Die Militarisierung der Heiligen in Vormoderne und Moderne [1 ed.] 9783428555208, 9783428155200

Der Sammelband widmet sich den gesellschaftsgeschichtlichen Aspekten der Verehrung von militarisierten Heiligen von der

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Die Militarisierung der Heiligen in Vormoderne und Moderne [1 ed.]
 9783428555208, 9783428155200

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Historische Forschungen Band 122

Die Militarisierung der Heiligen in Vormoderne und Moderne Herausgegeben von Liliya Berezhnaya

Duncker & Humblot · Berlin

Die Militarisierung der Heiligen in Vormoderne und Moderne

Historische Forschungen Band 122

Die Militarisierung der Heiligen in Vormoderne und Moderne Herausgegeben von Liliya Berezhnaya

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0344-2012 ISBN 978-3-428-15520-0 (Print) ISBN 978-3-428-55520-8 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Danksagung Dieser Band wird gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Exzellenzclusters „Religion und Politik. Dynamiken von Tradition und Innovation“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster aus Mitteln der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder. An dieser Stelle bedankt sich die He­ rausgeberin bei diesem Exzellenzcluster ebenso wie beim Ikonen-Museum Recklinghausen und Prof. Dr. Michael Grünbart für die Hilfe bei der Vorbereitung dieses Bandes. Liliya Berezhnaya

Inhalt Liliya Berezhnaya: Soldaten und Märtyrer: Zum Prozess der Militarisierung der Heiligen im östlichen und westlichen Christentum  . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 I. Grundlagen und Verflechtungen in der vormodernen Geschichte der Kriegerheiligen Eva Haustein-Bartsch: Vom jugendlichen Märtyrer zum älteren Krieger­ heiligen – der heilige Menas von Ägypten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Laury Sarti: Der merowingische Heilige als Krieger  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Thomas Scharff: Die Heiligen im Kampf gegen die Normannen  . . . . . . . . . . . . 101 Stefan Samerski: Zwischen Waffengang und caritas. Der Deutsche Orden und seine Heiligen im Mittelalter und in der Frühneuzeit  . . . . . . . . . . . . . . . 127 Nataliia Sinkevych: Der Kult der Kriegerheiligen in der Kiewer Metropolie in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts.  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 II. Die moderne Nationalisierung der Kriegerheiligen und die Sakralisierung des Soldatentodes Constantin Iordachi: Nationaler Messianismus und die Sakralisierung von ­Politik: Der Doppelkult des Fürsten Michael des Tapferen und des Erz­ engels Michael in der rumänischen nationalen Ideologie.  . . . . . . . . . . . . . . . 161 André Johannes Krischer: Eine Sakralisierung des Leidens für Freiheit und Nation? „Märtyrer“ als Deutungsmuster bei der irischen Unabhängigkeitsbewegung im 19. Jahrhundert  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Robert H. Greene: Militant Patriotism: The Image and Cult of Patriarch St. Germogen in Late Imperial Russia  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Stefan Rohdewald: Geistliche als Krieger für die Nation: Erstmilitarisierungen südslawischer Heiliger im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert  . . . . . . . . . 259 Sarah Thieme: Sakralisierungen des soldatischen Sterbens: Nationalsozialistischer Totenkult um Weltkriegsgefallene, Märtyrerfiguren und Ruhrkämpfer im rheinisch-westfälischen Industriegebiet  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

8 Inhalt III. Schlussbemerkungen Alfons Brüning: Heilige, Helden, Krieger – zwischen Religion und Ideologie: Epilog  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327

Soldaten und Märtyrer: Zum Prozess der Militarisierung der Heiligen im östlichen und westlichen Christentum Von Liliya Berezhnaya Zu den klassischen russischen Heiligen gehören die Brüder Boris und Gleb, die in den dynastischen Kämpfen der mittelalterlichen Rus’ auf Gewalt und Eskalation verzichteten und daher umkamen. Bei einem Treffen mit dem Maler Ilja Glasunov im Jahr 2009 machte Wladimir Putin, damals Russlands Premierminister, die folgende Bemerkung über die hl. Boris und Gleb: „Und Boris und Gleb, obwohl sie Heilige sind, haben doch das Land ohne Kampf aufgegeben […]. Sie haben sich hingelegt und gewartet bis sie getötet wurden. Das kann kein Beispiel für uns gewesen sein.“1

Diese Episode aus der jüngeren Geschichte Russlands zeigt, wie widersprüchlich und problematisch die Geschichte der christlichen Heiligen für moderne politische Verhältnisse scheinen kann. Gewaltlose christliche Heilige sind laut Wladimir Putin nicht mehr für ein modernes russisch-patriotisches Narrativ geeignet. Was Putin offenbar nicht wusste, war, dass die heiligen Brüder im Laufe der Geschichte oft und regelmäßig als Militärheilige und Russlands Schutzpatrone dargestellt wurden. Die Problematik der Spannung zwischen christlich gebotenem Gewaltverzicht und der in der Überlieferung den Heiligen zugeschriebenen Schutzfunktion im Krieg bleibt nicht nur in Russland, sondern in vielen anderen europäischen Ländern im politischen und medialen Fokus. Dabei geht es historisch stets um das Schutzbedürfnis der Bevölkerung. Zugleich mangelt es aber in Debatten, die diese Schutzfunktion aufnehmen, an historischen Kenntnissen über die Geschichte der Militärheiligen. Denn eigentlich findet sich der Typus des „heiligen Verteidigers“ konfessionsübergreifend und zu verschiedenen Zeiten im europäischen Westen und Osten. Ferner konnten nicht allein Heilige, sondern auch andere zentrale biblische Gestalten wie die Ich bedanke mich bei Laury Sarti, Michael Grünbart und Alfons Brüning für wichtige Hinweise bei der Vorbereitung dieses Beitrages. 1  Nigina Berojeva, „Vladimir Putin: U kniazja Olga meč  – eto kak peročinnyj nožik: kak budto im kolbasu režut“, in: Komsomol’skaja Pravda (10.  Juni 2009): https://www.kp.ru/daily/24308/502329 [zuletzt besucht 15.12.2019].

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Gottesmutter oder die Erzengel Michael und Gabriel gegebenenfalls den Charakter militanter Verteidiger und Beschützer annehmen. Unser Buch widmet sich den gesellschaftsgeschichtlichen Aspekten der Verehrung von militarisierten Heiligen von der Spätantike bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Die Idee des Bandes entstand im Zusammenhang mit der Sonderausstellung „Von Drachenkämpfern und anderen Helden. Kriegerheilige auf Ikonen“ (2. Oktober 2016–12. Februar 2017), die zum Jubiläum des 60-jährigen Bestehens des Ikonen-Museums Recklinghausen gezeigt wurde.2 Die Ausstellung illustrierte eindrücklich die große Beliebtheit der Kriegerheiligen in allen historischen Epochen, vor allem im ostkirchlichen Raum. Im Februar 2017 organisierte, parallel dazu, das Exzellenzcluster „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster eine abschließende internationale Tagung unter der Leitung von Michael Grünbart und Liliya Berezhnaya.3 Dieser Sammelband, der auf die Münsteraner Tagung zurück geht, enthält darüber hinaus auch mehrere zusätzliche Beiträge, um epochenübergreifend und interdisziplinär die Prozesse der Militarisierung von Heiligen im europäischen Raum in den Blick zu nehmen. Die geographischen, typologischen, interkonfessionellen, chronologischen und weiteren Verflechtungen, Translationen und Transfergeschichten der Kriegerheiligenkulte bleiben im Fokus des Sammelbandes. Gerade das aber macht eine gesamteuropäische Perspektive notwendig. Zugleich geht es um Medien, Akteure und Symbolsprachen der Militarisierung. Unser Ziel ist es, die Hauptdynamiken, Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Militarisierung der Heiligen in verschiedenen christlichen Traditionen der Vormoderne und Moderne exemplarisch zu präsentieren – in einer Perspektive, die Ost und West gleichermaßen beleuchtet. In der ansonsten recht reichen Historiografie zu den Militärheiligen hat ein solcher konfessions- und epochenübergreifender Ansatz bisher gefehlt. Üblicherweise konzentriert man sich auf die Entwicklungen der einen oder anderen christlichem Tradition; eine Studie, die verschiedene Ansätze zusammenbringt, ist etwas relativ Neues. Der Schwerpunkt des Bandes liegt nicht nur auf dem christlich geprägten östlichen Mittelmeerraum, wo die Heiligen zuerst militarisierte Funktionen zugeschrieben bekamen, sondern vor allem auf den Verflechtungen mit dem westlichen und östlichen Europa. Chronologisch umfasst das Buch eine 2  Eva Haustein-Bartsch (Hrsg.), Von Drachenkämpfern und anderen Helden: Kriegerheilige auf Ikonen: Katalog zur Ausstellung im Ikonen-Museum Recklinghausen, 2. Oktober 2016–12. Februar 2017, Recklinghausen 2016. 3  Lutz Rickelt, „Tagungsbericht: Die Militarisierung der Heiligen in Vormoderne und Moderne, 01.02.2017–02.02.2017 Münster“, in: H-Soz-Kult, 08.05.2017: www. hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7162 [zuletzt besucht 15.12.2019].



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große Zeitspanne, von der Spätantike bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Damit will der Band dazu beitragen, langfristige Entwicklungsdynamiken ans Licht zu bringen. Diskutiert werden Fragen zur Hagiographie, Sakraltopographie, Ikonographie und Gesellschaftsgeschichte. Wichtig ist festzustellen: Wie wirken Kriegerheilige? Greifen sie aktiv in das Geschehen ein oder zeigen sie sich als stumme Zeugen? Werden nur männliche Heilige „militarisiert,“ oder übernahmen auch weibliche Heilige entsprechende Schutzfunktionen? Entstehen neue Erzählungen oder Darstellungen von Militärheiligen, oder werden die bestehenden Heiligenviten umgeschrieben? Welchen Stellenwert nehmen Verehrungsorte der Militärheiligen ein, wo sind diese platziert? Welche Rolle spielen nationale Ideologien? Ist die Entstehung von Legenden über Kriegerheilige ein Reflex der Militarisierung der Gesellschaft, oder kommt eher das Bedürfnis nach Schutz zum Ausdruck, den eine welt­ liche Macht nicht mehr leisten kann? Gliederung des Bandes Die Beiträge, die sich einer oder mehrerer dieser Fragen zuwenden, sind im Sammelband chronologisch geordnet. Das Buch besteht aus drei Teilen, die hier kurz präsentiert werden sollen. Der erste Teil im Anschluss an diese Einleitung (Liliya Berezhnaya [Münster]), unter dem Titel Grundlagen und Verflechtungen in der vormodernen Geschichte der Kriegerheiligen, widmet sich der Entstehung und Verbreitung von Kriegerheiligenkulten in der Spätantike, im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Den Anfang macht der Beitrag von Eva Haustein-Bartsch (Dortmund) „Vom jugendlichen Märtyrer zum älteren Kriegerheiligen – der hl. Menas von Ägypten.“ Aus kunsthistorischen Perspektive betrachtet, wandelt sich hl. Menas († 296) nach HausteinBartschs Beschreibung von einem jugendlichen Märtyrer im ersten Jahrtausend zum bewaffneten und gerüsteten Kriegerheiligen in spätbyzantinischer Zeit. Bei diesen Militarisierungsprozessen wird manchmal auf die Darstellungen der Reiterheiligen, wie der hl. Georg oder hl. Demetrios von Thessaloniki, zurückgegangen. Ähnliche Prozesse beschreibt Laury Sarti (Freiburg) in ihrem Beitrag „Der merowingische Heilige als Krieger.“ Sie schildert wie Heilige, die niemals eigentlich die Funktion eines Kriegers übernahmen, dennoch auch militärische Ideale und Wertvorstellungen verkörpern konnten. Sarti zeigt wie die Heiligendarstellungen im merowingischen Gallien seit dem ausgehenden 6. Jahrhundert eine mit der Kunstgeschichte einhergehende, allgemeine Vermischung geistlicher und militärischer Wertvorstellungen spiegelten. Im Beitrag von Thomas Scharff (Braunschweig) „Die Heiligen im Kampf gegen die Normannen“ geht es um militärische Bedrohungen (im konkreten

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Fall durch die Normannen, auch und vor allem für das westliche Frankenreich), die ein Bedürfnis nach einer spirituellen Schutzmacht hervorriefen. Scharff beschreibt wie Heilige in der karolingischen Hagiographie und Historiographie in die Kämpfe mit den Normannen eingreifen, und wie manche direkt zu Kriegerheiligen stilisiert wurden. Im anschließenden Aufsatz geht es um den Deutschen Orden und seine heiligen Schutzpatrone. Stefan Samerski (München/Berlin) beschreibt in seinem Kapitel „Zwischen Waffengang und caritas. Der Deutsche Orden und seine Heiligen im Spätmittelalter und Frühneuzeit“ wie unter den Rittermönchen des Ordens der Topos „Ritterschaft Christi“ implizit der Gottesmutter eine bleibende militärische Funktion zuteilte. Außerdem wurden weibliche Heilige, wie Katharina, Barbara und Margarete, obwohl nie offiziell zu Ordenspatronen erhoben, zu Militärheiligen stilisiert, weil sie in den dominant militärischen Aufgabenbereich des Ritterordens vor allem in Preußen passten. Der abschließende Beitrag in diesem Teil ist der frühneuzeitlichen Militarisierung von ursprünglich gewaltlosen orthodoxen Heiligen gewidmet. In „Der Kult der Kriegerheiligen in der Kiewer Metropolie in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts“ schildet Nataliia Sinkevych (München) wie, vergleichbar der zuvor behandelten mittelalterlichen karolingischen Historiographie und Hagiographie, in der Situation der ständigen Bedrohungen die Kiewer Geistlichen auf der Suche nach heiligen militärischen Beschützern waren. Der multikonfessionelle Status der Region brachte hierbei besondere Herausforderungen mit sich. Die orthodoxen Chronisten und Hagiographen versuchten ihren eigenen Mittelweg und eigene „Militarisierungsmuster“ zwischen aktiv propagierten katholischen Militärheiligen der Adelsrepublik Polen-Litauen, den traditionellen byzantinischen Kriegerheiligen und den im Moskauer Reich populären dynastischen Heiligen zu finden. Der zweite Teil, Die moderne Nationalisierung der Kriegerheiligen und die Sakralisierung des Soldatentodes, gilt den Entwicklungen des 19.–Mitte des 20. Jahrhunderts. Constantin Iordachi (Budapest/Wien) behandelt zunächst „Nationaler Messianismus und die Sakralisierung von Politik: Der Doppelkult des Fürsten Michael des Tapferen und des Erzengels Michael in der rumänischen nationalen Ideologie.“ Iordachi zeigt wie in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts die legendären kämpferischen Eigenschaften des Erzengel Michael auf die nationalen rumänischen Helden, darunter die vormodernen und modernen Fürsten, übertragen wurden. So wurde aus historischen und zeitgenössischen Persönlichkeiten nach dem Muster von traditionellen Militärheiligen ein nationaler Pantheon sakralisierter Helden geschaffen. Solche Zuschreibungen lieferten später die Grundlage für die rumänische nationalistische Ideologie, insbesondere für die faschistische und anti-



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semitische Bewegung respektive politische Partei der „Legion des Erzengel Michael“ („Die Eiserne Garde“) in den Jahren 1927–1941. Im Beitrag von André Johannes Krischer (Münster) werden mit Bezug auf ein anderes Beispiel mögliche Formen der modernen Helden und Märtyrer analysiert: „Eine Sakralisierung des Leidens für Freiheit und Nation? ‚Märtyrer‘ als Deutungsmuster bei der irischen Unabhängigkeitsbewegung im 19. Jahrhundert.“ Krischer untersucht die Entstehung von säkularen politischen Märtyrerkulten im modernen Irland. Trotz zunächst säkularer Inhalte konstruierte die irische Unabhängigkeitsbewegung mit dem Martyrium ein Konzept, das lange Zeit die englisch-protestantische Gegenseite implizit im Visier hatte und dabei, wie im vorigen Beitrag über Rumänien, in vormoderne Muster eingebettet war. Krischer betont, dass eben diese Aneignung den Erfolg der Figur des „Märtyrers“ im modernen Irland erklärt. Die in die Vergangenheit zurückprojizierte Normen und Wertvorstellungen als Teil des modernen nation building, entsprechend der „invention of tradition“ (Eric Hobsbawm/Terence Ranger), stehen auch im Fokus von Robert Greens (Missoula, Montana) Beitrag „Militant Patriotism: The Image and Cult of Patriarch St. Germogen in Late Imperial Russia“ („Militanter Patriotismus. Image und Kult des hl. Patriarchen Germogen im späteren imperialen Russland“). Green untersucht wie in Bild und Schrift Versuche, die Figur der hl.  Germogen († 1612) im Russischen Reich Anfang des 20. Jahrhundert zu einer nationalen Identifikationsfigur zu machen, zugleich eine erste Militarisierung des Heiligen verursacht haben. Die Nationalisierung des Imperiums unter russischen Vorzeichen verlangte nach einem Bild von einem patriotischen und „echten Militärheiligen im russischen nationalen orthodoxen Geist.“ Ganz ähnliche Prozesse beobachtet auch Stefan Rohdewald (Leipzig) in seinem Beitrag „Geistliche als Krieger für die Nation: Erstmilitarisierungen südslawischer Heiliger im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert.“ Rohdewald stellt eine Säkularisierung von Heiligen im 19. Jh. in Südosteuropa fest. Im Kontext des Historismus und des intensivierten Nationalismus zu Ende des 19. Jahrhunderts sowie dann insbesondere während der 1930er Jahre sind darüber hinaus fortschreitende und immer explizitere „Erstmilitarisierungen“ von Heiligen wie Kyrill und Method zu beobachten. Die sakrale Legitimation der Nation dient dem Zweck um Bauern im öffentlichen Bewusstsein zu Bulgaren oder Serben zu befördern. Abgeschlossen wird dieser Teil des Bandes mit dem Beitrag von Sarah Thieme (Münster) „Sakralisierungen des soldatischen Sterbens: Nationalsozialistischer Totenkult um Weltkriegsgefallene, Märtyrerfiguren und Ruhrkämpfer im rheinisch-westfälischen Industriegebiet.“ Nicht nur gewaltlose vormoderne Heilige werden im europäischen „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm) militarisiert und nationalisiert. Auch die zeitgenössischen Solda-

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tenfiguren, wie Thieme am Beispiel von NS-Deutschland zeigt, werden staatlich instrumentalisiert und zu Märtyrerfiguren oder (quasi-) Kriegerheiligen stilisiert. Das Bild des heroischen Kämpfers sollte mithilfe von Mythen und Ritualen der deutschen Nation einen sakralen Charakter vermitteln und zugleich die geläufigen Feindbilder bekräftigen. Im dritten Teil, Schlussbemerkungen, rundet Alfons Brüning (Nijmegen/ Amsterdam) den Band ab mit dem Beitrag „Heilige, Helden, Krieger – zwischen Religion und Ideologie: Epilog.“ Brüning beschäftigt sich mit den Verhältnissen zwischen christlichen Heiligen und Kriegshelden aus theologischer und kulturgeschichtlicher Perspektive, und mit Bezug auf die Einzelbeiträge des vorliegenden Bandes. Er schildert wie Ost- und Westkirche im Laufe ihrer Entwicklung jeweils unterschiedliche Kompromisse zwischen den Idealbildern der Friedensheiligen und der Helden fanden. An der Wurzel des moralischen Konflikts liegt das Dilemma zwischen christlichem Universalismus einerseits, und Ideen eines heilsgeschichtlich ausgezeichneten, partikularen Kollektivs andererseits. Religion und Gewalt, „gerechter Krieg“ und „heiliger Krieg“ in den byzantinischen und lateinischen Kirchentraditionen Der Band nimmt damit generell auch Fragen auf nach der Ambivalenz des Christentums in Bezug auf physische Gewalt, das heißt nach dem jeweiligen Gewalt- oder Friedenspotential des Christentums und den politischen und sozialen Bedingungen, unter denen ein solches Potential realisiert wird. Nicht erst seit den jüngsten religiös motivierten Terroranschlägen ist generell ein Aufschwung der Gewaltforschung mit Bezug auf Religion in der Politikwissenschaft, Soziologie, Geschichtswissenschaft, Kunstgeschichte und natürlich in der Religionswissenschaft und Theologie zu beobachten.4 4  Johannes Müller-Salo, „Das Problem der Gewalt. Eine Einführung“, in: ders. (Hrsg.), Gewalt. Texte von der Antike bis in die Gegenwart, Ditzingen 2018, S. 9 f. Das Thema ist im Fokus zahlreicher Arbeiten. Vgl. u. a.: Mathias Hildebrandt/Manfred Brocker (Hrsg.), Unfriedliche Religionen? Das politische Gewalt- und Konfliktpotential von Religionen, Wiesbaden 2005; Andreas Hasenclever/Alexander De Juan (Hrsg.) Religion, Krieg und Frieden (Sonderheft: Die Friedens-Warte, Bd. 82, 2/3 [2007]); Adel Theodor Khoury/Ekkehard Grundmann/Hans-Peter Müller (Hrsg.), Krieg und Gewalt in den Weltreligionen. Fakten und Hintergründe, Freiburg u. a. 2003; Bernd Oberdorfer/Peter Waldmann (Hrsg.), Die Ambivalenz des Religiösen: Religionen als Friedensstifter und Gewalterzeuger, Freiburg u. a. 2008; Mark Juergensmeyer/Margo Kitts/Michael Jerryson (Hrsg.), Violence and the World’s Religious Traditions. An Introduction, Oxford 2017; Hektor Avalos, Fighting Words: the Origins of Religious Violence, New York 2005; Scott R. Appleby, The Ambivalence of the Sacred: Religion, Violence, and Reconciliation, Lanham, MD 2000; Karl Gabriel/ Christian Spieß/Katja Winkler (Hrsg.), Religion  – Gewalt  – Terrorismus. Religions­



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Es laufen derzeit zahlreiche Diskussionen darüber, wie man religiös motivierte Gewalt definieren kann. Nicht alle können hier ausführlich besprochen werden.5 Beispielsweise existiert für manche Interpreten religiöse Gewalt eigentlich nur als ein Mythos, der dekonstruiert werden sollte, weil „eine Differenzierung zwischen säkularer und religiöser Gewalt nicht hilfereich, irreführend und mystifizierend […]“ sei.6 Für andere fällt religiös motivierte Gewalt in die Kategorie von „symbolischer Gewalt“ – welche laut Pierre Bourdieu allgemein eine Form eines unsichtbaren Herrschaftsverhältnisses ist.7 Anderswo wird religiöse Gewalt als „kulturelle“ oder „strukturelle“ Gewalt klassifiziert, entsprechend etwa der von Johan Galtung geprägten Begrifflichkeit.8 Gewalt geht hier aus der Struktur der religiösen Institution hervor.9 Damit weist Galtung zugleich auf ein weiteres Diskussionsthema der letzten Jahre, das Problem des Gewaltpotenzials der monotheistischen Religionen. Zusammen mit Jan Assmann vertritt Galtung die These, dass vor allem Judentum, Christentum und Islam Fanatismus, Intoleranz und Gewalt in großem Ausmaß generiert hätten. Es sind die den monotheistischen Religionen inhärenten Elemente von (beanspruchter) Universalität und (nicht in soziologische und ethische Analysen, Paderborn u. a. 2010; Andrew R. Murphy (Hrsg.), The Blackwell Companion to Religion and Violence, Malden, MA 2011. 5  Meistens wird es unterschieden zwischen potestas (Macht- und Herrschaftsbefugnis) als legitime und rechtmäßige Gewalt und violentia (verletzende Gewalt) als nichtlegitime, ungerechtfertigte Gewalttat: Wilhelm Korff, Art.: „Gewalt, Gewaltlosigkeit/ Theologisch-ethisch“. in: Walter Kasper et  al. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 4, Freiburg 2006, Sp. 611–614, hier Sp. 611; John D. Carlson, „Religion and Violence: Coming to Terms with Terms“, in: Murphy (Hrsg.), The Blackwell Companion, S. 7–22. S. ein Überblick über verschiedene Deutungen der religiös motivierten Gewalt in: Mark Juergensmeyer, „Religious Violence“, in: Peter B. Clarke (Hrsg.) The Oxford Handbook of the Sociology of Religion, Oxford 2009, S. 890–923. 6  William T. Cavanaugh, The Myth of Religious Violence: Secular Ideology and the Roots of Modern Conflict, Oxford 2009, S. 8–9. Vgl. dazu auch Karen Arm­strong, Fields of Blood. Religion and the History of Violence. New York/Toronto 2014; Philippe Buc, „Religions and Warfare. Prolegomena to a comparative study“, in: Quaestiones medii aevi novae, Bd. 21 (2016), S. 9–26. 7  Pierre Bourdieu, „Die symbolische Gewalt (1998)“, in: Müller-Salo (Hrsg.), Gewalt, S. 121–129, hier S. 124. Vgl. Kaspar von Greyerz/Kim Siebenhüner, „Einleitung“, in: ders. (Hrsg.), Religion und Gewalt. Konflikte, Rituale, Deutungen (1500– 1800). Göttingen 2006, S. 9–28, insbes. S. 17–19. 8  Johan Galtung, „Cultural Violence,“ in: Journal of Peace Research, Bd. 27, 3 (1990), S. 291–305. Galtung definiert strukturelle oder indirekte Gewalt als „die Gewalt ohne einen Akteur. […] Wenn Menschen so beeinflusst werden, dass ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung.“ Ders., „Strukturelle Gewalt“, in: Müller-Salo (Hrsg.), Gewalt, S. 184–196, hier S. 185–187. 9  Fritz Graf, Art.: „Violence“, in: Lindsay Jones (Hrsg.), Encyclopedia of Religion, Bd. 14, Detroit 22005, Sp. 9595–9600, hier Sp. 9596.

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Frage zu stellender) Offenbarung, die zur „Weltverneinung“ und zu „strukturellen Intoleranz“ führen: „[…] die religiöse Gewalt […] ist schriftgestützte Gewalt.“ Assmann empfiehlt das Gegenmittel einer „humanisierenden, zivilisierenden und historisierenden Auslegung“ der monotheistischen Lehre.10 Die aus den Thesen Assmanns folgenden Diskussionen haben freilich zeigen können, dass sowohl die Relationen zwischen den monotheistischen Religionen, als auch das Verhältnis namentlich des Christentums zur Gewalt sehr komplex sind. Nirgends etwa kann man ein Gewaltpotential allein auf den möglichen Konflikt zwischen verschiedenen religiösen Systemen reduzieren. Folglich betont etwa Arnold Angenendt, dass im Hinblick auf das Christentum Assmanns Deutungen zu generalisierend und vereinheitlich sind: „Das frühe Christentum tat den Schritt zur ‚inneren‘ Toleranz, und Theologen lieferten die Begründung.“11 Ähnlich argumentiert u. a. Yves Bizeul: „Die jüdisch-christliche Tradition brachte aber nicht nur eine gewaltfördernde Radikalität zu Tage, sondern auch die gewalteinschränkende Vorstellung der menschlichen Gottebenbildlichkeit und der damit verbundenen Menschenwürde.“

Bizeul weiter: „Angesichts der Gottebenbildlichkeitslehre und der Bergpredigt mussten sich die ersten Christen die Frage stellen, ob die Anwendung von Gewalt überhaupt gerechtfertigt sein kann.“12 Tatsächlich wird im Neuen Testament Frieden und Versöhnung eigens und wiederholt betont, und auch in der frühen Kirche herrschte eine starke und generelle Abneigung gegen 10  Jan Assmann, „Mose und der Monotheismus der Treue. Eine Neufassung der ‚Mosaischen Unterscheidung‘ “, in: Jan-Heiner Tück (Hrsg.), Monotheismus unter Gewaltverdacht. Zum Gespräch mit Jan Assmann, Freiburg u. a. 2015, S. 16–32, hier S. 29, 33. Vgl. ders., Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus. München 2003; ders., Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. Frankfurt/M. 32001; ders., Monotheismus und die Sprache der Gewalt. Wien 2006; Johan Galtung, „Religions, hard and soft“, in: Cross Currents, Bd. 47, 4 (1997–1998): http://www.crosscurrents.org/galtung.htm [zuletzt besucht 15.12.2019]. 11  Angenendt fügt dazu: „Tatsächlich hatten die drei theistischen Hochreligionen ihr Gewaltproblem nicht eigentlich mit den Andersgläubigen, wohl aber mit den eigenen Abgefallenen, die sie als Gottesfeinde tatsächlich zu eliminieren bestrebt waren.“ Arnold Angenendt, Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, Münster 52009, S. 96, 98. Vgl. Jan-Heiner Tück, „Vorwort“, in: ders. (Hrsg.), Monotheismus, S. 7–15. Die anderen Kritikpunkte beziehen sich z. B. auf die sozialen und politischen Gründe von religiös motivierter Gewalt, genauso auf die Vermutung, dass Assmanns „mosaische Unterscheidungen“ nur moderne Projektionen sind, usw. Vgl. Herbert Schnädelbach, „Monotheistische Offenbarungsreligionen als Quelle von Intoleranz und Gewalt? Bemerkungen zur Assmann-Debatte“, in: Gerhard Besier/Hermann Lübbe (Hrsg.) Politische Religion und Religionspolitik. Zwischen Totalitarismus und Bürgerfreiheit, Göttingen 2005, S. 261–271, hier S. 299f; Graf, „Violence“, Sp. 9598. 12  Yves Bizeul, Glaube und Politik, Wiesbaden 2009, S. 86–88.



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jede Art der Gewalt. Dies musste freilich im Zuge der Eroberung von weiteren gesellschaftlichen Segmenten durch das Christentum zu Konflikten führen. So stellte sich bald auch die Frage nach der Haltung der christlichen Soldaten und Offiziere in der römischen Armee und damit nach dem Waffengebrauch durch Christen.13 Dies ist zugleich der Ausgangspunkt für den mehrdeutigen, oft widersprüchlichen Charakter von Kriegerheiligen in der ganzen Geschichte des Christentums. In der Tat kommt die Komplexität der Relationen zwischen Religion und Gewalt am meisten in Zeiten von kriegerischen Auseinandersetzungen selbst zum Ausdruck. Wie Andreas Holzem feststellt, bewirkte „der Krieg als politisch-gesellschaftliche Extremsituation […] menschheitsgeschichtlich stets einen erhöhten Bedarf an religiösen Deutungen.“ Generell, auch jenseits von Legitimation und Trost in Kriegszeiten, erfüllt Religion die Funktion von „erfahrungsgebundener und erfahrungsbildender Kommunikation von Sinndeutungsmodellen.“14 Friedrich Wilhelm Graf hat dies noch zugespitzter formuliert in dem Sinne, dass in dieser Perspektive praktisch jeder Krieg als „heilig“ gedeutet werden kann. Der Krieg konfrontiert den Menschen gerade notwendigerweise mit dem Außeralltäglichen, und deshalb „erzeugt er außerordentlichen Sinndeutungsbedarf.“15 Die Formen der religiösen Legitimation von Krieg und Gewalt haben sich allerdings im Laufe der christlich geprägten Geschichte, die im Fokus dieses Sammelbandes steht, in verschiedenen Regionen und historischen Perioden stark unterschieden. Oft waren Begriffe wie „heiliger Krieg“ (bellum sacrum/ sanctum) oder „gerechter Krieg“ (bellum iustum) in Gebrauch. Allerdings waren sowohl diese Begriffe und ihre Synonyme als auch die Bedingungen ihrer Anwendbarkeit stets umstritten. Jenseits des oft in den frühen Quellen beschworenen Pazifismus ist die Komplexität der religiösen Legitimationen für Krieg und Gewalt schon im frühen Christentum zu beobachten. Seit ca. dem 3. Jahrhundert beginnt eine „theologische Reflexion über die Frage deutlich zu werden, ob Christen 13  Lloyd Steffen, „Religion and Violence in Christian Traditions“, in: Juergensmeyer/Kitts/Jerryson (Hrsg.), Violence, S. 109–139. 14  Andreas Holzem, „Krieg und Christentum. Religiöse Gewalttheorien in der Kriegserfahrung des Westens. Einführung“, in: ders. (Hrsg.), Krieg und Christentum. Religiöse Gewalttheorien in der Kriegserfahrung des Westens, Paderborn 2009, S. 16–17. 15  Friedrich Wilhelm Graf, „Sakralisierung von Kriegen: Begriffs- und problemgeschichtliche Erwägungen“, in: Klaus Schreiner/Elisabeth Müller-Luckner (Hrsg.), Heilige Kriege. Religiöse Begründungen militärischer Gewaltanwendung: Judentum, Christentum und Islam im Vergleich (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien, 78) München 2008, S. 30; ders., Götter global: Wie die Welt zum Supermarkt der Religionen wird, München 2014, S. 203–236.

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überhaupt Soldaten sein können“.16 Die konstantinische Zeit, als sich eine Reichstheologie entwickelte und dem zunehmend christlich geprägten römischen Reich eine heilsgeschichtliche Rolle zugeschrieben wurde, brachte einen neuen und entscheidenden Anstoß zu diesen Debatten mit.17 Georg Kretschmar betont in diesem Zusammenhang, dass die damalige Entscheidung, den Gott der Christen als Schutzherrn des Reiches zu reklamieren, eines der großen theologischen Probleme des 4. und 5. Jahrhundert darstellte: „Den Christen wuchs damit Weltverantwortung zu, wie sie kein Apostel und keiner der älteren Kirchenväter je für möglich gehalten hätte.“18 Das Dilemma, wie man als Christ Kriege zu führen hat, war eines dieser Probleme. Es galt, zwischen dem Gebot „Du sollst nicht töten“ und dem Soldateneid einen Mittelweg zu finden.19 So unterschieden verschiedene Kirchenväter zwischen Mord und dem Töten im Krieg. Bisweilen fiel die Lösung für die imperiale Elite ganz praktisch aus. So beschreibt David S. Bachrach, „[…] the imperial government adapted older religious practices to fit within a Christian paradigm, or simply gave a Christian overlay to long-standing religious 16  Hanns Christof Brennecke betont in diesem Zusammenhang dass die Debatten „zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen geführt“ haben. Besonders Tertullian (ca. 150–ca. 220) hat versucht die Auffassung, dass christliches Bekenntnis und Soldatsein einander ausschließen, theologisch zu begründen. Hanns Christof Brennecke, „An fidelis ad militiam converti possit. Frühchristliches Bekenntnis und Militärdienst im Wiederspruch?“, in: Dietmar Wyrwa (Hrsg.), Die Wirklichkeit des Glaubens in der Alten Kirche. Festschrift für Ulrich Wickert (Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 85), Berlin 1997, S. 45–100, hier S. 64. Vgl. Andreas Holzem, „Theological War Theories“, in: Angela Kallhoff/Thomas Schulte-Umberg (Hrsg.), Moralities of Warfare and Religion (Sonderheft: Interdisciplinary Journal for Religion and Transformation in Contemporary Society, Bd. 4, 1 [2018]), S. 24–25; Robert Taft, „War and Peace in the Byzantine Divine Liturgy“, in: Timothy S. Miller/John Nesbitt (Hrsg.), Peace and War in Byzantium: Essays in Honor of George T. Dennis, S.J ., Washington 1995, S. 17–32; Piotr Ł. Grotowski, Arms and Armour of the Warrior Saints: Tradition and Innovation in Byzantine Iconography (843–1261), Leiden 2010, S. 64. 17  Egon Flaig, „Heiliger Krieg: Auf der Suche nach einer Typologie“, in: Historische Zeitschrift, Bd. 285, 2 (2007), 265–302; Carsten Colpe, Der Heilige Krieg. Benennung und Wirklichkeit. Begründung und Widerstreit, Bodenheim 1994. Der christliche Gott erfüllte laut Klaus Schreiner in der konstantinischen Zeit die Rolle „eines Schlachtenhelfers, wie dies zuvor römische Gottheiten getan haben.“ Klaus Schreiner, „Einführung“, in: ders./Müller-Luckner (Hrsg.), Heilige Kriege, S. IX; Hartmut Leppin, Die frühen Christen: Von den Anfängen bis Konstantin, München 2018, S. 392– 414, insb. S. 402. 18  Georg Kretschmar, „Der Heilige Krieg in christlicher Sicht“, in: Jörg Rüpke/ Heinrich von Stietencron (Hrsg.), Töten im Krieg, Freiburg u. a. 1995, S. 299. 19  Seit dem Konzil von Ankyra (314) wird es in dem Kontext versucht zwischen Mord und Totschlag zu unterscheiden. Vgl. Laury Sarti, „The military, the clergy and Christian faith in sixth-century Gaul“, in: Early Medieval Europe, Bd. 25, 2 (2017), S. 162–185, hier S. 179.



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traditions. For example, the imperial government modified the centuries-old oath of military service so that it would be understood as Christian.“20

Andererseits bedeutet die partielle Konzession einer Notwendigkeit des Tötens im Krieg meist noch keine generelle Freigabe. Der Kirchenvater Basilius von Caesarea (c.329–379) sprach sich für eine liturgische Lösung aus und empfahl beispielsweise denen, die im Krieg getötet hatten, eine Buße durch den Ausschluss von der Kommunion für die Dauer von drei Jahren aufzuerlegen.21 Eine Episode aus der byzantinischen Geschichte wird dabei besonders oft zitiert: Im Jahr 969 bat der byzantinische Kaiser Nikephoros II. Phokas (912–969) die Bischöfe, allen im Krieg gegen das muslimische Kalifat gefallenen Soldaten den Status als Märtyrer zuzuerkennen. Die byzantinische Kirche lehnte den kaiserlichen Anspruch ab und beharrte stattdessen auf der prinzipiellen Sündhaftigkeit des Tötens. Dies wird in der Forschung oft als ein möglicher Beweis dafür gesehen, dass es in der damaligen Gesellschaft von Byzanz keine „verbreitete [..] Wahrnehmung des Krieges als Zugang zum Paradies“ gab.22 Demnach sahen der damalige Patriarch Polyeuktos (956–970) und die Bischöfe der Ostkirche sich damals nicht im Stande, das Entstehen eines kriegerischen Märtyrertums zu fördern. In der Auffassung des Kirchenkonzils sei es nur Gott selbst vorbehalten, über das Heil zu entscheiden. Dass der Tod im Krieg dem Märtyrertum gleichkam, wollten die 20  David S. Bachrach, Religion and the Conduct of War c. 300–1215, Woodbridge 2003, S. 9. 21  „Unsere Väter unterschieden das Töten im Krieg vom Mord, […] dennoch wäre es vielleicht gut, wenn die, deren Hände unrein sind, sich drei Jahre der Kommunion enthielten.“ Vgl. Grotowski, Arms and Armour, S. 65; Nicholas Oikonomides, „The Concept of ‚Holy War‘ and Two Tenth-Century Byzantine Ivories“, in: Timothy S. Miller/John Nesbitt (Hrsg.), Peace and War in Byzantium, S. 62–86, hier S. 65; Paul Stephenson, Art.: „Byzantine Attitudes toward War“, in: Clifford J. Rogers (Hrsg.), The Oxford Encyclopedia of Medieval Warfare and Military Technology, Bd. 1, Oxford 2010, Sp. 270; Emil Bjørn Hilton Saggau, „Eastern Orthodox Perspectives on Violence“, in: Ernan Aslan/Marcia Hermansen (Hrsg.) Religion and Violence Muslim and Christian Theological and Pedagogical Reflections, Wiesbaden 2017, S. 73–91, hier S. 78. 22  Yannis Stouraitis, „ ‚Just War‘ and ‚Holy War‘ in the middle Ages. Rethinking Theory through the Byzantine Case-Study“, in: Jahrbuch der österreichischen Byzantinistik, Bd. 62 (2012), S. 245–246; ders. (Iannis Stouraitis), „Methodologische Überlegungen zur Frage des byzantinischen ‚heiligen‘ Krieges“, in: Byzantinoslavica – Revue internationale des Etudes Byzantines, Bd. 1–2 (2009), S. 269–290, hier 285– 286. Volker Menze, „ ‚Blessed Be Who Crushes the Children of Persia.‘ Byzantine Sacralization of War from the Seventh through Tenth Centuries“, in: Niels Gaul/Volker Menze/Csanád Bálint (Hrsg.), Center, Province and Periphery in the Age of Constantine VII Porphyrogennetos. From De Ceremoniis to De Administrando Imperio, Wiesbaden 2018, S. 153–167.

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Bischöfe der Ostkirche nicht bestimmen.23 Anderen Deutungen zufolge setzte allerdings die damalige Konzilsentscheidung nur ein endgültiges Ende an eine bis dahin durchaus übliche Praxis der Heiligung von Kriegshelden, die zu diesem Zeitpunkt schon seit dreihundert Jahren existiert hatte.24 Das dürfte dann aber auch bedeuten, dass schon damals, aber vor allem später im Laufe der zunehmenden Trennung zwischen dem christlichen Westen und Osten im 11. Jahrhundert, eine Lehre vom „gerechten Krieg“ in der Ostkirche kaum entwickelt oder weiter rezipiert wurde.25 Dabei ist die Geschichte der bellum iustum-Tradition vor allem im Westen lang. Diese „ist eine der wichtigsten moralischen Traditionen der Kultur im Westen, die aus religiösen und nicht-religiösen Quellen geformt wird.“26 Die Lehre vom „gerechten Krieg“ wird in wesentlichen Zügen gewöhnlich dem lateinischen Kirchenvater Augustinus (354–430) zugeschrieben, wenngleich Vorläufer dieses Konzepts wohl in der vorchristlichen Antike schon ansatzweise entwickelt waren.27 Augustinus hat eine differenzierte Lehre des bel23  Flaig, „ ‚Heiliger Krieg‘ “, S. 295. In der Deutung von Wolfram Drews wurde das „neutestamentliche Ideal der Gewaltlosigkeit […] unter den geänderten Bedingungen der Reichskirche zumindest partiell aufrechterhalten.“ Wolfram Drews, „Heilige Männer im Kampf. Formen religiösen ‚Heldentums‘ im christlichen und islamischen Mittelalter“, in: Andreas Hammer/Stefanie Seidl (Hrsg.), Helden und Heilige. Kulturelle und literarische Integrationsfiguren des europäischen Mittelalters (Germanisch-Romanische Monatsschrift Beiheft, 42), Heidelberg 2010, S. 47–67, hier 47. 24  Paul Stephenson, „Religious Services for Byzantine Soldiers and the Possibility of Martyrdom, c. 400– c. 1000“, in: Sohail H. Hashmi (Hrsg.), Just Wars, Holy Wars, and Jihads: Christian, Jewish, and Muslim Encounters and Exchanges, Oxford 2012, S. 38. 25  Thomas Bremer, „Das Jahrhundert der Kriege. Die Russische Orthodoxie, der Krieg und der Friede“, in: Manfred Sapper/Volker Weichsel (Hrsg.), Totentanz. Der Erste Weltkrieg im Osten Europas (= Osteuropa, Bd. 2–4 [2014]). S. 279–290, hier S. 281. Das bedeutet aber nicht, dass die Vorstellungen von einer frommen Armee, die die Bevölkerung gegen die Angriffe von Barbaren und Heiden zu schützen vermag, dem christlichen Osten dauerhaft fremd war. Vgl. Grotowski, Arms and Armour, S. 73. 26  James T. Johnson, „Historical roots and Sources of the Just War“, in: ders./John Kelsay (Hrsg.), Just War and Jihad: Historical and Theoretical Perspectives on War and Peace in Western and Islamic Traditions, Wesport 1991, S. 3; ders., „The Idea of Defense in Historical and Contemporary Thinking about Just War“, The Journal of Religious Ethics, Bd. 36, 4 (2008), S. 543–556; Georg Kreis (Hrsg.), Der „gerechte Krieg“. Zur Geschichte einer aktuellen Denkfigur, Basel 2006; Oliver Hidalgo, „Der ‚gerechte‘ Krieg als Deus ex machina – ein agnostizistisches Plädoyer“, in: Werkner/ Liedhegener (Hrsg.), Gerechter Krieg, S. 83–108. 27  Paulus Engelhardt, „Die Lehre vom ‚gerechten Krieg‘ in der vorreformatorischen und katholischen Tradition. Herkunft – Wandlungen – Krise“, in: Reiner Steinweg (Hrsg.), Der gerechte Krieg. Christentum, Islam, Marxismus. Frankfurt 1980, S. 72–124; Andrea Keller, „Die politischen Voraussetzungen der Entstehung der bellum iustum-Tradition bei Cicero und Augustinus“, in: Ines-Jacqueline Werkner/Anto-



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lum iustum dargelegt, die die westliche Theologie und auch das Völkerrecht bis heute prägen. Die wesentlichen Kriterien des gerechten Krieges, die Augustinus anführt, sind: Christen dürfen einen Krieg führen, wenn sie einen gerechten Grund anführen können, gleichzeitig eine Intention erkennen lassen, einen Frieden zu erreichen, und ein Mandat von einer anerkannten politischen Autorität haben. Augustinus sah hierin zu seiner Zeit vor allem eine Grundlage für die spätere Rechtfertigung von Gewaltanwendung gegen „Häretiker“ und „Gotteslästerer“, womit er Abspaltungen von der Kirche zu seiner Zeit im Auge hatte.28 Eine spätere Präzisierung der Kriterien für einen „gerechten Krieg“ (ausgehend von den genannten: causa iusta, intentio recta und legitima auctoritas) kam von Thomas von Aquin (1225–1274). Die thomistische Lehre vom gerechten Krieg liefert eine Interventionsethik für Christen und christlich legitimierte Herrscher in solchen Fällen, in denen heidnische Fürsten „etwa die Christenheit angreifen, oder wenn sie Christen innerhalb ihres Herrschaftsbereiches nicht den gebührlichen Rechtsschutz gewähren.“29 Einschlägige Thesen wurden in der Spätscholastik entwickelt und schließlich, nach 1500, von den spanischen Kanonisten und dem niederländischen Völkerrechtspionier Hugo Grotius (1583–1645) verfeinert.30 Wichtig ist bei all dem, dass diese Systematisierung stets nicht nur zur Legitimierung des Krieges und der Kriegsführung, sondern vor allem zur Begrenzung von Kriegen diente.31 Über die Trennung und die Verflechtungen der Begriffe „gerechter“ und „heiliger“ Krieg gibt es weiterhin Diskussionen. Auch hinsichtlich der Bedeutung des Begriffes „heiliger Krieg“ existiert – mit Blick auf den Osten wie den Westen – keine einheitliche wissenschaftliche Meinung, geschweige denn eine konsensfähige Definition.32 Heinz Schilling sieht im „heiligen nius Liedhegener (Hrsg.), Gerechter Krieg  – gerechter Frieden: Religionen und friedensethische Legitimationen in aktuellen militärischen Konflikten, Wiesbaden 2009, S. 23–41; Adriano Cavanna, Art.: „Bellum iustum“, in: Gernot Giertz (Hrsg.), Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, Stuttgart-Weimar 1999, Sp. 1850–1851. 28  Graf, Götter global, S. 210; Holzem, „Theological War Theories“, S. 26. Vgl. auch Phillip Wynn, Augustine on War and Military Service, Minneapolis 2013. 29  Gerhard Beestermöller, „ ‚Rettet den Armen und befreit den Dürftigen aus der Hand des Sünders‘ (Ps 82, 4). Thomas von Aquin und die humanitäre Intervention“, in: Werkner/Liedhegener (Hrsg.), Gerechter Krieg, S. 43. 30  James Turner Johnson, The Holy War Idea in Western and Islamic Traditions, Pennsylvania 1997; Ines-Jacqueline Werkner/Antonius Liedhegener, „Von der Lehre von gerechten Krieg zum Konzept des gerechten Friedens? Einleitung“, in: ders. (Hrsg.), Gerechter Krieg, S. 9–22. 31  Bremer, „Das Jahrhundert der Kriege“, S. 280; Graf, Götter global, S. 211. 32  Athina Kolia-Dermitzaki, „ ‚Holy war‘ in Byzantium twenty years later: a question of term definition and interpretation“, in: Johannes Koder/Ioannes Stouraitis (Hrsg.), Byzantine war ideology between Roman imperial concept and Christian reli-

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Krieg“ allein einen „Überbegriff für ein in der europäischen und Christenheitsgeschichte generell, jedenfalls in den Jahrhunderten bis zur Aufklärung, anzutreffendes Phänomen, das aber in einzelnen Epochen unterschiedliche Gestalt nahm und sich zu besonderen Typen verdichtete“.33 Die frühneuzeitlichen konfessionellen Religionskriege sind ein Teil dieser Geschichte. James Turner Johnson bietet eine eher allgemeine Fassung des Begriffes „heiliger Krieg:“ ein solcher Krieg wird auf göttlichen Befehl, und von göttlich legitimierten und inspirierten Autoritäten geführt.34 Andreas Holzem definiert den „heiligen“ oder „Religionskrieg“ als Ausfluss „eines religiös bestimmten gerechten Kriegsgrundes.“ Es ist ein Krieg, an dem die Teilnahme „dem Kämpfer geistlichen Lohn erwirbt, weil er seine Anstrengungen nicht weltlichen Gewinns wegen, sondern für Christus, die Kirche und den Glauben erbringt.“35 Die mittelalterlichen Kreuzzüge erscheinen in der Historiografie oft als die ersten „heiligen Kriege.“36 Entsprechend bringt es z. B. Arnold Angenendt auf den Punkt: „Gerade die kirchenoffiziellen Aufrufe begründeten die Rückeroberung mit Motiven der sühnenden Reinigung, und das war ‚Heiliger Krieg‘.“37 Faktisch taucht die Formel vom „heiligen Krieg“ hier wohl erstmals auf. Andere weisen allerdings darauf hin, dass die Bezeichnung bellum sanctum/sacrum, anders als der „gerechte Krieg,“ nirgends

gion, Akten des Internationalen Symposiums (Wien 19.-21.  Mai 2011), Wien 2012, S. 132. 33  Heinz Schilling, „Konfessionelle Religionskriege in politisch-militärischen Konflikten der Frühen Neuzeit“, in: Schreiner/Müller-Luckner (Hrsg.), Heilige Kriege, S. 127. 34  Johnson, The Holy War Idea, S. 37–43. S. einen bibliographischen Überblick über Definitionen des „heiligen Krieges“ in: Axel Heinrich, Denkmuster zur Eindämmung und zur Legitimation von Gewalt im Christentum und im Islam, Bonn 2006, 25–29; Boris Gübele, Deus vult, Deus vult. Der christliche heilige Krieg im Frühund Hochmittelalter (Mittelalter-Forschungen, 54), Ostfildern 2018, S. 13–26. 35  Andreas Holzem, „Gott und Gewalt. Kriegslehren des Christentums und die Typologie des Religionskrieges“, in: Dietrich Beyrau/Dieter Langewiesche/Michael Hochgeschwender (Hrsg.), Formen des Krieges. Von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn 2007, S. 371–414, S. 375. 36  S. einen historiografischen Überblick in: Angenendt, Toleranz und Gewalt, S. 420–422. 37  Arnold Angenendt, „Die Kreuzzüge. Aufruf zum ‚gerechten‘ oder ‚‚heiligen‘ Krieg?“, in: Holzem (Hrsg.), Krieg und Christentum, S. 341–367, hier S. 361. S. auch Andreas Holzem, „Krieg. Theorien und Praxis im Christentum“, in: Thomas Flammer/Thomas Fusenig/Viktoria Weinebeck (Hrsg.), Frieden: Wie im Himmel, so auf Erden?, Münster 2018, S. 35–46, hier S. 40; Gerd Althoff, „Selig sind, die Verfolgung ausüben“. Päpste und Gewalt im Hochmittelalter, Stuttgart 2013; Bachrach, Religion and the Conduct of War, S. 148; S. weitere Diskussionen zum Thema in: Gübele, Deus vult, S. 319–370.



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systematisch ins mittelalterliche Kirchenrecht aufgenommen worden war38 und die Begrifflichkeit des „heiligen Krieges“ in systematisierender Form wohl überhaupt erstmals in der reformierten Kriegstheologie der Frühneuzeit auftauchte.39 Für Ioannis Stouraitis ist ein Krieg „heilig,“ der ideologisch auf einen finalen Triumph von einer Religion über andere Gläubige (oder Ungläubige) und Häretiker gerichtet ist. Elemente der Religion befinden sich in der Legitimation von praktisch jedem mittelalterlichen Krieg, wenngleich nicht alle mittelalterlichen Kriege grundsätzlich durch religiöse Beweggründe motiviert waren.40 Demgegenüber betont Friedrich Wilhelm Graf, dass „heiliger Krieg“ als ideologisches Konstrukt ein strikt modernes Phänomen ist: „Je moderner die Moderne, desto ‚heiliger‘ ihre Kriege.“41 Trotz aller Deutungsunterschiede ist klar, dass der Begriff „heiliger Krieg“ eine relativ späte Entwicklung ist, die vor allem eine religiöse Legitimation von Kriegsführung voraussetzt.42 In diesem Kontext ist ein „gerechter Krieg“ vielleicht – mit einem Unterton des Bedauerns – unvermeidbar und daher in bestimmtem Rahmen zu rechtfertigen, ein „heiliger Krieg“ allerdings ist eine Notwendigkeit und bedeutet eine erhabene Aufgabe. Wichtig ist, dass im westlichen Christentum die Begriffe „heiliger“ und „gerechter Krieg,“ obwohl schwer zu definieren, ein fester Bestandteil der Debatten über die Rolle und Legitimität von Gewaltanwendung sind. Im Grunde genommen geht es hierbei stets um den Versuch „kriegerische Unternehmungen mit dem Nimbus der Heiligkeit auszustatten“ und den Krieg zu sakralisieren.43

38  Ernst-Dieter Hehl, „Heiliger Krieg – eine Schimäre? Überlegungen zur Kanonistik und Politik des 12. und 13. Jahrhunderts“, in: Holzem (Hrsg.), Krieg und Christentum, S. 323–340. 39  Heinrich Richard Schmidt, „Religion und Krieg im Reformiertentum“, in: Holzem (Hrsg.), Krieg und Christentum, 415–438; Holzem, „Krieg. Theorien und Praxis im Christentum“, S. 42. 40  Stouraitis, „ ‚Just War‘ “, S.  233. 41  Graf sieht dabei eine Verbundenheit mit dem modernitätsspezifischen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Jürgen Habermas). Graf, „Sakralisierung von Kriegen“, S. 30. Carsten Colpe äußert eine ähnliche Auffassung zur Verbreitung von Ideologemen des „heiligen Krieges“ im Westeuropa des 19. und 20. Jhs.: Colpe, Der Heilige Krieg. 42  Stouraitis, „ ‚Just War‘ “, S.  228; Graf, Götter global, S. 213. 43  Schreiner, „Einführung“, S. VIII; Jacques G. Ruelland, Histoire de l’idée de guerre sainte, Paris 2016; Ian Hazlett, „War and Peace in Christianity“, in: Perry Schmidt-Leukel (Hrsg.), War and Peace in World Religions, London 2004, S. 99–147. Allerdings war diese Wandlung in der lateinischen Christenheit ein gradueller Prozess. Die Berufskrieger wurden noch im Hochmittelalter geächtet und aus der kirchlichen Bußordnung ausgegrenzt. Vgl. Drews, „Heilige Männer im Kampf“, S. 48.

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Nur wenige Untersuchungen versuchen eine Antwort auf die Frage zu finden warum, wie schon erwähnt, die Begrifflichkeit vom „gerechten“ und „heiligen“ Krieg offenbar wenig Resonanz im östlichen Christentum gefunden hat. Das bedeutet auch nicht, dass Versuche, den Krieg zu sakralisieren, den Ostkirchen im Laufe der Geschichte ganz fremd waren. Vor allem waren es aber die Kaiser und mächtigen Herrscher, die solche Versuche unternommen haben.44 Trotzdem blieb im Osten das Verhältnis zum Krieg, in Kontrast zur westeuropäischen Entwicklung, mindestens zwiespältig, und immer verbunden mit einer mehrheitlich kritischen Wahrnehmung des Krieges.45 Das gilt für die Geschichte des Byzantinischen Reiches und für die anderen orthodox geprägten Länder. Bis heute betonen die orthodoxen Theologen diese Besonderheit (im Unterschied zur westlichen Theologie): „just war theory is incompatible with both the spirit and substance of most Orthodox sources […]. The Eastern Church […] acknowledges the tragic necessity of defensive wars in some circumstances, but resists efforts to justify wars according to formal criteria […], and affirms the need for repentance among all who are complicit in physical violence.“46

Eine mögliche Erklärung für die Ablehnung einer Lehre vom „gerechten Krieg“ geht aus von der Feststellung, dass in der byzantinischen Gesellschaft die Ideen, „dass der wahre Christ ein friedliebendes Leben führen solle und dass der Krieg ein Werk des Teufels bzw. eine Sünde sei“ weit verbreitet und bestimmend waren. Auch die Idee des Kreuzzuges wird dabei in den meisten byzantinischen Zeugnissen mindestens mit Indifferenz betrachtet,47 und eine ideologische Betrachtung des Krieges als ein gottgewolltes Mittel hat im Osten zunächst wenig Verbreitung gefunden.48 Andere Erklärungen bemühen 44  Stephenson,

„Byzantine Attitudes“. „Religions“, Kolia-Dermitzaki, „ ‚Holy war‘ in Byzantium“, S. 121–132; Monica White, Military Saints in Byzantium and Rus, 900–1200, Cambridge 2013, S. 61–63. 46  Perry T. Hamalis, Art.: „War“, in: John Anthony McGuckin (Hrsg.), The Encyclopedia of Eastern Orthodox Christianity, in 2 Bdn., Bd. 2, Malden, MA 2011, Sp. 626–627, hier Sp. 627. 47  So die Beobachtung von Athina Kolia-Dermitzaki: „[…] we can sustain, in the first place, that the notion of the crusade did not urge the Byzantines to express an objection; their stance towards its conception was rather that of indifference.“ KoliaDermitzaki, „ ‚Holy war‘ in Byzantium“, S. 131. 48  Stouraitis, „Methodologische Überlegungen“, S. 287, 290; ders., Krieg und Frieden in der politischen und ideologischen Wahrnehmung in Byzanz (7.–11. Jahrhundert), Wien 2009, S. 260–376. Vgl. John Haldon, Warfare, State and Society in the Byzantine World, 565–1204, London 1999, S. 13–33. Das bedeutet freilich nicht, dass ideologische Begründungen des Krieges den Byzantinern ganz fremd waren. Eine Triumph- und Siegessymbolik spielte eine große Rolle in den imperialen Ritualen. Vgl. Gilbert Dagron, Empereur et prêtre. Étude sur le césaropapisme byzantin, Paris 1996. 45  Buc,



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Besonderheiten von apokalyptischen Erwartungen in den Ostkirchen49 oder die Wechselwirkungen zwischen der Macht des Kaisers und der des Patriarchen in der byzantinischen Tradition.50 Viele dieser Merkmale, und generell eine gespaltene Attitude zum gerechtfertigten oder gar sakralisierten Krieg, kann man durch die Geschichte der ostkirchlichen oikumene bis in die Gegenwart hinein beobachten.51 Diese Unterschiede und Details in der Wahrnehmung des Krieges in Byzanz und anderen orthodox geprägten Ländern im Vergleich zum lateinischen Westen sind wichtig für eine diversifizierte Untersuchung der militarisierten Heiligen und Märtyrer in verschiedenen christlichen Traditionszweigen. Die Sakralisierung des Soldatentums ist ein Teil des Prozesses der Ausstattung des Krieges mit heiligen Attributen. Umgekehrt ist wiederum die Militarisierung der Heiligen und Märtyrer ein Kernbestand in diesen Entwicklungen, die bis heute die christliche, aber auch säkulare Wahrnehmungen in Europa prägen. Zur Terminologie Im Fokus dieses Bandes stehen Geschichten der Kriegerheiligen. Es ist dennoch wiederum nicht ganz einfach eine einheitliche Definition des Begriffes „heilig“ zu finden. Offensichtlich hat der Heilige mit einer Grundbedeutung des Heiligen, so wie es etwa in Rudolf Ottos zeitweise vieldiskutiertem Buch Das Heilige formuliert ist – ein fascinans und ein tremendum.52 Im Christentum gehört das Attribut „heilig“ nicht nur Gott, sondern auch, gegebenenfalls in Ableitung, bestimmten Menschen, die das irdisch Mögliche überschreiten (in der religionsgeschichtlichen Forschung „Gottesmenschen“ genannt). Dabei weiß sich „der christliche Heilige als von Gott erwählt und von ihm allein begnadet und begabt“. Im Grunde genommen sind in dieser Perspektive freilich alle Getauften „Heilige“. 49  Paul Magdalino, „The End of Time in Byzantium“, in: Wolfram Brandes/Felicitas Schmieder (Hrsg.), Endzeiten. Eschatologie in den monotheistischen Weltreligionen, Berlin 2008, S. 119–133; Petre Guran, „From the Last Emperor to the Sleeping Emperor: The Evolution of a Myth“, in Nadia Al-Bagdadi/Matthias Riedl/David Marno (Hrsg.), The Apocalyptic Complex: Origins, Histories, Permanences, Budapest/New York 2018, S. 157–178. 50  Dagron, Empereur et prêtre. 51  Alexander F. C. Webster, „Justifiable War in Eastern Orthodox Christianity“, in: Paul Robinson (Hrsg.), Just War in Comparative Perspective, London 2017, S. 40–61; Paul Robinson, „The Justification of War in Russian History and Philosophy“, in: ders. (Hrsg.), Just War, S. 62–75. 52  Rudolf Otto, Das Heilige: Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. Neuausgabe. München 2014.

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Die ersten Christen mit besonderem Schicksal, die für „Jesu Botschaft den Tod erlitten haben,“53 waren allerdings die Märtyrer. Seit dem Martyrium des Polykarp von Smyrna († 156) meint der Sprachgebrauch des Martyriums „eine Lebenshingabe.“54 Märtyrer waren Bekenner, die Blutzeugen, die wegen ihres Glaubens gefoltert wurden. Aber nicht jeder Christ, der eines unnatürlichen Todes starb, war ein Märtyrer. Wichtig ist dabei die von außen gesetzte Verfolgungssituation und die Verbindung des Märtyrers mit Christus und der Kirche.55 Im späten 4. Jahrhundert, nachdem das Christentum zur Reichsreligion geworden war, gab es, laut Theodor Klauser, eine Erweiterung des Märtyrerkults zum Heiligenkult.56 Heilige gab es bald viele, und verschiedene. Die Typologie der Heiligen im Christentum umfasst allgemein auch Asketen und bestimmte kirchliche und säkulare Würdenträger, ferner Missionare, Priester, Thaumaturgen (Wundertäter), Musiker, Patrone und viele andere.57 Genau diese inhärente Vieldeutigkeit der Heiligentypologie und die schon damit verbundene Unschärfe des Begriffes „heilig“58 lassen mehrdeutig bleiben, was „den Heiligen“ am Ende ausmacht. Es gibt tatsächlich kein „reines Heiligkeitsmodell.“59 Schon gängige Enzyklopädien geben verschiedene Muster aus. Die Encyclopedia of Religion bezeichnet einen Heiligen als eine Person, die ein Leben von heroischen Tugenden geführt hat, und

53  Arnold Angenendt, „Der Heilige“, in: Markus Pohlmeyer-Jöckel (Hrsg.), Heilige: die lebendigen Bilder Gottes (Glauben und Leben, 6), Münster 2002, S. 9–10; ders., Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 21997. 54  Ebd., S. 35. Für die Begriffsgeschichte des Wortes „Märtyrer“ im Sinne eines „Opfers/Todes für“ in verschiedenen, auch nichtchristlichen, Kulturen, vgl. Sigrid Weigel, „Schauplätze, Figuren, Umformungen. Zu Kontinuitäten und Unterscheidungen von Märtyrerkulturen“, in: dies. (Hrsg.), Märtyrer-Porträts. Von Opfertod, Blutzeugen und heiligen Kriegern, München 2007, S. 11–40. 55  Hans Maier, „Politische Martyrer? Erweiterungen des Martyrerbegriffs in der Gegenwart“, in: Józef Niewiadomski/Roman A. Siebenrock (Hrsg.), Opfer  – Helden – Märtyrer. Das Martyrium als religionspolitologische Herausforderung, Innsbruck 2011, S. 16. 56  Theodor Klauser, Christlicher Märtyrerkult, heidnischer Heroenkult und spätjüdische Heiligenverehrung, Wiesbaden 1960, S. 30. 57  Hans J. Limburg, „Heilige/Typologie“, in: Kasper et  al. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 4, Sp. 1275; Angenendt, Heilige und Reliquien. 58  Michael Bergunder, „Heilige/Heiligenverehrung/Religionsgeschichtlich“, in: Hans Dieter Betz et al. (Hrsg.), Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 3, Tübingen 2000, S. 1539; Graf, Götter global, S. 205. 59  Peter Dinzelbacher, „Heiligkeit als historische Variable: zur Einleitung“, in: ders./Dieter R. Bauer (Hrsg.), Heiligenverehrung in Geschichte und Gegenwart, Ostfildern 1990, S. 10–18, hier S. 11.



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im Ergebnis ewig ihren Platz in Gottes Reich findet.60 Das katholische Lexikon für Theologie und Kirche charakterisiert allerdings als solche die Personen, „die sich durch besondere Nähe zum Numinosen auszeichnen oder den Maßstäben der jeweiligen Religion in weit überdurchschnittlichem Maß genügen.“61 In jedem Fall unterstreichen diese Definitionsvorschläge offenkundig die transzendenten und besonderen, ausnehmenden Attribute des Heiligen. Die in der ersten Definition enthaltene heroische, wenngleich immer noch mit religiös inspirierter Tugend verbundene Komponente wird aber in der zeitgenössischen Theologie kritisch betrachtet, als Überbewertung des Heroischen und eine damit verbundene Verengung des Begriffs der Heiligkeit.62 In unserem Fall erweist sich freilich ein Heroenkult, identifiziert als ein Erbe vorchristlicher Vorstellungen in der christlichen Heiligenverehrung,63 als wichtig für die Entstehung von militarisierten Heiligen. Tatsächlich haben die beiden Begriffe und dahinterstehenden Konzepte, Helden und Heilige, viele gemeinsame Eigenschaften. Vor allem sind es außerordentliche Kräfte, Charismata und Tugenden, die Helden und Heilige gleichermaßen auszeichnen. Andererseits gibt es Unterschiede, die auf eine spezifische christliche Entwicklung der Heiligenverehrung weisen. Christliche Heilige allgemein treten mit bestimmten Tugenden hervor, die bei antiken Helden fehlten, wie etwa Demut, oder Selbstlosigkeit und Verzicht auf Belohnung bei den Wunderheilern.64 Auch christliche Märtyrer und Helden weisen jeweils Züge auf, die manchmal sehr nahe beieinanderliegen. Es können im Märtyrerkult „je nach Kontext, eher die heroische Tat des Selbstopfers und die heldenhafte Standhaftigkeit im Tode oder – alternativ – das Erleiden von Gewalt und die Unschuld des Märtyrers betont werden“.65 60  Robert L. Cohn, Art.: „Sainthood“, in: Jones (Hrsg.), Encyclopedia of Religion, Bd. 12, Sp. 8033. 61  Karl Hoheisel, Art.: „Heilige“, in: Kasper et al. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 4, Sp. 1274. 62  Limburg, „Heilige/Typologie“, S. 1276. 63  George Hunsinger, „Heilige/Heiligenverehrung/Kirchengeschichtlich“, in: Betz et  al. (Hrsg.), Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 3, S. 1540. Vgl. auch den Beitrag von Alfons Brüning im vorliegenden Band. 64  Wolfgang Speyer, Die Verehrung des Heroen, des göttlichen Menschen und des christlichen Heiligen. Analogien und Kontinuitäten, in: Dinzelbacher/Bauer (Hrsg.), Heiligenverehrung, S. 48–66; Felix Heinzer/Jörn Leonhard/ Ralf von den Hoff, „Einleitung: Relationen zwischen Sakralisierungen und Heroisierungen“, in: ders. (Hrsg.), Sakralität und Heldentum, Würzburg 2017, S. 9–18. 65  Ronald G. Asch, „Märtyrer (Christentum, Frühneuzeit)“, in: ders. et al. (Hrsg.), Compendium heroicum, publiziert vom SFB 948 „Helden – Heroisierungen – Hero-

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Heiligkeit, Märtyrerstatus und Heldentum werden eigentlich nicht erworben, sondern immer im Rahmen nacherzählender Narrative zugeschrieben, was in verschiedenen Kontexten auf unterschiedliche Art geschieht. Solche Narrative wiederum sind zuerst bestimmten Kollektiven zu eigen. Wichtig ist zu betonen dass die Konstruktion von Helden, Märtyrern, oder das Entstehen von Heiligenkulten folglich insgesamt nicht im Rahmen von Definitionen, sondern im Kontext der Entwicklung von religiösen und politischen Gruppen­ identitäten untersucht werden sollte. Am deutlichsten hat diesen konstruktivistischen Zugang im Hinblick auf den Märtyrerkult Paul Middleton formuliert: „Martyrs are not defined; martyrs are made.“66 Im vorliegenden Band diskutieren die meisten Autoren die Verehrung von Heiligen in religiöser Hinsicht auch im Sinne des „Heilig-Machens“ durch zeitgenössische Zuschreibungen und zusammen mit den damit entstehenden Zuschreibungsund Deutungskonflikten.67 Am deutlichsten wird der konstruktivistische Zugang wohl im Beitrag von André Johannes Krischer vertreten. Vor dem Hintergrund einer einstweilen disparaten Historiografie verstehen wir unter einem Heiligen einstweilen allgemein einen „Typus des religiösen Ausnahmemenschen.“ Diese Person ist ein „mit außerordentlichen Kräften, Charismata und Tugenden ausgestatteter Mensch […] der auf Grund der Vorbildlichkeit seines Lebens, seiner Taten und z. T. seines Sterbens […] eine besondere Verehrung“ erfährt.68 Außerdem gibt es wichtige Merkmale der christlichen Heiligenverehrung, die wohl zunächst in der Fürbitte-Funktion, deren aufgrund ihrer Verdienste unterstellten Innigkeit mit Gott, und ferner dem daraus abgeleiteten Reliquienkult bestehen.69 Militarisierte Heilige, anderswo auch bezeichnet als Kriegerheilige, Schlachtenpatrone, Soldatenheilige, Militärheilige, Kriegsheilige (engl.: military saints, warrior saints, warrior martyrs, soldier saints), repräsentieren einen besonderen Typus des heiligen Patrons, der seinen Ursprung schon im Neuen Testament findet. Dort wird zunächst an vielen Stellen die Friedferismen“ der Universität Freiburg (3.  Mai 2018). https://www.compendium-heroicum. de/lemma/maertyrer-chr-fnz [zuletzt besucht 15.12.2019]. 66  Paul Middleton, Martyrdom: A Guide for the Perplexed, London 2011, S. 174. Vgl. ders., „What is martyrdom?“, in: Mortality, Bd. 19 (2014), S. 117–133. 67  Dietlind Hüchtker/Kerstin S. Jobst, „Heilig: Transkulturelle Verehrungskulte vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Einleitung“, in: dies. (Hrsg.), Heilig: Transkulturelle Verehrungskulte vom Mittelalter bis in die Gegenwart, Göttingen 2017, S. 7–18. 68  Andreas Hammer/Stephanie Seidl, „Einleitung“, in: dies. (Hrsg.), Helden und Heilige, S. X. 69  Peter Brown, The Cult of the Saints: Its Rise and Function in Latin Christianity (The Haskell Lectures on History of Religions), Chicago 1981, S.6; Angenendt, Heilige und Reliquien, S. 80–84, 149–166.



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tigkeit Jesu Christi betont, meist im ausdrücklichen Kontrast zum alttestamentlichen „Aug um Aug, Zahn und Zahn“. Doch kann man bei der Lektüre des Markus Evangeliums auch ganz andere Aspekte erkennen. Zuletzt machte Gabriella Gelardini in ihrer Studie zum Markusevangelium darauf aufmerksam, dass das Vokabular dieses Textes stärker militärisch konnotiert sei, als dies bislang betont wurde: Etwa ein Drittel des verwendeten Wortschatzes sei von militärischer Semantik geprägt. Das Markusevangelium müsse im Kontext der Historiographie des ersten jüdischen-römischen Krieges gelesen werden. Eine zentrale Rolle misst sie der Passion Jesu zu, die der Darstellung nach als sühnendes und von Kriegsschuld reinigendes Opfer zu deuten sei. Durch ein derartiges Opfer aber hätte Jesus die religiös zwingende Voraussetzung für eine gottgewollte und siegreiche, durchaus auch militärisch zu verstehende Rückkehr geschaffen.70 Allerdings kann man in diesem Kontext kaum direkt von einer nachahmenswerten Vorbildfunktion oder gar militärischen „Handlungsanweisung“ sprechen, eher von einer „Chiffre für Gottes Treue zu sich selbst, der durch Seinen Sohn Sein Recht aufrichten wird, gegen alle Verächter der Herrschaft Gottes und des erhöhten Christus.“71 Das Phänomen der Kriegerheiligen selbst ist seit den Zeiten des Kaisers Diokletian (284–305) bekannt, aus Beispielen von christlichen römischen Offizieren und Soldaten, die das vorgeschriebene Kultopfer verweigert hatten. Später kamen personifizierte Reiterkämpfer (vor allem aus Ägypten72) als Helden und Bezwinger der Dämonen zu diesen Märtyrern hinzu.73 Die Verehrung von echten Kriegerheiligen, spätestens seit der Karolingerzeit, kann im Kontext einer erst später erfolgten Verchristlichung des Krieges und der Militarisierung des Christlichen betrachtet werden. Wie aus dem Beitrag von Thomas Scharff hervorgeht, steht im Hintergrund ein Prozess, der es etwa zur Aufgabe des Herrschers macht, mittels des Krieges die christianitas zu schützen und zu erweitern, parallel zu einer zunehmenden Inanspruchnahme kirchlicher Institutionen für den Kriegsdienst.74 70  Gabriella Gelardini, Christus Militans: Studien zur politisch-militärischen Semantik im Markusevangelium vor dem Hintergrund des ersten jüdisch-römischen Krieges (Novum Testamentum, Supplements, 165), Leiden 2016. 71  Kretschmar, „Der Heilige Krieg“, S. 298. 72  Darüber ausführlicher im Beitrag von Eva Haustein-Bartsch in diesem Band. 73  Marcell Restle, Art.: „Kriegerheilige“, in: Gernot Giertz (Hrsg.), Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, Sp. 1528. 74  Thomas Scharff, „Karolingerzeitliche Vorstellungen vom Krieg vor dem Hintergrund der romanisch-germanischen Kultursynthese“, in: Dieter Hägermann/Wolfgang Haubrichs/Jörg Jarnut (Hrsg.), Akkulturation: Probleme einer germanisch-romanischen Kultursynthese in Spätantike und frühem Mittelalter, Berlin 2004, S. 473–490. hier S. 478–479; ders., Die Kämpfe der Herrscher und der Heiligen: Krieg und historische Erinnerung in der Karolingerzeit, Darmstadt 2002.

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In der aktuellen Mediävistik werden diese Zuschreibungsprozesse durch zusätzliche Merkmale wie das Fehlen einer Abgrenzung der militärisch Tätigen gegenüber der zivilen Bevölkerung, die weite Verbreitung von Waffen, und die insgesamt hohe gesamtgesellschaftliche Anerkennung kriegerischer Fähigkeiten, Tätigkeiten und Werte erklärt.75 Mit anderen Worten, die militarisierte Gesellschaft ist „[…] a society in which there is no clear distinction between soldier and civilian, nor between military officer and government official; where the head of state is also commander-in-chief of the army; where all adult free men have the right to carry weapons; where a certain group or class of people […] is expected, by reason of birth, to participate in the army; where the education of the young thus often involves a military element; where the symbolism of warfare and weaponry is prominent in official and private life, and the warlike and heroic virtues are glorified; and where warfare is a predominant government expenditure and/or a major source of economic profit.“76

Die Darstellung des Heiligen als miles Christi, als Soldaten im geistlichen und weltlichen Krieg,77 ist ein Teil dieser Zuschreibungsprozesse, die man mit einer „Aristokratisierung des Heiligenideals“ im Spätantike und Frühmittelalters verbunden hat.78 Für unseren Band, der epochenübergreifende Dynamiken darstellen will, ist es freilich wichtig, die allgemeine Vermischung oder Entdifferenzierung des Militärischen und Zivilen nicht nur, aber vor allem in Zeiten von Bedrohungen zu betonen, die wohl keine Eigenheit allein des westlichen Mittelalters ist. Hinsichtlich einer „Militarisierung des Heiligen“ geht es auch um eine Nutzung von Sprachformen, Bildern und auch Ritualen, in denen das Leben von Heiligen und Märtyrern in Parallele zum Kriegsdient erscheint.79

75  S. neuerdings: Radosław Kotecki/Jacek Maciejewski/John Ott (Hrsg.), Between Sword and Prayer: Warfare and Medieval Clergy in Cultural Perspective, Leiden 2017. 76  Edward James, „The Militarisation of Roman Society, 400–700“, in: Anne N. Jørgensen/Birthe L. Clausen (Hrsg.), Military Aspects of Scandinavian Society in a European Perspective AD 1–1300 (National Museum Studies in Archaeology and History, 2), Copenhagen 1997, S. 19–24, hier S. 19. 77  Christopher Holdsworth, „ ‚An airier aristocracy‘: the saints at war (The Prothero Lecture)“, in: Transactions of the Royal Historical Society: Sixth Series, Bd. 6, Cambridge 1996, S. 103–122; Gübele, Deus vult, S. 222–225. 78  Scharff, Die Kämpfe der Herrscher, S. 484; Laury Sarti, Perceiving War and the Military in Early Christian Gaul (ca. 400–700 A.D.), Leiden 2013, S. 330–356. Vgl. auch die Definition der „Militarisierung des Christentums“ als eine Parallelentwicklung zur Christianisierung des Krieges im Beitrag von Laury Sarti in diesem Band. 79  Scharff, „Karolingerzeitliche Vorstellungen“, S. 480.



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Bei der Herstellung solcher Parallelen und semantischer Beziehungen handelt es sich, wie gesagt, immer um Zuschreibungsprozesse, allerdings von jeweils im einzelnen unterschiedlicher Art. Außer „Militarisierung“ nutzen die Autoren des vorliegenden Bandes verschiedene andere Begriffe um diese Transfergeschichten zu beschreiben. Es geht um die „Politisierung des Sakralen“ (wie im Beitrag von André Johannes Krischer), um eine „Christianisierung des Krieges“ (im Text von Laury Sarti), um die „Sakralisierung von Politik oder Gewalt“ (etwa in den Beiträgen von Eva Haustein-Bartsch, Constantin Iordachi und Stefan Samerski) und/oder einer modernen Nation (angewendet bei Sarah Thieme, Constantin Iordachi und Stefan Rohdewald). Unter „Sakralisierung“ wiederum wird in der Religionswissenschaft allgemein verstanden, „dass sich die kollektive Verständigung über das Heilige vom religiösen in den nicht-religiösen Bereich ausweitet oder verlagert.“80 Insgesamt sind es Prozesse und Kulturtechniken der Grenzmarkierung und Grenzaushandlung des Sakralen, „in denen die Medien und Formen der Vermittlung, die Sprachen und Ausdrucksformen, aber auch die Unschärfe ihrer Bedeutungen und Definitionen relevant werden.“81 Kollektivbegriffe wie „die Christenheit“ oder, in der Neuzeit von besonderer Relevanz, „die Nation,“ haben oft eine Trägerfunktion. Mit der Sakralisierung der Nation etwa meinen wir, nach Martin Schulze Wessel, eine „Übertragung von Funktionen und Ausdrucksformen von der Religion auf die Nation, in deren Ergebnis eine Strukturanalogie zwischen der modernen Nation und der Religion entsteht.“ Diese Prozesse sind von einer reziproken Nationalisierung der Religion (wie sie in den Beiträgen von Stefan Rohdewald, André Johannes Krischer und Robert Green vorkommt und benannt wird), also von einem „Anpassungsprozess, in dessen Folge der religiöse Mensch auch das Wertesystem der Nation in sein Denken und Handeln aufnimmt,“ nicht zu trennen.82 Dass in der europäischen Moderne diese Prozesse 80  Magnus Schlette/Volkhard Krech, „Sakralisierung“, in: Detlef Pollack/Volkhard Krech/Olaf Müller/Markus Hero (Hrsg.), Handbuch Religionssoziologie, Wiesbaden 2018, S. 437–463, hier S. 437. 81  Heinzer/Leonhard/von den Hoff, „Einleitung“, S. 12–13; Klaus Herbers, „Sakralität. Einleitende Bemerkungen“, in: ders./Larissa Düchting (Hrsg.), Sakralität und Devianz. Konstruktionen – Normen – Praxis. Stuttgart 2013, S. 11–14; Insa Eschebach/Susanne Lanwerd, „Säkularisierung, Sakralisierung und Kulturkritik“, in: metis. Zeitschrift für historische Frauen- und Geschlechterforschung 9 (2000), S. 10–26, hier S. 23. 82  Martin Schulze Wessel, „Die Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation im östlichen Europa“, in: ders. (Hrsg.), Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation im östlichen Europa, Stuttgart 2006, S. 7–14, hier S. 7. Vgl. auch Hartmut Lehmann, „Die Säkularisierung der Religion und die Sakralisierung der Nation im 20. Jahrhundert. Varianten einer komplementären Relation“, in: HansChristian Maner/Martin Schulze Wessel (Hrsg.), Religion im Nationalstaat zwischen den Weltkriegen 1918–1939, Stuttgart 2002, S. 13–27; ders. (Hrsg.), Säkularisierung,

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ohne Heroisierungen nicht vorstellbar waren,83 zeigt im vorliegenden Band unter anderem der Beitrag von André Johannes Krischer. Die Geschichte der irischen säkularen Märtyrer kann aus der säkular-funktionalen Perspektive als ein Beispiel für die Sakralisierung als eine bestimmte Form der Heroisierung dienen. Noch komplexer treten die Relationen zwischen Sakralisierung, Nationalisierung, Säkularisierung und Heroisierung im Beitrag von Sarah Thieme über nationalsozialistischen Totenkult und Märtyrerfiguren vor. Entscheidend ist hier keine Ausweitung der religiösen Sphäre, sondern ihre Ersetzung, freilich unter Absorption vorher vorhandener Muster. Außer „Sakralisierung“ operiert Thieme hier folglich mit dem allgemeinen Begriff des „Sakraltransfers,“ den sie für die deutsche Geschichte der Mitte des 20. Jahrhunderts als „nachahmende oder synkretistische Rückgriffe auf das christliche Repertoire an Sprache und Formen des Sakralen, beispielsweise auf sakrale Figuren wie Märtyrer oder (militärische) Heilige“ definiert.84 Der Begriff „Sakraltransfer“ ist allgemein in jüngerer Zeit in Bezug auf moderne Gesellschaften, und im Zusammenhang mit der Säkularisierungsthese populär geworden.85 Es handelt sich vor allem um Debatten rund um die (inzwischen wieder) „umstrittene Säkularisierung,“86 und die in diesem Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 1997; ders./Peter van der Veer (Hrsg.), Nation and Religion. Perspectives on Europe and Asia, Princeton 1999; Heinz-Gerhardt Haupt/Dieter Langewiesche, „Einleitung“, in: dies. (Hrsg.), Nation und Religion in Europa. Mehrkonfessionelle Gesellschafen im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt 2004, S. 11–23. Michael Geyer betont in diesem Zusammenhang: „Jedenfalls hing die Heiligkeit der Nation unmittelbar mit der Bereitschaft zur Übernahme, ja Usurpation christlicher Vorstellungen von Tod und Unsterblichkeit ab, wie umgekehrt die Einforderung von Einzelleben durch die Nation im Kriegsdienst von der Verwurzelung christlicher Kontingenzbewältigungspraxis in der Gesellschaft zehrte.“ Michael Geyer, „Religion und Nation – eine unbewältigte Geschichte. Eine einführende Betrachtung“, in: ders./Hartmut Lehmann (Hrsg.), Religion und Nation/ Nation und Religion. Beiträge zu einer unbewältigten Geschichte (Bausteine zu einer europäischen Religionsgeschichte im Zeitalter der Säkularisierung, 3), Göttingen 2004, S. 11–34, hier S. 22. 83  Heinzer/Leonhard/von den Hoff, „Einleitung“, S. 11. 84  Vgl. auch Sarah Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult: Sakralisierte Politik und Christentum im westfälischen Ruhrgebiet (1929–1939), Frankfurt am Main 2017, S. 52. 85  Ein Beispiel liegt in der funktionalen Differenzierung von moderner Religion und Recht, vgl. hierzu: Horst Dreier/Christian Hillgruber, Säkularisierung und Sakralität: zum Selbstverständnis des modernen Verfassungsstaates, Tübingen 2013, insbes. S. 11. 86  Karl Gabriel/Christel Gärtner/Detlef Pollack (Hrsg.), Umstrittene Säkularisierung. Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, Berlin 2012.



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Kontext diagnostizierten Differenzierungs- und Entdifferenzierungsprozesse etwa zwischen Religion und Politik, Religion und Recht, Religion und Ökonomie, usw.87 Säkularisierung und Sakralisierung schließen sich nicht aus, vielmehr geht es oft um verschiedene Sakraltransfervorgänge. So beschreibt Friedrich Wilhelm Graf die Bedeutung des Sakraltransfers als Zuschreibungsprozess für moderne Gesellschaften: „Metaphysische Transfers vom Absoluten auf endliche Gebilde wie Nationen, Staaten und politische Einrichtungen aller Art geben diesen eine Aura des Gottgegebenen, Ewigen, immer schon Gültigen und lassen sie als gute Schöpfungsordnungen erscheinen. Solche Übertragungen erhöhen die emotionale Bindungskraft und stärken die Legitimationsgrundlagen politischer Ordnungen auch in einer vermeintlich säkularen Moderne.“88

Die Unterschiede und Nuancierungen in den Definitionen der Sakralisierung, Nationalisierung, Säkularisierung und des Sakraltransfers sind wichtig für die hier vorliegenden vergleichenden und interdisziplinären Studien der militarisierten Heiligen: Schließlich stehen am Anfang oft Darstellungen der christlichen Heiligen und Märtyrer als Träger und Stifter militärischer Stärke, aber auch als Vorbilder und Vermittler zur Transzendenz. Kriegerheilige der Vormoderne und Moderne: Forschungsstand und Problemstellungen Christliche Heilige als Helfer im Kampf gegen „das Böse,“ gegen Sünden und Bedrohungen sind ein untrennbarer Teil der streitenden Kirche (ecclesia militans). Ihre Wirkungsgeschichte entfaltet sich bis in die Gegenwart.89 Immerhin, was Darstellungen von Christus selbst betrifft, sind militärische Analogien eher selten. Eine Ausnahme befindet sich in der Capella di Sant’Andrea des erzbischöflichen Museums in Ravenna (5./6. Jh.). Ein dortiges Mosaik „zeigt eine Christusfigur, gekleidet in einer kurzen und mit einem Soldatengürtel (cingulum militare) fixierten Tunika und einem goldenen Brustpanzer darüber, Kothurne an den Füssen und umhüllt mit einem purpurnen Soldatenmantel, dem soge87  In der jüngeren Religionssoziologie werden dann Antworten gesucht auf die Frage, ob in den modernen Gesellschaften sich möglicherweise „mittels eines Doppelhorizonts strukturelle Säkularität und strukturelle Pluralität auszeichnen, […] der das Weiterbestehen religiöser Lebensformen und Sinnorientierung nicht grundsätzlich ausschließt.“ Vgl.: Gert Pickel/Christel Gärtner, „Einleitung“, in: dies. (Hrsg.), Schlüsselwerke der Religionssoziologie, Wiesbaden 2018, S. 1–8, hier S. 6. 88  Friedrich Wilhelm Graf, Art.: „Sakraltransfer“, in: Betz et  al. (Hrsg.), Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 5, Sp. 748–749, hier Sp. 749. 89  Ein modernes Beispiel findet sich in den Aktivitäten, der inneren und äußeren Struktur der Heilsarmee. Vgl. Erich Geldbach, Freikirchen: Erbe, Gestalt und Wirkung, Darmstadt 1989, S. 33.

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nannten Paludamentum, wie ihn üblicherweise Feldherren und/oder Herrscher trugen […]. Sein bartloses Haupt ist von einem Kreuznimbus umgeben, das Göttlichkeit ausdrückt. Und als solcher steht er nach Vorlage eines biblischen Motivs aus Ps 91,135 vor dem Hintergrund goldener Tesserae siegreich auf dem Kopf sowohl eines Löwen als auch eines Drachens, Symbole der Macht und des Bösen.“90

Dies ist die Darstellung eines Christus militans, ein Motiv, das sich zuerst in der patristischen Literatur entfaltete. Das Mosaik befand sich wohl nicht zufällig in unmittelbarer Nähe des wichtigsten Kriegshafens des spätantiken Italiens. Es sollte, wie Gelardini meint, den Sachverhalt verbildlichen, dass bereits in der Antike Religion zum Krieg gehörte und dass „dabei in Anwendung religiöser ‚Kriegshermeneutik‘ Niederlagen in Siege umgedeutet werden konnten und auch wurden.“91 Dass dieser ikonographische Typus eine Ausnahme geblieben ist, deutet darauf hin, dass das Bild Christi nur schwer, und selten direkt mit Waffen und Militärdienst zu assoziieren war, trotz der verschiedentlich festzustellenden Militarisierungsphasen in der Geschichte des Christentums. Schon in frühen Zeiten spiegelte eine solche Militarisierung sowohl die politische Alltagssituation als auch die Stimmung in der Bevölkerung wider. Das römische Reich befand sich ab dem 3. Jh. in einer zunehmenden Krise: Auch Maßnahmen wie eine Dezentralisierung der Macht und eine Verstärkung der Außengrenzen führten zu keiner dauerhaften Sicherung friedlichen Zusammenlebens. Die konstantinische Wende brachte auch in Sachen Militarisierung der Heiligen neue Entwicklungen in der christlichen Geschichte mit sich. Seit dem berühmten Sieg Konstantins des Großen gegen seinen Rivalen Maxentius in der Schlacht bei der Milvischen Brücke (312) spielen militärische Insignien eine wichtige Rolle. Laut Eusebius’ (260/264–339/340) Konstantinsvita, war das Ereignis begleitet von der Erscheinung eines Lichtkreuzes am Nachmittagshimmel mit der siegverheißenden Inschrift In hoc signo vinces („in diesem Zeichen sollst du siegen“). Es ist „die nächtliche Traumvision, in der Christus die Anweisung gibt, das Kreuz als Feldzeichen zu benutzen, und schließlich die Anfertigung einer entsprechenden als Labarum bekannten Standarte.“92 Heilige und Märtyrer können seitdem als legitimationsstiftende Macht mobilisiert werden. Ein Phänomen wird spätestens ab dem 6. Jahrhundert identifizierbar: Die (inzwischen überwiegend christliche) Bevölkerung suchte 90  Gelardini,

Christus Militans, S. X. S. XI. 92  Nikolaus Staubach, „In hoc signo vinces. Wundererklärung und Wunderkritik im vormodernen Wissensdiskurs“, in: Frühmittelalterliche Studien, Bd. 43 (2009), S. 1–52, hier S. 12. 91  Ebd.,



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Abb. 1: Enkolpion mit Hl. Georg, Byzanz (?), 10.–12. Jh., Ikonen-Museum Recklinghausen (Inv. Nr. 2379). Foto: Jürgen Spiler.

zu ihrem Schutz in krisenhaften Zeiten nach göttlichem Beistand und fand diesen in Heiligen, die nach und nach zu Stadtpatronen oder Landespatronen mutierten. Die Effizienz dieser Patrone wurde gesteigert, wenn sie mit Waffengewalt assoziiert und ausgestattet wurden. Statt an den fernen Kaiser wandte man sich an einen lokalen Schutzheiligen, wie etwa dem hl. Demetrios in Thessaloniki.93 Im Laufe der Zeit sind die Soldatenheilige die beliebtesten und am häufigsten abgebildeten Heiligen in Byzanz geworden.94 Die populärsten waren Theodoros Tiron, Demetrios von Thessaloniki, Prokopios, Merkourios und Georg95 (Abb. 1). Beliebt waren auch Paare oder größere Einheiten (z. B. die 40 Märtyrer von Sebasteia).96 93  Michael Grünbart, „Vom christlichen Soldaten zum Kriegerheiligen: Die Militarisierung der Märtyrer von der Spätantike bis in die byzantinische Zeit“, in: Haustein-Bartsch (Hrsg.), Von Drachenkämpfern, S. 13–22, hier S. 15–16. 94  Anna Chatzinikolaou, Art.: „Heilige“, in: Klaus Wessel (Hrsg.). Reallexikon zur byzantinischen Kunst, Bd. 2, Stuttgart 1971, Sp. 1034–1093, hier Sp. 1050. 95  Hippolyte Delehaye, Les légendes grecques des saints militaires, Paris 1909. 96  Restle, „Kriegerheilige“, Sp. 1528.

