen, welche i n den Hausbesetzungen den Anfang einer neuen Anarchie i n Deutschland sehen, und jene, welche dafür Amnestie fordern, weil nur dies i n der Logik des demokratischen Staates liegt, der hier eben zeigen kann, wie er Ordnungsverlust zum Staatsprinzip erhebt.
3. Mitbestimmung
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3. Mitbestimmung — der anarchische Dialog Doch zu Fabrikbesetzungen w i l l es die sozial geläuterte Spätdemokratie eben gerade nicht kommen lassen, deshalb setzt sie vor allem ein Instrument sozialer Befriedung ein: die Mitbestimmung. Überall soll sie i m Grunde wirken, das ganze Leben der Menschen begleiten, von Familie, Erziehung, Schule und Hochschule über das Arbeitsleben bis ins Altenheim. Viele Demokraten i n diesem Lande glauben heute ehrlich, daß an diesem deutschen Wesen die sozial erschütterten Ordnungen u m uns genesen sollten. I n der Tat — Mitbestimmung ist die große Harmonieformel der modernen Zeit, ein Wort, das jedem etwas gibt, das daher niemand angreifen wird. Liegt nicht i n i h m das Genossenschaftliche, die Einheitlichkeit des Bürgersubstrats, die Integration, die besten Heilmittel gegen alle Anarchie? Ist nicht bereits heute i n Mitbestimmung, mehr noch i n der Hoffnung auf sie, wahrhaft befriedet worden? Hier könnte der modernen freiheitlichen Demokratie gerade i n Deutschland eine ihrer größten Enttäuschungen drohen: Vielleicht versucht sie eben doch nur, gegen die Anarchie — eine Form derselben einzusetzen. a) Mitbestimmung
als Kampfinstrument
Mitbestimmung w i r d gepriesen als Beendigung des Klassenkampfes, als Aussöhnung von Kapital und Arbeit, als die erste Form, i n welcher Sozialpartnerschaft auf Dauer Wirklichkeit wird. Nicht wenige Bereiche mag es heute geben, i n denen dies eingetreten ist und auf Dauer zu sein scheint. Doch andere Zeichen deuten i n die Gegenrichtung: Mitbestimmung ist, i n all ihren Formen, Durchgangsstadium, Kampfinstrument, Eröffnung einer „neuen Front". I m Gegensatz von Kapital und Arbeit sind i n den letzten Generationen Anarchien i n der modernen Gesellschaft aufgebrochen, sie haben auch den Staat erfaßt. Dieses Polaritätsdenken w i r d nun aber durch die Mitbestimmung vielleicht überdeckt, keineswegs jedoch aufgehoben. Unüberhörbar verkünden die mächtigsten Mitbestimmungspartner, die Gewerkschaften, daß für sie die Frontstellung gegenüber dem Kapital immer bleiben wird, wie hoch auch die Parität gesetzt werden möge. Auf Konfrontation können sie i m letzten nicht verzichten, denn wäre die Mitbestimmung ein voll pazifizierendes System, so würde aus dem Gewerkschaftsbund eine Super-Holding-Gesellschaft, die „Arbeit" würde zum reinsten Kapital. Deshalb kann es für Gewerkschaften nie „die Mitbestimmung" geben, sondern immer nur „noch stärkere Mitbestimmung", neue Formen, u m
X V . Anarchische Phänomene i n der Spätdemokratie
die erst recht zu kämpfen sich lohnt. Neben Tarifgespräch und Betriebsrätlichkeit ist hier nun, i n der direktiven Mitsprache, eine dritte Front gegen Unternehmer und Kapital eröffnet, der Kampf w i r d breiter und härter — vor allem aber für die Seite der „Arbeit" aussichtsreicher. Mitbestimmung bedeutet Zurückdrängung des Kapitals, Teilsieg der Arbeit, nicht Waffenstillstand, sondern Gewinn eines Terrains, von dem aus nun allerdings der Krieg mit anderen Mitteln wieder geführt werden muß — soll Mitbestimmung Frieden sein, so war nie das Wort von Clausewitz wahrer . . . Das Bundesverfassungsgericht hat denn auch diese tiefere demokratische Logik wohl erkannt und seinem Mitbestimmungsurteil zugrunde gelegt, wenn es meint, die Mitbestimmung könne sich schon deshalb nicht gegen die Tariffreiheit wenden, weil beide ja demselben Ziel dienten, der Milderung der Unterlegenheit des Arbeitnehmers. I n Wahrheit vollzieht sich hier auch nur jenes „getrennt Marschieren", das immer noch Ausdruck großer Strategie war. Die Richtung ist denn auch bereits klar, sie führt nach Sedan: Über der Mitbestimmung steht das Ideal der vollen Arbeiter-Selbstverwaltung, ein konsequentes Ordnungsprinizp für Staat und Gesellschaft. Was soll dagegen das kleine Wörtchen „ m i t " ausrichten? So ist die Mitbestimmung, daran kommt niemand vorbei, ein zeitweises Ordnen mit dem Ziel des großen Generalangriffs auf die Ordnungsmacht des privaten Eigentums. Sie bedeutet mehr Kampf, mehr Bewegung, mehr Ordnungsauflösung i m Namen neuer Legitimationen und, vor allem, sie ist darin noch lange, immer vielleicht, auf dem Weg. Ist i n all dem ihre Grundstimmung nicht weit mehr die der Anarchie als die des „Ewigen Friedens"? b) Das große Patt — organisierte
Ordnungslosigkeit
Der große Vorwurf gegen die Mitbestimmung war stets, daß sie in ihrem Patt Ordnung auflöse, zur Handlungsunfähigkeit führe. Da sei nichts mehr vorhersehbar, planbar, entscheidbar. Auch hier hat das Bundesverfassungsgericht i n demokratischer Logik entschieden: Sache des Staates sei es, ob er dieses soziale Wagnis i n Gesetzesform eingehen wolle, und übrigens bestehe ja der Einigungszwang. I n der Tat ist dies ein staatsgewolltes Risiko — gewünscht von der Demokratie des Herrschaftsverlustes; und die „Hoffnung auf Einigung" ist letztlich nichts als eine anarchisierende Schlußakte für wirtschaftliche Ordnungsversuche; man braucht sie nicht, weil zu vermuten ist, daß die Menschen sich einigen werden. Dann bedarf es eben auch nurmehr des Rudimentärstaats der Demokratie, der gerade noch einige Einigungsformen bereitstellt. Und der höchste Satz des Rechtes lautet
4. Streik — von der Forderung zur Auflehnung
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nicht mehr pacta sunt servanda, das letzte Wort kann fehlen — es genügt, daß es „die Vertragsform gibt", man w i r d sich doch immer einigen . . . , immer von neuem einigen müssen. Die große Befürchtung von Eigentum und Unternehmerschaft, daß es zum großen Stillstand kommen könnte, deutet auch auf Formen der Anarchie: Sie kann ja nicht nur i n dauernder Bewegung, sondern auch i n vollem Stillstand eintreten; und übrigens w i r d sich, gerade damit diese Stagnation überwunden werde, die Bereitschaft zu Kompromissen ergeben, i n denen das ordnende Eigentum weiter zurückgedrängt werden kann. Auch i n allem übrigen war die Diskussion u m die Mitbestimmung i m letzten nichts als ein Gespräch über drohende Anarchie: So dort, wo die Arbeitgeber vorbrachten, es würden nunmehr Unverantwortliche i n die Leitungsgremien berufen, denen das eigentliche wirtschaftliche, das Eigentumsinteresse fehle — was könnte Anarchie anderes sich wünschen? Oder wenn man die Gefahr sah, es würden nun die Entscheidungen über wirtschaftliche Dinge nach nicht-ökonomischen, nach rein sozialen Kriterien getroffen — liegt nicht i n diesem Kriteriensynkretismus, i n diesen Interessenvertauschungen, die vielleicht allein aus dem großen Patt herausführen können, liegt i n all dem nicht organisierte Ordnungslosigkeit? Und sieht man schließlich die Mitbestimmung als Demokratisierungsform der Wirtschaft — w i r d dann nicht i n die bisher nach Interessen geordneten ökonomischen Abläufe die ganze anarchisierende Macht der Volksherrschaft getragen? Wenn also einmal das wahre, große Patt einträte, so würden sich wohl die Vertreter der „Arbeit" einfach an die Spitze anderer Kolonnen stellen, die gegen das Eigentum vorgehen: Sie wären die Führer der Streiks, anderer Formen der Anarchie. Darin aber läge kein Bruch, wie ja auch heute all diese Operationsabteilungen i n einer Gewerkschaftszentrale zusammengefaßt sind; es fände nur ein Frontwechsel statt. Vor allem aber käme es zu keinem Umschlag i m Geistigen: Nur Formen der Ordnungslosigkeit würden ausgetauscht, das große und sehr ferne Ideal der neuen sozialen Ordnung würde dann immer noch alles legitimieren und leiten — i n eine sehr ferne Zukunft, zunächst einmal durch lange, lange anarchisierende Kämpfe. 4. Streik — von der Forderung zur Auflehnung a) Die Anfänge: „Gegen alle Ordnung" Der Arbeitskampf ist heute geradezu pazifiziert worden — verbal und i m Bewußtsein der Bürger. Alles Aufständische hat er verloren, ja er scheint zur Ordnungsmacht gewandelt. I m Streikwort klingt noch
X V . Anarchische Phänomene i n der Spätdemokratie
etwas mit wie Aufstand, i m „Arbeitskampf" w i r d es zur gleichgewichtigen Interessenaustragung beruhigt. Der Bürger weiß, wie wenig gestreikt wird, daraus schließt er auf die Ungefährlichkeit, ja Notwendigkeit dieser Auseinandersetzungen „ i n ärgsten Fällen", i n eigentümlicher Begründung der Berechtigung aus Nichtanwendung eines Rechts. Doch die Geschichte hat es stets anders gewußt, von seinen Anfängen an war der Streik vor allem eines: eine Wendung gegen die wichtigste Ordnung, die den Streikenden umgab, sehr bald gegen alle Ordnung schlechthin. I m Worte „Strike Work", w i r bemerkten es schon, liegt diese überschießende, wahrhaft anarchische Tendenz — hinwerfen alles, was gerade von Bedeutung sein kann, hinhauen mit Gewalt. Historisch primär war ja hier nicht der geordnete, wirtschaftliche Kampf u m einzelne ökonomische Positionen, u m einige Pfunde oder Mark mehr. I m Klassenkampf, aus politischen Anarchie-Vorstellungen heraus, traten die Arbeiter des 19. Jahrhunderts an gegen ihren Arbeitgeber, i n i h m aber wollten sie die Bourgeoisie treffen, i n ihr die bestehende Ordnung, alle Ordnung überhaupt. Denn alles, was sie an Ordnung absehen konnten, erschien ihnen als Übel — mußte vielen von ihnen so erscheinen. Nie wäre der Streik, der organisierte Vertragsbruch, die massive Außerkraftsetzung der bedeutendsten Ordnungsinstrumente der liberalen Gesellschaft hingenommen worden, wäre er nicht von Beginn an als ein politisches Phänomen der Anarchie mächtig genug gewesen. Als Forderung hatte er von Anfang an keine Chance, als Auflehnung brach er durch. Das U r b i l d des Streiks ist der 1. Mai m i t seinen Massendemonstrationen und roten Fahnen, alle Streiks waren irgendwie immer eine Erinnerung und Sehnsucht daran, bis der Staat der Nationalsozialisten daraus eine i m Grunde ganz radikal demokratische Folgerung zog und dies alles i m „Tag der Arbeit" verstaatlichte, pazifizierte. Doch ist diese Pazifizierung des Aufstandes w i r k l i c h gelungen, ist der Streik von der Auflehnung zur Forderung auch heute kanalisiert worden, so wie i h n der Diktator i n seine Staatsform zementieren wollte? Betrachten w i r diese streikgeprägte Form der jetzigen Arbeitskämpfe näher, so zeigt sich auch heute noch ihr altes Wesen: anarchische Wendung gegen die Ordnung. b) Streiken — nicht „für",
sondern „gegen"
Jeder wahre, größere Streik hat vieles vom Kriege. Auch dieser mag ja geführt werden „mit begrenzten Zielen", „für etwas". Doch sehr bald dominieren eben die Mittel, wie sie nicht „für", sondern i n erster
4. Streik — v o n der Forderung zur Auflehnung
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Linie „gegen" etwas eingesetzt werden, so richtet sich rasch alles nach ihnen, sie prägen die Struktur des Krieges^ beschäftigen den Geist der Kriegführenden. Den Gegner gilt es, „zuerst einmal" niederzuwerfen, Kriegsziele sind immer sekundär, meist höchst problematisch, man denke nur an die großen Kriegszieldiskussionen des Ersten und Zweiten Weltkriegs auf allen Seiten. So auch der Streik: Zuallererst werden i n i h m große Kräfte mobilisiert, totale Anstrengungen unternommen; die Gewerkschaftsführung setzt sich m i t i h m aufs Spiel, der Arbeitnehmer riskiert nicht die wenigen Mark von heute, sondern seine Position für die künftigen Jahre, seine Stellung am Arbeitsplatz, wenn nicht diesen selbst. Man ist an die deutschen Diskussionen nach 1914 erinnert: Nicht darum geht es primär, welche belgische Provinz noch annektiert werden soll; dem „Feinde muß der eigene Willen auf gezwungen werden". I n diesem Sinne ist auch beim Streik das eigentliche Ziel die Verhandlung unter Druck, der Waffenstillstand i m Walde von Compiègne; was dabei herauskommt, mag immer erfreuen, i m Grunde aber ist es sekundär, Forderungen können daher auch zurückgenommen werden, der eigentliche Sinn des Kampfes war es, Kampfbereitschaft, Kraft, Überlegenheit zu beweisen. Es geht nicht darum, m i t listigen Drähten aus einer Maschine Geldstücke zu angeln, nach schweren Faustschlägen sollen sie herausfallen, i m Grunde beliebig viele. Diese Schläge aber richten sich, wie auch i m Kriege, gegen das Zent r u m der gegnerischen Macht, gegen den Apparat als solchen, damit aber gegen Ordnungen oder Ordnungsversuche aus Eigentum, Kapital, ökonomischen Interessen. Und diese selbst schlagen auch i n ähnlicher Weise, „virtuell-total" zurück, wenn i n der Aussperrung die gewerkschaftliche Organisation gebrochen oder doch wesentlich geschwächt werden soll. So wie der Krieg also das Ende fast allen Rechts ist, zugleich aber auch, eben i n dieser seiner Anarchie, der „Vater aller Dinge" — so endet i m Grunde i m Arbeitskampf die soziale und wirtschaftliche Ordnung auf breiter Front, möglichst weithin soll sie i n Stücke geschlagen werden; die Verträge werden aus Instrumenten ruhigen, verständigen Interessenausgleichs zu Ratifikationsformen errungener Siege. Wie könnte eigentlich Ordnung heute stärker, grundsätzlicher abgeschwächt, j a zerstört werden, als durch solchen sozialen Krieg, was immer i m einzelnen hier nun wirklich vernichtet werden mag? Als ob Krieg nur durch die Zahl der zerstörten Häuser zu definieren wäre! I n diesem Sinne hat man auch immer wieder von dem Gefährlichsten gesprochen, was der moderne Arbeitskampf geschaffen hat, vielleicht noch nicht so sehr i n Deutschland als dort, wo er w i r k l i c h ernst genom24 Leisner
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men wird: von der Streikmentalität. I n ihr w i r d das, was für allen Arbeitskampf am wichtigsten ist, die stete Kampfbereitschaft, zur ständigen Kampfmentalität gesteigert, die Auseinandersetzung w i r d geistig verewigt. I m Arbeitgeber nicht so sehr den heutigen Partner, als den morgigen Gegner sehen — dahin ist doch nur ein Schritt, und verlangt denn nicht die Streikbereitschaft, ohne die es nie wahren Arbeitskampf geben kann, eben diese Grenzüberschreitung? Verträge nurmehr als kurze Waffenstillstände, der Partner als Feind — kann man Anarchie, Ordnungsverlust als Prinzip, noch anders definieren? Nun setzen allerdings all jene fleißigen, i m letzten aber hoffnungslosen Versuche ein, die Auflehnung zur „Verhandlungsform" zu begütigen: Da soll der „Proteststreik" bedenklich sein, weil er sich i m Negativen erschöpfe, keine eindeutigen Forderungen aufstelle — als ob es nicht allem Streik wesentlich wäre, zuerst und grenzenlos zu protestieren, kopfschüttelnd den Verhandlungstisch zu verlassen, weil eben überhaupt kein Weg zum Gegner führt, zur „vernünftigen Forderung". Ein Streik aber, der nicht echt protestiert, was ist er anderes als armer Kuhhandel — u m einmal ein Wort aus dem härteren Vokabular dieser kriegsähnlichen Auseinandersetzung zu gebrauchen. Da erregt sich ängstlicher Pazifismus über die Gefahren für den „sozialen Frieden", über die „starken Worte" — sie müssen sein, durch sie ist Streik, wenn sie verkümmern, vergeht die große Idee der Auflehnung, sie zeigen doch nur, daß es i m Streik darum gehen muß, i n kriegsähnlicher Beleidigung fremder Würde deren Träger zu brechen. Wer sich schließlich darüber erregt, daß schon während eines laufenden Streikes geistig oder gar materiell Vorbereitungen für den nächsten getroffen werden, der hat eben nichts vom Wesen dieser Auseinandersetzung erkannt, der es nicht u m einige Groschen von heute geht, sondern u m die Sturmreife der Bastionen des Gegners, ein für allemal. Muß man hier noch Parallelen zur Anarchie ziehen? c) „Ausufern"
— das innere Gesetz allen Streikens
Gerichtsentscheidungen, und vor allem den „großen Urteilen" ist es eigen, daß aus ihnen nur zu oft das „schlechte Entscheidungsgewissen" der Richter spricht — darin ehrt sich eine liberale Judikative durch die Selbsterkenntnis der Grenzen politischer W i r k k r a f t des Geistigen. Doch nirgends wohl w i r d dieses schlechte Gewissen so deutlich wie i n den Grundsatzentscheidungen der Arbeitsgerichtsbarkeit zum Streik. Hier reißen gewundene Versuche nicht ab, „Mißbräuche", „Übergriffe", ein Ausufern des Kampfes zu verurteilen — und doch zugleich die Dyna-
4. Streik — v o n der Forderung zur Auflehnung
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m i k zu loben und zu bewahren, aus denen sie notwendig kommen müssen. Diese Doppelgesichtigkeit des Versuchs der Herrschaft, der Ordnungsbewahrung muß die Streitenden immer wieder enttäuschen, das viel gebrauchte Wort der „Erbitterung" über solche Urteile ist hier begreiflich. Wäre es wirklich den Arbeitsrichtern unbekannt geblieben, daß der Streik kein friedliches Bächlein ist, daß, wer i h n akzeptiert, auch seine Gesetze annehmen muß? Die Richter lernen langsam auch dies — ihre Ausführungen zu den Streikposten zeigen es, die da den Arbeitswilligen „nachdrücklich darauf hinweisen dürfen", wie die Bewußtseinslage der Streikenden ist. Denn diese Wirklichkeit kennen sogar die Richter. I n ihr spiegelt sich all das, was anarchischen Bewegungen eben eigen ist: — Der „wilde Streik" der sich nicht u m Vertragsbindungen kümmert — nie w i r d es gelingen, i h n aus dem Begriff des Streikes geistig zu eliminieren. — Der gewaltsame Streik, m i t seinen Streikposten, Fabrikbesetzungen, bis h i n zur Zerstörung. Wenn der Bürger nurmehr friedlich streikend ins Grüne fährt — wer w i r d denn dann aufmerksam auf seine Rechte, auf seinen Ordnungsprotest? Wenn er die Gegenseite nicht beleidigt, was werden dann die Medien anderes von i h m berichten, als daß er nun schon i n der zehnten Woche nicht arbeite? W i l l man so die anarchische Auflehnung i n die sinnlose, schweigende Materialschlacht treiben? — Der Streik ohne Rücksicht auf große und größte Schäden gehört zum Wesen dieses Ordnungsverlusts. Die eigentliche Anstrengung des Arbeitskampfs darf sich nicht kalkulieren lassen, w e i l sie selbst nicht räsoniert, weil sie einfach kämpft. Hier t r i t t das Verhältnismäßigkeitsprinzip, die höchste Norm der Rechtsstaatlichkeit, völlig außer Kraft, und gerade durch den Verlust der Verhältnismäßigkeit definiert sich j a auch die Anarchie. Die Bereitschaft zur Störung der Volkswirtschaft, zur Anrichtung irreparabler Schäden w i r d ganz zu Unrecht als Mißbrauch kritisiert — sie liegt unausgesprochen i n jedem, auch i m kleinsten Streik, er rechnet eben damit, daß es j a letztlich nichts Irreparables gibt, vor allem nicht an der Ordnung . . . — So ufert denn auch der Streik ganz wesentlich bis zur Selbstschädigung aus, bis zur Bereitschaft, den eigenen Arbeitsplatz, die eigene Existenz zu gefährden. Solange noch Aufrufe des „Kapitals" Gehör finden, sich doch nicht den eigenen Ast abzusägen, ist nicht die w i r k liche Streikbereitschaft erreicht. Denn dem Anarchischen, das i n all dem w i r k t , geht es i n erster Linie nicht u m eigene Interessen, sondern u m die Zerstörung von Ordnungen. 24·