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Abb. 2: Hl. Georg, Nordrussland, Novgorod, Anfang 16. Jh., Ikonen-Museum Recklinghausen (Inv. Nr. 436). Foto: Jürgen Spiler.

Kriegerheilige könnten in der Menge von anderen Heiligen und Märtyrern dank ihrem militärischen Gewand und ihren Insignien und Waffen auf den ikonografischen Darstellungen unterschieden werden (Abb. 2). Schon in den 1970-er Jahren hat Anna Chatzinikolaou die verschiedenen Typen von Soldatenheiligen in der byzantinischen Ikonografie untersucht. In der mittelbyzantinischen Zeit, so stellte sie fest, „verlieren die Heiligen ihren hierarchischen Charakter und ihre Unbeweglichkeit“, sie „werden zu tapferen Feldherren in der Pose des Angriffs, bereit zu kämpfen“.97 Um diese Zeit, so notiert auch Monica White, versuchte die byzantinische Militärelite, neue heilige Patrone etwa für den Kampf gegen die Araber zu finden und entsprechende Kulte in der Hauptstadt des Imperiums zu etablieren.98 97  Chatzinikolaou,

Art.: „Heilige“, Sp. 1055. White, Art.: „Military Saints“, in: John Anthony McGuckin (Hrsg.), The Encyclopedia of Eastern Orthodox Christianity, Bd. 2, Malden, MA 2011, Sp. 386. 98  Monika



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Neuerdings hat Piotr Ł. Grotowski detailliert die Entwicklungen in der byzantinischen Ikonografie der militarisierten Heiligen des 9.–13. Jahrhunderts analysiert. Er fand heraus, dass die Ikonographen regelmäßig Designs und Waffen der zeitgenössischen Armee imitierten. Auch nach der Eroberung von Konstantinopel im Jahr 1204 durch die Kreuzfahrer und Venezianer während des Vierten Kreuzzugs ist diese Tendenz weitergeführt worden. Es kam zu Vermischungen: Zwar hatten einerseits die Kreuzritter schon nach dem ersten Kreuzzug den Kult der Kriegerheiligen wie Georg, Demetrios, Mauritius und Merkourios aus der ostkirchlichlichen Tradition übernommen und für eigene Zwecke benutzt.99 So beschreibt es auch Helen J. Nicholson: „The warriors of the West adopted these cults with enthusiasm, for they seemed to endorse their own brand of religiously justified war.“100 Die byzantinischen Ikonographen benutzten andererseits, laut Grotowski, in ihren Bildern Elemente der lateinischen ritterlichen Kultur für die Darstellungen von byzantinischen Kriegerheiligen.101 Zugleich verweisen aber die Darstellungen von Kriegerheiligen in Byzanz (mit Lanze und Schwert) auf das antike Schema von Kaisern und Gottheiten in Militäruniform.102 Die Verbindung zwischen Kaisermacht und der Entstehung von Kriegerheiligenkulten in der mittelbyzantinischen Zeit ist gut erforscht. Es waren die byzantinischen Kaiser selbst, die den Kult der Kriegerheiligen unterstützten, auch um ihre eigene militärische Macht zu legitimieren.103 Sie traten dann gern als Stifter von Kirchen und Wallfahrtsorten für Kriegerheilige hervor; Militärheilige erschienen auf kaiserlichen Münzen und Siegeln.104 Anstelle des Konzepts des „gerechten“ Krieges, das im Westen seit Augustinus rezipiert wurde, das aber die Ostkirche nirgends ausarbeitete, trat im Osten seit der mittelbyzantinischen Zeit die Figur des heiligen Kriegers hiervor. 99  Die Ausbreitung des aus der Ostkirche kommenden Kultes des hl. Georg lässt sich im Westen bereits im 5. und 6. Jahrhundert nachweisen. Vgl. Peter Pfister, „Die Verehrung des hl. Georg im Westen. Ein Überblick“, in: Sylvia Hahn/ Peter Bernhard Steiner (Hrsg.), Sanct Georg: der Ritter mit dem Drachen (anlässlich der Ausstellung „Sanct Georg – Der Ritter mit dem Drachen“ im Diözesanmuseum Freising, 20. Mai bis 21. Oktober 2001), Lindenberg 2001, S. 64–66, hier S. 64. 100  Helen J. Nicholson, Medieval Warfare: Theory and Practice of War in Europe, 300–1500, Basingstoke 2004, S. 26 f. 101  Grotowski, Arms and Armour, S. 402. 102  Ebd., S. 403. 103  Vgl. u. a.: Christopher Walter, The Warrior Saints in Byzantine Art and Tradition. Aldershot 2003, S. 280; Peter Schreiner, „Aspekte der politischen Heiligenverehrung in Byzanz“, in: Jürgen Petersohn (Hrsg.), Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter, Sigmaringen 1994, S. 366–383; Robert S. Nelson, „Heavenly Allies at the Chora“, in: Gesta, Bd. 43, 1 (2004), S. 31–40. 104  Lutz Rickelt, „Kriegerheilige auf byzantinischen Kleinobjekten (Münzen, Siegel, Pilgerampullen)“, in: Haustein-Bartsch (Hrsg.), Von Drachenkämpfern, S. 23–32.

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Parallel dazu entstanden in anderen Regionen Europas, die keine Tradition frühchristlicher Märtyrer kannten, Typen von Glaubenszeugen, die im Kampf gegen die Heiden fallen (wie angelsächsische Könige oder skandinavische Herrscher).105 Wichtig ist hier der Blick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Vergleich mit Prozessen in orthodox geprägten Ländern. Zunächst die Gemeinsamkeiten. Die Kriegerheiligen, im lateinischen Westen genauso wie in Byzanz, sollten im apokalyptischen Kampfe gegen das Böse helfen, seien es abstrakt die Sünde, allgemein das Unheil, gegen konkret gedachte Dämonen, oder noch konkreter real angreifende Barbaren, Heiden und Ungläubige. Der hl. Georg war ein Paradebeispiel der himmlischen Helfer in allen Nöten in diesem Leben und im Jenseits.106 Auch dem Erzengel Michael, obwohl natürlich kein Heiliger sensu stricto, wird eine besondere Rolle in der Erlösungsgeschichte zugeschrieben. Michael ist laut Apokalypse 12:7–9 ein Beschützer derer, die das Himmlische Jerusalem erben wollen. Er führt, so will es diese Vorstellung, die anderen Engel in den Krieg gegen das Böse, letzteres verkörpert als Drachen.107 In der Ikonografie des Jüngsten Gerichts, in der östlichen und westlichen Tradition, spielte der Erzengel Michael schon früh eine besondere Rolle. Oft dargestellt mit der Lanze, im Militärgewand oder mit der Seelenwaage, ist er „a champion of man against the Devil“.108 Vor allem im 10.–11. Jahrhundert erfuhr der Michaelskult eine weitere Verbreitung, was sich wahrscheinlich mit verbreiteten apokalyptischen Erwartungen erklären lässt.109

105  Vgl. auch die ausführliche Bibliografie zum Thema „Militarisierung frühmittelalterlicher Gesellschaften Erscheinungsformen, Regulierung und Wahrnehmung im westeuropäischen Vergleich“: https://www.geschkult.fu-berlin.de/e/fmi/institut/arbeits bereiche/ab_esders/Thyssen-Projekt/Ausfuehrliche_Bibliographie_Fritz_Thyssen_ Militarisierung.pdf [zuletzt besucht 15.12.2019]. 106  Vgl. Sigrid Metken, ,,Den Drachen besiegen. Engel und Heilige im Kampf gegen das Böse“, in: Hahn/Steiner (Hrsg.), Sanct Georg: der Ritter mit dem Drachen, Lindenberg 2001, S. 38–42. Peter Pfister betont dass vor allem die Zeiten der Kriege, Notzeiten und die Pest dem hl. Georg eine große Verehrung eingebracht haben. Pfister, „Die Verehrung des hl. Georg“, S. 66; s. auch Michael Collins, St George and the Dragons: The Making of English Identity, The Bourne, Stroud, Glos. 2018. 107  David Keck, Angels and Angelology in the Middle Ages, Oxford 1998, S. 38. 108  Samuel George Frederick Brandon, The Judgment of the Dead. A Historical and Comparative Study of the Idea of a Post-Mortem Judgment in the Major Religions, London 1967, S. 124; Alfons Rosenberg, Engel und Dämonen: Gestaltwandel eines Urbildes, München 1967, S. 101–107. Vgl. auch Liliya Berezhnaya/John-Paul Himka, The World to Come: Ukrainian Images of the Last Judgment (Harvard Series in Ukrainian Studies), Cambridge, Mass. 2015. 109  Daniel F. Callahan, „The Cult of St. Michael the Archangel and the ‚Terrors of the Year 1000‘ “, in: Richard A. Landes/Andrew Gow/David C. van Meter (Hrsg.),



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Der Streiter gegen das Böse aber hatte auch seine Rolle im Alltag. Für Schutz und Rettung aus bedrängten Situationen dienten überall in Europa und anderswo Pilgerstätten von Militärheiligen (wie etwa das Menasheiligtum in Ägypten, das Demetriosheiligtum in Thessaloniki, oder die Stätten des hl. Michael beim Mont-Saint-Michel in der Normandie und beim Monte Gargano in Süditalien).110 Im Einzelfall ebenso bedeutsam sind allerdings auch die Unterschiede bei den Entwicklungen der Kriegerheiligen-Kulte im östlichen und westlichen Christentum. Zeitgenössische Mediävisten betonen, dass die Kulte von martyred warrior kings im lateinischen Westen einen Wandel in der Wahrnehmung von Helden als Heiligen hervorgebracht haben. So heißt es bei John Edward Damon, „by depicting death in battle as a form of martyrdom, early English writers took a crucial step toward the sanctification of war […]. The pull between these contrasting forms of sanctity, the one pacifistic and anti-heroic and the other war-like and heroic, can be seen in the multitude of Old English and Anglo-Latin literary works featuring soldier saints and holy warriors.“111

Nach den ersten Kreuzzügen wurden diese Kriegerheiligen zu „ritterlichen Fürbittern“ (knightly intercessors) in der Kriegssituation stilisiert. Der Klerus schrieb den „Alliierten im Himmel“112 zwei Rollen zu: sie waren fromme Gestalten ebenso wie potente Beschützer und Vermittler.113 František Graus hat bereits in den 1970er Jahren diese Prozesse in der westlichen mittelalterThe apocalyptic year 1000: Religious expectation and social change, 950–1050, Oxford 2003, S. 181–204. 110  Franz Alto Bauer, Eine Stadt und ihr Patron: Thessaloniki und der Heilige Demetrios, Regensburg 2013; Cordula Scholz, „Demetrios von Thessalonike. Ein byzantinischer Heiliger im Wandel der Zeiten“, in: Dieter R. Bauer/Klaus Herbers/ Gabriela Signori (Hrsg.), Patriotische Heilige. Beiträge zur Konstruktion religiöser und politischer Identitäten in der Vormoderne, Stuttgart 2007, S. 53–66; Keck, Angels and Angelology. Vor allem in Byzanz wurden verschiedene Abwehramulette mit Darstellungen von reitenden Heiligen und, demgegenüber, dem Bösen in der Form einer Schlange oder eines Drachens als Schutz für schwangere Frauen oder Kranke benutzt. Vgl. Grünbart, „Vom christlichen Soldaten“, S. 14; Walter, The Warrior Saints, S. 33–38. 111  John Edward Damon, Soldier saints and holy warriors. Warfare and sanctity in the literature of early England, Aldershot/Burlington 2003, S. 22; Holdsworth, „ ‚An airier aristocracy‘ “. 112  Gottfried Korff, Alliierte im Himmel. Populäre Religiosität und Kriegserfahrung, Tübingen 2006. 113  James B. MacGregor, „Negotiating Knightly Piety: The Cult of the WarriorSaints in the West, ca. 1070-ca. 1200“, in: Church History, Bd. 73, 2 (2004), S. 317– 345, hier 320; ders., „The Ministry of Gerold d’Avranches: Warrior-Saints and Knightly Piety on the Eve of the First Crusade“, in: Journal of Medieval Studies, Bd. 29 (2003), S. 219–237; Robin Cormack/Stavros Mihalarias, „A Crusader Painting

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lichen Chronistik beschrieben. Es gab demnach zwei Arten des Eingreifens des Heiligen: „Er tritt als Beschützer des gläubigen Volkes (bzw. einer Stadt, Kirche oder eines Klosters) auf,“ und er wird als Garant und Verleiher des Sieges in der Schlacht dargestellt.114 Im vorliegenden Band beobachtet Laury Sarti eine ähnliche Entwicklung am Beispiel der merowingischen Heiligen. Auch Thomas Scharff zeigt in seinem Beitrag ein Spektrum von möglicher Schlachtenhilfe durch die Heiligen im Frankenreich des 9. Jahrhunderts, das faktisch von Passivität und Flucht bis zum Eingreifen ins Kampfgeschehen reichte. Laut Graus gibt es in den mittelalterlichen Chroniken seit dem 10. Jh. immer mehr Beschreibungen des persönlichen Mitkämpfens des Heiligen im Schlacht. „Als Garanten des Sieges erscheinen zuweilen sein Schwert, seine Lanze, seine Fahne und insbesondere seine Reliquien.“115 Die Reliquien der Heiligen, auch der Militärheiligen, wurden in Kriegssituationen als besondere Schutzmittel angewandt. Sie wurden unter dem Helm getragen, in Waffen eingelassen oder in die Kleidung eingenäht.116 Bilder von Heiligen, oder auch Ikonen, wurden in den Kampf als Schilde mitgeführt; sie schmückten die Fahnen der kriegführenden Parteien. Reliquien, wie der Mantel des hl. Martin, das Schwert des hl. Adrian, oder das Maphorion (der Schutzmantel) der Theotokos (der Gottesgebärerin, wie Maria in der byzantinischen Tradition heißt) wurden mit in die Schlacht genommen, um als übernatürliche Schutzwaffe zu dienen.117 In unserem Band beschreibt u. a. Thomas Scharff am Bespiel der Geschichte vom Mantel des hl. Martin, wie solche siegbringende Reliquien im Kampf mitgeführt wurden. Außerdem

of St George: ‚maniera greca‘ or ‚lingua franca‘?“, in: Burlington Magazine, Bd. 126, 972 (1984), S. 132–139, 141. 114  František Graus, „Der Heilige als Schlachtenhelfer – zur Nationalisierung einer Wundererzählung in der mittelalterlichen Chronistik“, in: Kurt-Ulrich Jäschke/ Reinhard Wenskus (Hrsg.), Festschrift für Helmut Beumann zum 65.  Geburtstag, Sigmaringen 1977, S. 330–348, hier 334. 115  Ebd., S. 336–337. 116  Peter Dinzelbacher, „Die Realpräsenz der Heiligen in ihren Reliquiaren und Gräbern nach mittelalterlichen Quellen“, in: ders./Dieter R. Bauer (Hrsg.), Heiligenverehrung in Geschichte und Gegenwart, Ostfildern 1990, S. 115–176, hier S. 122. 117  Klaus Schreiner, Märtyrer, Schlachtenhelfer, Friedenstifter. Krieg und Frieden im Spiegel mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Heiligenverehrung, Wiesbaden 2000, S. 61. Allgemein betrachtet, waren Waffen mit verschiedenen christlichen Tugenden assoziiert, als Form einer spezifischen imitatio Christi im spirituellen Kampf gegen die Mächte des Bösen. Vgl. Andreas Wang, Der „Miles Christianus“ im 16. und 17. Jahrhundert und seine mittelalterliche Tradition: Ein Beitrag zum Verhältnis von sprachlicher und graphischer Bildlichkeit, Hamburg 1975, S. 102.



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wurden Segensformeln über Schild und Schwert gesprochen als sanctificatio armorum („Heiligung der Waffen“).118 Eine besondere Rolle in den Ritualen rund um die Schlachtvorbereitung spielte das Symbol der heiligen Lanze (sacra lancea). Diese Lanze, eine der Reliquien der Passion Jesu, die der Legende nach im Auftrag von Kaiserin Helena († 330) auf dem Berg Golgatha in Jerusalem ausgegraben worden war, wird oft als eine besondere „geistliche Waffe“ dargestellt. Für die byzantinischen Kaiser, die nach der persischen Eroberung Jerusalems (614) die hl. Lanze in ihrem Palast aufbewahrten, war dieses Heiligtum ein Garant göttlichen Schutzes.119 Gleichzeitig wird die Lanze von manchen christlichen Monarchen oder Kriegsanführern in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Chroniken gelegentlich nicht nur als sacra lancea, sondern auch victo­ ferum signum („siegbringendes Zeichen“) bezeichnet.120 Die Lanze, so Boris Gübele, „zählte […] zu den wichtigsten Symbolen der Herrschaft und diente zeitweise regelrecht zur Investitur des Königs“, aber auch als Hilfe in der Schlacht, die „Krieg mit Religion [verband]“.121 Die Sakralisierung der Waffen war ein Teil der Militarisierung der Gesellschaft insgesamt und der ­Heiligen im Besonderen, als vorbildliche „Soldaten Christi“. Mit Hilfe der Waffen ist der Held „nun in der Lage, für die gerechte Sache auch mit Hilfe des Himmels zu töten.“122 Für das Hochmittelalter hat Klaus Schreiner anschaulich am Beispiel von Martin von Tours und des Apostels Jakobus den allmählichen Prozess der Militarisierung eines Heiligen gezeigt. Martin wandelte sich in der Darstellung des Chronisten im beginnenden 12. Jahrhundert zum Kriegsheiligen: In der Bedrohungssituation wird der Heilige nun aggressiver als in den früheren Darstellungen; er greift „selber zum Schwert und begibt sich unter die Kämpfenden, um die Feinde des ihm geweihten Klosters in die Flucht zu

118  Klaus Schreiner, „Siegbringende Marienbilder. Formen und Funktionen bildhafter Kommunikation in militärischen Konflikten des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit“, in: Peter Strohschneider (Hrsg.), Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit: DFG-Symposion 2006, Berlin 2009, S. 844–903, hier S. 846. 119  Wang, Der „Miles Christianus“, S. 100 f.; Über die Geschichte der Heiligen Lanze, s. ausführlich, Mechthild Schulze-Dörrlamm, „Heilige Nägel und heilige Lanzen“, in: Falko Daim/Jörg Drauschke (Hrsg.), Byzanz  – Das Römerreich im Mittel­ alter, Mainz 2010, S. 97–171. 120  Vgl. Schreiner, Märtyrer, S. 57, Anm. 9. 121  Gübele, Deus vult, S. 207, 218. 122  Gerd Althoff, „Nunc fiant Christi milites, qui dudum extiterunt raptores. Zur Entstehung von Rittertum und Ritterethos“, in: Saeculum 32 (1981), S. 317–333, hier S. 328.

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schlagen“.123 Das Bild des Apostels Jakobus nahm seinerseits im Spanien des 9. Jahrhunderts die Züge eines ritterlichen Kriegsheiligen an. Unter der Feder der Chronisten wird dem gewaltlosen Apostel der kämpferische „Geist ritterlicher Religiosität“ zugeschrieben, den „der hl. Jakobus als miles Christi, als miles invictissimi imperatoris leibhaft bewiesen habe“.124 Es entstand ein neues Heiligenideal, das des miles Christi.125 In beiden von Schreiner beschriebenen Fällen handelt es sich um eine Hervorhebung von ritterlichen Verdiensten der Heiligen, von besonderen und hilfreichen Tugenden, die die heiligen Schutzpatrone besitzen und zeigen. Es hat eine Wandlung gegenüber der christlichen Frühzeit stattgefunden: „[…] aus dem Märtyrer im Sinne eines Glaubenszeugen war der Glaubenskämpfer geworden.“126 Grundsätzlich beschreiben diese Texte eine Transformation von christlichen Heiligen mit Tugenden christlicher Hingabe zu Ritterpatronen, die heldenhafte Eigenschaften besitzen. Solche Transformationen haben offenbar mit Überblendungen von Heiligen und Helden in der mittelalterlichen Hagiographie zu tun. Wie bereits erwähnt, handelt es sich im Ergebnis um eine Vermischung von zwei scheinbar nicht kompatiblen Lebensentwürfen in ihren extremen narrativen Ausprägungen: einerseits der Heldenepik der laikalen ritterlichen Adelskultur und andererseits der Eremitenlegende der gewaltlosen christlichen Kirche. Entsprechend formulieren Andreas Hammer und Stephanie Seidl: „Austauschprozesse zeigen sich unter anderem in der Hinwendung der laikalen Adelsgesellschaft zum christlichen Tugendkanon und dessen rituellen Ausformungen, ebenso wie in der Akzeptanz kriegerischer Gewaltausübung durch den Klerus im Rahmen der Kreuzzüge oder der Ritterorden, in denen eine monastische Lebensform mit ritterlichen Wertvorstellungen gekoppelt ist.“127

Der heilige Krieger als Schlachtenhelfer-Typus ist das Ergebnis einer solchen Vermischung und kombinierten Zuschreibung. Im vorliegenden Band schildert Stefan Samerski am Beispiel der Heiligen des Deutschen Or123  Schreiner, Märtyrer, S. 70; ders., „Vom Soldaten des Kaisers zum Soldaten Christi, vom Soldaten Christi zum Schutz- und Kriegsheiligen: Rollenwechsel des heiligen Martin von Tours“, in Hammer/Seidl (Hrsg.), Helden und Heilige, S. 25–46. Vgl. auch den Beitrag von Thomas Scharff in unserem Band. 124  Schreiner, Märtyrer, S. 73. 125  Althoff, „Nunc fiant Christi milites“, S. 327. 126  Michael Fiedrowicz, „Allgemeine Einleitung“, in: ders. (Hrsg.), Ecclesia militans. Die streitende Kirche. Zeugnisse aus der Frühzeit des Christentums, FohrenLinden 2017, S. 7-82, hier S. 35. 127  Hammer/Seidl, „Einleitung“, S. XI. Vgl. auch Nicole Priesching, „Der Erste Kreuzzug als Pilgerfahrt: eine Militarisierung der Wallfahrt oder eine Sakralisierung der Ritterschaft? Ein Beitrag zur Spiritualität der Kreuzfahrer“, in: Annali di studi religiosi, Bd. 11 (2010), S. 147–166, insbes. S. 164.



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dens die Geschichten von derartigen Ritterheiligen. Sie waren Teil der kämpfenden Kirche, der ecclesia militans, die später, vor allem in den Zeiten der religiösen Spaltungen der Frühneuzeit, eine umfassendere Geltung in schriftlichen und ikonographischen Darstellungen bekommen hat.128 Diese neue Konfrontationssituation brachte auch eine neue Welle der Militarisierung der Heiligen hervor. Peter Burschel formuliert dies zugespitzt so: „Gewiss, die Konfessionalisierung und Militarisierung des nachtridentinischen Himmels erfasste auch Heilige, die vergleichsweise friedlich gestorben waren, jedenfalls ohne erkennbare Fremdwirkung, und riss sie mit.“129

Burschel erwähnt an erster Stelle die Gottesmutter selbst, die vor allem in den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Darstellungen als Schlachtenhelferin und Stadtpatronin inszeniert wird. Sie wird dann, in der politischen Religiosität des 16. und 17. Jahrhunderts, als „Vorkämpferin gegen das Böse, als ‚Siegerin in allen Schlachten Gottes‘ und als Patronin der christlichen Heere gegen Häretiker und Türken“130 dargestellt. Nach den Siegen der Flotte der „Heiligen Liga“ bei Lepanto (1571) und später den Schlachten am Weißen Berg (1620) und Wien (1683) erscheint die Muttergottes in der Ikonographie regelmäßig als die mächtigste Waffe in der Abwehrfront gegen die Türken. Überall in den frühneuzeitlichen katholisch regierten Ländern, auch in Polen, Böhmen und Mähren, wurde Maria als Landespatronin und Garantin der katholischen Reform und für den Sieg über die Andersgläubigen gesehen.131 Als besondere Schutzheilige erhält sie patriotische Züge.132 Bestimmte 128  Fiedrowicz, „Allgemeine Einleitung“, S. 39; Medard Kehl, Art.: „Ecclesia militans, patiens, triumphans“, in: Kasper et  al. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 3 Sp. 437 f. 129  Peter Burschel, Sterben und Unsterblichkeit. Zur Kultur des Martyriums in der frühen Neuzeit, München 2004, S. 222 ff. 130  Schreiner, Märtyrer, S. 105; ders., „Kriege im Namen Gottes, Jesu und Mariä. Heilige Abwehrkampfe gegen die Türken im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit“, in: Schreiner/Müller-Luckner (Hrsg.), Heilige Kriege, S. 151–192; ders., „Schutzherrin und Schirmfrau Maria. Marienverehrung als Quelle politischer Identitätsbildung in Städten und Ländern des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit“, in: Bauer/Herbers/Signori (Hrsg.), Patriotische Heilige, S. 253–307. Auch in Byzanz wird die Gottesmutter als Schutzpatronin und Fürbitterin wahrgenommen. Vgl. Leena Mari Peltomaa/Andreas Külzer/Pauline Allen (Hrsg.), Presbeia Theotokou: The intercessory role of Mary across times and places in Byzantium (4th-9th century), Wien 2015. 131  Agnieszka Gąsior (Hrsg.), Maria in der Krise. Kultpraxis zwischen Konfession und Politik in Ostmitteleuropa, Köln 2014. 132  Klaus Schreiner betrachtet solche Darstellungen im Kontext der Kulte der „patriotischen Heiligen.“ Schreiner, „Schutzherrin und Schirmfrau Maria“, S. 253–261. Für einen historiographischen Überblick über den umstrittenen Begriff „patriotische

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Bilder der Gottesmutter werden zu Landessymbolen; so wird etwa die Gottesmutter von Częstochowa zur „Königin von Polen“, die Gottesmutter von Mariazell zur Magna Mater Austriae (Generalissima) verklärt.133 Im vorliegenden Band schildert Stefan Samerski in seinem Beitrag, wie die Immaculata Conceptio als dogmatisches Kernelement der Marienfrömmigkeit in den konfessionellen Auseinandersetzungen des 16.–17. Jahrhunderts in den habsburgischen Gebieten zu einem Kampfbegriff geworden ist. Wie auch hinsichtlich der Begriffe „gerechter“ und „heiliger“ Krieg waren diese Prozesse denen in der Ostkirche nur teilweise vergleichbar. Wie schon gesagt, die Militarisierung von Heiligen hat auch dort stattgefunden.134 Genauso wie im lateinischen Christentum wurden viele frühere Märtyrer (wie Menas, Theodoros Tiron, Demetrios von Thessaloniki oder Georg) in Byzanz als Reiter mit militärischem Gepränge dargestellt.135 Auch die Bilder der ecclesia militans, obwohl selten, sind in den orthodox geprägten Regionen bekannt.136 Ähnlich wie in den katholisch dominierten Gegenden war ein Eingreifen der Gottesmutter ins Kriegsgeschehen ein weit verbreitetes Motiv in Byzanz und in anderen orthodox geprägten Ländern.137 Den TheotokosIkonen wurden siegesstiftende, aber auch friedensbringende Kräfte zugeHeilige“ s., Gabriela Signori, „Patriotische Heilige? Begriffe, Probleme und Traditionen,“ in: Bauer/Herbers/dies. (Hrsg.), Patriotische Heilige, S. 11–32. 133  Antoni Jackowski/Jan Pach/Jan Stanisław Rudziński, Jasna Góra, Breslau 2001, S. 32; Stefan Samerski, „Hausheilige statt Staatspatrone. Der misslungene Absolutismus in Österreichs Heiligenhimmel“, in: Petr Mat’a/Thomas Winkelbauer (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1620 bis 1740. Leistungen und Grenzen des Absolutismusparadigmas, Stuttgart 2006, S. 251–278, hier S. 231–277. 134  Grünbart, „Vom christlichen Soldaten“, S. 13–22; Walter, The Warrior Saints; Grotowski, Arms and Armour; White, Military Saints. 135  Vgl. den Beitrag von Eva Haustein-Bartsch in unserem Band. 136  Ein einzigartiges Bespiel ist die Ikone Ecclesia Militans („Blagoslovenno Voinstvo Nebesnogo Carja“) aus der Tretjakov-Galerie in Moskau. Die Ikone wird oft in Verbindung mit dem Siegeszug des moskowitischen Zaren Ivans IV. , des „Schrecklichen,“ nach der Eroberung Kazans 1552 gebracht. Sie enthält Darstellungen des Zaren selbst, aber auch von mehreren Militärheiligen, wie (vermutlich) Aleksandr Nevskij, Dimitrij Donskoj, Georg und Demetrios von Thessaloniki. S.: Igor’ Kočetkov, „K istolkovaniju ikony ‚Cerkov Voinstvujučšaja‘ (‚Blagoslovenno Voinstvo Nebesnogo Carja‘)“, in: Trudy Otdela drevnerusskoj literatury, Bd. XXXVIII (1985), S. 185–209, hier S. 185; Frank Kämpfer, „Russland an der Schwelle zur Neuzeit. Kunst, Ideologie und historisches Bewusstsein unter Ivan Groznyj“, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Neue Folge, Bd. 23, 4 (1975), S. 504–552, hier S. 518 f. Frithjof Benjamin Schenk hat Zweifel ob es sich hier tatsächlich um hl. Aleksandr Nevskij handelt: Frithjof Benjamin Schenk, Aleksandr Nevskij. Heiliger-Fürst-Nationalheld. Eine Erinnerungsfigur im russischen kulturellen Gedächtnis (1263–2000), Köln 2004, 103 f. 137  Yannis Stouraitis (Hrsg.), A Companion to the Byzantine Culture of War, ca. 300–1204, Leiden 2018; Paul Meinrad Strässle, Krieg und Kriegsführung in Byzanz:



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schrieben.138 Auch ein direktes Eingreifen in das Kampfgeschehen durch einen Heiligen kam in der Hagiographie und Historiographie im Osten genauso wie im Westen vor.139 Das Erscheinen des Heiligen gehörte zur Erzählung mancher Schlacht. Im Ganzen allerdings ist das Phänomen der Ritterheiligen mit den spezifischen Attributen in der Ostkirche weniger bekannt (teilweise eine Ausnahme sind die Kriegerheiligen zu Pferde140). Ein anderer wichtiger Unterschied zum lateinischen Christentum ist die Rolle der Kirche selbst in der Militarisierung von Heiligen im Hochmittel­ alter. Monica White betont in diesem Zusammenhang, dass in Byzanz die ursprüngliche Entwicklung des Kriegerheiligen-Korpus eher ein Hof-Phänomen, weniger eine Initiative der Kirche war, und demnach, „obwohl es keine Evidenzen von der Opposition der Kirche zur Militarisierung von Märtyrern gibt, die Quellen, die am meisten auf die Veränderungen von Kulten wirkten, aus imperialen Kreisen kamen […]. Diese Innovationen wurden allerdings in kirchliche Texten und Rituale inkorporiert.“141 Hier ist folglich zu beobachten, wie die Spannung zwischen christlichem Gewaltverzicht des Heiligen und dessen militanter Schutzfunktion weiterhin in der Ostkirche erhalten blieb. Wolfram Drews hat neuerdings eine mögliche Erklärung für diesen Unterschied zwischen Militärheiligen in Ost- und Westkirche vorgeschlagen. In Byzanz (und später in den anderen orthodox geprägten Ländern) blieb der Kaiser (oder ein Landesherr, Monarch) zuständig für den Schutz des Reiches und der Kirche: „Somit erstand auch kein verchristlichtes Rittertum, und es gab keine Ansätze zur Entwicklung einer innerweltlichen Askese […] die gesellschaftliche Ordnung bedurfte keines besonderen, aktiven religiösen Virtuosentums in Form kriegerischer ‚Helden‘.“142

Egon Flaig dagegen betrachtet die Entscheidung der Papstkirche nach 1095, zum kriegerischen Märtyrertum aufzurufen, als eine Ausnahme in der die Kriege Kaiser Basileios’ II. gegen die Bulgaren (976–1019), Köln-Weimar 2006, S. 84. 138  Dies gilt etwa für die Geschichte der Ikone der Gottesmutter von Wladimir (Ende des 11. –  Anfang des 12. Jhs.), heutzutage ein Nationalheiligtum Russlands. Vgl. David B. Miller, „Legends of the Icon of Our Lady of Vladimir: A Study of the Development of Muscovite National Consciousness“, in: Speculum, Bd. 43, 4 (1968), S. 657–670. 139  Paul Stephenson, „The imperial theology of victory“, in: Stouraitis (Hrsg.), A Companion, S. 23–58; Schreiner, Märtyrer, S. 66. Vgl. auch den Beitrag von Thomas Scharff in unserem Band. 140  Chatzinikolaou, Art.: „Heilige“, Sp. 1057–1058. 141  White, Military Saints, S. 203. 142  Drews, „Heilige Männer im Kampf“, S. 60.

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christlichen Welt und stellt die Frage, „warum gelang dies der Papstkirche, warum nicht der byzantinischen, der bulgarischen oder russischen Orthodoxie, oder den monophysitischen Armeniern, den Nestorianern, den äthiopischen Kopten?“ Für ihn liegen die Gründe für solche Entscheidungen in der Rolle des Papstes als Oberhaupt einer monarchisch organisierten Kirche, die über das Heil bestimmt.143 Flaigs Erklärung scheint womöglich zu kurz zu greifen, wenn man die Geschichte der Militärheiligen in der russischen orthodoxen Tradition dazu betrachtet. Kriegerheilige kamen aus Byzanz in die mittelalterliche Rus’; dort wurden sie aber mit Vorsicht rezipiert und in einen neuen Kontext gesetzt. Die ersten bekannten russischen Heiligen waren die hl. Brüder Boris und Gleb, ikonografisch bewusst – als Hinweis auf deren Gewaltverzicht – mit den Schwertern nach unten dargestellt, von denen auch im eingangs genannten Ausspruch des damaligen Premierminister Vladimir Putin die Rede ist. Für Putin als moderner russischer Politiker waren Gewaltlosigkeit und demütige Akzeptanz des Todes, wie bei den fürstlichen Brüdern, kein geeignetes Vorbild für die heutige Gesellschaft und das Militär in Russland. Für die mittelalterlichen Chronisten, die den Kult von Boris und Gleb beförderten, waren allerdings genau diese Fähigkeiten ein entscheidendes Kriterium für die Heiligsprechung. Im 11.–12. Jahrhundert, als der Kult von Boris und Gleb entstand, haben die Chronisten vor allem die Nachahmung des gewaltlosen Christus, Freiwilligkeit der Erniedrigung und Ablehnung der Gewalt bei den beiden sogenannten „Leidensduldern“ (strastoterpcy) gelobt.144 Im 20. Jh. hat George Fedotov, einer der bekanntesten russischen Kirchenhistoriker im Exil, in seinen klassischen Studien zum „russischen religiösen Geist“ genau diese Eigenschaften als ein spezifisch russisches Heiligenmodell gepriesen. Für ihn sind Boris und Gleb die markantesten Repräsentanten des „kenotischen Typus des russischen Heiligseins:“ „Der Akt des Widerstandsverzichts (nonresistance) ist eine nationale russische Eigenschaft, eine authentische religiöse Entdeckung der neu-konvertierten russischen Christen.“145

Das griechische Wort kenosis bedeutet auch in diesem Kontext eine „Selbstentleerung,“ „Selbstentäußerung“ und „Selbsterniedrigung“ als eine Form der Nachahmung Christi. Demut und Bescheidenheit sind prägende 143  Flaig,

„ ‚Heiliger Krieg‘ “, S. 298. Lenhoff, The Martyred Princes Boris and Gleb: A Socio-Cultural Study of the Cult and the Texts. Columbus 1989; White, Military Saints; Andrej Rančin, „­Knjaz-strastoterpec v slavjanskoj agiografii“, in: Inessa I. Svirida (Hrsg.), Čelovek v kontekste kultury. Slavjanskij mir, Moskau 1995, S. 39–52. 145  George Fedotov, The Russian Religious Mind, in 2 Bdn., Bd. 1, Cambridge, Mass. 1946, S. 104. 144  Gail



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Verhaltensmuster der „kenotischen Heiligen“, die keine Märtyrer für die Glaubenssache im strengen Sinn, sondern „Leidensdulder“ waren.146 Fedotovs Behauptung von der Besonderheit im Typus des russischen Heiligen und seiner Verneinung der Gewalt wurde von anderen Historikern freilich öfter kritisiert. So sehen manche Beobachter Parallelen zum kenotischen Modell von Boris und Gleb unter anderem in der Vita des hl. Wenzel (Václav, † 929/935) von Böhmen, aber auch bei angelsächsischen, skandinavischen und byzantinischen Kriegerheiligen.147 Unser Band enthält mehrere Beiträge zu dieser Diskussion. Im Artikel von Nataliia Sinkevych wird anschaulich gemacht, wie die fürstlichen Leidensdulder Boris und Gleb als militarisierte Heilige (in der Nachahmung einer zunächst nordrussischen Tradition) in den Kiewer liturgischen Texten des 17. Jahrhunderts präsentiert werden. Die Diskrepanz zwischen der Gewaltlosigkeit der Brüder und der ihnen später zugeschriebenen Rolle als bewaffnete Beschützer der fürstlichen Dynastie und Armee ist offensichtlich, war aber scheinbar kein Problem für die damaligen ruthenischen (frühneuzeitlichen ukrainischen und weißrussischen) Hagiographen. Diese Ambivalenz in der Verehrung von militarisierten orthodoxen Heiligen beobachtet auch Alfons Brüning in seinem Beitrag im Hinblick auf den Kult des Fürsten Alexander Nevskij (1220–1263) (Abb. 3). Brüning betont, dass Nevskij einerseits seinen Ruhm als Sieger im Kampf gegen Schweden und den deutschen Ritterorden erworben hat. Allerdings war das ein weltlicher Ruhm. Die Heiligsprechung geschah aufgrund von Nevskijs Verzicht auf den Krieg in einem anderen Kontext, in Anerkennung seiner „gerechten Herrschaft“ und seiner persönlichen Frömmigkeit und tugendhaften Lebensweise. In der Tat wurde der Nevskij-Kult im Laufe der russischen und sowjetischen Geschichte mehrmals militarisiert und demilitarisiert, je nach Wunsch und Perspektive der Machthaber, Kirchenhäupter, Intellektuellen, Medien und auch zahlreicher Gläubiger.148 Der Kult des hl. Alexander Nevs146  Dirk Uffelmann, Der erniedrigte Christus. Metaphern und Metonymien in der russischen Kultur und Literatur, Köln u. a. 2010, S. 10–12. 147  Vgl. White, Military Saints, S. 132–166; Norman Ingham, „The Martyred Prince and the Question of Slavic Cultural Continuity in the Early Middle Ages“, in: Henrik Birnbaum/Michael Flier (Hrsg.), Medieval Russian Culture, Berkeley 1984, S. 31–53; Boris Uspenskij, Boris i Gleb. Vosprijatie istorii v Drevnej Rusi, Moskau 2000. 148  Vgl. Mari Isoaho, The Image of Aleksandr Nevskiy in medieval Russia: warrior and saint, Leiden 2006; Schenk, Aleksandr Nevskij; Mariëlle Wijermars, Memory Politics in Contemporary Russia: Television, Cinema and the State, London 2018, S. 84–121; Liliya Berezhnaya, „ ‚God is in truth, not in power!‘ Re-militarization of St. Alexander Nevsky’s cult in contemporary Russian cultural memory“, in: Yuliya Yurchuk/Zuzanna Bogumił (Hrsg.), Memory and Religion in Postsecular Perspective, London (in Begutachtung).

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Abb. 3: Hl. Alexander Nevskij, Südrussland, Trubčevsk, Ende 18. Jh., Ikonen-Museum Recklinghausen (Inv. Nr.721). Foto: Jürgen Spiler.

kij war und ist bis heute ein „kulturelles Palimpsest“, ähnlich wie es Robert Green im vorliegenden Band in Bezug auf die Verehrung des hl. Germogen formuliert hat. Diese Beispiele zeigen deutlich, dass in den orthodoxen Traditionen im Ganzen eine zwiespältige Wahrnehmung von Heiligen und Gewalt beibehalten ist. Dies bestätigt auch die neuere Studie von Dirk Uffelmann über kenotische Metaphern und Metonymien in der modernen russischen Kultur und Literatur. Uffelmann argumentiert, dass „[…] dogmatische Reimporte des 19. Jhs. in Russland […] nicht mehr als einen Baustein bilden in einer wellenförmigen russischen Geschichte von Aufforderungen zur Christusnachahmung, die wesentlich jenseits des dogmatischen Diskurses stattfand.“149

Motive der Nachahmung des gewaltlosen Christus bilden, jenseits von theologischen Debatten, Kontinuitäten, die wichtig sind für konfessionsübergreifende Studien der militarisierten Heiligen. Die ambivalente Haltung des Christentums zur Gewalt ist eine Konstante, die auch in Nationalisierungsprozessen zu spüren ist. Mit dem Fortschreiten 149  Uffelmann,

Der erniedrigte Christus, S. 10, Anm. 39.



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der Moderne wird nämlich deutlich, dass Militärheilige überall in Europa neue Rollen bekommen. Im Rahmen der nationalen Bewegungen sind zusätzliche Sakralisierungs- und Profanierungsstrategien im Konstruktionsprozess des Heroischen erstanden. Allgemein sind folgende neue Entwicklungen zu beobachten: 1.  Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation (oder der Imperien) brachten Religion, Nation und Gewalt auf einer neuen Ebene zusammen. Für die neue Forschung stehen die konstitutiven Funktionen von Gewalt, Krieg und damit verbundene Feindbilder im Rahmen des nation bilding in Europa fest. Es herrscht ferner Konsens darüber, dass die Durchsetzung nationaler Ziele und damit einhergehende Massenmobilisierung nur durch eine Instrumentalisierung der Religion150 und eine „Säkularisierung“ von Objekten ursprünglich religiöser Sinnstiftung möglich war.151 Es werden allerdings zudem neue patriotische Vorbilder gebraucht und daher weltliche Gelehrte und Helden der Nationen zu nationalen Märtyrern und Heiligen stilisiert. Seit den Zeiten der französischen Revolution hat sich eine starke Tendenz zur Sakralisierung der neuen Ordnung im Zuge des Totengedächtnisses entwickelt: „Indem ihr Leben und Wirken der Nachwelt zur ewigen Verehrung angetragen wurden, transzendierten die ‚großen Männer‘ die weltliche Sphäre und verschafften dem Nouveau Régime Legitimität und Außeralltäglichkeit.“152

Eine neue Form der militärischen und sakral aufgeladenen Heldenverehrung, der revolutionäre und/oder nationale Märtyrerkult, wurde geboren. Dabei ist das Problem, wie Rudolf Schlögl geurteilt hat, „nicht, dass die Revolution die Symbolarchive des Christentum plünderte, sondern dass mit der Umgestaltung der kirchlichen Institutionen auch die eigene Ritualität dem Wandel der Gesellschaft angepasst werden musste.“153

150  Vgl. Gerd Krumeich/Hartmut Lehmann (Hrsg.), „Gott mit uns“. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Göttingen, 2000; Dieter Langewiesche, „Nation, Imperium und Kriegserfahrungen“, in: Anton Schindling/Georg Schild (Hrsg.), Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit. Neue Horizonte der Forschung (Krieg in der Geschichte, 55), Paderborn u. a. 2009, 213–230, hier S. 215–216. 151  Thomas Wünsch, „Einleitung: Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa“, in: ders./Joachim Bahlcke/Stefan Rohdewald (Hrsg.), Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Konstitution und Konkurrenz im nationen- und epochenübergreifenden Zugriff, Berlin 2013, S. XV–XXXII, hier S. XXVIII. 152  Christina Schröer, „Helden im Dienst der Revolution. Symbolpolitische Strategien zur Sakralisierung des Nouveau Régime (1789–1799)“, in: Heinzer/Leonhard/ von den Hoff (Hrsg.), Sakralität und Heldentum, S. 187–213, hier S. 194. 153  Rudolf Schlögl, Alter Glaube und moderne Welt. Europäisches Christentum im Umbruch 1750–1850, Frankfurt am Main 2013, S. 124 f.

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2. Den Veränderungen hat im weiteren eine sakralisierende Sprache gedient, die in der Presse, im Theater, in den Druckgraphiken, in der Literatur oder in der Geschichtsschreibung ihre Anwendung fand. Im vorliegenden Band schildet Constantin Iordachi, wie einschlägige Vorgänge im Blick auf den rumänischen nationalen Messianismus in der Geschichtsschreibung abliefen. André Johannes Krischer beschreibt Vergleichbares hinsichtlich des irischen säkularen nationalen Märtyrerpantheons. Am deutlichsten sind aber die Sakralisierungen der neuen Ordnungen mithilfe von militarisierten nationalen Märtyrerkulten im Aufsatz von Sarah Thieme über den Totenkult im Dritten Reich dargelegt: Das NS-Regime stilisierte in vorbehaltlos pseudo­ religiöser Manier den Soldatentod zur Opfergabe für Vaterland, Rasse und Nation.154 3.  Im Verlauf der jüngeren Moderne und des europäischen nation building erscheinen früher gewaltlose christliche Heilige als kämpferische Nationalpatrone. So wird mit deren Hilfe „eine Klammer zwischen Staat, Herrschaft und Volk“ erschaffen.155 Nationalgeschichtliche Narrative werden oft mit vormodernen Heiligen ausgestattet, und aus Landespatronen werden Nationalpatrone. Für die Nationen als imagined communities (Benedict Anderson) sind diese Figuren so wichtig, weil sie sowohl als religiöse wie auch als ­politische Erinnerungsträger auftreten. Nationalheilige werden zu (quasi)religiösen Erinnerungsorten stilisiert, um für „die Konstituierung von Gemeinschaften, deren Mitglieder sich nicht persönlich kennen und dennoch unter­ einander verpflichtet fühlen,“ Identifikationselemente mit besonderem G ­ ewicht zu liefern.156 Die neue Forschung über Religion, Nation und Erinnerungskulturen fokussiert sich meistens auf das Verhältnis von Erinnerungsorten religiöser Natur zur politischen Sphäre. Weil die Nationen von einer gemeinsamen Erinnerung leben, die ihrerseits oft stark von konfessionellen Gegensätzen geprägt 154  Auch der „Kult des unbekannten Soldaten“ repräsentiert in gewisser Weise diesen Typus der sakralisierten Soldatenhelden und von damit verbundenen „säkularen und militärischen Pilgerfahrten.“ Vgl. Christoph Mick, „Der Kult um den Unbekannten Soldaten im Polen der Zwischenkriegszeit“, in: Schulze Wessel (Hrsg.), Nationalisierung der Religion, S. 181–200; ders., „ ‚What did they die for?‘ War remembrance in Austria in the transition from empire to nation state“, in: Paul Miller/Claire Morelon (Hrsg.), Embers of Empire: Continuity and Rupture in the Habsburg Successor States after 1918, New York u. a. 2019, S. 261–283; John Eade/Mario Katić, „Commemorating the dead. Military pilgrimage and battlefield tourism“, in: dies. (Hrsg.), Military Pilgrimage and Battlefield Tourism: Commemorating the Dead, New York 2018, S. 1–12. 155  Stefan Samerski/Krista Zach, „Einleitung“, in: ders. (Hrsg.), Die Renaissance der Nationalpatrone. Erinnerungskulturen in Ostmitteleuropa im 20./21. Jahrhundert, Köln 2007, S. 1–9, hier. S. 4. 156  Wünsch, „Einleitung“, S. XXVIII.



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ist, eignete sich die Nationalismusforschung allgemein eine religiös-kommemorative Perspektive an.157 Ergänzend hinzu tritt ein Forschungsansatz über das allgemeine Verhältnis von Religion und kollektivem Gedächtnis in der Moderne.158 Unser Sammelband liefert Beiträge zu diesen wachsenden Forschungsfeldern, indem mehrere Autoren die Konstruktion von religiösen Erinnerungsorten beim nation building anhand von spezifischen, „nationalen“ Militarisierungen der Heiligen untersuchen. Robert Green zeigt einen solchen Prozess am Beispiel des historischen Patriarchen Germogen im vorrevolutionären Russischen Reich. Ebenso bedeutsam sind militarisierte Heilige aus Südosteuropa, wie im Beitrag von Stefan Rohdewald oder irische nationale Märtyrer im Text von André Johannes Krischer. In einer nationalisierten Erinnerungskultur haben derartige militante Heilige, anders als früher, jetzt eine nicht nur schützende, sondern auch identitätsstiftende Funktion. Besonders in Krisensituationen der Moderne entstehen Bedrohungsszenarien, die zu „bellizistischen Umbrüchen“ führen.159 Dies geschieht meist im Kontext der Nationalisierung eines alten, etwa in der vormodernen Türkenabwehr entwickelten antemurale christianitatis-Mythos, der weiter mit Feindbildern und der Idee der Nation als einer Verteidigungsbastion des Christentums arbeitet.160 Kriegerheilige als Erinnerungsorte werden dabei oft zu solchen „letzten Bollwerken“ des Glaubens und der Gläubigen, aber eben auch von 157  Zur Komplexität dieser Verhältnisse siehe u. a.: Stefan Laube, „Konfessionelle Brüche in der nationalen Heldengalerie. Protestantische, katholische und jüdische Erinnerungsgemeinschaften im deutschen Kaiserreich (1871–1918)“, in: Heinz-Gerhard Haupt/Dieter Langewiesche (Hrsg.), Nation und Religion in der deutschen Geschichte, Frankfurt 2001, S. 293–332, hier S. 294; Wünsch, „Einleitung“, S. XXVIII; Urs Altermatt/Franziska Metzger (Hrsg.), Religion und Nation. Katholizismen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2007; Stefan Rohdewald, Götter der Nationen. Religiöse Erinnerungsfiguren in Serbien, Bulgarien und Makedonien bis 1944, Weimar 2014. 158  Paradigmatisch hierzu etwa: Daniele Hervieu-Léger, Religion as a Chain of Memory, New Brunswick/New Jersey 2000; Grace Davie, Religion in Modern Europe: A Memory Mutates, Oxford 2000. 159  Jörn Leonhard definiert drei moderne „bellizistische Umbrüche“ vor dem 1. Welkrieg: patriotische Deutung und revolutionäre Ideologisierung des Krieges; ambivalente Restauration des agonalen Kriegsparadigmas; schließlich, nationaler Bellizismus und bellizistischer Nationalismus. Jörn Leonhard, Bellizismus und Nation. Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750–1914, München 2008. 160  Liliya Berezhnaya/Heidi Hein-Kircher, „Introduction. Constructing a Rampart Nation: Conceptual Framework“, in: dies. (Hrsg.), Rampart Nations. Bulwark Myths of East European Multiconfessional Societies in the Age of Nationalism, New York u. a. 2019, S. 3–30. Allgemein zur europäischen Geschichte des antemurale christianitatis Mythos bis in die Gegenwart, siehe u. a.: Paul Srodecki, Antemurale Christianitatis. Zur Genese der Bollwerksrhetorik im östlichen Mitteleuropa an der Schwelle vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit, Husum 2015; Thomas Serrier, „Die Bollwerke

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Vaterland oder Nation stilisiert. Als Beispiele für eine derartige Instrumentalisierung zeigen Stefan Rohdewald und Constantin Iordachi in unserem Band, wie der hl. Kliment von Ohrid bei Nationalisierungsprozessen innerhalb von solchen antemurale-Diskursen militärische und kämpferische Züge erhielt, oder etwa der walachische Fürst Michael der Tapfere (1558–1601) erst in moderner Memoria zum „Schild des Christentums“ stilisiert wurde. Schlussbemerkungen Dieser Sammelband möchte mit seinen Fallstudien zeigen, dass die Militarisierung der Heiligen ein gesamteuropäisches Phänomen darstellt, das über die religiöse Verehrung der christlichen Kriegerheiligen hinausgeht. Unser Ziel ist es, konfessionsübergreifende Dynamiken in der Vormoderne und Moderne zu zeigen. Dabei wird klar, dass die faktisch ambivalente Haltung des Christentums zur Gewalt zu einer Spannung und dementsprechend zu verschiedenen Deutungsmustern der Kriegerheiligen führte. Die Legitimation kriegerischer Gewalt mithilfe des Konzepts eines „gerechten Krieges“ hat womöglich zur Entstehung der Figur des Kriegerheiligen beigetragen, der sich am Ende sogar aktiv in das Kampfgeschehen einbringt. Andererseits, immer, wenn Motive der Nachahmung des gewaltlosen Christus in den Vordergrund treten, werden manche Kriegerheilige auch wieder „demilitarisiert,“ um die friedensstiftende Funktion des Christentums zu unterstreichen. Allgemein gesehen führten nationale Ideologien der Moderne überall in Europa zur Nationalisierung und Militarisierung der Heiligen und zur Entstehung von nationalen Märtyrerkulten. Weder geographisch noch chronologisch kann die ganze Breite zum Thema des militarisierten Heiligen in einem einzigen Band dargestellt werden. Zeitlich reichen die Beiträge nur bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, obwohl es auch in der unmittelbaren Gegenwart reichlich Beispiele dafür gibt, dass Kriegerheilige und andere militarisierte biblische Gestalten zu Politisierungsund Nationalisierungszwecken instrumentalisiert werden. Wenn Krisensituationen auftreten (wie auch heute, in der Corona-Krise), kommt es zur Wiederbelebung und Verbreitung von Bedrohungsszenarien, zur Militarisierung von Sprache, Bildern und Ritualen und, fast unvermeidlich, zu einer „Reaktivierung“ des Kriegerheiligenpotentials. Namentlich Maria, die Gottesmutter, wird zur Schutzpatronin der Kämpfenden. Zum Beispiel diente ihre Erscheinung in Međugorje der Legitimierung des kroatischen Nationalismus, besonders bei den kroatischen paramilides Christentums“, in: Étienne François/ders. (Hrsg.), Europa. Die Gegenwart unserer Geschichte, Bd. 2, Darmstadt 2019, S. 306–311.



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tärischen Kräften in Bosnien-Herzegowina während des letzten BalkanKrieges. Die Gottesmutter von Međugorje wurde sogar zur „Ustascha-Madonna“ deklariert, in Anspielung auf den faschistischen, pro-nazistisch geführten kroatischen Ustascha-Staat (1941–1945).161 Wichtig ist aber, dass trotz solcher neuen Militarisierungen das Bild der Gottesmutter auch heutzutage seine friedenstiftende Funktion nicht verloren hat. Sie ist in vielen anderen Kontexten eine „nationale, transnationale und kosmopolitische Heldin“ geworden.162 Anderes ist mit der Figur des Erzengel Michael geschehen, wie am Beispiel der Ukraine und Rumäniens deutlich wird. Das Bild des Erzengels mit Schwert und Schild befindet sich beispielsweise auf dem Kiewer Stadtwappen; es gibt unter anderem eine Statue des hl. Michael am Rand des Kiewer Unabhängigkeitsplatzes (Majdan Nezaležnosti) (Abb. 4). Während der Unruhen der Jahre 2004/2005 und 2013/2014 in der ukrainischen Hauptstadt wurde der heilige Erzengel Michael zum Symbol der Protestbewegungen.163 Eine wichtige Rolle spielt die Figur des Erzengels Michael aber auch in der zeitgenössischen rumänischen rechtsextremen Bewegung. Im Jahr 2012, 85 Jahre nach der Einrichtung der „Legion Erzengel Michael,“ gründete in Rumänien ein erneuerter Flügel der Legion „Alles für das Land“ unter altem Namen eine neue Partei. Rechtsnationalistische Historiker verbreiten die legionären Denkrichtungen weiter.164 161  Zlatko Skrbiš, „The apparitions of the Virgin Mary of Medjugorje: the convergence of Croatian nationalism and her apparitions“, in: Nations and Nationalism, Bd. 11, 3 (2005), S. 443–461, insbes. S. 454; Bojan Aleksov, „Marian Apparitions in Medjugorje and the Dissolution of Yugoslavia“, in: Gąsior (Hrsg.), Maria in der Krise, S. 359–375. 162  Agnieszka Halemba, „National, transnational or cosmopolitan heroine? The Virgin Mary’s apparitions in contemporary Europe“, in: Ethnic and Racial Studies, Bd. 34, 3 (2011), S. 454–470. 163  Der Festtag des Erzengel Michael am 21. November markierte in beiden Fällen auch den Anfang von Protesten. Das hat zuletzt Metropolit Epiphanius der neu gegründeten autokephalen Orthodoxen Kirche der Ukraine betont: Metropolyt Epifanij, „Pomarančeva revolucija i Revolucija Hidnosti rozpočalysia 21 lystopada v den’ Archangela Mychaila“, in: Ekonomični novyny (20.11.2019): https://enovosty.com/uk/ news_society-ukr/full/2011-pomarancheva-revolyuciya-i-revolyuciya-gidnosti-rozpo chalisya-21-listopada-v-den-arxangela-mixaila-mitropolit-epifanij [zuletzt besucht 15.12.2019]. Vgl. auch Wilfried Jilge, „Cultural Policy as the Politics of History: Independence Square in Kiev“, in: Alfrun Kliems/Marina Dmitrieva (Hrsg.), The PostSocialist City: Continuity and Change in Urban Space and Imagery, Berlin 2010, S. 140–155; Ivan Černjakov, Art.: „Mychajil Arhangel“, in: Viktor Smolij (Hrsg.), Encyklopedija istoriji Ukrajiny, Bd. 6, Kiew 2009, Sp. 686. 164  Armin Heinen/Oliver Jens Schmitt, „Einführung“, in: dies. (Hrsg.), Inszenierte Gegenmacht von rechts: die „Legion Erzengel Michael“ in Rumänien 1918–1938, Oldenburg 2013, S. 7–19, hier S. 7.

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Abb. 4: Hl. Erzengel Michael, Skulptur von Anatolij Kušč, 2002. Kiew, Majdan Nezaležnosti, Wikimedia Commons.

Ein weiteres Beispiel der zeitgenössischen Instrumentalisierung von Kriegerheiligen ist schließlich die Vereinnahmung von Jeanne d’Arc, der französischen Kriegerheiligen und Nationalheldin, durch den rechten „Front National“. Marine Le Pen, die Anführerin der Bewegung, inszeniert sich bei Gelegenheit als die neue Johanna von Orléans.165 Klassisch bleibt jedoch die Figur des heiligen Georg als Beispiel für Politisierung von Kriegerheiligen. Die Darstellungen des hl. Georg als Schutzheiliger auf Wappen und Standarten, sowie in weiteren, abgeleiteten Anspielungen, etwa als Georgskreuz, ist in verschiedenen Ländern zu finden. Zahlreiche Institutionen und Behörden beanspruchen den hl. Georg als Schutzpa165  Stephanie Wodianka, „Reflektierte Erinnerung: metamythische Renarrationen des Jeanne d’Arc-Mythos im Drama“, in: Klaudia Knabel/Dietmar Rieger/dies. (Hrsg.), Nationale Mythen  – kollektive Symbole: Funktionen, Konstruktionen und Medien der Erinnerung, Göttingen 2005, S. 37–65, hier S. 197 f.



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tron, wie etwa der Bundesnachrichtendienst (BND) in Deutschland mit seiner eigenen Sankt-Georgs-Medaille.166 In den letzten Jahren wird Georg als Kriegerheiliger erneut und oft für politische Zwecke instrumentalisiert. Hier nur ein paar Beispiele: In der zeitgenössischen georgischen politischen Mythologie ist der hl. Georg derjenige, der die russischen imperialen und sowjetischen Repräsentationssymbole ersetzt hat. Er ist nicht nur der georgische Schutzpatron, sondern eine Allegorie von Georgien selbst, eines Landes, das sich im dauernden Kampf sieht mit dem symbolischen Drachen des russischen imperialen Erbes und der Sklaverei.167 In Russland wiederum schmückt das Sankt-Georgs-Motiv u. a. das Wappen der Russischen Föderation und der Stadt Moskau. Es ist auch im festlichen Georgssaal im Kreml zu finden.168 Das schwarz-gelbe Georgsband ist seit 2005 das wichtigste Zeichen, ein religiöses Symbol der Erinnerung an den Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Seit den Protestbewegungen von 2012, und mehr noch seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine 2014, dient das Georgsband auch als Zeichen der Unterstützung für den offiziellen russischen politischen Kurs.169 Es wurde 2017 in der Ukraine gesetzlich verboten. Am Ende freilich bleibt Großbritannien das Land, in dem die Figur des hl. Georg als Landespatron am häufigsten für politische Zwecke benutzt wird. Die jüngsten Ereignisse rund um den „Brexit“ zeigen, wie dieser Kriegerheilige eine Renaissance als Nationalheld erlebt. Nicht nur für Fußballfans wird die rot-weiße Georgskreuz-Flagge zum Symbol nationalen Stolzes.170 Auch Politiker, wie der aktuelle Premierminister Boris Johnson, haben während der „Brexit“-Kampagne als Argumentationsmuster auf die Figur des hl. ­Georg gewiesen. Johnson plädierte dafür, den gesetzlichen Feiertag des hl. Georg am 23. April zum Unabhängigkeitstag umzuwandeln. Entsprechend 166  Bodo V. Hechelhammer, „Der heilige Georg im Bundesnachrichtendienst. Praktiken der Verwendung, Deutung und Sinnstiftung“, in: Hüchtker/Jobst (Hrsg.), Heilig, S. 207–228. 167  Zaal Andronikashvili, „The Glory of Feebleness. The Martyrological Paradigm in Georgian Political Theology“, in: Identity Studies, Bd. 3 (2011), S. 92–119. 168  Sergej Bartenev/Vladmir Frederiks, Bolšoj Kremlevskij Dvorec, dvorcovyje cerkvi i pridvornyje sobory: ukasatel’ ih, Moskau 1916. Für die Geschichte der hl. Georgsfigur in der russischen Kunst, siehe u. a. Natalja Reginskaja, Sv. Geogrij Pobedonosec – nebesnyj pokrovitel’ Rossiji v iskusstve Jevropy i Rossiji, Sankt Petersburg 2010. 169  Vera Demmel, „Das Georgsband: Ruhmesorden, Erinnerungszeichen, ProKreml-Symbol,“ in: Osteuropa, Bd. 3 (2016), S. 19–31. 170  Anthony King, „Nationalism and Sport“, in: Gerard Delanty/Krishan Kumar (Hrsg.), The SAGE Handbook of Nations and Nationalism, London u. a. 2006, S. 249–259, insbes. S. 253 f.

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findet sich die EU in der Ikonografie der „Leave-Partei“ oft als Monster dargestellt, welches das britische Volk versklaven will.171 Die Rolle des Nationalpatrons und Drachentöters Georg ist in diesem Kontext offensichtlich und eindeutig. Diese wenigen Beispiele zeigen, dass die Militarisierung der Heiligen heutzutage weiterhin neue Auflagen erlebt. Die politische Instrumentalisierung der Kriegerheiligen ist längst nicht abgeschlossen. Aber auch die heilende und fürbittende Funktion der Kriegerheiligen in Krisensituationen ist bis in die Gegenwart von Bedeutung: So steht auf einer Tafel in der frühmittelalterlichen St. Georgskirche auf der Insel Reichenau ein Gebet zum hl. Georg um Fürsprache in Corona-Zeiten: „Und ja, wir beten dass diese Epidemie abschwillt, dass die Zahlen zurückgehen, dass Normalität wieder einkehren kann.“ Auch Militärheilige werden also in verschiedenen Krisen angerufen, und nur eine davon ist der Krieg. Dieser Band soll nicht nur manche historischen Hintergründe derartiger Prozesse erhellen, sondern auch einen Anstoß für die weitere Erforschung des Phänomens der Militärheiligen geben.

171  Elspeth Guild, Brexit and its Consequences for UK and EU Citizenship or Monstrous Citizenship, Leiden 2016, S. 2, Anm. 4; allgemein dazu: Collins, St George and the Dragons.

I. Grundlagen und Verflechtungen in der vormodernen Geschichte der Kriegerheiligen

Vom jugendlichen Märtyrer zum älteren Kriegerheiligen  – der heilige Menas von Ägypten Von Eva Haustein-Bartsch Ein sehr gutes Beispiel für die Militarisierung von Heiligen ist der Fall des hl. Menas von Ägypten († 296). Er ist der am höchsten verehrte ägyptische Heilige und wird sogar als Nationalheiliger des christlichen Ägyptens bezeichnet.1 Der Titel meines Beitrags verweist außerdem auf eine Besonderheit dieses Heiligen: Während die byzantinische Kunst im Prinzip durch die Beständigkeit der Porträttypen der Heiligen charakterisiert ist, verwandelt sich Menas von einem jugendlichen, waffenlosen Märtyrer über einen hohen byzantinischen Beamten zu einem älteren Krieger in Rüstung und mit Waffen, der immer häufiger beritten wiedergegeben wird. Zeugnisse über seine Vita, sein Martyrium und seine Wunder sind zahlreich und in vielen Sprachen überliefert, jedoch sind sie recht uneinheitlich und widersprüchlich.2 Die verschiedenen Texte berichten, dass Menas ein aus Ägypten stammender und zum Christentum konvertierter Soldat der römischen Armee war, welcher der Kohorte des Tribunen Firmianus in Cotyaeum (Kotyaion, heute Kütahya), der Hauptstadt Phrygiens, angehörte. Wäh1  Janette Witt, Werke der Alltagskultur, Teil 1: Menasampullen (Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst. Bestandskataloge, 2), Wiesbaden 2000, S. 16. 2  Joseph Sauer/Walter Nikolaus Schumacher, Art.: „Menas“, in: Joseph Höfner/ Karl Rahner (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 7, Freiburg i. Br. 1962, Sp. 266–267. Ausführlich zu den Quellentexten und der Heiligenlegende: Henri ­Leclercq, Art.: „Ménas (Saint)“, in: Fernand Cabrol/ders. (Hrsg.) Dictionnaire d’archéologie chrétienne et de liturgie, Bd. 11, Paris 1933, Sp. 324–333. Einen guten Überblick zur Überlieferung bieten Martin Krause, Art.: „Karm Abu Mena“, in: Klaus Wessel (Hrsg.), Reallexikon zur byzantinischen Kunst, Bd. III, Stuttgart 1978, Sp. 1116–1158, Joseph-Marie Sauget, „Menna in Egitto“, in: Biblioteca Sanctorum, Bd. IX, Rom 1967, Sp. 324–330, Hippolyte Delehaye, „L’invention des reliques de Saint Ménas à Constantinople“, in: Analecta Bollandiana, Bd. 29 (1910), S. 117–150, Witt, Werke der Alltagskultur, S. 16–17 und Carola Nafroth, Das Wort im Bild. Untersuchungen zu den Ikonographien von Mönchen und Märtyrern in Ägypten und zu ihren Grundlagen in der koptischen Hagiographie (Sprachen und Kulturen des christlichen Orients, 22), Wiesbaden 2017, S. 210, 212, 215–225. Siehe auch Hans-Georg Beck, Kirche und theologische Literatur im byzantinischen Reich, München 1969, S. 460–461, 560–561, 640–641.

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rend der Christenverfolgung unter der Herrschaft von Kaiser Diokletian (reg. 284–305) floh er in die Wüste, um dort als Eremit zu leben. Nachdem er in einer Vision mit Kronen ausgezeichnete Märtyrer im Himmel erblickt hatte, entschloss er sich selbst zum Märtyrertum.3 Als sich bei einem Fest die gesamte Bevölkerung von Cotyaeum im Theater versammelt hatte, kam Menas aus seinem Versteck und bekannte vor dem ganzen Volk seinen christlichen Glauben. Der Hegemon Pyrrhus ließ ihn nach einem Verhör ins Gefängnis werfen; am folgenden Tag wurde Menas unter Folter weiter verhört und schließlich zum Tode durch Enthauptung verurteilt. Das Urteil wurde am 11.  November (15. Hatur) 296 vor der Stadt vollstreckt.4 Über das weitere Geschehen bieten die hagiographischen Texte unterschiedliche Varianten. Sein Leichnam soll verbrannt worden sein, bzw. er wurde von Christen geborgen und in Cotyaeum bestattet. Ein weiterer Bericht erzählt davon, dass seine Kameraden die Leiche des Menas in einen Sarg gebettet hätten, den sie seinem letzten Wunsch entsprechend in seine Heimat überführten.5 Ein nur in koptischer Sprache überliefertes, im Jahre 892/893 verfasstes Enkomion, das Teil der Handschrift M590 der Pierpont Morgan Library in New York ist, schmückt die Rückkehr der Reliquien des Menas nach Ägypten durch Wunderberichte aus.6 Als nach dem Martertod des Menas die Truppen von Phrygien nach Ägypten zurückverlegt wurden, um die Garnisonen der Mareotis gegen eine Revolte der dortigen Bevölkerung bzw. gegen einen Angriff libyscher Truppen zu unterstützen, nahm der Tribun und Kommandant der Truppen Athanasius die Reliquien des Menas mit nach Alexandria. Auf offenem Meer wurde sein Schiff mehrfach von Seeungeheuern mit langen Hälsen und kamelartigen Köpfen angegriffen, doch schossen aus dem Körper des Menas Flammen empor und vertrieben die Monster. Nach erfolgreichem Ende der Miltitäroperation wollte der Präfekt die Reliquien des hl. Menas wieder mit zurück nach Phrygien nehmen, doch das Kamel, auf das er den Sarg geladen hatte, vermochte sich nicht von der Stelle zu bewegen. Er lud den Sarg auf ein anderes Kamel, aber das Vorhaben scheiterte bei jedem Versuch erneut, bis Athanasius erkannte, dass es der Wille Gottes war, die Reliquien an diesem Ort beizusetzen. Er ließ eine Ikone des Heiligen in Soldatentracht und mit den kamelartigen Seeungeheuern in Anbetung zu seinen Füßen anfertigen, die er als Palladium mit sich nahm, nachdem er das Bild auf die Gebeine des Heiligen gelegt hatte, „damit seine Gnade und seine 3  Nafroth,

Das Wort im Bild, S. 226. Krause, Art.: „Menas the Miracle Maker, Saint“, in: Aziz S. Atiya (Hrsg.), The Coptic Encyclopedia, Bd. 5, 1991, p. 1589–1590. 5  Delehaye, „L’invention des reliques“, S. 122. 6  Vgl. Nafroth, Das Wort im Bild, S. 210; Passagen aus dem Enkomion, S. 219– 222. 4  Martin



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Kraft in das Bild übergingen, so dass, wenn er es mit sich nehmen würde, es für ihn Hilfe wäre nicht nur auf dem Meer, sondern an jedem Ort, an den er gehen wird, als eine unbesiegbare Waffe.“7 Eine Kopie der Ikone wurde am Bestattungsort des Menas zusammen mit den Reliquien in einem Holzkasten beigesetzt und ein kleines Grabgebäude darüber errichtet.8 Der Ort befindet sich etwa 46 km südwestlich von Alexandria in der libyschen Wüste und wurde später Karm Abu Mina genannt. Nach Heilungswundern an einem gehbehinderten Jungen und einem kranken Schaf9 wurde bereits im späten 4. Jahrhundert über dem Grab des Heiligen ein Oratorium zu seiner Verehrung erbaut, und als dieses für die vielen Pilger nicht mehr ausreichte, errichtete man in der 1. Hälfte des 5. Jahrhunderts eine dreischiffige Gedenkkirche („Kleine Basilika“ oder „Gruftkirche“), die in justinianischer Zeit abgerissen und durch eine Vierkonchenanlage ersetzt wurde.10 Östlich davon wurde im 6. Jahrhundert die „Große Basilika“ mit dreischiffigem Querhaus errichtet, die der größte spätantike Kirchenbau in Ägypten war.11 Vor allem im 5. Jahrhundert wurde dem zunehmenden Pilgerstrom durch zahlreiche große Herbergen, Versorgungseinrichtungen, Wohnhäuser, Werkstätten, ein Baptisterium und weitere Kirchen Rechnung getragen, auch wurden die Zugangswege von der Hafenstadt Philoxenite am Mareotissee bis zum Wallfahrtsort Abu Mina ausgebaut.12 Menas als Orant mit Kamelen Wahrscheinlich befand sich im Menasheiligtum ein Kultbild des Heiligen, das ihn in Orantenhaltung zwischen zwei Kamelen zeigte. Die lange vertretene These, dass es sich um ein Marmorrelief handelte, ist wohl nicht mehr haltbar, aber die große Zahl ikonographisch äußerst ähnlicher Darstellungen aus dem 5. bis 7. Jahrhundert lässt darauf schließen, dass sie alle auf ein 7  Ebd.,

S. 220, 223. S. 220. 9  Ebd., S. 212. 10  Peter Grossmann, „Abû Mînâ“, in: Martin Krause (Hrsg.), Ägypten in Spätantik-christlicher Zeit. Einführung in die koptische Kultur, Wiesbaden 1998, S. 269–293, hier S. 280, 282. 11  Kurt Weitzmann (Hrsg.), Age of Spirituality. Late Antique and Early Christian Art, Third to Seventh Century (Ausstellungskatalog The Metropolitan Museum of Art), New York 1979, Kat.-Nr. 591 auf S. 662–664. Die Maße der Basilika betrugen  66,46 × 51,52 m; Judith McKenzie, The Architecture of Alexandria and Egypt c. 300 BC to AD 700, New Haven and London 2007, S. 288–295; Nafroth, Das Wort im Bild, S. 214–215; Grossmann, „Abû Mînâ“, S. 269–270, 280. 12  Zu Karm Abu Mina siehe Leclercq, „Ménas (Saint)“, Sp. 345–385; Grossmann, „Abû Mînâ“. 8  Ebd.,

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verehrtes Urbild zurückgehen, sei es nun ein plastisches Werk, ein Mosaik oder eine Wandmalerei.13 Auf allen diesen Bildwerken steht Menas als junger Mann mit lockigem Haar aufrecht mit im Orantengestus erhobenen Armen, als Soldat in Tunika und Chlamys gekleidet, frontal zwischen zwei knienden Kamelen. Die beiden Kamele sind zwar das untrügliche Erkennungsmerkmal des hl. Menas, aber es ist umstritten, welche Kamele gemeint sind, denn in der Vita des Heiligen spielen sie mehrfach eine wichtige Rolle. Sie werden als Arbeitstiere für Menas erwähnt, die er nach seiner Desertation in die Einsamkeit mitnahm, die er segnete und die „ihrerseits […] sich niederzubeugen und ihn zu verehren (pflegten).“14 Kamele bestimmten außerdem den Ort seines Grabes, wobei das bereits zitierte Enkomion von den vergeblichen Versuchen des Generals Athanasius berichtet, die Reliquien als Schutzschild wieder mit sich zu nehmen, während das Martyrium eine andere Version bietet, wonach der Erzbischof auf göttliches Geheiß das Kamel mit den Reliquien des hl. Menas frei laufen ließ und an der Stelle, an der es sich niederlegte, das Fundament des Grabes errichtete.15 Mit den Kamelen könnten aber auch die Furcht erregenden Tiere mit kamelartigen Gesichtern und langen Hälsen gemeint sein, die das Schiff mit den Reliquien auf See angegriffen haben sollen.16 Nafroth macht jedoch deutlich, dass nur die im 5./6. Jahrhundert verfassten Texte bezüglich des Martyriums und der Wunderberichte als Grundlage für die bereits im 5. Jahrhundert existierende Ikonographie in Frage kommen, da das Enkomion erst in der Zeit zwischen 640 und 892–893 verfasst wurde.17 Die dort beschriebene Ikone und die Legende von den Seeungeheuern diente demzufolge zur nachträglichen Erklärung des bereits vorhandenen Bildschemas des Heiligen in Verbindung mit Kamelen als seinem Kennzeichen.18 Zwischen zwei Kamelen erscheint Menas auf einem großen Marmorrelief, das in das 5. Jahrhundert datiert wird und wahrscheinlich in Alexandria hergestellt wurde, wo es auch heute noch im Griechisch-römischen Museum aufbewahrt wird.19 Obwohl es keine Namensbeischrift trägt, besteht durch 13  Martin von Falck (Hrsg.), Ägypten. Schätze aus dem Wüstensand: Kunst und Kultur der Christen am Nil (Ausstellungskatalog Hamm und Schallaburg b. Melk), Wiesbaden 1996, Kat.-Nr. 139a–b auf S. 140. 14  Nafroth, Das Wort im Bild, S. 217–218, vgl. auch S. 216, 222. 15  Ebd., S. 217–218. 16  Ebd., S. 219. 17  Ebd., S. 224. 18  Ebd., S. 224–225. 19  Weitzmann (Hrsg.), Age of Spirituality, Kat.-Nr. 512 auf S. 573–574, Abb. S. 574; Nafroth, Das Wort im Bild, S. 213–215, Abb. 39; John Beckwith, Coptic Sculpture 300–1300, London 1963, S. 47, Abb. 10.



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das Attribut der Kamele und den Vergleich mit einem annähernd gleich hohen Relief aus derselben Zeit im Kunsthistorischen Museum in Wien kein Zweifel daran, dass es sich um eine Darstellung des hl. Menas handelt. Auf dem Wiener Relief, dessen Fundort unbekannt ist, steht er in ähnlicher Haltung unter einem Bogen auf zwei Säulen.20 Neben seinem Nimbus ist er durch eine griechische Inschrift als hl. Menas bezeichnet. Auch hier sitzen zu seinen Füßen zwei kleine Kamele, über denen zwei Figuren auf dem glatten Hintergrund fast zu schweben scheinen, die als Pilger oder Stifter des Reliefs gedeutet werden. Auf einer 7,9 cm hohen Pyxis aus Elfenbein aus dem 6. Jahrhundert, die im British Museum in London aufbewahrt und deren Herkunft sowohl mit Ale­ xandria als auch mit Konstantinopel angegeben wird, sind auf der Rückseite zwei Szenen aus dem Martyrium des Heiligen dargestellt.21 Links gibt der thronende Präfekt den Befehl zur Hinrichtung des Heiligen, den ein Schreiber, der neben ihm hinter einem Tisch mit einem Tintenfass steht, in ein Diptychon notiert. Rechts packt der Scharfrichter den vor ihm knienden, gefesselten Menas am Haar und holt mit seinem Schwert zum tödlichen Streich aus. Ein Engel schwebt von rechts heran, um die Seele des Märtyrers in Empfang zu nehmen.22 Auf der Vorderseite steht Menas in der Haltung eines Oranten und durch einen Nimbus als Heiliger gekennzeichnet unter einer Aedicula auf Spiralsäulen und wird von zwei lagernden Kamelen mit hochgereckten Köpfen sowie von zwei Frauen (links) und zwei Männern (rechts) mit bittend oder verehrend erhobenen Händen flankiert – vielleicht den Stiftern der Elfenbeinpyxis, deren ursprünglicher Zweck nicht bekannt ist. Ein weiteres Beispiel aus Elfenbein – wohl aus dem späten 7. Jahrhundert – im Castello Sforzesco in Mailand zeigt den Heiligen ebenfalls frontal als Oranten jugendlichen Alters in einem lose gegürteten Gewand, das mit Clavi, Borten und Rundmedaillons verziert ist, und über dem er eine Chla20  von Falck (Hrsg.), Ägypten, Kat.-Nr. 52 auf S. 106–107; Falko Daim (Hrsg.), Das Goldene Byzanz und der Orient (Ausstellungskatalog Schallaburg), Schallaburg 2012, Kat.-Nr. VII.4 auf S. 267 (Abb. seitenverkehrt). 21  Weitzmann (Hrsg.), Age of Spirituality, Kat.-Nr. 514 auf S. 575–576; Antony Eastmond, The Glory of Byzantium and Early Christendom, London 2013, S. 83; Cäcilia Fluck (Hrsg.), Ein Gott. Abrahams Erben am Nil. Juden, Christen und Muslime in Ägypten von der Antike bis zum Mittelalter, Petersberg 2015, Kat.-Nr. 149 auf S. 136, Abb. S. 137; von Falck (Hrsg.), Ägypten, Kat.-Nr. 201 auf S. 200–201; Nadežda Gerasimenko, „Mina Egipetskij (Frigijskij) ili Mina Kallikelad? K voprosu ob odnoj ikonografičeskoj osobennosti“, in: Anna Zacharova (Hrsg.), Obraz Vizantii. Sbornik statej v čest’ O. S. Popovoj, Moskau 2008, Abb. 2 auf S. 107; Nafroth, Das Wort im Bild, S. 233, Abb. 44/1 und 44/2; Beckwith, Coptic Sculpture, S. 49, Abb. 35 u. 36: http://www.thebyzantinelegacy.com/pyxis-menas [zuletzt besucht 16.12.2019]. 22  Die Darstellungen entsprechen den Texten des Enkomions und des Synaxariums, s. Nafroth, Das Wort im Bild, S. 234.

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mys trägt.23 Flankiert von zwei großen Kamelen steht er offenbar am Eingang seines Heiligtums, dessen Architektur auf dem nur 10 × 8 cm großen Elfenbein recht detailliert wiedergegeben ist: Das Hauptschiff mit Muschelnische wird begleitet von zwei Seitenschiffen mit gitterförmigen Chorschranken, von deren Dreiecksgiebeln auf Pfeilern je eine Votivlampe zwischen geöffneten Vorhängen herabhängt und die von kleinen Kreuzen bekrönt und mit Palmetten als Acroteria geschmückt sind. Inwieweit diese Architektur tatsächlich Rückschlüsse auf das Aussehen des Sanktuariums in Karm Abu Mena zulässt, ist fraglich, da Darstellungen von Verstorbenen in einer ähnlichen architektonischen Rahmung im Osten und Westen Europas weit verbreitet waren. Als Beispiele seien zwei Stelen mit weiblichen Orantinnen aus dem ägyptischen Raum genannt, die im 5. Jahrhundert entstanden sind und ähnliche Giebel auf Säulen, Muschelmotive, Acroteria, Lampen und Gitter zeigen und dadurch diesen Raum als eine heilige Stätte definieren.24 Auch auf Kunstwerken aus anderen Materialien wie auf einem gewirkten Medaillon des 8. Jahrhunderts aus den Vatikanischen Museen25 oder auf hölzernen Friesen in Flachrelief wird Menas als Orant, flankiert von Kamelen, wiedergegeben, z. B. auf einem aus der Südkirche von Bawit stammenden Holzrelief im Louvre aus dem 6. Jahrhundert26 und einem weiteren im BodeMuseum in Berlin (Abb. 1), das vermutlich im 8. Jahrhundert geschnitzt wurde.27 23  Weitzmann (Hrsg.), Age of Spirituality, Kat.-Nr. 517, S. 578; Marco Flamine, Opere d’arte bizantina in Lombardia. Lineamenti per un catalogo (secoli IV–XV), Università degli Studi di Milano, Milano 2012/2013, Kat.-Nr. 14F. auf S. 136–137, Abb. S. 138; Irina A. Šalina, „Vchod ‚Svjataja svjatych’ i vizantijskaja altarnaja pregrada“, in: Alexej Lidov (Hrsg.), Ikonostas, Moskau 2000, Abb. 11; Slobodan Čurčić, „Proskynetaria Icons, Saints’ tombs, and the development of the Iconostasis“, in: ­Lidov (Hrsg.), Ikonostas, S. 139, Abb. 23; Raphaëlle Ziadé/Elodie Bouffard/Virginia Cassola (Hrsg.), Chrétiens d’Orient. 2000 Ans d’histoire (Ausstellungskatalog Institut du Monde Arabe, Paris, 26. September 2017–14. Januar 2018) Paris 2017, Abb. S. 27; Kurt Weitzmann, Studies in the Arts at Sinai, New Jersey 1982, Abb. 5 auf S. 169. Das Elfenbein gehört zu einer eng verwandten Gruppe; auf die Diskussionen um Zusammenhang, Herkunft und Datierung kann ich an dieser Stelle nicht näher eingehen. 24  László Törok, After the Pharaohs. Treasures of Coptic Art from Egyptian Col­ lections (Ausstellungskatalog Museum of Fine Arts), Budapest 2005, Kat.-Nr. 124 auf S. 175, Abb. S. 176 und Kat.-Nr. 126 auf S. 179. 25  Henry Maguire, The Icons of their Bodies. Saints and their images in Byzantium, Princeton 1996, S. 126, Abb. 112. 26  Nafroth, Das Wort im Bild, S. 255; Elisabeth Enß, Holzschnitzereien der spätantiken bis frühislamischen Zeit aus Ägypten. Funktion und Dekor, Wiesbaden 2005, S. 109–110, Kat.-Nr. 18, Taf. 20, Abb. 18d; Marie-Hélène Rutschowskaya, Catalogue des bois de l’Égypte copte au musée du Louvre, Paris 1986, Kat.-Nr. 530 auf S. 150– 151. Der wie üblich mit Lockenhaaren dargestellte Menas trägt einen Heiligenschein und steht unter einem Vorhang, der zur Seite gezogen und mit einem Knoten fixiert ist. Da die linke Ecke abgebrochen ist, blieb nur das Kamel auf der rechten Seite erhalten.



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Abb. 1: Holzrelief (Detail: hl. Menas zwischen Kamelen), Ägypten, 8.–9. Jahrhundert, Ulmenholz, Bode-Museum Berlin. Foto: Gabriele Mietke.

Die Bedeutung des Kults des hl. Menas und die Beliebtheit der Wallfahrt nach Karm Abu Mina belegt vor allem die fast unüberschaubar große Anzahl der so genannten Menasampullen aus Ton, die in weit verstreuten Fundorten wie Frankreich, Italien, Griechenland, Malta, Kleinasien und Afrika entdeckt wurden.28 Die runden, flachen Fläschchen mit kurzem Hals und zwei angesetzten Henkeln wurden in zahlreichen Werkstätten in der Menasstadt vorrangig während der Blütezeit der Wallfahrt im 5.–7. Jahrhundert produziert und als Eulogia (Segen bzw. gesegnetes Andenken) bezeichnet. In ihnen nahmen die Pilger gesegnetes Öl, Wasser oder andere aus dem Wallfahrtsort stammende Substanzen als Erinnerung an ihre Pilgerfahrt und als Heilmittel mit sich nach Hause.29 Auf einem typischen Beispiel aus dem Ikonen-Museum Recklinghausen (Abb. 2) sieht man Menas  – wie auf den zuvor ge27  Nafroth, Das Wort im Bild, S. 255; Enß, Holzschnitzereien, S. 136–137, Nr. 117, Taf. 73, Abb. 117a; Elisabeth Ehler/Cäcilia Fluck/Gabriele Mietke, Wissenschaft und Turbulenz – Wolfgang Fritz Volbach, ein Wissenschaftler zwischen den beiden Weltkriegen (Ausstellungskatalog Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst), Berlin 2017, Kat.-Nr. 39a, S. 74–75; Beckwith, Coptic Sculpture, S. 15, Abb. 47. Auch hier stehen die Heiligen unter Bögen unter Vorhängen. Menas ist von zwei Kamelen flankiert. 28  Leclercq, „Ménas (Saint)“, Sp. 385–395; Nafroth, Das Wort im Bild, S. 240– 243, auf Abb. 48 ist Menas sogar als Reiterheiliger auf einer Ampulle abgebildet. 29  Die Annahme, dass die Pilger in den Ampullen Wasser von einer heiligen Quelle transportiert hätten, ist lt. Jeanette Witt in: von Falck (Hrsg.), Ägypten, Kat.-Nr. 144 auf S. 166 nicht mehr haltbar.

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Abb. 2: Menasampulle, Ägypten (Menasstadt), 5.–7. Jahrhundert, gebrannter Ton, 10,5 × 7,5 cm. Ikonen-Museum Recklinghausen (Inv.-Nr. 554). Foto: Jürgen Spiler.

nannten Darstellungen in anderen Materialien – frontal und in Orantenhaltung zwischen zwei Kamelen.30 Auch in der Malerei wurde Menas auf diese Weise wiedergegeben, wie ein im Louvre aufbewahrtes Fragment einer Wandmalerei aus den Einsiedeleien von Kellia, südöstlich von Alexandria, belegt, das in das 7./8. Jahrhundert datiert wird.31 Der nimbierte Heilige wird durch eine vertikale griechische Namensbeischrift neben seinem Haupt identifiziert. Man kann davon ausgehen, dass im nicht mehr erhaltenen unteren Teil des Bildes die beiden Kamele abgebildet waren. 30  Martin von Falck/Cäcilia Fluck/Eva Haustein-Bartsch, Die Koptische Sammlung im Ikonen-Museum Recklinghausen, München 1996, Kat.-Nr. 61 auf S. 67–69, Abb. S. 68 und Kat.-Nr. 62 auf S. 69, Abb. S. 68; Eva Haustein-Bartsch (Hrsg.), Von Drachenkämpfern und anderen Helden. Kriegerheilige auf Ikonen (Katalog zur Ausstellung im Ikonen-Museum Recklinghausen 2.  Oktober 2016–12.  Februar 2017), Recklinghausen 2016, S. 152. Weitere Literatur: Grossmann, „Abû Mînâ“; Witt, Werke der Alltagskultur; Ludwig Wamser (Hrsg.), Die Welt von Byzanz  – Europas östliches Erbe. Glanz, Krisen und Fortleben einer tausendjährigen Kultur (Ausstellungkatalog Archäologische Staatssammlung – Museum für Vor- und Frühgeschichte München. Schriftenreihe der Archäologischen Staatssammlung, 4/2004), Stuttgart 2004, S. 199–211. 31  Fluck (Hrsg.), Ein Gott, Abb. 148 auf S. 136; Marie-Hélène Rutschowskaya, La peinture copte, Paris 1992, S. 71, 72, Kat.-Nr. 49 auf S. 74, Abb. 49.



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Festzuhalten ist, dass Menas auf diesen frühen Darstellungen vom 5.– 8. Jahrhundert auf sehr einheitliche Weise abgebildet ist. Er wird jung und bartlos, in frontaler Haltung und in der Kleidung eines römischen Soldaten wiedergegeben, trägt jedoch keine Waffen. Seine Arme hält er im Orantengestus erhoben und wird stets von zwei Kamelen flankiert, die neben ihm knien. Einige Jahrhunderte später ändert sich das Aussehen des Heiligen, was wahrscheinlich mit dem Schicksal der Menasstadt zu tun hat.32 Der berühmte Wallfahrtsort, zu dem Pilger aus dem ganzen Römischen Reich strömten, wurde beim Persereinfall in Ägypten im Jahre 619 weitgehend durch Brand zerstört. Nach einer Restaurationsphase zur Zeit des Patriarchen Michael I. (744–768), der für den Wiederaufbau der Gruftkirche als fünfschiffige Basilika sorgte, blieben jedoch mit den Einfällen der Beduinen im 9. Jahrhundert die Pilger endgültig aus, und das Heiligtum des hl. Menas verfiel.33 Wieder entdeckt und teilweise ausgegraben wurden die Überreste des frühchristlichen Pilgerheiligtums erst 1905 bis 1907 durch den katholischen Theologen Carl Maria Kaufmann (1872–1951) aus Frankfurt am Main und seinen Vetter I. C. Ewald Falls.34 Die von Kaufmann veröffentlichten Grabungsberichte sind jedoch vor allem durch die seit 1961 erfolgten Untersuchungen durch das Deutsche Archäologische Institut in Kairo weitgehend überholt.35 Seit 1959 wurde auf Geheiß des koptischen Patriarchen Kyrillos  VI. (1959–1971) auf dem Gelände eine moderne Wallfahrtskirche mit Kloster erbaut,36 um des Wunders von El-Alamein von 1942 zu gedenken.37 32  Zur späteren Entwicklung der Menasstadt vgl. Grossmann, „Abû Mînâ“, S. 274–275. 33  Josef Engemann, „Das Ende der Wallfahrten nach Abu Mina und die Datierung früher islamischer glasierter Keramik in Ägypten“, in: Jahrbuch für Antike und Christentum, Bd. 32 (1989), S. 161–177, Abb. 5 auf S. 283 (Grundriss der Gruftkirche im 8. Jh.). 34  Stefan Heid, Wohnen wie in Katakomben. Kleine Museumsgeschichte des Campo Santo Teutonico, Regensburg 2016, S. 82–91, Abb. 49 auf S. 87. 35  Witt, Werke der Alltagskultur, S. 18–19, Krause, „Karm Abu Mena“, Sp. 1116– 1122. 36  Martin Krause, „Bemerkungen zum spätantiken und koptischen Ägypten“, in: Martin von Falck (Hrsg.), Ägypten. Schätze aus dem Wüstensand, S. 17–29, hier S. 22; Otto F. A. Meinardus, Monks and Monasteries of the Egyptian Desert, Kairo 3 1992, S. 178–179. 37  Während des Nordafrikafeldzugs, als die deutschen Truppen unter General Erwin Rommel auf dem Weg nach Alexandria waren und an einem Ort namens ElAlamein (arabisch: Ort des Menas) halt machten, kam es zur Konfrontation mit den stark unterlegenen Truppen der Alliierten. In der Nacht vor der Schlacht soll aus der Ruine der Grabeskirche des hl. Menas der Heilige mit einer Karawane von Kamelen erschienen sein und durch dieses Wunder die Moral der deutschen Soldaten so unter-

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1979 wurde die Menasstadt als Weltkulturerbe der UNESCO anerkannt, sie steht wegen des ansteigenden Grundwasserspiegels jedoch seit 2001 auf der Roten Liste des gefährdeten Welterbes. Menas als hoher Beamter oder Offizier Mit dem Niedergang seines Kultes infolge der Zerstörung seines Heiligtums schien auch die Erinnerung an das Aussehen des hl. Menas geschwunden zu sein. Denn seit dem Ende des Ikonoklasmus erhielt er ein neues „Image.“ Nun wird das Gesicht des Heiligen nicht mehr jung und bartlos, sondern älter und mit weißem oder grauem, lockigem Haar und einem Vollbart wiedergegeben. Auch seine Kleidung ändert sich: Statt der kurzen Militärtunika trägt er nun ein langes, oft kostbar geschmücktes Gewand und eine Chlamys, meist mit Tablion. Nach Warren T. Woodfin war die Translation seiner Reliquien nach Kon­ stantinopel die Voraussetzung zu der Transformation seiner Ikonographie.38 Sie machte aus dem einfachen Soldaten einen Offizier und Höfling, und Menas wurde von einem für jedermann zugänglichen Objekt einer volkstümlichen Wallfahrt zum himmlischen Beschützer des byzantinischen Staates mit einem entsprechend würdevollen Aussehen.39 Die ersten Denkmäler, die Menas in dem neuen Porträttypus als alten Mann mit lockigen weißen Haaren und Bart zeigen, sind eine in das 10. Jahrhundert datierte Ikone aus Zypern,40 auf der Menas ein Christusmedaillon41 mit beiden Händen vor der Brust hält, sowie die Miniaturen im Menologion graben haben, dass es zu dem völlig unerwarteten Sieg der Alliierten kam, den Winston S. Churchill mit seinem berühmten Ausspruch kommentierte: „Before Alamein we never had a victory. After Alamein we never had a defeat.“ Winston S. Churchill, The Hinge of Fate. The Second World War, London 41968, S. 541. Von einem „Wunder“ ist jedoch bei ihm keine Rede. Auf einem Fresko in der Kapelle des hl. Menas im Kloster der Großen Lavra auf dem Berg Athos ist die Wunderszene mit dem auf einem Kamel reitenden Kriegerheiligen und Panzern dargestellt, vgl. http://www. johnsanidopoulos.com/2010/11/miracle-of-saint-menas-in-el-alamein-in.html [zuletzt besucht 16.12.2019]. 38  Warren T. Woodfin, „An Officer and a Gentleman: Transformations in the Iconography of a Warrior Saint“, in: Dumbarton Oaks Papers, Bd. 60 (2007), S. 111–143, hier S. 116. 39  Ebd., S. 117. 40  Sophocles Sophocleous, Icons of Cyprus 7th – 20th century, Nikosia 1994, Kat.Nr. 3, S. 76, Abb. S. 124; Kostas Gerasimou/Kyriakos Papaioakeim/Christina Spanou, He Kata Kition  – Hagiographikē technē, Larnaka 2002, Kat.-Nr. 2, S. 132, Abb. S. 133 (Chr. Spanou datiert die Ikone in das 13. Jh.). 41  Siehe dazu Woodfin, „An Officer and a Gentleman“.



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Basileios’ II. (Vat. Gr. 1613)42 und im Menologion der ersten Novemberhälfte vom Katharinenkloster auf dem Sinai (Cod. 500, fol. 129v) von ca. 1063.43 Auf allen drei Darstellungen erscheint Menas in Begleitung der Heiligen Viktor und Vinkentios, die ebenfalls am 11. November verehrt werden, ansonsten aber keine Beziehung zu ihm hatten.44 Diese Zusammenstellung lässt seine eindeutige Identifizierung zu und verhindert die Verwechslung mit seinem Namensvetter, dem Rhetor Menas Kallikélados von Kon­ stantinopel, der im 9. Jahrhundert lebte.45 Menas Kallikélados wird dagegen oft gemeinsam mit den Heiligen Hermogenes und Eugraphos abgebildet, die wie er ihren Gedenktag am 10. Dezember haben.46 Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal ist die in mittelbyzantinischer Zeit relativ häufige Darstellung des hl. Menas mit einem Christusporträt. Wie Nadežda V. Gerasimenko nachgewiesen hat, ist sie auf den Heiligen aus Ägypten beschränkt.47 Christus erscheint anfangs in einem Rundschild (Imago clipeata)  – wie auf einem Fresko in Nerezi,48 der bereits erwähnten 42  Théano Chatzidakis-Bacharas, Les peintures murales de Hosios Loukas. Les chapelles occidentales, Athen 1982, S. 71, Anm. 210. Hier wird er ohne Medaillon abgebildet. 43  Kurt Weitzmann/George Galavaris, The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai, The Illuminated Greek Manuscripts, Bd. 1, Princeton 1990, Kat.-Nr. 28, S. 76– 77, Abb. 210; Gerasimenko, „Mina Egipetskij (Frigijskij) ili Mina Kallikelad?“, Abb. 4, S. 108 (Menas hält ein Kreuz mit Christusbüste). 44  Jacques Paul Migne (Hrsg.), Patrologiae Cursus Completus. Series Graeca Paris 1894, Bd. 117, S. 154–155; Miodrag Marković, „O ikonografii svetich ratnik u istočno-chriščanskoj umetnosti i o predstavama ovich svetitelja u Dečanima“, in: Vojislav J. Djurić (Hrsg.), Zidno slikarstvo Manastira Dečana. Gradja i studije, Belgrad 1995, S. 567–630, hier S. 613, Beispiele in Anm. 364. 45  Vgl. Leclercq, „Ménas (Saint)“, Sp. 341–345, Christopher Walter, The Warrior Saints in Byzantine Art and Tradition, Aldershot 2003, S. 181–190 sowie Nafroth, Das Wort im Bild, S. 209. Zu den anderen Heiligen gleichen Namens siehe De Lacy O’Leary, The Saints of Egypt, New York 1937 (Reprint Amsterdam 1974), S. 197– 200. Verwechselt wird Menas auch manchmal mit dem Abt Apa Mena, dessen berühmtes Porträt mit Christus im Louvre (s. Marie-Hélène Rutschowskaya, Le Christ et l’abbé Ména (collection solo 11), Paris 1998) immer wieder irrtümlich als Bildnis des Menas von Ägypten bezeichnet wird (z. B. von Louis Réau, Iconographie de l’art Chrétien, Bd. III: Iconographie des Saints II, Paris 1958, S. 950 und Maria Chiara Celletti, „Menna in Egitto. Ikonografia“, in: Bibliotheca Sanctorum, Bd. IX, Rom 1967, Sp. 342–343, hier Sp. 342, Abb. Sp. 323). 46  Marković, „O ikonografii svetich ratnik,“ S. 613, Beispiele in Anm. 365; Nafroth, Das Wort im Bild, S. 209. 47  Gerasimenko, „Mina Egipetskij (Frigijskij) ili Mina Kallikelad?“, S. 109–111. 48  Richard Hamann-Mac Lean, Grundlegung zu einer Geschichte der mittelalterlichen Monumentalmalerei in Serbien und Makedonien (Die Monumentalmalerei in Serbien und Makedonien vom 11. bis zum frühen 14. Jahrhundert, 4), Gießen 1976, Taf. 41A.

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zypriotischen Ikone49 oder auf einem Fresko in Hosios Loukas,50 wo es das Zentrum seines Handkreuzes bildet – dann auch als gesticktes Bild auf dem Gewand des Heiligen wie auf dem Fresko in der Dreifaltigkeits-Klosterkirche von Sopoćani in Serbien aus der Zeit um 1265.51 Solche Stickereien wurden auf liturgischen Gewändern seit dem Ende des 12. Jahrhunderts üblich, und auch höfische Gewänder zierten Bilder des Kaisers zum Zeichen der Bindung und Treue. Auf all diesen recht zahlreichen Darstellungen ist Menas durchweg als hoher Offizier oder Beamter, aber nicht als Krieger wiedergegeben, und das Kamel, früher sein wesentliches Attribut, spielt auf diesen Darstellungen überhaupt keine Rolle mehr. Dass sich die Darstellungsweise von Menas als älterem Mann mit weißem Haar und Bart nicht auf den byzantinischen Raum beschränkt, belegen russische Ikonen wie ein frühes Beispiel aus der Region von Novgorod (Nord­ russland), das in das 15. Jahrhundert datiert wird. Auf der Ikone ist Menas wie in den vorangegangenen Beispielen nicht in Soldatenkleidung, sondern in einem langen hellgrünen Chiton und einer roten Chlamys zusammen mit den Heiligen Georg und Papst Klemens von Rom (?) wiedergegeben und hält ein Märtyrerkreuz in seiner Rechten.52 Möglicherweise ist die Ikone gegen Ende des 15. Jahrhunderts entstanden, denn die Verehrung des hl. Menas soll in Russland darauf zurückgehen, dass am 11. November 1480, dem Gedenktag des Heiligen, Khan Ahmet sich kampflos vom Fluss Ugra zurückzog, wodurch das Ende der Mongolenherrschaft über das Moskauer Reich eingeläutet wurde.53

49  Vgl.

Anm. 40.

50  Chatzidakis-Bacharas,

S. 70–74, Schema V, Abb. 7 und 8; Nano Chatzidakis, Hosios Loukas (Byzantine Art in Greece), Athen 1997, S. 63, Schema Nr. 227, Abb. 58. 51  Vojislav J. Djurić, Sopoćani, Belgrad 1963, Taf. LIII, Zeichnung auf S. 125; Vojislav J. Djurić, Byzantinische Fresken in Jugoslawien, München 1976, Taf. ­XXVIII. 52  Victor H. Elbern, Das Ikonenkabinett der Frühchristlich-Byzantinischen Sammlung (Bilderheft der Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz, 34/35), Berlin 1979, Kat.-Nr. 7, S. 20–21, Abb. S. 22 (er datiert die Ikone in die 2. Hälfte des 14. Jhs.); Heinz Skrobucha, Meisterwerke der Ikonenmalerei, Recklinghausen 21975, S. 191–192, Taf. XXXVI; Richard Zacharuk (Hrsg.), Ikonen. Ikonen-Museum Frankfurt a. M. – Icons. Icon Museum Frankfurt a. M., Frankfurt 2005, Kat.-Nr. 4, S. 210, Abb. S. 211. 53  Galina Kłokowa, Rosyjskie Malarstwo Ikonowe – Russian Icon Painting – Russische Ikonenmalerei, Moskau/Warschau 1991, S. 193. Schon vor diesem Zeitpunkt gibt es jedoch auch in Russland Ikonen, auf denen Menas neben anderen Heiligen wiedergegeben ist, s. z. B. die Darstellung auf den unteren Randfeldern einer Novgoroder Nikolausikone mit Deesis und ausgewählten Heiligen aus dem Ende des 14. Jahrhunderts sowie auf einer Moskauer Ikone der Hadesfahrt Christi aus dem 1. Viertel des 15. Jahrhunderts, s. Valentina Antonova/Nadežda Mneva, Katalog drev-



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Menas als Krieger In spätbyzantinischer Zeit ändert sich die Ikonographie des Heiligen erneut. Nun wird er – weiterhin als älterer Mann mit Bart – fast ausnahmslos als „richtiger“ Krieger in voller militärischer Ausrüstung wiedergegeben, wobei die frühesten Beispiele auf Wandmalereien in serbischen Kirchen zu finden sind: in der Georgskirche von Staro Nagoričane, deren Ausmalung durch Inschriften für 1317/1318 gesichert ist,54 und in der Apostelkirche des Patriarchats von Peć55 sowie in Dečani,56 beide aus der Mitte des 14. Jahrhunderts.57 Miodrag Marković ist der Ansicht, dass man aus der Tatsache, dass der Heilige zuerst in Serbien als Krieger gemalt wurde, nicht auf eine serbische Herkunft dieses ikonographischen Typus schließen sollte. Weil er später von Russland bis Kreta überall verbreitet war, vermutet er seinen Ursprung in Konstantinopel, von wo er über Thessaloniki mit den von dort stammenden Malern Michael und Eutychios nach Serbien kam, als die beiden im Auftrag des serbischen Königs Stefan Milutin (reg. 1275–1321) die Georgskirche von Staro Nagoričane ausmalten. Da Menas jedoch auf dem fast gleichzeitig entstandenen Mosaikmedaillon im Exonarthex der Kariye Djami (ChoraKirche) von Konstantinopel58 als Märtyrer mit Handkreuz und nicht als Krieger wiedergegeben ist, könnte ich mir gut vorstellen, dass es dezidiert der Wunsch des serbischen Königs Milutin war, Menas und auch andere Heilige zu „militarisieren“, da er und seine Nachfolger ihren Schutz bei ihren Expansionskriegen und in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts im Defensivkampf gegen die Osmanen benötigten. nerusskoj živopisi. Gosudarstvennaja Tret’jakovskaja Gallereja, Bd. 1, Moskau 1963, Kat.-Nr. 31 auf S. 97–98 und Kat.-Nr. 250 auf S. 309. 54  Das Fresko befindet sich in der unteren Zone der Nordwand des Naos, s. Horst Hallensleben, Die Malerschule des Königs Milutin, Gießen 1963, S. 31–34; Branislav Todić, Staro Nagoričino, Belgrad 1993, S. 77; Petar Miljković-Pepek, Deloto na Zografite Michailo i Eutichij, Skoplje 1967, S. 60, Schema X, Nr. 136. 55  Die Darstellung des hl. Menas befindet sich an der Westwand der südlichen Konche über dem Patriarchenthron außen links. Vojislav J. Djurić/Sima Čirković/Vojislav Korać, Pećka Patrijaršija, Belgrad 1990, S. 219, Abb. 142; Marković, „O ikonografii svetich ratnik“, S. 615, Nr. 374; andere Beispiele Anm. 375. Zur Ikonographie des hl. Menas: S. 611–615. 56  Marković, „O ikonografii svetich ratnik“, Abb. 7. Marković schreibt auf S. 615, dass vor Dečani Menas nur in Staro Nagoričane als Krieger dargestellt sei. 57  Eine große Ähnlichkeit mit antiken Vorbildern zeigt der Vergleich mit einer Marmorstatue des Gottes Mars vom Forum der Nerva in Rom aus der Zeit um 90 n. Chr., s. Marković, „O ikonografii svetich ratnik“, Abb. 16. 58  Paul A. Underwood, The Kariye Djamii, Bd. I, New York 1966, S. 153, II, Taf. 302a, Nr. 162 (Menas), Taf. 302b, Nr. 163 (Viktor), Taf. 303, Nr. 164 (Vikentios).

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Seit dieser Zeit setzt sich jedenfalls die Darstellung des hl. Menas in Rüstung und mit Waffen allgemein durch, und der Heilige wird bis in das 19. Jahrhundert fast ausschließlich als Krieger wiedergegeben. Menas als Reiter Neben den bisher besprochenen Darstellungen gibt es von Beginn an auch solche, auf denen Menas als Reiter zu sehen ist – sowohl mit als auch ohne Rüstung und Waffen. Die wenigen frühen Beispiele kommen aus seiner Heimat Ägypten und tradieren noch sein ursprüngliches jugendlich-bartloses Aussehen. Zu den frühesten gehört die sehr seltene Wiedergabe des Heiligen als Reiter auf den in das 5. bis 7. Jahrhundert datierbaren Ampullen aus Abu Mena.59 Eine nubische Handschrift aus dem Jahr 1053, die 1907 im Kloster von Edfu in Oberägypten entdeckt wurde und sich heute in der British Library in London befindet, schildert im ersten Teil des nur 18 Blätter umfassenden Manuskripts das Martyrium des hl. Menas und ist mit einer Zeichnung illustriert, die ihn als bartlosen Reiter mit lockigem Haar und im Wind flatternden Mantel wiedergibt.60 Mit der rechten Hand hält er eine Lanze senkrecht nach unten. Über seinem Haupt schweben drei Märtyrerkronen, über denen er als hl. Menas bezeichnet ist. Am unteren Rand sieht man einen nackten, bärtigen Mann (den Stifter der Handschrift?) mit einem Tuch oder Gewand über seinem Arm, der den linken Vorderhuf des Pferdes mit seiner rechten Hand umfasst – vermutlich als Zeichen seiner Verehrung. Zusammen mit dem hl. Viktor, der wie Menas am 11. November verehrt wird, ist er als Reiter auf einem durch einen späteren Fensterdurchbruch beschädigten Fresko an der Westwand des Naos in der Kirche des ägyptischen Antoniosklosters zu sehen, das 1232/1233 ausgeführt wurde.61 Auch hier ist er jugendlich-bartlos und völlig unmilitärisch wiedergegeben, trägt weder Rüstung noch Waffen, sondern ist gekrönt und hält ein Märtyrerkreuz in der Hand. Zwei weitere Märtyrerkronen werden ihm vom Himmel herab gereicht.62 59  Nafroth,

Das Wort im Bild, S. 243, 247, Abb. 48 auf S. 242. Falck (Hrsg.), Ägypten, Kat.-Nr. 264 auf S. 246–247. 61  Krause, „Karm Abu Mena“, Sp. 1154–1155; Mahmoud Zibawi, L’Arte Copta, Mailand 2003, S. 182, Abb. 238; Elizabeth S. Bolman (Hrsg.), Monastic Visions. Wall Paintings in the Monastery of St. Antony at the Red Sea, New Haven/London 2002, S. 41–42, Abb. 4.6 und 4.7. auf S. 42, S. 117–118; Nafroth, Das Wort im Bild, S. 225–229, Taf. 22, Abb. 40. 62  Im Enkomion heißt es dazu: „Jetzt aber werden dir drei unzerstörbare und unvergängliche Kronen im Namen der heiligen Dreifaltigkeit gegeben, für die du gekämpft hast: eine für deine Jungfräulichkeit, eine für deine christliche Lebensweise und eine andere für dein Martyrium“, s. Nafroth, Das Wort im Bild, S. 226. 60  von



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­ nterhalb des Pferdes sind zwei Kamele gemalt. Das linke trägt einen Kasten U (mit den Reliquien des hl. Menas?) und säugt sein Junges, das rechte hat sich vor einem Rundbau mit Kuppel niedergelassen und scheint mit aufgerissenem Maul dagegen zu protestieren, dass es von seinem Treiber mit einer Peitsche zum Weitergehen gezwungen werden soll. Das Gebäude, in dessen offener Tür eine Hängelampe zu sehen ist, gibt sicherlich das Oratorium wieder, das an der Stelle erbaut wurde, an der sich das Kamel nach der Legende weigerte, seinen Weg fortzusetzen. Als jugendlichen Reiterheiligen, dessen griechisch-koptische Namensbeischrift verloren ist, der aber durch eine arabische Inschrift sowie zwei kleine Kamele unterhalb seines Pferdes identifiziert werden kann, zeigt ihn eine koptische Ikone des 13. Jahrhunderts vom Epistyl der Ikonostase in der Kirche des hl. Merkurios in Kairo.63 Wenn die Datierung korrekt ist, handelt es sich hier um die früheste erhaltene Darstellung des Heiligen als Krieger in Rüstung und bewaffnet mit Lanze und Schild, jedoch von jugendlichem Aussehen. Während die ägyptischen Darstellungen Menas demnach noch bis zum 13. Jahrhundert in der alten Ikonographie in jugendlicher Gestalt zeigen, in einigen Fällen auch als Reiterheiligen, wird er im byzantinischen Gebiet bereits seit dem 10. Jahrhundert als älterer Mann wiedergegeben. Die Darstellung des Heiligen als Reiter mit Rüstung und Waffen kommt erst in spätbyzantinischer Zeit auf und bleibt lange Zeit die Ausnahme. Zu den frühesten Beispielen gehört ein Fresko aus dem 15. Jahrhundert in der Kirche der Panagia hē Koumpelidikē in Kastoria (Abb. 3).64 Der Heilige ist als älterer Mann mit grauem Haar und Vollbart gemalt und reitet auf einem Schimmel, wobei er mit der rechten Hand die Zügel hält und mit der linken den Schild und einen Speer, den er über die Schulter gelegt hat. Seinen durch eine Rüstung geschützten Oberkörper wendet er dem Betrachter zu, den Blick hat Menas jedoch nach vorne gerichtet, was dem Bild zusammen mit der im Winde wehenden Chlamys eine starke Dynamik verleiht. Das erste Denkmal in der Ikonenmalerei, auf dem Menas als Kriegerheiliger auf einem Pferd dargestellt ist, dürfte nach dem bisherigen Kenntnisstand eine byzantinische Ikone aus dem frühen 15. Jahrhundert im Ikonen-Museum Recklinghausen sein (Abb. 4).65 Auf der relativ kleinformatigen Ikone reitet 63  Ebd., S. 229, Taf. 22, Abb. 41; Suzana Skálová/Gawdat Gabra, Icons of the Nile Valley, Giza 22006, Kat.-Nr. 10, S. 184–186. 64  Stylianos Pelekanides, Kastoria I. Byzantinai Toichographiai. Pinakes, Thessaloniki 1953, Taf. 117a; Manolis Chatzidakis, Kastoria (Byzantine Art in Greece), Athen 1985, Abb. 6 auf S. 89. 65  Eva Haustein-Bartsch, Nicht nur vom Himmel gefallen … Ankäufe und Schenkungen für das Ikonen-Museum Recklinghausen seit 1983 (Ausstellungskatalog Mu-

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Abb 3: Hl. Menas als Reiter, 15. Jahrhundert, Fresko, Kastoria, Panagia hē Koumpelidikē. Foto: Eva Haustein-Bartsch.

der hl. Menas auf einem nach links schreitenden Schimmel. In diesem repräsentativen Bildnis ist der Heilige in keine Kampfeshandlung verwickelt, nur der flatternde rote Mantel suggeriert Bewegung. Der Oberkörper des Reiters ist wie auf dem Fresko in Kastoria in eine frontale Ansicht gedreht, aber Menas wendet auch sein Gesicht dem Betrachter zu. Er ist in die auf kretischen Ikonen übliche Soldatentracht gekleidet, die aus einem Panzerhemd seen der Stadt Recklinghausen), Recklinghausen 2004, S. 82, Abb. S. 83; Ivan Benčev, Ikony svjatych pokrovitelej, Moskau 2007, S. 362; Nadežda Gerasimenko/Elena ­Saenkova, Ikony svatych voinov. Obrazy nebesnych zaščitnikov v vizantijskom, balkanskom i drevnerusskom iskusstve, Moskau 2008, S. 91; Eva Haustein-Bartsch/Ivan Bentchev, Ikonen-Museum Recklinghausen, Moskau 2008, Abb. S. 272; HausteinBartsch, Ikonen, Köln 2008, S. 48, Abb. S. 49; Nano Chatzidakis, „Une icône crétoise de saint Georges à cheval au musée du Louvre. La diffusion du thème du saint cavalier ‚en parade‘ dans les icônes crétoises des XVe et XVIe siècles“, in: La Revue des Museés de France. Revue du Louvre, Bd. 4 (2014), S. 58–69, hier S. 65–67, Abb. 9 auf S. 65; Iōanna Christoforakē, „Mia (schedon) agnōstē krētikē eikona tou hagiou Martinou sto Mouseio Petit Palais tou Parisiou“, in: Aferōma ston Akadēmaïko Panagiōtiē L. Bokotopoulo, Athen 2015, S. 617–628, Abb. 8 auf S. 622; HausteinBartsch, Von Drachenkämpfern, S. 153–154, Abb. S. 155. Im Kloster des hl. Johannes des Theologen auf Patmos wurde bei der Restaurierung eine ikonographisch sehr ähnliche Ikone freigelegt, die ins 16. Jahrhundert datiert wird, s. Archimandrit Antipas Nikitaras, Reiseführer für das Kloster des Heiligen Johannes des Theologen auf Patmos, Patmos 2016, S. 93.



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Abb. 4: Hl. Menas auf dem Pferd, Griechenland (Kreta), Mitte 15. Jahrhundert, Eitempera auf Holz, 27,3 × 22 cm, Dauerleihgabe von EIKON. Gesellschaft der Freunde der Ikonenkunst e. V. im Ikonen-Museum Recklinghausen seit 2003 (Inv.-Nr. 1120). Foto: Jürgen Spiler.

aus einzelnen Metallplättchen und einem Rock aus Lederzungen und Stiefeln aus Lederbändern besteht. In der rechten Hand hält der Heilige eine lange Lanze mit der Spitze nach oben, an seiner Hüfte hängt ein leicht gebogenes Schwert und auf dem Rücken ein runder Schild. Mit der Linken hält er die Zügel. Die Haltung des Pferdes, das in gemessenem Schritt, mit leicht erhobenem rechtem Vorderbein verharrt, kann auf eine lange Tradition zurückblicken. Sie lässt sich über Pferdedarstellungen in der venezianischen Malerei des 14. Jahrhunderts, die sich wiederum von den frühbyzantinischen Bronze-

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pferden von San Marco66 inspirieren ließen, über byzantinische und römische Kaiserbilder67 bis in die antike Münzglyptik zurückverfolgen. Schon damals bildeten sich zwei Grundtypen heraus: einerseits der repräsentative Adventus des reitenden Kaisers im Triumph nach einem errungenen Sieg auf einem schreitenden Pferd,68 andererseits der so genannte Virtus Augusti-Typus mit dem kämpfenden Kaiser, der über einen am Boden liegenden Feind bzw. einen Löwen hinwegsprengt und ihn mit einer Lanze durchbohrt.69 Auf diese Variante gehen die Darstellungen der Reiterheiligen zurück, die im Kampf mit dem Drachen wie der hl. Georg oder einem feindlichen König wie der hl. Demetrios von Thessaloniki dargestellt werden.70 Die meisten Ikonen mit der Darstellung des hl. Menas als Reiter stammen jedoch aus der Spätzeit der Ikonenmalerei. Besonders beliebt waren sie in Bulgarien während der Wiedergeburtszeit, d. h. während des Befreiungskampfes gegen die osmanische Besatzung im 19. Jahrhundert. Ein typisches Beispiel ist eine großformatige Ikone aus dem Museum in Varna am Schwarzen Meer (Abb. 5),71 auf der Menas in Rüstung und mit im Wind flatternder Chlamys auf einem braunen Pferd in repräsentativer, aber nicht frontaler, Haltung gemalt ist. Er hält mit der rechten Hand einen roten Wimpel mit einem goldenen Kreuz und wird von einem Engel mit einem Märtyrerkranz gekrönt. Rechts oben in einem gelben Feld zwischen Wolken erscheint das Auge Gottes in einem Dreieck nach westlichem Vorbild. Auch in der realistischen Wiedergabe der Landschaft und einer Stadt, die von einer mächtigen Stadtmauer umgeben ist, sind abendländische Einflüsse wirksam. Kamele werden in der byzantinischen und postbyzantinischen Ikonographie des hl. Menas nicht mehr dargestellt. Eine Reminiszenz an die Legende von den kamelartigen Monstern, die das Schiff mit den Reliquien des Heiligen auf See angriffen, könnten höchstens die beiden eher Hunden ähnlichen 66  Die Pferde von San Marco. Ausstellung im Martin-Gropius-Bau, 8. März bis 25. April 1982, Berlin 1982. 67  Ebd., z. B. Abb. 36 auf S. 60. 68  Klaus Wessel, Art.: „Kaiserbild“, in: ders. (Hrsg.), Reallexikon zur byzantinischen Kunst, Bd. III, Sp. 722–853, hier Sp. 789–796; André Grabar, L’empereur dans l’art byzantin, London 1971, S. 45–54. 69  Wessel, „Kaiserbild“, Sp. 796–799. 70  Richard Zacharuk, Darstellung der Kriegerheiligen in der orthodoxen Kunst, phil. Diss., Marburg 1988, S. 142–187, Kat.-Nr. 174–238. 71  Eva Haustein-Bartsch/Konstantin Ugrinov, Wunder des Lichts. Ikonen aus Recklinghausen und Varna (Ausstellungskatalog Dordrecht und Recklinghausen), Dordrecht 2014, S. 216, Abb. S. 217; Tamara Popova, Varnenski ikoni – Icons from Varna, Varna 2008, Kat.-Nr. 83, S. 59, weitere Ikonen des hl. Menas auf dem Pferd s. Kat.-Nr. 58, 65, 127 und in: Atanas Božkov, Bŭlgarskata ikona, Sofia 1984, Abb. 267– 268, 353, 369, alle aus der Mitte des 19. Jahrhunderts.



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Abb. 5: Hl. Menas auf dem Pferd, Bulgarien, 19. Jahrhundert, Eitempera auf Holz, 107 × 81 cm, Metropolie von Varna und Preslav (Inv.-Nr. 408-M). Foto: Garo Keshishan.

Wesen auf einer volkstümlichen griechischen Ikone des 18. Jahrhunderts aus dem Ikonen-Museum Recklinghausen sein, die der auf einem Schimmel reitende Heilige an Leinen hält,72 bzw. die Darstellung auf einer serbischen Ikone des 19. Jahrhunderts, auf der das Ungeheuer – wahrscheinlich in Unkenntnis der ursprünglichen Legende – ganz in einen kleinen Hund verwandelt ist.73 Nach einem halben Jahrtausend wird der hl. Menas im 18. Jahrhundert auch in Ägypten wieder auf Fresken und vor allem auf Ikonen abgebildet. Die Maler knüpfen jedoch nicht an die alte ägyptische Tradition an, die den Heiligen stets jugendlich sowie mit den Kamelen zeigte, sondern Menas wird nun wie in Byzanz und Osteuropa ebenfalls als alter Mann auf einem Pferd reitend dargestellt, jedoch meist mit schulterlangem Haar und einer Märtyrer72  Haustein-Bartsch 73  Svetozar

(Hrsg.), Von Drachenkämpfern, Kat.-Nr. 78 auf S. 156. Radojčić, Zbirka ikona Sekulić, Belgrad 1967, Kat.-Nr. 32.

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krone auf dem Haupt. In stark abstrahierendem Stil ist er in dieser Gestalt auf einem Fresko von 1712/1713 in der Narthexkuppel des Paulusklosters am Roten Meer wiedergegeben.74 Er scheint nicht bewaffnet zu sein. In die freien Flächen zwischen den Beinen seines Pferdes sind drei eigenartige zweibeinige Tiere eingefügt, die mit ihren großen Schnäbeln und fächerförmigen Schwänzen mehr Enten als Kamelen gleichen und mit den Seeungeheuern aus dem Enkomion zu identifizieren sein dürften. Insbesondere auf koptischen Ikonen des 18. Jahrhunderts ist Menas als Reiterheiliger populär. Auf einer von Ibrahim al-Nasikh (dem Schreiber) 1772 für die Menas-Kirche in Kairo geschaffenen Ikone75 trägt Menas eine Märtyrerkrone, Soldatentracht und Waffen und ersticht mit seiner Lanze einen Teufel oder Drachen, der das Böse an sich symbolisiert, denn Quellen, die von einem Drachenkampf sprechen, gibt es nicht.76 Kamele sucht man vergebens. Interessanter sind jedoch Ikonen, bei denen der Kampf des hl. Menas gegen das Böse durch eine anderswo nur sehr selten zu findende Szene erweitert ist, besonders auf Ikonen der beiden bedeutenden Maler Ibrahim al-Nasikh und Yuhanna al-Armani (der Armenier), die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zusammen in einer Werkstatt arbeiteten.77 Zwei Beispiele sollen genannt werden: eine 1781 von Yuhanna al-Armani signierte Ikone aus der Muttergotteskirche Qasriat al-Rihan in Kairo78 sowie eine undatierte und demselben Maler zugeschriebene Ikone mit einem gemalten farbigen Zickzackrahmen aus der Kirche des hl. Menas in Kairo, die im Koptischen Museum aufbewahrt wird.79 Im Hintergrund dieser Ikonen sieht man Kirchengebäude und auf der rechten Seite in kleinerem Maßstab zwei Männer, 74  Nafroth,

Das Wort im Bild, S. 229–230, 253 und Taf. 22, Abb. 42. Mulock/Martin Telles Langdon, The Icons of Yuhanna and Ibrahim the Scribe, London 1946, S. 38, Taf. 9 auf S. 39; Nafroth, Das Wort im Bild, S. 251 (­Menas Nr. 12). 76  Nafroth, Das Wort im Bild, S. 230–231 spricht von einem Drachen, doch der Menschen ähnlich dargestellte Körper mit Krallen an Händen und Füßen lässt eher an Teufelsbilder denken als an einen Drachen, wie er z. B. beim hl. Georg vorkommt, und dürfte ganz allgemein ein Sinnbild für das Böse schlechthin sein. Weitere Ikonen dieser Art in: Nabil Selim Atalla, Coptic Icons, in 2 Bdn., Bd. I, Barcelona 1998, S. 108 (Ikone von Ibrahim al-Nasikh), S. 141 (linke Ikone von Yuhanna al-Armani, die rechte von Ibrahim), S. 142 (rechte Ikone von Astasi) und Bd. II, S. 140 (Ikone von Yuhanna al-Armani, 1781). 77  Paul van Moorsel/Mat Immerzeel, Catalogue général du musée copte. The Icons, Kairo 1994, S. 16–18. 78  Mulock/Telles Langdon, The Icons of Yuhanna and Ibrahim the Scribe, S. 52, Taf. 16 auf S. 53; Nafroth, Das Wort im Bild, S. 251 (Men 13). 79  Moorsel/Immerzeel, Catalogue général, S. 39–40, Taf. D, Abb. 39; Nafroth, Das Wort im Bild, S. 230–232, Taf. 23, Abb. 43. 75  Cawthra



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die auf eine Kapelle zugehen. Die Szene gibt eine Legende aus den „Wunderberichten“ wieder, die von einem Christen erzählt, der, vom Teufel verleitet, das ihm anvertraute Eigentum eines Juden unterschlug und einen Meineid in der Kirche des hl. Menas leistete.80 Auf dem Rückweg verlor der Christ den Schlüssel zu seiner Schatztruhe, doch sein Diener erhielt ihn von einem unbekannten Reiter (offensichtlich dem hl. Menas) und brachte ihn seinem Herrn zurück. Durch dieses Wunder bereute der Christ seinen Meineid; der Jude hingegen bekehrte sich zum christlichen Glauben und spendete die Hälfte seines Vermögens an das Heiligtum des hl. Menas. Der Grund, warum im 18. Jahrhundert Menas auch in Ägypten nicht mehr als jugendlicher, bartloser Märtyrer, sondern als älterer Reiterheiliger dargestellt wurde, dürfte in der Herkunft der Ikonenmaler liegen. Nach einer jahrhundertelangen Vakanz-Zeit wurde die Ikonenmalerei durch die berühmten Maler Ibrahim al-Nasikh, Yuhanna al-Armani sowie Girgis und Astasi alRumi wiederbelebt, die auch viele Ikonen des hl. Menas malten. Einige dieser Maler kamen aus dem Ausland: Yuhanna entstammte wohl einer armenischen Familie in Jerusalem, Girgis (Georg) und Astasi (Anastasios), die im 19. Jahrhundert in Ägypten arbeiteten, kamen vermutlich aus Griechenland. In ihren Werken verwendeten sie die in der postbyzantinischen Kunst übliche Physiognomie des in Ägypten schon lange vergessenen hl. Menas als altem Mann. Vita-Ikonen Die äußerst seltenen Vita-Ikonen des hl. Menas, die es im griechischen und im russischen Raum gibt, stammen sämtlich aus dem 17. Jahrhundert. In der griechischen Ikonenmalerei ist nur ein Beispiel bekannt, das sich in der Sammlung des Istituto Ellenico in Venedig befindet.81 Die Ikone, die von dem bekannten Maler Emmanouel Lampardos aus Kreta signiert ist und in den Beginn des 17. Jahrhunderts datiert werden kann, ist vertikal in drei Streifen unterteilt. Im mittleren, etwas breiteren Bildfeld steht der Heilige vor einem goldenen Hintergrund auf einem Fliesenfußboden. Er ist als alter 80  Die Legende wird als achtes Wunder in den „Wunderberichten“ erwähnt, s. Nafroth, Das Wort im Bild, S. 231; dort auf S. 232 eine Übersetzung des koptischen Textes. Die Szene wurde auch in die Lese-Menäen des Dimitrij von Rostow (1651– 1709) übernommen und ist auf einem Randfeld der weiter unten besprochenen Ikone von Emmanouel Lambardos dargestellt. 81  Manolis Chatzidakis, Icônes de Saint-Georges des Grecs et de la Collection de l’Institut, Venedig 1962, Kat.-Nr. 54 auf S. 83, Taf. 43; Manusos I. Manoussacas/Ath. Paliouras, The Hellenic Institute of Byzantine and post-byzantine Studies in Venice. Guide to the Museum of Icons and the Church of St. George, Venedig 1976, Kat.Nr. 31, Abb. X.

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Mann mit weißem Haar und Vollbart wiedergegeben und in das übliche militärische Gewand gekleidet, mit einer roten Chlamys, die über seinen Rücken hinabfällt. In der rechten Hand hält er eine lange Lanze, in der linken das Märtyrerkreuz sowie einen goldenen Schild. Seine militärische Ausrüstung wird durch ein Schwert vervollständigt, das an einem diagional über die Brust geführten roten Band hängt. Je drei Wunderszenen sind in den beiden vertikal angeordneten Bildstreifen zu seinen Seiten wiedergegeben. Sie sind dem Text des Synaxarions vom 11. November entnommen82 und stellen in derselben Reihenfolge wie dort folgende Begegebenheiten dar, die auf Griechisch beschriftet sind: Links sind von oben nach unten folgende Szenen zu sehen: 1. Der Heilige fügt durch sein Gebet die zerstückelten Glieder eines von einem Wirt getöteten Mannes wieder zusammen. 2. Die wunderbare Entdeckung des Sklaven an einer verlassenen Küste, der das dem hl. Menas geweihte Gefäß brachte. 3. Eine vergewaltigte Frau erlangte ihre Unberührtheit wieder, nachdem sie den Heiligen zu Hilfe gerufen hatte. Auf der rechten Seite sind weitere Wunder sowie sein Martertod gemalt: 4. Der Heilige heilt einen Lahmen und eine stumme Frau. 5. Da er die Ungerechtigkeit hasste, schickte er einen Sklaven mit der Börse des Juden. 6. Die Enthauptung des hl. Märtyrers Menas. Während auf der griechischen Ikone mit Ausnahme der Enthauptung nur posthume Wunder wiedergegeben sind, findet man auf einer großformatigen nordrussischen Ikone, deren in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gemalte zwölf Randfelder eine kleine Menas-Ikone aus dem 16. Jahrhundert umschließen, Szenen aus dem Leben des Heiligen, wobei vor allem sein Martyrium ausführlich geschildert wird.83 Sowohl die Marterszenen als auch sechzehn Wunder – darunter jene, die wir bereits von der kretischen Ikone her kennen – sind auf einer weiteren Vita-Ikone aus derselben Zeit dargestellt, die sich im Russischen Museum in St. Petersburg befindet.84 Im Zen­ trum der Ikone steht der Heilige in seitlicher Wendung und mit erhobenen Händen im Gebet vor Christus, der ihm von einem Himmelssegment in der 82  Žitija svjatych na russkom jazyke izložennyja po rukovodstvu čet’ich-minej sv. Dimitrija Rostovskago, Bd. 3 (11. November), Moskau 1905, S. 211–216. 83  Olga Vešnjakova (Hrsg.), Ikony Russkogo Severa. Šedevry drevnerusskoj živopisi Archangel’skogo Muzeja izobrazitel’nych iskusstv, in 2 Bdn., Bd. 2, Moskau 2007, Kat.-Nr. 138 auf S. 176–185. 84  Kłokowa, Rosyjskie Malarstwo Ikonowe, S. 192–195.



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linken oberen Bildecke den Segen erteilt. Seine Waffen hat Menas vor sich auf die Erde gelegt. In der Ikonographie des hl. Menas konnten wir die Entwicklung von seiner Darstellung im ersten Jahrtausend, die stets einen jugendlichen Märtyrer ohne Waffen und in Orantenhaltung zwischen zwei Kamelen zeigt, über mittelbyzantinische Bilder eines würdevollen, bärtigen hohen Beamten und seiner seit spätbyzantinischer Zeit üblichen Wiedergabe als bewaffneten und gerüsteten Kriegerheiligen verfolgen, der seit dem 15. Jahrhundert immer häufiger auf einem Pferd reitet. So erweist sich die ikonographische Wandlung des hl. Menas als hervorragendes Beispiel für das allgemeine Phänomen der Militarisierung der Heiligen, über deren Ursachen – auch in seinem Fall – noch viel zu forschen bleibt.

Der merowingische Heilige als Krieger Von Laury Sarti Der merowingische König Chlodwig I. († 511) gründete mit Hilfe militärischer Expansionen nicht nur das erste fränkische Großkönigreich, er war auch der erste nachrömerzeitliche Herrscher in Westeuropa, der sich katholisch taufen ließ. Bis zum Ende der Merowingerzeit lassen sich zwei parallel verlaufende Entwicklungen feststellen: die Christianisierung des Krieges (Anpassung kriegerischer Vorgehensweisen und der zeitgenössischen Wahrnehmung von Kriegshandlungen an die christlichen Normen und Werte usw.) auf der einen und die Militarisierung des Christentums (Eindringen militärischer Konzepte, Begrifflichkeiten und Werte in die religiös-christliche Traditionen usw.) auf der anderen Seite.1 Beide Prozesse näherten sich kontinuierlich an, ohne dass es bis zur Mitte des 8. Jahrhunderts zu einer Berührung kam. Wie der Mediävist František Graus bereits herausstrich, blieb selbst der militärische Heilige im kriegsgeplagten Frühmittelalter grundsätzlich pazifistisch.2 Kein Gottesmann wurde in der Merowingerzeit kämpfend mit einer weltlichen Waffe in der Hand dargestellt. Dennoch wurden das Weltliche und das Geistliche eng miteinander verknüpft. Ziel dieses Beitrages ist, am Beispiel der Darstellung des Heiligen in den merowingischen Quellen das weniger beachtete Phänomen der Militarisierung des Christentums zu diskutieren. Die Untersuchung möchte aufzeigen, 1  Thomas Scharff, „Karolingerzeitliche Vorstellungen vom Krieg vor dem Hintergrund der romanisch-germanischen Kultursynthese“, in: Dieter Hägermann/Wolfgang Haubrichs/Jörg Jarnut (Hrsg.), Akkulturation. Probleme einer germanisch-romanischen Kultursynthese in Spätantike und frühem Mittelalter (Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde, 41), Berlin/New York 2004, S. 473– 490, hier S. 479. Im vorliegenden Beitrag werden einige Ergebnisse aus meinem Buch Perceiving War and the Military in early Christian Gaul (ca. 400–700 AD) (Early Middle Ages Series, 22), Leiden/Boston 2013 aufgegriffen und erweitert. Der Aufsatz entstand im Rahmen des an der Freien Universität Berlin angesiedelten Projekts Militarisierung frühmittelalterlicher Gesellschaften. Erscheinungsformen, Regulierung und Wahrnehmung im westeuropäischen Vergleich, finanziert von der FritzThyssen-Stiftung. Frau Maria Kammerlander möchte ich sehr herzlich für die gewissenhafte Korrektur danken. 2  František Graus, Volk, Herrscher und Heiliger im Reich der Merowinger: Studien zur Hagiographie der Merowingerzeit, Prag 1965, S. 367–368.

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dass obwohl Heilige niemals die Funktion des Kriegers übernahmen, sie grundsätzlich auch militärische Ideale und Wertvorstellungen verkörpern konnten. Hierzu wird zuerst die Entwicklung der Heiligendarstellung im merowingischen Gallien mit Blick auf militärische Aspekte nachgezeichnet. Ein zweiter Abschnitt zeigt auf, inwiefern die geistliche als Spiegelbild der weltlichen Welt dargestellt wurde, wobei jeweils auch militärische Wertvorstellungen zum Tragen kamen. Die beiden abschließenden Abschnitte fragen nach den Zielen hinter diesen Heiligendarstellungen, und welche Schlüsse die Befunde mit Blick auf die merowingische Gesellschaft zulassen. Militärische Aspekte in der merowingischen Heiligendarstellung Keine Heiligendarstellung prägte die merowingische Hagiographie wie die im späten 4. Jahrhundert von Sulpicius Severus († 420/425) verfasste Vita des hl. Martin von Tours († 397). Darin schildert der Autor, wie Martin seinen Caesar Julian darum bat, ihn aus dem Militärdienst zu entlassen. Er sei nun lange genug sein Soldat gewesen; nun sei es für ihn an der Zeit, Gottes Kämpfer zu werden. Martin habe seinem Caesar schließlich erklärt: „Ich bin [nun] ein Soldat Christi, das Kämpfen ist mir nicht erlaubt.“3 Die Funktion des Kriegers und die Rolle des Geistlichen oder Heiligen werden hier als miteinander unvereinbar dargestellt. Ein solcher Gegensatz findet sich auch in späteren Quellen. Obwohl sich die Kirchenväter nie einig über die Legitimität von Krieg waren, wird in den spätantiken und merowingischen Texten grundsätzlich eine pazifistische Haltung vertreten. Diese ist z. B. eindrücklich dargelegt in der Vita des hl. Germanus von Auxerre († 448) aus dem späten 5. Jahrhundert. Sie beschreibt eine Schlacht, die mit Hilfe des kämpferischen Ausrufs „Alleluja“ mit einem unblutigen Sieg gegen die Pikten und Skoten beendet wurde.4 Ähnlich lässt sich auch die Darstellung der Vernichtung der 3  Sulpicius, Vita Martini 4.2–3, in: „Vita sancti Martini“, hrsg. v. Karl Halm, Sulpici Severi opera. Libri qui supersunt (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum, 1), Wien 1866, S. 114: Tum uero oportunum tempus existimans, quo peteret missionem […] hactenus, inquit ad Caesarem, militaui tibi: patere ut nunc militem Deo; […] Christi ego miles sum: pugnare mihi non licet. Martins Verweigerung der Gewaltanwendung wird weiter illustriert in: Sulpicius, Vita Martini 15; Sulpicius, Dialogi II 3.1–5, in: „Dialogi“, hrsg. v. Halm, Sulpici Severi opera, S. 152–216, hier S. 183. S. hierzu auch Louis J. Swift, „Early Christian Views on Violence, War, and Peace“, in: Kurt A. Raaflaub (Hrsg.), War and peace in the ancient world, Malden 2007, S. 279–296, hier S. 292. 4  Constantius, Vita Germani 17–18, in: „Vita Germani episcopi Autissiodorensis auctore Constantio“, hrsg. v. Bruno Krusch/Wilhelm Levison, Passiones vitaeque sanctorum aevi Merovingici (IV) (Monumenta Germaniae Historia, Scriptores rerum Merovingicarum, 7), Hannover/Leipzig 1920, S. 225–283.



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sogenannten Thebäischen Legion des Eucherius von Lyon († 450) interpretieren, deren Mitglieder sich weigerten, gegen andere Christen militärisch vorzugehen.5 Der Gegensatz zwischen dem Krieger und dem Geistlichen rsp. Heiligen löste sich nur sehr allmählich auf, ein Prozess, der sich auch anhand eines Vergleichs der ursprünglichen Vita des Sulpicius Severus mit den späteren Darstellungen des Heiligen Martin nachvollziehen lässt.6 Eine Annäherung der Heiligendarstellung an weltliche Wertvorstellungen lässt sich in Gallien seit dem späten 6. Jahrhundert feststellen. In einem an den Bischof Vilicus († ca. 566) gerichteten Gedicht über dessen Stadt Metz lobt der Dichter und spätere Bischof Venantius Fortunatus († ca. 600/610) nicht nur deren Befestigung, sondern auch ihren Bischof, der, so Fortunatus, „ausgezeichnet mit himmlischen Waffen gekämpft“ habe.7 Über den Bischof Germanus von Paris († 576) schreibt Fortunatus, er sei „ein Soldat, schnell in Waffen, sobald er das Signal vernimmt“ und er fährt fort, dass „unter der Leitung des Germanus [..] dieses Heer erfolgreich“ sei.8 Fortunatus geht so weit zu behaupten, der Heilige habe als Fötus gegen die Abtreibungsversuche der eigenen 5  Eucherius, Passio Acaunensium 5, in: „Passio Acaunensium martyrum auctore Eucherio episcopo Lugdunensi“, hrsg. v. Bruno Krusch, Passiones vitaeque sanctorum aevi Merovingici (Monumenta Germaniae Historia, Scriptores rerum Merovingicarum, 3), Hannover 1896, S. 33–41. S. auch Christopher J. Holdsworth, „ ‚An airier aristocracy‘: the saints at war“, in: R. R. Davies/Jane Martindale/Steve Gunn/Joseph C. Heim/P. J. Marshall/John Gillingham/Peter Cross/David Crouch (Hrsg.), Transactions of the Royal Historical Society: Sixth Series, Cambridge 1996, S. 103–122, hier S. 108. 6  Ein solcher Vergleich findet sich in: Raymond van Dam, „Images of Saint Martin in Late Roman and Early Merovingian Gaul“, in: Viator, Bd. 19 (1988), S. 1–27. Bereits der Dichter und spätere Bischof Venantius Fortunatus, der sich wie auch Gregor von Tours kaum für dessen weltliches Leben interessierte, verwendet in seiner Vita sancti Martini gerne kriegerische Charakterisierungen und Terminologie, so z. B.: vir transcripte potens aeterna in saecula civis;/ signifer arma crucis fers nobilitate triumphis. Fortunatus, Vita Martini 2, ll. 465–466, in: „Vita sancti Martini“, hrsg. v. Leo Friedrich, Venanti Honori Clementiani Fortunati presbyteri italici. Opera poetica (Monumenta Germaniae Historia, Auctores antiquissimi, 4,1), Berlin 1881, S. 293– 370, hier S. 329. 7  Fortunatus, Carmina 313, l. 1518, hrsg. v. Friedrich, Venanti Honori Clementiani Fortunati, S. 66: urbs munita nimis, quam cingit murus et amnis,/ pontificis merito stas valitura magis:/ Vilicus, aetheriis qui sic bene militat armis,/ stratus humi genibus te levat ille suis. 8  Ebd., 2.9, ll. 27 und 71, S. 38–39: miles ad arma celer, signum mox tinnit in aures […] sub duce Germano felix exercitus hic est. Hierzu auch Brian Brennan, „The image of the Merovingian bishop in the poetry of Venantius Fortunatus“, in: Journal of Medieval History, Bd. 18 (1992), S. 115–139, hier S. 127; Michael John Roberts, The humblest sparrow. The poetry of Venantius Fortunatus, Ann Arbor 2009, S. 138.

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Mutter gerungen und durch sein eigenes Überleben diese davor bewahrt, zur Mörderin zu werden.9 Auch die ersten Entwürfe für den militärisch aktiven Heiligen reichen in das späte 6. Jahrhundert. In seinem Werk De passione et virtutibus sancti Iuliani Martyris berichtet der Bischof Gregor von Tours († ca. 594), wie ein gewisser Hillidius die Bewohner von Brioude vor einer Gruppe burgundischer Krieger rettete, die das Dorf und die Kirche plünderten. Laut Gregor hatte eine Taube Hillidius zur plündernden Meute geführt, die er nun zusammen mit seinem Gefolge niederschlug. Anschließend habe er die Gefangenen frei gelassen und sei in Begleitung des Gesangs der Menge und wie ein „neuer Moses“ zum Grab des Heiligen zurückgekehrt, wo er mit einer Freude empfangen worden sei, die sich mit jener der Israeliten beim Untergang der Ägypter vergleichen ließe.10 Die Taube, der Vergleich mit Moses sowie die Gleichsetzung der Befreiten mit den Israeliten zeigen, dass, obwohl Hillidius nicht explizit als Heiliger stilisiert wurde, er mehr war als nur ein positives Beispiel für den Krieger.11 Die merowingische Heiligendarstellung enthält auch heroische Momente.12 Um 680 beschreibt z. B. Audoin von Rouen († 684) in seiner Vita Eligii, wie 9  Fortunatus, Vita Germani 2–3, in: „Vita sancti Germani“, hrsg. v. Bruno Krusch, Venanti Honori Clementiani Fortunati presbyteri italici. Opera pedestria (Monumenta Germaniae Historia, Auctores antiquissimi, 4.2), Berlin 1885, S. 11–27, S. hier 11: Cuius genetrix […] cupiebat ante partum infantem extinguere, et accepta potione, ut abortivum proiceret, nec noceret, incubabat in ventre, ut pondere praefocaret, quem veneno non laederet. Certabatur mater cum parvulo, renitebat infans ab utero: erat ergo pugna inter mulierem et viscera. Laedebatur matrona nec nocebatur infantia; obluctabatur sarcina, ne genetrix fieret parricida. 10  Gregor, De passione 7, in: „De passione et virtutibus sancti Iuliani Martyris“, hrsg. v. Bruno Krusch/Wilhelm Arndt, Gregorii Turonensis opera. Miracula et opera minora (Monumenta Germaniae Historia, Scriptores Rerum Merovingicarum, 1.2), Hannover 1969, S. 112–134, hier S. 117–118: Tunc quidam a Vellavo veniens et, ut aiunt, commonitione columbae alitis incitatus, super eos inruit. Hortatosque socios, ita hostes ad internitionem caecidit, ut, captivis laxatis, triumphans in laude martyris, amne transmisso, ad beatam cellulam tamquam novus Moyses cum omni populo canendo revertitur: nec minor, ut arbitror, exultatio fuit ereptis, quam quondam Israhelitis dimersis fuit Aegyptiis. Vgl.: Exod. 14.31, 15.1–7. 11  Positive Beispiele oder Vorbilder für den Krieger gibt es in der merowingischen Überlieferung kaum, s. Laury Sarti, „The Military, the Clergy and Christian Faith in sixth-century Gaul“, in: Early Medieval Europe, Bd. 25 (2017), S. 162–185, insbes. S. 165–168. 12  S. Martin Heinzelmann, „Wandlungen des Heiligentypus in der Merowingerzeit? Eine Stellungnahme“, in: Dieter Hägermann/Wolfgang Haubrichs/Jörg Jarnut (Hrsg.), Akkulturation. Probleme einer germanisch-romanischen Kultursynthese in Spätantike und frühem Mittelalter (Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde, 41), Berlin/New York 2004, S. 335–339, hier S. 338. Vgl. Graus, Volk, Herrscher und Heiliger, S. 365.



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der Heilige von Anhängern des maior domus Erchinoald mit dem Tode bedroht wurde, als dieser geleitet durch den Wunsch nach der Märtyrerpalme sich in die Mitte der Meute begab, um nun mit besonderem Nachdruck zu predigen.13 Die merowingische Heiligendarstellung, die einer Beschreibung eines weltlichen Kriegers am nächsten kommt, ist mit der im frühen 8. Jahrhundert entstandenen Vita vetustissima des Bischofs Lambert von Lüttich († 705) überliefert.14 Sie berichtet, wie „Der Bischof [..] noch nicht in festen Schlaf versunken [war], aber erwartete nun glücklich zu entschlummern. […] Doch als er [den Überfall] vom Boten vernahm, stand er schleunigst auf; der Bischof Lambert, der überaus starke Krieger, ergriff sofort, noch mit bloßen Füßen, das Schwert mit seinen Händen, um gegen seine Feinde im Kampfe vorzugehen.“

Daraufhin habe er den Rat des Herrn zur Milde erhalten und „ohne zu zögern, schleuderte er das Schwert aus den Händen auf die Erde und sprach: ‚Würde ich fliehen, könnte ich das Schwert vermeiden; würde ich aber kämpfend widerstehen, würde ich entweder fallen oder siegen. Aber werde ich nicht einstmals diesen Sieg wieder verlieren? Besser steht es mir an, im Herrn zu sterben als mich gegen die Hände der Feinde kriegerisch zu erheben!‘ “15 Damit habe er sich seinem Schicksal ergeben. Obwohl Lambert 13  Audoin, Vita Eligii 2.20, in: Vita Eligii episcopi Noviomagensis, hrsg. v. Bruno Krusch, (Monumenta Germaniae Historia, Scriptores Rerum Merovingicarum, 4), Hannover 1904, S. 663–742, hier S. 711–712: Quod cum Eligius cognovisset, ingenti martyrii desiderio stimulatus, surrexit concite et praecepit suis omnibus, ut nullus eum praeter duobus clericis atque uno diacone sequeretur. Venit ergo per medias populorum turbas, et stans in quodam eminenti loco ante basilicam, coepit instantius praedicare, vehementer obiurgans populum. Ähnlich auch: Passio Leudegarii prima 21 und 24, in: Passio prima Leudegarii episcopi Augustodunensis, hrsg. v. Bruno Krusch (Monumenta Germaniae Historia, Scriptores Rerum Merovingicarum, 5), Hannover/Leipzig 1910, S. 282–322. Die Vita Eligii wurde jüngst wieder in das 7. Jahrhundert datiert, s. Clemens M. M. Bayer, Art.: „Vita Eligii“, in: Heinrich Beck/ Dieter Geuenich/Rosemarie Müller, Heiko Steuer (Hrsg.), Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 35, Berlin u. a. 2007, S. 461–524. 14  „Vita Landiberti episcopi traiectensis vetustissima“, hrsg. v. Bruno Krusch, Passiones vitaeque sanctorum aevi Merovingici et antiquorum aliquot (Monumenta Germaniae Historia, Scriptores Rerum Merovingicarum, 6), Hannover/Leipzig 1913, S. 353–384. 15  Ebd. 14, S. 367–368: ‚Que pontifex […] adhuc expectabat felice somno dormire, nesciens, quod ad agonem properaturus esset. Sed, hoc audito nuntio, vellocissime surgens, tunc sacerdus ilico Landibertus, discalciatis pedibus, fortissimus proeliator, continuo adprehenso gladio in manibus suis, ut contra hostes suos pugnaturus accederet; et Christus, quem semper in auxilium sibi postolaverat, non longe ab illo erat. Sed apud altissimum consilium inhiit sempiternum mansurum, tacita mente confisus in Domino; nec mora commutans, gladio de manibus proiecit ad terram, ait: ‚Si fugiero, gladium devitavi; et si perstitero, aut cadendum mihi est aut vincendum est. Sed nec aliquando perdam victoriam: melius est mihi mori in Domino, quam super

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demnach das Kämpfen gelernt hatte und auch ein Kampf mit seiner Rolle als Bischof nicht als grundsätzlich unvereinbar dargestellt wird, wird auch hier eine pazifistische Haltung bevorzugt. Lambert schlägt die Möglichkeit einer Flucht gleich aus und es scheint fast, als habe er den Vorwurf der Feigheit vermeiden wollen und darum den Tod durch die Hand des Feindes bevorzugt. Eine irdische und eine himmlische Welt Die Quellen heben gelegentlich das Heroische im Verhalten des Heiligen hervor. Im Laufe der Merowingerzeit wurde der Heilige damit zunehmend als geistliche Entsprechung des weltlichen Kriegers gezeichnet: ähnlich wie Gott im Himmel – als rex aeternus (ewiger König)  – mit dem König auf Erden, wurde auch der Heilige – als miles Christi (Soldat Christi) – mit dem weltlichen Krieger verglichen, z. B. indem Terminologien und Metaphern aus dem Bereich des Militärischen für seine Charakterisierung verwendet wurden. Dieser Vergleich zwischen dem Heiligen und dem Krieger wurde dadurch erleichtert, dass sich das Wort militia nicht nur auf den Militärdienst, sondern auf jede Art des Dienstes beziehen konnte:16 Der Krieger repräsentierte die militia saecularis, der Heilige die militia spiritualis.17 Mit dem gleichen Ziel des Vergleichs wurde der Heilige auch gerne als Rekrut oder als Veteran bezeichnet, oder auch mit belliger, proeliator oder pugnator als iniquis manibus bellaturus iniecere‘. Übersetzung nach Wolfgang Haubrichs, „Emo­ tionen vor dem Tode und ihre Ritualisierung“, in: C. Stephen Jaeger/Ingrid Kasten (Hrsg.), Codierungen von Emotionen im Mittelalter. Emotions and Sensibilities in the Middle Ages (Trends in Medieval Philology, 1), Berlin 2003, S. 70–97, hier S. 84. S. hierzu auch: Georg Scheibelreiter, „Der Tod Landberts von Maastricht“, in: Natalie Fryde/Dirk Reitz (Hrsg.), Bischofsmord im Mittelalter. Murder of Bishops (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte), Göttingen 2003, S. 51–82. 16  Michael Alexander Speidel, „Militia. Zum Sprachgebrauch und Militarisierung in der kaiserzeitlichen Verwaltung“, in: Anne Kolb (Hrsg.), Herrschaftsstrukturen und Herrschaftspraxis: Konzepte, Prinzipien und Strategien der Administration im römischen Kaiserreich. Akten der Tagung an der Universität Zürich, Berlin 2006, S. 263– 268. 17  Adolf von Harnack, Militia Christi. Die christliche Religion und der Soldatenstand in den ersten drei Jahrhunderten, Tübingen 1905. So z. B. Vita Audoini 3, in: „Vita Audoini Episcopi Rotomagensis“, hrsg. v. Bruno Krusch, Passiones vitaeque sanctorum aevi Merovingici (Monumenta Germaniae Historia, Scriptores Rerum Merovingicarum, 5), Hannover/Leipzig 1910, S. 553–567, hier S. 555: saeculi militia. S. auch die Bemerkungen in: Thomas Scharff, „Karolingerzeitliche Vorstellungen vom Krieg vor dem Hintergrund der romanisch-germanischen Kultursynthese“, in: Dieter Hägermann/Wolfgang Haubrichs/Jörg Jarnut (Hrsg.), Akkulturation. Probleme einer germanisch-romanischen Kultursynthese in Spätantike und frühem Mittelalter (Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde, 41), Berlin/ New York 2004, S. 473–490, hier S. 484–485.



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Krieger.18 Diese letzten Begriffe sind in den Quellen recht selten und wurden als Benennung für weltliche Personen fast ausschließlich in Bezug auf die Elite verwendet.19 Den Bishop Gallus von Clermont († 551) beschreibt z. B. Venantius Fortunatus in einem Epitaph als Rekrut im Dienste des göttlichen Heeres,20 und Jonas von Bobbio († nach 659) berichtet in seiner Vita Columbani, wie der Heilige seine „Rekruten“ auf die zukünftigen Kriege seiner Mission vorbereitete, und schließlich durch den Sieg über die gegnerischen Truppen Triumph und Lob erlangte.21 Vereinzelt zeichnen die Quellen eine komplette Parallelwelt zur säkularen Realität. Gregor von Tours berichtet in seinem Liber vitae patrum über den Abt Martin von Clermont: „Mit all seiner Kraft bekämpfte er die Lust durch die Zügel der Entbehrung und die Schlacht der Genügsamkeit, so dass diese machtlos über ihn sei. Nicht ohne Grund wurde er Mars genannt, denn mit dem Schwert des Heiligen Geistes als kriegerische Waffe schlug er die ihn bedrängenden Gelüste sterblicher Feindseligkeit in die Flucht, noch fast bevor sie aufgetaucht waren.“22 Ähnlich schrieb später der jüngere Columban († 615) in einem Brief an Papst Bonifatius IV. († 615): „Wie ein Zauderer, der ich kein mutiger Soldat bin, wo ich sehe, dass das Heer unseres Feindes uns umzingelt, möchte ich dich als Herr unserer Heerführer mit aufdringlichem Schreien aufrütteln“. Er fährt fort, indem er den Papst als lethargischen 18  Z. B. Fortunatus, Vita Martini 1, l. 112, S. 229: belliger armis; Fortunatus, Carmina 4.11, l. 5, S. 87: arma salutis; Columban, Epistola 5.7, in: „Epistolae“, hrsg. v. G. S. Murdoch Walker, Sancti Columbani Opera, (Scriptores Latini Hiberniae, 2), Dublin 1970, S. 43: fortis bellator; Columban, Epistola 2: veteranus; Passio Praeiecti 6, in: „Passio Praeiecti episcopi et martyris Arverni“, hrsg. v. Krusch, Passiones vitaeque sanctorum, S. 229: armiger; Vita Landiberti 14, S. 367: proeliator. 19  S. Laury Sarti, „Eine Militärelite im merowingischen Gallien? Versuch einer Eingrenzung, Zuordnung und Definition“, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, Bd. 124 (2016), S. 271–295, hier S. 279–280. 20  Fortunatus, Carmina 4.4, ll. 7–16, S. 81: illic tiro rudis generoso coepit ab aevo/ militiae domini belliger arma pati./ Quintiano demum sancto erudiente magistro/ pulchrius est auro corde probatus homo/ inde palatina regis translatus in aula,/ Theuderice, tuo vixit amore pio. 21  Jonas, Vita Columbani 1.4, in: „Vita Columbani abbatis discipulorumque eius“, hrsg. v. Bruno Krusch (Monumenta Germaniae Historia, Scriptores Rerum Merovingicarum, 4), Hannover 1904, S. 64–108, hier S. 70: Nec sine omnipotentis arbitrio fiebat, qui tyronem suum ad bella futura erudierat, ut de eius victoria gloriosus referret triumphos lautaque suppellectile de cesorum hostium reportaret falangas. S. auch Fortunatus, Carmina 4.4, l. 11; Columban, Epistulae 2; Vita Audoini 3. 22  Gregor, Liber vitae patrum 14.1, in: „Liber vitae patrum“, hrsg. v. Arndt/Krusch, Gregorii Turonensis opera. Miracula et opera minora, S. 211–284, hier S. 268: totis viribus luxoriam abstenentiae freno ac parcitatis agone cohercens, ne sibi aliquid subrepere possit. Non inmerito Martius vocitatus, qui Marte triumphali pullulantes actionum mortalium cogitationes gladio Spiritus sancti in ipso emicationis exordio succidebat.

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Anführer der göttlichen Armee zeichnet, der es versäumt habe, die nötigen Befehle zu geben, den Krieg zu erklären und seine Armee für die bevorstehende Schlacht aufzustellen, um so den Kampf mit sich selbst aufzunehmen.23 Der Vergleich zwischen dem Heiligen und dem Krieger wird gerne durch die Gleichsetzung geistlicher Tugenden und Konzepte mit dem Einsatz weltlicher Waffen hervorgehoben. Viele unterschiedliche Vorbilder für diese Gegenüberstellungen finden sich in der Bibel, seit dem 5. Jahrhundert finden sie sich auch vermehrt in Schriften aus Gallien.24 In diesem Zusammenhang wurden gelegentlich ganze militärische Szenen in einen hagiographischen Kontext übertragen, so z. B. in der ältesten Passio des Bischofs Leudegar von Autun (ca.  † 678). Sie berichtet, wie sich der Bischof dem Neid der Anhänger Childerichs II. († 675) entgegenstellte, indem er dem Beispiel des Apostels gefolgt sei und den Kürass des Glaubens und den Helm der Erlösung angezogen habe sowie das Schwert des Geistes, das der Autor mit dem Wort Gottes identifiziert, um sich so seinen Feinden zu stellen.25

23  Columban, Epistola 5.7, S. 43–5: Ego quasi timidus, dum non sum fortis bellator, quia hostem adversariorum circumdedisse nos video, te licet importunis clamoribus tamquam ducum principem suscitare conor; ad te namque totius exercitus Domini in his regionibus, in campo potius torpentis quam pugnantis et partim, quod lacrimabilius est, adversariis potius manus dantis quam resistentis, periculum pertinet. Te totum expectat, qui potestatem habes omnia ordinandi, bellum instituendi, duces excitandi, arma corripi iubendi, aciem construendi, tubas undique sonandi, certamen demum, te in fronte gradiente, ineundi; quia vero diu, ut apparet in hac regione, in hoc spirituali bello victi sumus etiam christiani, vitiis primum carnalibus ac pomposa conversatione, deinde fidei vacillantis tepore, qua infirmata inimicis nostris dum – non sensimus – circumdati sumus triplicibus, qui dati sunt nobis ad vindictam notrae luxuriosae securitatis. 24  S. 1 Thess. 5.8; Eph. 6.14, 16–17; 2 Cor. 6.7. Für Beispiele seit dem 5. Jahrhundert, s. Salvianus, De Gubernatione Dei II 6.27, in: „De Gubernatione Die“, hrsg. v. Karl Wotke, Salviani presbyteri Massiliensis opera quae supersunt (Corpus scriptorum ecclesiasticorum latinorum, 8,1), Wien 1883, S. 1–108; Gregor, Libri historiarum 2.2, in: Gregorii Turonensis Opera. Libri historiarum X, hrsg. v. Bruno Krusch (Monumenta Germaniae Historia, Scriptores Rerum Merovingicarum, 1.1), Hannover 1937; Vita Audoini 12. 25  Passio Leudegarii 8, S. 290: Vir autem Domini ut cognovit contra se invidiam diaboli recalescere, tunc iuxta apostolum sumens loricam fidei et galeam salutis et gladium Spiritus, quod est Dei verbum, contra antiquum hostem inivit singulare certamine. Ähnlich auch z. B. Gregor, Liber vitae patrum 20.4, S. 211–284, hier S. 214: armato vixilio cruci; Audoin, Vita Eligii 1.12, S. 680: Egrediens enim domum, orationis et crucus muniebatur signo; regrediens veri domum, oratio occurrebat ei prius quam sessio. Taliter nempe agebat cunctis diebus vitae suae et his exercitiis ad aeternam patriam iugiter anhelabat. Erat itaque omnimodo affabilis atque subtilis, corde pius et animo etiam ad belligerandum fortis.



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Der Vergleich der Taten und Eigenschaften von Heiligen mit denjenigen von Kriegern wurde durch den Umstand gefördert, dass der Begriff virtus sowohl militärische26 als auch geistliche Tugenden benannte.27 Virtus ließ sich im frühen Mittelalter außerdem auf die Fähigkeit des Heiligen beziehen, göttliche Macht durch Wunder zu manifestieren, sowie auf das Wunder selbst.28 Wenn virtus den weltlichen Krieger oder Soldaten charakterisierte, benannte dieser Begriff Tugenden wie physische Stärke, Mut, Tapferkeit und Geschicklichkeit, bezogen auf den Heiligen hingegen Fähigkeiten wie Willensstärke, Hingabe, Demut oder Überzeugungskraft. Die Inhaberschaft von virtus stellte nicht nur die Kernvoraussetzung für den vorbildlichen Krieger, den Helden, dar, sondern auch für den Heiligen. Der Begriff virtus bezeichnete damit sowohl Kerntugenden des Kriegers als auch des Heiligen. Die Grundessenz der hinter diesem Begriff stehenden Konzeption war jeweils die Gleiche.

26  Z. B. Vita Aniani 7, in: „Vita Aniani episcopi Aurelianensis“, hrsg. v. Bruno Krusch, Passiones vitaeque sanctorum aevi Merovingici (Monumenta Germaniae Historia, Scriptores Rerum Merovingicarum, 3), Hannover 1896, S. 108–117, hier S. 112: Agetium […] virtute egregia invictum; Avitus, Ex homiliarum 6, in: „Ex homiliarum libro“, hrsg. v. Rudolf Peiper, Alcimi Ecdicii Aviti Viennensis episcopi. Opera quae supersunt (Epistolae Karolini aevi, Monumenta Germaniae Historia, Epistolae 4), Berlin 1883, S. 103–153, hier S. 111: trabit etiam timidum militem virtus aliena; Gregor, Libri historiarum 4.29, S. 162: quos non potuit superare virtute proelii, superavit arte donandi; Fortunatus, Carmina 7.7, ll. 49–50, S. 160: quae tibi sit virtus cum prosperitate superna,/ Saxonis et Dani gens cito victa probat; Fortunatus, Carmina 7.16, ll. 46–7, S. 171: quae fuerit virtus, tristis Saxonia cantat; Vita Arnulfi 4, in: „Vita sancti Arnulfi“, hrsg. v. Bruno Krusch, Fredegarii et aliorum Chronica. Vitae Sanctorum (Monumenta Germaniae Historia, Scriptores Rerum Merovingicarum, 2), Hannover 1888, S. 432–446, hier S. 433: Nam virtutem belligerandi seu potentiam illius deinceps in armis quis enarrare queat. 27  Z. B. Gregor, Libri historiarum 1.45, S. 29: sanctus Illidius successit vir eximiae sanctitatis ac praeclarae virtutis; Vita Audoini 6, S. 557: O virtus abstinentiae et mortificatio carnis. 28  Z. B. Gregor, Liber in gloria confessorum 70, in: „Liber in gloria confessorum“, hrsg. v. Arndt/Krusch, Gregorii Turonensis opera. Miracula et opera minora, S. 284– 371, hier S. 339: per athletae Dei virtutem; Gregor, Liber in gloria martyrum 60, in: „Liber in gloria martyrum“, hrsg. v. Arndt/Krusch, Gregorii Turonensis opera. Miracula et opera minora, S. 34–112, hier S. 79: si metus de virtute martyris nullus est; Gregor, De passione 2.7, S. 143: Tres virtutes istas ipsa die factas fuisse constat; Fredegari 2.62, in: Fredegarii et aliorum Chronica, hrsg. v. Krusch, S. 87: illius [i. e. deum] virtutem et solatium Wandalus superabis […]. Credo de ominipotentis Dei virtute.

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Militärische Ideale in der Heiligendarstellung Welche Bedeutung nahm der Held in der Heiligendarstellung ein? Im Laufe der Merowingerzeit verkörperten der Heilige und der Held in vielerlei Hinsicht zwei komplementäre Seiten desselben zeitgenössischen Männlichkeitsideals.29 Wie aus dem vorherigen Abschnitt hervorgeht, unterschieden sich die meisten der von diesen beiden Typen verkörperten Werte und Tugenden nur unwesentlich. Wie der Held für seinen König für Ruhm und Ehre kämpfte, so kämpfte der Heilige für Gott und seinen Glauben. Deren Vergleichbarkeit wird durch den Umstand untermauert, dass auch der Heilige in den Quellen explizit als heros („Held“) bezeichnet wird. In seiner Vita des heiligen Germanus von Auxerre berichtet Constantius von Lyon († ca. 494), wie die Bischöfe Germanus von Auxerre und Lupus von Troyes († 478), als eroes devotissimi („Helden der Frömmigkeit“) nach Britannien in den Kampf gegen den Pelagianismus zogen.30 Eine ähnliche Terminologie findet sich bei Gregor von Tours, der zwei seiner Protagonisten, Julian und Ferreolus, als heroas Christi („Helden Christi“) charakterisierte.31 Die Quellen enthalten seit dem späten 6. Jahrhundert auch heroische Momente, so z. B. die von Venantius Fortunatus verfasste Vita des hl. Paternus. Diese beschreibt, wie der Heilige und seine Begleiter sich einer größeren Heidengruppe näherten, wobei „die mutigen Soldaten […] die Gefahr für sich selbst ignorierend [und …] geleitet vom Wunsch der Märtyrerkrone für Christus in den Kampf gezogen“ seien.32 Ähnlich beschreibt wiederum Gregor von Tours, wie ein Heer einige Ortschaften in Burgund 29  So bereits Birgit Studt, „Helden und Heilige. Männlichkeitsentwürfe im frühen und hohen Mittelalter“, in: Historische Zeitschrift, Bd. 276 (2003), S. 1–36, hier S. 8. S. hierzu auch die Diskussionen in: Karl Bosl, Leitbilder und Wertvorstellungen des Adels von der Merowingerzeit bis zur Höhe der feudalen Gesellschaft. Vorgetragen am 1. Juni 1973 (Bayrische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Sitzungsberichte 5), München 1974, S. 19–20; Friedrich Prinz, „Die bischöfliche Stadtherrschaft im Frankenreich vom 5. bis zum 7. Jahrhundert“, in: Historische Zeitschrift, Bd. 217 (1973), S. 1–35, hier S. 31. 30  Constantius, Vita Germani 12, S. 259: tanto eam promptius eroes devotissimi susceperunt. 31  Gregor, De passione 1.2, S. 114: Heroas Christi geminos haec continet aula:/ Iulianum capite, corpore Ferreolum. Ähnlich auch Gregor, Liber vitae partum 20.4, S. 293–294: Unde manifestum est, eum ad angelis susceptum, qui hominis adesse noluit suum sacer herus ad transitum. 32  Fortunatus, Vita Paterni 5.17, in: „Vita sancti Paterni“, hrsg. v. Bruno Krusch, Venanti Honori Clementiani Fortunati presbyteri italici. Opera pedestria, S. 33–37, hier S. 34: Tunc sanctus cum collega suo tam fervore fidei quam vexillo curcis armati accedentes ad vasa ubi pulmentaria decoquebant, singula voluerunt, postponentes suuum periculum, dummodo fortes milites pugnarent pro Christo desiderantes martyrium. Ähnlich auch Fortunatus, Carmina 5.2, ll. 15–16.



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verwüstete und dabei die Kirche der hl. Andreas und Saturninus verbrannt habe. Daraufhin habe sich ein von Gott gesandter Mann aus Tours in das brennende Gotteshaus begeben und es sei ihm gelungen, nur geschützt durch seinen Glauben, so der Autor, die heiligen Reliquien aus den Flammen zu retten.33 Vom weltlichen Helden – wie grundsätzlich auch vom (potentiellen) Krieger – wurde erwartet,34 dass die eigene virilitas („Männlichkeit“) möglichst kontinuierlich unter Beweis gestellt wurde. Hierfür besonders geeignet war, neben kriegerischen Tätigkeiten, jede sich bietende Gelegenheit, bei der Eigenschaften wie Stärke, Durchsetzungsfähigkeit oder Geschicklichkeit eingesetzt werden mussten. Die Quellen zeigen, dass vergleichbare Erwartungen auch an den Heiligen herangetragen wurden. Der im weltlichen und militärischen Kontext so wichtige Begriff der virilitas wurde regelmäßig auch zur Charakterisierung des Heiligen verwendet, so z. B. in der Vita Eligii, deren Autor Audoin beschreibt, wie Papst Martin I. († 655) viriliter gegen die byzantinische Häresie gekämpft habe.35 Ähnlich beschreibt auch die Audoin selbst gewidmete Vita Audoini Episcopi Rotomagensis, wie er gegen das durch Machtkämpfe hervorgerufene Blutvergießen vorgegangen sei.36 Bereits zwei Generationen früher berichtete Gregor von Tours in seinen Historien von einem Traum, in dem er das Asylrecht seiner Kirche in Tours selbst ­viriliter („mannhaft“) gegen König Guntramn († 592) verteidigt habe.37 Ähnlich deuten lässt sich auch die Aussage in der Passio Leudegars von Autun,

33  Gregor, Liber in gloria martyrum 30, S. 56: His ita flentibus, nutu Dei adveniens Turonicus homo, condolens his lamentis et discens virtutem martyrum, non minus fido quam parma protectus, per medias ingreditur flammas, adprehensasque ab altare sanctas reliquias, nihil ab igne nocitus. Vgl. hierzu auch Caesarius von Arles, Sermo 43.8, in: Sermones“, hrsg. v. Marie-José Delage, Caesarius of Arles, Sermons au peuple (Sources Chrétiennes, 243), Paris 1986, S. 322–324. 34  Für die Merowingerzeit gibt es keine eindeutigen Belege für ein stehendes Heer, weshalb vermutet werden muss, dass die große Mehrheit der Kriegsteilnehmer nur bei Bedarf und für eine kurze Zeit zum Militärdienst gerufen wurde, s. Laury Sarti, „The Military and its Role in Merovingian Society“, in: Bonnie Effors/Isabel Moreira (Hrsg.), Oxford Handbook of the Merovingian World, Oxford 2020, S. 255–277. Zur Erwartungshaltung dem potentiellen Krieger gegenüber, siehe dies., Perceiving War and the Military, S. 267–288. 35  Audoin, Vita Eligii 1.33, S. 689: Erat autem eo tempore Romae praesul beatissimus papa Martinus, qui sollicite ac viriliter pro hac causa invigilans immoque pugnans multa proba et adversa ab hereticis sustinebat. Ähnlich auch Audoin, Vita Eligii 1.34, S. 690: virili animo. 36  Vita Audoini 15, S. 564: pacem populo semper procurabat et, humanus sanguis ne effunderetur, viriliter desudabat. 37  Gregor, Libri historiarum 7.22, S. 342: ego rege viriliter resisterem; Gregor, Libri historiarum 4.12, S. 143: virili repugnans spiritu.

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der Heilige habe die ihm zugefügten Verstümmelungen ohne Gegenwehr und „mit übermenschlicher Kraft“ ertragen.38 Die merowingischen Quellen zeichnen auch ein geistliches Pendant zum Konzept des Sieges und des Ruhmes. Gregor von Tours bezeichnet den Bekenner Mitrias von Aix-en-Provence († vor 313) als „Mann von ausgezeichneter Heiligkeit,“ da seine Tugenden und guten Taten dazu geführt hätten, dass er „diese Welt als Sieger“ verlassen habe.39 In seinem Liber in gloria martyrum charakterisiert er den Tag des Jüngsten Gerichts als Tag, an dem der Heilige als Märtyrer durch seinen Sieg im Paradies ewigen Ruhm erlangt habe.40 Diese und weitere vergleichbare Aussagen zeigen, wie Bezüge zum Militärischen hergestellt wurden, um den Kampf und den Sieg als ein auch für den Heiligen erstrebenswertes Ziel zu präsentieren. Dennoch war der Kampf des Heiligen nicht mit dem des Kriegers identisch: Der Heilige musste sich nicht in der physischen Auseinandersetzung gegen äußere Feinde durchsetzen, sondern im inneren Kampf gegen sich selbst, indem er seine eigenen Bedürfnisse und Schwächen besiegte. Sein Sieg führte nicht zu weltlichem Ruhm, sondern ins Paradies.41 Gregor von Tours war sogar der Meinung, dass derjenige, der sich erfolgreich gegen die eigenen Laster durchzusetzen vermochte, als Märtyrer zu bezeichnen sei.42 38  Passio Leudegarii 24, S. 306: oculorum, in qua evulsione ultra humana natura incisionem ferri visus est tollerare. S. auch Passio Leudegarii 3. 39  Gregor, Liber in gloria confessorum 70, S. 788: Aquinsibus igitur est concessus inclitus adleta Mitrias, vir in corpore iuxta historiam actionis magnificae sanctitatis, et licet conditione servus, liber tamen iustituae. Qui, ut ferunt legentes certaminis eius textem, peracto cursu boni operis, a saeculo victor abscessit. 40  Gregor, Liber in gloria martyrum 106, S. 111: ut adsistant martyres invocati a suis, quos post victoriam paradisus beatitudinis retenet inmortales; ut in illo examinationis tempore, cum illos gloria aeterna circumdat. Ähnlich Gregor, De passione 1.1, S. 114: Contulit ergo se hic in Arverno territurio non metu mortis, sed ut relinquens propria facilius perveniret ad palmam; metuebat enim, ne ei parentes essent obvii, si inter eos hoc certamen inisset; et perderet miles Christi coronam gloria, si legitime non certasset. S. auch Gregor, Libri historiarum 2.3; Gregor, Liber in gloria martyrum 56, S. 98; Fortunatus, Carmina 1.9, 2.7. 41  S. Caesarius, Sermones 41.2, S. 284: Inter omnia christianorum certamina sola duriora sunt proelia castitatis, ubi cotidians pugna est, et rara victoria. Ähnlich Avitus von Vienne, Epistola 1.23, in: „Epistularum ad diversos libri tres“, hrsg. v. Rudolf Peiper, Alcimi Ecdicii Aviti Viennensis episcopi. Opera quae supersunt (Monumenta Germaniae Historia, Epistolae Karolini aevi, 4), Berlin 1883, S. 35–102, hier S. 55. S. auch die Diskussion in: Jacqueline Murray, „Masculinizing Religious Life: Sexual Prowess, the Battle for Chastity and Monastic Identity“, in: Patricia H. Cullum/Katherine J. Lewis (Hrsg.), Holiness and masculinity in the Middle Ages (Religion and Cuture in the Middle Ages), Cardiff 2004, S. 24–42, hier S. 37. 42  Gregor, Liber in gloria martyrum 106, S. 111: tunc residendo vitiis martyr habeberis, quia et ipsi martyres ea quae vicerunt non suis viribus. Auch Christen, die ihr Leben für den Glauben gaben, werden gerne als „Sieger“ bezeichnet, z. B Gregor,



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In Gallien ist die Konzeption vom inneren Kampf bereits recht explizit bei Eucherius von Lyon belegt, der in seinem Formular „Über Jerusalem und seine Gegner“ die Schlacht als Kampf gegen geistige Lethargie und den Kampf gegen die eigenen Schwächen definierte. Den Sieg über den Teufel und andere Gegner charakterisiert er als „Triumph.“43 Folgerichtig predigte Caesarius von Arles († 542), dass wer Lust habe sich mit seinem Gegner zu streiten, lieber mit seinem Herzen kämpfen solle.44 Eine ähnliche Konzeption findet sich auch bei Gregor von Tours, der in seinem Vorwort zum 5. Buch folgende Worte an die Könige seiner Zeit richtete: „Hast du, o König, deine Lust am Bürgerkriege, so kämpfe den Kampf, der nach dem Wort des Apostels im Menschen vorgeht, dass den Geist gelüste wider das Fleisch und die Gebrechen den Tugenden weichen und dass du frei deinem Haupte, das ist Christus, dienest, der du einst in Banden der Wurzel alles Übels gedient hattest.“45

Und auch im 7. Jahrhundert rief der jüngere Columban den bereits erwähnten Papst Bonifatius IV. dazu auf, sich im Kampf gegen sich selbst zu stellen, indem er erklärte, auch Christen könnten durch fleischliche Laster und Stolz sowie die eigene Schwäche im Glauben besiegt werden.46 Heilige als Vorbild für Krieger und Volk Wie Gregors Aufruf seinen Königen gegenüber entnommen werden kann, richtete sich die Aufforderung zum inneren Kampf nicht nur an die Geistlichkeit. Die merowingischen Heiligendarstellungen enthalten Erzählelemente, Liber in gloria martyrum 55, S. 526: Eutropis quoque martyr sanctonicae […] inliso capite victor occubuit. Ähnlich Gregor, Liber in gloria martyrum 57; Fortunatus, Carmina 4.5. 43  Eucherius von Lyons, Formulae 9.22, in: „Formulae spiritalis intelligentiae“, hrsg. v. Karl Wotke, S. Eucherii Lugdunensis (Corpus scriptorum ecclesiasticorum latinorum, 31.1), Prag/Wien 1894, S. 3–62, hier S. 58: Pugna certamen aduersus nequitias spiritales uel aduersum uitia conflictis; in apostolo: sic pugno non quasi aerem uerberans./ Pax carnis in bonum spiritusque concordia; in psalmo: rogate quae pacis sunt Hierusalem. item pax Christus; in apostolo: ipse est enim pax nostra./ Uictoria de diabolo uel aduersis triumphus; in apostolo: deo autem gratias qui dedit nobis uictoriam per dominum nostrum Iesum Christum. 44  Caesarius, Sermo 35.1, S. 194: Ligitare vis cum inimico tuo? Prius litiga cum corde tuo. 45  Gregor, Libri historiarum 5.praef., S. 194: Si tibi, o rex, bellum civili delectat, illut quod apostolus in hominem agi meminit exerce, ut spiritus concupiscat adversus carnem et vitia virtutibus caedant; et tu liber capite tuo, id est Christo, servias, qui quondam radicem malorum servieras conpeditus. S. auch Gregor, Liber vitae patrum 1.1, 5.3. 46  Columban, Epistola 5.7, s. oben Anmerkung 23.

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welche auch die übrige Bevölkerung, und insbesondere den (potentiellen) Krieger, angesprochen haben dürften. Hierzu gehört die Darstellung des unerschrockenen Heiligen, der sich todesmutig inmitten bewaffneter Feinde begibt, wie er uns bereits mit den Heiligen Paternus und Eligius begegnet ist. Solche Figuren dürften selbst das einfache Volk beeindruckt haben. Die Vermutung, dass auch (potentielle) Kriegsteilnehmer zur Zielgruppe der Heiligendarstellungen gehörten, wird durch die bereits diskutierten Bezugnahmen auf militärische Wertvorstellungen sowie die Verwendung von Begriffen, Metaphern und Erzählmomenten aus dem Bereich des Militärischen bestätigt. Die Anknüpfung an das Militärische ermöglichte es, durch den Vergleich mit Bekanntem abstrakte Konzeptionen zu illustrieren und damit leichter zu vermitteln. Die Veranschaulichung christlicher Taten und Tugenden durch den Vergleich mit ähnlichen Vorstellungen aus der Welt des Kriegers, so z. B. durch die Gegenüberstellung des inneren Kampfes des Heiligen mit der Schlacht des Kriegers gegen äußere Feinde, ermöglichte es, die Leistungen und Verdienste des potentiell schwächlich anmutenden Heiligen zu verdeutlichen und erfahrbarer zu machen. Dieses Vorgehen dürfte für die Überzeugungsleistung gegenüber einem weniger gelehrten und damit an abstraktes Denken gewöhntem Publikum (einer Gruppe, der die große Mehrheit der potentiellen Krieger zugezählt werden dürfte) sehr hilfreich gewesen sein. Auf diese Wiese ließ sich verdeutlichen, dass die geistigen Mühen des Heiligen einem Menschen nicht weniger abringen als der körperliche Kampf des Helden, wodurch aus Sicht eines weltlichen Publikums die Attraktivität der mit den Heiligenviten zu vermittelnden Botschaft gesteigert werden konnte. Der Vergleich zwischen dem Heiligen und dem Helden sowie der Verweis auf den Mut und den inneren Kampf des Heiligen konnten auch helfen, den möglichen Verdacht zu entkräften, der (vermeintlich weibische) Heilige sei kein geeignetes Vorbild für den (männlichen) Krieger. Solche Überzeugungsstrategien sind nicht nur in der merowingischen Hagiographie überliefert. Inwiefern der Verweis auf militärische Wertvorstellungen dazu genutzt werden konnte, um einem weltlichen Publikum die christliche Botschaft näher zu bringen, verdeutlichen die Predigten des Caesarius von Arles gegen das exzessive Trinken.47 Darin berichtet er, dass im Rahmen von Festmahlen diejenigen, die sich weigerten, sich zu betrinken, gerne verspottet wurden, indem ihnen vorgeworfen wurde, sie seien keine „echten 47  Caesarius, Sermo 46.1, S. 358: in tantum ut in conviviis suis inrideant eos qui minus bibere possunt, et per inimicam amicitiam quam oportet accipiant. S. auch Caesarius, Sermo 46.4, S. 362–364: Ingratum habeo amicum meum, si, quotiens illum ad convivum revocavero, potum ei quantum voluerit ipse non dedero […]. Qui ebriosos et luxuriosos amplius quam opportet cogent bibere.



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Männer“. Caesarius entgegnet dem, dass nicht der Säufer den Beweis wahrer Männlichkeit vorlegen würde, sondern der Abstinenzler, denn anders als der Säufer, der nicht mehr gerade stehen, geschweige denn sich ohne fremde Hilfe fortbewegen könne, sei der mental gesunde Abstinenzler in der Lage, selbst über sein Tun zu entscheiden.48 Um seinem Anliegen Nachdruck zu verleihen, nutzte Caesarius hier die offenbar verbreitete Meinung, ein Mann könne seine Männlichkeit durch exzessives Trinken unter Beweis stellen. So belegt er, dass derjenige, dem es gelänge, dieser Aufforderung zu widerstehen, nicht nur den Geboten Gottes entspräche, sondern auch den weltlichen Männlichkeitsidealen. Der christliche Anspruch, der den militärischen Idealen am wenigsten entsprach, ist die Demut. Diese Vermutung bestätigt Caesarius von Arles, indem er seine Gemeinde in einer Predigt dazu aufrief, sich nicht zu weigern, niederzuknien oder den Kopf zu neigen, da Gott seine Gnade nur den Demütigen gewähre.49 Das Gebot der Demut, eine Tugend, die dem zeitgenössischen (weltlichen) Männlichkeitsideal diametral entgegengesetzte war,50 dürfte die Attraktivität des Heiligen als weltliches Vorbild spürbar verringert haben. Die zeitgenössischen Hagiographen versuchten dem offenbar entgegenzuwirken. Wiederholt unterstreichen die merowingischen Viten, inwiefern die Aufgabe der eigenen Bedürfnisse sowie die Fähigkeit, sich auf das ewige Leben zu konzentrieren, außergewöhnliche Willensstärke erfordere. Damit wurde selbst die Tugend der Demut ein erstrebenswertes Ziel. In seiner Vita Eligii erklärt Audoin von Rouen: „Je mehr er [Eligius von N ­ oyon] sich selbst erniedrigte, je demütiger er wurde, umso mehr verdiente er, in den Augen Gottes zu steigen.“51 48  Ebd. 47.1, S. 376–378: Illud vero quale est, quod ipsi infelices ebriosi, quando se nimio vino ingurgitant, rident et vituperant eos, qui rationabiliter hoc tantum quod sufficit bibere volunt, dicentes eis: Erubescite, et verecundum sit vobis; quare non potestis bihere quantum nos? Dicunt enim eos non esse viros. Et videte miseriam ebriosorum: se dicunt esse viros, qui in ebrietatis cloaca iacent; et illos dicunt non esse viros, qui honesti et sobrii stant. Iacent prostrati, et viri sunt; stant recti, et viri non sunt? Victor ebrietatis vituperatur, et victus ebrietate laudatur. Inridetur sobrius, qui et se et alios potest regere; et non inridetur, immo non plangitur ebriosus, qui nec se nec alios potest agnoscere. S. auch die einschlägigen Diskussionen in: Yitzhak Hen, Culture and Religion in Merovingian Gaul A. D. 481–751 (Cultures, Beliefs and Traditions: Medieval and Early Modern Peoples Series, 1), Leiden/Boston 1995, S. 246; Lisa Kaaren Bailey, „ ‚These Are Not Men‘: Sex and Drink in the Sermons of Caesarius of Arles“, in: Journal of Early Christian Studies, Bd. 15 (2007), S. 23–43. 49  Caesarius, Sermo 77.1–3, S. 230: Quotiens diaconus clamaverit ut vos ad benedictionem humiliare debeatis, et corpora et capita fideliter inclinetis; quis benedictio vobis, licet per hominem, non tamen ab homine datur. 50  S. Sarti, Perceiving War and the Military, S. 249–288. 51  Audoin, Vita Eligii 1.7, S. 674: tantum plus humiliabatur, ut quantum plus humiliatus fuisset, tantu, amplius proficeret. Vgl. 1 Cor. 1.18–23; Gal. 1.10.