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Man mag und w i r d sicher einwenden, all diese Bereitschaften, all diese Züge i n die Unendlichkeit des Ausuferns zeige doch gerade in Deutschland das soziale B i l d schon lange nicht mehr. Andernorts gibt es sie, sie gehören zum Wesen des Streiks, sie liegen auch i m deutschen Streik. Wenn sich etwas nicht voraussagen, sondern vorhersehen läßt, dann dies. d) Vom wirtschaftlichen
Streik zur politischen
Demonstration
Das Grundgesetz gewährt Arbeitskampffreiheit, wenn überhaupt, dann nur zu wirtschaftlichen Zielen. Doch was kann dies anderes sein als eine „Norm vorbei an der Wirklichkeit", erkennt man nur die anarchischen Gründe des Streiks? I n der Radikalität seiner Ordnungsablehnung ist er ein politisches Faktum, i n diesem Sinne ist wirklich alles nur politischer Streik. Über alle juristischen Abgrenzungsversuche hinweg, so logisch folgerichtig sie auch sein mögen, zeigt sich i n der Wirklichkeit die politische Einheit des Streikbegriffs: Wer kann es den Gewerkschaften verübeln, wenn sie sich gegen eine bestimmte Sozial- oder Arbeitsgesetzgebung, gegen grundlegende Veränderungen der Wirtschaftsverfassung i n solchen Formen wenden — oder sollen sie warten, bis sie auf ihre M i t glieder „durch Verwaltungsakt angewendet werden", kann man den „Streikbereiten" zu einer A r t von „Rechtswegerschöpfung" zwingen? Wenn aber der Kampf gegen die Gesetzgebung ein „politischer" ist oder die Wendung gegen Urteile, die etwa Fabrikbesetzungen unterbinden wollen, gegen Verwaltungsakte, die sich gegen demonstrierende Arbeiter wenden — was ist dann eigentlich nicht mehr „politisch"? Wenn der Arbeitgeber angegriffen werden darf, dessen Interessen aber der Gesetzgeber bereit ist zu ratifizieren, ist dann diese interessenwahrende Gesetzgebung tabu? Darf gerade eine Demokratie so unterscheiden, welche ihr Parlament doch versteht als eine Bündelung und Ratifizierung vielfacher Privatinteressen? I m Solidaritätsstreik werden die Grenzen der Wahrung „eigener wirtschaftlicher Interessen" doch sogleich ebenfalls überschritten, damit aber gewinnt er ein gesamtwirtschaftliches Gewicht, auf diese Weise w i r d er, ex definitione, ein politisches Faktum. Und wo wären heute i m Grunde nicht derartig übergreifende Wirkungen i n andere Räume hinein? Arbeitskämpfe i n zentralen Bereichen der Volkswirtschaft heben die Ordnung, die Produktivität, die Arbeitsmöglichkeit i n vielen anderen Sektoren auf, vielleicht i n allen wichtigen. Liegt nicht schon i n diesem Übergreifen i n fremde Interessenssphären eine Politisierung, wie läßt sie sich denn anders definieren als damit, daß die „eigene Inter-
4. Streik — v o n der Forderung zur Auflehnung
essenwahrung verlassen" w i r d — und erfolgt nicht gerade dies hier auf breitester Front? Und wenn von solchen „Zentralstreiks" makroökonomische Wirkungen ausgehen, und dies ist doch die Hegel, w i r d dann nicht erst recht wieder der Übergang ins Politische erreicht? Einen unzulässigen „politischen" Streik kann nurmehr definieren, wer es unternimmt, die Makroökonomie zu entpolitisieren. I m öffentlichen Dienst soll zumindest den Angestellten und Arbeitern der Arbeitskampf erlaubt sein, für Beamte w i r d dieses Recht gefordert. A l l diese Streiks aber können nur als „politische" qualifiziert werden, richten sie sich doch gegen die Zweite Gewalt, die i m öffentlichen Interesse handelt, wenn nicht, i m Grunde, auch gegen den Gesetzgeber, der aus Steuermitteln das Geld zur Erfüllung der Verträge bereitstellen muß. Keine noch so feinsinnige juristische Konstruktion kann hier, etwa durch Unterscheidung von Erster und Zweiter Gewalt, die A k t i o n entpolitisieren. M i t zunehmendem Staatseinfluß auf die Wirtschaft verschärft sich auch, i n den westlichen Demokratien, notwendig der politische Charakter der Arbeitskämpfe, Italien bietet das Beispiel. Dort und i n Frankreich richten sich ja die Spitzen solcher Aktionen gerade auf jenen öffentlichen Sektor, i n dem zugleich „mauerbrechend" die Ordnungsmacht des Staates getroffen werden soll. So entwickelt sich eine Gesetzmäßigkeit: Je weitergehend die politische Gemeinschaft anarchisiert wird, desto mehr muß es über Streiks zu noch weiteren, ebenfalls politisierenden Anarchisierungen kommen — weil der Staat, hier der eigentliche Gegner, immer schwächer wird, weil aber er, weil die politische Gemeinschaft allein es ist, welche die weitreichenden Forderungen noch erfüllen könnte, längst nicht mehr die Arbeitgeber. So ist denn nicht nur jeder größere Streik schon heute i n der Spätdemokratie „politisch", eben i n dieser steigenden Anarchie wächst auch das politische Gewicht der Auseinandersetzungen. I n letzter Zeit richten sich politische Streiks sogar, i n eigentümlicher Verschlingung, gegen Formen der Anarchie selbst, etwa gegen den Terrorismus. Darin w i r d erfreuliche Solidarisierung m i t den Grundwerten der freiheitlichen Demokratie gesehen. I m Grunde ist es ein recht eigenartiges Heilmittel: Formen der Anarchie, der Bruch der Arbeitsordnung, werden gegen andere Anarchie, gegen den Bruch der staatlichen Ordnung eingesetzt. Aus all dem entsteht dann nicht Solidarität, sondern nur noch mehr Verlust an Ordnung.
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e) Streik — überall Daß der Streik eine allgemeine Erscheinung der gesellschaftlichen Anarchie darstellt, welche i n der Spätdemokratie rasch auf den Staat übergreift, zeigt sich vor allem auch darin, daß er immer weniger auf das Arbeitsleben beschränkt werden kann — eben weil es nicht gelingen wird, Anarchie sektoral zu halten. Rechtlich mag der Streik noch immer auf die kollektive Niederlegung abhängiger Arbeit beschränkt sein; nicht ohne wachen Sinn für die politischen Zusammenhänge verwenden die Bürger das Wort weit darüber hinaus — da gibt es Schüler- und Studentenstreiks, Fuhrunternehmerstreiks, die demokratische Präsidenten stürzen konnten, der einzelne selbst möchte, gleich wo er steht, irgendwann einmal „alles hinwerfen, streiken, sich der Anarchie ergeben". Weil man ihn i m Grunde keinem Bürger der Gleichheitsdemokratie verübeln kann, diesen letzten Ausbruch aus der Ordnung, weil er i m protestierenden Wesen des Streiks liegt, des „gar-nicht-mehr-Wollens", schon darum kann er auf Dauer nicht auf die abhängige Arbeit beschränkt sein, aber auch deshalb, weil ja jede Tätigkeit i n der Gemeinschaft i n jenem politischen Bezug zur Staatsmacht steht, welchen aber der Streik erfassen und abschwächen w i l l . Diese radikale Reaktion politischer Unzufriedenheit ist es, die immer mehr unter dem Worte „Streik" verstanden, aus der heraus dieses Verhalten gebilligt w i r d oder doch verständlich erscheint, wo immer es auftritt. So verdient dann i m letzten der „wilde", der „ziellose" Streik, die reine Protestaktion den Namen ebenso wie der „geordnete Arbeitskampf", von wem immer sie auch ausgeht; das Semantische ist wieder einmal stärker als alles Recht und w i r d dieses, früher oder später, m i t sich reißen. Wenn es schließlich zum Wesen des Streiks gehört, daß er „auf das Ganze der Ordnung zielt", so müssen eben bei i h m auch, vor allem i n einer Gleichheitsordnung, „alle m i t t u n können" — der Streik als Menschenrecht auf Anarchie. f) Der Widerstandsstreik
— Streik als Revolutionsbeginn
Der Kreis schließt sich, vom Streik über Demokratie und Revolution zur Anarchie, wenn man das Wesen des Streiks als eines Revolutionsbeginns erfaßt. Erst dann w i r d der Arbeitskampf ganz zum Streik, i m Grunde zu etwas ganz anderem als einem Interessenausgleich zwischen Sozialpartnern, wenn er m i t diesem revolutionären Unendlichkeitsschwung geführt wird. Die Demokratie hat dies immer, wenn auch meist nur i n Formen der Revolutionsromantik, anerkannt. I n der pazifistischen Ordnung der deutschen Demokratie träumt manche Jugend
4. Streik — v o n der Forderung zur Auflehnung
von der Romantik der „ganz großen Streiks", i n denen die Geschichte stillstand und die Demokratie begann, von der Russischen Revolution über den Kapp-Putsch bis ins neueste Polen. Der Streik w i r d zur Reservewaffe des Widerstands gegen die Staatsgewalt, heute ist er die moderne Form des Volksaufstandes, der geradezu schon klassische „Beginn der Revolution"; Süd- und Mittelamerika liefern die Lehrstücke. Von Marxisten ist er so eigentlich immer, sozusagen authentisch, interpretiert worden, waren doch sie es, die i h n als ein solches Instrument geschaffen und entwickelt haben. Nun w i l l es die Geschichte, daß er i n Polen, zum ersten Mal i n ganz großer Form und wahrhaft regimeverändernd, gegen sie selbst angewendet wird. Dieser Widerstandsstreik ist nicht Entartung der Bewegung, i n i h r vollendet sie sich, hier erreicht sie höchste Legitimität, findet ganz zu ihren ursprünglichen Quellen — eben zur Anarchie. Denn diese Widerstandsbewegungen der Streikenden sind typische und allgemeine Gewaltablehnungen — sie wollen ja gar nichts schaffen, sie bleiben zunächst rein und total destruktiv, wie etwa der Generalstreik i n Frankreich i m Jahre 1968. Ihre gefährlichsten Formen sind auch gar nicht mehr die der Aktionsstreiks, es ist vielmehr jener Abstentionsstreik, i n dem der Bürger „zu Hause bleibt", jeder Bürger, bis die Herrschaft aufhört, jede Gewalt. M i t aller Macht w i r d dies daher erst möglich i m Gleichheitsstaat. Darin übrigens führt sich die Demokratie i m Grundsätzlichen ad absurdum, braucht sie doch gerade den aktiven Bürger, nicht den politischen Isolationisten, der sich i n die Anarchie zurückzieht. Doch es bleibt dabei: Dieser Widerstandsstreik ist bisher das einzige Mittel gewesen, das sich selbst gegen Formen der Gleichheitsdemokratie durchzusetzen vermochte, indem eben die Anarchie stärker war als die Demokratie, weil diese mit „demokratischen" Mitteln, durch Massenaktion überwunden wurde. Chile und Polen haben begonnen, wieviele andere werden folgen? Aus den Barrikaden w i r d hier das totale, das endgültige, das alles auflösende Nein der Bewegungslosigkeit, das wohl bereits den Namen des politischen Nihilismus verdient. Dieser Streik schließlich ist auch die einzige Macht, die mit militärischen Mitteln nicht zu brechen ist, die stärker bleibt als jede Technik, weil sie eben das „Anarchische Nichts" gegen die Macht selbst wendet, das m i t Mitteln der Herrschaft überhaupt nicht mehr faßbar, zerstörbar, umfunktionierbar ist. So hat denn die Volksherrschaft hier ein furchtbares demokratisches Revolutionsinstrument nicht geschaffen — wie könnte sie dies, als Staatsform des Ordnungsverlusts? — sondern zugelassen, und zwar nicht zuletzt gegen sich selbst.
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X V . Anarchische Phänomene i n der Spätdemokratie
5. Studentenunruhen —• Anarchie aus Wissen a) Jugendanarchie — aus abgeschwächter Ordnung heraus Seit der Russischen Revolution hat die moderne Gesellschaft i n den Studentenunruhen der sechziger und siebziger Jahre zum ersten Mal wieder die Anarchie i m großen fürchten gelernt. I m Mai 1968 brach i n Paris die Herrschaftsverneinung der Jugend unter schwarzen Fahnen aus. Unterstützt wurde sie von einem Generalstreik, i n dem auch die Arbeitsniederlegung ihre große, anarchisierende Dimension zeigte. Spätestens damals ist j a bewiesen worden, daß man Streik nicht auf Heller und Pfennig festlegen kann. Auch die Studenten- und Jugendunruhen waren und sind i m Grunde Streik, Auflehnung, Aufstand gegen Ordnung als solche. Seit dem Beginn der großen sozialen Unruhen gehört die Verbindung „Studenten und Arbeiter" zum Glaubensbekenntnis dieser Bewegung. Junge, unverbrauchte, intellektuell scharfsichtige Bürger sollen durch die List der sozialen Vernunft an die Spitze der Arbeitermassen gestellt werden, denen Ausnutzung und Abnutzung des Arbeitslebens nicht alle Kräfte, wohl aber die anarchische Stoßkraft genommen haben. Vieles von dem ist Sozial- und Revolutionsromantik, heute allerdings schon weithin Bestandteil des ideologischen Negativ-Repertoires der i n Anarchie erschütterten Spätdemokratie. Einige Wahrheit ist aber auch darin, i n der angeblichen Notwendigkeit dieser Verbindung von Arbeitern und Studenten: Da ist die Ablehnung der Lehrenden, welche i n die Position exploitierender Arbeitgeber gerückt werden; und vergeblich mag man dagegen einwenden, daß sie doch den Studenten gegenüber keine wirtschaftlichen Interessen verfolgten — sie werden als Vertreter der Ordnung kritisiert, wie ja auch i m Streik der Arbeitgeber nicht so sehr i n seinem Gewinn, als vielmehr i n seiner Betriebsordnungsfunktion der Gegenstand der Angriffe ist. Und dann ist da der Führungsanspruch, der Aktionsanspruch schlechthin einer jungen, geistig regsamen Generation, die zwar m i t altruistischen Worten an die Spitze der Arbeiterschaft treten, i n Wahrheit jedoch damit nur den durchaus verständlichen geistigen Machtanspruch aktiver Jugend verwirklichen will. Gemeinsamkeit von Studenten und Arbeitern gibt es also, sie w i r d wohl immer bestehen, aber stets nur auf Zeit, vor allem i n jener ersten, am reinsten anarchischen, weil rein destruktiven Phase von Streik, Widerstand, Revolution. Dann allerdings, wenn es u m neue Ordnungen geht, zerfällt dieses Bündnis i n aller Regel, fast beziehungslos steht (Jam* wiedçr diç lernende Jugend nçben dem tätigen Volk. Es ist also
5. Studentenunruhen — Anarchie aus Wissen
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ein durchaus und typisch anarchisches Bündnis, das hier immer wieder eingegangen wird, i n dessen ideologisierender Suche die Studentenunruhe regelmäßig über sich hinaus- und i n die große Ordnungsablehnung hineinwächst. Doch ihr wahrer Ausgangspunkt liegt nicht i m Altruismus der Führung hilfloser Massen. Studierende werden sich immer wieder und ganz grundsätzlich gegen die Ordnung wenden, weil sie selbst i n einer Welt bereits abgeschwächter Ordnung leben — was sie übrigens auch mit manchen Arbeiterschichten gemeinsam haben mögen, welche i n einer A r t von proletarischer Vermassung aus jeder integrierenden Ordnung geworfen sind. Der Student, und heute weithin sogar schon der Schüler, lebt eben „zwischen zwei Ordnungen", die der Familie hat er verlassen, i n die des Berufslebens ist er noch nicht eingetreten. Da er kein Eigentum besitzt, noch keines erwirbt, erfaßt i h n auch noch nirgends diese Ordnung des ökonomischen Egoismus. I m modernen Staat ist er aus dem Almosenempfänger eines arrivierten Bürgertums zum Kostgänger einer schwachen Verteilungsstaatlichkeit geworden. I h r meldet er immer selbstbewußter seine Forderungen an, i m Grunde aber wohl wissend, daß er ein „Recht" darauf, nach den ökonomischen Systemgrundsätzen dieser selben Staatlichkeit, i m Grunde doch nicht hat; und dies wiederum bringt i h n schon gegen eine Ordnung auf, i n welcher er i m letzten eben — gar keinen Platz findet. Früher gab es für i h n die Ordnung der Armee, bis h i n zu den begeisternden Idealen eines Todes auf Schlachtfeldern. Heldentum oder Verbrechen — i n all dem war eine jugendkonforme, eine studentenförmige Ordnungsmacht, gerade i n all dem Überschäumenden, Gewaltsamen. Der moderne Staat hat sie bisher durch nichts zu ersetzen vermocht, ebensowenig die Gesellschaft m i t ihren „Jugendbewegungen". Der intellektuellen Jugend w i r d Förderung zuteil, aber nicht das, was sie viel mehr bräuchte: Ordnung, Begegnung jedenfalls mit einer Ordnung, welche man vielleicht ablehnt, weil sie verwandelt werden soll, die aber doch noch eine Kraft ist, gegen die sich etwas wie ein „positiver Kampf" lohnt. Die akademische Jugend, welche heute meist schon i n den Familien kaum mehr anderes erlebt hat als abdankende Schwächlichkeit persönlicher Ordnungen, steht überdies an den Hochschulen i n einem Raum der Ordnungsverdünnung, welche sie noch weiter von allem Ordnungsverständnis entfernen muß. Die doch noch immer, jedenfalls für viele Studienrichtungen, beachtliche akademische Freiheit, die tatsächliche Ungebundenheit, welche hier i m Gesellschaftlichen besteht — dies alles schafft einen Lebensraum, ein Lebensgefühl, aus denen nichts
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leichter entstehen kann, als die größere Herrschaftsablehnung. I n dem Maß, i n welchem die letzten Jahre der Höheren Schule „entschult" werden, i n Kollegstufen und parauniversitären Kursen, greift diese heute ganz wesentlich hochschulanarchische Stimmung schon auf die Jüngeren über, so wie, umgekehrt, Verschulungstendenzen i m Bereiche der Universitäten deutlich entanarchisierende Wirkungen zeigen — und denn auch deshalb von radikal-demokratischen Kräften bekämpft werden. Die Demokratie muß ja i m letzten diese herrschaftsverdünnten Lebensabschnitte, die doch für die meisten endgültig prägend, entscheidend werden, aus ihrem Grundverständnis heraus begrüßen: Findet hier nicht in Herrschaftsdistanz, i n Machtablehnung, Erziehung zur Demokratie statt, ist nicht doch heute die viel kritisierte Universität wenigstens darin eine „Schule der demokratischen Nation", daß sie i m Zent r u m des Lebens der führenden Schicht die Öffnung zur Weite der Anarchie bringt? b) Die anarchisierende Kraft des Wissens I n Studentenunruhen hatten sich auch Stimmen erhoben gegen die „Religion des Wissens", gegen die Ordnungsmacht der Wissensvermittlung. Doch i m Grunde gibt es eine solche Religion, eine solche Ordnung nicht, jedenfalls nicht i m Sinne staatsähnlicher Mächtigkeit. Gerade auf der Höhe der universitären Lehre und Forschung begegnet die Jugend wesentlich intellektuellen, nicht voluntativen Anstrengungen, davon allein ist wahrer Wissenschaftsbetrieb getragen, nicht von einer Ordnungssuche, i n der noch immer „stat pro ratione voluntas". Mag die Vorlesung der Massenuniversität noch disziplinierendherrschaftliche Züge aufweisen, das Seminar, das eigentliche Zentrum des traditionellen Universitätsbetriebs, ist ein herrschaftsloser Vorgang, aus staatlicher Sicht ein nicht qualifizierbares Herrschaftsvakuum. I n dieser Forschung und ihrer Lehre an den Hochschulen muß überzeugt, es kann nicht gezwungen werden, der typische Zwang der staatlichen Ordnung steht auch nicht entfernt i m Hintergrund bereit. Was bleibt, ist also nur ein ordnungsfreies „Ansprechen des Einzelnen". Mag er sich auch, äußerlich betrachtet, i n der Studentenmasse verlieren — immer bleibt er an einer wahren Universität jene gerade i n der geistigen Anstrengung völlig isolierte Einzelperson, so allein m i t sich und seiner Anstrengung wie der Lehrende, mit dem er diese wahrhaft anarchische Isolation teilt. I n all dem ist schon Herrschaftsfremdheit, bis h i n zur Herrschaftsnegation.