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Deutlicher ist der Vergleich zum Militärischen bei Jonas von Bobbio, der über Columban schrieb: „So groß war die Demut seiner Gefolgschaft und des Heiligen, dass er, ähnlich wie die Kinder dieser Welt auf ihrer Suche nach Ehre und Macht, in ihrer Ausübung von Demut wetteiferten.“52 Fazit Männlichkeit, Sieghaftigkeit, Ruhm und Heldentum wurden in den merowingischen Quellen als Eigenschaften dargestellt, die nicht alleine dem Helden vorbehalten waren. Die grundsätzliche Vergleichbarkeit der damit angesprochenen Konzeptionen wird durch den Umstand untermauert, dass Begriffe wie militia/miles, virilitas, victoria, gloria oder virtus zur Benennung zentraler Eigenschaften und Bestrebungen beider Gruppen verwendet wurden. Der Held erreichte seine Ziele durch Fähigkeiten wie körperliche Kraft, Geschicklichkeit oder Wagemut, sein Erfolg führte zu Ehre; der Heilige hingegen kämpfte mit seinem Glauben, seiner Willensstärke und seiner Demut, sein Erfolg führte ihn ins Paradies. Obwohl der Held und der Heilige damit zwei gegensätzliche Repräsentanten eines eng verwandten Wertekanons darstellten, blieben beide antipodische Typen. Auch wenn bis zum Ende der Merowingerzeit keine völlige Verschmelzung zwischen Heiligkeit und Kriegertum stattfand, nahm die Welt des Kriegers in der Hagiographie seit spätestens dem ausgehenden 6. Jahrhundert eine zentrale Rolle als Referenz für das Beschreiben geistlicher Tugenden und Konzepte ein. Dieser Befund deutet auf einen zunehmend hohen Stellenwert des Militärischen in der merowingischen Gesellschaft hin. Die Angleichung des Heiligen an den Krieger ermöglichte es offenbar, Botschaften und Wertvorstellungen der Hagiographen einem mit der Welt des Krieges vertrauten Publikum und diesem den Heiligen als nachahmenswertes Vorbild zu vermitteln, ein Vorgehen, das zur weiteren Durchdringung des Christentums, auch fernab der urbanen und klösterlichen Zentren, beigetragen haben dürfte. Gleichzeitig korreliert diese Entwicklung mit einem Prozess der Verschmelzung der merowingischen Eliten. Seit dem ausgehenden 6. Jahrhundert sind zunehmend Bischöfe bekannt, die sich nicht mehr durch ihre gallo-römische Herkunft – meist aus dem sogenannten Senatorenadel – von der Mehrheit der 52  Jonas, Vita Columbani 1.5, S. 71: tanta humilitatis ubertas, ut versa vice, sicut de honoribus homines saeculi conantur quaerere dignitates, iste cum sodalibus suis de humilitatis cultu alter alterum nitebantur prsevenire, memores praecepti illius: Qui se humilitat exaltabitur; et illud Esaiae: Ad quem respiciam, nisi ad humilem et quietum et trementem sermone meos? S. hierzu Lukas 18.14, zitiert als: quia omnis qui se exaltat humiliabitur, et qui se humiliaverit exaltabitur, in: Caesarius, Sermo 77.1, S. 226.



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weltlichen Potentaten unterschieden53, sondern selbst aus jenen Familien stammten, die auch die weltlichen Amtsträger und Heerführer stellten.54 Die hier nachgezeichnete Militarisierung des Heiligen ist auch als Spiegel dieser Veränderungen und der damit einhergehenden Vermischung geistlicher und militärischer Wertvorstellungen zu verstehen.

53  Zum merowingischen Bischof und dem gallischen Senatorenadel, s. Karl Friedrich Stroheker, „Die Senatoren bei Gregor von Tours“, in: Klio, Bd. 34 (1934), S. 293–305; ders., Der senatorische Adel im spätantiken Gallien, Tübingen 1948, Frank D. Gilliard, „The Senators of sixth-century Gaul“, in: Speculum, Bd. 54 (1979), S. 685–697; Georg Scheibelreiter, Der Bischof in merowingischer Zeit (Veröffentlichungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, 27), Wien 1983; Susanne Baumgart, Die Bischofsherrschaft im Gallien des 5. Jahrhunderts. Eine Untersuchung zu den Gründen und Anfängen weltlicher Herrschaft der Kirche, München 1995; Bernhard Jussen, Über „ ‚Bischofsherrschaften‘ und die Prozeduren politisch-sozialer Umordnung in Gallien zwischen ‚Antike‘ und ‚Mittelalter‘ “, in: Historische Zeitschrift, Bd. 260 (1995), S. 673–718; Christoph Müller, Kurialen und Bischof, Bürger und Gemeinde – Untersuchungen zur Kontinuität von Ämtern, Funktionen und Formen der ‚Kommunikation‘ in der gallischen Stadt des 4.–6. Jahrhunderts, Freiburg 2003; Steffen Diefenbach, „ ‚Bischofsherrschaft‘. Zur Transformation der politischen Kultur im spätantiken und frühmittelalterlichen Gallien“, in: Gernot Michael Müller/Steffen Diefenbach (Hrsg.), Gallien in Spätantike und Frühmittelalter. Kulturgeschichte einer Region (Millennium-Studien, 43), Berlin 2013, S. 91–152. 54  Personen, für die sowohl eine militärische als auch eine geistliche Laufbahn belegt ist, sind z. B. der comes Innocentius und der dux Austrapius. Beide sind später als Bischof bezeugt, s. Gregor, Libri historiarum 4.18, 6.37. Bischöfe waren seit dem späten 6. Jahrhundert auch in die königliche Beratung eingebunden, s. z. B. Fredegar 4.41, 4.58, 4.89, 4.90; Capitularia Merowingici 5 und 6, in: „Capitularia Merowingici“, hrsg. v. Alfred Boretius, Capitularia Regum Francorum (Monumenta Germaniae Historia, Leges 2.1), Hannover 1883, 1–23. S. auch Friedrich Prinz, Klerus und Krieg im früheren Mittelalter. Untersuchungen zur Rolle der Kirche beim Aufbau der Königsherrschaft (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 2), Stuttgart 1971, S. 58.

Die Heiligen im Kampf gegen die Normannen Von Thomas Scharff Das Zeitalter der Normanneneinfälle beginnt mit der Plünderung und Verwüstung des Klosters Lindisfarne vor der Küste Northumbriens am 8. Juni 793. Weit entfernt davon, am Hof Karls des Großen (768–814), veranlasste dieses Ereignis den aus York stammenden Alkuin (735–804) dazu, mehrfach zur Feder zu greifen. Alkuin schrieb Briefe an weltliche und geistliche Führungspersönlichkeiten in England sowie einen Brief und ein Gedicht zum Trost des Abtes Higbald (780–803) und des Konvents von Lindisfarne.1 Immer wieder geht es in diesen Texten dabei um die Frage, wie das habe geschehen können. Welche Sicherheit für die Kirchen in Britannien bestehe denn noch, wenn der heilige Cuthbert (635–687) und die anderen Heiligen, die in Lindisfarne begraben waren, ihr Eigentum nicht beschützten. Zufall könne das nicht gewesen sein, sondern das Zeichen für eine große Schuld.2 Der Konvent müsse das, was in seinen Gewohnheiten zu verbessern sei, schnellstens korrigieren und seine Patrone zurückrufen, die ihn für eine Zeit verlassen hätten. Es sei nicht so, dass diese Heiligen ihren Einfluss bei Gott verloren hätten, aber sie hätten eben aus Gründen, die man nicht kenne, geschwiegen.3 Sie würden die Mönche aber sicher wieder beschützen, wenn diese ihr Leben bessern und dem Beispiel der Heiligen folgen würden.4 In Alkuins Worten kommt ganz deutlich die Erwartungshaltung zum Vorschein, 1  „Alcuini sive Albini epistolae“, in: Monumenta Germaniae Historica, Epistolae, hrsg. v. Ernst Dümmler, Bd. 4, Berlin 1895, S. 1–481, Nr. 20, S. 56–58; „Alcuini carmina“, in: Monumenta Germaniae Historica, Poetae, hrsg. v. Ernst Dümmler, Bd. 1, Berlin 1881, S. 169–351; Nr. 9, S. 229–235. 2  „Alcuini sive Albini epistolae“, Nr. 20, S. 57: Quae est fiducia aeclesiis Brittanniae, si sanctus Cudberhtus cum tanto sanctorum numero suam non defendit? Aut hoc maioris initium est doloris aut peccata habitantium hoc exigerunt. Non equidem casu contigit, sed magni cuiuslibet meriti indicium est. 3  Ebd., S. 57: Si quid corrigendum sit in moribus mansuetudinis vestre, citius corrigite. Patronos vestros ad vos revocate, qui vos ad tempus dereliquerunt. Non defuit illis potestas apud Dei clementiam. Sed, nescimus cur, tacuerunt. 4  Ebd., S. 57: Non exeatis post luxurias carnis et avaritias seculi; sed in servitio Dei et regularis vitae disciplina firmiter permanete, ut sanctissimi patres, qui vos genuerunt, vobis protectores esse non cessent. Per illorum vestigia gradientes, illorum precibus securi permaneatis. Nolite tantis patribus degeneres esse filii. Nequaquam illi a vestra cessabunt defensione, si vos illorum sequi videbunt exempla.

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dass die Heiligen normalerweise Hilfe und Unterstützung im Kampf gegen die Heiden bieten sollten und dass es einer Erklärung bedürfe, wenn sie es nicht taten. Im Christentum wurden Heilige in unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Regionen immer wieder als Helfer im Krieg angerufen.5 Dabei konnte es sich um bestimmte Heilige handeln, denen durch ihre Rolle als Kriegerheilige, als Patrone eines Landes oder als persönliche Nothelfer etwa eines königlichen Feldherrn eine besondere Kompetenz für die Unterstützung im Kampf zugesprochen wurde. Es konnte sich aber auch um die jeweiligen Heiligen handeln, die als Lokalheilige oder als Tagesheilige gleichsam als zuständig für das aktuelle Treffen angesehen wurden. Im folgenden Beitrag geht es um die Rollen, die Heiligen im 9. Jahrhundert während der Normanneneinfälle in das Frankenreich von den zeitgenössischen Historiographen zugeschrieben wurden. Es zeigt sich dabei ein breites Spektrum, das von Passivität und Flucht bis zum handfesten und siegreichen Eingreifen ins Kampfgeschehen reicht. Es ist sicherlich nicht falsch, in diesem Kontext von Militarisierung der Heiligen zu sprechen, denn es ging nicht mehr lediglich darum, traditionelle Kriegerheilige wie etwa Martin von Tours allgemein um Hilfe für den Sieg in militärischen Konflikten zu bitten. Vielmehr wurden nahezu alle mehr oder minder direkt betroffenen Heiligen zur Unterstützung gegen die Normannen herangezogen, und ihr Eingreifen ins Kampfgeschehen wurde in sehr direkten Formen beschrieben. Dafür standen seit dem frühen Christentum grundsätzlich Modelle bereit, die aber nun, in einer Situation, in der die Hilfe als besonders dringlich erachtet wurde, verstärkt angewendet und in den Gesamtkontext der Kriegführung eingebettet wurden. Diese Vorgänge sind im 9. Jahrhundert zwar nicht auf die Normanneneinfälle beschränkt, lassen sich hier aber am deutlichsten zeigen.

5  František Graus, „Der Heilige als Schlachtenhelfer – zur Nationalisierung einer Wundererzählung in der mittelalterlichen Chronistik“, in: Kurt-Ulrich Jäschke/Reinhard Wenskus (Hrsg.), Festschrift für Helmut Beumann zum 65.  Geburtstag, Sigmaringen 1977, S. 330–348; Klaus Schreiner, „Krieg und Frieden im Spiegel mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Heiligenverehrung“, in: ders., Märtyrer, Schlachtenhelfer, Friedenstifter. Krieg und Frieden im Spiegel mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Heiligenverehrung (Otto-von-Freising-Vorlesungen der Katholischen Universität Eichstätt, 18), Wiesbaden 2000, S. 55–138; Christopher Holdsworth, „ ‚An Airier Aristocracy‘. The Saints at War“, in: John France/Kelly DeVries (Hrsg.), Warfare in the Dark Ages, Aldershot 2008, S. 175–194; Martin Clauss, „Defensor civitatis? Überlegungen zum Stadtpatronat in der städtischen Memoria“, in: Susanne Ehrich/ Körg Oberste (Hrsg.), Städtische Kulte im Mittelalter (= Forum Mittelalter – Studien, 6), Regensburg 2010, S. 153–168; Robert Bartlett, Why can the Dead Do Such Great Things? Saints and Worshippers from the Martyrs to the Reformation, Princeton/Oxford 2013, S. 311–324 und S. 378–383.



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Nach der Wende vom 8. zum 9. Jahrhundert erlebte auch vor allem das westliche Frankenreich eine Welle von Überfällen und Plünderungen durch dänische und norwegische Wikinger, die in den lateinischen Quellen meistens als nortmanni bezeichnet werden.6 Schon Karl der Große und Ludwig der Fromme ergriffen Maßnahmen zum Schutz der Küsten des Reiches, die die Gefahr aber höchstens aufhalten, nicht eindämmen konnten.7 In der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts wurden die Angriffe immer häufiger und heftiger. Sie fanden dabei auch immer stärkeren Niederschlag in der zeitgenössischen Historiographie und dominierten in dieser Zeit oftmals die Jahresberichte in den karolingischen Annalenwerken, die Jahr für Jahr über Kämpfe mit den Normannen berichteten.8 Nicht nur die Küstenstriche waren von den Überfällen betroffen, die Normannen fuhren sogar die Flüsse aufwärts ins Landesinnere und plünderten dort Klöster und Städte. Im Jahr 845 zerstörten sie Hamburg und belagerten erstmals Paris, dessen Verteidiger sich nur durch die Zahlung von 7000 Pfund Silber freikaufen konnten.9 Um 850 traten die Normanneneinfälle in eine neue Phase ein. Nachdem es sich anfangs vermutlich um einzelne, unzusammenhängende und saisonale Überfälle gehandelt hatte, überwinterte erstmals 851 ein normannisches Heer auf einer Seineinsel nahe Rouen und stellte somit eine langandauernde Bedrohung dar. 879 fiel das sogenannte Große Heer aus England kommend auf dem Kontinent ein und beunruhigte über Jahre hinweg Brabant, die Scheldegegend, Lothringen und die Seineufer. Die Normanneneinfälle waren damit auf ihrem Höhepunkt angekommen. 6  Albert D’Haenens, „Les invasions normandes dans l’Empire franc au IXe siècle“, in: I normanni e la loro espansione in Europa nell’alto medioevo (Settimane di studio del Centro italiano di studi sull’alto medioevo, 16), Spoleto 1969, S. 233–298; Simon Coupland, „The Vikings in Francia and Anglo-Saxon England to 911“, in: Rosamond McKitterick (Hrsg.), The New Cambridge Medieval History, Bd. 2, Cambridge 1995, S. 190–201; Janet Nelson, „Das Frankenreich“, in: Peter Sawyer (Hrsg.), Die Wikinger. Geschichte und Kultur eines Seefahrervolkes, Stuttgart 22001, S. 29–57; Neil S. Price, „ ‚Laid Waste, Plundered, and Burned‘. Vikings in Frankia“, in: William W. Fitzhugh/Elisabeth I. Ward (Hrsg.), Vikings. The North Atlantic Saga, Washington 2000, S. 116–126; Alheydis Plassmann, Die Normannen. Erobern – Herrschen – Integrieren, Stuttgart 2008, S. 27–70; Pierre Bauduin, Le monde franc et les Vikings (VIIIe–Xe siècle), Paris 2009. 7  Simon Coupland, „The Carolingian Army and the Struggle against the Vikings“, in: Viator, Bd. 35 (2004), S. 49–70. 8  Zur Wahrnehmung der Normanneneinfälle in den erzählenden Quellen s. Horst Zettel, Das Bild der Normannen und der Normanneneinfälle in westfränkischen, ostfränkischen und angelsächsischen Quellen des 8. bis 11. Jahrhunderts, München 1977. In breiterem Kontext jetzt: Andreas Mohr, Das Wissen über die Anderen. Zur Darstellung fremder Völker in den Quellen der Karolingerzeit (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit, 7), Münster 2005. 9  Félix Grat/Jeanne Vielliard/Suzanne Clémencet (Hrsg.), Annales de Saint-Bertin, Paris 1964, a. 845, S. 49.

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In der Hochphase der Einfälle scheint es nur wenige erfolgreiche Abwehrmaßnahmen gegeben zu haben. Flucht und Tributzahlungen prägen unser Bild von den Reaktionen der betroffenen Bevölkerung und ihrer Anführer.10 Erst in den 980er Jahren wurden die Normannen auch wiederholt militärisch besiegt, ohne dass allerdings die Zahlungen und Versuche, die Normannen ins Fränkische Reich zu integrieren, um sie dann auch militärisch gegen andere Normannen einzusetzen, endeten. Im Jahr 911 wurde dem Normannenfürsten Rollo die Besiedlung der Normandie zugestanden, womit die Phase der Einfälle allmählich an ihr Ende gelangte. Die normannische Landnahme, der andere Formen in England vorausgegangen waren, verweist auch auf einen der Gründe für die Einfälle, die man bis heute insgesamt schwer fassen kann. Neben immer wieder in der Forschung genannten Ursachen wie demographischem Druck, Beutegier und Abenteuerlust kann man von Anfang an das Bestreben normannischer Anführer nach Landgewinn erkennen – oftmals durchaus verbunden mit der Suche nach Nähe zu den karolingischen Herrschern und weitgehender Integrationsbereitschaft, die auch die Übernahme des Christentums miteinschloss. Man darf auch nicht vergessen, dass sich in der Phase der Normanneneinfälle weiterhin ein reger Handelsaustausch mit Skandinavien vollzog, so dass es oftmals unmöglich ist, zu sagen, ob Hortfunde im Norden Überreste von Plünderungen oder von Handelsgewinnen beinhalten.11 Es wird nicht zuletzt deshalb heute auch stärker als früher bezweifelt, ob die Darstellungen der Normanneneinfälle in den fränkischen Quellen – vor allem in der Annalistik – die Ereignisse in angemessener Weise wiedergeben. Die Größe der Zerstörungen und die unerhörte Grausamkeit der Normannen in der Historiographie dürfte auch ein Gutteil Kritik an der eigenen als in­ effektiv empfundenen Führung, die diese Dinge zugelassen habe, beinhalten. Außerdem betonen moderne Historiker zunehmend, dass Beute und Tribute als Kriegsziele keineswegs eine Besonderheit normannischer Kriegführung waren, sondern dass auch die fränkischen Kriege mit den Nachbarn durch 10  Relativierend zur Bedrückung durch die Tributzahlungen: Simon Coupland, „The Frankish Tribute Payments to the Vikings and their Consequences“, in: Francia 26 (1999), S. 57–75. Versuch einer Einordnung der Bedrückung insgesamt bei: Albert D’Haenens, Les invasions normandes, une catastrophe? Paris 1970. Die neueren Arbeiten, wie etwa Bauduin, Le monde franc betonen grundsätzlich stärker die Vielfalt der nicht nur auf militärische Konfrontationen ausgerichteten Beziehungen zwischen den Normannen und dem Frankenreich. 11  Neben den Arbeiten von Simon Coupland, Carolingian Coinage and the Vikings. Studies on Power and Trade in the 9th Century (Variorum Collected Studies Series, 847), Aldershot 2007, s. auch Egon Wamers/Michael Brandt (Hrsg.), Die Macht des Silbers. Karolingische Schätze im Norden. Katalog zur Ausstellung im Archäologischen Museum Frankfurt und im Dom-Museum Hildesheim, Regensburg 2005.



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diese Absichten motiviert waren.12 Timothy Reuter beginnt seinen bekannten Aufsatz „Plunder and Tribute in the Carolingian Empire“ mit der Kritik an Kaiser Karl III. (839–888) aus den Fuldaer Annalen, in welcher der Annalist dem Herrscher vorwirft, dass dieser, entgegen dem Vorbild seiner Vorfahren, einem normannischen Anführer Tributzahlungen anbietet, einem Mann, der, wie es heißt, eigentlich den Franken hätte Tribut zahlen und Geiseln stellen müssen.13 Der Skandal besteht für den Annalisten nicht in den Tributen, sondern in der „verkehrten“ Richtung der Zahlungen. Außerdem waren Kirchen und Klöster im Frankenreich auch bei innerfränkischen Konflikten Ziele von Raub und Plünderung. Allerdings waren es nach Simon Coupland nicht die Angriffe auf diese sakralen Stätten durch die Normannen, die den Schrecken der monastischen Autoren hervorriefen und deren Darstellungen prägten, sondern die Tatsache, dass die Normannen, anders als die fränkischen Plünderer, Kirchen niederbrannten und die Gefangenen versklavten.14 Die Heiligen als Ziele und Opfer der normannischen Angriffe Neben den historiographischen Quellen ist es in erster Linie die Hagiographie, in der die Ereignisse um die Normanneneinfälle geschildert werden. Oftmals geben die Mirakel- und vor allem die Translationsberichte die Deutung vor, die dann auch in der Geschichtsschreibung aufgegriffen wird.15 12  Anders Winroth, Die Wikinger. Das Zeitalter des Nordens, Stuttgart 2016, S. 25–63; Rudolphe Keller/Laury Sarti (Hrsg.), Pillages, tributs, captifs. Prédation et sociétés de l’Antiquité tardive au haut Moyen Âge – Plünderungen, Tributzahlungen und Gefangennahmen. Die Aneignung von fremdem Eigentum von der Spätantike zum frühen Mittelalter (Histoire ancienne et médiévale, 153), Paris 2018. 13  „Annales Fuldenses sive Annales regni Francorum orientalis“, in: Monumenta Germaniae Historia, Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum, hrsg. v. Friedrich Kurze, Bd. 7, Hannover 1891, a. 882, S. 99: Nam comitatus et beneficia, quae Rorich Nordmannus Francorum regibus fidelis in Kinnin tenuerat, eidem hosti suisque hominibus ad inhabitandum delegavit; et quod maioris est criminis, a quo obsides accipere et tributa exigere debuit, huic pravorum usus consilio contra consuetudinem parentum suorum, regum videlicet Francorum, tributa solvere non erubuit. Dazu s. Timothy Reuter, „Plunder and Tribute in the Carolingian Empire“, in: Trans­ actions of the Royal Historical Society, 5. Serie, Bd. 35 (1985), S. 75–94, hier S. 75 (auch in: ders., Medieval Polities and Modern Mentalities, hrsg. v. Janet L. Nelson, Cambridge 2006, S. 231–250). 14  Simon Coupland, „Holy Ground? The Plundering and Burning of Churches by Vikings and Franks in the Tenth Century“, in: Viator, Bd. 45 (2014), S. 73–98. 15  Zur Geschichtsschreibung der Karolingerzeit vgl. Wilhelm Wattenbach/Willhelm Levison/Heinz Löwe, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger, in 5 Bdn. u. Beiheft, Weimar 1952–1973; Matthew Innes/Rosamond ­ McKitterick, „The Writing of History“, in: Rosamond McKitterick (Hrsg.), Carolin-

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Eine wichtige Beobachtung dabei ist diejenige, dass die Heiligen als Patrone von Klöstern und Kirchen bei den normannischen Angriffen als Ziele und als Opfer der Gewalt geschildert werden. Wenn die Normannen durchaus auch weltliche Siedlungen, Städte und Handelsplätze angriffen, so waren doch die Klöster allein schon zeitlich die ersten und auch später vorrangige Ziele ihrer Einfälle. Den monastischen Gemeinschaften blieb oftmals nichts anderes übrig, als beim Nahen der Normannen die Reliquien ihrer Heiligen und, soweit es noch möglich war, Bücher und liturgisches Gerät zusammenzuraffen und das Kloster fluchtartig zu verlassen. Viele Mönche und viele Heilige haben eine solche Flucht mehrfach erlebt – sei es, weil die Konvente mit den Reliquienschätzen zwischen einzelnen Überfällen ins Kloster zurückkehrten, oder sei es, weil der gewählte Fluchtort sich in der Folge als auch nicht sicher erwies und die Normannen nachsetzten. In Historiographie und Hagiographie wurden so die Heiligen, deren Gebeine im Schutz der monastischen Gemeinschaften ruhten, selbst als Angegriffene und Opfer der Normannen beschrieben. Als eine normannische Flotte im Jahr 853 die Loire aufwärts segelte und im Zuge dieses Unternehmens mehrere Klöster und Städte plünderte, machte man sich in Tours Gedanken darüber, was man mit dem größten Schatz in der Stadt, den Reliquien des heiligen Martin, tun sollte, denn Tours war vollkommen unbefestigt. Der Abt des Martinsklosters, Hilduin, richtete eine Anfrage an seinen Amtsbruder Lupus von Ferrières, ob dieser nicht die Überreste Martins zusammen mit dem Schatz der Kirche zum Schutz in seiner Abtei aufnehmen könne. Da Ferrières gut 200 Kilometer von Tours entfernt ist, muss man sich bereits sehr früh mit der Frage beschäftigt haben, wie und wo man den Kirchenschatz in Sicherheit bringen könne. Lupus lehnte das Ansinnen aber mit der Begründung ab, dass Ferrières selbst alles andere als sicher sei.16 So wurden die Reliquien Martins in das 20 Kilometer von Tours entfernte Kloster Cormery gebracht, während man den Kirchenschatz nach Orléans transportierte.17 Dort war er zwar dieses Mal sicher, aber gian Culture: Emulation and Innovation, Cambridge u. a. 1994, S. 193–220; HansWerner Goetz, „Verschriftlichung von Geschichtskenntnissen: Die Historiographie der Karolingerzeit“, in: Ursula Schäfer (Hrsg.), Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ScriptOralia, 53), Tübingen 1993, S. 229–253. 16  „Lupi abbatis Ferrariensis epistolae“, in: Monumenta Germaniae Historica, Epistolae, hrsg. v. Ernst Dümmler, Bd. 6, Berlin 1925, S. 1–126, hier ep. 110, S. 94 f. 17  Grat/Vielliard/Clémencet (Hrsg.), Annales de Saint-Bertin, a. 853, S. 68: Sed quia euidenti certitudine hoc praescitum fuerat, corpus beati Martini ad Cormaricum monasterium, thesauri uero eius ecclesiae ad ciuitatem Aurelianorum transportati sunt. Zu den Ereignissen: Walther Vogel, Die Normannen und das Fränkische Reich bis zur Gründung der Normandie (799–911) (Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte, 14), Heidelberg 1906 (unv. ND. 1973), S. 136–145.



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bereits drei Jahre später war es dann Orléans, das von den Normannen geplündert wurde.18 Einen ganz ähnlichen Bericht über die Sicherung von Reliquien bei einem drohenden Angriff von Normannen gibt es aus Xanten. Die Annales Xantenses erzählen für das Jahr 864 von einer Beutefahrt den Rhein aufwärts, welche die Normannen zunächst bis Xanten führte, das einschließlich der Stiftskirche St. Viktor vollkommen zerstört und geplündert wurde. Die Reliquien ihres Heiligen habe der Propst unter großen Gefahren und nur durch das Eintreten des hl. Viktors auf einem Pferd nach Köln in Sicherheit bringen können.19 Mit den Reliquien des heiligen Remigius und den Schätzen der Kirche von Reims machte sich Erzbischof Hinkmar (800/810–882), der wegen seiner Krankheit in einer Sänfte getragen werden musste, im Jahr 882 nach Epernay auf seine letzte Reise, um vor den Normannen zu fliehen, die große Teile Nordfrankreichs heimsuchten. In den Annales Bertiniani erzählt er vermutlich selbst davon und sagt, dass die Plünderer alles, was sie außerhalb der Stadt fanden, verwüsteten und einige kleinere Ortschaften verbrannten. Die Stadt selbst aber wurde durch die Macht Gottes und die Verdienste der Heiligen beschützt, so dass die Normannen sie nicht betreten konnten, obwohl sie weder durch eine Mauer noch durch Menschenhände verteidigt wurde.20 18  Grat/Vielliard/Clémencet (Hrsg.), Annales de Saint-Bertin, a. 856, S. 72: Pyratae Danorum XIIII kalendas mai ciuitatem Aurelianis adeunt, praedantur et inpune reuertuntur. 19  „Annales Xantenses“, in: Annales Xantenses et Annales Vedastini, hrsg. v. Bernhard von Simson (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum, 12), Hannover/Leipzig 1909, a. 864, S. 20: Nimia inundatione aquarum pagani sepe iam dicti aecclesiam undique vastantes per alveum Reni fluminis ad Sanctos usque pervenerunt et locum opinatissimum vastaverunt. Atque, quod omnibus audientibus et videntibus nimium dolendum est, aecclesiam sancti Victoris mirifico opere constructam incenderunt igni, omnia quae intus aut foris sanctuarii repperierunt rapuerunt. Clerus tamen et omne vulgus pene aufugit. Sed ipsum censum sanctuarii postea nimium vesania correpti ibidem remiserunt. Sanctum vero corpus Victoris prepositus fratrum equo ascenso et loculo ante se posito cum solo presbitero Coloniam noctu perduxit in magno periculo, nonnisi meritis sancti intervenientibus. Das Ereignis fand allerdings 863 statt, vgl. Ernst Dümmler, Geschichte des ostfränkischen Reiches, Bd. 2, Leipzig 21887, S.  48 f. 20  Grat/Vielliard/Clémencet (Hrsg.), Annales de Saint-Bertin, a. 882, S. 250: Quod pro certo audiens Hincmarus episcopus, cuius homines de potestate Remensis episcopii cum Karolomanno erant, vix noctu cum corpore sancti Remigii et ornamentis Remensis ecclesiae, sicut infirmitas corporis eius poscebat, sella gestatoria deportatus, et canonicis ac monachis atque sanctimonialibus hac illacque dispersis, ultra Matronam in quadam uilla quae Sparnacus nominatur uix fuga lapsus peruenit. Scara autem de Nortmannis plenitudinem illorum praeueniens, usque ad portam Remi peruenit. Qui ea quae extra ciuitatem inuenerunt depraedati sunt, et uillulas

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Das eindrucksvollste Beispiel für sogar wiederholte Fluchtbewegungen einer Klostergemeinschaft mit ihren Heiligenreliquien, das in der Literatur häufig angeführt wird, sind die Mönche aus dem Kloster des heiligen Filibert auf Noirmoutier, einer der Loiremündung vorgelagerten Insel. Das Kloster wurde im frühen 9. Jahrhunderts mehrfach zum Ziel normannischer Überfälle. Nach einem besonders schweren Angriff errichteten die Mönche südwestlich von Nantes, in Déas, dem heutigen Saint-Philibert-de-Grand-Lieu, ein neues Gebäude, um dort auf dem Festland im Sommer Zuflucht zu suchen, während die Normannen auf Beutefahrt gingen. Im Jahr 836 zog der Konvent mit Erlaubnis Ludwigs des Frommen vollständig dorthin um. Aber auch das neue Kloster in Déas wurde im Jahr 857 von Normannen zerstört. Diese nutzen die Insel Noirmoutier inzwischen als Stützpunkt für ihre Raubzüge an Loire und Garonne. Daraufhin begann eine jahrelange peregrinatio der Mönche mit den Heiligenreliquien, die sie auf der Flucht vor den Normannen nach Cunault an der Loire, Messay im Poitou und schließlich nach Tournus an der Saône führte, wo im Jahr 875 eine neue Abtei errichtet wurde. Noirmoutier hatten die Mönche vollständig und endgültig aufgegeben.21 Wir kennen die Einzelheiten der langen Reise des heiligen Filibert und seiner Mönche aus den Miracula s. Filiberti des späteren Abtes Ermentarius, einem Bericht über die Wunder des Heiligen, die dieser vor allem während seiner Flucht vor den Normannen gewirkt hat. Texte wie diesen gab es im 9. Jahrhundert zuhauf, Mirakel- und/oder Translationsberichte, die Auskunft darüber geben, wie die Erhebung der Reliquien und ihr Transport an einen anderen Ort vor sich gegangen sind und welche Wunder sich dabei ereignet haben. Aufgrund des Hauptanlasses dieser Texte hat man sogar zusammenfassend von einer „Flüchtlingsliteratur“ gesprochen.22

quasdam incenderunt, sed ciuitatem, quam nec murus nec humana manus defendit, Dei potentia et sanctorum merita ne illam ingrederentur, defenderunt. 21  Das Beispiel erwähnt schon Marc Bloch, Die Feudalgesellschaft, Stuttgart 1999 (franz.: EA Paris 1939), S. 46. Mit einer Karte findet es sich bei Hendrik Mäkeler, „Die Wikinger im Frankenreich“, in: Historisches Museum der Pfalz Speyer/Sabine Kaufmann (Hrsg.), Die Wikinger. Begleitbuch zur Ausstellung „Die Wikinger“ im Historischen Museum der Pfalz Speyer, München 2008, S. 227–239, hier S. 228–230. 22  Heinz Löwe, „Geschichtsschreibung der ausgehenden Karolingerzeit“, in: Deutsches Archiv 23 (1967), S. 1–30, hier S. 26 (auch in: ders., Von Cassiodor zu Dante. Ausgewählte Aufsätze zur Geschichtsschreibung und politischen Ideenwelt des Mittelalters, Berlin/New York 1973, S. 180–205). Belege für weitere Beispiele solcher „Fluchtunternehmungen“ bei: Thomas Scharff, Die Kämpfe der Herrscher und der Heiligen. Krieg und historische Erinnerung in der Karolingerzeit, Darmstadt 2002, S. 40 mit Anmerkung 57; zu Translationsberichten allgemein Martin Heinzelmann, Translationsberichte und andere Quellen des Reliquienkultes (Typologie des sources du moyen âge occidental, 33), Turnhout 1979.



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Die hagiographischen Texte sind in zweifacher Hinsicht interessant. Zum einen bieten sie eine sehr genaue Chronologie der äußeren Ereignisabläufe. Denn die Erhebung der Reliquien, die ja mit den Normannenangriffen übereinstimmt, wird genau angegeben, da dieser Tag ebenso wie die endgültige Überführung an die neue Ruhestätte ja im Jahreskreis von den Mönchen begangen wurde. Wir können die historischen Ereignisse um die Normanneneinfälle daher oftmals sehr viel besser aus diesen hagiographischen Quellen datieren als aus der zeitgenössischen Historiographie. Zum anderen verweisen die Texte auch auf die Gründe dafür, warum die Normanneneinfälle von den monastischen Autoren derart katastrophal wahrgenommen und dargestellt wurden. Denn nicht nur die Zerstörung der Klostergebäude und die meistens zeitweilige Flucht der Mönche – darauf hat Mayke de Jong hingewiesen – wurden als Bedrückung wahrgenommen, sondern es ging auch darum, dass neben der physischen auch die geistliche Klausur gestört wurde und dass diese Erschütterungen der monastischen Disziplin schwere traumatische Folgen für die klösterlichen Gemeinschaften haben konnten.23 Dieses Empfinden schlug sich in den hagiographischen Darstellungen nieder und gelangte als Wertung von dort auch in die Geschichtsschreibung. Die fränkischen Quellen unterstellen den Normannen zwar durchaus unterschiedliche Motive für ihre Überfälle.24 Die Deutung der Geschehnisse, ihre eigentliche Ursache ist aber relativ einheitlich. „Wegen unserer Sünden“ seien die Normannen ins Frankenreich eingefallen. Die Normannen sind also weitgehend ein Mittel der göttlichen Strafe über die Christenheit, gleichzeitig ist es aber auch die Aufgabe der Franken als Gottes auserwähltem Volk, diesen Heiden zu widerstehen.25 Auch wenn etwa die Schwäche des Karolingerreiches durch den Bruderkrieg der Söhne Ludwigs des Frommen den Normannen bekannt geworden sei und dies den Anlass für ihre Angriffe geliefert hätte, so ist ebendiese discordia der christlichen Herrscher untereinander genau das Verhalten, das unter ihnen niemals herrschen darf und der göttlichen Maßregelung bedarf.

23  Mayke de Jong, „Carolingian Monasticism: the Power of Prayer“, in: Rosamund McKitterick (Hrsg.), The New Cambridge Medieval History, Bd. 2, Cambridge 1995, S. 622–653, hier S. 652; vgl. Zettel, Das Bild der Normannen, S. 268–272. 24  Ebd., S. 185–221. 25  Simon Coupland, „The Rod of God’s Wrath or the People of God’s Wrath? The Carolingian Theology of the Viking Invasions“, in: Journal of Ecclesiastical History, Bd. 42 (1991), S. 535–554.

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Gegenangriffe der Heiligen Die Ungeheuerlichkeit der normannischen Überfälle wird in den erzählenden Quellen also zum Teil dadurch ausgedrückt, dass nicht nur alle Teile der Bevölkerung unterschiedslos – Arme wie Reiche, Schutzlose wie Mächtige – den Angriffen ausgeliefert sind und Plünderung, Mord und Zerstörung erleiden müssen. Auch die Heiligen bzw. ihre Unterpfänder auf Erden, die den Menschen ja eigentlich Schutz und Tröstung spenden sollen, werden genauso wie die Menschen insgesamt zu Opfern und Flüchtlingen. Allerdings beschränkt sich die Rolle der Heiligen in diesen Erzählungen keineswegs auf die der passiven Opfer. Auch wenn sie oftmals vor den Normannen gerettet und in Sicherheit gebracht werden müssen, so nehmen sie doch auch immer wieder die Funktion der Schlachtenhelfer und Schutzpatrone ein. Sie tun dies in zweifacher Hinsicht: zum einen als Interzessoren bei Gott, indem sie die Gebete der Menschen unterstützen und für sie sprechen, zum anderen immer wieder auch als aktive Teilnehmer an den Kämpfen gegen die Eindringlinge, vor allem dann, wenn die Freveltaten der Normannen sie oder die heiligen Orte, an denen sie ruhen, direkt betreffen. Dann können die Heiligen durchaus auch direkt zum Gegenangriff übergehen. Dies geschah etwa am 20. August 835, ein Jahr vor der Übertragung der Gebeine des hl. Filibert von der Insel Noirmoutier aufs Festland. An diesem Tag kämpfte eine Gruppe von fränkischen Reiterkriegern unter dem Befehl von Graf Rainald von Herbauge gegen die Besatzungen von neun normannischen Schiffen, die auf der Insel gelandet waren. Dieses Gefecht überliefern mehrere Quellen, die den Sieg unterschiedlichen Seiten zuschreiben.26 In den Miracula s. Filiberti heißt es, dass im Kloster Corbie an der Somme an eben diesem Tag, dem Gedenktag des hl. Filibert, ein Mönch eine Vision gehabt und diese einem dort anwesenden Bruder aus Noirmoutier mitgeteilt habe. Der Vision zufolge sei der hl. Filibertus auf die Nachricht, dass sich Langboote der Insel näherten, aus seinem Grab gekommen und in einem strahlend weißen Gewand mit einem goldenen Schwert in der Rechten den Normannen durch die Klosterpforte entgegengetreten, gefolgt von einer Schaar Weißgewandeter. Innerhalb einer Stunde habe er alle Angreifer, die sich dem Kloster näherten, getötet und sei anschließend in sein Grab zurückgekehrt.27 Nach 26  Bernhard von Simson, Jahrbücher des fränkischen Reichs unter Ludwig dem Frommen, Bd. 2, Berlin 1874 (unv. ND 1969), S. 142 f.; Vogel, Die Normannen und das Fränkische Reich, S. 68 f. 27  „De translationibus et miraculis sancti Filiberti“, in: Monuments de l’histoire des Abbayes de Saint-Philibert (Noirmoutier, Grandlieu, Tournus) hrsg. v. René Poupardin (Collection de textes pour servir à l’étude et à l’enseignement de l’histoire, 38), Paris 1905, S. 19–70, hier II, cap. 11, S. 67: Tunc demum retulit illi situm insulae, monasterii positionem, sicut ei per somnum ostensum fuerat et sicut revera sese



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Ermentarius habe sich diese Vision im Nachhinein bewahrheitet, denn in der Tat habe es am Tag des Heiligen einen Kampf gegeben, in dem 484 Normannen, aber, außer einer Anzahl von Pferden, nur ein einziger Franke getötet worden seien.28 Der Heilige, so die Botschaft des Textes, kann sich also durchaus wehren. Ihm ist dieser Sieg über die Normannen zuzuschreiben. Graf Rainald und seine Krieger sind als seine Werkzeuge zu sehen, die den Kampf für den Heiligen und in seinem Namen führen und mit seiner Hilfe zu einem gewaltigen und wunderbaren Sieg gelangen. Diese Erzählung dürfte auch als Kritik am aquitanischen Unterkönig Pippin (797–838) zu sehen sein. Diesen hatte, wie Ermentarius († 860er) zu Beginn der Miracula ausführt, Abt Hilbold um Hilfe gegen die Normannen gebeten. Diese habe der König aber mit der Begründung abgelehnt, dass man die Insel nicht effektiv schützen könne, weil sie vom Festland aus bei Flut nicht erreichbar sei, während die Normannen immer auf ihr landen könnten. Es sei aus der Sicht des Königs besser, die Reliquien in Sicherheit zu bringen.29 Man wird Ermentarius wohl nicht Unrecht tun, wenn man ihn so versteht, dass etwas mehr Vertrauen in die bereits erwiesene Hilfe Filiberts Pippin von Aquitanien dazu gebracht hätte, der Bitte Abt Hilbolds zu entsprechen und damit die Ruhe der heiligen Gebeine nicht zu stören. res habebat, addiditque: Et, ut vere scias quia vera sunt quae dico: vidi hac nocte nuntium de portu advenisse maris, qui novem Nortmannorum adesse nuntiaret naves. Tunc sanctus Filibertus de proprio consurgens tumulo, sicut mihi videbatur, vestibus indutus candidissimis, aureum ferens dextera evaginatum manu mucronem, multitudine dealbatorum subsequente, exiit per occidentalem monasterii atque castelli portam Et cum ad portum qui Conca dicitur quantotius properaret, invenit multitudinem Nortmannorum, qui armati ad monasterium festinique pergebant. Nec mora, sub unius horae curriculo omnes sanctus perimit Filibertus, ac deinde monasterium revertitur atque in suo se collocat tumulo. 28  Ebd., II, cap. 11, S. 67: Ipsa denique festivitatis ejus die, de novem navibus hora etiam nona pugna inchoatur, quae vespere finitur, in qua quadringenti octoginta et quattuor ceciderunt Nortmanni, uno tantum ex nostris corruente, equis quampluribus interfectis, equitibus nonnullis vulneratis. Haec ita esse qui interfuit narratum iri censuit. 29  Ebd. I, cap. 1, S. 25: Tunc vero gloriosus rex suique optimates (generale siquidem regni sui placitum existebat) istius modi rem sollerti cura pertractantes, nequaquam ibi auxilium pugnandi assidue administrari posse reppererunt, scilicet quia ipsa insula, ledonibus maxime impedientibus, non semper accessibilis esse potest nostratibus, cum Nortmannis, cunctis temporibus quibus mare tranquillatur, inaccessibilis esse minime dinoscatur. Sed elegerunt revera quod salubrius esse judicaverunt. Annuente quippe Pippino serenissimo rege, pari consensu omnes ferme Aquitanicae provinciae episcopi, abbates, comites, caeterique fideles qui illic adfuerunt, insuper et alii quamplures, qui hoc scire potuerunt, decreverunt, multo melius fore, beati Filiberti corpus inde transferri debere quam ibi derelinqui.

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Nicht mit einem goldenen Schwert, sondern mit einem Stab oder Knüppel bekämpfte der hl. Benedikt die Normannen. Im Jahr 878 oder 879 fuhr eine normannische Flotte die Loire aufwärts bis Orléans und zum Kloster Fleury, das die Reliquien des Heiligen barg. Rechtzeitig gewarnt, hatten sich die Mönche bereits auf die Flucht nach Norden gemacht, so dass die Normannen ein leeres Kloster vorfanden. Sie folgten allerdings den Wagenspuren, die die Mönche hinterlassen hatten. Aber auch die Normannen wurden verfolgt, nämlich von einem Heer, das von den Truppen des Markgrafen von Neustrien, Hugo, sowie des Grafen von Auxerre, Girboldus, gebildet wurde. Diese fielen den Normannen unweit von Fleury in den Rücken und schlugen sie vernichtend.30 Nach der Schlacht nun, so sagen es die Miracula s. Benedicti, habe der Anführer des fränkischen Heeres seine Krieger gefragt, ob sie denn während der Kämpfe auch einen Mönch von ehrwürdiger Gestalt gesehen hätten, der sich seinen Weg durch die Menge der Feinde gebahnt habe. Die Krieger verneinten das, woraufhin Hugo die wahre Identität seines Begleiters erkannte und ausrief: Der hl. Benedikt habe ihn während der gesamten Schlacht behütet, indem er mit der Linken sein Pferd am Zügel geführt und beschützt habe, während er in der Rechten einen Stab gehalten und mit diesem viele Feinde erschlagen habe. Auf diese Weise seien durch die Intervention des Heiligen die Schuldigen bestraft und den Unschuldigen sei die Sicherheit wiedergegeben worden.31 Der Heilige schritt hier also Seite an Seite mit den weltlichen Kriegern und brachte die heidnischen Feinde, die seine Mönche bedrohten, um. Hier zeigt sich die Doppelexistenz des Heiligen im Himmel und auf Erden. In der Nähe seiner Reliquien ist der Heilige auf Erden präsent.32 Darstellungen wie die eben zitierten sind dabei keineswegs auf die Kämpfe mit den Normannen beschränkt. Es gibt zum Beispiel auch ganz ähnliche Erzählungen über Konflikte karolingischer Herrscher mit slawischen Gegnern. So lässt Arnold von St. Emmeram im Kampf König Arnulfs gegen die 30  „Ex Adrevaldi Floriacensis Miraculis S. Benedicti“, in: Monumenta Germaniae Historica, Scriptores, hrsg. v. Oswald Holder-Egger, Bd. 15.1, Hannover 1887, S. 478–500, hier cap. 41, S. 499 f. 31  Ebd. cap. 41, S. 499 f.: Patrata itaque desiderabili victoria, belli dux suos interrogans, requisivit, si forte quempiam reverendae visionis monachum inter densitates hostium sibi viam pandentem proprio visu contemplati essent. Quibus respondentibus, se in illo praelio neminem monachorum vidisse, statim ille: ‚Sanctus‘, inquiens, ‚Benedictus me per totam belli huius certamen protegens, sinistra manu equi mei habenas dirigendo ac custodiendo tenuit, dextra vero baculum manu tenens, plurimos hostium prosternendo morti tradidit‘. 32  Arnold Angenendt, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 1994, S. 102–122.



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Mährer in den 890er Jahren gleich eine ganze Gruppe von Heiligen auf der Seite des Herrschers aufmarschieren. Die zur Schlacht bereiten Gegner, so sagt es der Autor in den im 11. Jahrhundert geschriebenen Miracula beati Emmerami, hätten gesehen, wie das Heer Arnulfs von unbekannten und schönen Männern verteidigt worden sei, die als diejenigen Heiligen offenbart wurden, deren Schutz Arnulf sich anvertraut hatte. Als die Mährer insgesamt durch diesen Anblick gleichsam gelähmt wurden und ein einzelner Krieger sie zum Angriff anfeuern wollte, stellte sich diesem der hl. Emmeram in Person entgegen und hielt ihn davon ab, was die Feinde zur Flucht veranlasste.33 Solche drastischen Schilderungen des Eingreifens der Heiligen in den Kampf sind allerdings nicht die Regel. In den meisten Fällen wird lediglich darauf verwiesen, dass es die Verdienste des Heiligen seien, die einer militärischen Aktion gegen die Normannen zum Erfolg verholfen hätten. Dabei kann es so weit gehen, dass die Rolle der Beter, die sich um Schlachtenhilfe an den Heiligen wenden, der Rolle der Kämpfer gleichgesetzt wird oder sie gar übertrifft. Diese Frage wird ausführlich in den Miracula s. Bertini thematisiert.34 Darin wird berichtet, dass im Jahr 891 ein normannisches Heer den Ort Sithiu (St. Omer) und das außerhalb gelegene Kloster St. Bertin angreifen und plündern wollte. Dies gelang ihnen nicht, ihre Belagerung wurde abgewehrt und sie wurden in mehreren Gefechten von der lokalen Bevölkerung geschlagen. Anschließend berichtet der Autor des Mirakelberichts, dass die von den Franken errungene Beute in drei Teile geteilt worden sei, von denen 33  „Ex Arnoldi monachi S. Emmerami libris de sancto Emmeramo“, in: Monumenta Germaniae Historica, Scriptores, hrsg. v. Georg Waitz, Bd. 4, Hannover 1841, S. 545–574, hier 1, cap. 5, S. 551: Cum ergo huius patrocinium duris in negociis et in preliis multis satis haberet expertum, manifestius hoc sibi adesse sensit, quando Marahensi bello interfuit. Ibi enim, ut legisse me memini, primo congressu, crepitantibus hastis, qui erant tyrannicae partis viderunt acies imperatoris ab ignotis et pulcherrimis defensari viris, qui, uti dignis revelatum est, erant sancti, quorum patrociniis illo profecturus intente se commendavit. Horum quippe visu perterritis hostium cuneis, lentescebat pugna in parte adversa. Quod aegre ferens unus militum tiranni, clipeum arripuit, et primarium signum legionibus pretulit; superbe has conpellans et exhortans, quo sui exemplo animos resumerent ad pugnam. Cumque prepeti cursu in ipsum pene principem irrueret, obvium habuit senem canitie venerabilem, sed habitu terribilem, qui ei protestatus, Emmerammum sibi resistere, umboni manum inseruit, ac tamdiu frustra a renitentem a vexavit, quousque hi, qui eius instinctu facti sunt audaces, fierent omnes inde fugaces. Haec non ficta. sed esse veraciter facta et dicta, is qui vidit et pertulit, postea humiliatus confitetur et prodit. Hinc princeps gloriosus victoria tali oppido laetus, Ratisbonam revertitur, ubi consonis omnium in ea ecclesiarum campanis suscipitur, simulque triumphus cum miraculo predicatur et extollitur. 34  „Miracula S. Bertini Sithiensia“, in: Monumenta Germaniae Historica, Scriptores, hrsg. v. Oswald Holder-Egger, Bd. 15.1, Hannover 1887, S. 509–516, cap. 6–11, S. 511–516.

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einer an die Kirchen ging, einer an die Beter und Armen und einer zu gleichen Teilen an die Adligen und niederen (Kämpfer). Dies sei zu Recht geschehen, so der Autor, weil die Gebete von den Mauern herab zusammen mit der Fürsprache der heiligen Audomarus und Bertinus dazu geführt hätte, die Arme der Krieger zu stärken und ihnen damit den Sieg zu geben.35 Auch auf andere Weise, durch Prophezeiungen, konnten Heilige zur ­ tärkung der Kampfmoral beitragen. So schrieb Altfrid um 825 die Vita des S hl. Liudger. Darin sagt er, dass der Heilige zu seinen Lebzeiten die Normanneneinfälle im Traum prophezeit habe. Er habe ausgeführt, dass er selbst sie nicht mehr erleben werde und dass sie am Ende erfolgreich abgewehrt werden würden. Altfrid schrieb das in einer Zeit, zu der es, wie er selbst sagt, nach dem Tod Liudgers im Jahr 809 fast jährlich zu Überfällen der Normannen kam. Er gibt am Schluß aber auch seiner Hoffnung darüber Ausdruck, dass diese Überfälle nach dem Zeugnis des Heiligen einmal ein Ende finden würden.36 Somit wird dem Heiligen im Nachhinein das Vorwissen über die Einfälle zugeschrieben, was dann aber auch dazu dient, seinen Trost und Zuspruch über deren Ende zu legitimieren. Das bisher Gesagte zeigt sich fast vollständig beim Eingreifen des hl. Germanus beim Normanneneinfall von 845. Im Bericht seiner Translatio wird der Angriff ausführlich kommentiert und gedeutet, dabei wird dem militäri35  Ebd. cap. 7, S. 512 f.: De exuviis quoque tres divisiones fecerunt, unam aecclesiis concedentes, aliam oratoribus et pauperibus dantes, terciam aequa lance nobiliores cum inferioribus compertientes. Et merito. Scrutemur enim humanitus verbi gratia, quibus magis addicenda sit huiusmodi victoria, oratoribus an bellatoribus. Sed quoniam locum illum certaminis a moeniis castelli facile fuerat prospectari, quis valet effari, quam in timis praecordiorum suspiriis oratores in scammatis ipsius lucta pro sua liberatione Christo totis nisibus flebiliter fuderint a preces. Quam crebra et alta suspiria cum fletibus comas et facies laniando incessa biliterque lacrimando anhelanter reciprocabant cum parvulis matres! Quosque inbelle vulgus gemituum mugitus ad caelum mittebat, brachiis infatigabiliter tensis palmisque pansis, finem certaminis Dei miserationi commendantes! Atque ideo, si quis vel mimice contentiosus esse coeperit, cui ordini potius haec reputetur causa, dicamus, karissimi, dicamus, immo veraciter testemur ac, remota omni ambagine, asserere non dubitemus, quod in huius certaminis anxietate oratores et imbelles pulsatibus et inprobitatibus orationum aures Dei ad clementiam inclinabant, quatinus propriis viribus minime praesumentes adiuvaret ac, intercurrentibus electorum suorum Audomari atque Bertini meritis, potenti sua virtute ad perficiendam sui suorumque vindictam manus pugnantium misericorditer roboraret. Sicque et eis addicatur merito victoria et oratoribus infatigabiliter Christo fine tenus famulantibus corona! Ante omnia vero datori et auctori non modo praesentis triumphi, verum etiam largitori bonorum omnium Deo cum sanctis maneat laus et gloria per infinita saecula saeculorum! Amen. Dazu auch Scharff, Die Kämpfe der Herrscher, S. 48 f. 36  „Vita sancti Liudgeri auctore Altfrido“, in: Die Vitae sancti Liudgeri, hrsg. v. Wilhelm Diekamp (Die Geschichtsquellen des Bisthums Münster, 4), Münster 1881, S. 1–53, hier cap. 27, S. 32 f.



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schen Geschehen sehr viel Raum gegeben.37 Zunächst wird betont, dass der Einfall mit göttlicher Erlaubnis als Strafgericht über die Franken hereinbricht, weil nach dem Tod Ludwigs des Frommen Streit unter ihnen ausgebrochen ist und die Sünden der Christen immer mehr zugenommen haben. Wegen ihrer inneren Zwistigkeiten sind die Franken auch nicht zur Gegenwehr in der Lage, und die Mönche von St. Germain-des-Prés haben niemanden, der sie verteidigt, außer Gott und dem Heiligen. Deshalb treten sie, nach bekanntem Muster, mit den Reliquien die Flucht an. Der Heilige verlässt also zwar sein Kloster, beschützt aber auch weiterhin – so betont es der Translationsbericht – den Ort, an dem er so viele Jahre geruht hat. Denn im Gegensatz zur Stadt Paris, die mit göttlicher Erlaubnis erobert wird, bestraft er diejenigen Normannen, welche die Kirche zerstören wollen. Die Angreifer bitten schließlich Karl den Kahlen (823–877), der ihnen vorher auch eine militärische Schlappe beigebracht hat, um friedlichen Abzug aus Respekt vor dem Heiligen, der der einzige gewesen sei, der ihnen Furcht eingeflößt habe und dessen Reliquien anschließend ins Kloster zurückkehren können.38 Der triumphale Sieg des Heiligen wird schließlich dadurch perfekt, dass er den heimgekehrten Anführer der Normannen, Ragnar, der sich vor seinem König Horich (813–854) damit brüstet, Paris erobert und Saint-Germain geplündert zu haben, schlägt, als dieser sagt, dass bei den Franken die Toten mehr Mut als die Lebenden besäßen, da sich ihm nur ein alter, lange verstorbener Mann entgegengestellt habe. Ragnar überlebt diesen Angriff nicht, und täglich sterben einzelne seiner Begleiter. Aus Furcht, selbst zu sterben, lässt Horich die übrigen töten und schickt ihre Köpfe zur Buße an die Franken; alle Gefangenen lässt er in seinem Reich suchen und ehrenvoll heimkehren. Der Sieg, den das Volk wegen seiner Sünden nicht erringen konnte, gebührt also dem Heiligen allein.39 Diese Geschichte ist vor allem deshalb so interessant und wird hier so ausführlich wiedergegeben, weil man an ihr sehen kann, wie der Heilige auf zwei Ebenen eingreift. Zum einen beschützt er auch in Abwesenheit das Kloster, in dem seine Reliquien ruhen, davor, von den heidnischen Angreifern geschändet zu werden. Da Gott den Einfall der Normannen als Strafe für die Sünden der Franken im Prinzip zulässt, greift der Heilige auch nicht ins Schlachtgeschehen ein und lässt ihnen außerhalb seines Klosters freie Hand. Sein Eingreifen hat aber – das ist der zweite Punkt – eine solche Wirkung auf die Normannen, dass sie nach Beendigung ihres Raubzuges aus 37  „Translatio S. Germani Parisiensis anno 846 secundum primaevam narrationem e codice Namurcensi“, in: Analecta Bollandiana, Bd. 2 (1883), S. 69–98. Zu den Ereignissen s. Janet L. Nelson, Charles the Bald, London/New York 1992, S. 151–155. 38  „Translatio S. Germani“, cap. 20–22, S. 84–86. 39  Ebd. cap. 30 f., S. 91–93.

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Furcht vor ihm das Land verlassen. Seine Rache an den Zurückgekehrten macht die Überlegenheit gegenüber den Heiden noch einmal deutlich und betont, dass dieser Sieg von ihm errungen wurde und nicht ein Erfolg der Franken ist. So kann aus der Sicht des Heiligen auch ein wenig erfolgreiches militärisches Vorgehen als Sieg interpretiert und, was noch wichtiger erscheint, mit Sinn aufgeladen werden. Auch bei der langen Belagerung von Paris durch die Normannen in den Jahren 885/886 spielte der hl. Germanus in der schriftlichen Überlieferung eine wesentliche Rolle. Der Mönch und Augenzeuge Abbo von Saint-Germain-des-Prés verfasste kurz nach den Ereignissen ein langes Gedicht darüber, in dem er Germanus die erfolgreiche Verteidigung der Stadt zuschrieb.40 In diesem Werk kommen alle bisher genannten Beziehungen zwischen Heiligem und Krieg zur Sprache. Die Beschreibung der Taten des Heiligen zieht sich durch den gesamten Text. Zunächst teilt Abbo mit, dass man die Gebeine des Heiligen beim Nahen der Normannen in die Stadt in Sicherheit gebracht habe, denn Saint-Germain lag damals außerhalb der Stadtmauern.41 Aber auch, wenn sein Leib nun in der Stadt ruht, lässt er doch eine Entweihung seiner Kirche und seines Grabes nicht zu. Normannen, die die Wiese vor dem Kloster betreten, lässt er in Gefangenschaft geraten, diejenigen, die in die Kirche eindringen oder sein Grab plündern wollen, müssen sterben,42 und in der Nacht sehen sogar fränkische Wächter von den Stadtmauern aus, wie der hl. Germanus mit einer Lampe in der Hand an seinem Grab wacht.43 Aber Abbo lässt den Heiligen sich nicht nur um sein eigenes Grab kümmern, Germanus hilft den Verteidigern auch in ihrem oftmals verzweifelten Abwehrkampf: Als die Normannen brennende Schiffe auf die Brücke zutreiben lassen, welche die Île de la Cité mit den Befestigungen auf dem jenseitigen Seineufer verbindet, und die Menschen klagen und bitten, bewirkt es die Fürsprache des Heiligen bei Gott, dass diese Brander an Land auflaufen.44 An anderer Stelle berichtet Abbo, dass der Leib des Heiligen in feier40  „Abbonis Bella Parisiacae urbis“, in: Monumenta Germaniae Historica, Poetae, hrsg. v. Paul von Winterfeld, Bd. 4.1, Berlin 1899, S. 72–122; Scharff, Die Kämpfe der Herrscher, S. 77–79. 41  „Abbonis Bella“, I, v. 464–467, S. 93: Hic iacuit suimet iugiter venerabile corpus, / Nobiliusque monasterium cunctis fuit illud, / Nustria quę refovere sinu discebat in amplo. / Hinc propriis fuerit famulis gestatus in urbem. 42  Ebd. I, v. 468–500, S. 93 f.; II, v. 98–104, S. 101. 43  Ebd. II, v. 79–83, S. 100: Qui vigiles madidę per opaca silentia noctis / Germanum nitida darum vidisse figura / Se perhibent moetasque sui lustrasse locelli / Lumine gestantem rutilanti sepe laternam, / Quo sancti redolent artus forsan tumulati. 44  Ebd. I, v. 412–418, S. 91: Vox auditur in excelsis et luctus in aethris! / At deus omnipotens omnis fabricę reparator / Orbis, adest precibus sancti rogitatus; et ipse,



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licher Prozession um die Stadtmauern getragen wird. Dabei wird einer der Träger von einem Stein getroffen, den ein Normanne geschleudert hat. Statt des Getroffenen, der vom Heiligen geschützt wird, stirbt allerdings der heidnische Schütze selbst.45 Germanus lässt sich auch in der Stadt sehen und erscheint in der Gestalt eines Priesters von außerordentlicher Schönheit am Bett eines erkrankten Adligen, der glaubt zu sterben und dass die Normannen die Mauern überrennen. Germanus spricht ihm Mut zu und heilt ihn von der in der Stadt wütenden Pest, worauf der Adlige überall von seiner nächtlichen Erscheinung berichtet.46 In höchster Not schreitet der Heilige auf die flehentlichen Bitten der Verteidiger hin sogar selbst in das Kampfgeschehen ein. Er zeigt sich im heftigsten Kampf und tötet die Anführer der Normannen und viele andere und treibt sie damit zurück, was die Verteidiger zu neuen Anstrengungen veranlasst.47 Insgesamt sind es für Abbo die Verdienste des Heiligen, die der Stadt Rettung bringen.48 Er ist es, der die Stadt während der ganzen Zeit der Belagerung beschützt.49 Und damit tut er mehr als Kaiser Karl III. und Graf Odo (866–898), die zwar auch militärisch eingreifen, sich aber letztendlich mit Tributen von den Normannen freikaufen und mit der Erlaubnis, die übrige / O Germane, venis humili succurrere plebi / Auxilio, lapidumque salire struem super altam / Flammivomas puppes, pontem ne lederet ulla, / Ipse coegisti; pontem sustentat is agger. 45  Ebd. II, v. 146–153, S. 102: Luce dehinc quadam dum gestabatur et almi / Militibus propriis corpus per moenia circum, / Urbanis septum sectantibus omnipotentem / Perrogitando deum votis sub voce canora, / Caeditur allofilo de portatoribus unus / Nomine Gozbertus calclo; percussor in umbras / Tartareas fugit moriens, icto patiente / Nil super hoc lapidis iactu sancto auxiliante. An anderer Stelle werden die Reliquien der hl. Genoveva vor die Stadt gebracht, um die Kämpfenden zu unterstützen (ebd., II, v. 247–249). 46  Ebd. II, v. 126–145, S. 101 f. Dieser Abschnitt geht direkt dem in der vorigen Fußnote zitierten voraus. 47  Ebd. II, v. 258–292, S. 105 f., insbes. v. 279–288: Omnibus en Germanus adest recolendus in orbe / Corpore subsidioque simul nil vota moratus, / Quo maiora tenebantur certamina Martis, / Signiferosque Danûm lucrari morte coegit, / Atque dehinc alios perplures, protenus urbe, / Ponte simul, pellens illos; quem maxima turris / Ante suos domnum speculans congaudet ocellos. / Unde fatigati vires revocant sibi fortes / Atque resistere decertant bellando protervis, / Qui turrim repetunt, pontem vel menia linquunt. 48  Ebd. II, v. 308–314, S. 106. 49  Ebd. II, v. 380–387, S. 108: Urbs age Parisius, sub quis defensa fuisti / Principibus? ‚Me quis poterat defendere, primas / Hic nisi Germanus, virtus et amor meus omnis? / Post regem regum sanctamque eius genetricem / Rex meus ipse fuit pastorque, comes quoque fortis; / Hic ensis bis-acutus adest meus, is catapulta, / Is clipeusque, patens murus, velox sed et arcus.‘

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Francia plündern zu dürfen. Germanus wirkt dabei auf unterschiedlichen Ebenen. Grundsätzlich ist es natürlich der Schatz seiner Verdienste, der seiner Fürsprache bei Gott besonderes Gewicht verleiht und damit Gehör verschafft. Daneben wird ihm aber auch noch ein direktes Eingreifen in das Kampfgeschehen zugesprochen, das auch nur aufgrund seiner Verdienste möglich ist, aber dem Heiligen einen stärkeren aktiven Anteil am Geschehen zuspricht. Darüber hinaus lässt er es nicht zu, dass seine Grablege geschändet wird und straft alle, die es versuchen. Hier vertritt der Heilige sozusagen seine eigenen Interessen und auch die der Mönche des Klosters, in dem seine Grabstätte liegt. Die Heiligen greifen also auf zwei unterschiedliche Weisen in das Kampfgeschehen ein. Zum einen reagieren sie von sich aus, vor allem, um ihre Grablegen und Klöster zu beschützen. Zum anderen, und das ist eher der „Normalfall,“ kann ihre Hilfe durch die Gebete der Gläubigen aktiviert werden. Schlachtenhilfe bedeutet dann in der Regel die Fürsprache der Heiligen bei Gott, um sein Volk zu beschützen und ihm den Sieg zu geben. Das direkte Eingreifen der Heiligen in das Kampfgeschehen ist eher als Besonderheit zu sehen.50 Die hagiographischen und historiographischen Texte zeigen, wie die Menschen versuchten, ihre Heiligen zu Unterstützung und Fürsprache zu bewegen. Das verzweifelte Flehen in extremen Notsituationen, wie etwa bei der Belagerung von Paris, findet dabei wohl meistens in ritualisierten Formen statt: Gebeten, Litaneien oder Prozessionen mit den Reliquien. Das kann durchaus zu feststehenden Formen führen, wie etwa der Bitte zur Hilfe gegen die Normannen in Sakramentaren des 9. Jahrhunderts.51 Heerführer konnten auch bereits vor dem Beginn militärischer Auseinandersetzungen mit den Normannen versuchen, sich der Unterstützung von Heiligen zu versichern. Bei der genannten Bedrohung von Paris im Jahr 845 wurden neben den Gebeinen des hl. Germanus auch alle anderen Reliquien im Gebiet um die Stadt, die dort bereits seit langem geruht hatten, an sichere Orte gebracht. Eine Ausnahme davon bildeten lediglich die Reliquien aus Saint-Denis. Die Gebeine des hl. Dionysius und die der anderen Heiligen aus der Abtei wurden zwar ausgegraben und aus der Gruft in die Kirche ge50  Schreiner,

„Krieg“, S. 66. McCormick, Eternal Victory. Triumphal Rulership in Late Antiquity, Byzantium, and the Early Medieval West, Cambridge u. a. 1986, S. 342–362, insbes. S. 351 f. Allgemein zu religiösen Ritualen im Kontext der karolingischen Kriegführung s.: David S. Bachrach, Religion and the Conduct of War, c. 300–1215, Woodbridge 2003, S. 32–63; zur Rolle von Geistlichen im Krieg s.: Friedrich Prinz, Klerus und Krieg im früheren Mittelalter. Untersuchungen zur Rolle der Kirche beim Aufbau der Königsherrschaft (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 2), Stuttgart 1971, S. 73–146. 51  Michael



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bracht, sollten aber auf Befehl Karls des Kahlen dort verbleiben, um das Kloster zu beschützen.52 Und bevor der König sich den Normannen – allerdings wenig erfolgreich – entgegenstellte, erflehte er auf Anraten Hinkmars von Reims die Hilfe des Heiligen und versprach, um seiner Bitte Nachdruck zu verleihen, Güter zurückzuerstatten, die der Kirche unrechtmäßig entrissen worden waren.53 Ob sich auch bereits Karl der Große bei seinem Zug an die Kanalküste zur ersten Organisation von Abwehrmaßnahmen gegen die Normannen im März des Jahres 800 um die Hilfe der Heiligen bemühte, ist nicht leicht zu sagen. Nach dem Bericht der Reichsannalen organisierte Karl dort die Ausrüstung einer Flotte und die Einsetzung einer Küstenwache. In den Reichsanalen und in anderen Quellen wird darüber hinaus darauf hingewiesen, dass Karl in dieser Zeit auch die Klöster St. Bertin und St. Riquier sowie andere heilige Stätten besucht habe, bevor er dann nach Tours zum hl. Martin gegangen sei, wo er sich auch mit seinem Sohn Ludwig traf.54 Die Quellen geben keinen Hinweis darauf, was Karl in den genannten Klöstern getan hat. Es ist möglich, dass er sich dort um die rein militärische Befestigung der heiligen Orte gekümmert hat, denkbar ist aber auch, dass er die Hilfe der Heiligen erbeten hat. Dies könnte ebenso in Tours geschehen sein. In anderen Fällen, die nicht mit den Normannen zusammenhängen, kann man den Besuch heiliger Stätten mit dem Anliegen, die dortigen Heiligen um Unterstützung in geplanten Feldzügen zu bitten, sehr viel deutlicher sehen. 52  „Ex miraculis sancti Germani in Normannorum adventu factis“, in: Monumenta Germaniae Historica, Scriptores, hrsg. v. Georg Waitz, Bd. 15.1, Hannover 1887, S. 10–16, hier cap. 8, S. 12: necnon et caetera sanctorum corpora, qui in hac regione multo iacuerant tempore, e propriis effossa sepulchris, propter metum supradictorum Normannorum alias sunt deportata, preter corpus beatissimi martyris Dyonisii ceterorumque sanctorum, qui in eodem monasterio condigno quiescunt honore. Quae licet ex propriis essent effossa sepulchris, tamen preceptione ac iussione domni Karoli gloriosissimi regis ad alium inde non sunt permissa deportari locum. 53  Lupus, „Epistolae“, Nr. 32, S. 40 und Nr. 42, S. 50. Zu den Ereignissen: Vogel, Die Normannen und das Fränkische Reich, S. 106–113; Dümmler, Geschichte des ostfränkischen Reiches, Bd. 1, S. 282–284. 54  „Annales regni Francorum inde ab a. 741 usque ad a. 829 qui dicuntur Annales Laurissenses maiores et Einhardi“, in: Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum, hrsg. v. Friedrich Kurze, Bd. 6, Hannover 1895, a. 800, S. 110: Ipse medio mense Martio Aquisgrani palatio digrediens, litus oceani Gallici perlustravit, in ipso mari, quod tunc piratis infestum erat, classem instituit, praesidia disposuit, pascha in Centulo apud sanctum Richarium celebravit. Indeque iterum per litus oceani Ratumagum civitatem profectus est, ibique Sequana amne transmisso Turonis ad sanctum Martinum orationis causa pervenit. Zu den Ereignissen vgl.: Ursula Swinarski, Herrschen mit den Heiligen. Kirchenbesuche, Pilgerfahrten und Heiligenverehrung früh- und hochmittelalterlicher Herrscher (ca. 500–1200) (Geist und Werk der Zeiten, 78), Bern u. a. 1991, S. 310–316.

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So besuchte Ludwig der Fromme vor einem Krieg gegen die Bretonen im Jahr 818 auf seinem Weg von Paris zu seinem in Vannes versammelten Heer alle wichtigen erreichbaren Städte und Klöster, um an den Gräbern der Heiligen um Hilfe für sein Unternehmen zu beten.55 Mit vermutlich ähnlicher Absicht pilgerte Karl der Kahle im Jahr 841, bevor er sich in die militärische Konfrontation mit seinem Halbbruder Lothar in der Schlacht von Fontenoy begab, nach Saint-Denis und Saint-Germain-des-Prés.56 Die Wirkmächtigkeit der Unterstützung durch die Heiligen wird in den karolingerzeitlichen Texten zuhauf beschrieben. Viel schwieriger ist es, Aussagen über den individuellen Glauben an diese Wirksamkeit bei den Zeitgenossen zu treffen. Die aufwendigen Reisen von Herrschern sprechen allerdings in der Tat eher für die Überzeugung, damit auch tatsächlich etwas erreichen zu können. Man kann die Frage auch auf die Normannen beziehen. In seinem Buch über die Tagewahl karolingischer Herrscher bei wichtigen politischen Akten stellt Michael Sierck fest, dass Normannen ihre Überfälle auf fränkische Städte und Klöster häufig in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu vor allem lokalen Heiligenfesten unternommen haben.57 Dieser Befund deutet für ihn zunächst einmal darauf hin, dass die Normannen offensichtlich recht gut über die religiösen Gewohnheiten ihrer Opfer informiert waren und somit nicht vollkommen isoliert außerhalb der christlich-fränkischen Gesellschaft standen. Die Begründung für das Vorgehen der Normannen ist allerdings etwas problematischer. Die Erklärung, dass die polytheistischen Normannen die christlichen Heiligen als Machtträger akzeptiert und auf diese Weise ihre Gunst zu erlangen versucht hätten, scheint doch kaum zutreffen zu können, denn mit einem Überfall kann man schwerlich die Gunst des Heiligen erreichen. Erst die Angst vor den Strafen des Heiligen nach dem Überfall war es ja, die Horich angeblich zu seinem Einlenken bewegt hat. Die zweite von Sierck angebotene Erklärung scheint logischer, wenn auch prosaischer zu 55  Ermoldus Nigellus (Ermold le Noir), Poème sur Louis le Pieux et épitres au roi Pépin, hrsg. v. Edmond Faral (Les classiques de l’histoire de France au moyen âge, 14), Bd. III, Paris 1964, v. 1522–1559, S. 116–120; vgl. Thomas Scharff, „Gott gnädig stimmen und den Adel im Auge behalten. Die Rolle karolingischer Herrscher im Krieg“, in: Martin Clauss/Andrea Stieldorf/Thomas Weller (Hrsg.), Der König als Krieger. Zum Verhältnis von Königtum und Krieg im Mittelalter (Bamberger interdisziplinäre Mittelalterstudien  – Vorlesungen und Vorträge, 5), Bamberg 2015, S. 265– 298, hier S. 293 f.; ders., Kämpfe, S. 56–58. 56  Swinarski, Herrschen mit den Heiligen, S. 316–323; zu den militärischen Ereignissen vgl. Adelheid Krah, Die Entstehung der „potestas regia“ im Westfrankenreich während der ersten Regierungsjahre Kaiser Karls II. (840–877), Berlin 2000, S. 49– 86. 57  Michael Sierck, Festtag und Politik. Studien zur Tagewahl karolingischer Herrscher (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, 38), Köln/Weimar/Wien 1995, S. 268–275.



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sein: An den Heiligentagen, die in der Regel mit Markttagen verbunden waren, waren die Städte voll mit Waren, also potenzieller Beute, und die Einwohner dürften durch die Feiern einen deutlich erhöhten Alkoholpegel aufgewiesen haben. Religiöse Implikationen müssen dabei nicht zwingend vorhanden gewesen sein. Heilige und Krieg Die von den Franken im Kampf gegen die Normannen angerufenen Heiligen waren oftmals lokale Heilige, die von den Normanneneinfällen gleichsam direkt betroffen waren. Es stellt sich nun die Frage, ob daneben auch vorrangig Heilige für die Kämpfe aktiviert wurden, zu denen die Herrscherfamilie eine besondere Beziehung hatte, oder solche, die als Kriegerheilige ein enges Verhältnis und damit eine besondere „Zuständigkeit“ für die Kriegführung hatten. Was die Frage nach den Kriegerheilligen anbelangt, so kann man sie weitgehend negativ beantworten. Zwar war unter traditionellen heiligen Unterstützern im Krieg zumindest einer, der auch im irdischen Leben eine militärische Vergangenheit hatte: Der hl. Martin hatte als patronus spetialis/peculiaris, wie er in Urkunden bezeichnet wurde, eine besonders enge Verbindung mit der karolingischen Dynastie und dem Reich. Sein Mantel, die cappa, wurde als siegbringende Reliquie in die Schlacht geführt, was Walahfrid Strabo und Notker von Sankt Gallen für das 9. Jahrhundert bezeugen.58 Für Klaus Schreiner liegt der Grund dafür, diesen Mantel zu nehmen, darin, dass man im Westen keine authentischen Kreuzesreliquien vorweisen konnte, die in Byzanz bereits seit dem 6. Jahrhundert als siegbringende Zeichen mit in den Kampf geführt wurden.59 58  Walahfrid Strabo, „De exordiis et incrementis quarundam in observationibus ecclesiasticis rerum“, in: Monumenta Germaniae Historica, Capitularia, hrsg. v. Alfred Boretius/Victor Krause, Bd. 2, Hannover 1897, cap. 32, S. 515: Dicti sunt autem primitus cappellani a cappa beati Martini, quam reges Francorum ob adiutorium victoriae in proeliis solebant secum habere, quam ferentes et custodientes cum ceteris sanctorum reliquiis clerici cappellani coeperunt vocari. Notker der Stammler, „Taten Kaiser Karls des Großen“, I, 4, in: Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Germanicarum, Nova Series, hrsg. v. Hans Haefele, Bd. 12, Berlin 1959, S. 5: De pauperibus ergo supradictis quendam optimum dictatorem et scriptorem in capellam suam assumpsit. Quo nomine reges Francorum propter cappam sancti Martini, quam secum ob sui tuitionem et hostium oppressionem iugiter ad bella portabant, sancta sua appellare solebant. Vgl. Schreiner, „Krieg“, S. 66. 59  Klaus Schreiner, „Signa Victricia. Heilige Zeichen in kriegerischen Konflikten des Mittelalters“, in: ders., Rituale, Zeichen, Bilder. Formen und Funktionen symbolischer Kommunikation im Mittelalter (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und früher Neuzeit, 40), Köln/Weimar/Wien 2011, S. 11–63, hier S. 44.

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Aber es war nicht der heilige Krieger, sondern der vir Dei Martin, dessen Mantelreliquie den exercitus Francorum zum Sieg führte und dessen Reliquien die Bewohner seiner Stadt Tours gegen ihre Feinde beschirmten. In seinem Libellus de miraculis Martini berichtet Bischof Radbod von Utrecht von einem normannischen Überfall auf Tours im Jahr 903. Ein halbes Jahrhundert zuvor hatten die Bewohner der Stadt, wie gesehen, die Reliquien noch an einen anderen Ort in Sicherheit gebracht. Diesmal, so sagt es der Bischof, eilten sie in ihrer Verzweiflung über die Übermacht der Feinde zu Martins Grab. Der Sarg mit seinen Überresten wurde aus dem Grab gehoben und zum Stadttor gebracht, das die Normannen aufzubrechen drohten. Die Gegenwart des Heiligen stärkte die Verteidiger und ängstigte die Angreifer so sehr, dass sie schließlich flohen und in Scharen von ihren Verfolgern niedergemacht wurden.60 Martin half im Krieg also als Patron der Karolinger und des Reiches, und er half als Lokalheiliger von Tours, wenn seine Stadt und sein Kloster bedroht waren. In dieser Funktion wurde er in den Abwehrkämpfen gegen die Normannen genauso aktiviert wie andere Lokalheilige, so etwa der hl. Valerianus, an dessen Festtag, dem 15. September 866, Graf Robert der Tapfere († 866) bei Brissarthe einem normannisch-bretonischen Heer nach der Plünderung von Le Mans den Weg zurück zu seinen Schiffen versperrte.61 Genauso wie es in der späteren Karolingerzeit meistens lokale Große – Grafen oder Markgrafen – waren, welche an Stelle der Herrscher erfolgreich gegen die Normannen kämpften, so waren es auch die lokalen Heiligen, die ihnen dabei zur Seite standen. Das Fehlen einer effektiven Zentralgewalt veranlasste die regionalen Autoritäten, zunehmend deren Funktionen bei der Abwehr äußerer Feinde zu übernehmen. Es ist nur folgerichtig, dass diese Großen dann auch durch die örtlichen Heiligen unterstützt wurden. Anders als in Byzanz hatten Kriegerheilige im Karolingerreich keine große Bedeutung als Schlachtenhelfer.62 Auch das 9. Jahrhundert brachte für sie keine neue oder gesteigerte Bedeutung. Der hl. Martin wurde traditionell um Schlachtenhilfe angegangen, nun kam eher noch seine Bedeutung als lokaler Heiliger hinzu, wenn Tours bedroht war. In den karolingischen Laudes werden mehrere Heilige als Patrone des fränkischen Heeres angerufen, darunter solche mit militärischem Hintergrund, wie Martin, Mauritius und Gereon, aber auch solche ohne weltliche kriegerische Vergangenheit, wie Hilarius 60  „Libellus de miraculo sancti Martini auctore Radbodo“, in: Monumenta Germaniae Historica, Scriptores, hrsg. v. Oswald Holder-Egger, Bd. 15.2, Hannover 1888, S. 1239–1244, hier cap. 5 f., S. 1243 f.; dazu s. Schreiner, „Krieg“, S. 67 f. 61  Sierck, Festtag und Politik, S. 254. 62  Marcell Restle, Art.: „Kriegerheilige“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, Stuttgart/Weimar 1999, Sp. 1528.



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oder Crispinus und Crispinianus. Wichtiger als ein Leben als Krieger war wohl ihr Bezug zu Zentren des Reiches wie Tours, Köln, Poitiers, Soissons und Burgund.63 Seit der Wende vom 8. zum 9. Jahrhundert nahm zudem die Bedeutung des hl. Dionysius im Vergleich mit Martin immer mehr zu. Das gilt besonders für seine Funktion als Helfer in allen das Reich betreffenden Angelegenheiten. So kann man gerade in einer Zeit, in der die Unterstützung überirdischer Mächte in militärischen Angelegenheiten in besonderer Weise benötigt und angerufen wurde, beobachten, dass ein Bischof den ehemaligen Soldaten, der dann allerdings auch zum Bischof geworden war, als bevorzugter Nothelfer verdrängte.64 Wenn man von Kriegerheiligen oder von deren Fehlen spricht, sollte man sich auch darüber im Klaren sein, dass das Sprechen über Heiligkeit in den fränkischen Quellen traditionell stark an militärischen Begrifflichkeiten orientiert ist.65 Heilige sind milites Christi (bzw. Dei oder Domini) und bilden zusammen mit der Gemeinschaft der Heiligen oder mit den monastischen Konventen, in deren Mitte sie ruhen, die militia Christi. Diese, bereits auf die frühe Kirche zurückgehende miles-Terminologie für die Christen insgesamt und im Besonderen für die christlichen Asketen und Märtyrer wurde in der Hagiographie zu großer Breite entfaltet. Sulpicius Severus, der Hagiograph des hl. Martin, lässt seinen Protagonisten bei der Weigerung, die kaiserlichen donativa anzunehmen, sagen, dass er künftig nicht mehr für den Kaiser, sondern für Gott kämpfen werde und nun ein Christi miles sei.66 Mit ihren tatsächlich ausgefochtenen inneren Kämpfen gegen die Mächte des Bösen, so betonen es die Autoren immer wieder, übertreffen die glorreichen belligeratores für den christlichen Glauben die fiktiven Helden der heidnischen Dichtung. Wenn deren „unnütze Fabeln“ selbst von Christen immer 63  Swinarski, Herrschen mit den Heiligen, S. 315; Eugen Ewig, „Der Martinskult im Frühmittelalter“, in: ders./Hartmut Atsma (Hrsg.), Spätantikes und fränkisches Gallien. Gesammelte Schriften, Bd. 2, Zürich/München 1979, S. 371–392; Ernst H. Kantorowicz, Laudes regiae. A Study in Liturgical Acclamations and Mediaeval Ruler Worship, Berkeley/Los Angeles 1946, S. 13–64. 64  Schreiner, „Krieg“, S. 66. Schreiner weist außerdem darauf hin, dass Martin auch nicht unbedingt ein Kriegerheiliger war, sondern nur eine relativ kurze Zeit Soldat gewesen ist und vor allem durch seinen Schritt, nicht mehr für den Kaiser im weltlichen Krieg, sondern für Gott im geistlichen Kampf zu streiten, zum Heiligen wurde. Martin hätte, so Schreiner, „das Zeug dazu gehabt, zum Heiligen der Kriegsdienstverweigerer zu werden.“ Schreiner, „Krieg“, S. 63. 65  Zum Folgenden s. Scharff, Kämpfe, S. 32–38. 66  Sulpicius Severus (Sulpice Sévère), Vie de Saint Martin, hrsg. und übers. v. Jacques Fontaine, Bd. 1 (Sources chrétiennes, 133), Paris 1967, c. 4,3: inquit ad caesarem, militaui tibi: patere ut nunc militem Deo: donatiuum tuum pugnaturus accipiat, Christi ego miles sum: pugnare mihi non licet.

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noch mit Eifer gelesen würden, so dürften die wahren Erzählungen über die Heiligen auf keinen Fall mit Schweigen übergangen werden.67 Aufgrund dieser Terminologie war es für die Hagiographen vermutlich auch nicht abwegig, die Heiligen nicht nur als Interzessoren vor Gott auftreten zu lassen, sondern sie auch in den Kampf gegen die heidnischen Normannen zu schicken. In den Erzählungen über die Kämpfe gegen die Feinde Christi wurden die milites Christi zu realen Kämpfern. Diese Schlachtenhilfe durch die Heiligen bedeutet aber nun nicht, dass Hagiographen und Historiographen ihren Zeitgenossen rieten, sich passiv zu verhalten und demütig darauf zu vertrauen, dass es die Heiligen im Kampf gegen die Normannen schon richten würden. Vielmehr besagen die Texte, dass man die Einfälle der barbarischen Heiden nicht hinnehmen muss, auch wenn sie als göttliche Strafe zu interpretieren sind. Man kann stattdessen den Feinden auch Widerstand entgegensetzen. Mit Hilfe der Heiligen wird dieser Widerstand erfolgreich sein, weil sie diejenigen Kämpfer und Beter unterstützen, die sich mit ihren Bitten an sie wenden. Die Heiligen beschützen zwar ihre Klöster und Grablegen nicht immer unmittelbar, aber sie strafen diejenigen, die sie entweihen. Im Großen helfen sie bei der Normannenabwehr. Das tun sie aber nur dann, wenn sich die Franken mit Mut, Einigkeit und Gottvertrauen auf ihre Hilfe einlassen. Die Herrscher, die sich mit Tributen oder der Erlaubnis freikaufen wollen, andere Landstriche als die gerade bedrohten, plündern zu können, haben nicht mit der Unterstützung der Heiligen zu rechnen. Die Schilderungen, in denen die Hilfe der Heiligen herausgestellt wird, können daher auch oftmals Kritik an zaghaften Heerführern und Königen sein, die bei den Normannenkämpfen nicht ihr Vertrauen auf überirdische Mächte setzen und damit einer der wesentlichen Forderungen in den karolingischen Fürstenspiegeln nicht nachkommen.68 Die Heiligen helfen also, aber sie helfen nur denen, die die rechte Haltung haben und gut handeln. „Wenn Gott bei ihnen gewesen wäre,“ dann hätten Robert der Tapfere und andere Grafen die Normannen bei Brissarthe geschlagen. Gott war aber nicht bei ihnen, so sagen es die Annales Bertiniani, weil sie sich früher die Abteien der Heiligen Hilarius und Martin widerrechtlich angeeignet und dafür keine Buße geleistet hatten. So intervenierten die Heiligen nicht bei Gott, und der Schlachtentod Roberts und Ramnulfs von Poitiers war die Folge und die Vergeltung für ihre Unterlassung.69 67  Scharff,

Kämpfe, S. 33–36. S. 15–31. 69  Grat/Vielliard/Clémencet (Hrsg.), Annales de Saint-Bertin, a. 866, S. 130  f.: Nortmanni commixti Brittonibus, circiter quadringenti de Ligeri cum caballis egressi, Cinomannis ciuitatem adeunt. Qua depraedata, in regressu suo usque ad locum qui dicitur brieserta ueniunt, ubi Rotbertum et Ramnulfum, Gozfridum quoque et Heri68  Ebd.



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Die Heiligen der karolingischen Hagiographie und Historiographie greifen also immer wieder in die Kämpfe mit den Normannen ein. Sie tun das als Antwort auf die Gebete der Menschen, die oftmals bei den Heiligen ihre letzte Zuflucht suchen. Sie tun es aber auch auf eigenen Antrieb und im eigenen Interesse, indem sie ihre sakralen Orte vor Plünderung und Schändung bewahren oder indem sie ihre Fürsprache bei Gott denjenigen fränkischen Großen verweigern, die diese Unterstützung nicht verdient haben.

ueum comites cum ualida manu armatorum, si Deus cum eis esset, offendunt. Et conserto praelio, Rotbertus occiditur, Ramnulfus plagatus, cuius uulnere postea mortuus est, fugatur; et Heriueo uulnerato et aliis quibusdam occisis, caeteri ad sua quique discedunt. Et quoniam Ramnulfus et Rotbertus de praecedentium se uindicta, qui contra suum ordinem alter abbatiam Sancti Hilarii, alter abbatiam Sancti Martini praesumpserat, castigari noluerunt, in se ultionem experiri meruerunt.

Zwischen Waffengang und caritas. Der Deutsche Orden und seine Heiligen im Mittelalter und in der Frühneuzeit Von Stefan Samerski Der Deutsche Orden wurde 1189/1190, also während des Dritten Kreuzzugs, von norddeutschen Bürgern zur Betreuung eines Hospitals vor Akkon gegründet. Erst um 1198/1199 kam zu dieser rein karitativen Funktion der militärische Aspekt hinzu, als nämlich die Bruderschaft in einen Ritterorden umgewandelt wurde. Der Orden, der aus Ritter- und Priesterbrüdern sowie aus Halb- und Laienbrüdern bestand, genoss rasch die Gunst der Päpste (Bestätigung 1199) und des hohen deutschen Adels. Seine Stiftungsaufgaben waren der Kampf gegen die Ungläubigen – zunächst direkt in Palästina – und die Pflege von verwundeten Kämpfern.1 Er hatte, wie jeder andere Ritterorden, einen jenseitigen Protektor, der häufig auch Namensgeber der religiösen Genossenschaft war, wie etwa Johannes der Täufer für die Johanniter.2 Im Kontext der Kreuzfahrersituation Palästinas musste dieser Patron mit martialisch-militärischen Funktionen versehen sein, um die Stiftungszwecke der dortigen Bruderschaften zu erfüllen. Dem Heiligen waren demnach Wehrhaftigkeit und die Vermittlung des Schlachtensiegs eigen. Auf der anderen Seite legitimierte und sakralisierte ein solcher Patron den Ordensauftrag durch seine transzendente Existenz.3 Damit erhielt die Anwendung von Gewalt und Militärmacht im Zeichen des Patrons irdische Erfolgsaussicht und eine sakrale Überhöhung. Der Patron des Deutschen Ordens musste also von den Anfängen an einem doppelten Spagat, nämlich dem zwischen Nächstenliebe und militärischem Erfolg sowie dem zwischen Himmel und Erde, gerecht werden.

1  Neue Gesamtdarstellungen: Klaus Militzer, Die Geschichte des Deutschen Ordens, Stuttgart 2005; Jürgen Sarnowsky, Der Deutsche Orden, München 2007; Hartmut Boockmann, Der Deutsche Orden. Zwölf Kapitel aus seiner Geschichte, München 4 1994. 2  Kurz: Dieter Berg, Art.: „Johanniter-Orden“, in: Gernot Giertz (Hrsg.), Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, Stuttgart-Weimar 1999, Sp. 982–984. 3  Arnold Angenendt, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 21997, S. 102–122, 190–206.

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„Die Ritterschaft Christi, die die Welt vom Heidentum reinigen sollte, zeichnete sich durch die Rücksichtslosigkeit im Kampf und Barmherzigkeit gegenüber Bedürftigen aus.“4

Hinzu kam noch, dass der Großteil der wachsenden Anzahl von militarisierten Patronen des Deutschen Orden Frauen waren. Ob und wie der historische Befund der Patrone ihren späteren Aufgabenkreis widerspiegelt, ist eine ganz andere Frage, auf die hier eine spezifische Antwort gesucht werden soll. Für die Militarisierungsthematik ist daher diese bald international agierende Genossenschaft ein besonders interessantes und vielfältiges Untersuchungsobjekt. Am Anfang des Deutschen Ordens stand die Muttergottes, deren Patronat die einzige Kontinuitätslinie in der Ordensspiritualität bis in die Gegenwart darstellt.5 So wie Johannes der Täufer für die Johanniter6 hatte auch Maria als historische Persönlichkeit nach den biblischen Zeugnissen keinerlei martialisches bzw. militärisches Profil. Das kam den neutestamentlichen Gestalten jüdischer Herkunft erst durch die Kreuzzugssituation zu. Schon in der ersten Urkunde vom September 1190 wurde das Hospital in Akkon als eine Einrichtung bezeichnet, die Besitzrechte auf ein viel älteres Marienhospital in Jerusalem reklamierte: Domus S. Mariae Theutonicorum in Jerusalem, so der Ordensname des Ritterordens.7 Maria stand damit nicht nur seit den Anfängen im offiziellen Ordensnamen und war folglich zentraler Inhalt der identitätsstiftenden Selbstwahrnehmung des Deutschen Ordens, sie symbolisierte gewissermaßen auch die Außenwahrnehmung der Ordensbrüder, die im Mittelalter als „Marienritter“ und noch 1680 – lange nach dem Untergang der Ordensherrschaft in Preußen – als Mitglieder einer „marianischen“ Gemeinschaft bezeichnet wurden.8

4  Stefan Kwiatkowski, „Gott, Mensch und Welt in der Sicht der Deutschordensritter“, in: Gerhard Eimer u. a. (Hrsg.), Terra Sanctae Mariae. Mittelalterliche Bildwerke und Marienverehrung im Deutschordensland Preußen (Kulturhistorische Arbeiten der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, 7), Bonn 2009, S. 15–27, hier S. 26. 5  Zuletzt: Udo Arnold, „Maria als Patronin des Deutschen Ordens im Mittelalter“, in: Eimer u. a. (Hrsg.), Terra Sanctae Mariae, S. 29–56, hier, S. 29. 6  Tom Licence, The Templars and the Hospitallers. Christ and Saints, in: Benjamin Z. Kedar u. a. (Hrsg.), Crusades, Bd. 4, London/New York 2005, S. 39–58. 7  Dazu jüngst: Arnold, „Maria als Patronin“, S. 29, 31. Zur Reklamierung des Jerusalemer Hauses durch den Deutschen Orden kurz: Sarnowsky, Der Deutsche Orden, S. 11–13. 8  Kurt Gärtner, „Marienverehrung und Marienepik im Deutschen Orden“, in: Jarosław Wenta u. a. (Hrsg.), Mittelalterliche Kultur und Literatur im Deutschordensstaat in Preußen. Leben und Nachleben (Sacra Bella Septentrionalia, 1), Thorn 2008, S. 395–410, hier S. 397; Herbert Kolb, „Deutscher Orden“, in: Remigius Bäumer/Leo Scheffczyk (Hrsg.), Marienlexikon, Bd. 2, St. Ottilien 1989, S. 176–180, hier S. 176.



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Bernhard von Clairvaux (1090/1091–1153) ist hier der Vordenker und theologische Wegbereiter der Ordensspiritualität, die den geistlichen Ritterorden zu Beginn im Wesentlichen fehlte.9 Bernhard predigte nicht nur den Kreuzzug, er untermauerte auch die neue Ritterschaft theologisch. Ihr militärischer Kampf sei sowohl gegen einen äußeren Feind gerichtet, als auch gegen einen inneren, das Böse, wie er in seiner Lobrede auf das neue Rittertum ausführte.10 Gleichzeitig bemühte er sich, den Gottesstreitern eine demütigschlichte Lebensweise aufzuerlegen, die frei von Ruhm- und Prunksucht sei. Nicht der einzelne zähle mit seinen Heldentaten, sondern die Gemeinschaft in friedlicher Eintracht und Gleichheit, deren Mitte Christus, ihr Meister, sei. Bernhard militarisierte aber damit auch das gesamte Ritterethos und den Alltag außerhalb der Schlacht: „Niemals sitzen sie müßig da oder wandern neugierig umher, sondern immer, wenn sie nicht in den Kampf ziehen – was selten geschieht –, setzen sie, um das Brot nicht müßig zu essen, beschädigte Waffen oder Kleidung wieder in Stand.“11 Damit war nach Bernhard das neue Rittertum von Anfang an nicht auf das Individuum und die Schlacht ausgerichtet, sondern auf Gruppenidentität und eine permanente Kampfsituation gegen den äußeren und inneren Gegner. Bernhard vermittelte aber auch neues marianisches Gedankengut. Herrscherwürde und Repräsentation kam Maria schon durch die zahlreichen Königin-Titulaturen zu.12 Damit korrespondierten die überragende Machtfülle der Gottesmutter und ihre besondere Würde, die aus der Inkarnation abgeleitet wurde: Jesus hat Fleisch von Maria angenommen. Ihre Größe sei so erhaben, dass niemand sie würdig genug loben könne. Sie steht Gott am nächsten, sie hat Zugriff auf alles Wichtige im Leben: Gott hat „die Fülle alles Guten in Maria verwahrt.“13 Ihre besondere Entrückung in die göttliche Sphäre hat demnach positiv zur Folge, dass „er wollte, dass wir alles durch Maria haben.“14 Nach Bernhard darf Maria dem Gottessohn sogar befehlen. Durch sie ist Gott mit dem asketischen Mönch-Ritter: „In allem und durch alles 9  Josef Fleckenstein, „Die Rechtfertigung der geistlichen Ritterorden nach der Schrift ‚De laude novae militiae Bernhards von Clairvaux‘ “, in: ders./Manfred Hellmann (Hrsg.): Die geistlichen Ritterorden Europas (Vorträge und Forschungen, 26), Sigmaringen 1980, S. 9–22. 10  Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke lateinisch/deutsch, Bd. 1: Ad milites templi. De laude novae militiae, hrsg. v. Gerhard B. Winkler, Innsbruck 1990, S. 268– 326. 11  Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke, Bd. 8, S. 283. 12  Elmar Fastenrath/Friederike Tschochner: Königtum Mariens, in: Remigius Bäumer/Leo Scheffczyk (Hrsg.), Marienlexikon, Bd. 3, St. Ottilien 1991, S. 589–596. 13  Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke, Bd. 8: Predigt zu Mariä Geburt, Innsbruck 1997, S. 627. 14  Ebd., S. 629.

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sorgt er nämlich für die Elenden: er lindert unsere Angst, weckt den Glauben, stärkt die Hoffnung, überwindet das Misstrauen, richtet den Kleinmut auf.“15 Ist das nicht punktgenau auf die Kampfsituation des Ordensritters zugeschnitten? Für den privat-persönlichen Kontakt zu Maria, wie wir es aus der Barockfrömmigkeit kennen, ist da wenig Platz. Selbst in der selten bei Bernhard vorkommenden Titulatur als „Mutter der Barmherzigkeit“ ist Maria ganz auf Jesus Christus und sein Heilswerk bezogen und weniger auf die persönliche Fürbitte des Einzelnen.16 Dabei erfuhr die Marienverehrung in der Kreuzfahrerzeit nicht nur besondere Intensivierung und Popularität – Mariendichtung und Marienlieder haben hier ihren Ursprung –, sondern sie brachte vor allem in Palästina eine stark inhaltliche Kontroverse mit dem Islam hervor.17 Maria wurde in schriftlichen, vor allem aber in bildlichen Quellen signifikant und provokant als Gottesgebärerin in das Zentrum der interreligiösen Auseinandersetzung geschoben: Für die Christen ein jahrhundertealtes Bekenntnis, für den Islam eine Gotteslästerung. Hinzu kommt, dass sich der offizielle Name des Deutschen Ordens schon in seiner Frühzeit auf ein Marienhospiz in Jerusalem berief: Jerusalem als Mittelpunkt der damaligen Welt und Zentrum des christlichen Glaubens war die Stätte des Lebens Jesu und Mariens und damit die weltweit wichtigste Attraktion für die damaligen Pilger und Kreuzfahrer.18 Die kreuzzugseigene „Befreiung“ dieser heiligen Stätten wurde demnach von allen Brüdern, selbst den illiteraten, als oberste funktionale Maxime permanent memoriert.19 Es ist daher nur verständlich, dass auch nach dem Verlust Jerusalems im Jahre 1187 die enge marianische Bindung des Deutschen Ordens nicht zurückgedrängt oder gar aufgegeben werden konnte, sondern die Kampfbereitschaft 15  Ebd.

16  Otto Stegmüller/Helmut Riedlinger, „Bernhard von Clairvaux“, in: Remigius Bäumer/Leo Scheffczyk (Hrsg.), Marienlexikon, Bd. 2, St. Ottilien 1988, p. 445–447. 17  Albert Zimmermann u.  a., Orientalische Kultur und europäisches Mittelalter, Berlin 1985 (=Berlin 2013), S. 111. Vgl. auch: Leena Mari Peltomaa/Andreas Külzer/ Pauline Allen (Hrsg.), Presbeia Theotokou: The intercessory role of Mary across times and places in Byzantium (4th–9th century), Wien 2015. 18  Alan V. Murray, „Sacred Space and Strategic Geography in Twelfth-Century Palestine“, in: Jarosław Wenta (Hrsg.), Sacred Space in the State of the Teutonic Order in Prussia (Sacra Bella Septentionalia, 2), Thorn 2013, S. 13–37, hier S. 26, 31; Beat Wolf, Jerusalem und Rom. Mitte, Nabel – Zentrum, Haupt, Bern u. a. 2010, S. 264–265. 19  Zum Gebetsschatz: Bernhard-Maria Rosenberg, „Marienlob im Deutschordensland,“ in: Klemens Wieser (Hrsg.), Acht Jahrhunderte Deutscher Orden in Einzeldarstellungen. Festschrift zu Ehren Sr. Exzellenz P. Dr. Marian Tumler O. T. anlässlich seines 80. Geburtstages, Bad Godesberg 1967, S. 322–326; Arnold, „Maria als Patronin“, S. 31–36.



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erhöhen musste.20 Das marianische Patronat erfasste damit also auch den sozial-karitativen Schwerpunkt der allerersten Ordensanfängen sowie die Jerusalem- und Heilig-Land-Idee. Das Patrozinium hatte also in den Anfängen ein Janus-Gesicht, wobei die militärische Komponente im späten Mittelalter überwog: Die königliche Maria, die außerdem auf dem Hochmeistersiegel21 gesichert seit 1292 und vielfach auch auf anderen Ordenssiegeln sowie in der Ordenskunst in Form von Marienkrönung und Sedes Sapientiae zu sehen war, griff nicht nur theologisch auf die altkirchliche Idee der Himmelskönigin zurück, sondern symbolisierte die siegreiche Schlachtenhelferin im Kampf gegen den militärischen Gegner. Vor allem bei der Eroberung des Preußenlandes erhielt Maria bleibende militärische Bedeutung. „Die Kriegszüge galten dem Ritter somit als eine Art Gottesdienst. Daher war es für ihn selbstverständlich, dass die Gottesmutter voranging.“22 Die Ordenshauptfahne zeigte das Bild der gekrönten Himmelskönigin, denn Maria galt als „howbtfrowe und beschirmerinne unsers ordens.“23 Dieses Banner im Kampf im Stich zu lassen, galt als eines der schwersten Vergehen. Im Bericht über die Schlacht am litauischen Flüsschen Strebe 1348 wird geschildert, dass fast 50 Ritter bei der Verteidigung dieser Marienfahne ihr Leben gelassen hätten.24 Der Gottesmutter wurde aber im neu eroberten Land an der Ostsee nicht nur Städte und Gotteshäuser dediziert, sondern auch Burgen und sogar das Haupthaus des Ordens seit 1309, die Marienburg an der Nogat. Diese wurde schon in einer Urkunde des ausgehenden 13. Jahrhunderts als „Castrum Dominae Nostrae“25 bezeichnet.26 Militärische Dominanz und die Sakralisierung des frisch in Besitz genommenen Raumes in einer Gefährdungssituation sind hier mit Händen zu greifen. Auf diese Weise wurde jeder Aufstand oder auch nur bloße Gegnerschaft 20  Kaspar Elm, Die Spiritualität der geistlichen Ritterorden des Mittelalters. Forschungsstand und Forschungsprobleme, in: Zenon Hubert Nowak (Hrsg.), Die Spiritualität der Ritterorden im Mittelalter (Ordines Militares Colloquia Torunensia Historica, VII) Thorn 1993, S. 7–44, hier S. 18. 21  Dazu: Gerhard Bott/Udo Arnold (Hrsg.), 800 Jahre Deutscher Orden. Ausstellungskatalog des Germanischen Nationalmuseums, Gütersloh-München 1990, S. 372. Zu den Deutschordenssiegeln vgl.: Hans-Georg Boehm (Hrsg.), Das Marienbild auf Siegeln im Wandel der Zeiten (Schriftenreihe der Historischen Deutschordens-Compagnie Bad Mergentheim, 19/20), Bad Mergentheim 2001. 22  Arnold, „Maria als Patronin“, S. 37. 23  Zitiert nach: Rosenberg, „Marienlob im Deutschordensland“, S. 322. 24  Ebd., S. 329. 25  Zitiert nach: ebd., S. 330. 26  Zuletzt ausführlich und differenziert: Rainer Zacharias, „Marienburg ist nach der Jungfrau Maria benannt worden“, in: Westpreußen-Jahrbuch, Bd. 60 (2010), S. 5–22. Vgl. auch: Kazimierz Pospieszny, „Marienburg – castrum et civitas unter Mariens Schutzmantel“, in: Eimer (Hrsg.), Terra Sanctae Mariae, S. 71–80.

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zum Deutschen Orden zu einem Abfall vom christlichen Glauben. Maria war die Streiterin im Kampf. Das lässt sich bis zum Ende der Ordensherrschaft in Preußen erkennen: Hochmeister Albrecht von Brandenburg-Ansbach (1511– 1525) übermittelte dem Polenkönig in seiner Kriegserklärung von 1520, dass er wegen der drohenden „beraubung der mutter gotes erbland“27 in die Schlacht ziehen müsse. Aus diesem Anlass ließ er eine Münze mit der Strahlenmadonna prägen, die die Umschrift zeigte: Adjuva nos, o virgo, res tua agitur sowie Salva nos, Domina.28 Seit dem 13. Jahrhundert erhielt die Muttergottes Konpatrone. In den zwanziger Jahren des 13. Jahrhunderts kam Georg als bedeutendster Ritterpatron in den Heiligen- und Beschützerhimmel des Deutschen Ordens.29 Als Ritter- und Pilgerheiliger der Kreuzzüge musste er von Anfang an eine Affinität zum Deutschen Orden haben.30 Außerdem war der Heilige eng mit dem Reich und den Staufern verbunden, die ihm 1190 den Sieg über einen zahlenmäßig überlegenen Gegner in Kleinasien zuschrieben.31 Georg wurde dann rasch zum Patron der Templer und des Deutschen Ordens und nach deren Vorbild zum Schutzheiligen für weitere Orden und Bruderschaften sowie von Burgen, Städten und Herrscherhäusern. Sein nahezu ausschließlich militärisch-soldatisches Profil ist unverkennbar und hinreichend bekannt. So verwundert es nicht, dass Ende des 14. Jahrhunderts die Deutschordensgäste vom Banner des hl. Georg in die Schlacht geführt wurden. Georg kam im Preußenland stärkere Bedeutung im Heidenkampf zu, vor allem seit Ende des 13. Jahrhunderts, was besonders mit den Litauerreisen32 der west- und südeuropäischen Ritterschaft und der „Veradligung“ der Deutschordensstruktur seit dem frühen 14. Jahrhundert zusammenhing:33 Dieses Jahrhundert gilt nicht nur zu Recht nach: Rosenberg, „Marienlob im Deutschordensland“, S. 327. nach: ebd. 29  Dazu: Udo Arnold, „Georg im Deutschen Haus bis zur Regelreform im 17. Jahrhundert“, in: Ewald Volgger (Hrsg.), Sankt Georg und sein Bilderzyklus in Neuhaus/ Böhmen (Jindřichův Hradec). Historische, kunsthistorische und theologische Beiträge (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, 57), Marburg 2002, S. 161–171. 30  Jonathan Riley-Smith, The First Crusade and the Idea of Crusading, Philadelphia 1986, S. 105. 31  Udo Arnold, „Elisabeth und Georg als Pfarrpatrone im Deutschordensland Preußen. Zum Selbstverständnis des Deutschen Ordens“, in: ders./Heinz Liebing (Hrsg.), Elisabeth, der Deutsche Orden und ihre Kirche. Festschrift zur 700jährigen Wiederkehr der Weihe der Elisabeth-Kirche Marburg 1983 (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, 18), Marburg 1983, S. 163–185, hier S. 166, Anmerkung 15. 32  Immer noch am ausführlichsten: Werner Paravicini, Die Preussenreisen des europäischen Adels, Sigmaringen 1989; Sarnowsky, Der Deutsche Orden, S. 86–89. 33  Ebd., S. 166–168. 27  Zitiert 28  Zitiert



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als institutionelle, wirtschaftliche und (militär)politische Blütezeit des Ordo Teutonicus, es brachte auch die Verschränkung von Ordensmitgliedschaft und adeliger Herkunft mit sich, wie es der um 1340 gefasste Kapitelbeschluss als Zusatz zur Ordensregel festlegte.34 Der hl. Georg als der klassische Ritterund Adelsheilige musste solche Tendenzen symbolisch unterstreichen. Seine Verehrung im Orden nahm im 14. Jahrhundert spürbar zu.35 Mit Georg kam nicht nur der Gedanke des adligen Rittertums in den Heiligenhimmel des Ordens, sondern seine militärische Funktion wurde im 14. Jahrhundert durch eine große Anzahl von alttestamentlichen Heiligen weiter ausgebaut, wie etwa besonders prominent durch die Makkabäer, dann aber auch durch Judit und Ester, deren Kampfesmut in kriegerischen Auseinandersetzungen bildlich wie schriftlich gerühmt wurde.36 Die MakkabäerBrüder riefen im zweiten vorchristlichen Jahrhundert angesichts der Entweihung des Jerusalemer Tempels zum Krieg gegen die heidnischen Seleukiden auf. Vor allem Mattatias beteiligte sich aktiv an den Kämpfen der Juden, um ihre religiösen und politischen Freiheiten zurück zu gewinnen, „denn der leidenschaftliche Eifer für das Gesetz hatte ihn gepackt“ (1 Makk 2,26). Die Parallele zu den militärischen Operationen des Deutschen Ordens ist unverkennbar. Im Buch Judit wird die Gefährdung des Volkes Israel im Exil durch ein entartetes und gottesfeindliches Heidentum geschildert: Die fromme Witwe Judit setzte mutig ihr Leben ein zur Befreiung ihres Volks, nicht zuletzt durch die Ermordung des Holofernes, und erfuhr dabei Gottes rettende Hilfe. Israel pries sie: „Du bist der Ruhm Jerusalems. […] Mit deiner Hand hast du das alles getan, du hast segensreiche Taten für Israel vollbracht!“ (Jdt  15,9–10) „Denn in der Not unseres Volkes hast du dein Leben nicht geschont; nein, du hast entschlossen unseren Untergang von uns abgewehrt, du bist vor unserem Gott auf geradem Weg gegangen“ (Jdt 13,20). Ester trat in der Zeit des persischen Exils dem König unter Lebensgefahr entgegen und wendete die drohende Verfolgung vom jüdischen Volk ab. Durch diese Figuren aus dem Alten Testament konnten zeitgenössische Ordenschronisten wie etwa Peter von Dusburg (um 1300) eine militärische Traditionslinie bis in vorchristliche, aber biblische Zeiten ziehen. Als Ritter an der Ostsee sollten „die Brüder gleich Judas Makkabäus die heiligen Orte des Preußenlandes reinigen, welche die Heiden vorher durch Götzendienst 34  Max Perlbach (Hrsg.), Die Statuten des Deutschen Ordens, Halle 1890 (=Hildesheim 1975), S. 149. 35  Arnold, „Elisabeth und Georg“, S. 166–167. 36  Grundlage sind hier die Makkabäerbücher (2. Jhd. v. Chr.) der Bibel sowie das Buch Judit (um 100 v. Chr. entstanden) und Ester (um 300 v. Chr. verfasst). Zu den Makkabäern im Deutschen Orden: Mary Fischer, „The Books of the Maccabees and the Teutonic Order“, in: Zedar (Hrsg.), Crusades, S. 59–72.

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befleckt hatten“.37 Dabei scheint noch ganz versteckt eine andere Facette auf: Hintergründig ging es bei der Adaption dieser biblischen Heiligen auch um die Reform des geistlichen Lebens der Brüder und die theologische Vertiefung ihrer Spiritualität, die einer funktionalen Mechanik des täglichen Pflichtenkanons sowie moralischen Verfehlungen entgegenwirken sollte.38 Und noch eine weitere Frau wurde zur himmlischen Protektorin und Ordenspatronin erhoben. Elisabeth von Thüringen (1207–1231) wurde nach ihrer Kanonisation 1235 die dritte offizielle Ordenspatronin. Schon zu Lebzeiten verfügte sie durch ihr selbstlos-karitatives Wirken über breite Popularität weit über ihre Region hinaus.39 Ihre Beisetzung wurde zum Ausgangspunkt einer breiten kultischen Verehrung. Noch im Spätmittelalter überflügelte sie liturgisch sogar den Georgskult des Deutschen Ordens.40 Als Landgraf Konrad von Thüringen (1206/1207–1240) 1234 in den Deutschen Orden eintrat, brachte er beträchtliche Geldmittel mit und sorgte dafür, dass seine Schwägerin Elisabeth heilig gesprochen und ihr Lebenswerk vom Orden vereinnahmt wurde: Das Franziskushospital in Marburg wurde in ein Deutschordensspital umgewandelt und die dortige Elisabethkirche als frühe gotische Wallfahrtskirche erbaut.41 In diesem Kontext war auch das neue Ordenspatronat zu verankert, das ganz auf den sozial-karitativen Bereich zugeschnitten war, auf den franziskanischen Dienst an den Armen. Eine solche zukunftsweisende Vereinnahmung fiel Konrad von Thüringen nicht schwer, bekleidete er doch rasch hohe Ordensämter und wurde 1239 sogar Hochmeister. Elisabeth behielt im Orden auch nach dem Verlust des Ordensstaats Preußen (1525) bis heute ihre Bedeutung. So lebte ihre besondere Verehrung etwa in der neuen Hochmeisterresidenz Mergentheim fort; in der Ballei Lothringen, die Elisabeth zur Patronin hatte, siegelte man sogar erst Ende des 16. Jahrhunderts mit ihrem Wappen.42 Militärische Funktionen suchte man bei ihr bereits zu Anfang, aber auch in späten Jahrhunderten vergeblich; Vita und Kultgeschichte sind ganz auf das allererste Ordensziel, die Armen- und Krankenpflege, zugeschnitten. Daher verwundert es nicht, dass gerade in Kriegszeiten Georg der bedeutendere Patron war. Das lässt 37  Peter von Dusburg, Chronica Prussicarum/Chronik des Preussenlandes (lateinisch-deutsch), hrsg. und übers. v. Klaus Scholz/Dieter Wojtecki, Darmstadt 1984, S. 33. 38  Adam S. Labuda, „Die Spiritualität des Deutschen Ordens und die Kunst. Der Graudenzer Altar als Paradigma“, in: Nowak (Hrsg.), Die Spiritualität, S. 45–73, hier: S. 49. 39  Ausführlich: Arnold/Liebing, Elisabeth. 40  Arnold, „Elisabeth und Georg“, S. 165 f. 41  Zu Elisabeth in ihrer Beziehung zum Deutschen Orden: Arnold/Liebing, Elisabeth. 42  Arnold, „Elisabeth und Georg“, S. 170.

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sich exemplarisch im Preußen des 14. Jahrhunderts mit seinen militärischen „Litauerreisen“ und beim niederen Adel beobachten, der immer stärker eine tragende Rolle im Deutschen Orden spielte.43 Erwähnt werden muss noch die Dreiergruppe der frühchristlichen Frauen – Katharina, Barbara und Margarete44 –, die teilweise auch schon vor der Ankunft des Deutschen Ordens im Preußenland dort sehr beliebte Kirchen- und Taufpatrone45 waren. Sie tauchten bildlich in den Ordensburgen immer wieder auf, sogar im Kontext von Hochmeisterfunktionen.46 Darstellungen der drei orientalischen Märtyrerinnen finden sich an prominenter Stelle im Wohngemach des Hochmeisterpalasts sowie in anderen Räumen der Marienburg an der Nogat. Die drei virgines capitales gehörten schon früh zur äußerst populären Gruppe der (14) Nothelfer, die sich vor allem im urbanen Kontext des 14. Jahrhunderts ausgebildet hatte. Der Nothelferkult griff den spätmittelalterlichen Hang zur Gruppenbildung auf und die Tendenz zur Verstärkung der Heilsmächtigkeit durch die Vielzahl an Heiligen.47 Katharina, Barbara und Margarete wurden nie offiziell zu Ordenspatronen erhoben, passten aber in den dominant militärischen Aufgabenbereich des Ritterordens, vor allem im Preußenland. Die mittelalterliche Legendenbildung hatte sich auffallend bemüht, ihr asketisches Leben und ihre Weltflucht herauszustellen. Das Martyrium bildete bei allen drei Frauen den glorreichen Abschluss des irdischen Lebens. Genau das passte in die Konzeption des besagten Ordenschronisten Peter von Dusburg von der vita perfecta der Ordensritter, die er nach dem Schema der Heiligenvita entwarf. Entsprechend sind für Peter die wichtigsten Lebensideale der Ordensritter das demütige 43  Ebd.,

S. 166–168, 170–172. Viten der drei Frauen sind legendarisch. Katharina von Alexandrien soll gegenüber dem Kaiser Maxentius (306–312) in gelehrten Worten die heidnische Götterwelt zurückgewiesen haben. Auch in einer Disputatio mit 50 Philosophen konnte sie nicht widerlegt werden. Im Kerker soll sie zahlreiche Gefangene zum Christentum bekehrt haben. Sie sollte auf dem Rad gemartert werden, wurde aber schließlich enthauptet. Ihr Leib wurde auf dem Sinai beerdigt. Barbara wurde von ihrem Vater in einen Turm zum Schutz ihrer Jungfräulichkeit eingesperrt; sie wurde wohl im 3. Jahrhundert wegen ihres Glaubens hingerichtet. Margarete wurde in der Diokletianischen Verfolgung vermutlich in Pisidien wegen ihres christlichen Bekenntnisses gemartert und getötet. 45  Waldemar Rozynkowski, Omnes Sancti et Sanctae Dei. Studium nad kultem świętych w diecezjach pruskich państwa zakonu krzyżackiego, Marienburg 2006, S. 90–125. 46  Christopher Herrmann, Marienburg. Schloss- und Stadtführer, Petersberg 42014, S. 21–23. 47  Klaus Guth, „Frühe Verehrung der 14 Nothelfer in Süddeutschland“, in: Heinz Ammon/Klaus Guth (Hrsg.), Volkstümliche Heilige in Franken, Forchheim 1994, S. 73–85. 44  Die

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Mönchsleben und das Martyrium.48 Im Prolog zu seiner Ordenschronik schärft er seinen Ordensbrüdern vorrangig die Askese und die Weltflucht ein – Motive, die in seinem Text immer wiederkehren: „Sie nahmen auch ihr Kreuz auf sich und folgten Christus, denn sie waren jeden Tag und jede Stunde bereit, Schmach und Todesnot zur Verteidigung des Glaubens zu ertragen.“49 Solche Motivik korrespondiert exakt mit der Hagiographie der damaligen Zeit, besonders wenn es um die Blutzeugen der Urkirche ging.50 Über die ersten Ordensritter in Preußen berichtet der Chronist: „An ihnen wurde erfüllt, was der Apostel über die heiligen Märtyrer im Brief an die Hebräer sagt: ‚Die einen sind gefoltert worden, andere haben Spott und Schläge erduldet, dazu Fesseln und Gefängnis‘ “51 (Hebr 11,35–38). Dieser Parallele folgend, kann Peter sogar „von der Heiligkeit jener Generation der Deutschordensritter [sprechen], die die von Gott angestrebte und eingeleitete Bekehrung Preußens durchgeführt haben.“52 Dass das keine Tatsachenberichte waren und sein wollten, liegt auf der Hand. Ihr moralischer Anspruch für die späteren Generationen ist offensichtlich. So kann der Chronist darüber hinaus sogar das Kriegsgerät der Ritter als asketische Symbole verstehen: Der Harnisch wird als Bußhemd umgedeutet, der sogar von manchen Rittern ohne Hemd getragen wurde, um den Körper zu verletzen.53 Der Gedanke des Martyriums im Kampf scheint hier durch. Leidensfähigkeit nach dem Vorbild der immer wieder vorgetragenen Heiligenlegenden und der überall in den Ordensburgen und -kirchen anzutreffenden Heiligendarstellungen war gerade ein Signum der militärisch erfolgreichen Ritter bei der Eroberung des Preußenlandes. So wird der eine Bruder mit einer eisernen Kette unter der Kleidung beschrieben, der andere mit bevorzugter Selbstgeißelung.54 Besondere und außergewöhnlich frühe Bedeutung hatte Barbara im Preußenland erhalten, wo sie zu einer Quasi-Staatspatronin avancierte. Es waren die Ritterorden, die ihre Verehrung nach Mittel- und Nordeuropa gebracht hatten; populär wurde sie dort erst im 14. und 15. Jahrhundert.55 Doch schon 48  Marian Dygo, „Die heiligen Deutschordensritter. Didaktik und Herrschaftsideologie im Deutschen Orden in Preußen um 1300“, in: Nowak (Hrsg.), Die Spiritualität, S. 165–176, hier S. 166. 49  Peter von Dusburg, Chronik des Preussenlandes, S. 31. 50  Das weist Dygo sogar auch rein formal bis zum Dreier-Schema der Viten nach: Dygo, „Die heiligen Deutschordensritter“, S. 166. 51  Peter von Dusburg, Chronik des Preussenlandes, S. 33. 52  Dygo, „Die heiligen Deutschordensritter“, S. 166. 53  Peter von Dusburg, Chronik des Preussenlandes, S. 31 (Prolog), S. 251 (III, 131), S. 267 f. (III, 146). 54  Ebd., S. 181 (III, 64), S. 122 f. (III, 22). 55  Zur Barabara-Verehrung vgl.: Helmut Eberhart, Hl. Barbara. Legende, Darstellung und Tradition einer populären Heiligen, Graz 1988.

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in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts wurde ihr Haupt in der pommerellischen Burg Sartowitz an der Weichsel verehrt. 1242 kam es durch einen Kriegszug in den Besitz des Deutschen Ordens, der die zentrale Reliquie nach Kulm brachte. Verschiedentlich wurde sie in Kriegszeiten auf die Marienburg gebracht, wo auch etliche Bildtafeln und gesichert im 15. Jahrhundert auch Barbarareliquien verehrt wurden. Gleiche Deposita waren in den Ordensburgen in Preußisch Stargard und Elbing zu finden.56 Unter Hochmeister Luther von Braunschweig (1331–1335) wurde Barbara als Staatssymbol propagiert und liturgisch aufgewertet; Erfolg hatte dies allerdings nur im Weichselland57. Als königlicher und amazonenhafter Typ passte gerade Barbara inhaltlich in das Selbstverständnis des Deutschen Ordens.58 Hinzu kam ihre direkt militärische Funktion durch ihr Attribut, den Turm. Durch diesen wurde sie im Mittelalter vielfach mit der Artillerie und dem Bergbau in Verbindung gebracht. Das prädestinierte die Heilige geradezu für den Deutschordenskontext, da die Ritter sie als Patronin gegen einen jähen Tod und zum Schutz der Festungsbauten und Kanonen anriefen, wofür ihre Legende gleich mehrere Bezüge bereithielt. Die Breitenwirkung und besondere Popularität der militarisierten weiblichen Heiligen ist im Spätmittelalter allerdings kein Proprium Ordinis mehr. In Thorn etwa wurde Barbara – nach Katharina und Margarete – zwischen 1360 und 1430 der wichtigste weibliche Taufname.59 Wie politisch und kultisch bedeutsam Barbara für das Deutschordensland Preußen war, zeigt der Verlust der Barbarareliquien im Krieg zwischen dem Orden und den preußischen Städten (1454–1466), die ihre wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit erkämpften. Danzig als damals bedeutendste Handelsstadt des Deutschordenslandes wurde 1466 faktisch Freie Stadt unter der nominellen Oberhoheit des polnischen Königs. Bei einem Überfall auf die Marienburg kamen die wichtigen silbergefassten Barbarareliquien nun in Danziger Hand. Die selbstbewusste Stadt ließ sie daraufhin in ihrer Hauptpfarrkirche St. Marien an prominenter Stelle ausstellen, als „Haupttrophäen des Sieges“60 und preußisches Staatssymbol, aber auch als Zeichen der städtischen Unabhän-

56  Rozynkowski,

Omnes Sancti, S. 210. „Elisabeth und Georg“, S. 182, Anmerkung 105 (kaum stichhaltig ist allerdings, einen Gegensatz zwischen Dorothea von Montau und dem Deutschen Orden zu konstruieren); Bernhart Jähnig, „Festkalender und Heiligenverehrung beim Deutschen Orden“, in: Nowak (Hrsg.), Die Spiritualität, S. 177–187, hier S. 181. 58  Dagmar Jestrzemski, Katharina von Alexandrien. Die Kreuzritter und ihre Heilige, Berlin 2010, S. 127. 59  Rozynkowski, Omnes Sancti, S. 245 f. 60  Theodor Hirsch, Die Ober-Pfarrkirche von St. Marien in Danzig, Teil 1, Danzig 1843, S. 57. 57  Arnold,

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gigkeit und als ökonomisch bedeutendes Wallfahrtsziel.61 Die Übernahme und prominente Ausstellung der Barbarareliquien im Zentrum Danzigs symbolisierte in aller Öffentlichkeit den Übergang der überlegenen Militärmacht vom Deutschen Orden auf die Bürgerstadt Danzig. Der Wallfahrtskult darf als nichts anderes denn als mediale Herrschaftspropaganda der Handelsstadt an der Weichsel verstanden werden. Die Reformation machte diesem neuen Selbstverständnis und der kultischen Tradition ein Ende, indem die Reliquien konfessionsbedingt aus der Öffentlichkeit des Kirchenraums verschwanden und in der Folge in Vergessenheit gerieten. Die Reformation, die für den Orden bereits 1525 durch die Säkularisierung des Ordenslandes und dessen Umformung in ein weltliches Fürstentum katastrophale Folgen hatte, veränderte auch den Heiligenhimmel und seine Funktionalität.62 Der Orden stand am Rande seiner Existenz. Innerhalb des Territorialisierungsprozesses im Reich brauchten die Brüder eine starke Stütze, die sie im Haus Habsburg fanden, das fortan in einer Art Sekundogenitur die meisten Hochmeister stellte, gefolgt von den verwandten Häusern Wittelsbach mit seinen Seitenlinien.63 Diese Nähe zum Kaiserhaus wirkte sich nicht nur politisch, sondern auch funktional und spirituell aus. Als neue Aufgabe ergab sich daher nur folgerichtig der Türkenkrieg, der an der Südostflanke des Reiches eine existentielle Bedrohung darstellte:64 1529 und 1683 standen die den Balkan und Ungarn besetzenden Osmanen vor Wien. Damit waren nicht nur etliche Ordensbesitzungen bedroht, auch das Abendland mit dem Sitz des römisch-deutschen Kaisers war in akuter Gefahr, in die Hände der „Heiden“ zu fallen. Bereits 1594 nahm der Deutsche Orden mit Offizieren und Heerführern an solchen Feldzügen teil, für die sich das Generalkapitel von 1593 energisch stark gemacht hatte. Nach der Regel von 1606 mussten dann alle neu aufgenommene Ritter drei Jahre lang in einer Grenzburg dienen.65 Zudem leistete der Deutsche Orden finanzielle Unterstützung oder stellte Truppenkontingente von 500 bis 1000 Mann. 1696 entstand auf diese Weise das Hoch- und Deutschregiment, dem Brüder als auch Offiziere angehörten. Parallel zur militärischen Indienstnahme durch die Habsburger Kaiser erfolgte die Übernahme der Pietas Austriaca66 durch den Deutschen Orden: 61  Ebd.,

S. 57, 388–389. Der Deutsche Orden, S. 107–111. 63  Ebd., S. 113; Bott/Arnold, 800 Jahre Deutscher Orden, S. 141. 64  Ebd., S. 141, Sarnowsky, Der Deutsche Orden, S. 112 f. 65  Marian Tumler/Udo Arnold, Der Deutsche Orden von seinem Ursprung bis zur Gegenwart, Kevelaer 41986, S. 69. 66  Der Begriff wurde entwickelt von: Anna Coreth, Pietas Austriaca. Österreichische Frömmigkeit im Barock, Wien 21982; dazu jüngst: Stefan Samerski, „Hausheilige statt Staatspatrone. Der misslungene Absolutismus in Österreichs Heiligenhimmel“, in: Petr Mat’a/Thomas Winkelbauer (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1620 62  Sarnowsky,



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Das stets für katholische Belange eintretende Haus Österreich verstand sich als treue katholische Dynastie, die persönlich seit ihren Anfängen eucharistische und Heiligenverehrung intensiv gepflegt hatte. Das betraf vor allem die intensive Marienverehrung der Habsburger, die durch die katholische Gegenreformation ganz neue Inhalte erhielt. Die eigentlich gut zu integrierende Georgsverehrung trat demgegenüber in der Ordensfrömmigkeit zurück, so auch noch viel stärker der Elisabethkult – wenn man solch generalisierende Aussagen treffen will. Von den anderen verehrten Heiligen ist kaum mehr die Rede. Maria dominierte jetzt im Deutschen Orden alles; sie wird nicht mehr als die Sedes Sapientiae, die noch um 1500 auf der Schwerterkette des Deutschmeisters zu sehen ist,67 verehrt, sondern sehr häufig als Königin, als Generalissima in allen Schlachten und auch als militanter Garant der Rechtgläubigkeit, vor allem nach den Reformationen. So führte schon der Landmeister von Livland, Wolter von Plettenberg (1494–1535), 1525 das Bildnis der stehenden Muttergottes mit dem Kind, die auf eine Mondsichel ihren Fuß setzt, auf einem propagandistischen Schautaler. in seinem Wappen.68 Noch fehlten Schlange und Zepter in der Darstellung, und die marianische Abbildung auf Plettenbergs Taler hatte für die damalige Zeit nichts Untypisches. Doch wenig später war der Immaculata-Typus der Maria auch im Deutschen Orden bekannt und dominant.69 Die Immaculata Conceptio70 wurde gerade in der konfessionellen Auseinandersetzung des 17. Jahrhunderts zu einem Kampfbegriff. Sie stellte ikonographisch den apokalyptischen Endkampf zwischen Gut und Böse dar, indem Maria mit ihrem Sternenkranz und dem Jesuskind der Schlange des Bösen den Kopf zertrat. Von Spanien ausgehend, ließ sich ihre Verbreitung in allen katholischen Territorien Europas beobachten, vor allem aber in den Grenz- und Konfliktregionen zu anderen konfes­ sionellen Gebieten. Die Immaculata ist typologisch mit der Genesis verbunden, wo die Frau die Schlange zertrat (Gen 3,15), sowie mit der Apokalypse des Johannes, wo sie das Jesuskind rettet (Apk 12,1–6). Damit war die Immaculata Conceptio polemisch konfessionell konnotiert, und zwar im Anschluss an das Konzil von Trient (1545–1563) als Symbol der Alten Kirche, die nicht nur die Reinheit der wahren Lehre bewahrt, sondern diese auch bis 1740. Leistungen und Grenzen des Absolutismusparadigmas, Stuttgart 2006, S. 251–278. 67  Bott/Arnold, 800 Jahre Deutscher Orden, S. 28 f. 68  Ebd., S. 150. 69  Exemplarisch zu den Deutschordenspatronen die Darstellung von 1600: Ebd., S. 364. 70  Jaroslav Pelikan, Maria. 2000 Jahre in Religion, Kultur und Geschichte, Freiburg/Br. 1999, S. 193–204. Breit: Gregor M. Lechner, „Unbefleckte Empfängnis. IV.  Kunstgeschichte“, in: Remigius Bäumer/Leo Scheffczyk (Hrsg.), Marienlexikon, Bd. 6, St. Ottilien 1994, p. 527–532. Kurz: Samerski, „Hausheilige“, S. 271 f.; Klaus Schreiner, Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin, Köln 2006, S. 374–409.

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siegreich gegen die Irrlehren der Reformatoren verteidigt hatte. Im Bereich des Deutschen Ordens ist das bekannteste und deutlichste Beispiel für diese typologische Adaption die Ordenskirche auf der Mainau, die eine ikonographisch voll ausgebildete Maria Immaculata als Schutzpatronin des Ordenshauses und seiner Kirche zeigt.71 Diese Ideengehalte korrespondierten – kaum zufällig – mit der konfessionellen Ausrichtung der Habsburgerkaiser jener Zeit, die sich aktiv-militant der Gegenreformation verschrieben hatten, angefangen mit Ferdinand II. (1619–1637).72 Wurde die Muttergottes in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in den meisten katholischen Staaten zur herausragenden Landespatronin erhoben, so avancierte sie in der Donaumonarchie sogar zur Magna Mater Austriae, zur Siegerin in allen Auseinandersetzungen (vor allem konfessioneller Art), zur besonderen Schutzherrin der Monarchen und ihrer Dynastie, insbesondere nach den Entscheidungsschlachten von Lepanto (1571), dem Weißen Berg (1620) und Wien (1683) als popularisierte Hilfe der Christen bzw. Katholiken.73 Die Maria Immaculata schmückte österreichische Feldzeichen und die Fahnen der Katholischen Liga. Ihr zu Ehren wurden nun Mariensäulen auf den Hauptplätzen der Monarchie aufgestellt, um die Loyalität der Bevölkerung zum Herrschergeschlecht zu bekunden.74 Für die Türkenkriege im Südosten des Reiches hielt dieser spezielle Marientypus besondere Vorzüge bereit. Maria Immaculata griff ikonographisch als Madonna auf einer Mondsichel ganz augenfällig das islamische Religionssymbol auf, das der Muttergottes unter die Füße gelegt wurde. Seit Kaiser Leopold I. (1658–1705) wurden Maria und das später so genannte Regiment Hoch- und Deutschmeister erfolgreich in den Türkenkriegen eingesetzt.75 So schrieb man etwa offiziell die Siege am Kahlenberg 1683 und bei Zenta 1699 direkt der Muttergottes zu. Der Hintergrund war folgender: Im ungarischen Pócs tränte angeblich ein Marienbild. Kapuziner brachten dieses Phänomen unmittelbar mit der drohenden Türkengefahr in Verbindung. Das wundertätige Bild wurde 1696 nach Wien gebracht und der Bevölkerung zur Verehrung empfohlen. Nur wenige Monate später erfochten die kaiserlichen Trup71  Vgl. vor allem die entsprechende Büste von 1737/1738: Bott/Arnold, 800 Jahre Deutscher Orden, S. 245. 72  Samerski, „Hausheilige“, S. 272 f. 73  Schreiner, Maria, S. 395–399. 74  Samerski, „Hausheilige“, S. 272; Schreiner, Maria, S. 403–407. Robert Born, „Marien- und Dreifaltigkeitssäulen“, in: Joachim Bahlcke/Stefan Rohdewald/Thomas Wünsch (Hrsg.), Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Konstitution und Konkurrenz im nationen- und epochenübergreifenden Zugriff, Berlin 2013, S. 396– 409. Vgl. auch die Einleitung von Liliya Berezhnaya zu diesem Band. 75  Tumler/Arnold, Der Deutsche Orden, S. 69–71.

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pen den entscheidenden Sieg bei Zenta, so dass die Marienikone zum entscheidenden Symbol des Abwehrkampfes gegen den Islam propagiert werden konnte.76 Das Motiv der Feindesabwehr und der Heidenmission blieb im Deutschen Orden sogar noch im 18. Jahrhundert im fernen Altenbiesen, im heutigen Belgien, präsent.77 In der Repräsentationstafel der Ballei um 1700 war in einer Bildfolge die Identität des Ordens an prononcierter Stelle verbildlicht: Unter dem Patronat seiner Heiligen stand der Deutsche Orden im Kampf gegen die heidnischen Preußen, Russen und Thraker, drang bis an die äußersten Grenzen vor, sicherte die neu gewonnenen Provinzen mit Burgen und führte die Bekehrten Maria zu. Selbst unter dem Hochmeister Clemens August von Bayern (1732–1761) wurden 1735 Münzen geschlagen, die Maria mit Kind sitzend und der bezeichnenden Inschrift zeigten: In Hoc Signo Vinces.78 Dieser Rückgriff auf Kaiser Konstantins Sieg an der Milvischen Brücke (312) sollte als Fanal zur Verbreitung des Christentums und als militärische Siegesverheißung verstanden werden, auch wenn der Heidenkampf im Abendland zu jener Zeit kein Thema mehr war.79 Es waren selbstlegitimierende Traditionsmomente und Reminiszenzen an längst verflossene (Kampf)Zeiten. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Der Deutsche Orden in seiner karitativen wie militärischen Funktionalität oszillierte auch kultisch zwischen zwei Polen hin und her. Je nach Ordensballei konnten Unterschiede beim bevorzugten Heiligen auftreten – je nachdem, welche Aufgabe dort vorrangig war. Maria war die einzige Patronin und Heilige, die überall und durchgängig verehrt wurde. Ihre ursprüngliche Verortung war in jeder Hinsicht der Orient, näherhin Jerusalem. Die ursprünglich biblisch fundierte Figur wurde in der Kreuzzugssituation Palästinas mit militärischem Gedankengut angereichert und überlagert. Sie sollte nicht nur den Schlachtensieg erbringen, sondern auch dezidiert den Islam herausfordern. Im (europäischen) Mittelalter wurde sie zu einer prononciert militärischen Institution, die auch die Ethik der Ordensritter erfasste. Ihr standen weitere, meist weibliche Heilige der Bibel und des frühchristlichen Orients zur Seite, die häufig nur durch ihre Attribute oder alttestamentliche Einzelaussagen eine gewisse Affinität zum 76  Samerski,

„Hausheilige“, S. 276. 800 Jahre Deutscher Orden, S. 186–188. Vergleichbare Wappenkalender erschienen auch in den Balleien Franken und Elsass-Burgund. 78  Ebd., S. 216. Vgl. auch die Einleitung von Liliya Berezhnaya im vorliegenden Band. 79  Dazu vor allem die neue Forschung bei: Heinrich Schlange-Schöningen (Hrsg.), Konstantin und das Christentum, Darmstadt 2007, bes. die Beiträge von Jochen Bleicken, Klaus Bringmann, Eva Lehmeier und Gunther Gottlieb. 77  Bott/Arnold,

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Kriegsgeschehen mit sich brachten. Solche Heilige waren vor allem in jenen Regionen intensiv verbreitet, die in der Nähe oder unmittelbar im Kampfgebiet lagen. Noch im 18. Jahrhundert tradierte man im Orden solche Vorstellungen weiter, indem man sich trotz oder gerade wegen seiner politischen und militärischen Bedeutungslosigkeit an die glorreichen Kampfzeiten erinnern wollte. Die karitative Heilige Elisabeth, die aufgrund ihrer dynastischen Verbindungen in den Ordenshimmel kam, trat bereits im späten Mittelalter weit hinter Georg und Maria zurück. Sie erlebte im 18. Jahrhundert eine bescheidene funktionale Renaissance.

Der Kult der Kriegerheiligen in der Kiewer Metropolie in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts Von Nataliia Sinkevych Über die russisch-orthodoxe Hagiographie1 und den Kult der Heiligen im mittelalterlichen östlichen Slawentum ist bereits viel geschrieben worden.2 Allgemein gibt es keinen Zweifel daran, dass heilige Krieger und Märtyrer der ersten nachchristlichen Jahrhunderte bereits in der mittelalterlichen Kiewer Rus’ verehrt wurden. Ebenso wurde dort auch der zeitgenössische byzantinische Kult der Kriegerheiligen abgebildet, wenn auch nicht alle seine Aspekte.3 Kriegerheilige wurden zunächst als Beschützer der jeweiligen Teilfürstentümer und der dazu gehörenden Armee betrachtet und verehrt. Sie erscheinen folglich in großer Anzahl in Abbildungen in den Wandmalereien der ersten Kirchen; in der Sophienkathedrale in Kiew (erbaut Anfang des 11. Jahrhunderts) sieht man Abbildungen der Heiligen Andreas Stratelates († 302), Artemius († 363), Theodoros Tiron († 306), Eustachius († 118), Menas († 309), Mercurius († 250) und Demetrios von Thessaloniki († 304), die sich in der nördlichen Galerie der Kirche gruppieren, wo sich während der Liturgie durch die Družina – das persönliche Heergefolge der Fürsten – niederließ.4 Ferner illustrieren Schiefertafeln mit den Bildern des heiligen Eustachius, Georg, Theodor von Amasea und Demetrios und seinem Schüler 1  Die Bezeichnung „russisch“ bezieht sich hier auf die historische Phase der Kiewer Rus’ (9.–13. Jh). Für die Frühneuzeit werden die – in der Fachwelt etablierten – die Begriffe „ruthenisch“ (für die orthodoxen Ostslawen Polen-Litauens) und „moskowitisch“ verwendet. 2  Lidija P. Žukovskaja, „Tipologija rukopisej drevnerusskogo polnogo aprakosa XI–XIV vv. v svjazi s lingvotekstologičeskim izučeniem ich“, in: Viktor Vinogradov (Hrsg.), Pamjatniki drevnerusskoj pismennosti: jazyk i tekstologija, Moskau 1968, S. 226–233; Larisa A. Olševskaja, Kievo-Pečerskij Paterik, Dissertacija […] kandydata filologičeskich nauk, Moskau 1979; Olga V. Loseva, Žitija svjatych v sostave drevnerusskich prologov XII–pervoj treti XV vekov, Moskau 2009; Vladimir N. Perec, K izučeniju četij 1489 goda, Sbornik otdela russkogo jazyka i slovesnosti, Leningrad 1928, S. 1–107. 3  Monika White, Military Saints in Byzantium and Rus, 900–1200, Cambridge 2013, S. 97–110; Piotr Ł. Grotowski, Arms and Armour of the Warrior Saints: Tradition and Innovation in Byzantine Iconography (843–1261), Leiden 2010. 4  Nadija Nikitenko/Vjačeslav Kornienko, Sobor svjatych Sofii Kievskoj, Kiew 2014, S. 115–120.

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Abb. 1: Die heiligen Boris und Gleb, in: Athanasius Kalnofoyski, Teraturgima lubo cuda, ktore były tak w samym […] Monastyru […] Kiiowskim, Kiew 1638, S. 54. Foto: Aleksej Sirenov.

Nestor, die bei archäologischen Ausgrabungen im Michaelskloster in Kiew gefunden wurden,5 die militärisch motivierte Verehrung bestimmter Heiliger in den Zeiten des Isjaslaw-Zweiges des Kiewer Herrscherhauses der Rurikiden (11.–12. Jahrhundert). Dies alles sind freilich noch Heilige der byzantinischen Tradition. In der Kiewer Rus’ erfuhren jedoch vor allem die hl. Boris und Gleb (Abb. 1), nun von lokaler Herkunft, größere Verehrung.6 Deren Kult ersetzte bis zu einem gewissen Grad den Kult der byzantinischen Märtyrer. Obwohl die Quellen faktisch nichts über die militärische Erfahrung von Gleb erzählen, und ob5  Dymrtrij Rudjuk/Vitalij Klos, Kyjevo-Mychajlivs’kyj Zolotoverchyj monastyr, Kiew 2013, S. 37. 6  Boris und Gleb, die in einem Machtkampf zwischen 1015 und 1019 getötet worden waren, sind die ersten russischen Heiligen. 1071 wurden die beiden Brüder kanonisiert. Der Kult der hl. Boris und Gleb genoss große Popularität in der mittelalter­ lichen Rus’. Für Bibliografie und weitere Informationen vgl.: Gail Lenhoff, The martyred princes Boris and Gleb: a socio-cultural study of the cult and the text, Columbus 1989.



Der Kult der Kriegerheiligen in der Kiewer Metropolie

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wohl auch Boris nicht für seine kriegerischen Fähigkeiten berühmt war, übernahmen die beiden Brüder die Rolle der Kriegerheiligen und wurden sogar Patrone der Armee. Das hagiographische Idealbild von Boris und Gleb lieferte eigentlich auch nicht das klassische Beispiel des Martyriums für den Glauben – sie waren ja zunächst nicht wegen ihres Glaubens angegriffen worden, sondern als konkurrierende Angehörige des Herrscherhauses. Dennoch wurden sie bereits in der frühen russischen Hagiographie mit dem byzantinischen Märtyrer Demetrius verglichen.7 Im Gegensatz zum Mittelalter, also der Zeit der Kiewer Rus’, wissen wir praktisch nichts über die Entwicklung von militärischen Kulten in der Kiewer Tradition der Frühen Neuzeit, die allgemein als Periode einer geistigen und kulturellen Renaissance in den ruthenischen Ländern gilt. Diese Abhandlung gilt den Merkmalen des Kultes um die Militärheiligen in der Kiewer Metropolie des 17. Jahrhunderts und berücksichtigt dabei vor allem die Hagiographie und die Ikonographie. Besonderes Augenmerk gilt dabei dem Einfluss des Moskauer Reiches einerseits, und den Einflüssen der Kultur­ region des Balkans andererseits. Hauptanliegen der Studie ist es dabei, den militärischen Aspekt der Kulte in den ruthenischen Ländern in der Frühen Neuzeit, seine Dynamik und Popularität in den schriftlichen Quellen und der Ikonographie aufzuzeigen. Um die genannten religiös-kulturellen Prozesse in den ruthenischen Ländern in der Frühen Neuzeit zu verstehen, erscheint es hilfreich, den allgemeinen Rahmen der Geschichte der Kiewer Metropolie hier kurz zu skizzieren. Das Erzbistum, das nach der Taufe der Kiewer Rus’ um 988 innerhalb der Jurisdiktion des Patriarchats von Konstantinopel gegründet worden war, verlor im 13. Jahrhundert die Kontrolle über weite Teile seines kanonischen Gesamtgebietes. Die Residenz des Kiewer Metropoliten wurde nach der Invasion der Mongolen zuerst nach Wladimir an der Kljaz’ma (1299) und dann nach Moskau (1325) verlegt. Später aber fielen weite Teile der alten Kiewer Rus’, darunter das Fürstentum Halitsch (Halyč) und die Stadt Kiew, an das Groß­fürstentum Litauen. Daraufhin erhielt Algirdas († 1377), der Großfürst von Litauen, aus Konstantinopel die Zustimmung, unabhängig von Moskau die Kiewer und damit litauischen Metropoliten zu nominieren. Die endgültige Teilung der ehemaligen Kiewer Metropolie geschah 1458, nachdem auch in Moskau der Metropolit vom Großfürsten eigenständig ernannt worden war. Seit dieser Zeit wurden die Metropoliten der südlichen und westlichen Rus’, die ihre Residenz in Vilnius nahmen, als „Metropoliten von Kiew, ­Halitsch und der ganzen Rus’“ bekannt, während die Metropoliten von Moskau seit 1461 einfach als die Hierarchen Moskaus betitelt wurden. 7  White,

Military Saints, S. 140–150.

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Das Ende des 16. Jahrhunderts brachte viele Veränderungen für beide Teile der einst vereinten Kiewer Metropolie mit sich. Während eines Besuches in Moskau verkündete der Patriarch von Konstantinopel, Jeremias II. Tranos (1536–1595), die Gründung eines neuen orthodoxen Patriarchates mit dem Zentrum in Moskau. In der Zwischenzeit verhandelten mehrere ruthenische orthodoxe Hierarchen mit Rom über die Unterzeichnung einer neuen Union, welche 1595 in Rom geschlossen und 1596 in Brest verkündet wurde. Ein großer Teil der Gläubigen und Geistlichen allerdings lehnte die Union ab. Obwohl die Widersacher der Union in Polen-Litauen in den Status der Illegalität gerieten, starteten manche Klöster, Bruderschaften und Bischöfe aktive und polemische Kampagnen gegen die Union. Die antiunierte Kampagne gewann deutlich an Kraft mit der Wiedereinsetzung einer orthodoxen Hie­ rarchie 1620, als Patriarch Theophanes von Jerusalem mehrere orthodoxe Bischöfe und einen Metropoliten der Kiewer Metropolie weihte. Neben der unierten bestand nun eine nichtunierte Hierarchie. 1632 erkannte Władysław  IV. Wasa (1595–1648), König von Polen und Großfürst von Litauen, die Existenz der orthodoxen Hierarchie an, ernannte aber für ihre Leitung seinen eigenen Kandidaten, den Metropoliten Petro Mohyla (1596– 1647). Mohyla zeigte sich stark engagiert, um einen modus vivendi für die Orthodoxie in Polen-Litauen zu finden. Dank seiner vielseitigen Tätigkeit erlebte die Kiewer Metropolie eine Periode kultureller Wiedergeburt.8 Nach dem 1648 begonnen großen Kosakenaufstand unter Hetman Bohdan Chmelnyc’kyj unterstellten die Aufständischen im Vertrag von Perejaslaw (1654) die linksufrige Ukraine einschließlich Kiew der Herrschaft der Moskauer Zaren. Die Kiewer Metropoliten seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, Sylvester Kossiv, Dionissij Balaban und Joseph Neljubovych-Tukals’kyj, waren vehement gegen die Moskauer Bestrebungen, die Kiewer Metropolie der Jurisdiktion des Moskauer Patriarchats einzuverleiben. Dennoch war die Frage nach der Trennung der Kiewer Metropolie von Konstantinopel nur eine Frage der Zeit. Im Juli 1685, bei Gelegenheit seiner Erhebung in den Rang eines Metropoliten, erkannte Bischof Gedeon Svjatopolk-Chetver­ tyns’kyj de facto die Unterordnung der Kiewer Metropolie unter das Moskauer Patriarchat und das Großfürstentum Moskau an. De jure wurde diese Handlung von Konstantinopel im April 1686 teilweise bestätigt.9 8  Lilija Berežnaja, „Der Kiewer Kirchenstreit. Nationale ‚Erinnerungsorte‘ im Fokus der Konfessionen“, in: Osteuropa, Bd. 59, 6 (2009), S. 171–188; Vadim M. Lurje, Russkoje pravoslavije meždu Kievom i Moskvoj. Očerki istorii russkoj pravoslavnoj tradicii meždu XV i XX vv. Moskau 2009, S. 173‒231, Ihor Ševčenko, „The many Worlds of Peter Mohyla,“ in: Harvard Ukrainian Studies, Bd. 8, No. 1/2 (1984), S. 9–44. 9  Ilarion Ohijenko, Pryjednannja ukrajins’koji cerkvy do moskovs’koji v 1686 r. Vinnipeg 1948; Olga M. Ševčenko, „Pro pidporjadkuvannja Kyivs’koji mytropoliji



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Der Kult der Kriegerheiligen der 1620er Jahre Das frühe 17. Jahrhundert sah demnach die ruthenischen Orthodoxen in einer Situation der Polemik und neuen Identitätsfindung. Auch der kritische Blick und die Polemik von Seiten der Katholiken und der Protestanten in Polen-Litauen trugen zu dieser Situation bei. Für unseren Kontext ist es wichtig zu betonen, dass der Kampf um die Bewahrung der orthodoxen Identität nach der Union von Brest bei den ruthenisch-orthodoxen Gelehrten ein lebhaftes Interesse an der Idee von Heiligkeit und Heiligen weckte. Dieses Interesse führte jedoch nicht zur Heiligsprechung zeitgenössischer Figuren, sondern suchte an das alte hagiographische Erbe zu erinnern. Der wesent­ liche Bestandteil dieses Erbes war der Kult der Repräsentanten der Rurikiden-Dynastie, der Söhne von Fürst Wladimir, der heiligen Boris und Gleb, die in Vyšgorod in der Nähe von Kiew getötet und begraben worden waren. Zu dieser Zeit war die Verehrung der hl. Boris und Gleb als Schutzpatrone der Rurikiden aber auch im Moskauer Reich weiterentwickelt worden.10 Erste Spuren des Kults von Boris und Gleb in der Frühen Neuzeit auf dem Territorium der Kiewer Metropolie finden sich bereits in einer ersten gedruckten Ausgabe des Apostel (1574) in Lemberg.11 Weitere Beweise für die Verehrung der hl. Boris und Gleb finden sich im Jahr 1616, als ein kurzes Tropárion, das ihnen gewidmet war, in einem der ersten Drucke von Kiew erschien – im Rahmen eines Stundenbuchs (Časoslov),12 bearbeitet und veröffentlicht im Kiewer Höhlenkloster. Im berühmt gewordenen Menaion-Buch (Anfologion), abgefasst vor 1619 von einem Kiewer Gelehrtenkreis, bestehend vor allem aus Zacharij Kopystens’kyj († 1627),13 Iov Pamvo Berynda Moskovs’komu Patriarchatu naprykinci XVII st.“, in: Ukrajins’kyj istoryčnyj žurnal, Bd. 1 (1994), S. 54‒61. Die Frage inwieweit Konstantinopel in diesem Jahr tatsächlich seine Jurisdiktion über die Kiewer Metropolie aufgegeben hatte, ist in jüngster Zeit, im Kontext der Wiedererrichtung einer autokephalen Kirche der Ukraine auf Initiative des Ökumenischen Patriarchats im Jahr 2019, zum Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen geworden. Der Streit und die in die dadurch hervorgebrachte umfangreiche Literatur sind allerdings im vorliegenden Zusammenhang der Hagiographie weniger bedeutsam, und sollen hier nicht ausführlich dokumentiert werden. 10  Lenhoff, The martyred princes, S. 53, 125. 11  Michael Petrowycz, „The Addition of Slavic Saints to Seventeenth-Century Liturgical Calendars of the Kyivan Metropolitanate“, in: Bert Groen/Steven HawkesTeeples/Stefanos Alexopoulos (Hrsg.), Inquiries into Eastern Christian worship. Selected Papers of the Second International Congress of the Society of Oriental Liturgy, Rome, 17–21 September 2008, Leuven u. a. 2012, S. 332. 12  Časoslov, Kiew 1616, S. 190. 13  Zacharij Kopystens’kyj wurde mutmaßlich in der Umgebung von Przemyśl (heute Südost-Polen) in einer kleinadligen Familie geboren, die ihren Namen von dem Dorf Kopysno entlehnte. Er besuchte vermutlich die Schule der Lemberger Orthodoxen Bruderschaft, sowie eine der zeitgenössischen deutschen protestantischen

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(† 1632), Elisej Pletenec’kyj († 1624), und Iov Borec’kyj (Metropolit seit 1620, † 1631), werden zu den traditionellen Mineia-Kulten des liturgischen Jahres spezielle Dienste für den Apostel Andreas (der der Legende nach das Christentum zuerst auf die Krim und zu den Ostslawen brachte) und die Gründerväter des Kiewer Höhlenklosters Antonius und Theodosius (Feodosij) hinzu genommen; am Ende des Buches erscheinen nun auch die Viten des Fürsten Wladimir, der Märtyrer Boris und Gleb und der Kiewer Metropoliten Peter († 1326) und Alexios († 1378).14 Der Textvergleich dieser Viten am Ende des Anfologion mit dem im Norden Russlands beliebten Menaion des Moskauer Metropoliten Makarij (zusammengestellt Mitte des 16. Jahrhunderts) zeigt eine Identität bis ins Detail. Selbst die Gravuren des Anfologion15 (Abb. 1) entsprechen dem in Moskau etablierten ikonographischen Kanon.16 So zeigte auch Kiew dank seiner illustren Heiligen besondere Bedeutung als Stätte des Heilsgeschehens. Insgesamt war es gleichsam eine propagandistische Notwendigkeit, in der antikatholischen und antiprotestantischen religiösen Polemik orthodoxe Argumente zu entwickeln und zu präsentieren. Die Situation der Polemik drängte die Kiewer orthodoxen Gelehrten in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts dazu, Kulte Kiewer Herkunft aus der nordrussischen Tradition zu „leihen.“ Unter diesen wurde auch der Kult der Kiewer Fürstensöhne Boris und Gleb übernommen und anerkannt. Die Frage ist hier, inwiefern der Kult eine militärische Komponente hatte. Die hl. Boris und Gleb wurden im Anfologion mit ihren im Kampf erhaltenen Narben dargestellt, die nicht nur ihr Martyrium betonten, sondern auch die militärische Funktion ihres Kultes. Der Gebetstext nennt die Heiligen „Krieger Christi“ und bittet darum, dass die Heiligen vor Heiden, sichtbaren und unsichtbaren Feinden schützen mögen.17 Tatsächlich ist der Kult von Boris und Gleb der am meisten militärisch artikulierte Kult im Anfologion, während andere Heilige, die militärische Bedeutung haben könnten (hl. Cornelius, hl. Demetrios), nicht auf diese spezifische Art hervortreten. Universitäten. Seit 1611 unterrichtete er selbst an der Lemberger Bruderschaftsschule. Danach wurde er Mönch in den orthodoxen Klöstern in Putna und Univ. Seit 1616 war Kopystens’kyj Mitglied der Kiewer Orthodoxen Bruderschaft und ein engagierter Teilnehmer an den philologischen und publizistischen Aktivitäten der Kiewer Gelehrtenkreise. 1624–1627 war er Archimandrit des Kiewer Höhlenklosters. Vgl. Omeljan Pritsak/Bohdan Struminsky (Hrsg.), Lev Krevza’s „Obrona iedności cerkiewney“ and Zaxarija Kopystens’kyj’s „Palinodija“, Cambridge, Mass. 1987. 14  Anfologion, Kiew 1619, S.  463–468, 1005–1017, 1017–1028, 1028–1034, 1034–1334, 1034–1043. 15  Ebd., S. 1041. 16  Vasyl Pucko, „Velykomučenyky: Obrazy svjatych Borysa i Gliba v ikonografyčnij tradyciji XII – XVII  st.“, in: Ljudyna i svit, Bd. 1 (1994), S. 24–27. 17  Anfologion, Kiew 1619, S. 1040, 1043–1043.



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Im Allgemeinen ging also die Aktivierung des Kultes von Boris und Gleb in der Kiewer Metropolie im Anfologion von 1619 auf Moskauer Anleihen zurück. Insbesondere die militärischen Merkmale des Heiligenkults um Boris und Gleb, inklusive der Betonung ihrer Schutzfunktion für Soldaten in der Ikonographie und den hagiographischen Texten, müssen aus der Tradition der nördlichen Rus’ übernommen worden sein.18 Das Anfologion brachte es zu großer Popularität; es wurde mehrmals nachgedruckt (bis 1651 vier Nachdrucke in Lemberg19) und beeinflusste stark die weitere Tradition der Kiewer Metropolie. Die Programmatik für die Heiligenkulte in der Kiewer Metropolie seit den 1620er Jahren lässt sich weiter verfolgen anhand eines illustrierten Menaion von Pamvo Berynda (1560–1632), von dem ein Exemplar in den Sammlungen der Bodleian Library in Oxford aufbewahrt wird.20 Entsprechend der Titelseite wurde das Menaion 1628 in der ruthenischen Stadt Kremenec’ veröffentlicht (möglicherweise in der bekannten Druckerei der Kremenec’Bruderschaft). Es widmet sich, laut seines lateinischen Titels, den populären Heiligen des Moskauer Reiches: Der Moskauer Kalender, in Bildern skizziert für das ganze Jahr, bearbeitet am 7. Oktober 1628 in Kremenets (Fasti Moscovitici per imagines adumbrati per totum annum editi 7 Octobris anno Christi 1628 Kremaenzi). Für die Entwicklung einer eigenen hagiographischen Tradition im frühneuzeitlichen Kiew ist dies eine besonders interessante Quelle. Die ruthenischen Gelehrten setzten ihre Bemühungen um die Schaffung eines nicht allein russischen oder ruthenischen, sondern all-orthodoxen hagiographischen Zyklus fort und schlossen auch die Figuren byzantinischer Krieger mit ein. Wir finden hier die hl. Eustachius, Menas, Georg, Theodor Stratelates, Theodor Tiron, Sabbas Stratelates und Procopius von Scythopolis. Alle diese Heiligen sind recht stereotyp dargestellt, mit einer Lanze als traditionellem Insignium der Kämpfer im Dienst des Römischen Reiches. Interessant ist allerdings, dass Demetrios und sein Schüler Nestor, die sonst traditionell in der Ikonographie als junge Krieger präsentiert werden, im Menaion keine militärischen Insignien haben. Die Ikonographie der Heiligen unterscheidet sich sowohl von zeitgenössischen Moskauer Beispielen als auch von Vorbildern vom Balkan. So wie hier, ohne Schwert und in 18  Natalja M. Abramenko, „Svjatyje knjazja Boris i Gleb kak zastupniki russkogo vojska v proizvedenijach XVI–XVII vekov“, in: Svetlana Mal’ceva/Ekaterina Stanjukovich-Denisova (Hrsg.), Aktua’nyje problemy teorii i istorii iskusstva, Bd. 3, Sankt Peterburg 2013, S. 242–247. 19  Hans Rothe (Hrsg.), Sinopsis. Kiev, 1681: Facsimile mit einer Einleitung, Köln 1983, S. 12. 20  Bogdan Berezenko, „Tajnopys Pamvo Beryndy“, in: Ukrajins’ka pysemnist’ ta mova v manuskryptach i drukarstvi. Materialy 3-ii ta 4-ii naukovo-praktyčnych konferenciji, Kiew 2014, S. 98–102.

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langem edlem Gewand und Mantel wurde Demetrios nur in der frühen byzantinischen Ikonographie dargestellt. Das Schwert als militärisches Merkmal trat in der Ikonographie erst seit dem 10. Jahrhundert hinzu.21 Dieselbe „Demilitarisierung“ kommt am Beispiel der Darstellung der Synaxis des heiligen Erzengels Michael und der ihn begleitenden Engel („körperlosen Kräfte“) zum Ausdruck: Der Erzengel Michael und der Rest der himmlischen Armee tragen keinerlei Waffen, was eher untypisch ist für die traditionelle festliche Darstellung. Offensichtlich fehlte diesen Kulten der militärische Aspekt. Wurden sie im Hinblick auf diese militärische Komponente durch andere ersetzt? Das Menaion enthält zudem die Darstellung der hl. Boris und Gleb. Im Gegensatz zur Gravur im oben erwähnten Anfologion erinnert das Bild der Heiligen hier nicht an die sonst etablierten ikonographischen Muster. Anstelle des Fürstenhutes tragen die heiligen Brüder eine Krone, die der ihres Vaters Vladimir ähnelt. Man kann davon ausgehen, dass Berynda nicht in jedem Fall druckfertige Muster zur Verfügung hatte, sondern sie teilweise selbst produziert hat. Die Schwerter jedenfalls sind deutlich sichtbar, und damit wird der militärische Aspekt der Figuren betont. Das Menaion zeigt ferner die Rezeption noch eines anderen, eigens russischen oder moskowitischen Militärkults, der auch im Moskauer Zarenreich verbreitet war. Hierbei geht es um die Glorifizierung des Fürsten Michael von Černihiv (1179–1246) und seines Bojaren Fedor, die vom Mongolenführer Batu Khan (1207–1255) getötet worden waren und deren Reliquien 1572 nach Moskau gebracht wurden. Die Geschichte des Martyriums der heiligen Michael und Fedor findet sich bereits im Buch der königlichen Grade (Stepennaja Kniga)22 im Moskauer Reich in der Mitte des 16. Jahrhunderts. Diese Heiligen wurden traditionell als Märtyrer-Krieger mit Schwertern dargestellt. Berynda übernahm diese Darstellung und zeigte die in der Kiewer Metropolie bis dahin praktisch unbekannten Heiligen in der entsprechenden Form im Menaion von Kremenec’. Allerdings verlieh er nur dem Fürsten Michael militärische Züge, während der Bojar Fedor lediglich mit einem Kreuz dargestellt ist. Das Leben des Fürsten Michael wurde in der Moskauer Hagiographie oft mit dem des hl. Eustachius verglichen – einem Krieger, der von einem heidnischen Herrscher umgebracht worden war.23 Deshalb setzte 21  Christopher Walter, „St. Demetrius: the Myroblytos of Thessalonika“, in: ders., Studies in Byzantine Iconography, London 1977, S. 173–174. 22  „Kniga Stepennaja carskogo rodoslovija“, in: Polnoje sobranije russkich letopisej, Bd. 21, Teil 1, Sankt Petersburg 1907, S. 267–277. 23  Aleksej V. Lauškin, „K istorii vozniknovenija rannich proložnych skazanij o Michaile Černigovskom“, in: Vestnik Moskovskogo Universiteta: Istorija, Bd. 6 (1999), S. 22.



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Berynda den Gedenktag des hl. Michael von Černihiv und seines Bojaren Fedor auf einen Tag mit dem Fest des hl. Eustachius, den 20. September. Folglich waren es die Rurikiden Boris und Gleb sowie Michael von Černihiv, die entsprechend der Moskauer Tradition auch in Beryndas Menaion als Militärheilige gesehen wurden. Im Bemühen um die Herstellung und Verteidigung einer orthodoxen Identität haben die Kiewer Gelehrten so viele Heiligenfiguren wie möglich einbezogen. Sie griffen dabei nicht nur auf Moskauer Kulte zurück, sondern auch auf solche vom Balkan.24 So legte Zacharij Kopystens’kyj in seiner Palinodia ili kniga oborony kafolyčeskoj svjatojapostolskoj cerkvy (1617–1624, die Arbeit wurde in Handschriften verbreitet) einige Bilder orthodoxer Heiliger verschiedener Traditionen dar, nicht nur solche der polnisch-litauischen, oder der Novgoroder und Moskauer Tradition,25 sondern auch mit südeuropäischer Herkunft. So finden wir etwa einige bulgarische Heilige, serbische Heilige der Nemanja-Dynastie, in deren genealogische Verhältnisse sich Kopystens’kyj sich allerdings nicht vertiefen konnte, und einige griechische Heilige, bei denen die Motive für die Auswahl nicht ganz klar sind. Separat werden die Namen von Heiligen vom Berg Athos und aus der Walachei genannt.26 Kopystens’kyj interessierte sich besonders für die Reliquien der Heiligen, die sich in Schreinen in orthodoxem Besitz befanden und Wunder wirkten, da er so das Wirken heiliger Kräfte innerhalb der Orthodoxie untermauern wollte. In diesem Zusammenhang erwähnte er den Kult des hl. Theodor von Amasea (Theodor Tyron) im Kloster Hopovo (in der serbischen Vojvodina), den er allerdings irrtümlich in Bulgarien lokalisierte.27 Diese fehlerhafte Verortung geht offenbar auf eine nur mündliche Überlieferung zurück; der entsprechende Zeuge, ein Vertreter des balkanischen Klerus, reiste durch das ruthenische Gebiet nach Moskau. Obwohl der Kult von Theodor Tyron zu dieser Zeit auf dem Balkan deutliche militärische Merkmale bekommen hatte,28 spiegelte sich dies in der Arbeit von Kopystens’kyj nicht wider.

24  Jan Stradomski, „Balkanskite svetcy i sveti mesta kato argument v polsko-rutenskata religiozna polemika perz XVI–XVII v.“, in: Starobolgarska literatura, Bd. 48 (2013), S. 221–229. 25  Aleksandr Naumow, „Święci lokalni w myśli kijowskiej pierwszej połowy XVII wieku“, in: Władysław Bulsza (Hrsg.), Ars Graeca – Ars Latina. Studio dedykowane Professor Annie Różyckiej – Bryzek, Krakau 2001, S. 199–206, hier S. 203. 26  Zacharij Kopystenskij, „Palinodija“, in: Russkaja Istoričeskaja Biblioteka, Bd. 4: Pamjatniki polemičeskoj literatury v Zapadnoj Rusi, Teil  1, Sankt Petersburg 1878, Sp. 841–846. 27  Ebd., Sp. 845. 28  Iskra Christova-Šomova, „Sv. Teodor Tiron i transformaciite na negovija kult“, in: Starobolgarska literatura, Bd. 48 (2013), S. 9–27.

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Trotz des allgemein zunehmenden Interesses an der Hagiographie war der Kult der byzantinischen Kriegerheiligen in den ersten drei Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts auf dem Territorium der Kiewer Metropolie nicht sehr populär: Die Verehrung von heiligen Kriegern ist kein kennzeichnender Zug des dortigen Heiligenkultes, und die militärische Rolle entlehnter Heiliger wurde nicht eindeutig unterstrichen. Der militärische Aspekt des Heiligenkults war für die Kiewer Gelehrten nicht entscheidend. Die im Moskauer Reich etablierte Ikonographie und die narrativen Konstruktionen, in denen die militärische Stärke und der Schutz der Kriegerheiligen hervorgehoben werden, hatten allerdings ihre Wurzeln in der alten Kiewer Rus’ und damit am Ende doch auf Kiewer Boden. Dies zeigt besonders der Fall der heiligen Boris und Gleb, bei denen die militärischen Konnotationen durch den Einfluss von Moskauer Texten und Bildern verstärkt wurden. Seit ihrer neuerlichen Adaptation aus Moskau wurden die Heiligen auch in den Kiewer Drucken mit traditionellen Kriegerattributen abgebildet. Militärische Aspekte im Heiligenkult der 1630er und 1640er Jahre Bedeutet das, dass die Kiewer Metropolie in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ihrem Selbstverständnis nach keine heiligen Krieger und Beschützer brauchte? Dies ist schwer zu glauben, wenn man bedenkt, dass auch die ruthenischen Länder in dieser Phase regelmäßig von tatarischen und osmanischen Truppen heimgesucht wurden, dass es regelmäßig Kriegszerstörungen gab, und die Bewohner ihrerseits in zahlreiche militärische Operationen involviert waren. Die scheinbar im Gegensatz dazu stehende Abwesenheit von ausdrücklichen Kriegerkulten könnte zum Teil durch die Stellung des Kultes der Muttergottes erklärt werden, die auch in militärischen Kontexten beschworen wurde. Der Hauptgrund war jedoch die mangelnde Entwicklung der ruthenischen Hagiographie, in der offenbar keine klare „Spezialisierung“ der heiligen Beschützer vorgesehen war. Die Notwendigkeit, einen gewissen orthodoxen Pantheon aus eigenen Heiligen zu schaffen, wurde in den 1630er Jahren aufgegriffen. In dieser Phase entstanden im Kiewer Höhlenkloster Werke, die besonders den Kult der Höhlenheiligen, also derjenigen aus dem Höhlenkloster unterstreichen: Zu diesen Werken gehören das Väterbuch (Paterikon) von Sylvester Kossiv (1635) und das sogenannte Teraturgima (Wunderbuch) von Athanasius Kal’nofojs’kyj (1638). Auf den ersten Blick vereint diese beiden Werke eine Reihe von äußeren und inneren Merkmalen: Sie wurden beide im Kiewer Höhlenkloster in den 1630er Jahren abgefasst, sie galten dem Kult der dort bestatteten Heiligen (das Paterikon beschäftigt sich hauptsächlich mit den alten Wundern, das Teraturgima mit den zeitgenössischen), und beide wur-



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den mit Blick auf eine möglichst breite Leserschaft in Polen-Litauen in mittelpolnischer Sprache verfasst. Die ideologische Ausrichtung dieser Texte wie auch der intellektuelle Hintergrund beider Autoren war jedoch unterschiedlich. Es gibt deutliche Anzeichen für die Existenz zweier spiritueller Vektoren in der geistlichen Literatur in Kiew in den 1630er Jahren:29 Der eine, der sich auf die unmittelbare Umgebung des Metropoliten Petro Mohyla bezog und insbesondere von Sylvester Kossiv vertreten wurde, versuchte, die „primäre“ Kiewer Tradition mit dem vorherrschenden Kult von Fürst Vladimir „dem Täufer“ († 1015), dem ersten Kiewer Metropoliten Michael und den Heiligen des Kiewer Höhlenklosters vor allem im Paterikon zu rekonstruieren (oder annähernd zu konstruieren). Der andere Vektor, dessen Ursprung aus der Tradition der 1620er Jahre stammt und von Athanasius Kal’nofojs’kyj († nach 1646) popularisiert wurde, galt dem im Kiewer Höhlenkloster beliebten Reliquien- und Wunderkult. Diese Richtung tendierte zur Betonung einer gemeinsamen spirituellen Tradition der Christianitas Orthodoxa und nutzte auch aktiv Kulte und Helden der Moskauer Orthodoxie. Die Frage ist hier, was dies für das Entstehen von militärisch akzentuierten Kulten und Kriegerheiligen bedeutet? Am Anfang entsprechender Überlegungen steht die Person Kal’nofojs’kyjs selbst, der sich selbst eindeutig als Fortsetzer von Pamvo Berynda, Elisej Pletenec’kyj, Iov Borec’kyj und insbesondere Zacharij Kopystens’kyj, also der Generation der 1620er Jahre, präsentierte.30 Der Kult der heiligen Boris und Gleb nimmt in seinen Werken einen besonderen Ort ein. Das dritte Wunder in seinem Wunderbuch ist eine Geschichte von der Übertragung von Reliquien der Märtyrer, basierend auf entsprechender Erwähnung in der berühmten Ipatiev-Chronik, die ihrerseits in den 20er Jahren des 15. Jahrhunderts entstanden war. Die Heiligen werden darin als besondere Patrone des Kiewer Höhlenklosters bezeichnet, und mit einer aus dem Anfologion entliehenen Gravur dargestellt (Abb. 1). Für Kal’nofojs’kyj ist die Verbindung des Kultes von Boris und Gleb mit Moskau offensichtlich – er gibt dem Leser sogar die Information, dass nach dem Feldzug des Mongolenführers Batu Khan die Reliquien der Märtyrer nach Moskau gebracht worden waren, wo „die Heiligen Gottes immer verehrt werden“.31 Diese Wertschätzung für den Kult der Märtyrer sowie das Lob anderer Vertreter des Rurikidenhauses geschehen im Hinblick auf die Person, die in der Widmung der Teraturgima auftaucht: Der ruthenische Fürst Ilja 29  Natalija Sinkevich, „Dva vektora pravoslavnoj identičnosti v Ukraine XVII v.: Moskva i moskovity v dvuch proizvedenijach mogiljanskogo vremeni“, in: Andrej Doronin (Hrsg.), Drevnjaja Rus’ posle drevnej Rusi, Moskau 2017, S. 272–290. 30  Athanasius Kalnofoyski, Teraturgima lubo cuda, które były tak w samym […] Monastyru […] Kiiowskim, Kiew 1638, S. 178, 193. 31  Ebd., S. 102–104.

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Svjatopolk-Chetvertyns’kyj (1606–1640) betrachtete sich als Nachkomme der Rurikiden und Verwandten des Moskowiter Großfürsten Iwans des Schrecklichen (1547–1584).32 Obwohl im Teraturgima viel über militärische Tapferkeit und den Mut der Rurikiden und schließlich Iljas selbst zu lesen ist, sind Heilige in diesem Diskurs über militärische Tugenden und Leistungen der Dynastie praktisch nicht anwesend. Alle einschlägigen Vergleiche und Konnotationen entstammen nicht der Hagiographie, sondern der antiken klassischen Literatur. Die einzige Ausnahme ist der Ilja gegebene Rat, den Schutz des hl. Vladimir und den von Boris und Gleb zu suchen, allerdings nicht wegen ihres besonderen militärischen Potentials, sondern aufgrund der rurikidischen Blutsverwandtschaft. Darüber hinaus riefen die rühmenden Epitaphe, die anderen Familien des ruthenischen orthodoxen Adels gewidmet waren, nicht die Heiligen, sondern den römischen Kriegsgott Mars und andere antike Helden an.33 Offensichtlich brachte Kal’nofojs’kyj den Kult von Boris und Gleb nur als denjenigen von Schutzpatronen der Rurikiden, und nicht als Kriegerpatrone ins Spiel. Wie aber stellen sich andere mögliche Heilige des Wunderbuches dar, und wessen Beschützer waren sie tatsächlich? Häufige Helden der Teraturgima waren die Saporoger Kosaken, die in den ruthenischen Ländern Polen-Litauens als „Kriegsleute“ berühmt waren. Sie erscheinen hier als Zeugen des wundersamen Zusammenspiels der Muttergottes und der Heiligen des Kiewer Höhlenklosters (hauptsächlich der hl. Antonius und Theodosius), für die Kal’nofojs’kyj große Sympathien hegte. Mit Ausnahme von zwei Wundern enthalten die Bücher überraschenderweise generell keine Geschichten mit militärischem Kontext. Eines dieser beiden Wunder befasst sich mit Simeon Chodorovs’kyjs Flucht aus osmanischer Gefangenschaft (1623),34 das andere mit der Heilung eines Kosaken nach den Asowschen Feldzügen der Kosaken von 1637.35 Nur eine weitere Ausnahme gibt es; diese betrifft ein Ereignis, das sich in der Nähe der Mauern des Kiewer Höhlenklosters abspielte: Polnische und deutsche Söldner, die von der Beilegung eines Kosakenaufstands zurückkehrten, griffen das Kiewer Höhlenkloster an, wo sie eine militärische Einheit der Kosaken unter Führung des Kosaken-Hetmans Šulga vermuteten. Tatsächlich, sagt Kal’nofojs’kyj, gab es zunächst keine Kosaken im Kloster, aber sie trafen ein, nachdem sie von der Offensive gehört hatten. In der Folge sei die polnisch-deutsche Armee vom Himmel durch heißen Regen erschreckt worden und sah sich gezwungen, sich zurückzuziehen. Kal’nofoyjs’kyj vergleicht dieses Wunder mit der Überlieferung vom Schutz Konstantinopels 32  Ebd.,

„Przedmowa“, S. o. A. S. 27–50. 34  Ebd., S. 168–175. 35  Ebd., S. 270–273. 33  Ebd.,



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vor der muslimischen Armee durch die Muttergottes.36 Es war also die Notwendigkeit, das Kloster selbst vor einem militärischen Angriff zu schützen, welche den göttlichen Eingriff verursachte, doch kam die Intervention nicht von Heiligen, sondern von der Muttergottes. Den Heiligen des Höhlenklosters wurden in Kal’nofojs’kyjs Werk hauptsächlich Heilungswunder und Exorzismus zugeschrieben. Erst im Werk eines anderen der Kiewer Gelehrten – Sylvestr Kossiv – ist der Versuch zu verfolgen, diesen Heiligen des Höhlenklosters eine militärische Funktion zu verleihen. In seinen Werken zeigte sich Kossiv konsequent als Kenner und Bewunderer der katholischen Theologie, vor allem jesuitischer Schule. Eine genauere Untersuchung des Spektrums der im Paterikon verwendeten Quellen zeigt die häufige Verwendung der Werke von katholischen Autoren: Cesare Baronio, Jan Długosz, Martin Kromer u. a. Zugleich ignoriert Kossiv eigentlich alle orthodoxen Autoren vor der Mohyla-Zeit. Sogar die Palinodia von Zacharij Kopystens’kyj, aus der Kossiv de facto viele Elemente entliehen hat, wird im Paterikon nicht erwähnt.37 Der Grund dafür war offensichtlich, dass Kossiv eine loyale Haltung gegenüber der ­politischen Macht Polen-Litauens betonen wollte. Seit der Brester Union von 1596 galten allein die Mitglieder der mit Rom unierten ostkirchlichen Hie­ rarchie als legitim, während Kopystens’kyj und andere orthodoxe Autoren aus der Zeit danach, und auch noch der Jahre nach 1610 und 1620, formal in Polen-Litauen als illegitime, gleichsam gesetzlose Kleriker galten. Kossivs politische Ansichten waren also offensichtlich propolnisch. Als aktiver Mitarbeiter und Nachfolger des vom polnischen König eingesetzten Kiewer Metropoliten Petro Mohyla beteiligte sich Kossiv an den Verhandlungen mit den Kosaken unter Hetman Bohdan Chmelnyc’kyj in Warschau, und begrüßte den polnischen Hetman Janusz Radziwiłł (1612–1655) in Kiew. Kossiv lehnte andererseits die Leistung eines Eides vor Moskauer Würdenträgern ab.38 Sylvester Kossivs Paterikon war von der Idee geleitet, einen gemeinsamen hagiographischen Zyklus für das Lesen zu Hause, in Klosterzellen, in Schulen und für die Vorbereitung von Predigten usw. zu kreieren. Der Vitae-Teil des Paterikon ist kein Original, sondern eine Bearbeitung eines früheren Textes der zweiten, sogenannten Kassian-Ausgabe (erschienen 1462 aus der Feder der Kiewer Mönchs Kassian) des Kiewer Paterikon. Kossivs Redak36  Ebd.,

S. 318–321. darüber: Nataliia Sinkevych, „The 1635 ‚Paterykon‘ by Sylvestr Kossov. Its Purposes, Originality, Sources and Interpretation“, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Bd. 64 (2016), 2. S. 177–198. 38  Sergij Plochij, Nalyvajkova vira: kozactvo ta relihija v ranniomodernij Ukrajini, Kiew 2006, S. 318–320. 37  Mehr

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tion hatte mehrere Aufgaben zu erfüllen. Unter anderem ging es um die Konstruktion eines bestimmten Pantheons der Heiligen des Kiewer Höhlenklosters. Von den mehr als 100 im klassischen Paterikon genannten Heiligen wählte Kossov nur 35 für seine Ausgabe aus. Unter den am meisten hervorgehobenen und verehrten war der hl. Nikolaus Svjatoša (1080–1143)  – ein weiterer Fürst der Rurikiden-Dynastie, der die Mönchsgelübde abgelegt hatte und trotz seines Adelsstatus Mönch im Höhlenkloster geworden war. Für unseren Kontext bedeutsam ist es, dass Kossiv in die Vita des hl. Nikolaus Svjatoša ein besonderes Gebet für die Krieger einsetzt: „Wendet Euch, orthodoxe Krieger, wenn Ihr Euch mit dem Feind auseinandersetzen müsst, an diesen Fürsten um Beistand. Er wird als treuer Krieger Christi mit seinen heiligen Gebeten helfen und zum Herrn, dem Eigentümer der Siege, beten, damit Ihr niemals versagt, weil der Herr Euch aufgrund der Gebete dieses heiligen Fürsten beschützen wird. Amen.“39

Das Bild des Kriegers Christi war in der katholischen posttridentinischen Theologie weit verbreitet und zeigte die Kirche auf Erden als Ecclesia militans; Kossiv entlehnte es von hier.40 Kossiv spielt ferner oft auch mit anderen militärisch konnotierten Begriffen: der Armee Christi, dem Kampf gegen die bösen Geister usw. Ähnlich wie Kal’nofojs’kyj verwendet er Allegorien von Kriegern mit Bezug auf den Kriegsgott Mars, sowohl in Bezug auf die Adligen als auch die Heiligen. Der Versuch, antike und posttridentinische Bilder zu kombinieren, bringt so interessante und zugleich kontroverse Begriffe wie den Verus Martialista Christi41 hervor. Generell ist Sylvestr Kossiv wohl der erste Autor der frühneuzeitlichen Kiewer Metropolie, der versucht hat, einen eigenen militärischen Kult für den ruthenischen Adel zu kreieren. Genau wie die hl. Boris und Gleb war der hl. Nikolaus Svjatoša ein Repräsentant der Rurikiden-Familie, jedoch war er eng mit Kiew selbst und seinem sakralen Raum verbunden; seine Reliquien wurden im Kiewer Höhlenkloster aufbewahrt, und sein heiligmäßiges Leben wurde im Paterikon beschrieben. Kossivs Versuche waren allerdings vermutlich nicht erfolgreich, da wir nichts über die weitere Entwicklung dieses Kultes (als militärischer Kult) in der Kiewer Metropolie in Erfahrung bringen können. Stattdessen lässt sich in den 1640er Jahren eine Hinwendung zu den traditionellen byzantinischen Militärkulten beobachten. Das Bildprogramm der Verklärungskirche in Kiew, die in den frühen 1640er Jahren im Auftrag Metropolit Petro Mohylas mit Fresken neu ausgemalt wurde, erweist die Rückkehr zu byzantinischen Militärkulten und zeigt 39  Sylwester Kossow, Paterykon abo Żywoty SS. Oycow Pieczarskich, Kiew 1635, S. 152. 40  Ebd., S.  10 f. 41  Ebd., „Przedmowa“, S. o. A.