5. Studentenunruhen — Anarchie aus Wissen
Die Strukturen von Wissen und Herrschen sind bereits darin grundverschieden, daß das erstere aus dem Zweifel herauswächst, i n i h m immer stark bleibt, während die Herrschaft letztlich nur durch eine Bejahung mächtig werden kann, welche sich stets am Ideal des u n k r i tischen militärischen Gehorsams ausrichten wird. Wenn Hohe Schulen diesen Namen noch verdienen wollen, so muß i n ihnen die Macht des kritischen Geistes sich entfalten, die aber immer etwas von der großen Anarchisierung aller geistigen Anstrengungen i n ihrer Ziellosigkeit an sich tragen wird; und dagegen w i r d keine ministeriale Kontrolle der Gesellschaftsnützlichkeit von Forschung und Lehre je etwas ausrichten. Wissensvermittlung ist voll-administrativer Ordnung unzugänglich; hier bleibt stets der Lehrende m i t seinen pädagogischen Fragen, der Lernende mit seinen geistigen Ordnungsproblemen allein. Nur zu oft mißlingt ihnen beiden diese geistige Ordnung, i m letzten kann sie eigentlich nie gelingen; dann aber schlägt die gescheiterte geistige Ordnungsanstrengung, das innere Ordnungsdefizit, sofort nach außen um, bis h i n zum anarchischen Aktionismus nicht nur der Studenten, auch von Professoren. Den „gescheiterten Intellektuellen" als Revolutionär kennen alle Bürgerängste; vorschnell aber ist nur zu oft diese harte K r i t i k : A n der intellektuellen Ordnungsaufgabe scheitert ja, für einige Zeit, meist gerade derjenige, welcher sie wirklich ernst nimmt. Daß er dann i n die Anarchie ausbricht und den Weg zurück nicht mehr findet, darin aber erst zum wirklich „Gescheiterten" w i r d — i n all dem liegt die Tragik eines Intellektualismus, der i n Auflehnung enden muß, wenn er nicht durch die besondere Kraft der Persönlichkeit, oder durch die einschläfernde Wirkung tagtäglicher Routine, i n Ordnungen gezwungen wird. Keine Schule kann j a auch letztlich „zum Wissen zwingen", Lehre bleibt immer Vorschlag, je höher sie aufsteigt, u m so mehr. Das staatliche „System" mag Wissen noch so „nahelegen", es durch Prüfungen und Zukunftsängste erzwingen — hier liegen die Grenzen aller Schulpflicht: Schulzwang kann niemals i m letzten Wissenszwang werden. Der Widerstand der alten Hochschule gegen „Verschulungen", der hier von der Herrschaftsablehnung der Jugend unterstützt wird, ist rundum nur ein Anarchiephänomen, aber ein typisch geistiges, es w i r d aus der Wissensvermittlung heraus mehr als gerechtfertigt — wenn es etwas wie Legitimationen hier überhaupt geben kann, wo das Geistige dem „ganz anderen" Staatlichen gegenübertritt. I n der Lehre als Vorschlag zur Selbstaneignung liegt aber stets auch das Recht zur Verneinung, zum Rückzug aus allem Wissenszwang, aus den Einzelheiten wie aus dem Ganzen des Intellektualismus. Was es also überhaupt noch an Ordnungsansätzen i n diesem geistigen Bereich gibt, das steht letztlich zur
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Disposition des Einzelnen, damit aber w i r d die Anarchieversuchung des Verzichtes, der Ablehnung, des „Rückzugs aus allem" besonders groß. I n all dem sind die Hochschulen — sagen w i r es heraus — „Institutionen zur Anarchie" immer gewesen und werden es immer sein, solange sie noch hohes Wissen vermitteln. Doch sie belassen eben die Jugend, und dies ist die andere Seite, nicht i n der Aktionslosigkeit anarchischer Stumpfheit, sie bringen gerade die aktive Anarchie hervor: Der Lehrende wie der Lernende, beide leben sie aus der Illusion heraus, daß das „Richtige" „eigentlich" auch herrschen kann, herrschen muß. Für den jungen Menschen bedeutet es, daß er i m Namen dieser seiner Zukunftschance eines Tages aus dem Gelernten heraus herrschen wird. Damit w i r d seine Lebensvorbereitung auf die Führung von Staat und Gesellschaft an den Universitäten zu einer Übung des unterschwelligen intellektuellen „Willens zur Macht". Uneingestanden mag dies sein, doch der „Aufstand i m Namen des besseren Wissens" w i r d an den Universitäten tagtäglich geprobt. A l l dies aber bleibt immer i n jenem intellektuellen Geheimbereich, der kaum dem Bewußtsein des Machtwilligen selbst zugänglich ist, nie dem seiner Lehrer oder gar des Staates. So w i r d diese geheimnisvolle geistige Anarchie i n den jungen Menschen i n solchen „Zeiten der Wüste" geboren und entwickelt, i n denen sie, zwischen zwei Ordnungen, wie der Menschensohn, aus aller Beherrschung fliehen, damit sie vom Geiste versucht werden. Ob dies der gute oder der böse Geist ist, das w i r d sich erst zeigen, wenn sie zu den „Menschen", i n ihren Beruf, i n ihre künftige Führungsrolle zurückkehren, etwas aber w i r d sie immer begleiten von diesem früheren „anarchischen Zwiegespräch m i t dem Geist und sich selbst". So lädt sich denn die Anarchie i n staatlichen Organisationen selbst täglich auf, zu größerer Herrschaftsverneinung und zugleich zu explosivem Machtstreben. c) . . . i n Demokratie
verstärkt
A l l dies sind Probleme des Geistigen an sich, i n jeder Staatsform treten sie auf. Doch der Spätdemokratie ist es vorbehalten, sie besonders zu verehren, zu pflegen, zu institutionalisieren — als Formen der Anarchie. Dies allein kann ja jenem Herrschafts-Zweifel entsprechen, der i m Herzen der Volksmacht sitzt. Er muß versuchen, gewissermaßen i n sich selbst Halt zu finden, sich zu vertiefen, zu ergründen, damit er sich selbst überwinde, ad absurdum führe. Doch es geschieht das Gegenteil, er verstärkt sich nur i n intellektualisierender Anarchie.
5. Studentenunruhen — Anarchie aus Wissen
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I n einer früheren Untersuchung zur Selbstzerstörung der Demokratie wurde bereits der Nachweis versucht, daß sich die Jugend zu einer solchen Staatsform nicht ausbilden, daß sich zu Demokratie nicht erziehen läßt. Damit aber müssen alle Versuche scheitern, die Universitäten, die Schule überhaupt zur demokratischen Ordnungsbefestigung einzusetzen, aus ihnen kann immer nur noch mehr Herrschaftsunruhe kommen. Die Demokratie begünstigt dies auch noch durch all jene Veranstaltungen, i n denen sie Bildungs- und Wissenschaftsförderung betreibt, nach ihren inneren Gesetzen allein durchführen kann: — Der späten Demokratie entspricht nicht nur die Wissenschaftsfreiheit, nicht nur die Lehrfreiheit an Hochschulen, sondern eine verallgemeinerte „pädagogische Freiheit", welche sich denn auch bereits i n den Grundschulen durchzusetzen beginnt. Diese Entwicklung w i r d sich nicht rückgängig machen, Lehrfreiheit am Ende sich nie auf Universitäten beschränken lassen; schon heute sind die Übergänge fließend geworden. Dies aber muß sich noch verstärken, weil gerade darin die Demokratie von ihrer inneren Gleichheit getrieben wird. — Die Spätdemokratie muß immer mehr i n Richtung auf eine Autonomisierung des Bildungswesens i n allen Bereichen experimentieren, damit aber spielt sie m i t ihren innersten Ordnungen. Es beginnt mit Schülermitverwaltung und Elternräten und es endet i n einer Gruppenuniversität, i n welcher nach den neuesten Erkenntnissen des Bundesverfassungsgerichts die Mitsprache der Lernenden bei den Lehrveranstaltungen demokratischen Grundsätzen nicht widerspricht. I n der Tat — all dies ist ganz typisch und deutlich spätdemokratisch. Wer die „Spielwiesen" kritisiert, den Niedergang des Geistigen beklagt, der hat nichts vom Staatsgrundsätzlichen solcher Vorgänge begriffen. I n ihnen w i r d nicht nur das Geistige i n der i h m an sich schon eigenen Anarchie belassen, die Anarchie w i r d dort vom Staate noch konstituiert, organisiert, i m Namen des Geistes. Und weil sie i h m mehr gilt, und aus seinen Grundgesetzen heraus gelten muß, als alle Effizienz, ist Niveauverlust an sich schon keine K r i t i k . Sollte denn Demokratie auch wirklich nicht „erlernt werden können"? I n einem doch erscheint sie lernbar: i n der A n archie an Schulen und Hochschulen . . . Daß aus ihr dann, abschäumend, Ordnungsbereitschaft und Ordnungskraft i m späteren Gemeinschaftsleben entstehen werde, dies alles ist eben ein demokratisches Credo — vielleicht quia absurdum. Der Staat beansprucht heute nicht die Leitung, wohl aber eine „Verantwortung" für B i l dung und Schulen. I n ihrem Namen zieht er sich aus so vielen Einzelheiten zurück, überläßt sie der Anarcho-Autonomie, und
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gerade darin w i r d er dieser „Verantwortung" wieder gerecht, weil er durch sie, und die so geschaffene und erhaltene Anarchie, das Grundprinzip seiner Ordnung zum Tragen bringt. — Die Universität als Freistätte gegen die Polizei, als Asyl vor der Macht — dies war einst Ausdruck liberaler Freiheitsromantik, romantischer Frühanarchie. Aus diesen angeblichen Traditionen — die sich übrigens als solche nie wirklich haben belegen lassen — ist nun aber heute, i n der Spätdemokratie, fast schon ein Staatsgrundsatz geworden, welcher der Legitimation aus Tradition gar nicht mehr bedarf, weil er sich aus der Widerstands- und der Revolutionsideologie des Staates selbst rechtfertigt. Hier t r i t t der reine Staat der reinen Bildung gegenüber, die Ordnung i n ihrem innersten Kern der allgemeinen, geistig vermittelten Ordnungsablehnung. Und da muß sich, ganz natürlich, der Staat beugen. Dieses Gesetz darf zwar, formal, gebrochen werden, doch selten zeigt sich so deutlich wie hier die höhere Kraft der demokratischen Legitimität: Wer hier die Ordnungsmacht einsetzt, der handelt illegitim i m höchsten Sinn, an i h m muß eines Tages, i m Namen der Anarchie, demokratische Rache genommen werden. Hier w i r d ja die Herrschaft wirklich odios, weil sie es wagt, gegen das Zentrum des Anarchischen anzutreten. Der Demokratie bleibt, wie schon bemerkt, nichts als die schwache Hoffnung, all dies werde später wieder i n den „schweigenden Ordnungen" von Staat und vor allem Gesellschaft aufgesogen werden, jugendliche Anarchisten würden ja später erfahrungsgemäß die stärksten Hüter der Ordnung. Erfahrungen mögen manches davon beweisen, doch i m Grundsätzlichen erleidet der Staat hier doch einen ständigen Energieverlust seiner Ordnungsmacht: Das Wissen und seine anarchische Strahlkraft läßt sich ja auch später nicht i n beruflichen Deponien ganz entsorgen, seine geistigen Mechanismen w i r k e n weiter, i n die Erziehung der nächsten Generation meist noch hinein. I n romantischer Fortwirkung, wie sie gerade dem Anarchischen immer eigen war, prägen Jugendsehnsüchte und -erlebnisse die Verhaltensweisen der Bürger bis i n späte Jahre — gegen den Staat und seine Ordnung. Vor allem aber w i r d es eben zur Schicksalsfrage für den Staat, ob auf die Dauer nicht die ständigen desintegrativen Wirkungen der Bildungs- und Hochschulanarchie stärker sind als die einordnende K r a f t der späteren Zeiten. Wer an die vielen Schwächen denkt, die i n diesen Kapiteln der Staatlichkeit vorgehalten wurden, der kann kaum hoffen, daß sie i n ihren politischen Mechanismen Entscheidendes für diese Integration w i r d leisten können. Eines aber ist sicher: daß die Anarchie aus dem Bildungsbereich heraus immer weiterläuft, rascher, besser organisiert. Und nur die großen Distanzen können zeigen, ob Anarchie oder Staats-
6. „Ehe- u n d Famiìienanarchie"
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Ordnung den Wettlauf u m den Bürger gewinnen. Heute aber w i r d immer größer die Gefahr, daß Bildung nichts anderes ist als Rückbildung von Macht, eine Entformung von Staat und Gesellschaft, i n deren Ordnungen selbst anarchisierend.
6. Exkurs: Gesellschafts- und Staatsanarchie in gegenseitiger Verstärkung — „Ehe- und Familienanarchie" Der Spätdemokratie geschähe Unrecht, wollte man alle anarchisierenden Entwicklungen, die sich i n ihr abspielen, nur auf ihr Tun oder Lassen zurückführen, auf ihre Aktionskräfte. Heute wäre sie wohl schon viel zu schwach, u m i n solcher Weise entschieden i n die Anarchie zu steuern. Ihrem Wesen entspricht es vielmehr, daß sie eben vor allem auch gesellschaftliche Anarchie zuläßt, und ihre Verantwortung liegt allenfalls darin, daß sie dem nicht entschlossen entgegenwirkt. Die Aufgabe dieser Kapitel war es i n erster Linie, nicht die ordnungsauflösenden gesellschaftlichen Entwicklungen der neuesten Zeit soziologisch zu beschreiben, sondern die anarchieverstärkenden Institutionen der Spätdemokratie darzustellen. Beides liegt nun aber, immer häufiger, i m Gemenge; gesellschaftliche Entwicklungen und staatliches Nachgeben wirken i n Spiraleffekten, wobei dann aus dem Rückzug des Staates immer wieder ein forderndes Vorgehen gesellschaftlicher A u f lösung wird. Ein typisches Beispiel dafür bieten die Phänomene dessen, was man die „Ehe- und Familienanarchisierung" der letzten Jahrzehnte nennen könnte, sie gehört auch i n den Zusammenhang der Jugendanarchie, die nur zu oft dort bereits vorbereitet wird. Ehe und Familie müssen dabei als eine Einheit gesehen werden, was ja auch allgemeiner Überzeugung entspricht. Daß Ehe und Familie mächtige Ordnungskräfte auch für die politische Gemeinschaft darstellen, i n welcher Form immer sie auftreten, das w i r d heute von niemandem bestritten. Dabei ist es gleichgültig, ob eine solche Ordnung, aus heutiger Sicht, noch oder schon nicht mehr legitim ist, ob sie sich i n sich selbst rational rechtfertigt, ob sie durch religiöse Grundsätze oder Vorurteile geprägt war oder ist. Tatsache ist aber, und weder die Verteidiger noch die Gegner dieser bisherigen Ordnungen ziehen es i n Zweifel, daß sich diese Strukturen heute einerseits mit einer gewissen Selbstgesetzlichkeit, sozusagen von „innen heraus" auflösen, daß dies aber andererseits auch wiederum mächtig vom Staate gefördert wird, gerade aus seiner Demokratizität heraus, aus anarchischen Freiheitsvorstellungen, welche i n diesen Ordnungen
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unübersteigbare Schranken fänden. Die ganze heutige Diskussion läuft i m Grunde nur darüber ab, ob der Selbstzerfall von Ehe und Familie schon so stark ist, daß er vom Staat nicht mehr aufgehalten werden kann, und, wenn dies zu bejahen wäre, ob es dann Aufgabe der politischen Gemeinschaft ist, nur zu ratifizieren — oder gar noch fördernd i n weitere Ordnungsverluste zu stoßen, weil j a der Bürger selbst die Ordnung ablehne. Diese Diskussion muß i m einzelnen i n der Familienpolitik geführt werden, hier gilt es lediglich, m i t einigen wenigen Punkten auf die Verbindung zur politischen Staatsanarchie der Gemeinschaft hinzuweisen. Daß jeder Ordnungsverlust i n Ehe und Familie auch den Staat besonders schwer treffen muß, liegt auf der Hand, ist doch die Ordnungskraft der herkömmlichen, auf christlicher Grundlage i n unauflöslicher Einehe gegründeten Institutionen eine außerordentliche stets gewesen: Hier sind die Bindungen absolut, dauernd, völlig alternativlos. Dem trägt sogar noch ein Grundgesetz Rechnung, welches diese Institution nicht, wie etwa Eigentum oder Erbrecht, unter den Vorbehalt des staatsordnenden Gesetzes gestellt hat — m i t vollem Recht: Ehe und Familie bedürfen weit weniger der staatlichen Ausgestaltung von „Inhalt und Schranken" als etwa das Eigentum, sie ruhen i n sich selbst oder i n der sie stützenden Religion. Hier ist es zu etwas wie „natürlichen Ordnungen" gekommen, da tragende Legitimation nicht außerhalb, sondern i m Ordnen selbst gefunden werden konnte. Diese natürlichen Ordnungen der Selbstgesetzlichkeit, wesentlich außerstaatlich hervorgebracht und entwickelt, nahmen und nehmen als solche nur wenig teil an der politischen Fluktuation eines immer mehr anarchisierten Gemeinwesens. Hier beschränkt sich der Staat auf eine Garantenstellung, i n der er aber letztlich ebenso beständig bleibt, wie die Institutionen, welche er sichert; es ist fast, als gäbe hier das Garantierte dem Garanten erst Dauerhaftigkeit. Ehe und Familie der christlich-bürgerlichen Welt — denn es geht i m letzten nur u m sie — können an sich kaum die Gunst der freiheitlichen Demokratie finden, ruhen sie doch auf all ihren Gegenprinzipien. Da ist die monokratisch-monarchische Herrschaft des Mannes, da sind die aristokratisierenden Machtformen der Herrschaft der Älteren. A b stimmungen finden dort ganz wesentlich nicht statt, die Gleichheit, selbst i n der Behandlung der Kinder, ist nichts Natürliches, sie wurde von einem bereits demokratisierten Staat durchgesetzt, der Fideikommisse und Majorat zurückdrängte. Ehe und Familie herkömmlicher Prägung sind das absolute Gegenbild von demokratischer Bewegung, von Widerstand, Revolution, sie bedeuten das „Antianarchische an sich": I n der Einbindung i n den Familienverband findet etwas wie eine
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partielle Entindividualisierung statt, welche gerade jene Isolation aufhebt, i n welcher anarchisches Bewußtsein zu sich selbst findet. Widerstand ist hier nicht nur praktisch unmöglich, er ist begrifflich ausgeschlossen, Ehe und Familie definieren sich als Zustände, i n denen Streit, nicht Widerstand möglich ist. Diese Ordnung ist nicht von irgend jemandem geschaffen worden, sie kann daher auch von niemandem w i r k lich geändert werden. Sie kennt keine utopisch-unendlichen Fortentwicklungsprinzipien wie die hochgesteigerte Demokratie, ihr gegenüber gibt es auch nichts, was ein „Gegenprinzip" wäre, auf das h i n sie sich i n Wesensänderung entwickeln könnte. Die Prinzipien, welche diese Ordnungen von Ehe und Familie beherrschen, waren stets so mächtig, daß sie immer auch auf die politische Gemeinschaft ausgreifen konnten: I n Monarchien und Aristokratien besetzten sie geradezu die Staatsgewalt, i n der „Cliquenwirtschaft der großen Familien" der liberalen Demokratie hat sich dies bis i n unsere Zeit fortgesetzt, i n Amerika, der Schweiz und anderswo, immer dort aber, wo die Demokratie am stärksten war. Die Volksherrschaft hatte i m Liberalismus die Wirtschaft aus alten Ordnungen entlassen — sogleich bemächtigte sich „familiäres Denken" i n Patriarchalismus der Unternehmens-, Arbeits- und Sozialordnung. Überall, wo dieses „Denken i n den Kategorien der Familie" eindrang, nicht zuletzt i n den Räumen, aus welchen sich der liberale Staat zurückzog, da würde geordnet, entanarchisiert. Und das Familienprinzip hat darin sogar eine gewisse Flexibilität bewiesen, stets hat es auch ein bestimmtes Maß an Freiheit belassen, ja garantiert — aber eben nicht die ins Unendliche drängende Libertät der Spätdemokratie, sondern jene fest umgrenzten, funktional bestimmten „kleinen Freiheiten", i n deren getrennter Gemeinsamkeit man die verschiedenen Flügel des einen Familienschlosses bewohnte, i n einer weichen Ordnung, die i n ihrer Bewegungslosigkeit an die Geheimnisse der chinesischen Großfamilie erinnert. Hier ist also letztlich eine so große, analogiestarke Ordnungsvorstellung entstanden, daß sie für den ganzen Staat Gestaltungskraft entfalten, Gültigkeitsanspruch anmelden konnte — damit aber mußte es zum frontalen Zusammenstoß kommen zwischen ihr und den anarchisierenden Grundtendenzen der Spätdemokratie. Wie schon oben gesagt — hier geht es nicht darum zu bestimmen, inwieweit sich die Ordnungskräfte von Ehe und Familie heute „von selbst", oder aber jedenfalls ohne „Staatseinfluß", durch wirtschaftlichtechnische Entwicklungen als solche abschwächen. Betont werden soll lediglich, daß diese Entwicklung von der Spätdemokratie, aus deren Wesen heraus, noch verstärkt werden muß. Die frühere Demokratie hat sich neben diese Ordnungen gestellt, sie sogar zu ihrer Befestigung 25 Leisner
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eingesetzt. Der Spätdemokratie ist solche Liberalität nicht mehr eigen, und die Versuchung zum entordnenden Eingriff w i r d immer größer: Wenn es gilt, eine „Gesellschaft zu demokratisieren", so muß sich dies vor allem auf Ehe und Familie richten; die Kirchen, die alten Kräfte dieser Ordnungen, durchlaufen selbst anarchisierende Phasen, sie ziehen sich immer mehr aus der Verteidigung dieser ihrer früheren Zentralbereiche zurück. Vor allem aber w i r d stets der Familieneingriffsstaat ein A l i b i finden — daß eben nicht er es sei, der hier Ordnungen abbaue, daß er nur den Zerfall ratifiziere. So geht denn die Spätdemokratie, ihren normativen Gesetzlichkeiten auch hier folgend, vor allem mit einer gefährlichen Waffe gegen Ehe und Familie vor: m i t der steigenden Verrechtlichung der Bezüge. Überall werden Positionen gebildet und bewehrt, Rechtswege eröffnet, i n denen bis ins kleinste normierte Berechtigungen verfochten werden können. A l l dies war der früheren Ehe und ihrer Familie ganz wesentlich unbekannt; Recht und Pflicht hatten i n ihr nicht denselben Klang wie i n der Härte der normativen Demokratie, waren sie doch eingebunden i n größere Verantwortungszusammenhänge. Immer mehr verstärkt sich aber i n der Spätdemokratie, steigert gerade diese Staatsform ein „Heraus aus der Familie, vor die Schranken des Staates!", welches diesen Ordnungen tödlich werden muß. Darin nämlich verlieren sie ihre Legitimation noch i n einem anderen Sinne: Überall w i r d ihre frühere Alternativlosigkeit aufgehoben, der Staat fördert auch die ehe- und familienfremde Alternative — i n der Ehescheidung ebenso wie durch die Anerkennung eheähnlicher Verbindungen, über eine Studienförderung, m i t der er die Kinder der Familie entfremdet, wie sogar durch Begünstigung junger Ehen, i n welcher er die Angewiesenheit auf die Älteren abbaut. Schließlich zeigen sich aber i n fast allen neueren Familiengesetzgebungen jene typisch anarchischen Ordnungsabschwächungen, die i n der Patt-Situation gipfeln, i n welcher sie sich als Formen weiterer M i t bestimmung verraten: Es genügt ein Blick auf die „Ordnung" des „gemeinsamen Entscheidungsrechts i n der Ehe", oder auf Kindesrechte, welche elterliche Erziehungsrechte und -pflichten blockieren. Entscheidungsmechanismen werden also geschwächt oder abgebaut, weil eben der Einzelne, i n anarchischer Isolation, das letzte Wort auch hier behalten soll. Die neueste Steigerung dieser Entwicklung ist die Anerkennung des Zerrüttungsprinzips i m Scheidungsrecht, jener einseitigen Zerstörungskompetenz von Ehe und Familie, die nunmehr jedem Bürger gegeben ist. Man muß sich einmal vergegenwärtigen, was es bedeutet, daß eine
7. Gesetzesungehorsam — i n passiver Anarchie aus der Gleichheit
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Staatsordnung die festesten traditionellen Ordnungen ihrer Gemeinschaft, welche sie zudem noch m i t hohem Pathos i n i h r Grundgesetz übernommen hat, nunmehr jedem einzelnen i n freiem Belieben, bis zur W i l l k ü r , ja darüber hinaus: zur Berufung auf eigenes Unrecht — ausliefert. Hier ist ein institutioneller Durchbruch zur Anarchie i n einer Größenordnung vollzogen worden, wie er ohne Beispiel ist. Hier war es auch wirklich politische Entscheidung, die dies gewollt hat, nicht nur Ratifizierung des Ordnungszerfalls; hier ist die Spätdemokratie zu einem wahren Kraftakt der Ordnungsaufhebung angetreten, zu i h m war sie fähig aus ihrer anarchischen Kraft heraus. Die Demokratie glaubt, hier den „mündigen Bürger" zu finden, j a zu schaffen. Doch schon heute zeigt sich, wohin dies führt: Der familienentwurzelte Mensch w i r d vielleicht i n Jugendheimen, nicht aber i m Zentrum seiner Persönlichkeit vom Staat aufgefangen, zu einer Ordnung gebracht werden können; die Anarchie, welche der Staat i n seine Familie getragen hat, er w i r d sie hundertfach i n den Staat zurückbringen. 7. Gesetzesungehorsam — in passiver Anarchie aus der Gleichheit a) Der Gleichheitsbefehl in normativer Form — Ermunterung zum Ungehorsam Die größte tägliche Anarchiegefahr, welche die moderne Gleichheitsdemokratie bedroht, kommt aus ihren eigenen Strukturen: Es ist der Gesetzesungehorsam. A l l e Staatlichkeit muß sich stets m i t diesem Problem auseinandersetzen; i n der Demokratie des Gleichheitsstaats jedoch gewinnt es besondere, ordnungsauflösende Dimensionen. Das eigentliche Herrschaftsmittel dieser Staatsform ist das für alle gleiche Gesetz, die Norm w i r d zum Ordnungsmittel par excellence. I m Grunde „ist ja auch überall Norm i n der Demokratie", wo der Staat sich zeigt; der Grundsatz der Legalität und der Gesetzesbindung des Richters machen selbst das Wort der Verwaltung und die Entscheidung der Judikative zur Normfortsetzung, zum weitergedachten Gesetz. Ob dies auch i n juristischer Dogmatik gilt, wie es Hans Kelsen gelehrt hat, mag dahinstehen — politisch charakterisiert die durchgehende Normförmigkeit der Staatsäußerungen sicher die Staatsform. Das gesamte Herrschaftssystem der Demokratie beruht nun darauf, daß das Gesetz durch seinen Zug zur Gleichheit, dessen mächtigster Hebel es ist, nicht nur erhöhte Legitimität gewinne, daß i h m auch mehr gehorcht werde als jeder anderen Form des Befehles. I n den Untersuchungen zum „Gleichheitsstaat" ist bereits dargetan worden, wie 25*
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stark die verbindliche Kraft des Gesetzes eben i n dieser seiner gleichen Geltung und, darüber hinaus, i n seinem Zug zur Nivellierung liegt. Nun aber entsteht gerade daraus für die Demokratie die Anarchiegefahr: Wenn dem egalisierenden Gesetz nicht mehr gehorcht wird, so bricht alles i n ihr zusammen; und mehr noch: Kann man wirklich von dem Dogma ausgehen, daß besser gehorcht werde, wo allen das Gleiche befohlen wird, wo die Norm eingreift? Die wachsende „Gesetzesmüdigkeit" und der steigende Gesetzesungehorsam besonders i m Volksstaat deuten auf eine große Gefahr hin: daß es gerade der Normbegriff, die Vorstellung vom gleichen Gesetz sein könnte, welche i n ihrer Egalität nicht mehr Gehorsam bringt, sondern Ungehorsam begünstigt. Betrachten w i r zunächst, vor Einzelphänomenen des Gesetzesungehorsams, einige wenigstens von den Gründen, aus welchen heraus gerade die Norm den Gesetzesgehorsam nicht stärkt, sondern eher abschwächt: — Gesetz — das ist der abstrakte Befehl an viele Gleiche, der gerade deshalb stärker wirken soll, weil er aus unpersönlicher Ferne kommt, ohne Ansehung der Person ergeht. Doch gilt, wenigstens i m Praktisch-Politischen, nicht auch das Gegenteil — daß eben diese selbe Abstraktion den „Befehl vom Befehlsempfänger entfernt", daß es viel mehr an praktischer Ordnungskraft bedarf, den Bürger „an die Norm zu bringen", als wenn der Staat seine Macht i n Einzelanordnungen konkretisiert? Zeigt sich nicht immer wieder, daß „reiner Normgehorsam" viel schwerer zu erreichen ist, als eine Unterworfenheit unter konkrete Befehle, hinter denen der ebenso konkrete Zwang steht? Und wenn nun die Demokratie versucht, ihren Zwang möglichst i n vorgängigem Normgehorsam überflüssig zu machen, schafft sie dann nicht allenthalben Nester des Ungehorsams, der Anarchie, welche es immer gilt, mit den Stoßtrupps ihrer Befehle auszuheben — immer häufiger, solange eben die Truppen reichen? Wenn die Norm durch ihre Abstraktion nicht entscheidend an Motivationskraft gewinnt, wenn sie durch ihre „Ferne" vielmehr daran verliert, so kann die Rechnung des Gleichheitsstaates nicht aufgehen. — I m Begriff der Norm liegt i m Gleichheitsstaat der Zug zur Vervielfältigung, zum Normgeflecht; dies wurde schon öfters betont. Hier aber entsteht das Normdickicht, die Unüberschaubarkeit, welche keinem anderen Phänomen soviel Raum schafft wie dem Normungehorsam. A n die Ausführungen zur anarchieschaffenden Bürokratie darf erinnert werden. Und dies führt zum besonders gefährlichen, w e i l kaum bemerkten Normungehorsam bei Bürgern und Beamten.