Der Kult der Kriegerheiligen in der Kiewer Metropolie

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keine Entwicklung eigener Kulte (mit Ausnahme des hl. Vladimir; Darstellungen von Hausheiligen gibt es in dieser Kirche sonst nicht). Die von Mohyla eingeladenen und beauftragten griechischen Maler folgten der traditionellen griechischen Ikonographie und produzierten Darstellungen zahlreicher Kriegerheiliger: Artemius, Theodor von Amasea, Georg, Jacobus Intercisus („der Zerschnittene“) von Persien († 421), Theodor Stratelates († 319), Demetrios von Thessaloniki, Eustachius und Mercurius. Bemerkenswerterweise folgt die Ikonographie der Fresken auch wieder Vorbildern von Kriegerheiligen vom Balkan.42 So waren die militärischen Kulte für die Kiewer Metropolie auch während des relativ ruhigen Jahrzehnts 1638–1648 relevant. Später, in den gewaltsamen Zeiten der Kosakenkriege (1648–1654), dürfte deren Relevanz noch zugenommen und der Schutz der Militärheiligen besondere Bedeutung erlangt haben. Einen Hinweis dafür liefert der Bericht des syrischen Reisenden Paulus von Aleppo (1627–1669) über die Ikone des heiligen Märtyrers Eustachius in einer der Kiewer Kirchen: „Er steigt von seinem Pferd ab, und der Hirsch und Christus, die später zu ihm sprechen, sind in den Ecken des Bildes.“43 Die Kirche St. Paul, von der Paulus von Aleppo hier spricht, ließ sich bisher nicht identifizieren. Der Hinweis auf eine den traditionellen Mustern folgende Darstellung des heiligen Eustachius kann aber dennoch als Indiz für die Bedeutung des Heiligenkultes im frühneuzeitlichen Kiew gelesen werden. Die auch in der Ikonographie zur Wirkung kommende „Renaissance des Petro Mohyla“ erscheint als ein Höhepunkt in der Verehrung byzantinischer Militärheiliger im ruthenischen sakralen Leben der Frühen Neuzeit. Später wurde der Moskauer Einfluss wieder größer. Seit die Sinopsis von 1681,44 entstanden kurz vor der Unterstellung der Kiewer Metropolie unter das Moskauer Patriarchat, etwa den Einfluss des hl. Sergius von Radonež (1314– 1392) auf den Sieg des Moskauer Großfürsten Dimitrij Donskoj über den 42  Vira Čencova/Olena Pitateleva/Olena Lopuchina, „Avtorstvo fresok XVII st. cerkvy Spasa na Berestovi v svitli novych doslidžen“, in: Lavrs’kyj almanach, Bd. 29 (2014), S. 186–191. 43  Attendant Archdeacon Paul of Aleppo, The Travels of Macarius, Patriarch of Antioch, ins Englische übers. v. Francis Cunningham Belfour, Bd. 1, London 1833, S. 241. 44  Das Buch Sinopsis (1681) hat eine besondere Bedeutung für die Formierung der frühneuzeitlichen osteuropäischen Historiografie. Der Autor der Sinopsis nach mancher Ansicht die ruthenischen und moskowitischen Völker in einer „orthodoxen slawisch-russischen Nation“ zusammengebracht und damit die Grundlage geschaffen für eine gemeinsame Groß- und Kleinrussische Identität. Zenon Kohut, „Istoki i paradigmy jedinstva: Ukraina i sozdanie russkoj nacional’noj istorii (1620-е–1860-е gg.)“, in: Ab Imperio, Bd. 1–2 (2001), S. 73–75; Frank E. Sysyn, „Concepts of Nationhood in Ukrainian History Writing, 1620–1690“, in: Harvard Ukrainian Studies, Bd. 10, 3/4 (1986), S. 422.

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Tatarenkhan Mamai (1378)45 erwähnte, wurde der Moskauer Heiliger wiederholt als auch Verteidiger Rutheniens gegen die Invasion der Tataren gepriesen. Fazit Offenkundig sollte eine klare Unterscheidung getroffen werden zwischen den ersten drei Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts einerseits und andererseits derjenigen Phase, die üblicherweise als „Renaissance des Petro Mohyla“ in der Mitte des Jahrhunderts bezeichnet wird. Die erste Periode ist gekennzeichnet durch eine breite Nutzung der im Moskauer Zarenreich etablierten Ikonographie und entsprechender narrativer Konstruktionen, die die militärische Stärke und den Schutz der Heiligen aus der Rurikiden-Dynastie, der hl. Boris und Gleb und Michael von Černihiv, priesen. In der späteren Periode gibt es eine Neigung, zur byzantinischen Tradition mit bulgarischen und griechischen Darstellungen zurückzukehren. Diese beiden Zeitabschnitte legten unterschiedliche hagiographische Koordinaten fest und proklamierten unterschiedliche Kulte mit militärischer Konnotation. Trotz des Kiewer Ursprungs des Kultes von Boris und Gleb waren die beiden Heiligen in den Augen der Zeitgenossen von Metropolit Petro Mohyla allein bedeutende historische Persönlichkeiten, deren Patronat sich nur über die Dynastie der Rurikiden erstreckte. Die Vertreter anderer Adelsfamilien und auch die Kosaken wurden nicht unter ihrem Schutz gesehen. Hier wurde die Funktion der Kriegerheiligen durch den Kult der Muttergottes, der Heiligen des Höhlenklosters, und später durch den Kult des Sergius von Radonež ersetzt. Der singuläre Versuch von Sylvester Kossiv, für die Kiewer Metropolie einen originellen militärischen Kult des hl. Nikolaus Svjatoša zu schaffen, scheiterte. Die Gelehrten aus Kiew kehrten, wie es scheint, zu Kriegerheiligen byzantinischen Ursprungs zurück, wie es zwischen 1640 und 1650 beobachtet werden konnte. Diese Fluktuation bei der Suche nach militärischen Beschützern ist verständlich, wenn man die konfliktreiche Geschichte der ruthenischen Länder in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts berücksichtigt, als orthodoxe Gelehrte versuchten, sich zwischen aktiv geförderten katholischen Ideen aus Polen-Litauen, den traditionellen byzantinischen Wurzeln und dem wachsenden Einfluss der Moskauer Orthodoxie zu behaupten. Deutsch von Bianca Gustyn und Alfons Brüning

45  Rothe

(Hrsg.), Sinopsis, S. 78v.-79 v., 118v.

II. Die moderne Nationalisierung der Kriegerheiligen und die Sakralisierung des Soldatentodes

Nationaler Messianismus und die Sakralisierung von Politik: Der Doppelkult des Fürsten Michael des Tapferen und des Erzengels Michael in der rumänischen nationalen Ideologie Von Constantin Iordachi In den vergangenen Jahrzehnten richtete die rumänische Historiographie besondere Aufmerksamkeit auf die fundamentalen Mythen und Symbole, welche die neuzeitlichen Geschichtsnarrative Rumäniens kennzeichnen.1 Überraschenderweise vernachlässigten diese Arbeiten einen zentralen mobilisierenden Mythos: den des Erzengels Michael, des Schutzheiligen der Rumänen als eines „auserwählten Volkes.“ Dieser Mythos wurde erstmals ausgestaltet durch den seinerzeit erfolgreichen rumänischen Schriftsteller, Herausgeber und Übersetzer Ion Heliade-Radulescu (1802–1872, im weiteren Heliade genannt). Heliade verknüpfte den Erzengel mit der Figur des walachischen Fürsten Michael „des Tapferen“ (Viteazul, regierte 1595–1601), unter dem die rumänischen Fürstentümer historisch ein erstes Mal für kurze Zeit vereint gewesen waren. Er zeichnet diesen als charismatischen Helden, von Gott beauftragt mit der Rettung des rumänischen Volks, und schließlich der christlichen Gemeinschaft als Ganzes, vor dem Zerfall. Im Anschluss an Heliade wurde der Doppelkult um den Fürsten Michael den Tapferen und seinen Schutzheiligen Erzengel Michael zur idée force rumänischer nationaler Ideologie. Gemeinsam symbolisierten die zwei Kulte den Kampf der Rumänen um Wiedergeburt und Regeneration durch die Befreiung nationaler Gebiete und der Erlangung politischer Vereinigung. Dieses Kapitel will zeigen, dass der Mythos vom Erzengel Michael als Patron des rumänischen Volkes seinen Ursprung einerseits in der rumänischen Form der Lehre von den Erzengeln hat,2 und andererseits in palingene1  Lucian Boia, Istorie și mit în conștiința românească, Bukarest 1997; Lucian Boia/Daniel Barbu/Ovidiu Bozgan (Hrsg.), Miturile comunismului românesc, Bukarest 1998; Lucian Boia/Monica Enache/Valentina Iancu (Hrsg.), Mitul naţional: Contribuţia artelor la definirea identităţii româneşti (1830–1930), Bukarest 2012. 2  Als ironische Anspielung auf die romantische Tradition der Engel der Nationen siehe beispielsweise Lord Byrons „Her guardian angel had given up his garrison“. Lord Byron, Don Juan, Halifax 1837, Kap. „Canto the First“: https://www.gutenberg. org/files/21700/21700-h/21700-h.htm [zuletzt besucht 16.12.2019].

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tischen Doktrinen, also in Lehren sozialer Regeneration von Völkern auf dem Wege revolutionärer Erneuerung, welche im Europa des 18. Jahrhunderts zirkulierten. Die Lehre von den Erzengeln war zunächst ein Bestandteil einer weit verbreiteten europäischen Glaubenskultur, welche die biblische Tradition von Engeln als Beschützer von Nationen adaptierte. Diese Tradition zentrierte sich auf die eindrucksvolle Figur des Erzengels Michael, einem der berühmtesten christlichen Heiligen sowohl im römischen Katholizismus als auch in der griechisch-orthodoxen Welt.3 Es kann in der Tat von einemweit verbreiteten und facettenreichen Kult des Erzengels Michael, verehrt als von Gott auserwählter Krieger, „Fürst des Lichts,“ persönlicher Befehlshaber der himmlischen Heerscharen, und hohepriesterliche Figur nachvollzogen werden. Aufgrund seiner vielfachen, von biblischen Erzählungen abgeleiteten Fähigkeiten und seiner wichtigen Rolle als Kämpfer gegen den Teufel und Bringer von Rettung und Erlösung unterlag der Erzengel Michael besonderer Verehrung in der christlichen Welt. Für zahlreiche Kirchen, Kapellen und Oratorien wurde er als heiliger Patron auserwählt, und seine Figur wurde entsprechend in Fresken und Ikonen abgebildet.4 Der Erzengel Michael wurde zumeist als kriegerischer Heiliger geehrt und oft als Soldat mit einem Schwert aus Feuer dargestellt. Trotz Michaels vielfacher symbolischer Facetten und seines Potentials, als mächtigster und am besten geeigneter Beschützer des erwählten Volkes zu fungieren beschränkte sich die Darstellung seiner Figur nicht nur auf rein religiöse Symbole und Facetten. Michael wurde oft von romantischen Schriftstellern genutzt, um charismatische und messianische Formen von Nationalismus zu propagieren. Als militanter Krieger diente der Erzengel als geeignetes Symbol für eine militärische Massenmobilisierung, während er göttliche Intervention und den Sieg der auserwählten Nation über ihre Feinde garantierte. Als Beschützer der Armen und Verfolgten ließ er sich einspannen für Diskurse über Viktimisierung und Leiden im Namen von Volk und Nation, welche recht geläufig waren in der Romantik in Zentral- und Südwesteuropa. Als glorreicher Sieger über Satan, der im jüngsten Gericht die Seelen in den Himmel führte, 3  Siehe von der Vielzahl der Literatur über die Ursprünge und Evolution des Kultes um den Erzengel Michael in verschieden historischen Perioden und kulturellen Traditionen: Olga Rojdestvensky, Le culte de Saint Michel et le moyen âge latin, Paris 1922; John C. Arnold, Ego Sum Michael: The Origin and Diffusion of the Christian Cult of St. Michael the Archangel. Ph. D. Dissertation, University of Arkansas, Fayetteville 1997; Richard F. Johnson, Saint Michael the Archangel in Medieval English Legend, Woodbridge 2005. Siehe auch die Einleitung von Liliya Berezhnaya zu diesem Band. 4  Im Kalendar der östlichen orthodoxen Kirche wird das wichtigste Fest zugunsten des Heiligen Michael am 8. November gefeiert, einer religiösen Versammlung die seiner „Erscheinung“ in Konstantinopel an den Arcadius-Thermen erinnert.



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wurde der Heilige Michael als Symbol ultimativer Rettung und Erlösung der Nation übernommen, als göttlicher Beschützer des „auserwählten Volkes“. Der Kult des Erzengels Michael wurde oft mit der Tradition palingenetischer Gesellschaftsdiskurse kombiniert. Einschlägige Ideen begannen im 18. Jahrhundert mit dem Schweizer Philosophen und Wissenschaftler Charles Bonnet (1720–1793) und dessen La Palingénésie philosophique (1769/1770). Weitergeführt wurden sie von Pierre-Simon Ballanche (1776–1847) in seinen Essais de palingénésie sociale (1820), und anschließend von zahlreichen Schriftstellern vor allem in Italien und Frankreich, aber ebenso in Osteuropa, in Polen und Rumänien weiter gepflegt. Palingenetische Diskurse über die Regeneration einer im Verfall befindlichen Gesellschaft wurden allgemein durch die biblische Tradition, aber dann auch speziell durch bestimmte katholische und protestantische Dogmen inspiriert. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte die Idee einer speziellen Mission der erwählten Nation zusammen mit eschatologischen Visionen und Vorstellungen universeller Rettung zu Doktrinen des nationalen Messianismus. Der Argumentation Andrzej Walickis folgend verstehe ich nationalen Messianismus als den Glauben an eine „einzigartige, unvergleichliche, messianische Mission“ der Nation als eine gottgewählte Einheit, „welche der Menschheit universelle Rettung bringt.“5 Die Aneignung der allgemein religiösen Kategorie von Rettung (der Menschheit, aller Menschen) durch den politischen Messianismus je einer bestimmten Nation belegt seine komplexe Beziehung zu etablierten Religionen. Wie Jakob L. Talmon argumentierte, „konvertierte [der politische Messianismus] die säkulare Religion [etwa der französischen Revolution] des 18. Jahrhunderts von einer überwiegend ethischen in eine soziale und ökonomische Doktrin, basierend auf ethischen Grundvoraussetzungen. Das Postulat der Rettung, welches in der Vorstellung der natürlichen Ordnung impliziert ist, deutete den Massen, welche von der Revolution aufgewühlt waren, die Botschaft sozialer Rettung aller an.“6

Erlösung galt jetzt nicht mehr dem Einzelnen, sondern dem ethnischen oder nationalen Kollektiv. Die Evolution des messianischen Nationalismus wurde vorwiegend in Westeuropa, in Ländern wie Frankreich und Italien, und nur zu einem geringeren Ausmaß in Osteuropa erforscht. Die bisher wichtigsten Fallstudien betreffen Russland und vor allem Polen. Andrzej Walicki im Besonderen erforschte das Aufkommen polnischen nationalen Messianismus im Denken der romantischen Dichter Adam Mickiewicz (1798–1855), Juliusz Słowacki (1809–1849) und Zygmunt Krasiński (1812– 5  Andrzej Walicki, „Polish Romantic Messianism in Comparative Perspective“, in: Slavic Studies, Bd. 22, 1 (1978), S. 1–15, hier S. 1. 6  Jacob L. Talmon, Political Messianism: The Romantic Phase, New York 1960, S. 5.

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1859), sowie allgemein die politisch-intellektuellen Verbindungen zwischen Polen und Frankreich, welche zu Kombinationen französisch-slawischen Messianismus führten. Ferner stellte er Vergleiche an zwischen polnischem sozialpolitischen Denken und dem der Russen, insbesondere dem der Slavophilen.7 In diesem Kapitel soll gezeigt werden, dass auch rumänische Intellektuelle aus den Fürstentümern Moldau und Walachei ein integraler Bestandteil dieses politisch-intellektuellen Trends palingenetischen Denkens und romantischen Messianismus‘ waren. Die Hauptprinzipien der palingenetischen Ideologie der „nationalen Erlösung“ wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von romantischen rumänischen Schriftstellern entwickelt. Dabei reichte eine Linie, basierend auf Lehrer-Schüler-Beziehungen, von Gheorghe Lazăr (1779–1823) zu Heliade und weiter zu Nicolae Bălcescu (1819–1852). Die wichtigsten Elemente dieser Ideologie waren die Vorstellung einer göttlichen Prädestination und eines messianischen Schicksals der Rumänen, die Kodifizierung der Vorstellung nationaler Einheit durch den Kult Michaels des Tapferen und seinem heiligen Schutzpatron Erzengel Michael, die Idee der Regeneration des rumänischen Volkes durch die Befreiung nationaler Gebiete und die politische Vereinigung aller ethnischer Rumänen in einem einzigen Staat. Damit verbanden sich einerseits Ängste vor einer Degeneration durch Entfremdung von „nationaler Authentizität“ oder durch die schädlichen Handlungen innerer oder äußerer Feinde sowie andererseits ein Heldenkult, welcher der Armee und den Werten des Militarismus in der Regeneration der Nation eine führende Rolle zuweist. In allgemein theoretischer Perspektive soll hier gezeigt werden, dass historische Mythen als Katalysatoren im Prozess der „Erfindung“ nationaler Gemeinschaften gewirkt haben. In Zeiten großen politischen Umbruchs bewarben diese Mythen politische und religiöse Werte und boten Verhaltensmuster. Ferner heben die folgenden Ausführungen die religiösen Wurzeln des modernen Nationalismus hervor und seiner Eingliederung in wichtige christliche Motive, wie etwa die biblische Idee göttlicher Prädestination. Die quasi-religiöse Natur des Nationalismus wurde von vielen Gelehrten, wie etwa George Mosse, ausgemacht.8 Im Unterschied zu Mosse, welcher Nationalismus als 7  Andrzej Walicki, „National Messianism and the Historical Controversies in the Polish Thought of 1831–1848“, in: Roland Sussex/J. C. Eade (Hrsg.), Culture and Nationalism in Nineteenth-Century Eastern Europe, Columbus, Ohio 1983, S. 128– 142; Andrzej Walicki, Philosophy and Romantic Nationalism: The Case of Poland, Oxford 1982. 8  George L. Mosse, The Nationalization of the Masses: Political Symbolism and Mass Movements in Germany from the Napoleonic Wars through the Third Reich, Ithaca, New York/London 1991, S. 1.



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eine „säkulare Religion“ oder als Substitut für traditionelle Religion behandelt, unterstreicht dieses Kapitel den eher fließenden Übergang, die sakralen Wurzeln des Nationalismus in Theorien sozialer Palingenese und die Idee von Regeneration durch Kristallisierung von Lehren „nationaler Rettung“ oder „Wiedergutmachung“ in moderner Zeit. Wie Anthony Smith aufgezeigt hat, haben biblische und religiöse Motive im Generellen und die Idee göttlicher Auserwählung im Speziellen eine wesentliche Rolle darin gespielt, moderne nationalistische Ideologien aufzubauen.9 Ethnische Symbole und Mythen göttlicher Auserwählung wurden wiederkehrend in verschiedenen historischen Perioden und Regionen verwendet, um ethnische oder nationale Gemeinschaften für ein Überleben zu mobilisieren.10 Vereinigung als Mythos der Erlösung: Volkserwachen in Moldau und der Walachei Um die palingenetische Komponente in der rumänischen nationalen Ideologie in ihrem sozialpolitischen Kontext zu verstehen, begibt man sich am besten in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, einer besonders formgebenden Zeit für die Fürstentümer Moldau und Walachei, auch die Ära des „Erwachens“ oder „heroische“ Ära genannt. Politisch gesehen war dies eine Phase der Wiederherstellung interner Autonomie der beiden Fürstentümer unter osmanischer Oberherrschaft. Nach dem 1821 von Tudor Vladimirescu11 angeführten Aufstand und der „Abdankung“ des Phanarioten-Regimes, war diese Zeit durch die Regierungsübernahme einheimischer Fürsten, und schließlich durch die Revolution von 1848 bestimmt. Des Weiteren war es eine Zeit massiver Westernisierung, ferner gekennzeichnet durch rapiden, aber ungleichmäßigen sozialen und politischen Wandel. Begleitet waren diese Entwicklungen durch die Standardisierung der rumänischen Sprache und die Herausbildung erster nationaler Institutionen: der Armee, der ersten modernen pädagogischen Hochschulen, der ersten Tageszeitungen und kulturellen Zeitschriften und der Entstehung einer „öffentlichen Meinung.“ Kulturell war es eine Periode nationaler Romantik, definiert, ebenso wie überall anders in Europa, durch die Entdeckung einer Volkskultur und Volksliteratur, einer Betonung nationaler Werte und artistischer Originalität, Historismus, der symbolischen Abgrenzung des nationalen Gebiets und der Ausarbeitung eines Pantheons von Helden. 9  Anthony D. Smith, Chosen Peoples: Sacred Sources of National Identity, Oxford 2003. 10  Ders., „Chosen Peoples: Why Ethnic Groups Survive“, in: Ethnic and Racial Studies, Bd. 15, 3 (1992), S. 436–457. 11  Gheorghe Adamescu, Istoria literaturii române, Bukarest 1998.

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Diese Zeit der Transformation wurde symbolisch unter das Zeichen nationaler „Regeneration“ gestellt, während das Wort „Reform“ als inadäquater Ausdruck für das fordernde Bedürfnis nach einer sorgfältigen Transformation der Gesellschaft gilt. Ideen für Regeneration wurden erstmals in der Form des Historizismus, im Sinne historisierender Narrative, ausgedrückt, gekennzeichnet durch ein starkes Interesse an „nationaler“ mittelalterlicher Geschichte, und überwiegend manifestiert in Dramen und historischen Romanen. Romantische Schriftsteller brachten ihre Visionen palingenetischen Nationalismus vor, basierend auf literarischen Motiven mittelalterlicher Ehre der Nation, ihres Verfalls und durch Verrat herbeigeführten Todes sowie ihrer Wiedergeburt durch heldenhafte Aktion. Die Nationalromantik rückte dabei auch den Schriftsteller selbst, sein ziviles Engagement und die messianische Mission in den Vordergrund.12 Literatur wurde nicht nur sozial und politisch, sondern auch missionarisch und prophetisch, in ans Religiöse angelehnter Sprache abgefasst.13 Einschlägige Diskurse über Regeneration wurden geradezu durchtränkt von religiöser Terminologie und Symbolik, sie trugen zur Erfindung neuer nationaler Mythen über göttliche Auserwählung und eine historische Mission der Rumänen bei. Diese Mythen hatten einen starken Einfluss auf die öffentliche Meinung, indem sie normative Prototypen ziviler und religiöser Werte und Verhaltensmodelle anboten. Der romantische Historizismus war hier inspiriert durch den Rumänismus (românism), welcher auf der Idee von Emanzipation und politischer Einheit der Rumänen durch die Wiederbelebung des antiken Dakien gründete Das nationale Erwachen der Rumänen begann bereits Ende des 18. Jahrhunderts durch die griechisch-katholische kulturelle Bewegung, allgemein bekannt als „Die Siebenbürgische Schule“ (Şcoala ardeleană). Beeinflusst durch die Ideen der deutschen Aufklärung, propagierte „Die Siebenbürgische Schule“ den Historizismus als Kontinuitätsnarrative, indem sie Argumente für die „pure“ lateinische Abstammung der Rumänen hervorbrachte und diese Idee somit in eine politische Waffe verwandelte, um das konstitutionelle Gefüge (in dem die orthodoxen Rumänen faktisch meist eine rechtlich benachteiligte Minderheit gewesen waren) zu modifizieren.14 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden diese Bemühungen unter anderem von Damaschin Bojincă (1801–1869), sowie Aaron Florian (1805–1887) fortgesetzt. Letzterer emigrierte später in die Walachei und legte als Begründer und Professor des pres12  Paul

Cornea, Originile romantismului românesc, Bukarest 1972, S. 568. S. 568. 14  Zu dieser Zeit basierte Transsylvaniens politische Struktur auf der politischen Einheit dreier korporativer Gruppen, als „Nationen“ bezeichnet, den Ungarn, Deutschen und Szeklern, sowie den vier „erhaltenen“ Religionen, dem Katholizismus, Lutheranismus, Kalvinismus und Unitarianismus. In dieser Konstellation waren die orthodoxen Rumänen von politischen Rechten weitgehend ausgeschlossen. 13  Ebd.,



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tigereichen nationalen „Heiliger Sava“ Kollegiums in Bukarest, dem ersten nationalen Kollegium mit Unterricht in rumänischer Sprache, den Grundstein für ein umfassendes Programm für nationale Regeneration durch Bildung. Sein Programm wurde von walachischen und moldawischen Gelehrten weitergeführt, welche gleichsam als „Apostel“ der „neuen Bewegung nationaler Regeneration“15 fungierten. Die wichtigsten unter ihnen waren Simeon Marcovici (1802–1877), Heliade, Bălcescu und Mihail Kogălniceanu (1817– 1891). Dieses im Entstehen befindliche nationale Bewusstsein fand seinen Ausdruck primär in der Schaffung nationaler Literatur und Geschichte. In der Walachei wurde der erste Aufruf, auf Nationalgeschichte als Quelle für literarische Inspiration zurückzugreifen, von Heliade formuliert. Dieser stellte etwa im Jahr 1831 fest: „[…] unsere Geschichte ist voll von großartigen und heroischen Ereignissen und Taten und dies ist eine Quelle, von welcher der Geist sich für originale Tragödien inspirieren lassen könnte.“16

Heliade förderte zahlreiche junge Dichter, welche über die in dieser Perspektive wichtigsten literarischen Themen, wie etwa mittelalterliche Ruinen, religiöse Meditationen, die Glorifizierung der entstehenden rumänischen Armee, zivil-revolutionären Aktivismus oder elegische Introspektion schrieben. In der Moldau formulierte Mihail Kogălniceanu ausführlich ein nationales Programm. Romantische Schriftsteller steckten auch symbolisch nationales Territorium ab, indem sie ein Pantheon von Helden kreierten. In einer berühmten Eröffnungsrede seines Einführungskurses in Nationalgeschichte, gehalten 1843 an der Academia Mihăileană von Iaşi, betonte Kogălniceanu, wie wichtig es sei, nationale Geschichte zu studieren. Er definierte Nationalismus als Kult der Ahnen und schlug die Idee einer Galerie der Helden und denkwürdiger Stätten vor, welche emblematisch für die rumänische nationale Identität sein sollte: „Von was für einem großartigen Interesse Nationalgeschichte für uns sein sollte, das ist, so möchte ich glauben, für Sie genauso deutlich, wie für mich. Geschichte zeigt uns diese Ereignisse, die Taten unserer Vorfahren, welche durch ihr Vermächtnis auch unsere werden. Mein Herz erfreut sich, wenn ich die Namen von Alexander dem Alten, Stefan dem Großen, Michael dem Tapferen höre; ja, meine Herren! Und ich schäme mich nicht, zuzugeben, dass diese Männer für mich von größerer Bedeutung sind als Alexander der Große, als Hannibal, als Caesar; letztere sind die Helden der Welt, während erstere die Helden meines Landes sind. […] Selbst die 15  Vasile Alecsandri, Nicolae Bălcescu în Moldova: http://ro.wikisource.org/wiki/ Nicolae_Bălcescu_în_Moldova [zuletzt besucht 16.12.2019]. 16  Cornea, Originile romantismului, S. 573.

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Orte unseres Landes scheinen mir angenehmer, schöner als die klassischsten Stätten zu sein. Suceava, Târgovişte, bedeuten mehr als Sparta oder Athen. Baia ist ein Dorf wie jedes andere für Fremde, aber für einen Rumänen ist es mehr wert als Korinth.“17

Literatur und Geschichtsschreibung waren Bestandteil der Ausarbeitung einer modernen rumänischen Nationalideologie in der Form eines nationalen mythischen Epos.18 Während sie zwar am Schreibprozess allgemeiner „rumänischer“ nationaler Geschichte teilnahmen, trugen Intellektuelle aus Siebenbürgen, der Walachei und Moldau zur Schaffung ihrer eigenen regionalen Helden, Symbole und Sphären der Erinnerung bei.19 Unter diesen vielfältigen Vorschlägen war die Nationalideologie zuerst auf den ruhmreichsten Figuren des walachischen Prinzen Michael des Tapferen (1593–1601) und des moldawischen Prinzen Stefan des Großen (1457–1504) zu errichten, dem „traditionellen Tandem“ rumänischer nationaler Identität, welche „alle [politischen] Ideologien überlebte.“20 Der Kult um Michael den Tapferen, den Einiger Im rumänischen Pantheon nationaler Helden profiliert sich Michael der Tapfere als Symbol rumänischer Regeneration aus unterschiedlichen Gründen. Zum ersten wurde der Fürst als äußerst fähiger militärischer Anführer gefeiert: Im Jahre 1595 forderte Michael erfolgreich die osmanische Vorherrschaft in der Walachei heraus und verbuchte einen brillanten Sieg gegen die Armee des Sultans bei Călugăreni; im Jahre 1599 begann er eine Militäraktion, welche auch die Fürstentümer Siebenbürgen (1599–1600) und Moldau 17  Mihail

Kogălniceanu, Scrieri literare. Discursuri, Bukarest ohne Jahr, S. 99. Vulcănescu, Mitologie Română, Bukarest 1985, S. 609. 19  Hier wären exemplarisch einige Texte zu erwähnen: etwa die Tiganiada, ein Cervantes ähnlichen satirischen Epos von Ioan Buda Deleanu (1760–1820), in dessen Mittelpunkt die Figuren versklavter Zigeuner in den Fürstentümern stehen, 1812 erstmals publiziert und in den Jahren 1875/1877 neu veröffentlicht, oder die Traianiada von Dimitrie Bolintineanu, mit der Figur des Kaisers Trajan im Mittelpunkt. Die Negriada (1884) von Aron Densusianu konzentriert sich auf die Figur des Negru Vodă, des mythischen Begründers der Walachei. Die Daciada von Ioan N. Soimescu (1885) oder G. Baronzi (1890), basieren jeweils auf dem Mythos des alten Dakien; die Draculiada über das Leben von Vlad Țepeș, später treffend adaptiert von Bram Stoker; die Ștefanida von Ion Pop Florentin, basierend auf der Figur des moldawischen Fürsten Stefans des Großen; oder die Mihaida von Heliade und Bălcescu, basierend auf dem Kult um Michael den Tapferen. Ioan Budai-Deleanu, Ţiganiada sau Tabăra ţiganilor, in 2 Bdn., Iaşi 1875–1877; ders., Ţiganiada, Poemă eroi-comică în 12 cânturi, Bukarest 21928. Ion N. Șoimescu, Daciada: epopeia în 24 cânturi, Bukarest 1885; George Baronzi, Daciada, Brăila 1890. 20  Boia, Istorie, S. 37. 18  Romulus



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(1600) in seine Gewalt brachte. Zum zweiten wurde Michael neben seiner militärischen Macht und der territorialen Expansion auch als Einiger gefeiert, da er über alle historischen Provinzen herrschte, welche für einige Zeit von ethnischen Rumänen bewohnt wurden. Zum dritten machten Michaels antiosmanischen Kampagnen und seine Maßnahmen zur Unterstützung der orthodoxen Kirche in Siebenbürgen ihn zu einem Kämpfer des Christentums und einem Verteidiger der Orthodoxie. Trotz seines kurzen Lebens und Herrschens dienten Michaels Taten in moderner Zeit als Leitbild: der Fürst wurde als Rumäniens größter mittelalterlicher Herrscher und militärischer Kommandant, sowie als Symbol nationaler Einigung und einer Regeneration gefeiert, welche die Wiederherstellung des antiken Dakien herbeiführte. Das erste historische Porträt von Michael dem Tapferen wurde von Aaron Florian (1805–1887) geschrieben. Überzeugt von der wichtigen Rolle, die Geschichte im Erwachen nationalen Bewusstseins spielte, verfasste Florian eine monumentale Geschichte der Rumänen in drei Bänden, veröffentlicht zwischen 1835 und 1838.21 Der zweite Band konzentrierte sich auf die Persönlichkeit Michaels des Tapferen und präsentierte ihn als den wichtigsten nationalen Helden der Rumänen, einen Kämpfer für das Christentum und außergewöhnlichen militärischen Kommandanten. Florian hob ebenfalls den tragischen Tod des Helden hervor: Michael war schließlich auf Befehl des Habsburger Generals Basta von Söldnern heimtückisch ermordet worden. Florians romantische Darstellung von Michael dem Tapferen hatte einen starken Einfluss auf die Zeitgenossen. In einer enthusiastischen Buchrezension bezeugte der Professor für Rhetorik, Simeon Marcovici (1802–1877), dass Zuhörer „[die] Augen voller Tränen hatten und ihre Brust vor Schluchzen zitterte,“22 als die Kapitel über Michael bei Treffen literarischer Gesellschaften gelesen wurden. Indem er die Rolle von Geschichte beim Formen des rumänischen Nationalbewusstseins hervorhob, hoffte auch Marcovici, dass „alle Patrioten herbeieilen, um ein Exemplar“ von Florians Werk „zu kaufen.“ Er drängte seine Zeitgenossen, ein öffentliches Denkmal Michael zu Ehren, als „Cäsar der Rumänen,“ zu erbauen, finanziert mit Hilfe von Spenden. Marcovici war davon überzeugt, dass das Denkmal die wichtigste Sphäre der Erinnerung für die Rumänen werden würde, ein Schrein des Nationalismus, welchen er als neue Staatsreligion der Rumänen darstellte: 21  Florian Aaron, Idee repede de istoria Prinţipatelor Ţării Româneşti, in 3 Bdn. Bukarest 1835, 1837, 1838. 22  Simeon Marcovici, „Un apel la amintirea lui Mihai Viteazul: istoria patriei“, in: Curier de ambe sexe, Bd. I (1836–1838), S. 1–3, zitiert in: Nicolae Isar, Sub semnul Romantismului de la Domnitorul Gheorghe Bibescu la scriitorul Simeon Marcovici, Bukarest 2004: https://web.archive.org/web/20070623020109/http://www.unibuc.ro/ eBooks/istorie/isar/2.htm [zuletzt besucht 16.12.2019].

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„Es wäre angebracht, die Überreste seines [Michaels] Schädels unter dem Denkmal zu platzieren, welche unter einem kleinen Grabstein in der heiligen Kirche des Dealu Klosters versteckt und unbekannt geblieben sind. Es besteht kein Zweifel, dass all diese, welche das Herz und die Gefühle eines Rumänen teilen, das Denkmal des Helden für die Anbetung Rumäniens auch besuchen würden, und dies mit derselben Gottesfurcht und Begeisterung, mit der Pilger verschiedenster Religionen einst heilige Stätte besuchten um heiligen Segen zu ersuchen und Buße zu tun.“23

Dieses romantische Porträt von Michael dem Tapferen hatte eine starke Wirkung auf die Zeitgenossen. Verwandelt in ein Lehrbuch für rumänischen Patriotismus, wurden Florians Kapitel über den walachischen Fürsten in einer besonderen Ausgabe neu veröffentlicht „für einen Preis, der bescheiden genug war, so dass [das Buch] zugänglich war für die Bücherei eines jeden Rumänen, der sein Land liebt und seine Helden bewundert.“24 Eifrig vorangetrieben durch Florian und Marcovici, inspirierte der romantische Kult um Michael den Tapferen auch die Imagination zeitgenössischer lokaler Fürsten. In einer Zeit der Neudefinition von Modi politischer Autorität und Legitimation förderten auch die neuen Fürsten neue rituelle Praktiken, und trugen ihrerseits bei zur Sakralisierung von Politik. Folglich ahmte der walachische Fürst Gheorghe Bibescu (1842–1848), begierig als Anführer der neuen patriotischen Bewegung der Regeneration zu fungieren, das politische Modell Michaels des Tapferen nach und präsentierte sich selbst als Nachkommen des ruhmreichen Fürsten. Um die symbolische Verbindung zu seinem glorreichen Vorgänger zu betonen, trug Bibescu während der Krönungszeremonie, welche im Februar 1843 stattfand, Michaels prinzliches Kostüm. Darüber hinaus unternahm Bibescu als Teil seiner langen Reise durch die Walachei im August 1843 eine Pilgerfahrt zum Kloster in Dealu, um dem Grab Michaels des Tapferen Respekt zu zollen. Enthusiastische Reiseberichte über Bibescus Besuch, geschrieben von Heliade, C. C. Aristia und Marcovici, vermittelten das besondere Charisma von der Begegnung des Fürsten mit Michaels Reliquien hervor.25 Marcovici pries Michael als „das wertvollste Juwel der Rumänen“ und appellierte an dessen „hohes Genie,“ um das Erwachen der Rumänen zu inspirieren. Fürst Bibescu stellte er als herrschaftliche Reinkarnation dar (Abb. 1–2). Als Zeichen der Ehrfurcht vor Michael dem Tapferen ließ Bibescu den Klosterkomplex von Dealu restaurieren. Er veranlasste außerdem die Exhumierung von Michaels Schädel, und platzierte ihn unter einer Glasscheibe. 23  Ebd.,

S. 1–3, meine Hervorhebungen. „Precuvântare“, in: Florian Aaron (Hrsg.), Mihaié II Bravulé: biografia şi caracteristica lui: trase din istoria Ţării Româneşti, Bukarest 1858, S. 4. 25  Simeon Marcovici, „Relatare privind începutul călătoriei“, in: Vestitorul românesc, Bd. VIII, 68 (29 August 1844), S. 269–270. 24  Editors,



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Abb. 1 und 2: Der walachische Fürst Gheorghe Bibescu (1842–1848) und sein politisches Vorbild Michael der Tapfere, Dealu Kloster, Târgovişte. Wichtig ist hier eine Darstellung Michaels als „Schild des Christentums“. Foto: Constantin Iordachi.

Bibescus Besuch in Dealu und seine Verehrung Michaels weihten das Kloster zu einem der wichtigsten Erinnerungsorte rumänischen Nationalbewusstseins. Diese Bestrebungen zur Sakralisierung der Politik basierten also auf der Figur des Fürsten und ebneten den Weg zu einem charismatischen Kult um Michael den Tapferen als nationalen Helden. Evangelischer Sozialismus und Regeneration: Ion Heliade Rădulescus Theorie Der von Florian und Marcovici begonnene Prozess wurde von Heliade fortgeführt.26 Heliade, hineingeboren in eine kleinbürgerliche Familie in Târgovişte, der mittelalterlichen Hauptstadt der Walachei, war ein romantischer Reformer-Prophet. In einer Zeit, in der die Fürstentümer einen intensiven Prozess der Westernisierung durchliefen, nahm er die Rolle eines Mediators ein beim intellektuellen und institutionellen Transfer.27 Sein soziopoli26  George

Călinescu, Istoria literaturii române, Bukarest 1986, S. 131. Antohi, Civitas Imaginalis. Istorie şi utopie în cultura română, Iaşi 1999, S. 28. Über nationale Propheten siehe bereits Hans Kohn, Prophets and Peoples. Studies in Nineteenth Century Nationalism, New York 1961. 27  Sorin

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tisches und literarisches Denken, welches sich über mehrere Jahrzehnte entfaltete, war sehr eklektisch, beeinflusst von französischen christlichen Sozialisten bis zum politischen Denken Giuseppe Mazzinis und von klassischer literarischer Tradition bis hin zur Romantik.28 Heliade betrachtete seine religiös-politischen Schriften als Grundstein der nationalen Regeneration der Rumänen. Er war der erste Schriftsteller, der in rumänischer Sprache die Begriffe Regeneration (regeneraţie) und Palingenese (palingenezie) einführte und aktiv nutzte. Er assimilierte diese Begriffe entweder aus griechischen oder französischen politischen und literarischen Quellen, wie etwa Alphonse Esquiros (1812–1876), dem Autoren von L’Évangile du peuple (1840), oder am wahrscheinlichsten von Gaston Leroux (1868– 1927).29 Ferner beeinflusst von den philosophischen Visionen seines akademischen Lehrers, des Hermannstädter Professors Gheorghe Lazăr (1779– 1823), zum Dualismus von Gut und Böse,30 entwickelte Heliade seine eigene Theorie zur Palingenese, welche alle Domänen der Existenz abdeckte und diese auf organische Weise mit seiner messianischen Vision der rumänischen Nation verband. Die Quintessenz in Heliades Theorie zur Palingenese war das biblische Christentum, mit der Figur Christi im Vordergrund. Im Einklang mit dem Geist französischen Enzyklopädismus des 18. Jahrhunderts war Heliade überzeugt, dass der Schlüssel zum Verstehen der Beschaffenheit des Universums, aber auch für eine ideale Organisation der Gesellschaft in der Bibel gefunden werden könne. Das endgültige Ziel von Geschichte war die Vollendung eines evangelischen Menschen durch Erlösung und die Schaffung einer biblischen Republik. Ihrer sterblichen Verfassung geschuldet, war es unmöglich Individuen wieder zu beleben: Sie konnten sich lediglich durch den Märtyrertod für das Christentum und die Freiheit selber erlösen. Dahingegen besitzen Gemeinschaften die Fähigkeit sich von Generation zu Generation aufrecht zu erhalten; obgleich sie vielleicht Degeneration und Verfall durchleiden müssen, kann sich, kollektiv dem Modell der imitatio Christi folgend, die menschliche Gesellschaft durch Palingenese selbst regenerieren und damit Ideen wie die des „kollektiven Mannes“ (l’homme collectif) von Leroux und Ballanche oder auch Mazzinis Slogan „Gott und das Volk“ umsetzen.31 In einem bewussten Versuch die Nation zu sakralisieren, ersetzte Heliade die christliche Gemeinschaft als Objekt von Erlösung symbolisch durch „das Volk“ (poporul benannt, in italienisierter Form popolul von po28  Călinescu,

Istoria, S. 144. Tomoiagă, Ion Eliade Rădulescu. Ideologia social-politică şi filozofică, Bukarest 1971, S. 51; Dimitrie Popovici, Ideologia literară a lui I. Heliade Rădulescu, Bukarest 1935, S. 257. 30  Ebd., S. 46. 31  Călinescu, Istoria, S. 146. 29  Radu



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polo). Hinsichtlich Christi als Apotheose kollektiver Erlösung, definierte Heliade „Christus-das Volk“ als kollektiven Helden der Regeneration.32 In Adaptation von Vicos einflussreiche Theorie über die zyklische Entfaltung von Geschichte (corsi et ricorsi), in Vermittlung über Jules Michelet,33 wandte Heliade dieses philosophische Prinzip zur Interpretation der Geschichte der Rumänen an. Diese sah er im Sinne eines rumänischen Messianismus als zentrale Achse der Weltgeschichte an. In diesem erlösenden Plan rumänischer Geschichte wies Heliade der Herrschaft Michaels des Tapferen eine besondere Bedeutung zu: Sie wurde gleichzeitig als die glorreichste Zeit der Rumänen, aber auch Beginn ihres Niedergangs betrachtet. Durch sein militärisches Genie befreite Michael das Land von äußeren Feinden und wurde zum Symbol nationaler Regeneration und militärischer Macht; zugleich banden seine Gesetze Bauern an das Land und unterwarfen damit die Freiheiten des Landes inneren Feinden. Michaels Handlungen zerstörten die natürliche Allianz zwischen der Aristokratie und den Bauern, erleichterten Emporkömmlingen, wie den osmanisch-griechischen Phanarioten, die Vorherrschaft.34 Im Zeichen des Erzengels: Die Lehre von den Erzengeln und der Kult um Michael den Tapferen Neben den Fürsten Michael trat der Erzengel Michael. In seinem epischen Gedicht Mihaida, erstmals veröffentlicht im Jahre 1847,35 zeigte Heliade sich als erster Schriftsteller mit einer charismatische Vision rumänischen Nationalismus, indem er eine symbolische Verbindung zwischen dem Kult um Michael den Tapferen, dem heiligen-ähnlichen historischen Helden der Rumänen und dem Erzengel Michael, dem archetypischen Beispiel Gottes Krieger herstellte. Heliade interpretierte auch die charismatischen Konnotationen von Michaels Reliquien neu und stellte, ausgehend von hier, die Idee einer charismatischen, göttlichen Mission und des palingenetischen Erwachens der rumänischen Nation auf. Geschrieben in der Tradition klassischer epischer Gedichte wie derjenigen Homers und Virgils, imitierte das Werk insbesondere das barocke epische Poem von Torquato Tasso Das befreite Jerusalem (La Gerusalemme liberata, 32  Popovici,

Ideologia literară, S. 257. Heliade Rădulescu, Opere, in 2 Bdn., Bd. 2, Bukarest 2002, S. 775, 776. 34  Ebd., Bd. 2, S. 339. 35  See „Mihaida“, in: Curier de ambe sexe, Bd. V (1847), S. 37–86; und „Michaiu. Fragment d’opera“, in: Ajunul bătăliei dela Călugareni (10. Januar 1848). Ein weiteres, früheres Beispiel für eine dem Erzengel Michael gewidmete Hymne in: Scrierile lui I. Eliad de Prose sci de Poesie, Bukarest 1836, S. 73. 33  Ion

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1581). Tassos Poem erzählt die Geschichte des Ersten Kreuzzugs, in welchem das christliche Heer, angeführt vom charismatischen Gottfried von Bouillon (1060–1100) Jerusalem von muslimischer Besatzung befreit. Erstmals publiziert im Jahre 1581, wurde Tassos Gedicht vielerorts gelesen und erreichte außergewöhnliche Berühmtheit in ganz Europa. Es inspirierte ferner zahlreiche weitere Theaterstücke, Opern, Ballette und andere Kunstwerke. Heliade war allerdings der Erste, der La Gerusalemme liberata ins Rumänische übersetzte und Teile daraus in einer Zeitschrift, zusammen mit seiner Mihaida in derselben Ausgabe, veröffentlichte.36 Verleitet von Tassos charismatischem Szenario, bildete Heliade es in seinem epischen Gedicht Mihaida nach und passte es an seine eigene Geschichtsphilosophie und Rumäniens historischen Kontext an. Heliade entwarf die Mihaida als das rumänische nationale epische Gedicht der „Regeneration,“ basierend auf der Figur Michaels des Tapferen, den Einiger. Um Michaels Taten in die nationale Geschichte der Rumänen und, noch ambitionierter, in die der Welt einzuflechten, beginnt das Gedicht mit einer kurzen Evokation der Zeit, als noch „alle Rumänen vereint waren unter einem einzigen Zepter,“ und legt zugleich unmissverständlich ihre charismatische Qualifikation als das auserwählte Volk dar.37 Nach dieser eher kurzen Darlegung entfaltet Heliade seine Geschichtsphilosophie, nach welcher alle Handlungen einem göttlichen Szenario folgen, welches von Gottes Propheten angekündigt und implementiert wird. Der Rückgang des Christentums fand einen Höhepunt während der Expansion der Osmanen in Europa. Als Kontext für Michaels Taten erzählt Heliade die Konfrontation der Rumänen mit den Osmanen nach und deutet die Notwendigkeit eines neuen, vorbestimmten Helden der Christenheit an. In einer dramatischen Klimax konzentriert Heliade sich auf die Figur Michaels des Tapferen, den charismatischen Helden par excellence, ausersehen um der heiligen Nation Erlösung zu bringen. Heliade fährt fort, indem er die wichtigsten Stufen des charismatischen Szenarios voneinander abgrenzt, welche sich auf den prädestinierten Helden konzentrieren und größtenteils Tassos Werk imitiert. In La Gerusalemme liberata erscheint der Erzengel Gabriel zuerst im Libanongebirge und dann in Tortosa und inspiriert als Bote Gottes Gottfried von Bouillon zum Kampf gegen die Muslime und zur Befreiung Jerusalems. Ähnlich erscheint in der Mihaida der Erzengel Gabriel auf dem Berg Caraiman und dann in Târgovişte, der mittelalterlichen Hauptstadt der Walachei, und übergibt Michael dem Tapferen die „göttlichen Dekrete,“ zur Befreiung der Christenheit von der muslimischen Unterjochung. Der dramatischste Moment der Mihaida ist die Be36  „Ierusalimul eliberat“, in: Curier de ambe sexe, Bd. V (1847), S. 166–187, 188–212. 37  Heliade Rădulescu, Opere, Bd. 1, S. 158.



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gegnung des Helden mit dem Erzengel bei Mitternacht, in einem höchst romantischen Setting. Nach dem rituellen Gebet und dem Entzünden der Votivlampe schläft Michael ein, die Augen fixiert auf die Ikone der Erlösung Christi. Während er schläft, nähert sich der Erzengel Gabriel, der Bote göttlichen Willens, um dem Helden die göttliche Mission zu überbringen: „Und der Seraph auf diese Weise/ sieht freundlich aus und sein glühender Blick/ spricht zu ihm, erzählt dem träumenden Fürsten so viel/ Bekannt sind jetzt die göttlichen Dekrete/ Michael dem Großen. Im Himmel ist der Erzengel/ und der Fürst erwacht und erhebt sich sofort.“38

Erleuchtet, verinnerlicht der von Gott auserwählte Held die göttliche Mission zur Befreiung der Christen, und bereitet sich auf den Kampf vor: „Er ist erfüllt von derartiger Gewissheit, wie sie ihm bisher unbekannt war. In seinem Herzen fühlt er die göttlichen Dekrete und in seinen Armen und in seinem Geiste fühlt er die Tatkraft.“ In Zeilen voller dramatischer Intensität preist Heliade den charismatischen Helden: „Erhaben ist der Mensch, wenn das Genie des göttlichen Willens ihn durchdringt und wohl begeistert erregt!“ Nachdem es in detaillierter Länge die konkreten Umstände von Michaels Handlungen wiedergegeben hat, endet das Gedicht mit einem suggestiven Parallelismus zwischen dem himmlischen Kampf des Erzengels Michael gegen Satan „mit flammenden Schwert, umgeben von Engeln“ und „unserem Michael mit dem Schwert in seiner Hand“ inmitten von rumänischen Kämpfern. Der kämpferische Geist und die außergewöhnlichen Fähigkeiten des Erzengels Michael wurden somit auf den Fürsten übertragen, als paradigmatisches Beispiel der Militarisierung nationaler Helden, welche dem Verhaltensbeispiel militärischer Heiliger folgen (Abb. 3). In seiner Mihaida bekleidete Heliade die Erzengel Gabriel und Michael mit einer übergeordneten Rolle in seiner Erzählung über die Wiederbelebung des rumänischen Volkes. Der Erzengel Gabriel überbrachte die göttlichen Befehle, das Volk Gottes anzuführen, während der Erzengel Michael Fürst Michael dem Tapferen in seinem Kampf gegen das osmanische Heer zur Seite stand. Dass die Wahl auf Gabriel fiel um die göttlichen Befehle sowohl bei Tasso als auch in Heliades Mihaida zu überbringen, ist nicht überraschend: als „Mann Gottes“ ist Gabriel in der Bibel der göttliche Bote, welcher die Geburten von Johannes dem Täufer und Jesus ankündigte.39 Bedeutsam ist jedoch, dass Heliade am Ende des Gedichts einen symbolischen Tausch durchführt, indem er, im Vergleich mit Tassos Gedicht, den Erzengel Gabriel als Bote Gottes durch den Erzengel Michael ersetzt. Diese Änderung wurde nicht nur durch den höheren Rang Michaels gerechtfertigt, sondern auch durch die Namensgleichheit mit dem Namen des prädestinierten Helden 38  Ebd.

39  Lukas

1:11–20, 26–38.

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Abb. 3: Darstellung des Erzengels Michael in: Ion Heliade Rădulescu, Ruge și Morala Evanghelică pentru Clasa I Primară, Bukarest 1861, S. 2. Hier handelt es sich um eine Illustration von Heliades palingenetischer Ideologie.

Michael, „der Gott gleicht“. Als göttliches Vorbild und heiliger Patron pflanzte jetzt der Erzengel Michael dem Helden „den wiederbelebenden Geist gefallener Völker“ ein und befähigte damit den Fürsten auf „göttliche Reinigung“ hinzuarbeiten, „so sehr, wie eine Ikone die geistige Vorstellung implementieren kann“. Die Assoziierung von Michael dem Tapferen mit dem Erzengel Michael existierte bereits in der bildlichen Darstellung des Fürsten, und wurde später in Chroniken und im historischen Gedächtnis über die Taten Michaels weitergeführt.40 Laut Nicolae Iorga (1871–1940), dem Historiker und Politiker, verehrte Michael der Tapfere selbst zu Lebzeiten bereits den Erzengel Mi-

40  Siehe Johannes Bissel, Joannis Bisselii Aetatis nostrae gestorum eminentium Medulla historica, per aliquot septennia digesta, Ambergae 1675, zitiert in: Simion Mehedinţi, Rumania and her people, an essay in physical and human geography, Bukarest 1939, S. 24; ders., Ce este Transilvania?, Bukarest 1940, S. 67.



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chael als seinen heiligen Schutzpatron.41 Daher ist es kein Zufall, dass die Kirche des neuen orthodoxen Metropoliten, welche Michael der Tapfere in Alba Iulia erbauen ließ, seinem Schutzpatron, dem Erzengel Michael, geweiht war. Dieser Tradition folgend zeigte das Siegel des orthodoxen Metropolitansitzes, den Michael der Tapfere in Transsylvanien schuf, das Bild der drei Erzengel: Michael, Gabriel und Raphael.42 Der Erzengel war bei weitem der beliebteste Heilige in Siebenbürgen: Statistiken der griechisch-katholischen Kirche in der Region Silvania zufolge waren von 162 Kirchen 143 entweder dem Erzengel Michael oder den drei Haupterzengeln Michael, Gabriel und Raphael gewidmet; dieser Anteil war sehr viel höher als der in serbischen oder ruthenischen Regionen.43 Heliade fügte dieser Assoziation neue romantische Elemente hinzu, indem er den Heiligen Michael als den Schutzpatron der Rumänen als auserwählter Nation proklamierte. Auf diese Weise belebte Heliade die biblische Tradition der „Engel der Nationen“ wieder, die bereits im Buch Daniels zu finden ist, später detaillierter konkretisiert im Buch der Jubiläen und im Buch Henoch. Diese Überlieferung behauptet, dass jede Nation der Welt seinen eigenen „Schutzengel“ habe und dass das Zusammenspiel der Engel der Nationen die Schicksale der entsprechenden Völker kontrolliere.44 Bei seiner Veröffentlichung war das Poem Mihaida überaus populär und einflussreich. Es inspirierte zahlreiche epische Werke, die auf der messianischen Figur Michaels des Tapferen beruhten. Von besonderem Einfluss war das Gedicht bei der entstehenden nationalen Armee. Heliades palingenetischer Gedanke betrachtete die Armee als den wichtigsten Motor der Regeneration. Seine Widmung, welche dem nationalen Epos voranging, versuchte bei den Soldaten das Pathos religiösen Nationalismus zu wecken: „Soldaten, Offiziere aller Rumänen, Brudersoldaten, euch widme ich meine Lieder. Lasst den Geist Gottes, welcher mich durchdrang und überwältigte, auch in eure Herzen hinein. Als alter Dichter will ich unter euch von den Taten unserer Helden, von euren eigenen Taten singen.“45

41  Nicolae Iorga, Sate si Preoti din Ardeal, Bukarest 1902, S. 40; Gheorghe Ciuhandu, „Bogomilismul și românii“, in: Revista teologică:  organ pentru ştiinţă şi viaţă bisericească, Bd. XXIII, 3 (1. March 1933), S. 113. 42  Iorga, Sate si Preoti din Ardeal., S. 40. 43  Ciuhandu, „Bogomilismul“, S. 117. 44  David Frankfurter, „Overview of the Study of Angels and Demons“: http://ccat. sas.upenn.edu/psco/year25/8710.shtml [zuletzt besucht 16.12.2019]. Zum Kult des Erzengel Michael im Nahen Osten siehe: Robert A. Kraft, „In Praise of Michael the Archangel“: http://ccat.sas.upenn.edu/rak/ppenn/museum/michael.html [zuletzt besucht 16.12.2019]. 45  Ioan Heliade-Rădulescu, Michaida. Fragment epicu, Bukarest 1880, S. 1.

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Verbreitet in unzähligen Kopien blieb sein literarisches und historisches Werk extrem einflussreich und spielte eine prägende Rolle auch für nachfolgende Generationen von Rumänen. Von der ersten Ausgabe seiner kurzen Geschichte der Rumänen Prescurtare de istoria românilor wurden 10.000 Kopien gedruckt, und alle vom Bildungsministerium gekauft und verbreitet.46 Heliades große, mystische und prophetische Vision einer National­ geschichte, sein Doppelkult um Michael den Tapferen und den Erzengel ­Michael als seinem Schutzpatron sollten die wichtigsten Katalysatoren für eine rumänische nationale Identität und ein Symbol von zentraler Bedeutung für die konservative Doktrin sozialen Militarismus’ werden. Palingenese, der Kult um den Erzengel Michael und die Sakralisierung der Nation Die Revolution von 1848 und die Vereinigungskampagne zwischen den Fürstentümern Moldau und der Walachei wurden symbolisch eingeordnet unter dem Zeichen der Palingenese, der von Revolutionären wie Heliade, I. C. Brătianu (1821–1891) und Bălcescu ausgearbeiteten Ideologie. Im gleichen Sinne bot der Maler Petre Alexandrescu im Gemälde mit dem Titel Die Vereinigung der Fürstentümer (Unirea principatelor, 1856) eine visuelle Repräsentation der Doktrin nationaler Regeneration der Rumänen, in der die Vereinigung Teil eines göttlichen Szenarios des auserwählten Volkes war. Das Gemälde wurde in jenem Palast ausgestellt, in welchem im September 1857 der sogenannte „ad-hoc-Diwan von Bukarest“ veranstaltet wurde, eine konstitutionelle Versammlung im Gefolge des Pariser Vertrags von 1856, die über die Vereinigung der Fürstentümer zu einem rumänischen Staat zu entscheiden hatte. Um die Massen zu mobilisieren, wurde zugleich das Gemälde von Carol Popp von Szathmári lithografiert und in unzähligen Kopien verteilt.47 Die schließlich vollzogene Vereinigung der Moldau und der Walachei im Jahre 1859 in einen einzigen Staat mit dem Namen Rumänien leitete eine neue Phase im Prozess der Nations- und Staatsbildung ein. Um den neuen Nationalstaat „im Werden“ zu konsolidieren, begann Fürst Alexandru Ioan Cuza (1859–1866) einen Prozess rechtlicher und administrativer Vereinigung und kultureller Homogenisierung der zwei Fürstentümer. Zusammen mit der Einführung eines staatlich gesponserten Bildungssystems, ließ Cuza neue nationale Monumente erbauen und schuf öffentliche Zeremonien als Teil des 46  Călinescu,

Istoria, S. 139. Alexandrescu, Unirea Principatelor Române, litografie Carol Popp de Szathmári, Bukarest 1856; Carol Popp de Szathmári, Solemnitatea deschiderii divanului ad-hoc la 29 septembrie 1857 în Bucureşti, Bukarest 1857. 47  Petre



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Prozesses der Sakralisierung von Politik, basierend auf der Idee der politischen Union ethnischer Rumänen, Militarismus und dem Kult von Kriegshelden. Der Kult um Michael den Tapferen war von zentraler Bedeutung im diesem Prozess, da er institutionalisiert und mit neuen politischen Konnotationen bekleidet wurde. Man kann zwischen drei wichtigen Phasen in der Evolution des Kultes unterscheiden, welche jeweils mit wesentlichen politischen Ereignissen verbunden werden können: das Jahr 1864, in dessen Kontext die Konsolidierung der politischen Vereinigung zwischen den beiden Fürstentümern stattfand und eine einheitliche nationale Ideologie erarbeitet wurde; 1877–1878, während des Unabhängigkeitskrieges, welcher die Abschaffung osmanischer Herrschaft zur Folge hatte; und dem Beginn des 20. Jahrhunderts gekennzeichnet von einer starken politischen Kampagne zu Gunsten Rumäniens Irredenta-Krieg gegen Österreich-Ungarn, welcher zum Erreichen nationaler Einheit führte. In den ersten beiden Phasen wurde die Revitalisierung des Kultes um Michael den Tapferen mit der Veröffentlichung der bis zum heutigen Tag ausführlichsten Studie über das Leben und die Taten des Fürsten verknüpft: Die Geschichte der Rumänen unter Fürst Michael dem Tapferen (Istoria românilor supt Mihai Vodă Viteazul), verfasst vom walachischen Historiker und revolutionären Aktivisten Nicolae Bălcescu (1817–1852).48 Beeinflusst überwiegend von französischen Quellen, aber auch von Heliade, seinem ehemaligen Professor am Nationalen Kollegium des hl. Sava und politischen Mitstreiter während der Revolution von 1848, orientierte auch Bălcescu sich an den Hauptprinzipien historischer Ideologie der sozialen Palingenese. Ähnlich wie Heliade stattete Bălcescu Michael den Tapferen mit einer zentralen Rolle in der Regeneration der Rumänien aus und porträtierte ihn als vorherbestimmten charismatischen Anführer, „nicht nur als Helden, welcher ihrer Armee ewigen Ruhm verlieh, sondern auch als Symbol ihrer Vorstellung von Leben, von Erlösung, als Symbol ihrer nationalen Einheit.“49 Bălcescus Werk, das ansonsten unvollendet blieb, inszenierte Michael den Tapferen als Symbol rumänischen nationalen Erwachens durch Opferung: „Kann irgendwas in der Welt ohne Leid und Opfer geboren werden? Der Held sollte fallen […] aber er fügte der Serie von Märtyrern für die Sache nationaler Einheit einen weiteren ruhmvollen Namen hinzu und seine Bemühungen erleuchteten den Pfad für zukünftige Generationen und der Tag wird kommen, ganz gleich

48  Nicolae Bălcescu, Istoria românilor sub Michaiu Vodă Vitézul urmată de scrieri diverse, Bukarest [1878] 1887. 49  Ders., „Despre Portretele Principilor Tării Românesci și ai Moldaviei ce se afla în cabinetul de stampe de la Biblioteca Regală din Paris“, in: A. Treboniu Laurian/ Nicolae Bălcescu (Hrsg.), Magazin Istoric pentru Dacia, Bd. IV, Bukarest 1847, S. 212.

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wie spät, wenn das glorreiche Schicksal, welches er sich für die Nation vorgestellt hat, erfüllt wird.“50

Im Jahre 1864, kurz nach der teilweisen Veröffentlichung von Bălcescus Werk in der Revista română schlug der Minister für Bildung Dimitrie Bolintineanu (1825–1872), der selbst ein brennender Befürworter des Kultes um Michael den Tapferen war,51 die Überführung Michaels Schädel vor, vom Kloster Dealu in Târgovişte in die Kirche, welche der Fürst in Bukarest hatte erbauen lassen, um Michaels Grab zu nationaler Verehrung zu verhelfen.52 Dem Vorschlag wurde am 27. März von der gesetzgebenden Versammlung zugestimmt,53 er wurde aber aufgrund der politischen Unruhen, die die letzten Jahre von Cuzas Regierung kennzeichneten, nicht in die Tat umgesetzt. Der Kult um Michael den Tapferen wurde denn unter der Regierung von Fürst Karl I. (1866–1914, König nach 1881) wiederbelebt, dessen Zeitgenossen eine Wiedererhebung der politischen Errungenschaften seines glorreichen mittelalterlichen Vorgängers als seine Mission ansahen. Fürst Michael der Tapfere sollte daher der neuen Dynastie Rumäniens, dem Haus Hohenzollern-Sigmaringen, als Symbol und Vorbild dienen. Da der Plan, den Schädel des mittelalterlichen Fürsten nach Bukarest zu überführen, nicht in die Praxis umgesetzt werden konnte, initiierte das Ministerium für öffentliche Arbeiten ein alternatives Projekt: den Bau einer Statue Michaels des Tapferen in der Hauptstadt des Landes. 1874 wurde nach langen Vorbereitungen endlich eine bronzene Reiterstatue von Michael dem Tapferen, eine Arbeit des französischen Bildhauers Albert-Ernest Carrier-Belleuse (1824–1887), vor dem Palast der Bukarester Universität errichtet. Die Statue wurde am 8. November, dem Feiertag der Erzengel Michael und Gabriel, in einer prächtigen Zeremonie, an der Fürst Karl und Prinzessin Elisabeth, Bischof Calinic Miclescu, der Bürgermeister von Bukarest und die Führung der nationalen Armee teilnahmen, eingeweiht. Die Einweihungszeremonie unterstrich die Zusammenarbeit von Monarchie, Armee und der Kirche im Prozess der Sakralisierung der Politik, basierend auf der Rolle der Hohenzollern-Dynastie, die Nation auf dem Pfad zu nationaler Einheit zu führen. Als erstes öffentliches Monument in Bukarest war die Statue dazu angelegt, die symbolische Präsens Michaels des Tapferen in der Hauptstadt zu markieren und einen neuen Ge50  Ders.,

Istoria, S. 362. Bolintineanu, Viaţa lui Mihai Viteazul făcută pentru înţelegerea poporului, Bukarest 1863. 52  ANIC Arhivele Naţionale Istorice Centrale, Bucureşti (ANIC), fond „Ministerul Cultelor şi Instrucţiunii Publice“, dosar 899/1964, S. 14. 53  ANIC Arhivele Naţionale Istorice Centrale, Bucureşti, fond „Ministerul Cultelor şi Instrucţiunii Publice“, 1899/1964, S. 17; siehe auch die Rede von Gheorghe Adamescu, wiedergegeben in: Dimitrie Onciul, Ştefan cel Mare şi Mihai Viteazul. Doue cuvântări commemorative, Bukarest 1904, S. IX. 51  Dimitrie



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dächtnisort als Sammelpunkt für wichtige nationale öffentliche Zeremonien zu konstituieren. Jedes Jahr am 10. Mai, dem Nationalfeiertag Rumäniens, nahm Karl I. vor der Statue die Parade der militärischen Truppen ab.54 Rumäniens unmittelbares Ziel zu dieser Zeit war das Erreichen politischer Unabhängigkeit. Um Zeitgenossen an die glorreiche anti-osmanische Kampagne von Michael dem Tapferen zu erinnern, wurde die militärische Teilnahme Rumäniens am russisch-osmanischen Krieg (1877–1878) symbolisch unter das Zeichen Michaels des Tapferen gestellt. Die vollständige Veröffentlichung von Bălcescus Werk im Jahre 1878, während Rumäniens „Unabhängigkeitskrieg,“ sollte denselben katalysierenden Effekt haben, in einer Zeit der sozialen Mobilisation für die Kriegsanstrengungen. Am 8. Oktober 1878, während eines triumphalen Einzugs der rumänischen Armee in Bukarest nach ihren Siegen im anti-osmanischen Krieg, legte Fürst Karl I. an der Statue Michaels des Tapferen einen Kranz nieder, nebst acht osmanischen Kanonen, die im Krieg von 1877–1878 erbeutet worden waren, „als Tribut an den ruhmreichen Helden-Prinzen,“ dem Vorgänger im anti-osmanischen Kampf.55 Die Zeremonie sollte einmal mehr die symbolische Assoziation zwischen Michael dem Tapferen und der Hohenzollern-Dynastie konsolidieren und damit zur Sakralisierung der Nation unter der Schirmherrschaft des Throns beitragen. Der Kult um Michael den Tapferen, den Einiger, wurde einmal mehr belebt zur Jahrhundertwende. Diese Wiederbelegung fiel nun in eine Zeit der größten irredentistischen Bewegungen für die Schaffung nationaler Einheit, konkret durch Annexion der benachbarten, mindestens teilweise von ethnischen Rumänen bewohnten Provinzen plädierten, wie das noch das von Ungarn regierte Siebenbürgen und das Banat. Neue Basisbewegungen kulturellen Nationalismus forderten den Staat heraus, eine strengere irredentistische Politik einzuschlagen. Die repräsentativste Organisation der neuen Welle von Nationalisten war die „Liga für die kulturelle Einheit der Rumänen“ (Liga pentru unitatea culturală a tuturor românilor, auch bekannt unter dem Kürzel „Kulturelle Liga“), gegründet 1890 in Bukarest. Um die öffentliche Meinung für das Ideal nationaler Einheit zu mobilisieren, inszenierte die Liga eine Art hartnäckige Erinnerungsmanie, mit Rekurs auf die Figuren Michael dem Tapferen und Stefan dem Großen als Rumäniens ruhmreichsten Herrschern. Ein primärer Katalysator des neuen militanten Nationalismus und der wichtigste Animator des Kultes um Michael den Tapferen war der oben be54  Amintiri despre Jubileul de 40 ani de domnie a M. S. Regelui Carol, Bd. I, Bukarest 1906, S. 38. 55  Monitorul Oficial al României, Bd. 46, 226 (11.10.1878), S. 5738.

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reits genannte Historiker und Politiker Nicolae Iorga. Für Iorga war Nationalismus „eine politische Doktrin, eine bestimmte Konzeption des Staatslebens und Organisation im Dienste der Nation, verstanden als ein organisches, maßgebendes Wesen.“ Für ihn war Nationalismus kein „sentimentaler, farbenfroher Hintergrund für irgendeinen politischen Glauben: er war in sich selber ein Glaube, einer der exklusiven Art.“56 Im Sinne romantischer Palingenese sprach Iorga sich für die Regeneration der rumänischen Nation aus und verglich sie metaphorisch mit der Wiederbelebung des Lazarus von den Toten.57 Überzeugt, dass „wie im Evangelium, das Leben eines Volkes den Ursprung in seiner Seele hat, und seine Seele in seiner Kultur liegt,“ argumentierte Iorga, dass die Mission der Kulturellen Liga mehr als politische Parteien und kleinliche Tagespolitik die nationale Politik förderte und sich „für die Einheit aller sozialen Klassen seines Volkes“ aussprach und „das Bewusstsein unserer Kultur formte.“58 Indem er Geschichte als politische Waffe im Dienst der nationalen Sache ausnutzte, mobilisierte Iorga die öffentliche Meinung für die Verwirklichung nationaler Einheit. Im Jahre 1901 veröffentlichte Iorga ein Werk, welches das nationale Epos über Michael den Tapferen popularisierte. In Fortsetzung der romantischen Tradition, die Heliade initiiert hatte, titulierte Iorga den mittelalterlichen Fürsten als „den Krieger-Messias der rumänischen Nation […] den schönen und angsteinflößenden Erzengel.“59 Im Sinne von Heliade porträtierte Iorga den Fürsten als prädestinierten charismatischen Helden, „den von Gott vor dreihundert Jahren gesandten Mann, um alle Rumänen in einem einzigen Leib zu vereinen.“60 Als Fortsetzung von Bălcescus unvollendetem Werk, und um es noch zu übertreffen, veröffentliche Iorga 1903 eine massive, 1.500 Seiten lange epische Monographie über Michael den Tapferen.61 Zusammen mit der Revitalisierung des charismatischen Kultes um Michael den Tapferen war Iorga auch in die Vermittlung dieses Kultes in öffentlichen Zeremonien involviert. Nach einer öffentlichen Unterschriftenkampagne der Kulturellen Liga wurde Michaels Schädel 1904 in eine neue bronzene Kiste gebettet. Jedes Jahr am 8. November wurde der Schädel des Fürsten für die religiöse Gedenkfeier des Erzengels Michael aus der Kiste genommen, zu56  Nicoale Iorga, „Ce e un naţionalist,“ in: Neamul Românesc (14. October 1908), S. 2086. 57  Ders., Cultura Naţională şi Politica Naţională (Supliment la Neamul Românesc) Vălenii de Munte 1908, S. 30. 58  Ebd., S. 4, 7. 59  Nicolae Iorga, Istoria lui Mihai Viteazul pentru poporul românesc, Bukarest 1901, S. 20. 60  Ebd., S. 10. 61  Ders., Istoria lui Mihai Viteazul, in 2 Bdn., Bukarest 21979 [1903].



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sammen mit einem Kreuz und dem Evangelium auf einem Tisch ausgestellt und in einer militärischen Parade ihm zu Ehren gezeigt. Iorga betrachtete diese Zeremonie als zu schlicht für die Persönlichkeit und Bedeutung des Fürsten. Er initiierte eine neue Unterschriftenkampagne, um im Kloster von Dealu einen beeindruckenden marmornen Sarkophag für Michaels Schädel fertigen zu lassen, welcher, wie er meinte, bloß „trivial in einem kleinen Glaskasten ausgestellt war.“62 Der Sarkophag für Michael den Tapferen wurde 1912 in Ausführung von Karl Stock vollendet. Allerdings konnte die Wiederbeisetzung des Schädels wegen politischer Turbulenzen zuhause und im Ausland nicht stattfinden. Im Sinne Heliades trug Iorga den charismatischen Kult um Michael zu neuen Höhen, indem er auf den neuen Grabstein des Prinzen – welchen er erfolgreich im Jahre 1913 mithilfe Nicolae Filipescus setzen konnte – folgende prophetische Worte schrieb: „Hier liegt, was Kriminalität und Pietätlosigkeit vom heiligen Körper des Fürsten Michael dem Tapferen übrigließen. Seine Seele lebt in einem ganzen Volk weiter, bis die Evangelien erfüllt sein werden und er endlich zusammen mit den glückseligen Seelen seiner Eltern seine heilige Ruhe finden wird.“63

Iorgas Vorstellung, dass das Erreichen rumänischer Einheit die Erfüllung der Evangelien bedeutet, ist ein Beispiel von zentraler Bedeutung für den Prozess der Sakralisierung der Politik im modernen Rumänien. Grundlage ist die Doktrin messianischen Nationalismus, implementiert in neuen öffent­ lichen Zeremonien, die Geschichte, Religion und Politik zusammenführten. Jahrzehntelang war Iorga das Herzstück aller wichtigen politischen Debatten in der rumänischen Gesellschaft. Seine Interpretation von Geschichte dominierte die rumänische Historiographie, während zugleich seine Kampagnen für die Emanzipation der Bauernschaft und für nationale Einheit Iorga in einen „Apostel des Volkes“ verwandelten. Militarismus und Palingenese: Die Armee als Instrument für nationale Regeneration Zu Beginn des 20. Jahrhunderts brachten soziopolitische Veränderungen einen neuen Typus konservativ-autoritären Nationalismus hervor. Unter der Herrschaft des Fürsten Karl I. wurden militärische Normen und Verhaltensmuster zunehmend wichtig in der Gesellschaft, hierin übereinstimmend mit einem generelleren europäischen Prozess der Militarisierung.64 Die erste 62  Ders.,

Soarta rămăşiţelor, S. 18. das Grab Michaels des Tapferen in St. Nikolaus Kirche, Tîrgoviște. 64  Hans-Ulrich Wehler, The German Empire, 1871–1918, Providence/Oxford 1985, S. 156. 63  Siehe

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wichtige Bewährungsprobe der neugeborenen rumänischen Armee war der russisch-osmanische Krieg von 1877–1878, woran das Land zur Unterstützung des russischen Feldzugs teilnahm. Der Krieg förderte einen Synkretismus zwischen Militarismus, Religion und Patriotismus.65 Darstellungen des Krieges glorifizierten den „Soldatenbauern“ als Nationalheld par excellence; seine Aufopferung für das Vaterland wurde in religiöser Sprache dargelegt und in popularisierenden Formen als Kampf von Gut gegen Böse verbreitet, unter Synthese von populären Vorstellungen von Religion und Heroismus mit Nationalismus. Dichter wie Vasile Alecsandri (1821–1890) und George Coșbuc (1866–1918) förderten die neue patriotische Literatur und sorgten für eine Verbreitung in Schulen. Deren Dichtung diente als Basis für offizielle Diskurse, die nicht nur Thron und Altar vereinen sollten, sondern auch die Armee. Unterstützt von einem breiten Spektrum von Politikern förderte der neue konservative militaristische Diskurs die Militarisierung der Jugend, basierend auf der Dreieinigkeit von Kirche, Schule und Armee. Der wichtigste Befürworter dieser neuen Doktrin war der konservative Politiker Nicolae Filipescu (1862–1916). Aufbauend auf den Hauptelementen von Heliades palingenetischem Nationalismus (am wichtigsten waren die miteinander verbundenen Kulte um Michael den Tapferen und den Erzengel Michael als Symbol göttlicher Prädestination, und der Armee als Vehikel für Regeneration und nationale Einheit), legte Filipescu diese Hauptelemente über traditionelle konservative Werte (Monarchismus, Elitismus und eine patriarchalische Organisation der Gesellschaft) und kombinierte diese mit modernen politischen Themen. Hierzu gehörte die Vorstellung von Regeneration der Nation durch das Handeln einer jugendlichen Elite, erzogen im Geiste von militärisch-religiösen Werten. Filipescu gab dem konservativ-militärischen Diskurs eine neue intellektuelle Basis. Die zwei neuen „Propheten der Nation,“ der romantische „nationale“ Dichter Mihai Eminescu (1850–1889) und der Historiker und Politiker Iorga, nahmen diese Basis auf. Im Sinne von Eminescus politischem Denken definierte Iorga die nationalistische Doktrin als militanten und exklusiven Glauben neu, der über der Politik von Parteien stand und als inkompatibel mit anderen politischen Doktrinen gedacht wurde.66 Auf lange Sicht verschleierte diese Verschiebung die intellektuellen Ursprünge der Ideologie von nationaler Erlösung in Heliades palingenetischer Ideologie. Mit seinem brennenden Nationalismus war Filipescu auch ein leidenschaftlicher Unterstützer der rumänischen Militäraktion gegen ÖsterreichUngarn, was zur Annexion von Siebenbürgen und dem Erreichen nationaler 65  Sorin

Alexandrescu, Privind înapoi, modernitatea, Bukarest 1999, S. 19–46. Iorga, Eminescu. El, generaţia lui şi generaţia noastră. O conferinţă la Bucureşti, Văleni de Munte 1929, S. 1, 13. 66  Nicolae



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Einheit führen sollte.67 Zu diesem Zweck galt seine besondere Aufmerksamkeit als Kriegsminister (1910–1912) dem Aufbau einer starken Armee. Er schlug ferner die Errichtung einer elitären Militärakademie vor, um die Armee zu reformieren und dabei dem Vorbild „fortschrittlicher“ westlicher Nationen zu folgen. Filipescus Ansichten über militärische Bildung wurden von internationalen pädagogischen Richtungen beeinflusst, die auch als „neue“ oder „fortschrittliche Bildung“ (éducation nouvelle) bekannt waren. Diese wollten den Schülern eine aktive Rolle in ihrer eigenen Bildung und Formung übertragen, basierend auf einer nicht nur „passiven“ Akkumulation von Wissen, sondern der Entwicklung des inneren Charakters. Die ersten modernen Elite-Schulen der neuen Pädagogik wurden von dem Bildungsreformer Cecil Reddie (1858–1932) in Abbotsholme (1889) und Bedales (1893) in England gegründet..68 Dem Beispiel der Schulen in Abbotsholme und Bedales nacheifernd gründete Demolins 1899 die École des Roches in der Nähe von Verneuil-sur-Avre in der Normandie.69 Sein Mandat war es dabei, eine neue nationale Elite zu formen und eine generelle Reform der französischen Gesellschaft zu ermöglichen. Filipescu hielt sich an das französische Modell und dessen Umsetzung der Prinzipien der neuen Pädagogik. Sein Versuch dieses pädagogische Experiment nach Rumänien zu verpflanzen verwirklichte sich in der militärischen Oberschule im Dealu Kloster. Die neue Militärakademie für „nationale Bildung“ eröffnete am 4. Juni 1912 mit einer beeindruckenden Zeremonie, an der Prinz Ferdinand und andere hohe Würdenträger teilnahmen. Die neue Schule basierte auf zwei wichtigen pädagogischen Prinzipien der „neuen Bildung“: (1) Ihr Standort lag außerhalb der urbanen Zentren und folgte so dem Beispiel von Abbotsholme, Bedales und der École des Roches; und (2) die vielseitige, zugleich moralische, physische und intellektuelle Bildung wurde sehr betont. Zunächst wählte Filipescu im Sinne des militanten ro67  N. Polizu-Micșunești, Niculae Filipescu. Însemnări, 1914–1916, Bukarest 1937, S. 253. 68  Beide Schulen betonten den „Wettbewerbs“-Geist in der Erziehung, welcher als essenziell in der Ausbildung britischer Eliten betrachtet wurde. In Frankreich wurden die Prinzipien der neuen Bildung von Edmond Demolins (1852–1907) vertreten, dem Leiter des Journals La Science sociale. Demolins war Anhänger der sozialkonservativen Doktrin des Soziologen Frédéric Le Play (1806–1882) und öffentlicher Bewunderer des englischen Schulsystems – welches, so dachte er, der Grund für Englands militärische Überlegenheit war. Edmond Demolins, L’Éducation nouvelle – L’École des Roches, Paris 1898; und: ders., A quoi tient la supériorité des Anglo-Saxons? Paris 1897; ders., Anglo-Saxon Superiority: To What It Us Due, London/New York 1898. 69  Daniel Denis, „L’attraction ambiguë du modèle éducatif anglais dans l’oeuvre d’Edmond Desmolins“, in: Les Études sociales (Thematische Ausgabe „L’école des Roches, creuset d’une éducation nouvelle“), Bd. 127/128, 1/2 (1998), S. 13–31.

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mantischen Nationalismus, erarbeitet von Heliade und revitalisiert von Iorga, als Standort für die neue Oberschule das Kloster Dealu, Rumäniens wichtigsten Erinnerungsort, welcher die „Reliquie“ von Michaels Schädel beherbergte. Das Curriculum der Schule, das „eine vollständige intellektuelle, physische und moralische Bildung“ anbieten wollte, bestand nicht einfach nur aus formalem Militärtraining, sondern aus einem Programm moralischer, religiöser und nationaler Bildung, alles gezielt auf die Bildung des Charakters. Sein oberstes Ziel war die Förderung und Einimpfung von militärischen Kernwerten wie Mut, Patriotismus und Aufopferung. Die Militärschule setzte sich bald als ein Prototyp für die neue Pädagogik durch, fokussiert darauf, einen neuen Typus menschlichen Charakters zu schmieden. Geschaffen zur Zeit der Balkankriege (1912–1913) und ein Jahr bevor Rumänien selbst militärisch in den Zweiten Balkankrieg (1913) hineingezogen wurde, sollte die Schule außerdem zum Geist „nationaler Bereitschaft“ beitragen und die Flamme messianischen Nationalismus am Leben erhalten, wie sie etwa auf dem Kult um Michael den Tapferen gründete. Unter dem Schild des Erzengels: Der Krieg um nationale Vereinigung Auch die Krönung des neuen Königs Ferdinand I. im Jahre 1914 und Rumäniens Teilnahme am Ersten Weltkrieg standen symbolisch unter dem Zeichen Michaels des Tapferen und seinem Schutzheiligen, des Erzengel Michael. König Ferdinands Verkündung von Rumäniens Kriegseintritt am 28. August 1916 war voll von messianischen Anspielungen, ganz in der Tradition des palingenetischen Diskurses nationaler Regeneration durch ultimative Aufopferung. Der Kriegseintritt wurde als „heilige Pflicht“ dargestellt, das Schreiten auf dem Pfad „nationaler Wiederbelebung“ der Rumänen, um „das, was Michael der Tapfere nur für einen Moment erreicht hatte, für alle Ewigkeit wieder aufzubauen: die Vereinigung der Rumänen, die auf den beiden Seiten der Karpaten leben.“70 Der König forderte die Rumänen auf, „tapfer, gemeinsam alle erforderlichen Opfer durch einen schrecklichen Krieg auszuhalten“ und „mit dem starken Enthusiasmus eines Volkes, welches ein unerschütterliches Schicksal in seiner Mission trägt“71 zu kämpfen. Ferdinand I. beendete die Verkündigung mit dem mobilisierenden Aufruf: „Voran, mit Gott!“72 70  Ferdinand I., Cuvântări de Ferdinand I, Regele României 1889–1922, Bukarest 1922, S. 95–96. 71  Ebd., S. 96. 72  Ebd.



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Nach einem vielversprechenden Start erlitt Rumäniens militärische Aktion einen großen Rückschlag an der südlichen Front in der Dobrogea, gefolgt vom Rückzug aus Siebenbürgen. Um die Armee in solch dramatischen Momenten zu stärken, stiftete Ferdinand im September 1916 den höchsten militärischen Orden in Rumänien, mit dem Namen „Michael der Tapfere.“73 Der Orden sollte verliehen werden „ausschließlich für außergewöhnliche militärische Taten an Offiziere, die sich im Kampf ausgezeichnet haben.“74 Der Sitz der mit dem Orden verbundenen Organisation war das Mihai Vodă-Kloster in Bukarest. Deren Feiertag war der 8. November, zusammenfallend mit dem des Erzengels Michael. Der Feiertag hielt somit die Assoziation zwischen dem Kult um den Fürsten und dem des Erzengels aufrecht. Als im Jahr 1916 bulgarische und deutsche Truppen im Süden und die verbündeten deutschen und österreichisch-ungarischen Truppen in einer Gegenoffensive im Norden in das Land einmarschierten, wurde Michaels Schädel – auf Iorgas Initiative hin – in Sicherheit gebracht und in die Metropolitankathedrale in Iaşi überführt. Als der deutsche Feind 1917 Iaşi einzunehmen drohte, wurde der Schädel in eine Kirche in Chersones auf der Krim geschickt, um eine Entweihung zu vermeiden. Später in demselben Jahr, nach Unterzeichnung eines Waffenstillstandes mit den Mittelmächten durch die Rumänen, wurde der Schädel zurück nach Iaşi gebracht. Am 8.  November 1918, dem Feiertag des Erzengels Michael und zwei Tage bevor Rumänien wieder in den Krieg eintrat, ehrte man das Haupt Michaels des Tapferen in einer feierlichen Zeremonie, an der König Ferdinand I. und Königin Maria teilnahmen. Iorga zufolge „schmückte“ letztere „ihn [den Schädel Michaels des Tapferen] am Sarg, so wie sich einst die frommen Frauen mit ihren eigenen Händen um den Körper des Retters gekümmert hatten.“75 Die Zeremonie sollte die Idee des nationalen Messianismus unter der Führung der Monarchie erneuern. Zwei Tage später, am 10. November 1918, trat Rumänien wieder in den Krieg ein, erklärtermaßen mit dem Ziel, den Prozess der politischen Vereinigung aller ethnischen Rumänen, im Namen Michaels des Tapferen und seines Patrons dem Erzengel Michael, zu vollenden. Am 1. Dezember 1918 betraten Ferdinand I. und Königin Maria triumphierend das von ausländischer Besatzung befreite Bukarest. Rumänien war unter dem Strich einer der Profiteure des Ersten Weltkriegs. Das Land verdoppelte seine Größe und Bevölkerung durch die Einbindung von Siebenbürgen, dem Banat und der Bukowina von Österreich-Ungarn und Bessarabien vom Zarenreich. Nach der Vereinigung wurde die ideologische 73  Col.

Eugen Ichim, Ordinul militar de război „Mihai Viteazul“, Bukarest 2000. S. 33. 75  Iorga, Soarta rămăşiţelor, S. 21. 74  Ebd.,

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Tradition nationaler Regeneration, gefördert vom Monarchen im alten Königreich Rumänien, nunmehr auf der Ebene des gesamten Landes durch eine erneuerte Sakralisierungskampagne der vereinten Nation fortgeführt. Zum einen beendete, so meinte man, die Vereinigung einen Kreislauf in der Geschichte der Rumänen. Um dies zu kennzeichnen, schlug I. D. Ştefănescu 1921 die Errichtung des Museums für rumänische Regeneration unter dem Mäzenatentum von Kronprinz Karl vor, „welches alle Dokumente aus der Ära des nationalen Erwachens (1821–1921) ausstellen sollte.“ Zum anderen wurde die Ideologie nationaler Regeneration jetzt, da doch die Große Vereinigung einen Neuanfang darstellte, zum Zweck des Prozesses administrativer und politischer Vereinigung des rumänischen Nationalstaats neu begonnen und genutzt. Eine wichtige Rolle im Prozess der Vereinigung spielte eine neue Siegerkultur. Manifest wurde dies durch die Errichtung von Denkmälern für die Vereinigung, das Aufstellen der Statuen von Michael dem Tapferen und den Königen Karl I. und Ferdinand I. als Symbole für die Vereinigung, sowie die neue Unionshalle in Alba Iulia. Der Doppelkult um Michael den Tapferen und den Erzengel Michael war schon in der Vorkriegszeit ein zentrales Element der Sakralisierung des Nationalen gewesen. Nach dem Krieg wurde der Kult um Michael den Tapferen auf das ganze Land ausgeweitet und mit neuen Konnotationen ausgestattet. Die neue nationale Kampagne für den Doppelkult fand hauptsächlichen Ausdruck in der Wiederbeisetzung des Schädels von Michael dem Tapferen im Jahre 1920, der Krönung Ferdinands I. in Alba Iulia 1922, der Errichtung eines Denkmals für den unbekannten Soldaten im Parcul Carol in Bukarest 1923 und dem 1923 begonnenen Bau des Helden-Mausoleums in Mărăşeşti. Symbolisch passte die Erfüllung politischer Einheit aller Provinzen, die von ethnischen Rumänen bewohnt wurden, mit der Vereinigung des Körpers Michaels des Tapferen zusammen: Sein Kopf aus dem Dealu Kloster und sein Körper in Turda befanden sich zum ersten Mal zusammen innerhalb der nationalen Grenzen Rumäniens. Die Wiedervereinigung seines Körpers symbolisierte, wie Iorga es ausdrückte, „ein für alle Mal die Vereinigung aller Teilstücke unseres nationalen Körpers.“76 Um diese Errungenschaft hervorzuheben, begannen König Ferdinand I. „der Befreier“ und Königin Maria im Mai 1919 eine historische Reise durch Siebenbürgen. Der Besuch am Grab von Michael dem Tapferen in Turda, im Gedenken an seinen tragischen Tod, war ein Teil dieser Reise. Das königliche Paar besuchte außerdem das Grab des pro-rumänischen Revolutionärs Avram Iancu (1824–1872) in Ţebea. So sollte der siebenbürgische Held gleichsam offiziell in das im Entstehen begriffene nationale Patrimonium aufgenommen werden. Im August 1920 76  Ders.,

Memorii, Bd. 3: Tristeţea şi sfârşitul unei domnii, Bukarest o.d., S. 95.



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wurde, angeregt durch Nicolae Iorga, das Haupt von Michael dem Tapferen in einer nationalen Pilgerfahrt rückgeführt ins Kloster Dealu. Von Iaşi aus hatte die Reliquie eine symbolische Route zur Markierung des neugewonnenen Territoriums zurückgelegt, ehe sie in der St. Nikolaus Kirche in einem neuen marmornen Grab, errichtet wiederum auf Iorgas Initiative hin, begraben wurde. Die rumänische orthodoxe Kirche nahm am Sakralisierungsprozess der Politik teil und wirkte als Säule dieser monarchischen Doktrin. Im „Gebet der Einheit für alle Rumänen,“ welches am 26. März 1919 in der Kathedrale der Heiligen Dreifaltigkeit in Sibiu in Anwesenheit von Kronprinz Karl und Bischof Miron Cristea von Caransebes (ab 1925 der erste orthodoxe Patriarch Rumäniens) gelesen wurde, klang auch die Doktrin des rumänischen nationalen Messianismus, wieder an. In der Darstellung des Bischofs erschien die moderne Geschichte Rumäniens als die eines Niedergangs von ihrem mittelalterlichen Ruhm; jedoch war sie nun erlöst von alten Sünden der Nation durch ihr Leiden, ihren Kampf und ihre Aufopferung während des Krieges. Die Krönungszeremonien König Ferdinands I. und Königin Marias vom 15. bis 17. Oktober 1922 markierten einen weiteren zeremoniellen Höhepunkt der Ideologie nationaler Regeneration. Wiederum standen die Zeichen Michaels des Tapferen und seines Schutzheiligen, des Erzengel Michael, zentral. Obwohl Iorga vorgeschlagen hatte, dass die Krönungszeremonie im DealuKloster stattfinden solle, entschied sich der König schlussendlich für Alba Iulia, die mittelalterliche Hauptstadt Siebenbürgens, die im Jahre 1600 Schauplatz des triumphalen Einzugs Michaels des Tapferen gewesen war. Die Krönungszeremonie wurde in einer neuen orthodoxen „Krönungskathedrale“ abgehalten, erbaut im Jahr 1921/1922 in einem „nationalen architektonischen Stil.“ Geweiht war die Krönungskathedrale wiederum den Erzengeln Michael und Gabriel. Über dem Eingang der Kathedrale war ein Mosaik mit der Darstellung der beiden Erzengel, während das Naos mit Porträts König Ferdinands I. und Königin Maria, und ihres berühmten Vorgängers Michael des Tapferen und dessen Frau Stanca geschmückt war. Spezielle Briefmarkeneditionen und Postkarten stellten in Abstimmung die Porträts der „zwei Einiger,“ Michaels des Tapferen und König Ferdinands I., dar. Die Presse veröffentliche zahlreiche Artikel, Schriften und Bilder, die König Ferdinand als neue charismatische Inkarnation Michaels des Tapferen präsentierte. So geschah es beispielsweise in der „Hymne der Vereinigung“ von 1929, in welcher König Ferdinand sogar genauso wie sein Vorgänger „der Tapfere“ genannt wird. Die Krönung wurde als umfassende nationale Feier konzipiert. Der königliche Konvoi folgte einer symbolischen Strecke auf der Route Bukarest-Alba Iulia-Bukarest und bezog so die Regierung, das Parlament, führende Politiker, alle staatlichen Institutionen wie die Armee, Schulen und die Kirche mit ein. Die Krönungszeremonie fand am 15. Oktober 1922 in Alba Iulia statt,

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am Geburtstags des Kronprinzen Karl, was die Aufmerksamkeit auch auf die Zukunft der Monarchie richten sollte. Am Krönungstag wurde das Te Deum in den Kirchen aller Konfessionen in allen Städten zur selben Stunde angestimmt, gefolgt von der Lesung des Hirtenbriefes von jedem orthodoxen Metropoliten jeder historischen Provinz. Zur selben Zeit wurden in allen Schulen und militärischen Einheiten Reden gehalten. So sollte, im Sinne der Doktrin nationaler Regeneration, eine nationale Gemeinschaft auf neuen charismatischen Fundamenten rekonstruiert werden. Die Verbindung zwischen dem König, der Armee, der vereinten Nation und seinem Schutzheiligen wurde nochmals bekräftigt. Am 16. Oktober 1922 kehrte König Ferdinand mit glorreichem Einzug durch den Triumphbogen wieder nach Bukarest zurück. Die Zeremonien endeten an diesem Tag an der Statue Michaels des Tapferen, wo der König die Parade eines historisierenden Gefolges und aller Bürgermeister im Land abnahm, gefolgt von einem festlichen Abendessen im Palast. In seiner Proklamation an das Land bekräftigte Ferdinand I., dass der Akt der Krönung durch die Geschichte, die Vorsehung, sowie die Leistungen, Opfer und Tapferkeit der Soldaten auf dem Schlachtfeld seine Grundlage und Legitimation erhalte Der Doppelkult um Michael den Tapferen und den Erzengel Michael war ebenfalls verflochten mit dem Kult um die gefallenen Soldaten. Einschlägige Praktiken des Kults konzentrierten sich auf die wichtigsten Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs, und besaßen ihr Hauptsymbol im Dorf Mărășești, dem Ort des ruhmreichsten Sieges der rumänischen Armee gegen die Mittelmächte. Am 19. August 1920 besuchte der französische Marschall Joseph Joffre (1852–1931) Rumänien, und verlieh den „Märtyrer-Ortschaften“ Bukarest und Mărășești das französische „Kriegskreuz.“ Bei dieser Gelegenheit erhob das Parlament das Dorf Mărășești in den Rang einer Stadt. Als Wappen der neuen Stadt wurde wieder eine Darstellung des Erzengel Michaels gewählt, auf der dieser mit Luzifer kämpft. Darunter steht das Motto „Sie sollen nicht durchkommen.“77 Die Darstellung führte also militärische Parolen, den Kult um Michael den Tapferen, und die religiöse Symbolik um den Erzengel mit dem Focus auf den Kampf um nationale Einheit, symbolisiert durch Mărășești, zusammen. Am 4./17. Mai 1923, an Christi Himmelfahrt, wurde das Grab des unbekannten Soldaten in Bukarest eingeweiht. An der opulenten Zeremonie nahmen der König, kirchliche Würdenträger, Heerführer, Politiker und Stellver77  România, Bd. IX, 180 (24.  August 1920), S. 1. Ursprünglich war die Parole wohl von französischen Soldaten in Verdun verwendet worden (On ne passe pas!). Rumänische Soldaten hatten den Slogan (Pe aici nu se trece) in der Schlacht von Mărășești gebraucht.