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— Die egalitäre Demokratie nimmt sich vor, durch ihre Normen zu nivellieren, damit aber den Bürger vor ihrer Gewalt kleinzumachen. „Klein" w i r d dann aber auch sein einzelner Fall, i n dem er der Norm gehorchen soll. Gerade der kleine Normungehorsam, den er etwa zeigen kann, wenn er i n der gemeinsamen Parkanlage auf verbotenen Wegen geht oder fährt, den Fahrpreis nicht entrichtet, er ist zwar an sich durchaus merklich — doch wie sollte die große Staatsgewalt ihn aufdecken, verfolgen, unterdrücken? Dadurch also, daß der normative Gleichheitsstaat so weit über den Bürger hinweg hinaufgewachsen ist i n seiner Macht, kann er i h n i n vielem gar nicht mehr erreichen, wenn er i n kleinem Ungehorsam wider den Stachel lockt. Doch gerade daraus entsteht eben der Geist des Ungehorsams, der dann viel weiter trägt. — M i t der Vervielfältigung der Normen wächst auch die Notwendigkeit des Normgehorsams, der allein sie effektiv machen kann. Ob dies ein qualitatives oder sogar nur ein quantitatives Problem ist, mag hier dahinstehen. Jedenfalls hat der Staat nicht schon mit jeder Verdichtung dieses Geflechts mehr Ordnung geschaffen, er muß diese weithin erst durch den Einsatz, durch die Bereitstellung seiner Macht realisieren. Normen sind also an sich noch nicht Ordnung, sie sind Aufruf und Verpflichtung dazu, aber nicht nur beim befolgenden Bürger, sondern auch für den sanktionierenden Staat, der i n immer neue Machtäußerungen, Machtreservierungen gezwungen wird. Kann er, kann die doch wahrlich nicht starke Gleichheitsdemokratie dem allem gerecht werden, w i r d sie nicht von der Bereitstellungslast der Macht, die aus den zahllosen Normen kommt, zu Boden gedrückt? Ihre Vorstellung war doch die von dem „Gleichheitsgewölbe", i n dem letztlich die gleichen Steine sich selbst halten, automatisch die Gesetze befolgt werden. Wenn diese statische Rechnung nun aber grundsätzlich falsch sein sollte, oder wenn auch nur einzelne Steine aus dem Gewölbe i n hartem Ungehorsam gebrpchen sind — fällt dann nicht alles nach, m i t welcher Schutzmacht soll dieser Staat das Gewölbe halten, das doch nur als ein Ganzes w i r k e n kann? Hat denn nicht schon deshalb jeder kleine Ungehorsam gewölbegefährdende Folgen? — Nach ihrem Wesen wie nach ihrer Zahl motivieren also die Normen vielleicht mehr noch zum Ungehorsam als zu ihrer Befolgung. Dasselbe gilt für die Gleichheit ihrer Wirkungen: Der Bürger soll sich ihr nicht entziehen wollen, weil es dem Nebenbürger ebenso gehe; doch kann nicht gerade das Gegenteil eintreten — daß er sich zum Ungehorsam berechtigt fühlt, weil „ja der Nächste gehorcht"? W i r d er nicht i m Gesetzesgehorsam der vielen Mitbürger Begründung, j a Motiv für den eigenen Ungehorsam suchen? Und w i r d er sich nicht
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darin noch bestätigt finden durch den Gedanken, daß ja sein kleiner Ausbruch aus der Ordnung letztlich der Herrschaft und dem Gesetz nicht schade, weil dieses ohnehin allgemeiner befolgt werde, und weil j a auch sein A n g r i f f sich nicht gegen die Geltung der Norm, gegen die Ordnung selbst richte, sondern nur gegen ihre Anwendung auf ihn? Daß hier der Weg i n das Denken der Kriminalität sich öffnet, liegt auf der Hand; doch wie oft w i r d er nicht, und zwar höchst zivil, geistig und praktisch gegangen? — Die allgemeine Wirkung der Norm verführt den Bürger noch i n einem letzten zum Normungehorsam, und zwar gerade dann, wenn er an sich nicht böswillig ist: Sein Fall erscheint i h m als etwas Besonderes, aus i h m heraus w i r d er stets versuchen, die allgemeinen Gesetzeswirkungen abzuwenden. Dies aber sind überzeugte, oft auch überzeugende Gründe zu einem Normungehorsam, dem ja der Staat sogar seine Rechtswege eröffnet. Die Gleichheit, aus der Gehorsam kommen soll, ist es also gerade, die den Bürger i n Ausnahmedenken treibt, aus dem so leicht Gesetzesungehorsam entstehen, sich begründen kann. b) Egalitärer
Imperativ
— ein schwer durchsetzbarer
Befehl
So ermuntert also der Gleichheitsbefehl i n normativer Form i n vielem geradezu zum Ungehorsam. Dem Staat aber macht es eben die normative Form schwer, dem zu begegnen: — Der Gleichheitsstaat w i l l den Bürger als Wächter des Nächsten einsetzen, seinem Gleichheitsmißtrauen, seinem Neid überläßt er weithin das Aufspüren, ja i m Sozialzwang sogar die Sanktionen gegen gleichheitswidriges Verhalten. Solange dieser Mechanismus funktioniert, ist die Staatsgewalt i n der Tat entlastet, sie braucht nur große Schläge zu führen, ihre Befehlskraft i m Spektakulären zu bewähren. Wie aber dann, wenn dem einen Bürger der andere „ i n Gleichheit" gleichgültig wird, wenn jeder eben nur sich selbst als den Normadressaten sieht, an den Gesetzesauswirkungen auf sich selbst interessiert ist? Dann w i r d sich der atomisierte Bürger erst recht lediglich m i t sich selbst beschäftigen. Hier aber zeigt sich: Die Gleichheit führt nur dann zum perfekten Wächterstaat der Bürger über die Bürger, wenn sie „als solche geglaubt w i r d " , wenn sich jeder zu ihrer ordnenden Kraft bekennt. W i r d der Gleichheitszustand, als solcher, nicht mehr von derartiger aktiver Überzeugung getragen, so führt er leicht i n die atomisierende Isolation, welcher der Ungehorsam des Nächsten gleichgültig ist. Dann aber Wird der Staat i n die Probleme der Mafia-Verfolgung gedrängt —-
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er findet keine Zeugen mehr, niemand hat den Ungehorsam des anderen gesehen. — Den Gleichheitsstaat t r i f f t immer mehr, dem Gesetzesungehorsam des Bürgers gegenüber, die „Beweislast für das Gesetz". Der Normzustand w i r d unübersichtlich — da ist es doch am Staat nachzuweisen, daß i h m Gehorsam geschuldet werde. Die moderne Demokratie kämpft verstärkt m i t den Problemen des „Unrechtsbewußtseins", vor allem dort, wo sie mit den schärferen Mitteln der Bußen und Strafen vorgehen w i l l . Der Bürger „hat nichts gewußt", „nichts wissen müssen", er kann sich, etwa der Steuergewalt gegenüber, „an nichts mehr erinnern". I n Tatbestand wie Rechtsfolge bringt die Legalität mit ihrer Vermutung für die Freiheit den Staat i n den Gesetzes-Beweisnotstand. Und das i n dubio pro Liberiate, von dem schon die Rede war, ermuntert auch darin zum Gesetzesungehorsam, daß der Staat nichts mehr beweisen kann. — Die Staatsgewalt muß sich vom Bürger i n ständige Interpretationskämpfe verwickeln lassen, eben weil die Norm allgemein gilt. Darin verliert sie nicht nur laufend organisatorisch an Kraft, sie büßt auch Überzeugungskraft ein, welche der Gesetzesungehorsam gewinnt. I m Wesen des Gesetzesstaats liegt es schließlich, daß er aufwendige Mechanismen dieser Diskussion mit dem Gesetzesungehorsam zur Verfügung stellt — jene Gerichtsbarkeit, i n deren systematischer Inanspruchnahme, bis h i n zur Schikane, der Bürger ganz neue Formen legalen Gesetzesungehorsams entwickelt hat. A l l dies ist nicht viel mehr als eine Zusammenfassung bereits i n anderem Zusammenhang behandelter Phänomene. Sie sollte lediglich nochmals beweisen, warum die egalitäre Gleichheitsdemokratie speziell anfällig ist für den Ausbruch des Ungehorsams aus ihren Gleichheitsnormen, weshalb sich hier besonders leicht der vernichtende, ordnungszerstörende Lawineneffekt einstellen kann. I n der Tat zeigt er sich schon, und er ist gerade gegen den Gleichheitsstaat gerichtet. c) Ungehorsam — gerade in
„Gleichheitsmaterien"
Gesetzesungehorsam gibt es, i n tausend Formen, i n allen Regelungsbereichen. Für den Gleichheitsstaat typisch und zugleich gefährlich ist es aber, daß er sich gerade dort regt, wo die Demokratie m i t besonderer Kraftanstrengung versucht, Gleichheit herzustellen oder zu bewahren. Zugleich sind es auch diejenigen Räume, i n denen die Zentren dieser Staatlichkeit liegen. Drei Beispiele mögen dies verdeutlichen:
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Militärungehorsam ist der egalitären Volksherrschaft schon seit längerem zum Problem geworden. Sie hat i h n durch manche Normen und normative Grundstimmungen begünstigt: Da ist das Recht auf Kriegsdienstverweigerung, der legalisierte Ausbruch aus der bedeutsamsten Verpflichtung des Bürgers. Doch was sich hier vollzieht, ist — darüber besteht Einigkeit — mehr als ein Phänomen verbreiteter Gewaltablehnung. Ungehorsamsregungen richten sich zugleich, wenn nicht i n erster Linie gegen alle jene Formen der Kasernierung und Disziplinierung, welche noch immer die Streitkräfte zum härtesten Kern des staatlichen Ordnens machen. Abschwächungen der Disziplin, Wehrmüdigkeit überhaupt sind also typische Beispiele eines beginnenden Gesetzesungehorsams. Besonders gefährlich w i r d hier der Demokratie gerade der unaufhebbare Mechanismus des Militärischen: Da hier offener Ungehorsam nie zugelassen werden kann, weicht die Staatsgewalt, durch Zurücknahme der Disziplin, meist sehr rasch, noch bevor Wirkungen des Gesetzesungehorsams offenkundig werden könnten, i n denen die gesamte Institution zusammenbräche. Dies ist eine Stärke der m i l i tärischen Ordnung, zugleich aber auch eine schwächende Gefahr für die Demokratie: Der Gesetzesungehorsam entfaltet hier sozusagen Fernwirkungen i n die Ordnungskraft des Staates hinein, er w i r d gleich vorsorglich schon i n Ordnungsabschwächungen normat i v ratifiziert. Die tiefere Problematik der Abschwächung militärischer Ordnung liegt aber gerade für den Volksstaat darin, daß er ja versucht, hier seine Gleichheit i n besonderer Weise durchzusetzen, die Streitkräfte durch allgemeine Wehrpflicht und innere Demokratisierung zur Schule der Volksherrschaft zu machen. Was hier sich also an Ordnungsabschwächung vollzieht, t r i f f t i h n nicht nur i m Zentrum der nationalen Existenz, wie jede andere Staatsform auch, sondern i m Mittelpunkt seines geistigen Selbstverständnisses, weil anarchisierender Gesetzesungehorsam gerade dort wächst, wo der Gleichheitsstaat seine typischen Ordnungen entfalten wollte. Welche Risiken damit auch i n dem doch der Demokratie wesentlichen Pazifismus liegen, i n seinen Versuchungen, Militärwiderstand voreilig institutionell anzuerkennen, damit aber Anarchie i n die Zentren der Ordnung einzubauen, braucht nicht weiter ausgeführt zu werden. Steuerungehorsam mochte einst ein populäres wie ein aristokratisches Phänomen sein, hier i n Privilegien seine Erfolge feiern. Heute ist er nurmehr ein Massenproblem der Durchsetzbarkeit der wichtigsten Staatsgewalt. Zugleich geht es dabei u m das Legitimationszentrum des Gleichheitsstaates: M i t Abgaben w i l l er die Egalität erzwingen und laufend verstärken, wo er dabei an Widerständen
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scheitert, verliert er ganz wesentlich und vernichtend an volksgewollter Ordnung. Es ist hier nicht der Ort, all die unzähligen Anstrengungen zu ordnen und zu beschreiben, welche der Bürger der Steuergewalt entgegensetzt, mit denen er aus der nivellierenden Gleichheit fliehen w i l l — oder einfach aus der staatlichen Ordnung. Daß sie anwachsen, trotz aller Erleichterung der Erfassung i n Datenverarbeitung, zeigt sich schon i n der immer bewußteren und heute schon eingehend geführten Diskussion u m den Steuerwiderstand. I m übrigen aber erinnert vieles an den „Militärungehorsam": Die eigentlich anarchisierenden, die Fernwirkungen werden auch hier nicht so sehr i m frontalen Zusammenprall zwischen Bürger und Staat sichtbar, i n welchem der letztere noch immer stärker gewesen ist; sie laufen über Interessenvertretung und Parlament i n die Institutionen der Staatlichkeit selbst hinein, der Steuerungehorsam verhindert größere Steuergewalt, perfektere Gleichheitsordnung i n Abgaben. Bei jeder Tariferhöhung, bei jeder Form der Steuerperfektionierung muß heute vom Finanzminister die Frage beantwortet werden, ob dies denn „noch durchsetzbar sei", das heißt aber doch: ob es nicht an Steuerungehorsam scheitern werde, durch Aktionen und Unterlassungen der Bürger selbst oder ihrer gewählten Vertreter i m Parlament. Nur zu oft, immer öfter, w i r d diese Frage heute verneint, und gerade jene euphemistischen Erklärungen mit der „Erreichung der Belastbarkeit" — die dodi eigentlich, begrifflich, niemals überschritten werden kann — sie zeigen nur, wie ernst dieser virtuelle, i n Vorwirkungen schon institutionalisierte Steuerungehorsam zu nehmen ist. Wie i n allen anderen Anarchieformen erweist sich auch hier, daß die Ordnungsauflösung i m Gleichheitsstaat sehr oft nicht einfach „von außen" kommt, daß sie vielmehr „außen entstehend i m Inneren der Institutionen vorweggenommen, ja vorausgeahnt" wird. Die wesentliche Anarchie, selbst des Ungehorsams, ist eben heute diejenige, welche durch die Institutionen des Staates läuft, i n diesen sich erst wirklich verstärkt. Deshalb konnte immer wieder von demokratischer Anarchie gesprochen werden. I m Abgabenungehorsam t r i t t sie vielleicht am wenigsten spektakulär, jedoch am w i r k samsten i n Erscheinung, weil hier der Bürger mit allen seinen Kräften, unter Einsatz aller seiner wirtschaftlichen Interessen den Ausbruchsversuch aus der Gleichheit tagtäglich unternimmt. — Der Wettbewerbsungehorsam ist schließlich gerade i n letzter Zeit zu einer neuen und noch kaum bewußten Form des Gesetzesungehorsams geworden. I n liberalen Zeiten hätte dieses Wort keinen
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Sinn ergeben; dem Wettbewerb war man unterworfen, man erlag i h m oder setzte sich i n i h m durch, der Staat zog sich aus i h m zurück, Widerstand gegen seine Normen konnte es hier nicht geben. Die neuere Demokratie hat, gerade i n Deutschland, hier neuartige Ordnungsversuche unternommen, zur wirtschaftlichen Effizienzsteigerung, aber auch aus egalitärer Grundüberzeugung heraus: Konkurrenz sollte nicht mehr notwendig zu Sieg und Unterwerfung, zur Monopolgewalt werden, i n einer „Wettbewerbsordnung der Gleichen" sollten ihre Kräfte diszipliniert und so beständig der Gemeinschaft dienstbar gemacht werden. Es war übrigens ein w i r k liches Ordnungsdenken, aus dem heraus hier anarchisierende Spitzen einer sich selbst zerstörenden Wettbewerblichkeit gebrochen werden sollten. Doch gerade deshalb setzt nun, auf breiter Front, ein Wettbewerbswiderstand ein. Er schlägt sich m i t der staatlichen Überwachung auf den Feldern des Unlauteren Wettbewerbs ebenso wie i m Bereiche der Anti-Kartell-Gesetzgebung. Immer mehr Richter muß der Staat einsetzen, eine steigende Zahl von Verwaltungsbeamten mobilisieren, nur u m diese Ordnungen zu halten; und hier ist es die anarchische Macht wirtschaftlichen Freiheitsstrebens, welche sich gegen egalitäre Disziplinierung wendet. Für die freiheitliche Volksherrschaft ist dies besonders gefährlich, muß sie doch ihre eigenen Triebkräfte laufend zurückdrängen. Hier erkennt man, daß w i r t schaftliche Ordnung i n ihrem Kern immer etwas Zünftisches hat, daß die liberale Demokratie hier zwar Ordnung auflösen, nicht aber aus ihren Grundprinzipien heraus leicht neue Ordnungen schaffen kann. So verwickelt sie sich i n Widersprüche, i m Gegensatz zu ihren eigenen freiheitlichen Grundannahmen t r i t t sie den Rückzug in zünfteähnliche Marktanteilssicherungen an; darin bestärkt sie noch ihr sozialpolitischer Auftrag zur Sicherung der Arbeitsplätze, welche dem Wettbewerb und seiner Freiheit nicht geopfert werden dürfen. So findet hier denn i m Grunde eine Schlacht m i t verkehrten Fronten statt; die Demokratie stellt sich vor eine antianarchische Ordnung — die doch gerade i m Namen ihrer eigenen Freiheit bekämpft wird. Und dieser Wettbewerbsungehorsam ist auch nur ein Phänomen eines größeren Wirtschaftsungehorsams gegen den demokratischen Staat, der diesen, i n zahllosen Überwachungen und Auflagen, i n einen aufreibenden Kampf m i t gesetzesablehnender Freiheitsanarchie verwickelt. Um hier Gleichheitsordnungen zu halten, zünftische Ruhezustände herzustellen, w i r d die „Demokratie der Bewegung" gezwungen, ihre belebende Grundlage, die freie Wirtschaft,
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immer weiter zu disziplinieren, damit aber gegen ihre eigenen Grundprinzipien zu handeln. d) Die Gleichheitslawine
des Ungehorsams
M i t Gesetzesungehorsam, mit diesen Formen der schweigenden, der negativen Anarchie, müssen alle Staatsformen leben; das Schicksal der Demokratie aber ist es, daß i n ihr aus jedem Ungehorsam durch Gleichheit die Lawine der Herrschaftsablehnung entstehen kann. Wenn ein Bürger das Gesetz nicht beachtet, warum sollte es der nächste tun? Gibt es nicht auch so etwas wie ein negatives Gleichheitsgesetz, daß niemand mehr verpflichtet ist, wenn einer sich entziehen kann? Juristisch läßt sich dies mit dem Satz abwenden, daß niemand aus fremdem Unrecht, aus gleichheitswidriger Bevorzugung anderer, eigene Rechte abzuleiten vermag; doch dies ist Papier, das allenfalls i m Einzelfall wirken mag, politisch legitimiert jeder einzelne Ungehorsam größere, gleiche Gesetzesablehnung. Und aus jedem Urteil, aus jeder Verwaltungsentscheidung, welche dem einen verweigert, was dem anderen zu Unrecht gewährt wurde, spricht auch deutlich das schlechte Gewissen des Gleichheitsstaats. Recht oder nicht — tatsächlich w i r k t das Gesetz des gleichen Ungehorsams i n jedem Falle. Der Bürger, welcher i n allem und jedem nur an Gleichheit gewöhnt wurde, der nurmehr i n Kategorien der Egalität denken kann, wie sollte er mit einem Male nun unterscheiden, wenn es u m Rechtsgehorsam geht? Bedeutsam ist also nurmehr, wie groß der Ungehorsam werden kann, ohne daß ihn der Staat bricht. W i r d er ausgedehnt oder mächtig genug, so reißt er i m Gleichheitsdenken auch den Rest der Bürgerschaft aus dem Gehorsam. I n weiser demokratischer Erkenntnis behandelt daher der Gleichheitsstaat den Rechtsbrecher ganz anders, der sich mit einer großen Zahl zusammenrottet, als den Einzelgänger, der hart geschlagen werden darf. Die Ungehorsamsgruppe ist ja schon auf dem Weg i n die demokratische Legitimität, sie w i r d begleitet von der Siegeschance des i n Gesetz sich verwandelnden Gesetzesungehorsams. I n ihr liegt auch bereits ein Anfang jener Mehrheit, i n der Unrecht zum Recht, Ungehorsam zur ordnenden Regel werden soll. Der anarchisierende Ausbruch der Gleichen aus ihrer Ordnung, gerade über die Brücken der Egalität, erfolgt ja auch nicht nur darin, daß dem einen der Ungehorsam des anderen bekannt, daß er dann von allen geteilt wird; viel feiner w i r k t hier die Anarchie: Der Gesetzesungehorsam des nächsten Bürgers kann doch wohl auch vermutet, unterstellt werden, auch daraus gewinnt die eigene Ordnungsverweigerung legitimierende Kraft, Und wer weiß schon, i n der unübersehbaren Atomi-
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sierung der Gleichen, wer wo gehorcht? So w i r d denn die Ungehorsamsvermutung zur wahrhaft diabolischen Versuchung gegen die Ordnung, die eigenen Wünsche werden über die Gleichheit sofort zum negativen Gesetz. Wie die Norm nur durch die Vermutung stark bleibt, daß alle sie befolgen, so w i r k t diese „negative Lex" darin, daß sie die Vermutung des Ungehorsams aufstellt. Die Verallgemeinerung des Ungehorsams durch die Gleichheit ist ganz wesentlich ein geistiges Phänomen, sie w i r k t über das Persönlichkeitszentrum der Bürger, denn sie schafft jene Ungehorsamsmentalität, welche grundsätzliche Ordnungsablehnung bedeutet, darin aber allgemeiner Ausdruck der Anarchie ist. Da pflanzt sich dann, i n egalitärem Denken, der Ungehorsam fort von Gesetz zu Gesetz, sind sie doch alle untereinander gleich, die Normen; kann eine von ihnen gebrochen werden, warum nicht die nächste, wo doch das Gesetz der Gleichheit über ihnen steht? Wenn einer staatlichen Gewaltäußerung, der Entscheidung der Verwaltung etwa, der Gehorsam verweigert werden darf, warum sollte sich dies nicht alsbald fortsetzen gegenüber der Gerichtsbarkeit? Die Demokratie, welche alles auf Normen gründet, kann nicht erwarten, daß man einer ihrer Gewalten mehr gehorche als der anderen, wo sie doch alle nur — i m Namen der Normen sprechen. Der Ungehorsam aber bildet so eine Einheit, wie die Normgeltung sich als eine einheitliche versteht. Ungehorsam — dies ist nichts als die passive Seite des Widerstands, doch sie verdient i m Rahmen einer Betrachtung der demokratischen Anarchie eben doch dieses spezielle Kapitel. Durch besondere Gefahren der passiven Résistance ist j a gerade die Gleichheitsdemokratie bedroht, und sie sind politisch etwas ganz anderes als jener aktive Widerstand, der m i t dem Schwünge der Ideologie einsetzt. Hier w i r k t vielmehr die schleichende, die träge, die satte Anarchie, i n hochentwickelten Industrieländern am stärksten. Gesetzesungehorsam w i r d stets schwer zu definieren, i n seinem Quantum zu bestimmen sein. Zu seinem anarchischen Wesen jedoch mag es gehören, daß mit einem Mal von i h m weit mehr vorhanden ist, als je angenommen wurde. Dann aber hat sich der Ausbruch aus dem Gleichheitsstaat — vielleicht ganz stillschweigend vollzogen. 8. „Demokratische Kriminalität" — ein Phänomen von Gleichheitsanarchie Wie der Gesetzesungehorsam, so ist auch dessen spektakuläre Form, der kriminelle Rechtsbruch, als solcher kein Demokratiephänomen. Dennoch gibt es, dies soll hier gezeigt werden, etwas wie eine „demo-
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kratische Kriminalität", Kriminelles Handeln kommt allemal aus anarchischer Grundeinstellung, erfolgt es doch m i t jener Intensität der Ordnungsfeindlichkeit, i n der stets die Ablehnung aller Herrschaft v i r t u e l l liegen muß. Dies ruft ja immer auch den Staat auf den Plan, führt zu seiner besonders harten Reaktion. a) Demokratische Kriminalität
— ein besonderer Typus
Das Spezifische demokratischer Kriminalität entfaltet sich auf zwei Ebenen: — I n allen politischen Ordnungen w i r d der Versuch eines kriminellen Staatsschutzes unternommen, überall versuchen auch Rechtsbrecher, ihre Taten politisch zu motivieren. Die Besonderheit der Demokratie ist es jedoch, daß dies nicht strafschärfend, sondern strafmildernd berücksichtigt wird, soweit es der Staat überhaupt zur Kenntnis nimmt. Damit aber liegt i n der freiheitlichen Volksherrschaft, welche sich der Negativ-Ideologie von Widerstand und Revolution verpflichtet weiß, eben doch etwas wie eine Versuchung der politischen Motivierung von Straftaten, welche bei der gerichtlichen Verfolgung des Terrorismus spektakuläre Formen angenommen hat. Es ist ja etwas ganz anderes, ob die Straftat als politisches Phänomen privilegiert oder, wie i n anderen Regimen, eher noch diskriminiert wird. Aus ersterem kann nicht nur krimineller Anreiz erwachsen, es muß dies auch unabsehbare Folgen für die Entschiedenheit haben, m i t welcher Verbrechen bekämpft werden, damit aber die Chancen der tatsächlichen Anarchie wesentlich steigern. Demokratische, d. h. grundsätzlich doch i n ihren möglichen politischen Motiven privilegierte Kriminalität verliert damit den „rein kriminellen Charakter", sie t r i t t zugleich als politisches Anarchiephänomen i n Erscheinung. — Und i n der Tat ist die Straftat j a i n der egalitären Demokratie weit häufiger „politisch" auch i n einem weiteren Sinn, i m Bewußtsein des Täters ebenso wie i n den objektiven Auswirkungen seines Tuns. Die typischen „gemeinen Straftaten" wie Eigentumsdelikte, Sexualverbrechen und ähnliches mehr, sie bedeuten hier nicht etwa nur den Zugriff auf fremdes Gut i n ordnungsgelöster Bereicherungsabsicht. Der Täter geht auf diese Weise auch vor gegen die Ordnungsmacht des Privateigentums oder gegen die Schamvorstellungen noch nicht hinreichend emanzipierter Mitbürger. Ob ihn dies nun wirklich motiviert hat, wie doch nur i n den wenigsten Fällen, ob er es vor Gericht vorbringt oder nicht — auf die Gemeinschaft w i r k t es i n dieser Weise, w i r d darin auch zum allgemeinen, politischen Diskussionsgegenstand. Von der unbestreitbar „politischkriminellen" Hausbesetzung oder Demonstration über die jugend-
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liehe Freude an der Schlägerei m i t Ordnungskräften bis h i n zum Versicherungsbetrug, der nur „großem Kapital" schadet, zum Kaufhausdiebstahl, der niemanden belastet, schließlich zum bewaffneten Einbruch ins fremde Haus aus der Hemmungslosigkeit eines Lebens heraus, u m das sich niemand anderer je gekümmert hat — wo beginnt hier das Politische, wo hört es auf, ist es nicht ein bruchloses Spektrum, i n dem jede Straftat „politisch" wird? Haben nicht K r i minalpsychologie und -Soziologie schon seit langem bewiesen, daß überall politische Motive strafbaren Tuns zu finden sind, und, selbst wenn dem nicht so wäre, w i r k t die Kriminalität nicht i n all ihren Formen vor allem „politisch" eben als ein gewaltsamer Ausbruch aus der Gleichheit des für alle geltenden Ordnungsgesetzes? Die Demokratie muß die Kriminalität so verstehen, sie kann und darf sie nicht als reinen Bruch unbestreitbarer, überpolitischer Ordnungen politisch bagatellisieren, sie nicht. Sie hat j a selbst Widerstand und Revolution i n ihre Ideologie aufgenommen, woher nimmt sie das Recht, deren Formen zu begrenzen? Und mehr noch: Hat sie nicht i n ihrem totalen Gleichheitsstreben die Versuchung bei den Menschen gesteigert, aus dieser Ordnung, die m i t allen M i t t e l n befestigt wird, auch mit allen Mitteln wieder auszubrechen — und was wäre eigentlich Kriminalität anderes? So steht denn dieser Staat nach seinen Strukturen dem kriminellen Handeln näher als jeder andere, er muß mehr Verständnis dafür aufbringen; und es ist eben seine fundamentale Gleichheit, welche den phantasievollen, machtwilligen Menschen, vor allem den Jugendlichen, zum Ausbruch aus dieser Macht geradezu drängt — und die Formen des Ausbruchs sodann noch politisch honoriert. Läßt sich nach all dem leugnen, daß es etwas wie eine besondere „demokratische K r i m i nalität" gibt? b) Von den Unmöglichkeiten der Anarchiebekämpfung durch „demokratisches Strafen" Aus all diesen Gründen ist Strafe i n der Demokratie nicht etwas Sakrales, sondern etwas besonders Odioses, oft scheint es, als müsse sich mehr der Staat für die Strafe entschuldigen als der Rechtsbrecher für die Tat. Das liegt i n den politischen Wurzeln dieses Gemeinwesens, welches aus seinen inneren Gesetzen heraus nicht die moralische Kraft besitzt, u m sich gegen Kriminalität entschlossen zu wenden — weil diese seiner Ideologie zu nahe steht. Der kriminelle Rechtsbruch ist i m letzten nichts als ein Revolutionsversuch i m kleinen. Wo steht geschrieben, daß Ordnung nur als solche
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gebrochen werden dürfe, daß Widerstand nur gegen Normen und nur i m allgemeineren Interesse geleistet werden dürfe? Als der Vater der Lucretia am Staate Rache nahm, an der Ordnung für die entehrte Tochter, war dies etwa keine Revolution? Welche Tafel des Volksstaates verböte die Revolution aus Eigensucht? Wenn aber der konkrete Anlaß nichts, die objektive Zielsetzung alles ist, wo verläuft dann die Grenze zwischen Straftat und Aufstand, läßt sie sich aus der Dogmatik, aus der Ideologie des Volksstaates heraus ziehen? Sind nicht schon tapfere Räuber erfolgreiche Revolutionäre geworden? Die Straftat, die Revolution i m Einzelfall, liegt sie nicht auf dem Wege der Volksherrschaft? I n das Gewissen des Einzelbürgers darf niemand sehen, es bleibt seine höchste Instanz. Nur der demokratische Strafrichter w i l l sich hier ausnehmen, er ergründet die Moral, welche der Einzelne hätte haben müssen, wirken lassen können. Gegenüber dem Bürger des Obrigkeitsstaates, der gedemütigt als Gefangener vor i h n trat, mochte dies wohl veranstaltet werden können; wie aber steht es m i t dem selbstbewußten Demokraten, der sich eben „zur Straftat entschlossen hat", zur konkreten Anarchie? W i l l ihn die Staatsform der größeren Anarchie wirklich mit Überzeugung zur Rechenschaft ziehen, hineingreifen i n sein Gewissen, i n seine innerste Persönlichkeit, auf deren Respekt der Staat ruht? Eine Legitimation gibt es zwar für all dies: gerade die Gleichheit, deren Rechte beim Nebenbürger nicht gebrochen werden dürfen. Doch hier zeigt sich das kriminelle Tun i n der Demokratie eben ganz wesentlich als anarchischer Ausbruch aus der Gleichheit selbst, als die härteste Form ihrer Negation. Wer sie nicht mehr anerkennt, für den kann es kriminelles Tun i n diesem Staate nicht geben. Politische Motive haben Straftaten i n der Gleichheitsdemokratie so häufig, und eigentlich schon ganz grundsätzlich, weist hier doch die Tat eher die Unschuld als die Schuld dem Täter: Als Einbrecher und Dieb hat er eben doch „nur", i n vielen Fällen, jene Eigentumsordnung angetastet, die ja so höchst bestreitbar ist; hat er anders gehandelt, denn als Vorläufer größerer Staatsaktionen, die i h n als Bedürftigen auch hätten bedienen müssen? So haben wohl auch die meisten Rechtsbrecher noch gar nicht erkannt, wie weit sie i n diesem Staate das „politische Mobil" m i t Erfolg geltend machen könnten. Und wo dies nicht geschieht oder von einem Richter abgelehnt wird, der i m Grunde hier nur Ordnungsvorstellungen anderer Staatsformen fortsetzt, der zum Richterkönig w i r d — auch dort ist der strafende demokratische Staat, sind seine Richter i m tiefsten doch verunsichert. Ihren Ausdruck findet dies i n jenen „milden Strafen", die heute so oft und ohne Verständnis für die demokratischen Tiefenstrukturen kritisiert werden. Das Strafmaß ist i n der Volksherrschaft ein Politicum, hier kommt das ganze
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schlechte Gewissen der anarchischen Demokratie zum Durchbruch, die den kriminellen Anarchisten schlagen w i l l . Die Rede von der „Verantwortung der Gesellschaft für die Tat des Rechtsbrechers" ist an sich nicht auf die Demokratie beschränkt, mag sie sich i n ihr auch entfaltet haben. Doch i n keiner Staatsform ist diese Uberzeugung stärker, schwächt sie mehr die Strafgewalt der Gemeinschaft ab. „Verantwortlichkeit der Gesellschaft" — dies w i r d hier ja nicht nur zur Entlastung des Täters, sondern zur Kriminalisierung der Gesellschaft und damit des Staates selbst; es bezeichnet nicht nur irgendeine Kausalität, hinter dem Wort steht das Unwerturteil über staatlich-gesellschaftliche Ordnung, die denn auch i n Widerstand und Revolution immer erneut umgestaltet und gebrochen werden muß. M i t jedem Legitimationsverlust, den die Demokratie an ihrer Ordnung hinnimmt, m i t jedem Schritt, den sie, aus ideologischer Überzeugung oder aus praktischer Schwäche, vor der Anarchie an irgendeinem Punkt des staatlich beherrschten Raums zurückweicht, i n demselben Maß schwächt sich ihre S traf legitimation jedem Kriminellen gegenüber ab. Wenn nämlich die Ordnung schlecht war oder gar noch ist, veränderungswürdig, so würde es i n der Demokratie nur Arroganz bedeuten, diese Verschiebungen dem Staate vorzubehalten, das Recht zu ihrer Vorwegnahme dem einzelnen Täter zu versagen. Und was hätte er denn anderes getan, i n Diebstahl oder Raub, als sein eigenes Corriger la Fortune mit Gewalt zu versuchen, da der Staat untätig bleibt? Zur moralischen Legitimation einer Strafe als Buße reicht die Kraft einer weithin anarchisierten Demokratie ohnehin nicht mehr. Doch selbst die Abschreckung w i r d für sie zum moralischen Problem. Legitim kann sie doch immer nur dann sein, wenn die Ordnung, u m deren Bewahrung es geht, ganz gut, verteidigenswert ist. Wer sie einerseits ständig verändern w i l l , wie soll der m i t der anderen Hand den treffen dürfen, der doch auch nichts anderes i m Sinne hat? Wie dürfte sie i h n i m Namen jener größeren, ausufernden Wirkungen schlagen, die doch gerade i m Gleichheitsstaat jede Handlung hervorbringen soll, weil alle und alles gleich sind? Die anarchisierte Volksherrschaft kann also gerade als Gleichheitsherrschaft nicht mehr überzeugt strafen, weil sie sich j a i n ihren Strukturen einer anarchisierenden Dynamik geöffnet hat, die hier vom Täter i n seinen kleinen Raum hineingetragen wird. Ist dem allem nicht immer eines i m letzten und damit auch i n der Legitimation gemeinsam — der Ausbruch aus der Gleichheit? I n der absoluten Gleichheitsordnung hat der Volksstaat selbst die Kriminalität entkriminalisieren, i n ihren Wurzeln beseitigen wollen. Gelungen ist i h m vielleicht das gerade
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Gegenteil: Er begünstigt die demokratische Kriminalität, den Ausbruch aus der Egalität, denn was wäre sie anderes? c) Der Verlust der Schutzgüter Strafe hat sich noch immer aus den Gütern legitimieren müssen, welche der Staat durch sie schützen w i l l . Was bleibt hier der Gleichheitsdemokratie? I n ihr hat sich alles verloren oder abgeschwächt, zu dessen Verteidigung Polizei und Gerichte gegen die Gewalt vorgehen dürften: — Der Staat und die öffentliche Ordnung? Doch sie sind ja i n sich bestreitbar, sie müssen verändert, verbessert werden. Und so ist denn auch Entkriminalisierung des Staatsschutzes die notwendige Folge. — Eigentum? Diese Ordnungen gilt es doch zu ändern, neu zu verteilen, ganz „grundsätzlich zu überdenken". Warum sollten dann inzwischen i m Namen dieses „Schutzgutes" freie Bürger, Teilorgane des Volkssouveräns, i n Gefängnisse wandern? Ein Verfassungsrichter konnte die Frage stellen, ob denn der Rechtsstaat m i t solchem Aufwand erkämpft worden sei, nur damit leerstehende Wohnungen gegen Hausbesetzer verteidigt werden sollten. Er hat A m nestie gefordert; hat er nicht aus „demokratischem Recht", aus demokratischem Anarchieverständnis heraus gesprochen? Und welches andere Eigentum sollte man dann so nicht m i t gleichem Recht — hinterfragen dürfen? — Sexuelle Intimsphären? Werden hier denn nicht nur Wertungen verfallender Ordnungen aus früherer, vordemokratischer Zeit fortgeschleppt? Ist dabei der emanzipierte Bürger der dynamischen neuen Volksherrschaft berücksichtigt? Werden hier nicht nur Wege zu Vergnügen und Kraft i n altertümlichen Ordnungen zementiert, zu Unrecht gegen die Bedürfnisse der neuen Persönlichkeit geschützt? — Religion? Ist nicht der Staat neutral, wie kann die Gleichheitsordnung „besondere Ordnungen" privilegierend schützen? — Ehre? Welchen Sinn hat sie noch unter Gleichen? Kann man hier überhaupt noch wirksam „unter das gemeine Niveau herabgesetzt werden"? Wohin man fragt, nirgends zeigt sich ein Schutzgut, das so unbedingt wäre, daß es Freiheitsverlust trüge. Und die Forderung der Todesstrafe? Sie ist dann einfach absurd, sie brächte „Gleichheit i m höchsten Unrecht". 26 Leisner
X V . Anarchische Phänomene i n der Spätdemokratie
So ist denn der Richter heute schlechthin überfordert, wenn er K r i minalität erforschen und bestrafen w i l l . Er kann nicht mehr, w i l l er nur ehrlich bleiben, aus dem gemeinsamen Fundus einer politischen Gemeinschaft schöpfen, sich auf eine bestärkende Staatsmoral zurückziehen. Seine strafenden Überzeugungen muß er aus anderen Bereichen gewinnen, aus jener Religion, von der sich der Staat losgesagt hat, aus jener Moral, welche die Demokratie i m Pluralismus verdämmern läßt, oder gar aus monarcho-aristokratischen früheren Ordnungsvorstellungen; und i n Wahrheit lebt all dies i n unserem Strafrecht, i n unserer Strafgerichtsbarkeit weiter — und was eigentlich sonst noch, was an Demokratie? Nicht anders ergeht es schließlich dem Polizeibeamten, der nun nicht mehr „Hilfsorgan" heißen soll, es aber immer bleiben wird: Seine Legitimation kann nicht weiter gehen als die des Richters, und i h m sind meist die geistigen Gründe verschlossen, aus denen jener noch die Überzeugung einer Strafe schöpfen mag. Wenn der Polizist dagegen dem immer gewaltsameren Täter gegenübertritt, wenn er heute Massendemonstrationen bekämpfen, morgen den bewaffneten Einbrecher stellen soll, so hat er keine Zeit, legitimierende Räsonnements anzustellen — und dies ist vielleicht noch eine Rettung dieser Demokratie, auf Zeit, daß ihre Ordnungskräfte der Anarchie ohne Rücksicht auf eine geistige Legitimation entgegentreten, welche die Staatsform i m Begriffe ist, gänzlich zu opfern. Es ist, als ob letztlich die Anarchie, die über das Kriminelle aus dem Gleichheitsstaat herausbricht, nurmehr i n einem wirksam bekämpft werden könnte: i n einer unbedingten Ordnungstreue, die nicht allzu viel Zeit hat zu denken. Darin mag die Volksherrschaft der intellektuellen Geistigkeit — Rettung auf Zeit finden.