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treter verbündeter Länder teil.78 Zur Auswahl hatte man zuvor die Leichen nicht identifizierter Soldaten von den wichtigsten Schlachtfeldern des Großen Krieges in allen Provinzen des Landes exhumiert. Diese Leichen wurden dann an einer Kirche in Mărăşeşti abgelegt, wo eine Kriegswaise einen Helden mit den Worten: „Dies ist mein Vater“ auswählte. Der gewählte Sarg wurde mit einem Zug nach Bukarest transportiert, die übrigen Leichname wurden auf dem Friedhof der Helden in Mărăşeşti begraben. Die Umbettungszeremonien bezogen den Kult um Michael den Tapferen wiederum mit ein. Der Sarg des unbekannten Soldaten wurde den Rittern des militärischen Ordens „Michael der Tapfere“ anvertraut. Während der gesamten Zeremonie fungierten diese als Beschützer des Helden. In Bukarest wurde der Sarg im Mihai Vodă-Kloster, dem Sitz der Ritter, niedergelegt und dann in einem neuen Mausoleum im Parcul Carol auf der Terrasse des Militärmuseums begraben. Der Doppelkult um Michael den Tapferen und den Erzengel Michael diente nach dem Tod Ferdinands I. weiterhin als Hauptsymbol des könig­ lichen Hauses. Bezeichnenderweise wurde der Sohn des Prinzen Karl, Erbe der Krone, christlich-orthodox auf den Namen Michael (Mihai) getauft, seinem ruhmreichen Vorgänger zu Ehren, zugleich sein Vorbild. Der neue Prinz, welcher nach dem Thronverzicht seines Vaters für drei Jahre als minderjähriger König amtierte, feierte seinen Namenstag am 8. November, dem Feiertag des Erzengels Michael. Im Jahre 1929 organisierte die rumänische Regierung in Alba Iulia prunkvolle Zeremonien zur Feier des zehnjährigen Jubiläums der politischen Vereinigung von Siebenbürgen und Rumänien. „Das Goldene Buch der Unionsfeierlichkeiten,“ welches für diese Gelegenheit von Alexandrina Cantacuzino (1876–1944) in Auftrag gegeben wurde, bekräftigte einmal mehr die messianische Doktrin der nationalen Regeneration unter der Führung der Monarchie und dem Schutz des Erzengels Michael. Das Buch eröffnet mit dem Gedicht „Alba Iulia“ von Mircea Dem. Rădulescu, einer Ode an das rumänische Volk als die auserwählte Nation, die ein Martyrium erlitten hatte, aber dennoch siegreich war. Für Rădulescu war Alba Iulia nicht nur die alte Hauptstadt Siebenbürgen, sondern auch eine „Festung der Märtyrer“ und „unser heiliges Jerusalem.“ In Sinne der schon von Heliade eingeführten romantischen Doktrin von der Lehre der Erzengel unterstreicht das Gedicht die heilige Verbindung zwischen Michael dem Tapferen und seinem gött­ lichen Beschützer Erzengel Michael. Konkret feiert es den Sieg des Fürsten bei Şelimbăr, gefolgt von seinem triumphalen Einzug in Alba Iulia im Jahre 1599. Entsprechend einem palingenetischen Szenario göttlicher Eingebung 78  Für einen detaillierten Bericht der Zeremonie siehe „Ostașul Necunoscut“, in: Foaia Diecezana, Bd. XXXVIII, 10 (7. Mai 1923), S. 3–6.

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sollte das Martyrium des rumänischen Volkes 318 Jahre später zu seiner nationalen Regeneration durch Freiheit und Einheit führen. Das Gedicht endete mit einer apotheotischen Parallele zwischen Michael dem Tapferen und seiner neuen charismatischen Menschwerdung durch Michael I. Entthront von seinem Vater im Jahre 1930, welcher dann als Karl II. (1930– 1940) gekrönt wurde, wurde Michael I. zum „Großen Wojewoden von Alba Iulia“ ernannt. Während seiner Herrschaft erweiterte Karl II. den Sakralisierungsprozess der Nation, gekennzeichnet sowohl von den Feierlichkeiten der Großen Union, als auch der Einweihung neuer nationaler Monumente, wie dem Triumphbogen, dem Mausoleum der Helden von Mărăşeşti und dem „Großen Fresko der Nation“ am rumänischen Athenäum in Bukarest. Eingeweiht am 1. Dezember 1936, 18 Jahre nach dem Erreichen der Großen Union, konzentrierte sich der Symbolismus des neuen Triumphbogens auf die Krönung: Es zeigte die Bildnisse König Ferdinands I. und Königin Marias, Zitate aus der Kriegserklärung König Ferdinands und Szenen aus Rumäniens Große, Krieg „der Vereinigung“ zwischen 1916 und 1919, inklusive den Feldzug gegen Ungarn. König Karl II., gekleidet im weißen Mantel der „Ritter des Ordens Michael der Tapfere,“ weihte den Bogen feierlich ein. Im Jahre 1938 wurde das „Große Fresko der Nation“ am Athenäum geweiht. Als eine der ersten einheitlichen, künstlerisch umgesetzten Visionen von Rumäniens Nationalgeschichte bestand das 75 Meter lange Fresko, gemalt von Costin Petrescu (1872–1954), aus 25 historischen Szenen und erinnerte an Nationalhelden und Ereignisse aus allen Regionen Rumäniens. Abschließend, ebenfalls 1938, erweiterte das jetzt vollendete Mausoleum der Helden in Mărăşeşti, welches Gräber für die gefallenen Soldaten des Großen Krieges beherbergte, die Verbindung zwischen Erzengel, Fürst Michael dem Tapferen und dem Kult um die Kriegshelden 1918. Das zentrale Fresko im Inneren des Mausoleums zeigte die Figur des Erzengels Michael dar, seit 1920 auch Patron der Stadt Mărăşeşti. Faschismus und die Militarisierung der Politik: Die „Legion des Erzengels Michael“ In der Zwischenkriegszeit funktionierte die Militärschule am Kloster Dealu weiterhin als zentrale Institution für die patriotisch-militärische Erziehung der jüngeren Generation unter königlichem Patronat. Die Schule konsolidierte ihr Prestige in den 1930er Jahren, als König Karl II. seinen eigenen Sohn, den ehemals minderjährigen König Mihai (1927–1930), als Ehrenschüler des Lyzeums anmeldete.



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Einer der Absolventen der Schule während der Kriegszeit, Corneliu ZeleaCodreanu (1899–1938), sollte sich bald die Pädagogik der Schule aneignen und ihr zugleich eine neuartige, gegen das Establishment gerichtete Aus­ richtung geben. Im Jahr 1927, nach kurzen, aber tumultartigen Aktivitäten innerhalb der „Liga zur National-Christlichen Verteidigung“ (Liga Apărării Naţionale Creştine, gegründet 1922 von Alexandru C. Cuza [1857–1947]), distanzierte sich Codreanu von der radikalen Rechten und gründete eine alternative, ultra-nationalistische paramilitärische Organisation, welche den Namen „Legion des Erzengels Michael“ trug. Zelea-Codreanu war fünf Jahre lang Schüler der Militärschule in Dealu gewesen, als Teil der fünften Förderungsgeneration von 1912–1919. Wegen der Kriegsereignisse war es Codreanu aber nicht gelungen, sein Studium zu beenden. Dennoch erwies sich die Zeit, die er in der Schule verbracht hatte, als höchst prägend, wie er sich in seiner Autobiographie erinnert.79 Codreanu verinnerlichte hier die Werte des Militarismus und messianischen Nationalismus zutiefst. Entsprechend hinaus führten die ideologischen Hauptmerkmale und die Formen der Organisation in der „Legion des Erzengels Michael,“ die er 1927 gründete, die Züge seiner Ausbildung in Dealu fort. Der elitäre Charakter der „Legion,“ die Hauptprinzipien ihrer Organisation, viele Elemente ihrer rituellen Sprache und Praktiken, die dahinterstehende Pädagogik und Sozialisierungsmuster hatten ihre erste Form in der Militärschule erhalten. Die wichtigsten gemeinsamen Elemente waren: Der Kult um Michael den Tapferen und den Erzengel Michael, verbunden mit Ideen der nationalen Einheit und Vorbestimmung; der Glaube daran, dass die Absolventen eine neue nationale Elite bilden würden um Rumänien zu retten. Letzteres verleitete Codreanu zur Gründung einer neuen faschistischen Elite. Ferner gehörten dazu die Sakralisierung von Politik durch Riten und Rituale, basierend auf der Amalgamierung militärischer, religiöser und nationalistischer Symbole und der Kult um die Helden als Märtyrer für den nationalen Zweck. Die Hauptprinzipien der Legionsorganisation, ausformuliert 1933 von Codreanu im Handbuch des Nestführers (Cărticica Şefului de cuib), ahmten Organisationselemente der Militärschule in Dealu nach. Entsprechend den bereits in der École des Roches implementierten Praktiken sprachen sich Schüler der Militärschule gegenseitig mit dem Titel „Kamerad“ an, während jüngere Schüler die Älteren mit dem Titel „Kapitän“ anredeten. Beides wurde von der „Legion“ übernommen. Der Titel „Kapitän“ wurde von Codreanu selbst angeeignet und mit neuen Konnotationen versehen; der offizielle Feiertag der Militärschule war der 8. November, der Tag des Erzengels Michael. Genauso sollte er es in der „Legion“ sein. Codreanu benannte die wichtigsten 79  Corneliu Zelea-Codreanu, For My Legionaries (The Iron Guard), York (South Carolina) 2003, S. 4.

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organisatorischen Zellen der „Legion“ „Nester,“ so wie bereits Filipescu die Militärschule Dealu ein „Falkennest“ genannt hatte, in direkter Reaktion auf Eminescus militantes Gedicht Zu den Waffen (La arme): „Sind alle Geier ausgestorben/ Und Falken der Karpaten?“ Das Gedenken der Märtyrer, ihre Namensnennung und permanente Bewachung des Votivlichts spielten ebenfalls zentrale Rollen in den Ritualen und der Pädagogik der „Legion,“ und schufen eine charismatische Gemeinschaft der Aufopferung. Das Hauptelement der Kontinuität zwischen dem Militärgymnasium von Dealu und der „Legion“ war der Kult um den Erzengel Michael. Michaels Feiertag am 8. November wurde als offizielles Fest der Bewegung verkündet. Eine große Nachbildung der Ikone, welche angeblich Codreanus Vision inspirierte, wurde zum heiligen Relikt der „Legion“ erklärt und dauerhaft von einem Legionärsteam im Hauptsitz der Bewegung in Iaşi bewacht. Die Ikone wurde außerdem auf der Titelseite der offiziellen Zeitschrift der „Legion“ reproduziert; zusätzliche Kopien wurden an territoriale Organisatoren geschickt. Codreanu selbst trug eine Miniatur. Dies führte dazu, dass die Ikone des Erzengels Michael im Legionärskult zu einem Symbol göttlicher Offenbarung und Schutz wurde: „Unser Schutzheiliger ist der Erzengel Michael. Wir sollten seine Ikone in unseren Häusern haben und in schwierigen Zeiten sollten wir ihn um Hilfe fragen und er wird uns niemals im Stich lassen.“80 (Abb. 4–5).

Die Titelseite der Pământul Strămoşesc (Abb. 4), des Zentralorgans der Legion, veranschaulicht in Kürze die Hauptachsen der Legionärsideologie. In der Mitte des Bildes befindet sich die verehrte Ikone des Heiligen Michael. Darüber ist ein Hakenkreuz, welches in der Ikonographie der antisemitischen radikalen Rechten in Rumänien bereits vor der Zeit des Ersten Weltkriegs benutzt worden war und ebenfalls von der „Legion“ übernommen wurde. Auf der linken Seite des Bildes findet sich ein Zitat aus dem Gedicht Decebal zum Volk (Decebal către popor) von George Coşbuc, das die Aufopferung glorifiziert: „Wenn wir auch von den Göttern abstammen/ Wir wären immer noch sterblich/ Es machte keinen Unterschied, wenn man stirbt/ Als junger Mann oder buckliger Alter / Aber es ist nicht dasselbe zu sterben/ Als Löwe oder angeketteter Sklave.“81

Auf der rechten Seite des Bildes befindet sich ein Zitat, welches dem Erzengel Michael zugeschrieben wird: „Ich richte mein Schwert gnadenlos gegen die unreinen Herzen, welche das makellose Haus Gottes betreten.“ Dies Zitat wurde einer Abbildung des Erzengels Michael auf einer Tür eines 80  Ders.,

Pentru legionari, Bd. 1, Sibiu 1936, S. 340. „Decebal către popor – George Coşbuc“: http://poetii-nostri.ro/georgecosbuc-decebal-catre-popor-poezie-id-327/ [zuletzt besucht 20.02.2020]. 81  Siehe



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Abb. 4: Die Titelseite der offiziellen Publikation der „Legion des Erzengels Michael,“ Pământul Strămoşesc (links). Foto: Constantin Iordachi.

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Abb. 5: Die Darstellung des Erzengels Michael auf dem Schrein in der Krönungskathedrale (Catedrala Încoronării) in Alba Iulia. Foto: Constantin Iordachi.

Schreins in der Dreifaltigkeitskathedrale in Alba Iulia entnommen (siehe Papierrolle in Abb. 5). Die Darstellung des Erzengels aus der Dreifaltigkeitskathedrale wurde von den Legionären als Symbol nationaler Einheit verehrt – oder in den Worten Moţas als „Ikone der Einheit“ – was erklärt, weshalb die Legionäre diese auf der Titelseite ihrer wichtigsten Zeitschrift platzierten. Es sieht so aus, als hätte Codreanu das charismatische Szenario aus Heliades Mihaida vollkommen verinnerlicht, dessen Hauptkomponenten der prophetische Traum des Helden, die Ikone der Offenbarung und der Kult um den Erzengel Michael, verbunden mit der göttlichen Mission Michaels des Tapferen waren, dem rumänischen Volk Einheit zu bringen. Diese Motive durchdrangen Grundschulen und die paramilitärische Bildung, ebenso wie



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offizielle Diskurse, und sollten auch als Basis des Nationalismus der „Legion“ dienen. Die Legionärsideologie und die Praxis vereinten die Version eines Schulbuches über die Nationalgeschichte82 mit populären patriotischen Gedichten von Coşbuc mit ihrer Verherrlichung der Aufopferung für die Nation mit dem Kult um die gefallenen Soldaten, und rekurrierten auf Riten und Rituale, die von der orthodoxen Kirche befürwortet und in der Armee und in Militärschulen institutionalisiert wurden. Aber Codreanu wich auch in vielen Hinsichten von der offiziellen Ideologie der Schule ab, indem er sie in einer Weise umdeutete, die die „Legion“ vergleichbar mit anderen faschistischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit machten. Erstens machte sich die „Legion“ erfolgreich den palingenetischen Mythos um Regeneration zu eigen, nahm das Recht auf den Heldenkult exklusiv für sich in Anspruch und stellte sich selber als den einzig „legitimen“ Fortsetzer im Kampf für nationale Emanzipation und göttliches Instrument für Heil und Rettung dar. Zweitens interpretierte die „Legion“ den palingenetischen Mythos, indem sie ihn an den spezifischen historischen Kontext des Rumäniens der Zwischenkriegszeit anpasste und ihn mit einem erneuerten apokalyptischen Sinn von Notwendigkeit durchtränkte. Basis war ihr Antisemitismus, die Idee von der vermeintlichen Gefahr der Degeneration durch die Hand der „jüdisch-bolschewistischen“ Verschwörung, welche aus Sicht der Legionäre die ganze Existenz der Nation bedrohte. Drittens verstärkte die „Legion“ viele Themen, die in früheren Theorien der Palingenese nur latent vorhanden waren, so etwa die Betonung von Erlösung durch die Sühne für Sünden, Vorstellungen von Seelenwanderung als Form nationaler Solidarität und Mystik, basierend auf einer direkten und unmittelbaren Verbundenheit mit Gott durch die Berufung und die Handlungen der charismatischen Anführer und Märtyrer. Letzteres sollte zum Erkennungszeichen der „Legion“ werden: Trotz des hohen Einflusses vormarxistischen christlichen Sozialismus waren die mystischen Komponenten der Palingenese in Heliades Werk begrenzt gewesen auf die evangelischen Grundlagen seines philosophischen Systems und religiöse Symbole wie Mariä Verkündigung, Leiden, Erlösung und Reinigung.83 Die „Legion“ berief sich im Großen und Ganzen auf dieselben christlichen Themen und Symbole, erweiterte sie jedoch und vermischte sie in einer faschistischen ideologischen Matrix. Viertens besaß die „Legion“ einen revolutionären, gegen das Establishment gerichteten Charakter, sichtbar in ihrer charismatischen Natur, ihrer paramilitärischen Organisation und ihrem Einsatz gewaltsamer Mittel im politischen Kampf, sowie ihrem totalitaristischen Antrieb, vollständige Kontrolle über die ihre Mitglieder zu erhalten und in ihrem Bestreben, eine neue 82  Ion

S. Floru, Istoria românilor pentru cursul superior de liceu, Bukarest 1924. Ion Eliade Rădulescu, S. 56.

83  Tomoiagă,

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faschistische Elite zu schmieden, um die alte „degenerierte“ Elite des Landes zu ersetzen. Dies war erneut eine bedeutende politische Innovation. Heliades palingenetischem soziopolitischem Gedankengut – welches zunächst die Fundamente der palingenetischen Doktrin der nationalen Erlösung bot – fehlte eine revolutionäre Dimension und optierte vielmehr für evolutionäre Reformen von oben. Bald allerdings nahmen nationalistische politische Diskurse xenophobe Konnotationen an und richteten sich gegen „externe“ und „interne“ Feinde. Zur Jahrhundertwende war der Gedanke nationaler Revolution explizit an antiliberale politische Projekte gekoppelt, charakterisiert durch Populismus, Antisemitismus und Sozialdarwinismus. Die „Feinde“ wechselten. Wenn zu Beginn des 19. Jahrhunderts die osmanischen Griechen im Allgemeinen und die Phanarioten im Konkreten als Ursache für die Degeneration beschuldigt wurden, so nahmen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Juden ihren Platz ein, und wurden in der Öffentlichkeit als Fremde und Eindringlinge dargestellt. In der Zwischenkriegszeit ging die „Legion“ in ihrer rechten politischen Orientierung noch viel weiter: einerseits förderte sie die Implementierung eines totalitären politischen Projekts, welches die Ablösung eines pluralistischen politischen Systems durch eine Einparteiendiktatur, die Neumodellierung des Staates nach korporatistischen Prinzipien und die patriarchalische Organisation von Sozial- und Geschlechterverhältnissen befürwortete. Andererseits sprach sich die „Legion“ auch für die Implementierung einer Politik aus, die die Nation „reinigen“ sollte, indem bestimmte nationale Minderheiten, insbesondere Juden, dargestellt als Ursache für die Degeneration, von rumänischem Gebiet entfernt werden sollten. Eine weitere Innovation der „Legion,“ charakteristisch für Massenpolitik der Zwischenkriegszeit, war die zentrale Rolle, die ein charismatischer Anführer in der Umgestaltung der Gesellschaft spielen sollte. Die romantische Tradition messianischen Nationalismus hatte bereits die Rolle von Intellektuellen oder Nationalisten als „Apostel“ der Regeneration etabliert, mit emblematischen Figuren wie unter anderem die des Professoren Gheorghe Lazăr, des Dichters Ion Heliade Rădulescu und des Historikers und Politikers Nicolae Iorga. Dann aber brachten die Konjunktion von Staatsvereinigung, Massenpolitik und die verheerende Wirtschaftskrise (1929–1933) eine explosive Form charismatischen Nationalismus hervor. In diesem Kontext gelang es der „Legion,“ der sich abzeichnenden Doktrin messianischen Nationalismus eine neue Form und neuen Inhalt zu geben. Ihre Ideologie eignete sich Vorstellungen über die vorbestimmte Rolle der jungen Generation an, die Gesellschaft radikal umzugestalten. Sie verband außerdem den Gedanken des Generationsmessianismus mit dem Kult um Codreanu, welcher als charismatischer Anführer erschien mit der göttlichen Mission, die Nation vom Verfall zu retten.



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Abb. 6: Wahlplakat der Partei „Alle für das Land.“ Arhivele Naţionale Istorice Centrale, Bukarest, Fond Ministerul de Interne, Diverse, dosar 28/ 1935, S. 51. Die Darstellung des Erzengels verwendete keine orthodoxen Ikonen, bildet aber ein Gemälde von Guido Reni mit dem Titel „Hl. Erzengel Michael“ (1635), auf dem Altar einer Kapelle in der Kirche Santa Maria della Concezione dei Cappuccini, Via Veneto, Rom, erbaut 1626 von Papst Urban VIII.

Ein Plakat (Abb. 6) verdeutlicht die Popularisierung der charismatischen Doktrin messianischen Nationalismus der „Legion“ für Wahlzwecke, basierend auf einer Kombination des Kultes um den Erzengel Michael als Überbringer göttlicher Nachrichten und Beschützer des auserwählten Volkes und dem Kult um den als neuen Messias verkündeten „Kapitän“ Corneliu ZeleaCodreanu, der im Denken der „Legion“ mit der göttlichen Mission der na­ tionalen Rettung beauftragt war. Verbreitet durch innovative Propagandaformen, trug Codreanus charismatischer Kult sehr zur Popularität der Bewegung bei. Die „Legion“ wuchs von einer unbedeutenden elitären Organisation zu einer faschistischen Massenpartei; in den Wahlen von 1937 erhielt sie ungefähr 16 Prozent der Stimmen. Ihr Aufstieg zur Macht wurde zeitweise durch König Karl II. blockiert, welcher im Februar 1938 ein persönliches Regime errichtete. Allerdings wurde Karl II. im September 1940, nach zwei Jahren diktatorischer Herrschaft, gezwungen abzudanken. Grund war sein Scheitern, die territoriale Integrität Großrumäniens zu wahren, infolge des Zweiten

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Wiener Schiedsspruchs (in Rumänien meist Zweites Diktat genannt), in dem das nordwestliche Siebenbürgen durch Deutschland und Italien zeitweise Ungarn zugesprochen worden war (das Diktat wurde 1946 rückgängig gemacht). Der „Legion“ gelang es gemeinsam mit der Armee unter Führung von General Ion Victor Antonescu (1882–1946), die Macht zu ergreifen. Sie wurde aber von letzterem im Januar 1941 wieder von der Macht verdrängt. Um seine Herrschaft zu legitimieren brachte Antonescu seine eigenen charismatischen Ansprüche hervor, indem er sich nun selbst die Rolle zuschrieb, den Rumänen nationale Rettung zu bringen: „In einem Jahr erhob ich das Kreuz von Golgotha zur Rettung der Länder des Ostens. Wir sollten imstande sein, dem Befehl der Geschichte mit derselben Stärke zu folgen,“84 erklärte der General in einer selbstlobenden Proklamation anlässlich der Feier seines einjährigen Herrschaftsjubiläums. Die offizielle Propaganda des Regimes rief Antonescu als den wahren Messias und das echte Instrument der göttlichen Pläne des Erzengels Michaels aus. Seine Militärkampagne, Bessarabia von sowjetischer Besatzung zu befreien, wurde – als Teil von Nazideutschlands Krieg gegen die Sowjetunion – als heiliger „Kreuzzug gegen den Kommunismus“ dargestellt. Die orthodoxe Kirche stand in vorderster Reihe bei Antonescus Bemühungen den „Judäo-Bolschewismus“ durch die Re-Christianisierung der Gebiete im Osten und den Bau neuer Kirchen in besetzten Gebieten zu bekämpfen. Nachdem die Rumänische Kommunistische Partei im März 1945 die Macht ergriffen und im Dezember 1947 die Monarchie abgeschafft hatte, wurde die romantische Doktrin nationaler Rettung verboten und exklusiv durch die marxistisch-leninistische Ideologie ersetzt. Erst die postkommunistische Ära, nach über vier Jahrzehnten kommunistischer Herrschaft, sah eine Wiederbelebung der Doktrin nationaler Rettung, wiederum basierend auf dem Kult um den Erzengel Michael, betrieben von der Kirche und dem königlichen Haus Rumäniens. So besuchte König Michael I. am 8. November 2004, dem Feiertag des Erzengel Michael, das Mausoleum in Mărășești, eröffnete das Museum für rumänische Kriegsveteranen und beschwor erneut die symbolische Verbindung zwischen der Monarchie, der Armee, dem Kult um die gefallenen Soldaten und dem Erzengel Michael als Schutzheiligen der Rumänen und des königlichen Hauses. Bei derselben Gelegenheit wurde Michael I. zum Ehrenbürger Mărășeștis erklärt, der Märtyrerstadt aus Rumäniens Kampf für Einheit im Ersten Weltkrieg. König Michael I. starb am 5. Dezember 2017 und wurde am 16. Dezember 2017 in der neuen erzbischöflichen und königlichen Kathedrale in der Curtea de Arges, erbaut nahe der Bischofskathedrale der ersten Hauptstadt der Walachei, beerdigt. Wie die 84  „Proclamarea rezultatului definitiv al Adunării Obşteşti Plebiscitare Cuvântul Mareşalului către Ţară“, in: Renașterea, Bd. XIX, 48/49 (07.12.1941), S. 3.



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Krönungskirche in Alba Iulia war die neue königliche Nekropole, die außerdem die Gräber König Karls II. und Königin Annas beherbergte, den Erzengeln Michael und Gabriel geweiht.85 In ähnlicher Weise gründete der siebenbürgische Metropolit Bartolomeu Anania 2002 das Kloster „Fürst Michael“ (Mănăstirea Mihai Vodă) beim Grab Michaels des Tapferen in Turda, den Erzengeln Michael und Gabriel geweiht.86 Auf diesem Wege belebten die rumänische orthodoxe Kirche und das königliche Haus implizit das zentrale Symbol von Rumäniens Geschichte, welches früher schon im Kampf um Rumäniens Unabhängigkeit und nationale Einheit unter der Führung der Dynastie als Katalysator gewirkt hatte. Fazit Zentrales Argument dieses Beitrages ist es, dass das Aufkommen des Nationalismus als Massenbewegung einen neuen politischen Stil hervorgebracht hat. Einerseits setzten nationalistische Ideologen innovative ethnonationalistische Symbole ein, um die neue, im Entstehen befindliche nationale kollektive Identität zu artikulieren und zu verbreiten. Andererseits appellierten sie an ein breites Spektrum religiöser Symbole, um den quasi-sakralen Charakter der Nation und seiner göttlichen Mission zu bekräftigen. Die Verschmelzung dieser zwei Arten von Symbolik ebnete den Weg für eine Fusion von Religion und Nationalismus in Form des nationalen Messianismus. Die Fundamente für den nationalen Messianismus wurden von romantischen Schriftstellern gelegt. So übertrug sich die Vorstellung universaler Erlösung durch Kirche und Monarchen auf Nationen und ihre säkularen Propheten. Charismatische Propheten wie etwa Jules Michelet, Giuseppe Mazzini, Adam ­Mickiewicz, und – wie in dieser Arbeit argumentiert wird – der Rumäne Ion Heliade-Rădulescu arbeiteten komplexe und beständige Theologien des ­nationalen Messianismus aus, indem sie jüdisch-christliche, monarchische, aber auch missionierende Werte und Symbole rund um die Vorstellung erlösender Aufopferung miteinander verbanden. Kriegerische Heilige dienten als Schlüsselsymbole für Ideologien des nationalen Messianismus. Einerseits wurden kriegerische religiöse Figuren, wie Engel und Erzengel, zu Schutzheiligen der Nation proklamiert, welche diese zum Sieg führen sollten. Andererseits wurden ruhmreiche Könige und Kriegshelden heiliggesprochen und traten in den offiziellen Kalender etablierter Kirchen ein (man denke 85  Die Kirche ist außerdem der heiligen Märtyrerin Filofteia geweiht. Siehe „Locul de înmormântare al Regelui Mihai, subiect TABU pentru Casa Regală“, in: Libertatea (03.03.2015): https://www.libertatea.ro/stiri/1304335-1304335 [zuletzt besucht 16.12. 2019]. 86  Siehe die Website des „Klosters Fürst Michael“: http://manastirea-mihaivodaturda.ro/istoric [zuletzt besucht 16.12.2019].

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unter anderem an den Heiligen Stefan in Ungarn, Jeanne d’Arc in Frankreich oder in jüngerer Zeit an Fürst Stefan den Großen in Rumänien). Zur Illustration dieses Phänomens, konzentrierte sich dies Kapitel auf das Aufkommen des rumänischen nationalen Messianismus in den 1830er und 1840er Jahren, seiner politischen Entwicklung im langen 19. Jahrhundert und seiner Verbindung zum Sakralisierungsprozess der Politik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der rumänische nationale Messianismus war eine nicht erzählte Episode in der Geschichte der europäischen Romantik im ersten Teil des 19. Jahrhunderts. Er teilte allgemeine europäische Trends, aber passte diese an den Kontext des Landes und die eigene „historische Mission“ an. Seine Eigenschaften waren: die noch immer christliche gedankliche Matrix, basierend auf dem Evangelium; ein Fokus auf die Figur Christi und die imitatio Christi, um durch Selbstaufopferung für die auserwählte Nation Erlösung und Rettung herbeizuführen; die Hervorhebung der Errichtung der nationalen Armee als Hauptvehikel für Rettung und Regeneration; und schließlich der Historizismus, die Vorstellung, dass die Nation in und durch Geschichte erlöst werden könne. Jacob L. Talmon hat festgestellt, dass die Blütezeit des messianischen Nationalismus die Periode zwischen der Französischen Revolution 1789 und der paneuropäischen Revolution 1848 war. Während dieser Zeit war diese Tradition überall in Europa verteilt und erfuhr viele Mutationen, da sie an nationale Gegebenheiten angepasst wurde. Nach 1848 verschwand der messianische Nationalismus laut Talmon aus der etablierten Politik, da er von einer neuen Form exkludierenden Nationalismus überwunden und abgelöst worden sei.87 In diesem Punkt widerspreche ich Talmon und betone unter Bezug zum Fall Rumäniens die Kontinuitäten zwischen dem messianischem Nationalismus und dem neuen Trend exkludierenden Nationalismus, welcher im Faschismus kulminierte. Ich weise vielmehr auf die fortlaufenden Genealogien dieser Ideen hin, welche bis in die Zwischenkriegszeit reichen. Zwar wurde auch in Rumänien die Ideologie nationalen Messianismus, wie im Rest Europas, in der Revolution von 1848 ausgebildet; dennoch wurden diese Ideen nach dem Scheitern der Revolution von Anführern nationaler Bewegungen im Exil gefördert und nach der Gründung des rumänischen Nationalstaats 1859 durch die Vereinigung der Moldau und der Walachei weiter konsolidiert. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts erhielt der nationale Messianismus durch neue Praktiken der Sakralisierung der Politik, Militarisierung der Heiligen und Helden einen weiteren Impetus im konservativen Sinn, welche die Kirche, die Schule und die Armee um die Hohenzollern-­ Dynastie vereinte. In der Zwischenkriegszeit wurde die romantische Ideologie des nationalen Messianismus von faschistischen politischen Bewegungen 87  Talmon,

Political Messianism.



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verwendet und in ein Instrument der politischen Massenmobilisierung verwandelt.88 Wir können die Wurzeln des Faschismus nicht verstehen, ohne das Aufkommen des romantischen nationalen Messianismus in den 1830er und 1840er Jahren, sein politisches Vermächtnis und seine Verbindung zur Sakralisierung der Politik und Militarisierung der Heiligen während des langen 19. Jahrhunderts zu erforschen. Deutsch von Katharina Kröll und Alfons Brüning

88  Für weitere Beispiele der Radikalisierung des nationalen Messianismus siehe Eliezer Don-Yehiya, „Messianism and Politics: The Ideological Transformation of Religious Zionism:“ in: Israel Studies, Bd. 19, 2 (2014), S. 239–263.

Eine Sakralisierung des Leidens für Freiheit und Nation? „Märtyrer“ als Deutungsmuster bei der irischen Unabhängigkeitsbewegung im 19. Jahrhundert Von André Johannes Krischer Martyrien standen immer schon am Schnittpunkt von Religion und Politik. Märtyrer wurden in der Spätantike dadurch hervorgebracht, dass religiöse Devianz von obrigkeitlicher Seite identifiziert, verfolgt und mit ihren Tötungsweisen sanktioniert wurde. Auch die Opfer politischer Machtkonflikte konnten unter bestimmten Umständen zu Märtyrern werden, dafür war ­Thomas Becket, englischer Lordkanzler und Erzbischof von Canterbury, ein bekanntes Beispiel.1 Und wie sollte man im 16. und 17. Jahrhundert, dem Zeitalter der Territorialisierung und Konfessionalisierung, trennscharf zwischen den religiösen und politischen Implikationen eines Martyriums unterscheiden? Nachdem das Martyrium im 18. Jahrhundert im Kontext der neuen Frömmigkeitsbewegungen (Jansenismus, Pietismus) nicht länger als Praxis, sondern als kontemplative Lektüre relevant und damit stärker in einem religiösen Sinne gedeutet wurde, stand das 19. Jahrhundert mit der neuartigen Figur des „politischen Märtyrers“ für eine gegenteilige Tendenz.2 Aber waren politische Märtyrer überhaupt „richtige“ Märtyrer im Sinne der Tradition? Stand diese Figur für die Sakralisierung des Politischen, oder umgekehrt: für die Politisierung des Sakralen? Ist diese im 19. Jahrhundert prominente Figur ein Beispiel für Säkularisierung, oder umgekehrt: für die Entdifferenzierung von Religion und Politik?3 Meine Ausgangsthese ist, dass sich diese Frage 1  Vgl. zur Politisierung des Martyriums im englischen Spätmittelalter Danna Piroyansky, Martyrs in the making. Political martyrdom in late medieval England, Basingstoke 2008. 2  Eine systematische Untersuchung zu dieser Figur, die man einerseits im Diskurs des 19. Jahrhunderts vielfach fassen kann und die andererseits als analytische Kategorie der historischen Forschung dient, gibt es nicht; vgl. vorläufig dazu Eyal J. Naveh, Crown of Thorns. Political Martyrdom in America from Abraham Lincoln to Martin Luther King, Jr., New York 1990. 3  Der Beitrag nimmt damit auch Fragen nach der Beschreibbarkeit und Erfassbarkeit von Säkularisierungs-, Modernisierungs- und Differenzierungsvorgängen auf, die im Exzellenzcluster „Religion und Politik“ seit längerem geführt werden, vgl. dazu v. a. Karl Gabriel/Christel Gärtner/Detlef Pollack (Hrsg.), Umstrittene Säkularisierung. Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und

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nur historisch beantworten lässt, in Abhängigkeit von den Sinnzuschreibungen, Praktiken und Deutungen der Zeitgenossen. Ich nutze den Begriff des politischen Martyriums im Folgenden daher nicht in einem analytischen Sinne, sondern als historisch fassbare Vokabel des politisch-gesellschaftlichen Diskurses – eine Vokabel, die allerdings im performativen Sinn das hervorbrachte, was sie beschrieb. Das politische Martyrium war ein gesellschaftliches, von unterschiedlichen Medien und Praktiken getragenes Konstrukt, das sich nicht nur, aber besonders gut und politisch besonders relevant im Irland des 19. Jahrhunderts nachweisen lässt. Spätestens ab der Jahrhundertmitte wurde es üblich, Akteure der Unabhängigkeitsbewegung, die unter dem britischen Machtapparat gelitten hatten (nicht unbedingt mit tödlichen Folgen), als Märtyrer zu bezeichnen. Ich gliedere meinen Beitrag in fünf Teile: Ich werde zunächst einen besonders paradigmatischen Fall schildern, der den Diskurs nachhaltig prägte. In einem zweiten Teil komme ich kurz auf die konstruktivistischen Dimensionen des Martyriums zu sprechen, ohne die sich die Figur des politischen Märtyrers nicht verstehen lässt. Das gleiche gilt im dritten Teil für die historischen Dimensionen dieser Figur: Ihre Virulenz im Irland des 19. Jahrhunderts erklärt sich auch dadurch, dass mit ihr erfolgreich ein seit dem 16. Jahrhundert vom englischen Protestantismus geprägtes Deutungsmuster angeeignet wurde. Diese Aneignung und ihre subversiven Implikationen zeige ich genauer im vierten Teil auf. In einem fünften und abschließenden Teil schlage ich mit Blick auf die historischen Skizzen vor, das politische Martyrium als eine Form der Heroisierung zu verstehen, die die Säkularisierung des Politischen nicht in Frage stellte. Während der Blick in diesem Beitrag einerseits zurück in die Frühneuzeit geht, endet er anderseits vor 1916. Er klammert damit die Märtyrerdiskurse und -praktiken sowohl des Osteraufstands (1916) als auch des irischen Unabhängigkeitskrieges (1919–1921) aus, der mit dem Zusammenhang von Hungerstreik, Selbstopfer und Propaganda ein neues Kapitel darstellte, das auch bereits eingehend untersucht wurde.4 Es geht hier nur um die Anfänge eines für die neuere irische Geschichte zentralen Deutungsmusters, das freilich auch noch im Nordirlandkonflikt (1969–1998) eine wichtige Rolle spielte. Politik, Berlin 2012; Detlef Pollack, „Modernisierungstheorie – revised: Entwurf einer Theorie moderner Gesellschaften“, in: Zeitschrift für Soziologie, Bd. 45 (2016), S. 61; ders., Religion und gesellschaftliche Differenzierung (Studien zum religiösen Wandel in Europa und den USA, 3), Tübingen 2016; ders., „Säkularisierung“, in: ders. et  al. (Hrsg.), Handbuch Religionssoziologie (Veröffentlichungen der Sektion Religiosoziologie der Deutsche Gesellschaft für Soziologie), Wiesbaden 2018, S. 303–327. 4  Nikolaus Braun, Terrorismus und Freiheitskampf. Gewalt, Propaganda und politische Strategie im Irischen Bürgerkrieg 1922/23 (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London Band, 54), München 2003, Kp. F.I.



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Manchester Martyrs Am 18. September 1867 wurde in Manchester ein Gefangenentransport überfallen. In einer gepanzerten und gut bewachten Kutsche saßen neben weiteren Sträflingen zwei Fenians, wie die Mitglieder der Irish Republican Brotherhood auch genannt wurden.5 Dieser revolutionäre Geheimbund war 1858 als Reaktion auf die gescheiterten Aufstände gegen die britische Herrschaft von 1798 und 1848 in Irland gegründet worden.6 Die Fenier wollten die Aufstände nun nach England tragen. Vor allem Manchester, wo eine große Zahl von Irischstämmigen lebte, bot sich dafür an.7 Im Sommer 1867 waren die Pläne dafür schon weit gediehen. Doch die Polizei war durch Spitzel gut über die Pläne unterrichtet und verhaftete am 11.  September schließlich mit Thomas J. Kelly (1833–1908) und Timothy Deasy (1839–1880) zwei führende Köpfe der Verschwörer. Als diese nun am 18. September von einer gerichtlichen Anhörung zum Gefängnis zurückgebracht wurden, überfiel eine Gruppe von mehr als dreißig Feniern den Transport. Als sich der in der Kutsche bei den Gefangenen sitzende Polizist, Sergeant Brett, weigerte die Tür zu öffnen, schoss ein Fenier aus dem Überfallkommando auf die Tür und verletzte Brett dabei tödlich. Nachdem die Wagentür geöffnet worden war, konnten die Gefangenen entkommen. Einige Tage später verhaftete die Polizei bei Razzien in den irischen Vierteln der aufstrebenden Industriestadt eine Reihe von Iren. Fünf Männern wurde schließlich der Prozess gemacht, keinem konnte der tödliche Schuss nachgewiesen werden. Dennoch wurden alle fünf zum Tode verurteilt und drei, nämlich William Allen, Michael Larkin und Micheal O’Brien, am Morgen des 23. November 1867 vor einer riesigen Zuschauermenge in Salford, außerhalb von Manchester, gehängt. Der Henker, William Calcraft, ging dabei besonders brutal vor. Einen Tag später schrieb Friedrich Engels dazu an Karl Marx: „Die Tories haben also wirklich gestern morgen durch die Hand des Herrn Colcraft den definitiven Trennungsakt zwischen England und Irland vollzogen. Das Einzige, was den Feniern noch fehlte, waren Märtyrer. […] Erst durch die Hinrichtung der 3 wird die Befreiung von Kelly und Deasy zu der Heldentat, als welche sie jetzt 5  Vgl. allgemein zu diesem Ereignis und seinen Kontexten und Rezeptionen: Paul Rose, The Manchester martyrs. The story of a Fenian tragedy, London 1970; Joseph O’Neill, Manchester martyrs, Cork 2012. 6  All. dazu Peter Alter, „Traditionen der Gewaltanwendung in der irischen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts“, in: Wolfgang J. Mommsen/Gerhard Hirschfeld (Hrsg.), Sozialprotest, Gewalt, Terror. Gewaltanwendung durch politische und gesellschaftliche Randgruppen im 19. und 20, Jahrhundert, Stuttgart 1982, S. 162–181. 7  Mervyn A. Busteed, The Irish in Manchester c. 1750–1921. Resistance, adaptation and identity, Manchester 2016.

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jedem irischen Kind in Irland, England und Amerika wird an der Wiege vorgesungen werden.“8

Friedrich Engels, der zu jener Zeit in Manchester in einer Liaison mit Lizzie Burns lebte, die den Feniern nahestand, sollte vollkommen Recht behalten.9 Allerdings war er nicht der Erste, dem diese Zuschreibung in den Sinn gekommen war. Schon vor der Hinrichtung hatten Gegner der Todesstrafe10 (die nicht unbedingt auch mit der Sache der Fenier sympathisierten) bei einer Kundgebung davor gewarnt: „[I]f these men were executed they would be regarded as martyrs, and the teaching of history was that martyrdom increased the adherents of any cause.“11 Auch im Londoner Innenministerium hatte es diese Befürchtung gegeben.12 Bei öffentlichen Kundgebungen, die in den Tagen nach der Hinrichtung sowohl in Manchester als auch in London und Birmingham stattfanden und die ausweislich von Zeitungsmeldungen trotz sehr großen Zulaufs (zwischen tausend und zehntausend Teilnehmer, keineswegs nur Iren) überaus geordnet und friedlich verliefen, wurde ebenfalls um die „Fenian Martyrs“ getrauert.13 Kurzum: Das Deutungsmuster „Märtyrer“ wurde in Bezug auf die drei Fenier unmittelbar virulent, als Warnung sogar schon vor der Hinrichtung, als Affirmation unmittelbar danach. Was sich um Allen, Larkin und O’Brien entfaltete, war ein geradezu mustergültiges Beispiel für das Martyrium als soziales Konstrukt der Zeitgenossen und ihrer Medien.14 8  Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 31: Briefe: Oktober 1864 bis Dezember 1867, Berlin 41986, S. 387. 9  Ginger S. Frost, Living in sin. Cohabiting as husband and wife in nineteenthcentury England (Gender in history), Paperback edition, Manchester 2008, S. 156 f. 10  Vgl. dazu André Krischer, „Traditionsverlust. Die Krise der Todesstrafe in England 1750–1868“, in: Thomas Vormbaum/Christine D. Schmidt/Nicola Willenberg (Hrsg.), Strafzweck und Strafform zwischen religiöser und weltlicher Wertevermittlung (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme, 25), Münster 2008, S. 233–264. 11  Manchester Times, Nr. 520 (23.11.1867). 12  „Extraordinary Scene at the Home Office“, in: Reynolds’s Newspaper, Nr. 902 (24.11.1867); ähnlich auch: The Preston Guardian, Nr. 2942 (23.11.1867). 13  „The Fenian Funeral Demonstration“, in: Birmingham Daily Post, Nr. 2915 (25.11.1867); für weitere Berichte mit Hinweis auf „Fenian Martyrs“ vgl. z. B. „Funeral Procession of Fenian Sympathisers“, in: Liverpool Mercury (25.11.1867) oder „Procession of Fenian Sympathisers in London“, in: Freeman’s Journal and Daily Commercial Advertiser (25.11.1867); vgl. allg. zu den unmittelbaren öffentlich-rituellen Reaktionen auf die Hinrichtung: Richard Vincent Comerford, The Fenians in context. Irish politics and society 1848–82, Dublin 21998, S.  148 f. 14  Grundlegend dazu Gary Owens, „Constructing the martyrs: the Manchester executions and the nationalist imagination“, in: Lawrence W. McBride (Hrsg.), Images, icons and the Irish nationalist imagination, 1870–1925, Dublin 1999, S. 18–36.



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Das Martyrium als Konstrukt Die konstruktivistische Perspektive hat in der historischen Forschung schon seit längerem eine Sichtweise abgelöst, die die Begriffe „Martyrium“ und „Märtyrer“ entweder überhaupt nicht problematisiert oder aber darin „unzulässige“ Bezeichnungen sieht, wenn diese, wie im Fall der Fenier, nicht in einem religiösen Kontext stehen oder anderweitig angeeignet werden.15 Anstatt das Konzept „Martyrium“ aber wie in solchen Arbeiten immer schon als gegeben und mehr oder weniger „richtig“ erfüllt zu sehen, wird in konstruktivistischer Sicht nun danach gefragt, auf welche Arten und Weisen Märtyrer überhaupt „erzeugt“ werden.16 Leiden und Sterben wurden demnach nicht gleichsam von selbst zu Martyrien, sondern erst dadurch, dass sie explizit als solche bezeichnet und beschrieben wurden. Es geht also um Deutungsrahmen, innerhalb derer dem Handeln in sinnstiftender Weise das Etikett „Martyrium“ zugewiesen werden konnte.17 Im katholischen Bereich konnte die Kanonisierung zu diesem Deutungsrahmen beitragen. Sie war dafür aber keineswegs konstitutiv. Die Verehrung von Märtyrern hing bereits in der Frühen Neuzeit nicht davon ab, ob die Verehrten auch tatsächlich selig- oder heiliggesprochen worden waren. Wesentliche Teile solcher Deutungsvorgänge waren stattdessen verschiedene rituelle Praktiken, durch die Personen als Märtyrer erinnert wurden (öffentliche Umzüge, die Verehrung von Gräbern und Reliquien, die bisweilen schon bei der Hinrichtung begann).18 15  Paradigmatisch dafür ist etwa Theofried Baumeister, Martyrium, Hagiographie und Heiligenverehrung im christlichen Altertum (Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte Supplementband, 61), Rom 2009, S. 11, der sich über eine „Inflation des Märtyrerbegriffs“ im 21. Jahrhundert ärgert. 16  Anne Dillon, The construction of martyrdom in the English Catholic community. 1535–1603 (St. Andrews studies in Reformation history), Aldershot 2002; Thomas M. McCoog, „Construing martyrdom in the English Catholic community, 1582– 1602“, in: Ethan H. Shagan (Hrsg.), Catholics and the „Protestant Nation“: Religious Politics and Identity in Early Modern England (Politics, Culture, and Society in Early Modern Britain), Manchester 2005, S. 95–127. 17  Grundlegend zur konstruktivistischen Sicht auf das Martyrium sind Jolyon Mitchell, Martyrdom. A very short introduction (Very short introductions, 338), Oxford 2012 und Paul Middleton, „What is martyrdom?“, in: Mortality, Bd. 19 (2014), S. 117–133. Beide Arbeiten lehren, dass die konstruktivistische Sicht auf Martyrien durchaus nicht zu einer unkritisch-positivistischen Sammlung von entsprechenden Begriffsverwendungen führt, wenn neben den zeitgenössischen Zuschreibungen auch die Zuschreibungs- und Deutungskonflikte in die Analyse einbezogen werden. Ob jemand ein Märtyrer war oder nicht, hängt dann nicht vom Urteil der Historiker ab, sondern von dem der Zeitgenossen. 18  Arthur F. Marotti, Religious ideology and cultural fantasy. Catholic and antiCatholic discourses in early modern England, Notre Dame (IN) 2005, S. 16 f.

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Allerdings sollte sich ab dem 18. Jahrhundert auch zeigen, dass die Deutung als Märtyrer nicht daran gebunden war, einen gewaltsamen Tod zu erleiden oder überhaupt zu sterben. Die Verehrung bezog sich dabei auch nicht auf die Überzeugungen an sich (die bei genauerer Betrachtung nämlich vielfach von den „reinen Lehren“, seien sie religiöser oder politischer Art, abwichen), sondern vor allem auf die jeweiligen Formen des Leidens.19 Die Unterscheidung zwischen „Märtyrern“ und „Bekennern“ hilft bei einer solchen Pluralisierung analytisch ebenfalls nicht weiter, sie gehört vielmehr selbst zu den historischen bzw. zu historisierenden Deutungsweisen. Kurzum: Martyrien entstanden nicht durch Gewalt und Gewalterfahrung an sich, sondern erst durch deren mediale Beobachtung, wenngleich auch das Handeln und die Behandlung der dann so genannten Märtyrer vielfältige Anknüpfungspunkte dafür bieten konnten. Martyrien waren immer auch kulturelle Skripte, die von den Beteiligten in ihrem Handeln reproduziert wurden. In bestimmten Fällen übernahmen zum Tode verurteilte Personen bewusst die Rolle eines Märtyrers und gestalteten ihre letzten Stunden als Passion. So war das auch bei den Manchester Martyrs, wie Allen, Larkin und O’Brien bereits einen Tag nach ihrem Tod genannt wurden.20 Diese Zuschreibung wurde im Folgenden von nahezu allen damals verfügbaren medialen Formaten getragen, verbreitet und perpetuiert. Die Märtyrer-Deutung fand sich, wie gesehen, in Zeitungen, aber auch in anderen Periodika, Druckschriften und gedruckten Bildern. Diese Medien sorgten genauso für eine transnationale Verbreitung der Deutung wie die Trauerkundgebungen, die als öffentliche Rituale nicht nur in Dublin und dem ländlichen Irland, sondern auch in britischen und amerikanischen Städten mit einer irischen Migrantengemeinschaft (v. a. New York, Chicago) durchgeführt wurden. Daran schlossen sich vielfach jährliche Erinnerungsfeiern an, die massenhaft besucht und von der Obrigkeit skeptisch beäugt wurden.21 Neben den Umzügen wurde an die Manchester Martyrs auch durch Messstiftungen, Konzerte und Lesungen erinnert, und zwar wiederum in transatlantischer Weise. Die Anteilnahme in Übersee war insofern signifikant, als irische Emigration als Beleg für die Leidensgeschichte des irischen Volks gesehen wurde – für ein gleichsam kollektives Martyrium also. Die Emigran19  Patrick Collinson, „Truth and legend. The veracity of John Foxe’s Book of Martyrs“, in: ders. (Hrsg.), Elizabethan essays, London 2010, S. 151–177. 20  „The Political Executions at Manchster“, in: Reynolds’s Newspaper, Nr. 902 (24.11.1867). 21  Owen McGee, „  ‚God Save Ireland‘. Manchester-Martyr Demonstrations in Dublin, 1867–1916“, in: Eire-Ireland, Bd. 36 (2001), S. 39–66; Melissa Fegan, Literature and the Irish Famine 1845–1919, Oxford 2002, 200 f.



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ten hatten demnach in der eigenen Wahrnehmung und der ihrer daheimgebliebenen Landsleute Irland nicht verlassen, um ihr Glück zu machen, sondern weil Hunger und Ausweglosigkeit sie dazu getrieben hatten. Der Londoner Regierung wurde dabei eine erhebliche Mitschuld an den Hungerkrisen zugeschrieben. Durch den Hunger waren Famine Martyrs entstanden, deren in Irland und in Übersee gedacht wurde, genauso wie auch bei den Manchester Martyrs. Das Märtyrer-Gedenken verband die irische Diaspora also in verschiedener Hinsicht mit der verlassenen Heimat.22 Nicht zu vergessen sind schließlich Denkmäler, die bis zum Ende des Jahrhunderts in verschiedenen irischen Städten, aber auch in Manchester errichtet wurden.23 Und dass der Märtyrer-Stoff, wie Engels meinte, auch in Wiegenliedern aufgenommen und damit zum Gegenstand mündlicher Kommunikation wurde, ist durchaus nicht unwahrscheinlich. Allerdings fungierten Lieder auch in der Welt der Erwachsenen als Verbreitungsmedien für die Märtyrer-Zuschreibung: Das Lied God Save Ireland, das den Ausruf eines der Verurteilten zitierte, wurde um 1900 als offiziöse Nationalhymne gesungen.24 Die Manchester Martyrs avancierten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert auf diese und andere Weisen zu wesentlichen Bezugspunkten des irischen nation building durch die Abgrenzung von England. In ihren vielfältigen medialen Erscheinungsformen gehörten sie zum leicht mobilisierbaren, emotionalisierenden und daher gemeinschaftsstiftenden Rüstzeug der Unabhängigkeitsbewegung. Besonders in Dublin avancierten die jährlichen Gedenkmärsche zu einer reichweitenstarken Plattform für Protest gegen die britische Herrschaft. Die Manchester Martyrs boten nicht nur das Modell für die Konstruktion und Selbststilisierung weiterer irischer Märtyrer. In ihrem Lichte ließen sich vielmehr auch die Protagonisten der Aufstände in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die zunächst „nur“ als Freiheitshelden verehrt wurden, auch als Märtyrer deuten.25 Sie dienten als Scharnier, um ältere und neuere Deutungstraditionen miteinander zu koppeln. 22  McGee,

„ ‚God Save Ireland‘ “, S. 42. The Irish in Manchester, S. 105 f. und S. 219. Die Jahrestage der Hinrichtung boten wiederum Anlass zur Einweihung von Denkmälern für andere Fenier, vgl. McGee, „ ‚God Save Ireland‘ “, S. 46. 24  John Strachan/Claire Nally, Advertising, literature and print culture in Ireland, 1891–1922, Basingstoke 2012, S. 212. 25  Guy Beiner, Forgetful remembrance. Social forgetting and vernacular historiography of a rebellion in Ulster, New York 2018, S. 265. „Helden“ sind freilich ebenso sozio-mediale Konstrukte wie auch „Märtyrer“ oder „Opfer.“ Vgl. zu den Verbindungen von Märtyrer- und Heldenfiguren Ronald G. Asch, „Märtyrer (Christentum, Frühe Neuzeit)“, in: ders. et al. (Hrsg.), Compendium heroicum, publiziert vom Sonderforschungsbereich 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ der Universität Freiburg: https://www.compendium-heroicum.de/lemma/maertyrer-chr-fnz/?pdf=2568 [zuletzt besucht 16.12.2019]. 23  Busteed,

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Bevor wir also noch tiefer in die Konstruktionen der Manchester Martyrs eindringen und fragen, wie sich andere Akteure dieses Modell anverwandelten, müssen wir zunächst die Geschichte des Deutungsmusters Martyrium auf den britischen Inseln seit dem Beginn der Frühneuzeit skizzieren. Eine Erkenntnis aus dieser Skizze wird sein, dass sich die (katholische) irische Unabhängigkeitsbewegung mit dem Martyrium ein Konzept und die damit verbundenen Medien, Bilder, Artefakte und Rituale aneignete, die lange Zeit dezidiert englisch-protestantisch konnotiert waren. Gerade auch diese An­ eignung erklärt den Erfolg der Figur des „Märtyrers“ im Irland des späten 19. Jahrhunderts. Deutungstraditionen: Die Figur des Märtyrers in der englischen Frühneuzeit Das konfessionelle Zeitalter des 16. und 17. Jahrhunderts war in Westeuropa auch ein neues Zeitalter des Martyriums. Zog das Martyrium in frühchristlicher Zeit eine Grenze zwischen Christen und „Heiden,“ so verliefen die Demarkationslinien nach der Reformation zwischen Protestanten und den Anhängern der römischen Papstkirche einerseits, die sich anderseits wiederum beide von den Täufern abgrenzten.26 Für alle drei konfessionellen Kulturen waren die eigenen Märtyrer in gar nicht zu überschätzender Weise identitätsbildend, und entsprechend gehörten die neuen, in großer Zahl gedruckten Martyrologien der Protestanten, Katholiken und Täufer auch zu den konstitutiven Texten dieser Konfessionen.27 Als die „wahre Kirche“ präsentierten diese Kompendien ihre jeweiligen Konfessionen auch dadurch, dass sie die frühchristlichen Märtyrer als die Vorläufer der eigenen vereinnahmten.28 In England war das Paradebeispiel für eine derartige konfessionsstiftende Martyrologie die 1563 zum ersten Mal im Druck erschienenen Acts and Monuments des puritanischen Theologen John Foxe (1516–1587). Allgemein bekannt unter dem Titel Book of Martyrs, durchlief das reich bebilderte Kompendium bereits im 16. Jahrhundert verschiedene Auflagen und 26  Grundlegend dafür sind David El-Kenz, Les bûchers du roi. La culture protestante des martyrs (1523–1572), Seyssel 1997; Brad S. Gregory, Salvation at stake. Christian martyrdom in early modern Europe (Harvard historical studies, 134), Cambridge, Mass. 1999; Peter Burschel, Sterben und Unsterblichkeit. Zur Kultur des Martyriums in der frühen Neuzeit (Ancien Régime, Aufklärung und Revolution, 35), München 2004. 27  Vgl. dazu neben Anm. 26 genannten Arbeiten auch John Ray Knott, Discourses of martyrdom in English literature. 1563–1694, Cambridge 1993; Susannah Brietz Monta, Martyrdom and literature in early modern England, Cambridge 2005. 28  Gregory, Salvation at stake, S. 179.



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avancierte in England zu einem der am meisten gelesenen (oder vorgelesenen) Bücher nach der Bibel.29 Dass Anti-Katholizismus zu einem wesentlichen Bestandteil der englisch-britischen Identität wurde,30 lag nicht zuletzt am Eindruck, den das Book of Martyrs und darin besonders die Schilderung und Visualisierung der gewaltsamen Protestantenverfolgung unter Königin Maria  I. (1553–1558) auf Generationen von Engländern (bzw. Briten) machte, noch bis ins 19. Jahrhundert hinein.31 Mit dem Book of Martyrs verbanden Protestanten die Warnung, dass die katholischen Mächte (Spanien, später Frankreich) England gewaltsam rekatholisieren könnten, und dass sie dabei Irland als Sprungbrett für eine Invasion nutzen würden. Auch aus diesem Grund forcierte die englische Krone die Kolonisierung der Region Ulster durch anglo-schottische Siedler. Als Wehrbauern sollten diese Siedler die nunmehr als bedrohlich identifizierten katholischen Iren in Schach halten. Als 1641 in Ulster ein Aufstand gegen die englischen Siedler ausbrach, der zweifelsohne zu Massakern und Gräueltaten an ganzen Familien führte, beschrieb der englische Publizist und Politiker Sir John Temple (1600–1677) die Leiden der Opfer im Stile einer Martyrologie – und genau dieses Muster griffen Publizisten im späten 17. und 18. Jahrhundert dann wieder auf.32 Martyrs in flames: or The history of Popery von Nathaniel Crouch (1695) oder The New Book of Martyrs von Henry Southwell (1765) bestimmten im 18. Jahrhundert den Deutungsrahmen des Martyriums für britische Protestanten. Von einer Verinnerlichung des Martyriums im Sinne eines Exempels für Askese, wie dies zeitgleich für Frankreich festgestellt wurde, kann im engli29  John N. King, Foxe’s „Book of Martyrs“ and Early Modern Print Culture, Cambridge 2006. 30  Linda Colley, „Britishness and otherness. An argument“, in: Journal of British Studies, Bd. 31 (1992), S. 309–329, hier S. 318 f. 31  John N. King, „Eighteenth-Century Folio Publication of Foxe’s ‚Book of Martyrs‘ “, in: Reformation, Bd. 10 (2005), S. 99–106; Judith M. Richards, „Defaming and Defining ‚Bloody Mary‘ in Nineteenth-Century England“, in: Bulletin of the John Rylands Library, Bd. 90 (2014), S. 287–303; Peter Benedict Nockles, „The changing legacy and reception of John Foxe’s ‚Book of Martyrs‘ in the ‚Long Eighteenth Century‘. Varieties of Anglican, Protestant and Catholic response, c. 1760– c. 1850“, in: William T. Gibson/James E. Bradley/Robert D. Cornwall (Hrsg.), Religion, politics and dissent, 1660–1832. Essays in honour of James E. Bradley, Farnham 2010, S. 219–248. 32  Kathleen M. Noonan, „ ‚Martyrs in Flames‘: Sir John Temple and the Conception of the Irish in English Martyrologies“, in: Albion, Bd. 36 (2004), S. 223–255. Der Irische Aufstand machte auch schon vor Temples Kompendium in England Schlagzeilen, die wiederum den Übergang von der politischen Krise zwischen König und Parlament in den Bürgerkrieg markierten, vgl. dazu als Übersicht Joseph Cope, „The Irish Rising“, in: Michael J. Braddick (Hrsg.), The Oxford handbook of the English Revolution (Oxford handbooks in history), Oxford 2015, S. 77–95.

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schen Kontext keine Rede sein.33 Das Martyrium bleibt hier in Text und Bild an konkrete Gewaltanwendung und Leidenserfahrungen gekoppelt, die wiederum protestantische Identitäten durch Abgrenzungen vom katholischen (und darunter auch irischen) „Anderen“ manifestierten34 (Abb. 1). Die fortgesetzte Darstellung der Opfer des Aufstands von 1641 als protestantische Märtyrer hatte erhebliche Folgen für die Wahrnehmung der katholischen Iren: Diese galten ab der Mitte des 17. Jahrhunderts nicht mehr nur, wie bereits vor 1600, als Barbaren, sondern nun vor allem auch als gewaltaffine und skrupellose Gefährder.35 Die Unerbittlichkeit der englisch-britischen Herrschaft über Irland in der Folgezeit, angefangen mit Cromwells Strafexpeditionen (1649–1653) über die penal laws (ab 1660), die Niederschlagung der Aufstände um 1800 und die Auflösung Irlands im United Kingdom of Great Britain and Ireland (1801), hatten auch mit dieser negativen Stereotypisierung der Iren und der Martyrologisierung der ums Leben gekommenen Siedler zu tun.36 Englische und irische Katholiken konnten der Hegemonie der protestantischen Martyrien kaum etwas entgegenzusetzen. Zwar wurde die Verfolgung, Veurteilung und Hinrichtung katholischer Missionspriester in England in den letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts von katholischen Publizisten wie dem Flamen Richard Verstegen (ca. 1550–1640) in seinem Theatrum Crudelitatum haereticorum nostri temporis (1587) so eindrucksvoll wie bei Foxe als Martyrium beschrieben und visualisiert.37 Damit verband sich auch eine grundsätzliche Kritik am englischen Gerichtswesen.38 Die Missionspriester 33  Jacques Le Brun, „Mutations de la notion de martyre au XVIIe siècle d’après les biographies spirituelles féminines“, in: Jacques Marx (Hrsg.), Sainteté et martyre dans les religions du livre (Problèmes d’histoire du christianisme, 19), Bruxelles 1989, S. 77–90. 34  Gabriel Glickmann, „Early modern England. Persecution, martyrdom – and toleration?“, in: Historical Journal, Bd. 51 (2008), S. 251–267. 35  Kathleen M. Noonan, „ ‚The cruell pressure of an enraged, barbarous people‘. Irish and English identity in seventeenth-century policy and propaganda“, in: Historical Journal, Bd. 41 (1998), S. 151–177. 36  Dana Y. Rabin, Britain and its internal others, 1750–1800. Under rule of law (Studies in imperialism), Manchester 2017, Kap. 5; John Gibney, The shadow of a year. The 1641 rebellion in Irish history and memory (History of Ireland and the Irish diaspora), Madison 2013. 37  Paul Arblaster, Antwerp & the world. Richard Verstegan and the international culture of catholic reformation (Avisos de Flandes, 9), Leuven 2004; Berta CanoEchevarría/Ana Sáez-Hidalgo, „Educating for Martyrdom: British Exiles in the English College at Valladolid“, in: Timothy G. Fehler et al. (Hrsg.), Religious diaspora in early modern Europe. Strategies of exile (Religious cultures in the early modern world, 12), London 2014, S. 93–106. 38  André Krischer, Die Macht des Verfahrens. Englische Hochverratsprozesse 1554–1848 (Verhandeln, Verfahren, Entscheiden. Historische Perspektiven, 3), Münster 2017, S. 147 ff.; Marotti, Religious ideology, Kap. 1 und 3.



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Abb. 1: Darstellung des „Irischen Massakers“ von 1641 in: Henry Southwell, The New Book of Martyrs; or complete Christian martyrology. Containing an authentic and genuine historical account of the many dreadful persecutions against the Church of Christ, in all parts of the world, by Pagans, Jews, Turks, Papists, and Others […], London 1765. Der Stich von Thomas Stothard weicht sehr deutlich von früheren bildlichen Darstellungen der Massaker ab, nicht zuletzt durch die hier vorgenommene Akzentuierung des heroischen Leidens der Opfer. Ältere Darstellungen fokussierten dagegen im Wortsinn gestochen scharf die unterschiedlichen Formen der Gewaltanwendung. Stothards Darstellung verschob den Fokus somit von der Anwendung der Gewalt auf deren Opfer. Die Abbildung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Wellcome Collection (CC BY).

stilisierten sich bei ihrer Hinrichtung zudem selbst als Märtyrer.39 Auch Iren, die bei gewaltsamen Konflikten mit Engländern ums Leben kamen, konnten 39  Peter Lake/Michael C. Questier, „Agency, appropriation and rhetoric under the gallows. Puritans, Romanists and the state in early modern England“, in: Past & Present, Bd. 153 (1996), S. 64–107.

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bereits am Ende des 16. Jahrhundert in der Volkskultur als Märtyrer gehandelt werden.40 Eine langfristige Wirkung hatten die Darstellungen katholischer Martyrien in England aber nicht. Sie konkurrierten zum einen mit dem Deutungsmuster „Verräter,“ das englische Obrigkeiten, Publizisten und Theologen den selbstoder von anderen so stilisierten Märtyrern entgegenhielten.41 Zum anderen wurden sie mittelfristig überlagert von der öffentlichen Erinnerungskultur, die sich mit der berühmt-berüchtigten Pulverfassverschwörung (1605) und eben dem Irischen Aufstand (1641) verband.42 Als 1678 bei einer neuerlichen antikatholischen Paranoia dreißig katholische Priester und Laien zum Opfer fielen, blieben martyrologische Zuschreibungen ohne Nachhall.43 Die Deutungshoheit behielten dagegen langfristig Publizisten, die nach der Glorious Revolution von 1689 die Aufstände, Prozesse und Hinrichtungen protestantischer Whigs unter den katholischen Stuart-Königen in den Jahren zwischen 1683 und 1685 überaus erfolgreich als martyrdom inszenierten44 (Abb. 2). Das Martyrium wurde auf diese Weise nicht nur zu einem wichtigen Narrativ in der Whig Interpretation of History, sondern im gewissen Sinne auch zu einer staatlichen Doktrin. Tradiert wurde diese sowohl in den genannten Martyrologien des 18. Jahrhunderts als auch in zahllosen Predigten überall in England. Die Botschaft war, dass aus dem Martyrium der Whigs ein auf den Säulen von Protestantismus und Freiheit ruhendes England hervorgegangen war, der Papismus aber jederzeit wieder zuschlagen könne, wenn die Wachsamkeit nachließe. Das Martyrium wurde damit politisch vereinnahmt, ohne allerdings subversiv zu wirken. Es stärkte, im Gegenteil, das herrschende und kulturell tonangebende Establishment.

40  Alan Ford, „Martyrdom, history and memory in early modern Ireland“, in: Ian McBride (Hrsg.), History and memory in modern Ireland, Cambridge 2001, S. 43–66, hier S.  49 ff. 41  André Krischer, „ ‚Papisten‘ als Verräter. Gewaltimaginationen und Antikatholizismus im frühneuzeitlichen England“, in: ders. (Hrsg.), Verräter. Geschichte eines Deutungsmusters, Wien 2019, S. 175–194. 42  Zum antikatholischen Tenor der englischen Erinnerungskultur vgl. David Cressy, Bonfires and bells. National memory and the Protestant calendar in Elizabethan and Stuart England (Sutton history classics), Stroud 1989; Ian McBride, „Memory and national identity in modern Ireland“, in: ders. (Hg.), History and memory in modern Ireland, Cambridge 2001, S. 1–42, hier S. 16 ff. 43  Krischer, Die Macht des Verfahrens, S. 357 f. 44  Melinda S. Zook, „The bloody assizes. Whig martyrdom and memory after the Glorious Revolution“, in: Albion, Bd. 27 (1995), S. 373–396; dies., „Violence, martyrdom, and radical politics. Rethinking the Glorious Revolution“, in: Howard Nenner (Hrsg.), Politics and the political imagination in later Stuart Britain. Essays presented to Lois Green Schwoerer, Rochester 1998, S. 75–95.



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Abb. 2: Acht Whigs (Algernon Sidney, Earl of Essex, Henry Cornish, Duke of Monmouth, Earl of Argyll, Sir Thomas Armstrong, William Lord Russell, Sir Edmund Berry Godfrey), die nach der „Glorious Revolution“ zu Märtyrern stilisiert wurden, u. a. durch diesen, von John Savage gefertigten Stich, um 1690. Die Gestaltungsweise wurde später von irischen Akteuren übernommen (vgl. Abb. 3). British Museum, 1863, 0509.581.

Das subversive Potenzial der Märtyrer-Figur im 19. Jahrhundert Das änderte sich im Zeitalter der Französischen Revolution. Als der High Court of Judiciary in Edinburgh 1794 fünf schottische Jakobiner wegen „aufrührerischer Agitation“ (sedition) nach Australien verbannte, wurden die Verurteilten auch ohne Hinrichtung als Märtyrer der Wahrheit, Freiheit und Rechtsgleichheit verehrt – eine Verehrung, die nach zeitweiliger Unterbrechung im Kontext des Chartismus der 1840er Jahre wieder aufblühte und zu Denkmälern der seitdem so genannten Scottish Political Martyrs in Edinburgh und London führte.45 Im politisch-sozialen Milieu der entstehenden 45  Alex Tyrell/Michael T. Davis, „Bearding the Tories. The Commemoration of the Scottish Political Martyrs of 1793–94“, in: Paul A. Pickering/Alex Tyrell (Hrsg.),

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englischen Arbeiterklasse galten auch die Toten des Peterloo Massacres von 1819 ebenso als Märtyrer wie nach Australien verbannte Gewerkschaftsaktivisten (Tolpuddle Martyrs, 1834).46 Eine subversive Note, mit der sich die Aneignung des Märtyrer-Diskurses „von unten“ andeutete, war auch die Verehrung der 1821 verstorbenen Caroline von Braunschweig-Wolfenbüttel als Royal Martyr. Die verstoßene Gemahlin des verhassten Prinzregenten George war 1820 nach der Thronfolge ihres Gatten in einem von den einfachen Untertanen und Reformern als skandalös wahrgenommenen Verfahren wegen Ehebruchs angeklagt worden und verstarb kurz nach dessen Ende unter mysteriösen Umständen.47 Wechseln wir den Blick nach Irland: Die Haftstrafe irischer Unabhängigkeitskämpfer um Daniel O’Connell mündete 1844 ebenfalls in Zuschreibungen eines Märtyrer-Status. Wie bei den Scottish Political Martyrs oder den Tolpuddle Martyrs war für diesen Status keine Hinrichtung nötig, anders als bei diesen aber nicht einmal körperliches Leid oder Verbannung. Tatsächlich hatten die Repeal Martyrs um O’Connel unter ungewöhnlich komfortablen Bedingungen im Dubliner Richmond-Gefängnis eingesessen.48 Von Ihnen wurden dort nicht zuletzt auch Daguerreotypien angefertigt, die wiederum die Vorlage für gedruckte Collagen mit ihren Konterfeis und faksimilierten Unterschriften darstellten49 (Abb. 3). Contested sites. Commemoration, memorials and popular politics in nineteenth-century Britain (Studies in labour history), Aldershot 2004, S. 25–56; Michael T. Davis, „ ‚The Impartial Voice of Future Times Will Rejudge Your Verdict‘. Discourse and Drama in the Trials of the Scottish Political Martyrs of the 1790s“, in: Joanne Paisana (Hrsg.), Hélio Osvaldo Alves, o guardador de rios, Braga 2005, S. 65–78. 46  Joseph Cozens, „The Making of the Peterloo Martyrs, 1819 to the Present“, in: Quentin Outram/Keith Laybourn (Hrsg.), Secular Martyrdom in Britain and Ireland. From Peterloo to the Present, Cham 2018, S. 31–58; Clare Griffiths, „From ‚Dorchester Labourers‘ to ‚Tolpuddle Martyrs‘: Celebrating Radicalism in the English Countryside“, in: Outram/Laybourn (Hrsg.), Secular Martyrdom, S. 59–84. 47  Jedenfalls aus der Sicht ihrer Sympathisanten, vgl. zu der Königin CarolineAffäre: Thomas W. Laqueur, „The Queen Caroline Affair: Politics as Art in the Reign of George IV“, in: The Journal of Modern History, Bd. 54 (1982), S. 417–466. Als Märtyrerin stilisiert wurde sie z. B. in: Anon., An Account of the Last Sufferings and Death of the Royal Martyr, Caroline of Brunswick, London 1821; Anon., The Royal Martyr. Or Life & Death of Queen Caroline, London 1821. 48  Zu den Haftbedingungen politischer Gefangener in London und Dublin vgl. Krischer, Die Macht des Verfahrens, 541 ff.; zum Prozess vgl. Ebd., S. 591 ff. Hinweise auf die Repeal Martyrs bei J. F. Broderick, The Holy See and the Irish Movement for the Repeal of the Union with England, 1829–1847, Rom 1951, S. 159; Stewart J. Brown, Providence and Empire. Religion, Politics and Society in Britain and Ireland, 1815–1914 (Religion, Politics and Society in Britain), Hoboken 2014, S.  123 f. 49  Die Daguerreotypien finden sich in der National Gallery of Ireland, Object No. 2011.14.



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Abb. 3: William Henry Holbrooke, The „Conspirators,“ or Repeal Martyrs of 1843, Dublin 1843. Die Bildanordnung erinnert stark an die Märtyrer-Bilder des Whigs (wie Abb. 2). National Library of Ireland, Call No. PD B50.

Solche Artefakte sind auch von den Manchester Martyrs erhalten. So wurden Abschiedsbriefe, die die drei Verurteilten Tage oder Stunden vor ihrer Hinrichtung an ihre Familien geschickt hatten, in Zeitungen wie dem Dubliner Freeman’s Journal oder auch als eigenständige Einblattdrucke publiziert.50 50  Briefe wurden abgedruckt in: Freeman’s Journal and Daily Commercial Advertiser (26.11.1867) und (28.11.1867). Ein undatierter Einblattdruck (aber vermutlich

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Es handelte sich dabei, ähnlich wie bei den Unterschriften der Repeal Martyrs, gewissermaßen um technisch reproduzierte Berührungsreliquien, die auf ihre Weise ebenfalls einen Beitrag zur Konstitution des Märtyrer-Status leisteten.51 Wichtig waren die Briefe, weil die Verurteilten darin ihre politischen Glaubensüberzeugungen einerseits artikulierten und die repressiven staatlichen Praktiken andererseits hervorhoben. Michael O’Brien schrieb etwa „I cannot regret dying in the cause of liberty and Ireland“, doch der Prozess sei höchst unfair gewesen, „from beginning to end.“52 Auch der Prozess selbst hatte als ein zentrales Forum für Erklärungen und Performanzen fungiert, die nachfolgend als Beispiele für ihr Martyrium dargestellt werden konnten. Wenn man die Konstruktion von Martyrien als multimedialen und multilokalen Prozess versteht, dann bildeten Gerichtsprozesse dabei fast immer, also auch schon in der Vormoderne, wichtige Durchgangsstationen.53 Mehr noch: Sie waren bereits Orte des Leidens unter obrigkeitlichen Repressalien, in deren Angesicht das Einstehen für die eigenen Werte und Prinzipien umso heller erstrahlte.54 Der zentrale Text über das Martyrium von Larkin, Allen und O’Brien – The Dock and the Scaffold – umfasste, wie der Titel schon sagte, neben der Beschreibung der brutalen Hinrichtung auch einen Abriss des Gerichtsprozesses, bei dem die Angeklagten ihr Urteil mit erhobenen Händen und dem später zum Hymnus erhobenen Segenswusch „God Save Ireland“ quittiert hatten. Eben diese Szene wurde in dem Druck auch visualisiert. Bereits an dieser Stelle und ausgehend vom eigenen expressiven Handeln begann also der Rollenwechsel vom Angeklagten zum Märtyrer55 (Abb. 4). 1867) mit dem Text eines Briefs von O’Brien findet sich in der Sammlung der Bibliothek der University of Pittsburgh, AIS.1977.14. 51  Technisch reproduzierbare Quasi-Reliquien gab es bereits Zeitalter der Reformation, und zwar auch im protestantischen Umfeld, vgl. dazu Ulinka Rublack, „Grapho-Relics. Lutheranism and the Materialization of the Word“, in: Past & Present, Bd. 206 (2010), S. 144–166; Lyndal Roper, „Luther relics“, in: Jennifer Spinks/Dagmar Eichberger (Hrsg.), Religion, the Supernatural and Visual Culture in Early Modern Europe. An album amicorum for Charles Zika (Studies in Medieval and Reformation Traditions, 191), Leiden 2015, S. 330–353; Alexandra Walsham, „The Pope’s Merchandise and the Jesuits’ Trumpery. Catholic Relics and Protestant Polemic in Post-Reformation England“, in: ebd., S. 370–409. 52  National Library of Ireland, MS 49,491/2/401XXL. 53  Sarah Covington, „ ‚The tribunals of Christ and of man‘. Law and the making of martyrs in early modern England“, in: Mortality, Bd. 19 (2014), S. 134–150. 54  Die Martyrologisierung der Scottish Political Martyrs (1794), der Königin Caroline und der Repeal Martyrs (1844) fußte ganz erheblich auf dem als Leidensprozess dargestellten Gerichtsverfahren. Es musste gar nicht zum Äußersten einer Hinrichtung kommen. 55  Der Rollenwechsel setzte sich vor allem auch bei der Hinrichtung fort, bei der sich die Verurteilten standhaft gezeigt hatten und damit Anknüpfungspunkte für eine



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Abb. 4: Die Stilisierung von Larkin, Allen und O’Brien vor Gericht trug ebenfalls dazu bei, dass aus ihnen die „Manchester Martyrs“ wurden, in: Timothy D. Sullivan, Guilty Or Not Guilty?: Speeches from the Dock, Or Protests Of Irish Patriotism, Containing, with Introductory Sketches and Biographical Notices, Speeches Delivered After Conviction, Dublin 1867 (Google Books).

Eingebettet und ergänzt um die Gerichtsreden von Aufständischen oder Unabhängigkeitsaktivisten wie Theobald Wolfe Tone (Suizid 1798), Robert Emmet (hingerichtet 1803), John Martin, William Smith O’Brien und John Mitchell (1848/1849 zeitweilig verbannt) oder Thomas C. Luby (langjährige Haftstrafe 1865) entstand mit den Speeches from the Dock eine neuartige politische Martyrologie, die die Protests of Irish Patriotism beim Gerichtsprozess in den Mittelpunkt stellte und die damit zu einem der einflussreichsten irischen Bücher des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurde.56 Mit den Manchester Martyrs hatte sich das Martyrium als Deutungsweise endgültig in die irische Unabhängigkeitsbewegung eingeschrieben, und zwar sowohl in einem historischen Sinne, wie die Speeches from the Dock zeigten und die jährlichen Trauermärsche und Monumente bewiesen, als auch als Muster für weitere Aktivisten. Wer für Freiheit und Nation Leiden oder sogar

entsprechend heroisierende Darstellung der Vorgänge in der ihnen zugeneigten Publizistik boten, vgl. dazu Owens, Constructing the martyrs, S. 20 f. 56  Die Publikation wurden dutzendfach wieder aufgelegt und erschien auch in den Vereinigten Staaten, vgl. McGee, „ ‚God Save Ireland‘ “, S. 53 f.

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den eigenen Tod in Kauf nahm, wurde mit einiger Sicherheit als Märtyrer verehrt und auch als Vorbild für andere Aktivisten gehandelt. Allerdings kannte das Deutungsmuster auch klare Grenzen: Die Sprengstoff- und Dynamitanschläge der Fenier ließen sich damit nämlich nicht aufwerten. Als Michael Barrett im Mai 1868 in London hingerichtet wurde, blieben Märtyrer-Zuschreibungen aus.57 Kein Wunder, wurde Barrett doch für die Explosion am Clerkenwell-Gefängnis in London verantwortlich gemacht, mit der inhaftierte Fenier befreit werden sollten, die jedoch ganze Straßenzüge verheerte, zwölf Menschen das Leben kostete und über hundert verletzte. Dafür hatte dann auch Karl Marx kein Verständnis mehr.58 Die Idee des Martyriums vermengte sich also gerade nicht mit dem in dieser Zeit entstehenden Terrorismus der Fenier, sondern blieb an das passive Erleiden staatlicher Gewalt- und Tötungshandlungen gebunden. Dabei erwies sich das Deutungsmuster aber immer wieder als hochgradig mobilisierend.59 So wurde der Osteraufstand von 1916 erst durch die Erschießung von 15 Rädelsführern, die wiederum postwendend zu Märtyrern erklärt wurden, zu einer Wegmarke auf dem Weg zur Unabhängigkeit – und nicht nur zu einer weiteren erfolglosen Rebellion60 (Abb. 5). Sakralisierung als Form der Heroisierung: Über die säkularen Dimensionen des Martyriums irischer Unabhängigkeitskämpfer Der Märtyrerkult in der irischen Unabhängigkeitsbewegung war offensichtlich ein Beispiel für die Sakralisierung der Nation oder des Nationalen als ein Kennzeichen des 19. Jahrhunderts, das die historische Forschung in 57  Guy Beiner, „Fenianism and the Martyrdom-Terrorism Nexus in Ireland before Independence“, in: Dominic Janes/Alex Houen (Hrsg.), Martyrdom and terrorism. Pre-modern to contemporary perspectives, New York 2014, S. 199–220, hier S. 208 f. 58  André Krischer, „Verräter, Verschwörer, Terroristen. Juristische Klassifikationen, gesellschaftliche Wahrnehmungen und Visualisierungen von politischer Delinquenz und kollektiver Bedrohung in Großbritannien, 16.–19. Jahrhundert“, in: Karl Härter et al. (Hrsg.), Vom Majestätsverbrechen zum Terrorismus. Politische Kriminalität, Recht, Justiz und Polizei zwischen Früher Neuzeit und 20. Jahrhundert (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, 268), Frankfurt am Main 2012, S. 103–160, hier S.  150 ff. 59  Mit dem Verweis auf Märtyrer konnte auch um finanzielle Spenden für den Unabhängigkeitskampf geworben werden, das zeigt etwa ein unter der Signatur MS 17,658/1/6 in der National Library of Ireland aufbewahrtes Flugblatt. 60  Mark McCarthy, „Making Irish Martyrs: The Impact and Legacy of the Execution of the Leaders of the Easter Rising, 1916“, in: Outram/Laybourn (Hrsg.), Secular Martyrdom, S. 165–202.



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Abb. 5: Collage in Erinnerung an die Märtyrer von 1916. Der Verlagsort New York zeigt, dass es sich auch hier um ein transnationales Erinnerungsmedium handelte, aus National Library of Ireland, Call No. PD D41.

den vergangenen Jahren in vielfältiger Weise untersucht hat.61 Sakralisierung, so definierte Martin Schulze Wessel, 61  Vor allem die osteuropäische Geschichte, vgl. etwa Martin Schulze Wessel (Hrsg.), Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation im östlichen Europa (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa, 27), Stuttgart 2006; Stefan Rohdewald, Götter der Nationen. Religiöse Erinnerungsfiguren in Serbien, Bulgarien und Makedonien bis 1944 (Visuelle Geschichtskultur, 14), Berlin 2014; Ricarda Vulpius, Nationalisierung der Religion. Russifizierungspolitik und ukrai-

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„meint die Übertragung von Funktionen und Ausdrucksformen von der Religion auf die Nation, in deren Ergebnis eine Strukturanalogie zwischen der modernen Nation und der Religion entsteht.“62

Mit dieser Definition scheint man auf den ersten Blick auch das Phänomen der politischen Märtyrer Irlands erfassen zu können. Allerdings gab es bei dieser Übertragung verschiedene Transformationskosten: Es handelt sich bei den irischen Märtyrern gerade nicht um Heilige im eigentlichen Wortsinn, weder im Verständnis ihrer Anhänger noch in dem der Kirche. Ebenso wenig starben die dann zu Märtyrern erklärten Männer (und Frauen, wenn man hier auch im größeren Maßstab an die Suffragetten denkt) für ihre religiösen Überzeugungen, so wie das bei den protestantischen und katholischen Märtyrern im Konfessionellen Zeitalter aber eben der Fall gewesen war. Auch der Umstand, dass ihre Hinrichtung von religiösen Praktiken begleitet wurde, von Gebeten und persönlicher Seelsorge, war kein Spezifikum der politischen Märtyrer, sondern ein Kennzeichen der Todesstrafe seit dem 16. Jahrhundert.63 Von den 1916 hingerichteten Aufständischen weiß man, dass sie vor der Hinrichtung aus ihrem Gottvertrauen Trost schöpften,64 aber das traf auch auf andere zum Tode Verurteilte zu. Politische Märtyrer verstanden ihren Tod in vielen Fällen auch nicht als selbstgewähltes Opfer.65 Anders als die katholischen Märtyrer im elisabethanischen Zeitalter, die ihren Tod durchaus in Kauf genommen hatten, sehnten sich keineswegs alle politischen Märtyrer des 19. Jahrhunderts nach dem Schafott oder dem Tod im Kugelhagel. Bei Larkin, Allen und O’Brien verlangte vielmehr die öffentliche Meinung in England nach einer unerbittlichen Reaktion. Anders als Engels sahen die Kommentatoren der Tageszeitungen in den drei Angeklagten nämlich keine zukünftigen Märtyrer, sondern Polizistenmörder.66 Ob die späteren Manchester Martyrs in Revision gegangen wären, wenn dies möglich gewenische

Nationsbildung 1860–1920 (Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 64), Wiesbaden 2005; Marek Nekula, Tod und Auferstehung einer Nation. Der Traum vom Pantheon in der tschechischen Literatur und Kultur (Bausteine zur slavischen Philologie und Kulturgeschichte, 79), Köln 2017. Vgl. auch die Beiträge von Stefan Rohdewald, Robert Green und die Einleitung von Liliya Berezhnaya im vorliegenden Band. 62  Martin Schulze Wessel, „Die Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation im östlichen Europa“, in: ders. (Hrsg.), Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation, S. 7–14, hier S. 7. 63  Peter Schuster, Verbrecher, Opfer, Heilige. Eine Geschichte des Tötens, Stuttgart 2016, S. 74 ff. 64  Braun, Terrorismus und Freiheitskampf, S. 350. 65  Vgl. im Unterschied dazu Yuliya Minkova, Making Martyrs. The Language of Sacrifice in Russian Culture from Stalin to Putin (Rochester Studies in East and Central Europe, 20), Melton 2018. 66  Beiner, „Fenianism“, S. 204.



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sen wäre? Wir wissen es nicht, aber Daniel O’Connell, auf den „nur“ das Gefängnis wartete, hat eben diesen Gang in die zweite Instanz versucht, am Ende sogar mit Erfolg. Und genauso wenig wie die politischen Märtyrer vor dem Unabhängigkeitskrieg den Tod suchten oder billigend in Kauf nahmen, war auch für ihre Anhänger das Sterben ein Kriterium für ein Martyrium.67 Ein als Unrechtstribunal wahrgenommener Gerichtsprozess und eine Gefängnisstrafe reichte im Grunde schon aus, damit für ihre Gefolgschaft aus den Verurteilten Märtyrer werden konnten. Mit Sicherheit war die tief verwurzelte Religiosität gerade der irischen Bevölkerung ein wichtiger Grund für die Popularität der politischen Märtyrer-Figuren.68 Dennoch ist diese Figuration nicht unbedingt ein Indiz dafür, dass es im 19. Jahrhundert um eine Aufweichung oder Entdifferenzierung der Systemgrenzen zwischen Religion und Politik ging.69 Das politische Martyrium war ein säkulares Martyrium, was sich auch daran zeigte, dass es konfessionsübergreifend funktionierte. Die Protestanten Theobald Wolfe Tone, Robert Emmet oder William Smith O’Brien standen in den Speeches from the Dock, also dem irischen Martyrologium, ganz selbstverständlich neben den Katholiken Allen, Larkin und Michael O’Brien. Im 19. Jahrhundert diente Religion, so hat Rudolf Schlögl erklärt, dem nation building als Archiv für allerlei Praktiken, Rituale und Semantiken, mit „denen Völker als politische Einheiten und Erinnerungsgemeinschaften Identität gewinnen konnten“.70 Aus dieser säkular-funktionalen Perspektive erscheint die Sakralisierung irischer Unabhängigkeitskämpfer als eine bestimmte Form der Heroisierung, die sich im Archiv des Religiösen aus drei Beständen bediente: 1. Die Semantik des Martyriums diente dazu, dem (wie auch immer gearteten) Leiden unter dem britischen Macht- und Herrschaftsapparat einen hö67  Als Märtyrer verehrt wurden auch Personen, die eines natürlichen Todes gestorben waren, vgl. McBride, „Memory and national identity“, S. 31. 68  Braun, Terrorismus und Freiheitskampf, S. 312. 69  Zur Differenzierung von Religion und Politik in der Neuzeit und zur Unumkehrbarkeit von Säkularisierung vgl. meine Positionen in André Krischer, „Strafpredigten: Eine Fallstudie zur Differenzierung von Recht und Religion in England, 1600–1800“, in: Gabriel/Gärtner/Pollack (Hrsg.), Umstrittene Säkularisierung, S. 252–279; ders., „The Religious Discourse on Criminal Law in England, 1600–1800: From a Theology of Trial to a Theology of Punishment“, in: Volker Depkat/Jürgen Martschukat (Hrsg.), Religion and Politics in Europe and the United States: Transnational Historical Approaches, Washington/Baltimore 2012, S. 85–99. 70  Rudolf Schlögl, Alter Glaube und moderne Welt. Europäisches Christentum im Umbruch 1750–1850, Frankfurt am Main 2013, S. 221, vgl. auch zur Idee des Archivs S.  208 f. Sarah Thieme spricht in ihrem Beitrag in diesem Band treffend von „Sakraltransfer,“ vgl. oben, S. 305.