9. Terrorismus — demokratische Anarchie oder großes anarchisches Verbrechen? Von einer Behandlung der Anarchie hätte man vielleicht erwartet, daß sie einsetzt mit einer Analyse jenes Terrorismus, welcher sich ganz plötzlich einer allzu beruhigten Gesellschaft mit all ihren Schrecken gezeigt hat. I n der Tat trägt dieser Terror der Gewalt alle Wesenszüge der wahren, der vollen Anarchie, vom Utopismus seiner zahllosen und i n sich widersprüchlichen Zielsetzungen bis zur letzten Rücksichtslosigkeit der Gewaltanwendung. Wie i n einem Brennglas w i r d hier m i t einem Male alles i n reiner Form sichtbar, was w i r bisher unter Institutionen verdeckt und meist nur i n Ansätzen fanden: die negativen Ideo-
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logien, die Organisationen der prekären Macht und den ständigen Machtwechsel, Streikbereitschaft und Demonstrationsfreude. Doch gerade deshalb begann diese Untersuchung nicht m i t einem Kapitel über Terrorismus, weil dies zu einfach wäre und zu beruhigend. Die heutigen Demokraten gehen ja rasch, nach einigen Erfolgen gegen diese Gewalt, zu ihrer friedlichen Tagesordnung über, w e i l sie glauben, dies sei nur eine bedauerliche und atypische Entartungserscheinung ihrer sonst so perfekten oder doch perfektionierbaren Staatsform. Da werden dann soziologische Hintergründe der Terroristenleben aufgedeckt, demokratischen Bildungsmängeln w i r d nachgespürt, und das Fazit ist meist eines: Es war eben „zu wenig Demokratie" i m Staate, Terrorismus kann, wie alle seine Übel, nur m i t „noch mehr Demokratie" geheilt werden. Alle Kapitel vor diesem sollten den Gegenbeweis erbringen: daß jene Anarchie, die i m Terrorismus heute einen zugegebenermaßen zufälligen, deshalb aber nicht weniger typischen, für die Staatsform höchst gefährlichen Ausdruck gefunden hat, i n dieser selbst liegt. M i t ihren institutionellen Mechanismen, ihrer Negativ-Ideologie, gefährdet sie ihre eigene so perfekte Freiheitsordnung, und ein Spektrum von Widerstand und Auflehnung reicht bis i n die terroristische Gewalt hinein. Selbst wenn es aber nicht so wäre, wenn ein Abgrund bestünde zwischen demokratischer Dynamik und terroristischer Gewaltsamkeit, so könnten dennoch am einen Ufer die Grundlagen jenes Brückenbaus gefunden werden, welcher, i m Geist dieser jungen Menschen, zum anderen geführt hat. A l l e bisherigen Untersuchungen haben aber nahegelegt, wenn nicht bewiesen, daß die Schreckensgewalt der letzten Jahre, geistig jedenfalls, nur die Spitze eines Eisberges ist, der i n uns alle hineinreicht, die w i r diese freiheitliche Demokratie tragen. I n diesem Sinne, und nicht aus einem Demokratiedefizit heraus, sind w i r an dem Geschehenen mitschuldig, und w i r können uns moralisch, vor allem aber politisch nicht dadurch reinigen, daß w i r einem Bock unsere Sünden aufreden. Wer diese Staatsform halten w i l l , muß jede ihrer Äußerungsformen und Institutionen i n politischer Ruhe und ohne moralisierende Erregung am Terrorismus sorgfältig prüfen. Diese Auflehnung w i r d wohl kaum das Ende der Staatsform bringen, doch Formen solcher Gewaltsamkeit könnten sie lange, vielleicht auf Dauer begleiten, und was wäre schlimmer? So wollen w i r denn, am Schluß unseres Rundganges durch die erschütterten Gewölbe der Volksherrschaft, Gründe und Formen auch dieser letzten Explosion betrachten. Es w i r d sich uns zeigen, daß sie 26*
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aus Gleichheit kommt, aus dieser ausbrechen w i l l , daß sie eine Potenzierung der demokratischen Anarchie bedeutet. Daraus mag dann klarer werden, was eine Volksherrschaft i n fernerer Zukunft erwartet, die mit Terrorismus leben muß. a) Terrorismus
— aus Gleichheit
Der Terrorismus der neuesten Zeit ist ein K i n d der demokratischen Egalität und zugleich ein Ausbruch aus ihr. I n i h m soll der Gleichheitsstaat i n seine letzten Konsequenzen gesteigert werden, i n i h m schlägt er i n sein Gegenteil um. Die Gleichheitswurzeln des Terrorismus lassen sich weithin schon i n den Zielsetzungen seiner Akteure nachweisen. Immer wieder ist es j a das Streben nach mehr Egalität, das sie zu ihren Gewalttaten führt; das „System" w i r d abgelehnt, weil es zuwenig Gleichheit bringe, sich m i t dem „Kapital" und anderen Ordnungskräften unheilig vereine. Deshalb sucht man die Verbindung zur großen Masse, zu einer Basis, welche noch viel „gleicher" werden soll, welche die Macht des Proletariats zu mehr Gleichheit nur zu ergreifen braucht. I n all dem spielt der Terrorismus geistig lediglich Melodien der Demokratie bis zu einem mißtönenden Ende — Volksnähe, Volksmacht, Volkskampf wenn nötig, die Gleichheit als Ziel und als Machtinstrument zugleich. Wenn nicht schon soviel Gleichheit wäre, woher käme den Terroristen der Mut, noch so viel mehr zu fordern, welche Chancen könnten sie haben, Sympathien auch nur bei einem Bürger zu wecken? Sie aber treten ganz offen an mit der Macht des begonnenen Weges, den es zu Ende zu gehen gilt, und ihre beste Legitimation lag noch immer darin, daß sie Regime und Bürgerschaft m i t dem V o r w u r f mangelnder Folgerichtigkeit verunsichern konnten. Und doch ist all ihre Zielsetzung Utopie geblieben — darin liegt ihre größte Schwäche — aber nicht deshalb, weil die Demokratie sich i n Ordnung gegen diese ihre Gleichheit erfolgreich gewendet hätte, sondern weil sie schon soviel an Egalität hervorgebracht hat, daß das verheißene Meer an Gleichheit sich nicht mehr genügend bewegen konnte. Darin liegt i n der Tat antianarchische Kraft der Volksherrschaft, diese hat sie bisher gehalten. Doch das ändert nichts daran, daß der Terrorismus aus dieser selben Gleichheitsutopie besondere politische Kräfte ziehen konnte, und daß er auch darin ein K i n d des Gleichheitsstaats ist: Wie dieser i m letzten auf eine wahrhaft utopische Egalisierung zielt, aus der großen Gleichheitsutopie herauswächst, so auch jene Gewaltsamkeit, die i n ihrer wirklichkeitsentrückten Anstrengung nur eine Utopie, die ihre, aus einer anderen, der des Gleichheitsstaates, entwickelt, eine gegen die andere setzt.
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I n der Gleichheitsordnung der Demokratie hat sich jene außerordentliche Egalitätssensibilität entwickelt, welche jeden Gleichheitsverstoß sofort erkennt und i n i h m ein schweres Unrecht zu beseitigen sucht. Aus dieser Grundüberzeugung ist es zu vielen terroristischen Aktionen gekommen: Ungleichheiten — einer nicht radikal demokratischen Betrachtung durchaus erträglich — die durch Zeitablauf heilbar erscheinen mögen, sind i m konsequenten Gleichheitsstaat politische Verbrechen, denen mit allen Mitteln, heute und sofort, begegnet werden muß. Kann der Gleichheitsstaat jenen Vorwürfe machen, denen der Weg i n die totale Gleichheit nicht schnell genug gegangen wird, die aus der großen erreichten Gleichheit nur einen Schluß ziehen — daß noch viel mehr Egalität ganz rasch kommen muß? Und wenn das Staatsprinzip i n Gleichheit gefunden wird, ist dann Ungleichheit, über Privateigentum oder berufliche Leistung, nicht i m letzten ein Majestätsverbrechen? Wenn es der Staat nicht ahndet, bietet sich dann nicht die Geschäftsführung ohne Auftrag an, m i t allen Mitteln? Diese Demokratie hat ihren Bürgern eine hohe Gleichheitsempfindlichkeit gegeben, dürfen sich Demokraten wundern, wenn sie zur Gleichheitsungeduld w i r d und i n Gleichheitsnervosität entgleist? Die ethische Kraft der Gleichheit liegt noch immer darin, daß sie alles für alle, nichts für sich selbst verlangt. Die Abscheu über die Gewalttaten des Terrorismus mag noch so groß sein, eine gewisse moralische Achtung w i r d niemand denjenigen versagen können, die bereit sind, für ihre Gleichheitsutopien zu sterben. So gibt die Gleichheit dieser Bewegung das Stärkste mit, was sie trägt: moralischen Schwung, den immer viele, wenn auch insgeheim nur, bewundern werden. So kommt denn der Terrorismus ganz eindeutig aus dem Gleichheitsstaat — doch er ist zugleich der größte Ausbruchsversuch aus ihm. b) Der große Ausbruchsversuch
aus der Gleichheit
Wenn es etwas wie einen „klassischen Terrorismus" gibt, mit all seinen Utopismen, so ist es eine Schreckensbewegung zu noch mehr Gleichheit. Doch gerade i n letzter Zeit zeigt sich, daß dem Terrorismus nicht notwendig die Gleichheitsrichtung vorgegeben ist. Einerseits läuft er richtungslos gegen alle Gewalt, also auch gegen die gegenwärtigste, die der Gleichheit; zum anderen entfalten sich antiegalitäre, autoritäre Terrorismen, und schließlich wendet sich Terrorismus als eine elitäre Bewegung gegen die Egalität. I n den neuen Erscheinungen radikalster Gewaltsamkeit w i r d das Gleichheitsstreben i n gewissem Sinne sekundär, mag es auch immer noch i n verschwommener politischer Programmatik gepredigt werden.
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Letztlich ist darin aber nichts anderes als ein Aufstand gegen die Herrschaft selbst, damit aber auch gegen die Gleichheit; i n aktiver Form findet hier das statt, was uns i m passiven Gesetzesungehorsam begegnet war. Überall dort, wo der Terrorismus zu reinem Aktionismus durchbricht, wo die Ziele hinter den Mitteln verschwinden, da w i r d diese Gewaltsamkeit zum Ausbruch auch aus der Gleichheit, mag sie es wollen oder nicht. Immer war ja auch extremer Egalitarismus den geordneten Versuchen der Umverteilungsideologie m i t Recht anrüchig; nicht nur, weil er sie ad absurdum zu führen drohte, sondern auch, weil i n i h m eben letztlich doch nichts mehr war von größerem Gleichheitsstreben, weil Egalität nur zum Vorwand wurde für eine Gewalt, welche auch den Gleichheitsstaat zerstören muß. Darin entfaltet sich die Selbstgesetzlichkeit der Anarchie, welche am Ende nur Herrschaftslosigkeit, nicht eine noch größere Ordnung eines noch stärkeren Gleichheitsstaates wollen kann. Für den v o l l aktionistischen, den eigentlichen Terrorismus, versinkt auch die „größere Egalität" i n der Götterdämmerung der Ordnung. Neben egalitaristischem Terrorismus hat es auch stets gleichheitsfeindliche Gewaltbewegungen gegeben, m i t dem Sieg des Gleichheitsstaats treten diese Formen eines „Rechtsterrorismus" immer mehr i n den Vordergrund. Ob sie sich nun als bewußten Widerstand gegen Nivellierung und Vermassung verstehen, i n Richtung auf eine „neue Ordnung", die sie so oft auch politisch auf ihre Fahnen schreiben, ob man sie als faschistisch oder faschistoid bezeichnen muß — all dies ist i m Grunde ohne Belang. Sie sind nicht i n erster Linie Kampf gegen die Gleichheit — die ja auch solcher „Neofaschismus" auf seine Weise wünscht — sie bekämpfen sie lediglich als Ordnungsmacht, i n der Ordnung, sie sind der bewaffnete Ausbruch aus dem Gleichheitsstaat. Daß da heute Randgruppen operieren, spielt keine Rolle, als Anarchieerscheinung w i r d Terrorismus dies immer sein, w i l l er doch das Zent r u m der Macht nicht besetzen, sondern von außen erschüttern. Was jetzt unbedeutend erscheint, kann, w i r d voraussichtlich m i t dem Gleichheitsstaat weiter ins Negative anwachsen, und seine eigentliche politische Bedeutung gewinnt es — viele Vorgänge zeigen es schon heute — als Vorläufer und Brutstätte ganz anderer Entwicklungen, die zentral auf eine neue Ordnung steuern: Es führt auch eine Straße vom antiegalitären Terrorismus zum Putsch. Zu leicht beruhigt sich also die egalitäre Demokratie damit, daß ihre terroristischen Gegner doch immer dieselbe Göttin der Gleichheit verehren wie sie, daß es ihr aber gelingen werde, dies besser, überzeugender zu zelebrieren: Die große und unbekannte Zahl der Sympathisanten ist auch eine Grauzone der Ziele des Terrorismus. Nie läßt sich
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genau abschätzen, wieviele Bürger aus welchen Gründen egalitäre, antiegalitäre oder rein aktionistische Gewaltanwender unterstützen. Die Sympathie gilt so oft nur der Gewalt, der Auflehnung gegen die bestehende Ordnung. Der aktive Terrorismus mag noch etwas von Ordnungssuche haben, der Passiv-Terrorismus der Sympathisanten ist ungerichtet, sicher anarchienäher und damit heute ein Mitläufer-Aufstand gegen den Gleichheitsstaat. Vor allem aber liegt i n der neuen Schreckens Verbreitung ein zutiefst elitärer Drang. Gerade weil meist unklar, immer aber sekundär ist, was erreicht werden soll, weil es primär u m „neue K r a f t " geht, i n einem oderint dum metuant — deshalb w i r d dieser Terrorismus auch stets diejenigen anziehen und begeistern, die gefürchtet werden wollen. Sie aber sind das menschliche Gegenbild des Gleichheitsbürgers, ihre Aggressionen haben sich nicht i n Verteilung zerteilen lassen. Sie sehen das Volk nur i n Gleichheit gesättigt und befriedigt, sie wollen es aber erleuchten und führen. Viele, die früher auf Schlachtfeldern verlorene Haufen angeführt hätten, deren Unordnungsgeist sich einst i n Blut und Tränen erschöpfen konnte und von den bestehenden Ordnungen, vor oder nach dem Tode, mit höchsten Auszeichnungen geehrt wurde — sie stehen heute an der Front des Terrorismus, der sich daher auch stets aus Schichten rekrutieren wird, i n denen noch etwas von einer — vielleicht niedergehenden — Elite erhalten ist. Elitär ist der extreme Mut zum terroristischen Kommandounternehmen, unbedingt muß der Gehorsam sein, und wenn auch die Ordnung i n solchen Kleingruppen streng egalitär ist, so fühlen sie sich eben darin als Elite, daß sie den anderen i n ihren Zukunftsvisionen voraus sind, daß sie die egalisierte Masse aus ihrer Lethargie herausführen wollen — damit aber doch auch aus der Egalität. Ob dies nun gelingt oder auch nur versucht w i r d — i n seiner Geheimbündelei i n kleinen Zirkeln ist der Terrorismus heute, was er immer war: ein elitäres Phänomen, ein Ausbruch aus der Bürgeratomisierung des Gleichheitsstaates, der dessen anonymisierten Herrschaftsformen neue, persönlichere Gewalt gegenüberstellen w i l l . Und wenn die personale Gewalt allein das Ausbruchsziel aus dem Gleichheitsstaat sein kann, so ist dieser Terrorismus eine Form des Ausbruchs. I n der Basisbegeisterung wie i n absoluter politischer Freundschaft, i n der unbedingten Anerkennung von Führung wie i n der Ablehnung der Demokratie der aggressionslosen Passivbürger — i n all dem ist der Terrorismus unserer Tage nichts als der anarchische Aufstand gegen die Gleichheit.
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c) Terrorismus — Fortsetzung der demokratischen Anarchie mit anderen Mitteln So hart es klingen mag: Keiner Staatsform fällt es schwerer, einen klaren Trennungsstrich zwischen ihrer Macht und der Gewalt des Terrorismus zu ziehen, als dem Gleichheitsstaat. I m Grundsätzlichen zumindest läuft ein nahezu bruchloses Spektrum von den Begeisterungen der egalitären Demokratie bis zu jener Gewaltsamkeit, die so oft nur — Prinzipien der Demokratie ganz ernst nimmt. Der Terrorismus beginnt i m Grunde geistig i n allen Formen der demokratischen Negativ-Ideologie, von denen die Rede war. Kann eine Staatsform, der romantische Nähe zu einem doch stets unfaßbaren „Volk" Legitimität bringen soll, ihre jungen Bürger schelten, wenn sie nun auf ihre Weise Kontakt suchen zu dieser „Basis", sich von dieser dann zu allem und jedem legitimiert fühlen? Eine Ordnung, die i n Machtwechsel laufend funktionieren w i l l , i h n aber ersichtlich nicht ständig zu bewirken vermag, ohne sich selbst zu verlieren — w i l l sie es ihren aktiven Elementen versagen, diesen Machtwechsel herbeizuführen, der i h r selbst doch ein „Wert als solcher" ist, und sei es auch mit aller Gewalt? Sie könnte es nur, wenn i h r selbst Pazifismus das absolut Höchste wäre — eben dies aber ist ja nicht der Fall. Die heute so friedlichen Demokraten haben sich doch an Blut und Widerstand gegen frühere Ordnungen begeistern können, warum sollte denn ihr Staatsepos nicht von Jüngeren fortgesetzt werden, wenn sie müde geworden sind? Wenn nun Samen von Widerstand und Revolution aufgehen, dürfen gerade jene Demokraten sie böse nennen, die sich noch immer an der Gewalt der Vergangenheit begeistern? Bleibt denn nicht nur ein großer Unterschied zwischen Früher und Heute — daß eben früherer Widerstand Chancen hatte? Und wollen w i r nun w i r k l i c h jungen Menschen sagen, unmoralisch sei nur, was hoffnungslos ist? Wer weiß es denn ü b e r h a u p t . . . Oberdan und Battisti wurden zahllose Erinnerungsstätten geweiht. Wollen w i r den bewaffneten Angriff auf die damalige Apostolische Majestät moralisch nennen, den auf diese Demokratie aber nicht? Konsequent wäre doch eher das Gegenteil: Die Demokratie spricht gerne von Widerstand und Revolution, ihre radikalen Verfechter wollen sie i n allen Schulen lehren, muß sie nicht ihre eigenen Folgerungen hinnehmen, während eine konstitutionalistische Ordnung, die nun w i r k l i c h dem Staat das Machtmonopol gegeben hatte, Anarchie bestrafen durfte? Die Demokratie gerät hier i n ein schlimmes Dilemma: Sie w i l l das Strafen möglichst auflösen i n Besserung, weil sie den Schuldvorwurf scheut, weil siç i h n aus der ständig beschworenen Verantwortung der
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Gesellschaft heraus auch gar nicht wirklich kennen kann. Hat sie dann aber das Recht, gerade jene für schwere Kriminelle zu halten, die doch auch nur „gesellschaftlich bedingt" handeln, bedingt durch die Demokratie selbst, durch ihre Negativ-Ideologie? Haben sie dann nicht w i r k lich den Status von Kriegsgefangenen verdient, weil sie den demokratischen Frieden mit anderen Mitteln fortsetzen? Dieser Gleichheitsstaat hat die überzeugten Demokraten i n all dem i n eine moralische Not, i n einen Zwiespalt gebracht, aus dem es kaum einen geistigen Ausweg gibt. A m wenigsten aber h i l f t hier das, was gerne beschworen wird: die demokratische Abscheu gegen Terrorismus. Die Demokratie ist angetreten gegen Emotionen, für Rationalität. Sie muß immer diskutieren, auch i m Angesicht des schlimmsten Verbrechens, der rohesten Gewalt. Sie w i r d sich selbst untreu, wenn sie angesichts von Mord und Bomben nur Schweigemärsche organisieren kann, Streiks und den von Massenmedien gelenkten Volkszorn der Empörung. Hier verliert sie ihre Geistigkeit, sie w i l l als das handeln, was sie aber nicht ist: als eine voll formierte, von oben legitimierte selbstverständliche Ordnung. Beides kann sie nicht haben — ihre Widerstandsideologie und Abscheu gegen Gewalt. Denn gerade sie darf ja nicht wissen, welche Ziele die richtigen sind, sonst wäre sie nicht mehr wahre Volksherrschaft. Der Gleichheitsstaat ist der letzte, der den Terrorismus als Sündenbock i n die Wüste schicken dürfte; er muß ein mea culpa sprechen. d) Terrorismus
— nur Schwäche, nicht Tod der Demokratie
Die i n sich verunsicherte Staatsform der Volksherrschaft w i r d durch kleine Bewegungen schon mächtig erschüttert. Die politischen Nervositäten u m jene wenigen Aktionen stehen i n keinem Verhältnis zur Aussichtslosigkeit des größeren terroristischen Erfolgs. A n dieser Gewaltsamkeit w i r d die Volksherrschaft nicht sterben, mag sie auch weniger als jede andere Staatsform gerüstet sein, ihr zu begegnen — und vielleicht überlebt sie gerade deshalb. Der Demokratie des Gleichheitsstaates müssen wesensnotwendig jene Instrumente fehlen, m i t denen sich Terrorismus rasch und wirksam zerschlagen läßt: vor allem eine Geheimpolizei, die allen Grundlagen dieser Staatsform widerspräche. Sie wäre ein absoluter Widerspruch zum Gleichheitsstaat: Er zielt auf eine Nivellierung, i n der die Geheimagenten des Staates nicht mehr gebraucht werden, weil sich die Gleichen j a selbst beobachten und Ungleiches, d.h. aber Gefährliches, ohneh i n nicht zu unternehmen vermögen. W i r d nun diese wesentlich antikonspirative Gleichheit doch von einigen gebrochen, was sich ja nie ganz vermeiden läßt, so kann der Gleichheitsstaat dagegen nicht wie-
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derum jene elitäre Kleingruppenpolizei einsetzen, welche als rasches Gegengift wirken könnte. Man muß vielmehr m i t großflächigen, rechtsstaatlich-egalitären Sicherheitsaktivitäten reagieren, unzählige Unschuldige auf Flughäfen und Straßen molestieren, nur u m etwas von einem — wiederum allgemeinen — Sicherheitsklima der Gleichen zu erzeugen, i n dem dann, vielleicht, auch die Gewalt abstirbt. Der Gleichheitsstaat muß sich, gegen die Wenigen, an die unendlich Vielen wenden, auch wenn i h m dabei die Einzelnen immer wieder entgehen. So kann denn dieser Kampf mit Riesengeschützen gegen die Wespen kaum je enden; nicht nur materiell, vor allem geistig schwächt er die Demokratie. Der Bürger w i r d es eben doch als beschämend empfinden, was aufzuwenden ist, um so wenige zu treffen, und es mag i h n Zorn gegen einen Gleichheitsstaat erfassen, der darin seinem Grundprinzip untreu wird, daß er den „Kleinen" so hart und wirksam ergreift, während ihm der große Sünder entgeht. Gleichbehandlung — das verlangt eben auch, irgendwo, vergleichbare Effizienz staatlicher Reaktion. Nun gelingt es zwar dem Terrorismus, den Gleichheitsstaat i n seinem Grundprinzip zu erschüttern und unglaubwürdig zu machen, doch er kann ihn schwächen, nicht erschlagen. Ein Grundirrtum nämlich hat stets zum Mißerfolg all dieser Bewegungen geführt: Sie wollten viel breitere Sympathien, sie wollten neue Gewalt aus einem Volk wecken, das aber bereits i n Egalität passiv geworden ist. Sie könnten nur siegen, wenn es dem Gleichheitsstaat nicht gelänge, auch das Aggressionsquantum i n der Bürgerschaft zu zerteilen, wie so vieles andere auch i n Verteilung... Entscheidend aber ist noch ein anderes dafür, daß Terrorismus den Gleichheitsstaat schwächen, nicht zerstören kann: Die absolute Gewaltsamkeit kommt aus der Anarchie, sie t r i t t an m i t all der Kraft dieses politischen Urgrundes. Brechen kann sie sich daher nur — wieder an Anarchie. Und gerade auf diese t r i f f t sie i n der Demokratie. So viel an Herrschaftsabbau, an Auflösung früherer Mächtigkeit ist i n dieser Staatsform bereits vorweggenommen, daß der Terrorismus das „große Neue" nicht bringen kann, das allein i h m zum vollen Sieg verhelfen würde; sein „großer Schlag" fällt i n die Watte einer bereits institutionell weithin aufgelösten Herrschaftlichkeit, die Fronten des Gegners sind unendlich dehnbar, alles w i r d i n der Umarmung der Unzähligen erstickt. Die permanente Revolution ist stärker als die neue, einmalige. Doch damit verliert der Terrorismus nicht seine schwächende Kraft, die eben aus den Tiefen der absoluten Anarchie kommt. Ständig w i r k t er abschwächend und verunsichernd auf die Demokratie ein, und damit gibt er ihr sogar — neue antiterroristische Kräfte, denn je schwächer sie wird, desto weniger kann er sie politisch überwinden.
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Terrorismus — das ist i m letzten nur einer der vielen und eigentlich auch systemimmanenten Kanäle, über welche die Anarchie diese Staatsform erreicht, prägt und verändert. Er ist zuzeiten ein Demokratiephänomen, dann eine Demokratieangst, nie ein Demokratieende. Denn diese Staatsform w i r d sich immer noch rascher selbst anarchisieren, als es der Terrorismus je vermöchte. Großer Worte der Demokraten gegen den Terrorismus bedarf es nicht; i h m gegenüber können sie auf ihre Staatsform vertrauen.
SchluÊbetrachtung Kein Ende in Anarchie — vielleicht ein Anfang aus ihr Diesen Blättern w i r d man den V o r w u r f des absoluten Staatspessimismus machen, zu Recht — denn aus i h m heraus wurden sie geschrieben — und doch vielleicht nicht ganz. Auch dies alles sind ja, wie rätestaatliche Entwicklungen und Gleichheitsstaat, nur Entwicklungslinien der späten Volksherrschaft, vielleicht nur Episoden, kein Schicksal, das sie statisch erwartet. Damit ist alles eben auch wieder relativiert, was hier gesagt und befürchtet wurde. Und es ist ja dies auch alles wiederum vielleicht sehr zukunftsträchtig, denkt man, geht man es nur wirklich zu Ende. Moralische Werturteile schließlich sollte man insoweit vergessen, als sie doch lediglich aus den gewohnten demokratischen Gleisen kommen; hier wurde ein Blickpunkt „von außen" gewählt, unter dem auch die heutige Staatsform nur etwas Vergehendes sein kann. Deshalb muß am Ende einer Analyse der demokratischen Anarchie auch die alte revolutionäre — und hier wahrhaft konterrevolutionäre — Frage „Was tun?" keine A n t w o r t finden. Einerseits wäre sie ja leicht zu geben: Wer gegen Anarchie w i r k e n w i l l , braucht doch nur all das zu vermeiden, zurückzudrängen, auszuschalten, was i n diesen Kapiteln als Hauptursache der großen Gefahr für Staat und Ordnung genannt wurde. Er w i r d versuchen müssen, Kommunalismus und Föderalismus, Mehrheitsprinzip und Grundrechtlichkeit so zu verstehen und zu praktizieren, daß sie die degenerierende Wirkung demokratischer Unendlichkeit verlieren. Letztlich hat er nur eines zu vermeiden: den Radikal-Demokratismus, i n dem so viele seit zweihundert Jahren das Wesen der Demokratie sehen. I m Grunde sind diese Blätter ein Plädoyer für den Neubeginn eines Konstitutionalismus, den man früher mit Recht gemäßigt nennen durfte. Nutzlos aber sind all diese Worte nur dem gegenüber, der diese Staatsform nie w i r d retten können, weil er sich allzu rasch i n seiner demokratischen Souveränität durch Grundsatzkritik beleidigt fühlt. Diese Sicht der Spätdemokratie hat aber weit mehr Grund zum Optimismus, als es scheint. Zwar mag man aus diesen Analysen immer wieder herauslesen, daß sich doch all das mit der Notwendigkeit des Schicksals vollziehen werde; doch diese Kapitel sollen nicht schließen ohne einen Ausblick auf eine Staatsform, die „ihrer" Anarchie gegen-
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über auch, und vielleicht noch für lange Zeit, „für sich selbst zu sorgen" imstande ist. Und wenn es zu Ende geht, so w i r d sich gerade „aus dieser ihrer Anarchie heraus" auch das Neue entfalten. A l l diese anarchischen Zeichen der Spätzeit bedeuten noch längst nicht das Ende der Demokratie. Eben mit ihrer Kraft der abgeschwächten Herrschaft hat sie allen Angriffen bisher nicht ohne Überzeugungskraft ihr „Eppure vivo" entgegensetzen können. Nach dem großen Vorb i l d der Serenissima entwickelt sie aus ihrem Wesen heraus immer neue Überlebensstrategien, und wer weiß, ob nicht einst die Geschichte, wie für Venedig, die Grandeur der Demokratie noch weit mehr i n dieser ihrer Spätzeit des Überlebens sehen wird, als i n der Naivität früher Freiheitsbegeisterung. Eine wirkliche Schwäche der Monarchie ist das rasche Abdanken-können. Die Demokratie geht nieder und kommt wieder, u m noch tiefer zu sinken, und u m doch immer wieder an der politischen Oberfläche zu erscheinen. Darin w i r d sie durch ihre Institutionen getragen, j a durch ihre Dekadenzen: — Vieles vermag sie durch die rhetorische Selbstbefriedigung m i t Eigenlob zu überspielen. Dies ist eine wahrhaft oratorische Staatsform, die sich selbst Kraft und Uberlebenschance gegen die Anarchie herbeiredet, sie damit immer wieder zurückwerfend. Denn wäre Ordnung i n Worten nicht auch politische Kraft? Vana gloria war ein Staatshalt venezianischer Spätzeit, ihre Stein gewordene Großartigkeit bewundern w i r noch heute. Hier mag Bewußtsein gesetzt werden gegen Wirklichkeit, wäre dies aber nicht doch auch Realität i m Lande Kants? — Wenn die Gefahr steigt, ist Ruhe Bürgerpflicht, sich ruhig verhalten ist die Staatskunst der Bürgerherrschaft. Reaktionsschwäche macht man der Demokratie zum Vorwurf, doch sie w i r d auch ihre Stärke. Sie ist die Staatsform, welche ignorieren kann, weil sie auf innere, institutionelle Selbstblockade abzuschieben vermag, was anderen Ordnungen Schande wäre, was sie zu unnötiger, unüberlegter A k t i vität verführt. So w i r d denn hier Anarchie zur Kraft, weil nicht getan werden kann, was doch nur übermäßig, falsch wäre. Das viel gerühmte langsame Anlaufen des demokratischen Widerstandes gegen Subversion, die Schwächepolitik nach außen, ist all dies nicht auch eine List der Vernunft? Ein Staat, der sich der Anarchie geöffnet hat, braucht nicht die großen Siege, die mächtigen Erfolge. Er bleibt j a immer, was er ist, i n einer i h m ganz natürlichen Abschwächung. Und so müssen denn auch die westlichen Demokratien Stärkere nicht herausfordern. — Doch sie können ihnen schmeicheln, weil sie diese Form des politischen Umgangs höher entwickelt haben als jede andere Staatsform.
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Schlußbetrachtung
Demagogie hat einen besonders hohen Stellenwert, wo es ständig gilt, Mehrheiten herzustellen. Hier werden alle sprachlichen, geistigen und moralischen „Qualitäten" zuhöchst entwickelt, welche Realitäten „richtig einschätzen" lassen, damit aber „geschickte Politik" erst ermöglichen. Daß sie charakterlos sein könnte, mag als ein Vorurteil aus überlebter aristokratischer Sicht erscheinen. Aus ihren Institutionen heraus stellt sich die Demokratie so rasch auf die Seite der stärkeren Bataillone, außen- wie innenpolitisch, daß sie aus ihnen jene Kraft ziehen kann, welche ihr der eigene anarchische Kern versagt. — K r i t i k ist i n der Demokratie hoch entwickelt, und solange sie noch Lebenskraft hat, kennt sie auch Selbstkritik. Sie aber w i r d zur großen politischen Überlebenschance nicht nur darin, daß sie die Ernsthaftigkeit geistiger Kräfte stets von neuem weckt. Selbst wo sie sich abschwächen, w i r k t noch die Schutzmechanik der Selbstk r i t i k als solcher: Ein Staat, der sich ständig selbst i n Frage stellt, der bis zur Unfaßbarkeit und zur Selbst auf lösung i n sich zusammenzufallen scheint, den braucht man doch nicht m i t solcher Intensität anzugreifen wie eine mächtig formierte Ordnung. Seine außenpolitischen Gegner glauben, sein Ende erwarten zu können, und inzwischen lebt er weiter. Innenpolitische Anarchie findet immer weniger, was sie noch auflösen könnte und w i r d selbst kraftlos. Die Gegner der Staatsform von außen und innen vermeinen immer wieder, Selbstauflösungsprozesse zu sehen, die man gar nicht zu unterbrechen braucht, die man vielleicht nicht unterbrechen darf, weil sie ja leichter als jede eigene Anstrengung zu dem Gewünschten führen. So scheint diese Demokratie jedem eine Chance zu geben, i n des Wortes eigentlicher Bedeutung, selbst ihren Feinden, und darin vermag sie sogar Anarchie noch zu überleben, weil sie den anarchischen Schein jenen Kräften wirksam entgegensetzt, welche auf Herrschaftslosigkeit drängen. — Die Demokratie versteht sich, i m letzten eben doch, als Einheit von Staat und einer Gesellschaft, die ständig über Wahlen und andere Demokratismen auf die Staatlichkeit hinüberwirkt. Weil es aber doch stets noch Trennungswände gibt, weil diese volle Identität nicht erreichbar ist, deshalb bleibt jene „Gesellschaft" eine politische Kraftreserve der Staatsform, wenn auch i n einem anderen Sinn als früher. Die politischen Institutionen mögen immer wieder gefährdet werden, ja absterben, sie werden regeneriert aus einer außerstaatlichen Bürgerschaft heraus, welche nirgends so rasch wie i n der Demokratie stets von neuem zum Bürgertum wird. So wie die demokratischen Institutionen ständig Ordnungsenergien
K e i n Ende i n Anarchie — vielleicht ein Anfang aus i h r
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verbrauchen, so kommt ihnen neue Energie gerade deshalb aus der „Gesellschaft", weil sie i n sich so schwach, so gestaltungsarm sind, daß es ihnen auch nicht gelingt, diese ihre eigenen gesellschaftlichen Kraftquellen auszutrocknen. Ein solches Leben aus fremder Kraft ist die Chance einer Staatsform, die mit der Anarchie lebt und „sich daher die Gesellschaft erhält" — solange diese nicht voll anarchisiert ist. — Und schließlich ist da immer noch die große historische Chance wirtschaftlicher Prosperität, die gerade durch eine Herrschaftsverdünnung begünstigt wird, welche individuelle Kräfte freisetzt. Solange sich die anarchisierte Demokratie den Markt und seine A n archie erhält, mag sie Herrschaftsschwäche überdauern. I n dieser Anarchie w i r d sie sogar noch etwas wie eine grundsätzliche Legitimation finden können. So ist es denn gerade die Anarchie i m Herzen der Demokratie, welche ihr die besten Überlebenschancen i n langer Spätzeit garantiert. „Stärkere" Staatsformen werden nicht mit allen Mitteln Zerstörung und Besetzung dessen suchen, was ihnen Ansteckung an einer „demokratischen Krankheit" bringen könnte — noch immer ist die römische Diskussion u m die Besetzung Griechenlands gegenwärtig. Doch was weit wichtiger ist: Die Kräfte der inneren Anarchie selbst können kaum ein Interesse daran haben, diese Staatsform rasch und völlig zu zerstören, vermögen sie sich doch i n ihr besser einzurichten als i n jedem anderen Haus; Demokratie als Gehäuse der Anarchie, dies ist die beste Überlebenschance überhaupt. Die volle Realisierung der Herrschaftslosigkeit kann es nie geben, die nächste, beste Annäherung ist und bleibt die Volksherrschaft. Dies aber w i r d immer ihre Gegner entwaffnen. Bleibt also nur eine Frage: Gibt es nicht doch absolute Grenzen des Ordnungsverlusts, bei deren Überschreiten all jene Gefahren übermächtig werden, von denen hier die Rede war? Hat Staatlichkeit nicht doch so viel Eigengewicht an sich, so viel von einer gewissen — Würde, daß sie irgendwann nicht mehr tiefer gedemütigt werden darf? Hier stellt sich i m Grunde die Hegeische Frage nach dem Staat als der höheren Person. Wenn es Menschenwürde gibt und letzte Grenzen ihrer Verletzung, kann dann nicht auch Anarchie wahrhaft unerträglich werden — irgendwann? Würde ist stets etwas anderes als Leben, darum reicht ja die Menschenwürde über den Tod hinaus und beginnt vor ihm. Könnte nicht auch i m Staat eines Tages ihr Verlust schwerer wiegen als der Staatsuntergang? Doch all dies sind nicht mehr Fragen, es sind Wetten auf die Zukunft. So viel Fluktuation ist dort, daß wirklich alles möglich erscheint — und eben dies ist ja auch eine Seite der Anarchie.
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Schlußbetrachtung
Ich glaube, daß Anarchie die Demokratie immer weiter schwächen wird, bis i n die Nähe des Endes, daß sie es aber nicht bringen kann. Eine ganz andere Frage ist es, ob nicht gerade i n diesem Prozeß einer glücklichen oder dramatischen Abschwächung der Anfang des wieder ganz großen Neuen liegt. I n der Anarchie bricht der Bürger aus der lastenden Gewalt des Gleichheitsstaates aus. Wann w i r d er versuchen, aus dieser Anarchie auszubrechen? Dann, wenn er einem Menschen sagen wird: „Denn Dein ist das Reich und die K r a f t . . . " .