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heren Sinn abzugewinnen: Verurteilungen, Verbannungen, Haftstrafen und das Schafott galten dann nicht nur als bedauerliche Einzelschicksale, sondern als heroische Passionen im Namen der Nation. Die ausführlichen, zum Teil sogar wortwörtlichen Beschreibungen von Gerichtsprozessen oder Hinrichtungen dienten dem identifizierenden Nacherleben solcher Passionen – ganz so wie auch bei den Martyrologien des Konfessionellen Zeitalters. Damit wurde, beginnend in den 1840er Jahren, auch eine Semantik neu modelliert, innerhalb derer mit Märtyrern bis dahin im Wesentlichen englische Protestanten als Opfer „papistischer“ (und damit auch irischer) Gräueltaten gemeint waren. Dass mit Märtyrern im 19. Jahrhundert nun auch und zunehmend vor allem (katholische und protestantische) Iren gemeint waren, kann als erfolgreiche Anverwandlung einer Semantik verstanden werden, die lange Zeit zur Sakralisierung des englischen Protestantismus diente, der sich demnach allen Anfechtungen zum Trotz als die elect nation erwiesen hatte.71 Dabei sollte man Semantik aber nicht mit Texten gleichsetzen. Denn mindestens ebenso wichtig, vielleicht sogar noch wichtiger, waren Bilder, die ebenfalls bestimmten Topoi und Konventionen folgten, eben einer bestimmten visuellen Semantik.72 Auch auf diesem Feld kann man von kultureller Aneignung sprechen, denn Bilder waren auch schon in den anglo-protestantischen Martyrologien zentralen Medien. Die erhebliche Wirkung der politischen Märtyrer der Iren kann nur mit Verweis auf ihre vielfältigen Visualisierungen hinreichend erklärt werden. 2. Die Rituale des politischen Martyriums fußten zum einem auf dem ritualisierten Vollzug der Todesstrafe, bei dem der Delinquent seine Sünden bereuen und um Vergebung bitten sollte. Solche Buß- und Anerkennungsrituale verweigerten die „Märtyrer“ jedoch und nutzten das Schafott stattdessen zur Artikulation ihrer (politischen) Glaubensüberzeugungen, denen als letzte Worte von Todgeweihten eine große Wahrhaftigkeit zugeschrieben wurde.73 Wie gesehen, konnten zum anderen auch weniger formalisierte Rituale wie die Gestik von Angeklagten vor Gericht Anknüpfungspunkte für MärtyrerZuschreibungen werden. Zum dritten trugen aber vor allem öffentliche 71  Vgl. zur Sakralisierung von Konfession und Politik im frühneuzeitlichen England: Matthias Pohlig, „Konfessionskulturelle Deutungsmuster internationaler Konflikte um 1600 – Kreuzzug, Antichrist, Tausendjähriges Reich“, in: Archiv für Reformationsgeschichte  – Archive for Reformation History, Bd. 93 (2002), S. 278–316; Andreas Pecar, Macht der Schrift. Politischer Biblizismus in Schottland und England zwischen Reformation und Bürgerkrieg (1534–1642) (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 69), München 2011; Ronald G. Asch, Sacral Kingship Between Disenchantment and Re-enchantment. The French and English Monarchies 1587–1688 (Studies in British and Imperial History, 2), New York 2014. 72  Vgl. dazu auch Owens, Constructing the martyrs, S. 32 ff. 73  Andrea McKenzie, „God’s tribunal. Guilt, innocence, and execution in England, 1675–1775“, in: Cultural and Social History, Bd. 3 (2006), S. 121–144.



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Kundgebungen zur Konstitution von politischen Märtyrern bei – Kundgebungen, deren Veranstalter und Mitwirkende sich ganz erheblich aus dem Formenschatz von Prozessionen und Begräbniszeremonien bedienten.74 Den Höhepunkt erreichten diese Großrituale über ganz Irland verteilt im Jahr 1898, im Gedenken an den Aufstand von 1798 und den nunmehr gleichsam als politisch-republikanischen Protomärtyrer gehandelten Wolfe Tone.75 Solche Rituale setzten fraglos enorme Emotionen frei. Diese Trauerkundgebungen, bei denen nicht selten mit großer Ernsthaftigkeit Begräbnisse nachgestellt wurden,76 fungierten aber nicht allein als Medien der gemeinschafsstiftenden Erinnerung. Vielmehr wurde mit ihnen auch öffentlicher Raum erobert, dessen ritueller Kalender bis dahin vor allem durch die jährlichen Paraden protestantischer bzw. nach 1800 unionistischer Verbindungen und Bruderschaften dominiert worden war.77 Anders als bei der Semantik des Martyriums gab es bei den Ritualen also nicht einfach eine Verschiebung. Vielmehr traten die protestantisch-unionistischen und die republikanisch-katholischen Großrituale in eine Konkurrenz miteinander.78 3. Aus den Beständen religiöser Praxis bezog das politische Martyrium z. B. das Hervorbringen, Sammeln und Zirkulieren von Quasi-Reliquien wie den Bildercollagen, Unterschriften-Faksimiles und Briefen der Märtyrer. Das Lesen von Martyrologien wie den Speeches from the Dock gehörte ebenso zu den politisch anverwandelten Sakralpraktiken wie die Errichtung von Grabstätten, deren säkulare Variante wiederum die Errichtung von Monumenten darstellte, die im öffentlichen Raum einen Kontrast zu den Nelson- und Wellington-Denkmälern darstellten.79 74  McGee, „ ‚God Save Ireland‘ “; Pauric Travers, „ ‚Our Fenian dead‘. Glasnevin cemetery and the genesis of the republican funeral“, in: James Kelly/ Uáitéar Mac Gearailt (Hrsg.), Dublin and Dubliners. Essays in the history and literature of Dublin city, Dublin 1990, S. 52–72. 75  Sophie Ollivier, „Presence and absence of Wolfe Tone during the centenary commemoration of the 1798 rebellion“, in: Laurence M. Geary (Hrsg.), Rebellion and remembrance in modern Ireland, Dublin 2001, S. 175–184; Alison O’Malley-Younger, „Lowering the Tone. Wolfe Tone in 1898 – Commemoration and Commodification“, in: John Miller/Patrick Lyons/Willy Maley (Hrsg.), Romantic Ireland. From Tone to Gonne; fresh perspectives on nineteenth-century Ireland, Newcastle upon Tyne 2013, S. 186–202. 76  Owens, Constructing the martyrs, S. 25 ff. 77  In Dublin gab es bereits in den 1740er Jahren Umzüge im Gedenken an den Sieg des als protestantischen Helden verehrten Königs Wilhelm III. bei der Schlacht an der Boyne 1690, vgl. McBride, „Memory and national identity“, S. 18. 78  Vgl. dazu die Beiträge in Thomas G. Fraser (Hrsg.), The Irish Parading Tradition. Following the Drum (Ethnic and Intercommunity Conflict Series), Basingstoke 2000. 79  Gary Owens, „Nationalist monuments in Ireland, c. 1870–1914. Symbolism and ritual“, in: Ireland: A journal of history and society, Bd. 1 (1994), S. 103–117.

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Gerade die Denkmäler und damit verbundenen Errichtungsfeierlichkeiten zeigen, dass politische Märtyrer nicht nur durch Sakralisierungen hervorgebracht wurden, sondern auch durch säkulare Medien und Rituale. Religion konnte, so noch einmal Schlögl, im 19. Jahrhundert „im politischen Raum keinen Anspruch darauf erheben, in ihren symbolischen Eigenwerten ernst genommen zu werden. Sie musste sich Umcodierungen, Entstellungen und synkretistischen Vermischungen mit anderen Symbolwelten gefallen las­ sen.“80 Politische Märtyrer im Irland des 19. Jahrhunderts, so kann man schlussfolgern, standen somit in der Tat für eine Heroisierung, die religiöse Bezüge aufgriff, sich bei weitem aber nicht darin erschöpfte. Diese Figuren standen nicht für die Durchdringung des Politischen mit Religion, sondern für einen rituellen und symbolischen Eklektizismus. Damit ließ sich aber durchaus eine Sakralisierung des Leidens und Sterbens für Freiheit und Nation erreichen – erkennbar an dem großen Erfolg, den das Deutungsmuster Martyrium für die nach Unabhängigkeit strebenden Iren im 19. und frühen 20. Jahrhundert besaß. Das heißt aber auch, dass religiöse Bezüge bzw. die Sakralisierung politischer Helden keineswegs trivial oder austauschbar gewesen wären. Religion war mehr als nur politisches Dekorum. Die fortwährende Typisierung irischer Unabhängigkeitskämpfer als Märtyrer besaß für eine immer noch religiös orientierte Gesellschaft nicht nur ein hohes identifikatorisches Potenzial und trug auf diese Weise zum nation building bei. Es handelte sich dabei zudem um sakralisierte Helden der Nation, die Modelle darstellten, auf die spätestens im Unabhängigkeitskrieg zurückgegriffen wurde, wenn etwa Terence James MacSwiney 1920 in den Hungerstreik trat und daran verstarb.81 Eine Erinnerungskultur, die auf Märtyrern gründet, neigt darüber hinaus zur dogmatischen Abschließung, das zeigte bereits die Geschichte des konfessionellen Martyriums.82 Auch die Unerbittlichkeit des anglo-irischen Antagonismus im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert lässt sich nicht zuletzt auf die Märtyrersymbolik zurückführen. Insofern kann man es als gutes, versöhn­ liches Zeichen werten, dass 2017, 150 Jahre nach der Hinrichtung der Manchester Martyrs, bei den Gedenkmärschen in den irischen Städten nur eine überschaubare Zahl von Menschen mitwirkte.

80  Schlögl,

Alter Glaube und moderne Welt, S. 211. M. Scull, „The Catholic Church and the Hunger Strikes of Terence MacSwiney and Bobby Sands“, in: Irish Political Studies, Bd. 31 (2016), S. 282–299; Braun, Terrorismus, S. 323–398. 82  Gregory, Salvation at stake. 81  Margaret

Militant Patriotism: The Image and Cult of Patriarch St. Germogen in Late Imperial Russia By Robert H. Greene A surge of “jubileemania” swept over Russian public life in the last years of the tsarist regime.1 Russian patriots, clergy, and civic boosters staged public gatherings, processions, parades, speeches, lectures, religious services, musical performances, and school programs across the empire to mark such national anniversaries as the bicentenary of the Battle of Poltava (1909), the centenary of Russia’s victory over Napoleon in the Fatherland War (1912), and the tercentenary of the Romanov dynasty’s accession to the throne (1913).2 Organizers saw the commemoration of great moments in Russian history as welcome occasions for the cultivation of civic pride and national identity among the populace. One promoter, the historian and state censor Vladimir Nazarevskii, insisted such efforts were long overdue: “We Russians, unlike other peoples who have surpassed us in education, know little of our own National History and honor insufficiently its major events and great heroes.”

Nazarevskii explained that jubilee celebrations presented “pleasant opportunities” for conscientious and dutiful members of educated society, the Rus­ sian Orthodox Church, and imperial state institutions to teach the Russian

My thanks to Liliya Berezhnaya, Justin Fox, Vadim Jigoulov and Kyle G. Volk for their insightful comments. Research support was provided by the Boone-Hall Fund for Faculty Development, Department of History, University of Montana (USA). 1    George Gilbert, The Radical Right in Late Imperial Russia: Dreams of a True Fatherland?, London 2016, p. 128. 2  On the politics of commemoration in a pan-European context, see the essays in Thomas G. Otte (ed.), The Age of Anniversaries: The Cult of Commemoration, 1895–1925, London 2017; on the aspirations (and failures) of such commemorative efforts in the late Russian empire, see Richard S. Wortman, “ ‘Invisible Threads’: The Historical Imagery of the Romanov Tercentenary”, in: Russian History, vol. 16 (1989), p. 389–408; and Konstantin Tsimbaev, “Die Orthodoxe Kirche im Einsatz für das Imperium: Kirche, Staat und Volk in den Jubiläumsfeiern des ausgehenden Zarenreichs”, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, vol. 52 (2004), p. 355–370.

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people about their nation’s glorious history and “to broaden and deepen our understanding of our historical past.”3 In the early twentieth century, the politics of commemoration took on added significance for Orthodox traditionalists, cultural conservatives, defenders of the autocracy, and those on the newly emergent political right. Fearing that their imagined national community was being rent asunder along widening social and political fault lines, such individuals and groups looked to the Russian past for meaningful symbols and slogans that might serve to remedy the recent upheavals of the 1905 Revolution and reestablish the tottering polity on a firm foundation of Orthodoxy, autocracy, and nationality. Right-wing actors and Orthodox activists sought to forge what historian Argyrios Pisiotis has described as a “new blend of Russian nationalism that would be resistant to the atheism and anticlericalism of modernist identities that had been eroding Orthodoxy’s influence since the last quarter of the nineteenth century.”4 In seeking to project a programmatic vision of national unity through a carefully cultivated celebration of an heroicized, romanticized Russian past, a number of patriotic societies, right-wing organizations, lay confraternities, and clerical publicists set their sights on the figure of Patriarch Germogen († 1612), the Orthodox hierarch and patriot who had played a key role in galvanizing national resistance to foreign occupation, political unrest, and social tumult during the so-called Time of Troubles (1598–1613). In the years leading up to the empire-wide celebrations that marked the threehundredth anniversary of Germogen’s martyrdom in 1912 and his official canonization in 1913, the patriarch’s champions deployed modern techniques of the mass press and public spectacle to reimagine and repackage the seventeenth-century holy man as a living symbol of the rugged faith and militant patriotism that the Russian nation needed to reembrace in the modern age. Though he had never fought in battle and was not a military saint per se, Germogen was impressed into posthumous national service and recast by his latter-day promoters as a “true warrior-knight (bogatyr’) of the Orthodox Russian national spirit” and “valiantly fearless savior of the

3  Vladimir Vladimirovich Nazarevskii, Patriarkh Germogen, narodnyia opolcheniia D. M. Pozharskago i K. Z. Minina i izbranie na tsarstvo Mikhaila Feodorovicha Romanova. K trekhvekovym iubileiam 1912 i 1913 godov, Moscow 1911, p. 3. 4  Argyrios K. Pisiotis, “Russian Orthodoxy and the Politics of National Identity in Early Twentieth Century”, in: Balkan Studies, vol. 42 (2001), p. 225–243, here p. 226. On nationalization of Russian Empire, see also Rafael Utz, Rußlands unbrauchbare Vergangenheit. Nationalismus und Außenpolitik im Zarenreich (Forschungen zur ­Osteuropäischen Geschichte, 73), Wiesbaden 2008. For a comparative approach, see Stefan Berger/Alexei Miller (eds.), Nationalizing Empires, Budapest/New York 2014.



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fatherland.”5 Thus, three hundred years after his martyr’s death, the patriarch was enlisted to serve in a rightist crusade to defend Holy Rus’ from a formidable host of contemporary enemies – secularism, sectarianism, and socialism – that threatened to plunge the nation into a new Time of Troubles. Even as promoters sought to project and disseminate an image of Germogen as national savior, the testimony of ordinary Orthodox believers reveals another side to the patriot saint. Evidence from early-twentieth-century miracle stories shows that the faithful turned to their heavenly champion less for patriotic inspiration than for miraculous cures and healings. The same qualities of selfless sacrifice that made Germogen so attractive a symbol for the nationalist right endeared him also to Orthodox believers who counted on the holy man to take upon himself their sufferings and render timely aid in their moment of need. As the publicist and lay church activist Pavel Rossiev explained in a 1912 pamphlet, Germogen’s record of service to the Russian nation stretched across time and space and established a connection of continuity that bound the present-day Russian empire to its Orthodox Muscovite past: “In the woeful years of the interregnum, the elder [Germogen] tended to those weakened in spirit, now from his grave he heals those sick in body. As he served Russia in life, so he serves her still, even in death, as a prayerful intercessor before the throne of the Most High.”6

The two modalities of the patriarch saint – military patriot and miraculous healer – were not competing, but complementary; each served to reinforce the other. The multivalent nature of the saint’s cult rendered him a sort of superscribed symbol whom different audiences imagined and interacted with in various ways, thus preventing the right from establishing sole custody over the multiple meanings that believers attached to the patriarch’s image and memory.7

5  Sergei Ivanovich Chernyshev, Sviateishii vserossiiskii patriarkh Germogen v ego samootverzhennom sluzhenii bedstvuiushchemu otechestvu, Kiev 1912, p. 1–2. On the political and national uses of military saints and martyrs, see Frithjof Benjamin Schenk, Aleksandr Nevskij. Heiliger – Fürst – Nationalheld. Eine Erinnerungsfigur im russischen kulturellen Gedächtnis (1263–2000), Cologne 2004; and Lucy Riall, “Martyr Cults in Nineteenth-Century Italy”, in: Journal of Modern History, vol. 82 (2010), p. 255–287. 6  Pavel Rossiev, Velikii pechal’nik za rodinu, Patriarkh Germogen. Istoricheskii ocherk, Moscow 1912, p. 24. 7  My thinking on the multiple concurrent images and conceptions of Germogen is influenced by Prasenjit Duara, “Superscribing Symbols: The Myth of Guandi, Chinese God of War”, Journal of Asian Studies, vol. 47 (1988), p. 778–795.

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The Patriarch as Patriot Patriarch Germogen was an apt choice for promoters to select as the subject of their patriotic campaign.8 Born around 1530, Germogen became a parish priest in Kazan. Tradition holds that the hidden resting place of the miracle-working icon of the Kazan Mother of God, long thought to be lost, was revealed to the young priest in a dream; its subsequent discovery made Germogen’s reputation and provided a lifelong accelerant for his clerical career. After taking monastic orders, Germogen was named archimandrite of the Spaso-Preobrazhenskii monastery and, in 1589, ordained as the first metropolitan of Kazan. As metropolitan, Germogen presided over the ceremonial opening (otkrytie) of the holy relics of the miracle-working saints Gurii (c. 1500–1563) and Varsonofii (c. 1495–1576), whose vitae he composed. Muscovite tradition held that the discovery and exaltation of new local saints was a special sign of God’s love for a particular region. Germogen’s vigorous promotion of the cults of Gurii and Varsonofii and his missionary efforts among the Volga Tatars helped further the cultural assimilation of the newlyacquired Kazan lands and would earn him in subsequent centuries the reputation of an advocate for national unification and integrity.9 Germogen was elected patriarch in the summer of 1606 at the height of the Time of Troubles. As head of the Russian Church, Germogen struggled to defend the twin institutions of Orthodoxy and autocracy against the triple threat of social unrest, civil war, and foreign invasion. “In this period of national crisis,” historian Harvey Goldblatt explains, “the saintly image of the Muscovite patriarch came to symbolize the spirit of resistance to Catholic Poland and the defense of Russian Orthodoxy […] When the Muscovite state appeared to be on the verge of collapse, the image of Germogen became the personification of Russian patriotism.”10 Germogen expended political capital in support of the legitimate tsar, Vasilii Shuiskii (r. 1606–1610), 8  The biographical information on Germogen in the paragraphs that follow is taken from Archimandrite Iosif (Levitskii), Kratkiia svedeniia o vserossiiskikh patriarkakh, Moscow 1871, p. 6–7; Mark Semenovich Mogilev, Russkoe dukhovenstvo v Smutnoe Vremia, Petrozavodsk 1905; Ivan Mikhailovich Pokrovskii, Germogen, mitropolit Kazanskii i Astrakhanskii, vposledstvii patriarkh Vserossiiskii, pervyi mestnyi du­ khovnyi pisatel’-istorik, i ego zaslugi dlia Kazani (s 1579 po 1606 g.), Kazan 1907; and Nikolai Gavrilovich Vysotskii, “Germogen”, in: Aleksandr Polovtsev (ed.), Russkii biograficheskii slovar’, vol. 5, St. Petersburg 1916, p. 64–76. 9  Matthew P. Romaniello, The Elusive Empire: Kazan and the Creation of Russia, 1552–1671, Madison 2012, ch. 1–2. 10  Harvey Goldblatt, “Orthodox Slavic Heritage and National Consciousness: Aspects of the East Slavic and South Slavic National Revivals”, in: Harvard Ukrainian Studies, vol. 10 (1986), p. 335–354, here p. 344. See also Isaiah Gruber, Orthodox Russia in Crisis: Church and Nation in the Time of Troubles, DeKalb 2012.



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against the claims of rival pretenders, and pronounced anathema against the peasant rebel Ivan Bolotnikov (1565–1608) and his supporters. When Polish forces took Moscow, Germogen refused to give ecclesial sanction to their plans to install a foreign-born Catholic king in the Kremlin, reserving his blessing instead for the efforts of Kuzma Minin († 1616), Prince Dmitrii Pozharskii (1577–1642), and other patriots who raised volunteer armies to liberate the Russian lands. Though beaten, imprisoned, and starved by his Polish captors, the patriarch persisted in encouraging the Orthodox faithful in his pastoral letters to stand for their faith and fight for their fatherland. After nine months of confinement in the cellars beneath the Chudov monastery in the Moscow Kremlin, Patriarch Germogen died a martyr’s death on 17 February 1612. In the centuries that followed, Germogen’s life and deeds entered the annals of Russian history. Popular legend maintained that the patriarch had predicted in his final days that the young boyar scion Mikhail Romanov would rise to take “the shattered throne of the tsars” and restore order and legitimacy to the Russian lands. The association between Germogen and the institution of autocracy would remain vivid in the popular imagination, and figure prominently in literary and historical treatments alike.11 The lateeighteenth-century historian Ivan V. Nekhachin praised Germogen’s service to the Russian motherland and his defense of the nation’s distinctive political and spiritual institutions. The patriarch’s ultimate sacrifice, Nekhachin argued, proved him “a genuine Russian and true Patriot.”12 S. Shishkov, writing on the eve of the Patriotic War of 1812, drew on classical parallels to describe the patriarch as “our Regulus,” whose “last breath” was spent in a final prayer for the salvation of the fatherland.13 Though they deployed a more critical analytical lens, nineteenth-century historians of the Russian state and Orthodox Church emphasized Germogen’s role in galvanizing a sense of Russian national identity and defending Russian political sover11  Mikhail Mikhailovich Bogoslovskii, Tri veka tsarstvovaniia Doma Romanovykh (1613–1913), Kazan, 1913, p. 66. See also Daniel B. Rowland, “The Problem of Advice in Muscovite Tales about the Time of Troubles”, Russian History, vol. 6 (1979), p. 259–283; and Andrei Zorin, By Fables Alone: Literature and State Ideology in Late-Eighteenth – Early-Nineteenth-Century Russia, trans. Marcus C. Levitt/Nicole Monnier/Daniel Schlaffy, Boston 2014, ch. 5. 12  Ivan Vasil’evich Nekhachin, Novoe iadro Rossiiskoi istorii, vol. 2, Moscow 1795, p. 231. 13  Aleksandr Semenovich Shishkov, Razsuzhdenie o liubvi k otechestvu, St. Petersburg 1812, p. 18, 21. Taken prisoner by the Carthaginians during the First Punic War, the Roman consul and general Marcus Atilius Regulus was sent to Rome to persuade the Senate to sign a punishing peace. Regulus instead urged his countrymen to continue fighting for their fatherland and surrendered himself to his Carthaginian captors, who tortured and killed him in 250 BC.

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eignty and spiritual autonomy.14 Metropolitan Makarii (Bulgakov) devoted an entire chapter of his multivolume history of the Russian Church to Germogen’s life and career: “The name of Patriarch Germogen must remain immortal in the history of Russia and the Russian Church, because he stood for them more zealously, more courageously, more unwaveringly than all others. He more than anyone else saved [the nation and the church] in the most critical moments of their existence.”15

Surveying the historiography on the Time of Troubles, Feodosii Ivanov, an Orthodox priest writing in the early twentieth century, summed up the scholarly consensus on the patriarch’s immortal legacy: “As the pillar of the church and fatherland, he stood unshakeable even as all of Russia shook […]. Every historian of our fatherland considers the historical services rendered by Patriarch Germogen during the Time of Troubles to be incontestable.”16

Russians knew Germogen not by reputation and reading alone, but also through the visible, tangible presence of his bodily remains. Following the expulsion of the Poles from Moscow in 1612, Germogen’s body was transferred to the Uspenskii Cathedral in the Moscow Kremlin and buried in a simple wooden coffin. During restoration work on the cathedral in 1652, the patriarch’s remains were found to be uncorrupted, and Tsar Aleksei Mikhailovich (1629–1676) ordered Germogen’s body to be reinterred in a place of honor in the southwest corner of the cathedral. The wooden coffin lay on a platform beneath a bronze tented canopy alongside, but elevated above, the resting places of eight other Muscovite prelates.17 In 1812, when Napoleon’s Grande Armeé occupied Moscow, French soldiers looted the Uspenskii Cathedral and desecrated the clerical tombs therein. After Napoleon’s retreat, the Church’s examination of the patriarch’s remains confirmed that they had remained intact despite the outrage, and the gravesites were duly restored.18 Nineteenth-century worshipers and sightseers who visited the Uspenskii Cathedral may have felt that Germogen’s tomb seemed a rather unremarkable structure for such an extraordinary figure. The historian and statesman Dmitrii Bantysh-Kamenskii (1788–1850), who visited the patri14  See the excerpts from Karamzin, Zabelin, Solov’ev, Aksakov, Kostomarov, Ilovaiskii, and Platonov in Vladimir Alekseevich Volkov, Patriarkh Germogen, Moscow 2015, p. 242–278. 15  Metropolitan Makarii (Bulgakov), Istoriia Russkoi tserkvi, vol. 10, part 1, St. Petersburg 1881, p. 163. 16  Feodosii Ivanov, Tserkov’ v epokhu Smutnago vremeni na Rusi, Ekaterinoslav 1906, p. 197, 201. 17  Dmitrii Savvateevich Dmitriev, Patriarkh Germogen, Moscow 1906, p. 22. 18  Rossiiskii Gosudarstvennyi Istoricheskii Arkhiv (RGIA), f. 797, op. 2, g. 1812, d. 5295, ll. 1–16.



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arch’s grave some years before Napoleon’s forces, found the simplicity fitting: “An unassuming wooden grave, without inscription, without adornment, has a greater effect on the heart of a discerning, grateful Russian than a proud, opulent mausoleum; especially when it serves as a monument to an esteemed elder who sacrificed everything, even his very life, for the salvation of his fatherland, for the salvation of Russia. Germogen, beneath this wooden monument, remains Germogen! […] One look at this simple, humble monument produced such an indescribable stirring in my soul.”19

The stirring that Bantysh-Kamenskii and other nineteenth-century visitors may have felt while standing at Germogen’s grave was more likely the tug of patriotism than a sense of the miraculous. Late-seventeenth- and earlyeighteenth-century manuscripts refer to Germogen as a “new confessor for the holy faith and Orthodox Rus’,” but it was only in the early years of the twentieth century that the patriarch would acquire the popular reputation of a proven miracle-worker.20 Though Germogen’s body was said to be uncorrupted – a condition associated with saintliness in the Orthodox imagination – Bantysh-Kamenskii tellingly referred to Germogen’s “remains” (prakh), not to his holy relics (moshchi). Such a distinction carried great meaning for Orthodox Christians, for while the faithful believed that the latter might work wonders and perform healing cures, the former, as a rule, did not; great men left behind them remains, while the saints in heaven abided yet on earth through the continued presence of their miracle-working relics. Although later sources published to promote Germogen’s canonization and the Romanov dynasty’s tercentenary would invoke the anachronistic image of a continuous column of miracle-seekers filing past the patriarch’s tomb across the ages, there is no contemporary evidence for such practices taking place before the early 1900s.21 Germogen was not included in an 1877 Church inventory of 455 saints with relics on Russian soil, and other nineteenth-century lists of popularly venerated and uncanonized saints pass over 19  Dmitrii Nikolaevich Bantysh-Kamenskii, Rossianin pri grobe patriarkha Germogena, Moscow 21806, p. 3–4. See also Aleksei Alekseevich Gariainov, Spravochnyi listok dlia Moskovskago Kremlia, St. Petersburg 1856, p. 59–62; and Elena Ivanovna Vel’tman, Sviatynia i dostopamiatnosti Moskovskago Kremlia, Moscow 21873, p. 28– 29. 20  Vasilii Mikheevich Borin, Sviateishii patriarkh Germogen i mesto ego zakliucheniia, Moscow 1913, p. 29. 21  Prince Mikhail Sergeevich Putiatin (ed.), Letopisnyi i litsevoi izbornik doma Romanovykh: Istoriko-khudozestvennoe izdanie v oznamenovanie trekhsotletiia tsarstvovaniia, vol. 1, Moscow 1913, p. 105. The same source claimed that an icon “on eighteenth-century wood” depicting Germogen with a halo around his head offered visual evidence that popular belief in the patriarch’s sanctity could be dated back at least to the eighteenth century. The icon was said to have been discovered in a Moscow antiquarian shop in the 1880s: Putiatin (ed.), Letopisnyi, p. 105, footnote 1.

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the patriarch’s name in silence.22 While nineteenth-century guidebooks for Kremlin sightseers list half a dozen saintly prelates whose miracle-working relics were housed at the Uspenskii Cathedral, they make no mention of healing cures or other wonders wrought at Germogen’s grave.23 The publishers of travel literature associated with well-established pilgrimage destinations and holy sites across the empire rarely resisted an opportunity to entice readers with tales of the bountiful miracles that awaited the deserving faithful at the resting places of the holy dead. The absence of such asides in the literature on Germogen suggests, then, that when Russians in the nineteenth century thought of the patriarch they did so first and foremost as a historical figure who had rendered great service to the nation in its hour of need. Not until Germogen’s reputation as a miracle-worker had begun to take hold in the imagination of Orthodox believers would the faithful come to regard his remains as relics and turn to him in search of miraculous intercession, and not until a sufficient corpus of miracle stories had been recorded and confirmed by the clergy would the patriarch become a credible candidate for sainthood.24 “The Great Religious Nationalist of Our Holy Rus’ ” In reaction to the political and social turmoil of the early twentieth century, the rising political right and conservative Orthodox clergy seized on Germogen as a usable symbol, transforming him from a remote historical personage into a figure of real relevance for contemporary Russia. The upheavals wrought by the 1905 Revolution and its aftermath were read by many on the right as a second, and potentially more destructive, Time of Troubles.25 The anonymous author of a 1913 life of Germogen made the 22  Russkaia

sviatynia, St. Petersburg 1877, p. 97–137. Mikhailovich Snegirev, Moskva. Podrobnoe istoricheskoe i arkheologiches­ koe opisanie goroda, vol. 2, Moscow 1873, p. 138–139; Moskva i ee okrestnosti, Moscow 1882, p. 119–120; and Ioann Nikolaevich Bukharev, Prazdniki v chest’ chudotvornykh ikon Gospoda i Presviatoi Bogoroditsy, a takzhe ikon i moshchei sv. ugodnikov Bozhiikh, Moscow 1899. On the saintly cults of the miracle-working prelates Aleksii, Iona, and Petr, see Archimandrite Iosif (Levitskii), O sviatykh ugodnikakh Bozhiikh, Moskovskikh chudotvortsakh, Moscow 1877, p. 3–11. 24  Without a corpus of confirmed miracles, bodily incorruptibility alone was insufficient grounds for canonization in the Russian Orthodox tradition. As one church author explained, “Patriarch Germogen, martyred for the true faith and fatherland, remains uncanonized, even though his body lies uncorrupted and uncovered (netlenno i otkryto).” Stefan Ioannovich Ostroumov, Pis’ma o pravoslavnom blagochestii, St. Petersburg 21907, p. 366. 25  Metropolitan Antonii (Vadkovskii), “Nastoiashchee gore Rossii”, in: Tserkovnyi vestnik, vol. 10 (1905), p. 1. 23  Ivan



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comparison explicit, warning that, just as they had three centuries before, the enemies of Orthodoxy, autocracy, and Russian identity were engaged in a coordinated, multi-front offensive to unseat the national faith and capture the hearts and minds of the Russian people: “In the State Duma, opponents of the Russian national character have prepared draft resolutions to make all faiths equal, to degrade native Orthodoxy […] Various socialists have come forth, boasting that everyone on earth is to be equal, forgetting that God has apportioned different lots to all. First, Tolstoy did not recognize Christ as God and cursed the Church; now, sectarians of various stripes, playing on the ignorance of the people, are devising their own faith to deceive the people, so as to get into their good graces and take their money in exchange for their fabrications. Jews and Freemasons, like cunning snakes, slither into the very bosom of the people; foul theaters, filthy taverns, fetid haunts; markets and bazaars open for business on the Lord’s Day; godless books – this is what is poisoning the Russian people of today, this is what is claiming victims by the thousands, forcing unhappy mothers to weep for the lost souls of their children.”26

Commentators drew invidious comparisons between the moral fiber the nation had possessed in Germogen’s day and the spirit of decline they saw on display around them.27 In a 1912 sermon to mark the anniversary of Germogen’s martyrdom, Vasilii Shchukin, a priest and seminary teacher in Riga, hailed the patriarch as “the great religious nationalist (velikago religioznago natsionalista) of our Holy Rus’,” while lamenting that “in our day there is nothing like that wondrous national religious spirit and holy nationalism (sviatogo natsionalizma) with which the immortal Germogen and his worthy contemporaries burned so brightly.” Even while imprisoned and near death Germogen had mustered the Orthodox faithful to defend their national way of life against the “heathen Poles” and other “foreigners” (inoplemennymi), whereas today “very many Russian intellectuals have made their peace with these same foreigners – with Jews, Poles, Finns, Armenians, Tatars, and so forth – and […] are fully prepared to surrender all that is genuinely Russian.”28 Shchukin still held out hope that a divinely-inspired resurgence of religious patriotism would save the national community: “We must believe that if the Lord God should see fit once more to visit new chastisements, trying and tempering misfortunes, upon His chosen people – Orthodox Rus’ – that new Germogens undoubtedly will appear and rise forth among us! Filled with the spirit and strength of the unforgettable patriarch, they will show the whole world […] that the Russian Orthodox faith still lives in Rus’ and rooted 26  Sviashchennomuchenik Ermogen, patriarkh moskovskii i vseia Rossii chudotovorets, Moscow 1913, p. 18. 27  “Rossiia ermogenovskaia i sovremennaia”, in: Tserkovnyi vestnik, vol. 21 (1913), p. 635–636. 28  Vasilii Vasil’evich Shchukin, Patriarkh Germogen kak predstavitel’ i pobornik natsional’noi religioznosti (1612–1912 g.), Riga 1913, p. 16.

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deeply in the people, that the Russian people are still truly Orthodox, and that Orthodox Rus’ itself is holy still and will remain so until its very end!!!”29

In their embrace of Germogen, right-wing proponents of religious patrio­ tism claimed the patriarch’s memory for themselves, recasting him in their own image and presenting him as a nationalist rallying point for an empire in crisis.30 Although, as archbishop of Kazan, Germogen had drawn no distinction between Orthodox Russians and baptized Tatars, the radical right jettisoned the more inclusive aspects of Germogen’s pastoral career that did not accord with the nationalist narrative they were crafting.31 In a spate of articles, sermons, and public addresses produced in the wake of the 1905 Revolution, the patriarch’s modern-day champions stressed that Germogen’s personal self-sacrifice for the motherland made him a uniquely relevant figure of timely significance for a nation that had once more lost its historical bearings.32 Just as Germogen had lived in an age when “unimaginable chaos and nightmare reigned,” so too was contemporary Russia experiencing a new existential crisis. What better model for national restoration and regeneration than “the savior of order, the furious enemy of anarchy and the Poles, the defender of Orthodoxy, the great elder Patriarch Germogen.”33 Such sentiments resonated with political reactionaries and nationalist chauvinists, especially those affiliated with the Black Hundredist movement (Union of Russian People), whose members supported centralized autocratic power, reviled the revolutionary movement, and rejected the extension of religious tolerance and civil rights to non-Orthodox subjects.34 Officers and 29  Ibid.,

p. 17–18 (emphasis in original). the right’s deployment of salient symbols, see Gilbert, Radical Right, ch. 4; and Heinz-Dietrich Löwe, “Political Symbols and Rituals of the Russian Radical Right, 1900–1914”, in: Slavonic and East European Review, vol. 76 (1998), p. 441– 466. 31  Volga Tatar converts held the patriarch’s memory sacred and from the 1870s forward an icon with his image was among the devotional objects housed in the Kazan Central Baptized-Tatar School. See Agnès Nilüfer Kefeli, Becoming Muslim in Imperial Russia: Conversion, Apostasy, and Literacy, Ithaca 2014, p. 185–186. 32  On the idea of sacrifice in late-imperial patriotic discourse, see Melissa Kirschke Stockdale, Mobilizing the Russian Nation: Patriotism and Citizenship in Russia’s Great War, Cambridge 2016, ch. 3. 33  Aleksandr Nikolaevich Eshenbakh, Velikii pechal’nik zemli Russkoi, Sviateishii Patriarkh Germogen, Moscow 1913, p. 5, 26. 34  On the fractiousness of the political right, whose advocates supported the principle of autocracy if not always the person and policies of the autocrat, see Mikhail Loukianov, “Conservatives and ‘Renewed Russia’, 1907–1914”, in: Slavic Review, vol. 61 (2002), p. 762–786; and Sergei Podbolotov, “Monarchists Against Their Mo­ narch: The Rightists’ Criticism of Tsar Nicholas II”, in: Russian History, vol. 31 (2004), p. 105–120. 30  On



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members of radical right-wing organizations with Black-Hundredist ties held Germogen in high esteem and identified with the patriarch’s struggle to save the nation from foreign infiltration and the contaminating influence of alien faiths.35 In a 1912 sermon in honor of the tercentenary of Germogen’s martyrdom, Archbishop Dimitrii (Sperovskii) of Riazan, a Black Hundredist sympathizer and chairman of the provincial chapter of the Union of Russian People, gave a brief overview of the Time of Troubles and invited his congregation to reflect on the similarities “between those troubled days and the present:” “Just as assorted enemies of the Orthodox Church and Russian state sought then to seize control of Russia and uproot the Orthodox faith and Russian uniqueness (samobytnost’), so now do various folk of foreign birth and foreign faith attack Russia from all sides and, once they’ve destroyed the existing order, seek to create some kind of kingdom of their own.” The archbishop concluded his sermon by reciting Germogen’s final pastoral letter in which the patriarch had called upon the Russian faithful to rise up and fight to liberate the nation from foreign occupation.36 As the professor and religious publicist A. A. Tsarevskii (1855–сa. 1907) explained in a public lecture delivered at Kazan, the patriarch’s enduring example of “selfless sacrifice for a beleaguered fatherland” and “everlasting service to our motherland” made him a worthy subject of national commemoration. Tsarevskii insisted that for “a Russian person who has managed, by the grace of God, to preserve some national Russian feeling in these treacherous and perilous days and to keep within his heart the holy flame of love for his motherland and his nationality” it was a “great and true pleasure” to reflect on the lessons learned from the life of the “greatest Russian patriot.”37 Those lessons were distilled for a popular readership in the pamphlets, dramatic retellings, and digestible biographies of the patriarch that flooded bookstalls, public reading rooms, and parish libraries in the months leading up to Germogen’s tercentenary.38 The patriarch’s publicists and promoters 35  The Black Hundredists’ most beloved heroes were Patriarch Germogen, Kuzma Minin, and Prince Dmitrii Pozharskii. See Anatolii Dmitrievich Stepanov (ed.), Sviatye chernosotentsy, Moscow 2011, p. 8. 36  “Arkhiereiskiia sluzheniia”, in: Riazanskie eparkhial’nye vedomosti, neoffit­ sial’naia chast’, vol. 6/7 (1912), p. 275. The Orthodox hierarchy, of course, was not monolithic in its political outlook and general worldview. On the challenge of reconstructing the political views of the late imperial episcopate, see Argyrios K. Pisiotis, “Between State and Estate: The Political Motivations of the Russian Orthodox Episcopate in the Crisis of Tsarist Monarchy, 1905–1917”, in: Canadian-American Slavic Studies, vol. 46 (2012), p. 335–363. 37  Aleksei Aleksandrovich Tsarevskii, Germogen, sviateishii patriarkh vserossiiskii, v ego samootverzhennom sluzhenii bedstvuiushchemu otechestvu, Kazan 1907, p. 3. 38  See, for example, Boris Shervud, Skazanie v stikakh o Patriarkhe Germogene, Moscow 1912; E. F. Volkova, Patriarkh Germogen. Istoricheskii ocherk iz epokhi

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sought to capture broad audiences so that readers “may regard the upcoming festivities in the right and proper manner.”39 In Chernigov diocese, for example, parish brotherhoods and lay confraternities worked with the bishop to raise 2,500 rubles toward the purchase and distribution of 35,000 copies of “jubilee literature dedicated to the Fatherland War of 1812 and the radiant memory of the most holy patriarch [Germogen].” Such literature, promoters insisted, would serve as a “mighty counterforce to the seductive influence of the pamphlets and brochures of the boulevard and underground press […] and help cast these celebratory events in their proper light.”40 Reprints of Germogen’s own writings were issued on the eve of the tercentenary, but these appear to have garnered little attention save from academicians and scholars.41 Proponents of religious patriotism sought to ensure that Russian children were well acquainted with Germogen’s service to the fatherland. Members of the rightist Union of the Archangel Michael, an offshoot of the Union of Russian People headed by the reactionary Duma deputy Vladimir Purish­ kevich (1870–1920), complained that a popular textbook widely used in zemstvo schools taught schoolchildren the history of the Time of Troubles without a single mention of “the patriotic deeds and martyr’s end of Patriarch Germogen.”42 Fearful that the nation’s schools were preparing a generation of godless radicals ignorant of the richness of Russia’s historical and spiritual legacy, Purishkevich pleaded for patriotic and deep-pocketed elements of the Russian gentry to underwrite the cost of new textbooks that would aid in “the defense of the national spirit against the onslaught of underground and destructive forces.”43 Lithographs and wood-cut illustrations with scenes from the life of Germogen and sheet music with patriotic cantatas about the patriarch were printed en masse by order of the Holy Synod

Smutnago vremeni, 1610–1612, St. Petersburg 1913; Ioasaf Arianovich LiubichKoshurov, V zastenke. Patriarkh Germogen: Istoricheskaia povest’, Moscow 1913. 39  Nazarevskii, Patriarkh Germogen, p. 4. 40  Stepan Grigor’evich Runkevich, Novyi opyt ozhivleniia prikhodskoi samodeiatel’nosti, St. Petersburg 1914, p. 8. 41  Tvoreniia sviateishago Germogena, patriarkha Moskovskago i vseia Rossii, Moscow 1912. A noted linguist and literary scholar declared that Germogen’s manuscript of the discovery of the icon of the Kazan Mother of God revealed the patriarch to be “one of the most educated men of his day, skilled and talented in the literary arts.” See Alexei Ivanovich Sobolevskii, Skazanie o chudotvornoi Kazanskoi ikone Presviatoi Bogoroditsy. Rukopis’ sviateishago patriarkha Germogena, Moscow 1912, p. 8. 42  Shkol’naia podgotovka vtoroi russkoi revoliutsii, St. Petersburg 1913, p. 66. 43  Vladimir Mitrofanovich Purishkevich, “Russkomu dvorianstvu”, in: Shkol’naia podgotovka, p. vi.



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and distributed to children in parish schools.44 A rural correspondent reported in the Riazan diocesan press that schoolchildren brought the illustrations home, and that printed paper images of “the prelate-patriot Germogen” could now be found on the walls of nearly every peasant hut in the village of Nikolaevskaia Tuma.45 So thorough was the patriotic media blitz that the historian Sergei Chernyshev felt confident in assuring an audience of faculty and students at the Kiev Theological Academy that the name of Patriarch Germogen was now known to all men and women across the length and breadth of “vast Russia:” “From the majestically grandiose city cathedrals to the smallest village church; from the royal palaces to the village hut; from the highest reaches of the scholarly world to the humblest village schoolhouse; from learned academic conferences to simple public readings; in the city, in the village, and in the countryside; in churches, in schools, and in private homes – in a word, one and the same name is heard everywhere far and wide, pronounced with piety and joy from millions of lips.”46

Beyond the printed word and image, proponents of the patriarch engaged in public acts of commemoration to revive and foster the patriarch’s national and militant spirit in the present day. Members of the Russian Monarchist Union and local chapters of the Union of Russian Men staged annual celebrations on 17 February, the anniversary of Germogen’s martyrdom, in honor and observation of “the day of the blessed memory of the All-Russian Patriarch Germogen.” These rightist organizations declared their devotion to the patriarch in their statutes and charters, consistently referring to him by his full title of All-Russian Patriarch (Vserossiiskii patriarkh), as if to stress the national unity inherent in the appellation itself.47 In 1909, right-wing organizations in Moscow petitioned the tsar for permission to construct a church in the cellars of the Chudov monastery “on the very site where [Germogen] sealed in blood his unshakeable devotion to the faith”. The Russian Monarchist Union, the Russian Monarchist Assembly, and the Moscow chapter of the Union of Russian People donated funds to underwrite the cost of the

44  “Pamiati Patriarkha Germogena,” in: Riazanskie eparkhial’nye vedomosti, neoffitsial’naia chast’, vol. 1 (1912), p. 45. 45  “Pominki po Patriarkhe Germogene v s. N. Tume (17–19 fevralia 1912 g.)”, in: Riazanskie eparkhial’nye vedomosti, neoffitsial’naia chast’, vol. 5 (1912), p. 210. 46  Chernyshev, Sviateishii vserossiiskii patriarkh Germogen, p. 1–2. 47  “Article III, Paragraph 15, of the Russian Monarchist Union’s charter”, in: Ustav Obshchestva pod nazvaniem “Russkaia Monarkhicheskaia partiia” (ili “Russkii Monarkhicheskii Soiuz”), Moscow 1909, p. 5; and Ustav Obshchestva pod nazvaniem “Russkaia Monarkhischeskaia partiia” (ili “Russkii Monarkhischeskii Soiuz”), Moscow 1911, p. 7. See also Kratkii ocherk deiatel’nosti Tambovskago Serafimskago Soiuza Russikikh Liudei s 1 oktiabria 1911 goda – po 1 oktiabria 1912 goda, Kharkov 1912, p. 9.

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three-year construction project.48 As the patriarch’s tercentenary drew near, boosters in Moscow rallied to raise moneys for the erection of a monument to Germogen that would be erected in a place of honor on Red Square, not far from the statue of the patriarch’s heroic contemporaries, Minin and Pozharskii. The Imperial Archaeological Society played a leading role in the fundraising and publicity efforts, soliciting donations from state and civic organizations and sponsoring a contest for the best design. One booster suggested as a suitable inscription for the proposed monument a passage from a seventeenth-century source in praise of the patriarch’s selflessness and sacrifice: “Germogen stood unshakeable for the Orthodox faith and, unafraid of death, he called on all to stand and give their lives for the Orthodox faith.”49 Germogen’s champions deployed militaristic imagery to portray the patriarch as a warrior and to weaponize his memory in preparation for what they saw as an inevitable clash with the insidious forces poised to destroy Holy Rus’. The priest and missionary Trofim Mikhailov, in a 1912 sermon delivered in Orel diocese to mark Germogen’s tercentenary, urged the faithful that the time had come to put aside “our puffed-up human pride and all our petty aims, modern tastes, and egotistical strivings” and heed “the prelate’s call.” Mikhailov pronounced blessing on those who were prepared to emulate the patriarch and give their lives in the coming war to save the Russian soul. “Blessed be those who stand for their holy motherland, for her Orthodox faith, who are prepared, like the Prelate Germogen, to lay down their souls for the centuries-old teachings of Christ’s Holy Church and our Orthodox system of government, who are prepared to defend to the last drop of their blood both the ruling scepter of our fatherland and the serene reign of our Great and Most Autocratic and Most Pious Sovereign Emperor.”50 Aleksei Lebedev, a Saratov priest and member of the local chapter of the Union of Russian People, argued in a popular pamphlet that though it was tradition for the Orthodox faithful to 48  Vsepoddaneishii otchet ober-prokurora sviateishago Sinoda po vedomstvu pravoslavnago ispovedaniia za 1913 god, Petrograd 1915, p. 46–47. Fundraising and logistical efforts were overseen by the reactionary cleric, Archpriest Ioann Vostorgov (see below). 49  Aleksandr Magistrianovich Kremlevskii, Germogen, patriarkh vserossiiskii, St. Petersburg 1903, p. 64. See also Platon Grigor’evich Vasenko, Patriarkh Germogen, 1611–1613 gg., Nizhnii Novgorod 1909, p. 24; and Aleksei Afanas’evich Dmitrievskii, Sviateishii Patriarkh Germogen i russkoe dukhovenstvo v ikh sluzhenii otechestvu v Smutnoe vremia, St. Petersburg 1912, p. 94. On the public debates surrounding the monument and the Synod’s ultimate rejection of the proposal, see John Strickland, The Making of Holy Russia: The Orthodox Church and Russian Nationalism before the Revolution, Jordanville, NY 2013, p. 190–192. 50  Trofim Mikhailov, “Pouchenie v den’ prazdnovaniia 300-letiia muchenicheskoi konchiny sviatogo patriarkha Germogena”, in: Orlovskie eparkhial’nye vedomosti, neoffitsial’naia chast’, vol. 9 (1912), p. 248.



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honor a martyr on the anniversary of his death, Germogen represented a special case. Because “the patriarch’s cause did not die with him”, it would be “more fitting” to celebrate his life and memory on 22 October – the date when the miracle-working icon of the Kazan Mother of God, first discovered by Germogen, came finally into the hands of Prince Pozharskii and accompanied the Muscovite armies in their final victory over the Poles. Though Lebedev’s logic failed to persuade clerical authorities to alter the date of the patriarch’s blessed memory, it reflects a conviction shared by many of Germogen’s earlytwentieth-century advocates that the lesson to be learned from his life was not the gospel injunction to turn the other cheek, but that a true patriot must be ever ready to draw his sword against the enemy.51 Perhaps the most vocal champion of Germogen’s relevance in the modern day was the reactionary cleric and publicist, Archpriest Ioann Vostorgov (1864–1918), a prominent missionary activist and founding member of the radical right-wing Russian Monarchist Party.52 On 26 April 1907, Vostorgov delivered a sermon at the opening session of the IV All-Russian Congress of Russian People in the Uspenskii Cathedral. He drew his audience’s attention to the “most humble” grave in the cathedral, that of Patriarch Germogen: “The tomb is not adorned with lavish offertory gifts and precious stones. It does not draw, as others do, thick crowds of worshipers on set days of church memorial. But it is always close to our heart, especially now in these difficult days which have given birth, after three hundred years of slumber, to national troubles.” Just as the patriarch’s body had remained uncorrupted despite the passage of time, Vostorgov insisted, so too had the “immortal, incorruptible, unforgettable lessons” that he bequeathed to the Russian people.53 Germogen “understood well that the fundamental character of [Russian] life is the character of religious tradition and nationality (kharakter tserkovnosti i narodnosti) […] he firmly believed that Orthodoxy is the buttress, foundation, and life force of Russian national self-consciousness, the moral sense and justification of the Russian state and statehood.”54

51  Akeksei Nikolaevich Lebedev, V kakoi den’ naibolee prilichno chestvovat’ pamiat’ Patriarkha Germogena, Saratov 1910, p. 9. See also Iraida I. Lezhnina, Svia­ shchennosluzhiteli Saratovskoi eparkhii XVIII  – XX vv.: Istoriia roda Pikinskikh, Lebe­ devykh, Iulovskikh, Volgograd 2013, p. 57–66; and Ol’ga N. Savitskaia, Regional’nye politicheskie partii nachala XX veka: Pravoslavnyi Vserossiiskii bratskii soiuz russkogo naroda v Saratovskoi gubernii, Volgograd 2016. 52  On Vostorgov’s political activity, see Don C. Rawson, Russian Rightists and the Revolution of 1905, Cambridge 1995, ch. 2. 53  Ioann Ioannovich Vostorgov, “Zavety patriarkha Germogena”, in: idem, Polnoe sobranie sochinenii, vol. 3, Moscow 1915, p. 188. 54  Ibid., p. 189–190.

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Sprinkling his sermon with scriptural citations and passages from the patriarch’s pastoral letters, Vostorgov drew explicit parallels between the Time of Troubles and the lawlessness and disorder of the present day: “Now the Russian troubles are born anew and the Russian skies have darkened once more. Once more we see before us a kind of general madness, once more the charms of deceit, once more a ‘demonic confounding,’ once more a ‘war on Christianity’ […]. The form of the troubles has changed, but the content remains the same and the danger is no less terrible. The remedy must be expected from the very same means, tried and true, justified by history and shown us by Patriarch Germogen […] this is the path, these are our armaments, and the means of our struggle, a struggle which may perhaps prove more difficult than the struggle of the Russian people for faith and fatherland three centuries ago […]. Russian Orthodox people! It is time for the Lord to act, for they broke His law! The Lord shall encamp, the Lord will join us in a hard battle with sedition and strife. It is time for the Lord to act.”55

Vostorgov wound up his fiery remarks with an appeal to Patriarch Germogen to intercede once more on behalf of the Russian lands: “Bless and inspire us from the heights of the heavenly realm, plead for the Lord’s forgiveness and mercy unto thine suffering fatherland, appear before us once more as a spiritual leader on the path to [Russia’s] salvation!”56 Even as they repurposed the patriarch himself to suit their political ends, religious patriots sought also to reconfigure and reimagine his gravesite. What had been a simple site that might inspire quiet reflection became, in the rhetoric of Germogen’s latter-day champions, a formidable redoubt for a resurgent nation poised to take the offensive and reclaim their country. Germogen’s proponents argued in print and from the pulpit that the time had come for each Russian Orthodox Christian to heed the nation’s call, rally around the patriarch’s shrine, and defend the motherland through the mightiest weapon in the Christian arsenal – prayer: “Hold fast to the banner of the Orthodox faith, take the field and do battle against these evil developments. Let him in whose heart the spark of God and conscience lives and lingers yet, let him now come forth at [the patriarch’s] behest, let him prostrate himself before the coffin, and pray for himself, his family, and the entire Orthodox land.”57

A life of Germogen published on the eve of his canonization in 1913 called upon “the pious children of the Russian Orthodox Church” and “all true sons of Russia” to lift up their prayers to the patriarch, “that his intercession before the Throne of the Most High may strengthen in the Russian State 55  Ibid., p. 191–192. Vostorgov’s last lines here are taken from Psalm 118 in the Russian Orthodox Bible. 56  Ibid., p. 192. 57  Sviashchennomuchenik Ermogen, p. 18–19.



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devotion to Orthodoxy for the good of the entire Russian people.”58 The author of a popular life of Germogen written specifically for the edification of working-class readers in Moscow was more blunt: “We repeat, only a bastard son of Russia [pasynok Rossii] could fail to fall to his knees before this holy grave!”59 Thus, even as they promoted an idealized, familial vision of national unity and harmony that transcended divisions of estate and class, Germogen’s champions on the right formulated a religiously and ethnically exclusionary conception of the Russian nation. Painted out of the family portrait were such illegitimate offspring as political radicals, secular-minded intellectuals, ethnic minorities, and those who professed any religion other than the one, true Orthodox faith.60 The Patriarch as Palimpsest Despite the considerable build-up, the celebrations staged in provincial centers to mark the tercentenary of Germogen’s martyrdom proved mostly modest affairs. Across the empire, from Riga to Odessa, and from Kiev to Nizhnii Novgorod, the clergy performed liturgies and requiem services in churches and monasteries, while lay and clerical organizers sponsored evening lectures in schoolrooms or auditoriums, choral performances, and the occasional magic lantern show featuring exemplary scenes from the life of Germogen.61 In all cases, the patriarch’s promoters sought to strike a suitable chord of national unity, pious harmony, and patriotic pride. The Riazan diocesan press urged local clergy and teachers to “take all measures to ensure that the day of Patriarch Germogen’s memory be observed with suitable solemnity, that it may be edifying for the students and worthy of that martyr and great defender of the Orthodox faith and Russian state in difficult

58  Zhitie izhe vo sviatykh ottsa nashego Ermogena, patriarkha Moskovskago i vseia Rossii, novoiavlennago chudotvortsa, Shmakovka 1913, p. 14. 59  Dmitriev, Patriarkh Germogen, p. 22. 60  See, for instance, the criticism directed against skeptical elements of the intelligentsia in Ioann Il’ich Solov’ev, Kakoi smysl’ i znachenie imeet prichtenie Svia­ teishago Patriarkha Ermogena k liku Sviatykh? (V otvet nedoumevaiuishchim i voproshaiushchim o znachenii etogo torzhestva i prave na nego Sviateishchago Sinoda), Sergiev Posad 1913. 61  Izvlechenie iz zhurnalov Soveta Kievskoi Dukhovnoi Akademii za 1911–12 uchebnyi god, Kiev 1912, p. 35, 186–187, 290–291; “Pamiati sviateishago patriarkha Germogena”, in: Orlovskie eparkhial’nye vedomosti, neoffitsial’naia chast’, vol. 9 (1912), p. 256–259; “Iz mestnoi zhizni”, in: Smolenskie eparkhial’nye vedomosti, neoffitsial’naia chast’, vol. 6 (1912), p. 337–338; Obzor Smolenskoi gubernii za 1912 god, Smolensk, 1913, 42; and Klavdiia Vladimirovna Lukashevich, Shkol’nyi prazdnik v chest’ trekhsotletiia tsarstvovaniia Doma Romanovykh, Moscow 1913.

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times.”62 Typical was the afternoon program of prayers, music, sermons, and patriotic speeches presented by the faculty and students of the boys’ gymnasium in the provincial town of Vologda on Sunday, 4 March 1912. Billed as a “spiritual-literary matinee,” the event was open to members of the community and drew such local dignitaries as Bishop Antonii (Bystrov) of Vel’sk. After a chorus of students intoned the opening prayer, “Heavenly King,” Father S. P. Vidiakin, a religion teacher at the gymnasium, delivered a sermon on the significance of Germogen’s life and deeds for contemporary Orthodox Christians. In his final peroration, Vidiakin predicted that “the name of Patriarch Germogen will not fade from the Russian people’s memory, even as the centuries pass. For a Russian to forget this name would be for him to forget himself.” The audience was treated next to a biographical report on the patriarch, written and delivered by one of the eighth-form boys, followed by a pair of nineteenth-century literary recitations from younger students: a dramatic monologue from Aleksandr Ostrovskii’s play about Kuzma Minin (1861), and a poem by Mikhail Rozengeim on the patriarch’s suffering and death (c. 1878–1887). Student choral ensembles presented a suite of sacred works, and the school orchestra performed selections from Mikhail Glinka’s patriotic opera A Life for the Tsar (1836). A rousing march and a chorus of “God Save the Tsar” brought the proceedings to a close. The local paper offered only brief coverage of the festivities, but assured readers that the afternoon program had made a “very good impression” on the audience.63 Moscow observed Germogen’s tercentenary with much greater pomp. Vostorgov and other clerical organizers in the ancient capital scored the ceremonies in the key of religious patriotism. On the afternoon of 17 February, following a gravesite requiem service for the repose of the patriarch’s soul, crowds of worshipers with candles in hand proceeded from the Uspenskii Cathedral into the cellars of the nearby Chudov monastery, to pray at the site of Germogen’s imprisonment and martyrdom. The following day, three archbishops greeted crowds of worshipers at the Kazan Cathedral on Red Square and headed a religious procession to the Uspenskii Cathedral. The participants marched with nearly one hundred banners from Moscow churches and monasteries and carried with them a host of icons, including the miracleworking image of the Kazan Mother of God, images of Our Lady of the Sign 62  “K predstoiashchemu prazdnovaniiu v tserkovnykh shkolakh dnia pamiati patriarkha Germogena”, in: Riazanskie eparkhial’nye vedomosti, neoffitsial’naia chast’, vol. 3 (1912), p. 120. 63  Pamiati Patriarkha Germogena. Dukhovno-literaturnoe utro v Vologodskoi muzhskoi gimnazii, Vologda 1912, p. 7–8; “Pamiati patriarkha Germogena”, in: Vologodskii listok, vol. 362 (4 March 1912), p. 2; “Dukhovno-literaturnoe utro”, in: Vologodskii listok, vol. 363 (6 March 1912), p. 2.



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and Christ the Savior, and seventeenth-century icons borrowed from the historic parish church of Germogen’s contemporary, Prince Pozharskii, decorated with gold and silk by the prince’s own daughters. Metropolitan Vladimir (Bogoiavlenskii) of Moscow greeted the procession at the doors of the Uspenskii Cathedral and blessed the faithful as they laid the icons at the patriarch’s grave alongside Pozharskii’s battle flag, on loan from the collections of the Kremlin Armory. Following the divine liturgy, the metropolitan delivered a sermon that summed up the patriarch’s record of service to the Russian fatherland and called upon those faithful in attendance “to lift their impassioned prayers to the Lord, that He may raise up for His Church such mighty and energetic men as [Germogen], and that they may lead society out of the abyss of errors which threaten it and the Church with misfortunes immeasurable.”64 The third and final day of the celebrations began with a requiem service for Germogen’s brother clerics and fighting men who had “struggled on the field of battle” alongside Minin and Pozharskii to save Russia from foreign rule. The evening concluded with a program at the Moscow Diocesan House, where clerical elites like Vostorgov rubbed shoulders with Moscow high society, members of the royal family, and government ministers, including Vladimir Sabler, chief procurator of the Holy Synod. Ticketed guests received souvenir programs with illustrated scenes from the patriarch’s life. Though Tsar Nicholas II did not attend the festivities, he telegraphed his greetings to the assembly: “Thanks to those gathered within the Kremlin walls for the prayerful commemoration of Patriarch Germogen. May his example shine in the present and in future times.” As the emperor’s address was read aloud, the audience cheered and broke into a chorus of the national anthem. Following a series of speeches from prominent clerics and academics on the patriarch’s “moral character, his unshakeable strength in the struggle for the Orthodox faith and the integrity of the Russian state,” N. M. Danilin’s famed Synodal Choir performed a concert of sacred music. The entire program was repeated the following day, 20 February, for a general audience unable to obtain entry to the exclusive evening gala.65 The tercentenary jubilee celebrations witnessed not only Germogen’s return to the national stage, but also the beginnings of the grassroots campaign that would culminate in his canonization the following year. In the weeks that 64  Vsepoddaneishii otchet ober-prokurora Sviateishago Sinoda po vedomstvu pravoslavnago ispovedaniia za 1911–1912 gody, St. Petersburg 1913, p. 16. 65  Vsepoddaneishii otchet […] za 1911–1912 gody, p. 18. See also, Programma torzhestvennago sobraniia v pamiat’ Sviateishago Germogena, Patriarkha Vserossiiskago, 19 fevralia 1912 goda, Moscow 1913; Vladimir Fotievich Kozlov, Eparkhial’nyi dom v Moskve. Khronika zhizni doma i Kniaz’-Vladimirskogo khrama, 1902–1918 gg., Moscow 2015, p. 313–317.

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followed, Vostorgov and other Moscow clerics circulated petitions around the city parishes calling for Germogen’s canonization, arguing that the 1912 solemnities had “open[ed] the eyes of the Russian people to the greatness of [Germogen’s] deeds as savior of the faith and fatherland during the years of most perilous danger.”66 Organizers presented the petition to the newly-appointed metropolitan of Moscow, Makarii (Nevskii), at the beginning of 1913, and the prelate forwarded the document on to his colleagues on the Holy Synod. The Synod entrusted Makarii with forming a special commission to collect supplementary information on the miracles attributed to Germogen and, as per established practice, to obtain sworn affidavits from miracle ­recipients and eyewitnesses.67 Chaired by Bishop Trifon (Turkestanov) of Dmit­rovsk and including a number of prominent laypeople and clerics, among them the indefatigable Ioann Vostorgov, the commission members needed little additional evidence to convince themselves of Germogen’s sanctity.68 The Synod confirmed the commission’s findings at the beginning of April and set a date of Sunday, 12 May 1913, for the canonization ceremonies to be held in Moscow. Nicholas II approved the Synod’s ruling, noting in the margins “Read with genuine joy.” The emperor pledged also to pay for the construction of a new and ornate silver shrine, better suited than a modest wooden coffin to house the miracle-working relics of Russia’s newest saint.69 The patriarch’s canonization would follow fast on the empire-wide celebrations of the three-hundredth anniversary of Romanov rule in Russia. The committee of Moscow clerics and laypeople entrusted with organizing Germogen’s canonization ceremonies made use of the festivities as an opportunity “to disseminate their model of Holy Rus’ to a large public audience.”70 Indeed, the three days of festivities in Moscow were choreographed in a deliberately historicized key, with the Synodal Choir performing in costumes modeled on seventeenth-century boyar caftans and special guest Patriarch Grigorii IV of Antioch (1859–1928) reading the gospels aloud in Slavonic from a place of honor atop Lobnoe Mesto, the historic stone platform on Red Square from which Pozharskii had proclaimed Moscow liberated from Polish 66  Serafim (Kuznetsov), Torzhestvo dolga. Proslavlenie sviateishago patriarkhapatriota Ermogena i maiskiia torzhestva v 1913 g. po sluchaiu prazdnovaniia 300-letiia Tsarstvuiushchago Doma Romanovykh, Kungur 1914, p. 104–105. 67  Serafim, Torzhestvo dolga, p. 105–106; “O proslavlenii sviatitelia patriarkha Ermogena”, in: Tserkovnyi vestnik, vol. 7 (1913), p. 211. On the role of sworn testimony and eyewitness affidavits in the Russian Orthodox canonization procedure, see Robert H. Greene, Bodies Like Bright Stars: Saints and Relics in Orthodox Russia, DeKalb 2010, ch. 3. 68  RGIA, f. 796, op. 205, d. 263, ll. 2–3rev. 69  Vsepoddaneishii otchet […] za 1913 god, p. 39–41. 70  Strickland, Making of Holy Russia, p. 188.



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occupation in 1612.71 Worshipers at the Chudov monastery could break from prayer to gaze upon the original manuscript copy of Germogen’s tale of the discovery of the miracle-working icon of the Kazan Mother of God, on display under glass as part of a special exhibit of Muscovite rarities staged for the Romanov tercentenary and held over for the canonization ceremonies; photo-reproduced copies were available for sale at the monastery bookstore, along with full-color paper icons of the patriarch, monochrome lithographs of Germogen, and a new biographical sketch of the patriarch written especially for pilgrim readers by Vostorgov himself.72 Estimates suggest that some 200,000 worshipers from all across the empire crowded into the ancient capital to attend the canonization ceremonies, take part in the religious processions through the city streets, and venerate the patriarch’s relics.73 Hieromonk Serafim (Kuznetsov), a Black Hundredist with close ties to the Romanov elite, recalled the deep emotions that came over him and other participants at the vigil services in the Chudov monastery on the evening of 10 May: “For many, the world became, as it were, something foreign in these sacred moments. They somehow felt themselves in another world with no earthly cares or affairs.”74 The Synod’s official report on the festivities described the liturgies and prayer services held in the Kremlin churches as so moving that “the Russian soul was itself transported back three hundred years.”75 While church bells across the city pealed like “heavenly choirs of unseen voices carrying across old Moscow,” the anachronistic sight and inescapable sound of automobiles and streetcars likely served to shatter the illusion, as did the jarring presence of a multicolored electric sign suspended from the Kremlin bell tower of Ivan the Great and proclaiming in letters a meter high: “Rejoice, Holy Martyr Ermogen, Great Intercessor of the Russian Land!”76 The absence of the emperor from the 71  Vsepoddaneishii

otchet […] za 1913 god, p. 43–44. Ivanovich Rechmenskii, Sobranie pamiatnikov tserkovnoi stariny v oznamenovanie trekhsotletiia tsarstvovaniia Doma Romanovykh, Moscow 1913, p. 27; Kozlov, Eparkhial’nyi dom, p. 317; Serafim, Torzhestvo dolga, p. 106. The icons, images, and life of Germogen were printed by Vostorgov’s own publishing house Vernost’ and widely advertised at affordable prices, with discounts available for bulk purchases of more than 1,000 copies. 73  Strickland, Making of Holy Russia, p. 204; “Proslavlenie Sviateishago patriarkha Ermogena (Korrespondentsiia iz Moskvy)”, in: Tserkovnyi vestnik, vol. 20 (1913), p. 598–601. The ceremonies were widely, but not uncritically, covered in the periodical press. For a range of opinions, including rejoinders to the lukewarm response of the leading liberal papers, see Serafim, Torzhestvo dolga, p. 211–268. 74  Serafim, Torzhestvo dolga, p. 165. 75  Vsepoddaneishii otchet […] za 1913 god, p. 42. 76  Vsepoddaneishii otchet […] za 1913 god, p. 43. The Synod’s decision to change the spelling of Germogen’s name to Ermogen is discussed below. 72  Aleksandr

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festivities undercut also the intended message of a loving union between tsar and people. As he had for Germogen’s tercentenary the year before, Nicholas telegraphed his regrets.77 With vocal exponents of Orthodox patriotism well represented on the Holy Synod and the emperor himself a great advocate for the canonization of new saints, we may wonder why it had taken so long for Germogen to be cano­ nized.78 The missing element in Germogen’s resume for sainthood had long been miracles. The earliest miracles and healing cures attributed to Germogen date only to the turn of the twentieth century.79 As news of Germogen’s powers spread from Moscow to the surrounding districts and even far-flung provinces, reports of miraculous cures and healings became ever more frequent, especially during and after the commemorative celebrations of 1912, which had helped to make Germogen something of a household name.80 By 1913, an anonymous author noted approvingly that “Orthodox Russians revere [Germogen] as a true saint of God and inexhaustible vessel of God’s grace, and they believe that though he has departed for the heavenly realm he remains an ardent intercessor for all who come to him with faith and love.”81

Thus, as the patriarch’s image and reputation spread through press coverage, word of mouth, and public celebrations in his honor, Germogen underwent yet another transformation: from an object of patriotic devotion and agent of national regeneration into a much-sought-after saint with the miraculous power to work wonders and assist Orthodox believers in their daily lives. Orthodox believers understood that reporting miracles to church authorities was part of the reciprocal relationship that defined their interaction with the holy dead. Like a monetary donation to pay for prayer services in the saint’s memory or a votive gift offered to adorn a reliquary shrine, a public declaration crediting a saint for miracles received was a way of repaying the favor and thanking him for services rendered.82 The grateful recipients of Germogen’s miraculous intercession would relate their stories under oath to 77  Vsepoddaneishii

otchet […] za 1913 god, p. 44–45. the spate of canonizations under Nicholas II, see Gregory L. Freeze, “Subversive Piety: Religion and the Political Crisis in Late Imperial Russia”, in: Journal of Modern History, vol. 68 (1996), p. 308–350. 79  A later source credits Germogen with curing believers “suffering from drink” in the 1890s. See Grigorii Istomin, Ukazatel’ sviatyn’ i dostoprimechatel’nostei Mos­ kovskago bol’shogo Uspenskago sobora, Sergiev Posad, 61916, footnote 48. 80  Vasilii Timofeevich Georgievskii, Raka i oblachenie dlia moshchei Sviatitelia Germogena, Moscow 1914, p. 6. 81  Sviatitel’ Ermogen, Patriarkh Moskovskii i vseiia Rossii, Moscow 1913, p. 31. 82  Greene, Bodies like Bright Stars, ch. 1–3. 78  On



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the clergy of the Uspenskii Cathedral; for the convenience of out-of-towners and the recipients of long-distance miracles, the cathedral clergy also accepted stories submitted via post or telegram. The archpriest of the Uspenskii Cathedral, Nikolai Aleksandrovich Liubimov (1858–1924), served as the principal curator and booster of Germogen’s miracle-working résumé. Incorporating the most arresting stories of Germogen’s miraculous intercession into his sermons and republishing them in stand-alone pamphlets and the diocesan press, Liubimov helped to further burnish the patriarch’s growing reputation as a miracle-worker. In his preface to a published anthology of fifty-five miracle stories attributed to the patriarch between 1911 and 1913, Liubimov observed with pride that “the people’s faith in the power of prayer to God’s Great Saint has quickened (ozhivalas’) in recent years.”83 Indeed, the recipients of miracle cures commonly reported that Germogen’s burgeoning fame as a healer of bodies and souls had motivated them to seek out his miraculous aid in the first place. “When talk spread throughout Moscow that many sick people were being cured at the grave of the Most Holy Patriarch,” relatives of Elena Zhelubalina, a townswoman from Moscow Province, brought her to Germogen’s shrine. After praying before the relics, Zhelubalina’s leg pains had disappeared and she was able to walk home from the cathedral “without any help.”84 The peasant Sergii Alekseev – a native of Ria­ zan Province, now resident in Moscow – reported to the cathedral clergy that countless doctors’ visits and multiple hospitalizations had brought no relief from the stomach pains that had plagued him for twenty-five years. “Having learned from the newspapers about the cures at the grave of the prelate,” Alekseev went to the cathedral in search of a cure and credited his recovery to the miraculous intervention of Patriarch Germogen.85 So omnipresent was the saint’s face and likeness that some miracle recipients even saw him in their dreams. In the weeks following the tercentenary celebrations, Anna Gaug of Moscow reported that an “old man” had come to her in a vision while she lay on the brink of death in a Moscow hospital. The old man blessed her with the sign of the cross three times and urged her “to pray to the great Orthodox Prelate, the Most Holy Patriarch Germogen,” that he might heal her weakened heart. Gaug recognized her visitor as none other than Patriarch Germogen himself, “whose grave she often visited and to 83  N. L. [Nikolai Liubimov], Narodnaia vera v sviatost’ Patriarkha Ermogena i plody etoi very – chudesa sovershaiushchiiasia po Ego molitvam, Moscow n. d.. The most recent miracle in the collection is dated 14 December 1913, making a publication date of 1914 most likely. A copy of the pamphlet may be found among Patriarch Tikhon’s papers in Gosudarstvennyi Arkhiv Rossiiskoi Federatsii (GARF), f. R-4652, op. 1, d. 1, ll. 41–61rev., here l. 42. 84  GARF, f. R-4652, op. 1, l. 44. 85  GARF, f. R-4652, op. 1, l. 46.

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whom she always prayed most fervently.” After her release from the hospital, she went “straightaway” to the cathedral, prayed before the patriarch’s shrine, and offered a requiem service in his memory.86 Another Muscovite townswoman, Aleksandra Glavatskaia, recounted how the sciatic pain that had left her unable to sit or walk passed after she awoke from a dream in which she had found herself standing before Germogen’s shrine: “Apparently, I dropped to my knees in joy and wonder, and I want to kiss his holy relics, but I can’t. Suddenly, someone says to me: ‘You’d better hurry up, they’re going to close the shrine!’ I threw myself in awe upon the shrine and I ended up kissing [Germogen’s] cheek, whereupon the Most Holy Patriarch, to my great fright, says with a smile, ‘It’s all right!’ Waking in fear and joy, I thought that his words must refer to my illness, meaning that it’s all right, I will recover.”87

That the faithful saw (and recognized) Germogen in their dreams suggests how pervasive the patriarch’s image had become in the Russian press and the public sphere by the time of his tercentenary. Within months of the 1912 celebrations, news of the patriarch’s abundant miracles had created such a sensation that the Uspenskii Cathedral was packed with a “continuous stream” of worshipers, “a multitude of people, day after day.”88 Observing the throngs of miracle-seekers queuing up at Germogen’s shrine, the religious writer Vladimir Sokolov found it “remarkable that now, after three hundred years, in this era of new troubles and upheavals in the Russian land,” the patriarch possessed such resonance “in the people’s memory.” That resonance, though, was of recent provenance and was at least partly attributable to the coverage afforded the patriarch in the popular religious press and by writers like Sokolov himself, whose 1912 life of the patriarch included not only the by-now familiar details of Germogen’s biography alongside the usual lithograph illustrating scenes from the patriarch’s life, but synopses of recently reported miracle stories and present-day photographs of the patriarch’s shrine for the benefit of curious readers and potential pilgrims.89 Archpriest Liubimov’s miracle omnibus shows that men and women of all ages turned to Germogen for all manner of miracles. Believers regarded the patriarch as something of a general practitioner, capable of healing gunshot wounds or saving an old woman from choking on a stray fishbone in her soup, even while routinely treating more mundane afflictions such as head 86  GARF,

f. R-4652, op. 1, ll. 48rev.–49. f. R-4652, op. 1, ll. 49rev.–50. 88  Vladimir Vladimirovich Nazarevskii, Novoproslavlennyi sviatitel’ Sviateishii Ermogen, Patriarkh vseia Rossii, Moscow 1912, n.p. 89  Vladimir Stepanovich Sokolov, Sviateishii Patriarkh Germogen, Moscow 1912, p. 26, 30. See also Ioann Al’bov, “Germogen, Patriarkh vseia Rusi”, in: Russkii pa­ lomnik, vol. 7 (12 February 1912), p. 100–103. 87  GARF,



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cold, heart palpitations, and arthritic pains.90 In addition to the usual requests surrounding sickness and health, believers also came to the patriarch’s shrine “seeking help and answers to modern-day questions,” including such nonmedical afflictions as unbelief and contagious revolutionary sentiment.91 A Moscow mother credited Germogen with protecting her sons from the wave of radicalization that had gripped their fellow classmates at the Vladimir seminary during the 1905 Revolution. “Thanks exclusively to the prayerful intercession of Patriarch Germogen,” she reported, her sons “were not mixed up in the former disturbances” at the seminary and had avoided expulsion.92 The recipients of healing cures ranged in age from infants to the elderly and represented all strata of Russian society, from workers and peasants to townspeople and merchants to state officials and military officers. Though pilgrims and prayer requests came in from all corners of the empire, residents of Moscow and the surrounding rural districts were overrepresented in the miracle stories reported, which likely reflects the Orthodox preference for seeking the help of nearby saints and cultivating with them long-term relationships that lasted many years.93 As at other saintly shrines in the late imperial era, women were more likely than men to be the recipients and reporters of miraculous healings. Sixty percent of the fifty-five stories published by Liubimov were submitted by women, and women accounted for fifty-six percent of the miraculous cures recorded.94 Orthodox belief maintained that believers could access the saints’ miraculous powers through prayer, and customary practice held that the most efficacious prayer was performed in the presence of the saint himself, at his shrine and within reach of his holy remains. Believers of all social backgrounds knew that touching or kissing a saintly shrine and making physical contact with the relics therein was the surest way to unlock the power of the holy dead.95 Thirty of Liubimov’s fifty-five miracle stories involve oil from the lanterns around Germogen’s shrine. Believers reported that anointing their ailing bodies with this blessed oil brought immediate and miraculous relief that defied medical science. Major-General Ivan Savostin, publisher of the popular patriotic Moscow weekly The Soldier and the Plowman (Voin i ­pakhar’), reported that he had consulted half a dozen doctors in search of 90  GARF,

f. R-4652, op. 1, d. 1, ll. 44–44rev, 46rev, 51, 57–57rev, 61rev–62. Sviateishii Patriarkh Germogen, p. 26. 92  Sviateishii patriarkh Germogen i chudesa ot ego moshchei, fevralia 1612– 1912 g., Moscow 1911, p. v. 93  Greene, Bodies like Bright Stars, ch. 2–3. 94  GARF, f. R-4652, op. 1, d. 1, ll. 41–61rev. On women, see Christine D. Worobec, “Miraculous Healings”, in: Mark D. Steinberg/Heather J. Coleman (eds.), Sacred Stories: Religion and Spirituality in Modern Russia, Bloomington 2007, p. 22–43. 95  Greene, Bodies like Bright Stars, ch. 1–3. 91  Sokolov,

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relief from the acute nerve pain in both of his arms. One specialist recommended electroshock therapy, but Savostin turned instead to “the great prayerful intercessor (molitvenniku), the Most Holy Patriarch Germogen.” After offering a requiem at Germogen’s grave, the general anointed his arms with lantern oil and bound them in cotton wool that had been laid inside the shrine. Within a week, the pain that had troubled him for months had disappeared.96 When doctors proved unable to treat the pains in his lower legs, Nikanor Goriachev, a peasant from Kolomenskii district, Moscow Province, ordered clean linens sent to the Uspenskii Cathedral and placed inside the patriarch’s shrine so that they could absorb the saint’s miracle-working properties. Days after wrapping his legs in the linens and praying to Germogen for a cure, Goriachev’s “unendurable pain” had passed and he found he could walk without the aid of crutches, a miracle that he attributed unreservedly to the intercession of the patriarch.97 That the faithful felt comfortable enough in Germogen’s presence to strike bargains with him, rub their bodies with (or even, in some cases, drink) oil from the lanterns at his shrine, or to make portable proxy relics by laying cotton wool and clean linens inside his grave, reflects an intimate aspect of popular devotion very different from the clamorous and boisterous tone of the patriarch’s patriotic boosters. In place of the stern and unyielding patriot who figures in the sermons and pamphlets of his right-wing champions, believers in their miracle stories described a softer, gentler Germogen of nonmilitary mien – easily accessible, eminently approachable, and even capable of a warm smile (as in Glavatskaia’s miracle story above). Believers imagined a sort of civilian saint whose interests lay less in preserving the integrity of the Russian nation or defending the institution of autocracy from reformers and revolutionaries, than with healing the pain and relieving the suffering of ordinary people. And while pamphleteers and orators might exhort the faithful to kneel in prayer at the patriarch’s shrine and pray for a nation in peril, miracle stories depict believers seeking out the saint as a friend or confidante with more personal and immediate concerns of health and home. The Germogen packaged and presented to the public by patriotic boosters amidst the flurry of events in 1912–1913 bore only a passing resemblance to the Germogen whom lay believers, especially those in Moscow, had come to know and trust. Even the patriarch’s name, emblazoned on the front pages of official Church newspapers and intoned in the newly commissioned prayer services as Ermogen, must have sounded unfamiliar to Orthodox ears ac96  GARF, 97  GARF,

f. R-4652, op. 1, d. 1, ll. 53–53rev. f. R-4652, op. 1, d. 1, ll. 44rev–45.



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customed to Germogen.98 Yet the dual discourses swirling around Germogen in the last years of the imperial regime need not be seen in contradictory terms or working at cross purposes. Indeed, each reinforced and lent credence to the other. For religious patriots and right-wing activists, the abundant miracles performed at the patriarch’s shrine offered irrefutable evidence that the militant martyr and national hero was indeed one of God’s true saints. And for the believers who came to the shrine in search of a cure, it was the exceptional publicity afforded the patriarch by his promoters in the press and in the streets that had inspired them to seek his miraculous intercession in the first place.99 The official life (zhitie) of the newly canonized Germogen reconciled his dual position as national savior and personal intercessor by presenting both as essential and complementary aspects of his saintly nature: “In hard years of national misfortunes, the prayerful thoughts of the nation have turned to the memory of the hero-patriarch. Russian people have come to his grave with their individual sufferings – in misfortune and in sickness they have called upon Saint Ermogen for help, believing in him as an ardent intercessor and representative before the Lord.”100

With lithographs and woodcuts with Germogen’s likeness on sale in local bookstores, banners with his image borne in procession through the streets of Moscow, and tales of his miraculous healings studding the pages of the church press and recounted in countless sermons and homilies, the patriarch’s likeness and reputation was more visible to more people than ever before. So too did his power prove more portable. Pilgrims who had attended Germogen’s canonization ceremonies returned to their hometowns by wagon 98  Archbishop Nikon of Vologda explained to readers of the popular Troitskie listy pamphlets that the Holy Synod had adopted this spelling because that was how the patriarch himself had signed his name. See Nikon (Rozhdestvenskii), “Urok s neba”, in: idem, Moi dnevniki, vol. 4, Sergiev Posad 1913, p. 67–68, footnote 1; and “Tser­ kovnye vesti”, in: Tserkovnyi vestnik, vol. 17 (1913), p. 511. To reduce confusion, some lithographs of the patriarch distributed during the canonization ceremonies and popular calendars published thereafter included both spellings. See the entry for 12 May in: Khudozhestvenno-iumoristicheskii kalendar’-al’manakh za 1914 god, St. Petersburg 1914. Freeze (“Subversive Piety”) argues that the spelling change was meant to avoid confusing the newly-glorified saint with the recently deposed Germogen (Dolganev) of Saratov, who had lost his episcopal see in 1911 through the machinations of his one-time associate, Grigorii Rasputin. Strickland argues convincingly, however, that the orthographic change is evidence of the Church “simply using a visual device to emphasize the fact that the [patriarch] represented a national faith that was medieval in origin”. See, Strickland, Making of Holy Russia, p. 198. 99  GARF, f. R-4652, op. 1, d. 1, ll. 44–44rev, 46, 50rev, 60. 100  “Zhitie sviateishago Ermogen, Patriarkha Moskovskago i vseia Rossii”, in: Zhitiia sviatykh, na russkom iazyke izlozheniia po rukovodstvu Chet’ikh-Minei Sv. Dimitriia Rostovskago, supp. vol. 2, Moscow 1916, p. 320.

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and rail with souvenir paper icons of the martyr-patriarch for their own devotion and as gifts for relations and friends. Parish communities across the empire took up collections to commission more splendid copies for the adornment of their local churches and chapels.101 Similar practices extended even to the very ends of the empire. Hegumen Nestor (Anisimov), head of the Kamchatka missionary society, obtained an icon of Germogen in the administrative center of Petropavlovsk-Kamchatskii and brought it with him to the society’s annual congress in February 1914. News of the patriarch’s canonization the year before had not yet reached most of the clerical delegates, who worked among the Koriak peoples on the remote shores of the Bering Sea, at the farthest eastern reaches of the empire. The Russian clergy and native converts celebrated a special liturgy to greet Germogen’s icon and welcome the patriarch to his new home “on the borders of the fatherland” (na kraiu otchizny).102 Such ceremonies served a complementary purpose: to make the thaumaturgical power of the saint accessible to believers across the empire; and to deploy the saint as a political instrument to secure and resacralize the interior and borderlands of the Orthodox polity. Just as Germogen in life had helped to impose Russian rule and the Orthodox Christian faith along the Volga borderlands, so too in death would his image serve to solidify imperial rule unto the very edges of an expanded empire.103 The Subsequent Lives of Patriarch Germogen Though he remained a potent symbol for patriotic identity during the First World War, Patriarch Germogen would not save Russia a second time.104 Amidst the collapse of the autocracy and the rising tides of revolution, the patriarch’s memory was subject to further reinterpretation and revision. On 21 October 1917, just days before the Bolsheviks took power in Petrograd, a pair of drunken soldiers entered the Uspenskii Cathedral at the close of vesper services, approached Germogen’s shrine, and proceeded to tear away at 101  Dimitrii Semenov, “Sviashchennoe torzhestvo”, in: Tul’skie eparkhial’nye vedomosti, vol. 45–46 (1913), p. 786. 102  Vserossiiskoe pravoslavnoe missionerskoe obshchestvo v 1914 godu, Moscow 1916, p. 142–143. 103  Liliya Berezhnaya, “Bastions of Faith in the Oceans of Ambiguities: Monasteries in the East European Borderlands (Late Nineteenth – Beginning of the Twentieth Century)”, in eadem/Heidi Hein-Kircher (eds.), Rampart Nations: Bulwark Myths of East European Multiconfessional Societies in the Age of Nationalism, New York 2019, p. 146–185. See the life of Germogen published in the Mari language as Zhitie sviatitelia Ermogena, Kazan 1917. 104  See the critical interpretation of the imperial regime’s use of religious symbols in wartime in Boris Pavlovich Kandidov, Religiia v tsarskoi armii, Moscow 21929, p. 70–71; and idem, Tserkovnyi front v gody mirovoi voiny, Moscow 1929, p. 80–81.



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the shrouds that covered the patriarch’s holy relics. As a crowd of priests and worshipers exchanged blows with the would-be iconoclasts, the soldiers swore at them and declared that everyone was free to do as he wished these days: “There is no tsar, and we don’t want any more priestly bones. Why are our comrades rotting in the ground while he lies here amidst all this gold? It’s not fair – nowadays everyone is equal.”105 After October, religious patriots opposed to Bolshevism continued to invoke Germogen as a model of national resistance. In 1919, on the fifth anniversary of Germogen’s canonization, Metropolitan Makarii of Moscow called upon the Orthodox faithful to emulate the patriarch’s heroic example and “rise up in defense of the holy church against the violence of the Bolsheviks. Arise, arise, Orthodox Russian nation, heed the voice of your first hierarch [Patriarch Tikhon], successor of the most holy patriarch Germogen, and come together as one for the defense of your towns and cities.”106 Anti-Bolshevik polemicists invoked once again the trope of the seventeenth-century Time of Troubles to make sense of the changes taking place around them. For Sergei P. Rudnev, a religious publicist and member of the Russian Orthodox Church Sobor (1917–1918) who had fled European Russia to join the Whites in Siberia during the Civil War, the pattern was all too familiar: “All of this is as it was three hundred years ago in the Time of Troubles. People have changed, the circumstances of life are called now by different names […] but the essence of the matter remains the same.” Rudnev held out hope that the beleaguered head of the Russian Church, Patriarch Tikhon, might prove himself a latter-day Germogen and rally the nation to cast out from Holy Rus’ the godless Bolshevik usurpers.107 Following the Civil War, Soviet historians and textbooks wrote off Germogen as just another “blind instrument” in the hands of the boyar elite, downplayed his historical significance, or ignored him entirely.108 Yet in the postSoviet period, the pendulum has shifted once again. As he had a century ago, 105  Mikhail Ivanovich Vostryshev, Patriarkh Tikhon, Moscow 1995, p. 139–140; “Koshchunstvo v Uspenskom sobore”, in: Vestnik tserkvnago edineniia, vol. 31 (1917), p. 4. The shrine was removed from the cathedral by Soviet power in 1922 and placed in the custody of the People’s Commissariat of Finance. See GARF, f. 353, op. 6, d. 6, l. 170. 106  Martin Ivanovich Latsis, Dva goda bor’by na vnutrennem fronte, Moscow 1920, p. 48. 107  Sergei Petrovich R-nev [Rudnev], Chto spaset Rossiiu. Rossiia nyne i trista let nazad, Omsk 1919, p. 4, 26. See also Evgenii Nikolaevich Trubetskoi, Velikaia revoliutsiia i krizis patriotizma, Rostov-na-Donu 1919, p. 20. 108  Nikolai Aleksandrovich Rozhkov, Russkaia istoriia v sravnitel’no-istoricheskom osveshchenii, vol. 4, Moscow 1928, p. 155. The 700-page history of Russian Orthodoxy published to coincide with the millennium of Christianity in the Russian lands makes only one brief mention of Germogen, noting in passing his struggle against “foreign interventionists.” See Volkov, Patriarkh Germogen, p. 7.

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the redoubtable patriarch serves as a useful counterweight for religious patriots seeking to combat the creeping advance of secularism, modernity, and anti-national divisiveness. In 2012, Patriarch Kirill unveiled a memorial statue to Germogen in Alexander Garden in Moscow and performed a ceremonial liturgy to commemorate the four-hundredth anniversary of Germogen’s death. In his sermon, Kirill argued that the martyr’s legacy must be kept alive in the national memory: “It is very important that our people never forget the heroes and saints who saved Russia, in particular, the Prelate Ermogen – a saint and national hero whose memory was undeservedly lost. It is the duty of our generation to remind all those who love the Motherland, all those who care about its future, all those who call themselves Orthodox and even those who do not, to remind them of the great sacrifice and service rendered to the Fatherland, the Church, and his nation by the holy martyr Ermogen, Patriarch of Moscow and All Rus, whose memory we now piously observe.”109

While Germogen’s relics continue to attract pilgrims and patrons, the Moscow-based Brotherhood of the Holy Martyr Ermogen now maintains an active online presence, operating their own website and YouTube channel to promote the patriarch’s image and ship books, icons, and lantern oil to internet customers in all former Soviet republics.110 Throughout his many afterlives, Germogen, like all saints, has served as a sort of empty slate onto whom various groups and individual actors have inscribed their own interpretations and projected their own politics to suit their particular ends and needs. In the final years of the empire, the multiple meanings that religious patriots, militant nationalists, and anxious miracleseekers affixed to the memory and image of the patriarch did not overwrite or efface each other, but rather coexisted concurrently in a cultural palimpsest. The manifold Germogens who emerged from the texts and spectacles of 1912–1913 – as bellicose warrior or strident nationalist, as benevolent healer or spiritual comforter – each enhanced and complemented the other without substantive contradiction.111 Then as now, the Russian Orthodox religious imagination was capacious enough to accommodate multiple roles for the holy dead to play, and Germogen himself could be – and remains – many different things to many different people.

109  Patriarkh Kirill, “Sviatitel’ Ermogen – i sviatoi, i natsional’nyi geroi” (2 March 2012): http://www.patriarchia.ru/db/text/2051142.html [last accessed 16.8.2020]. 110  Pravoslavnoe Bratstvo sviashchennomuchenika Ermogena: https://ermogen.ru [last accessed 16.8.2020]. 111  For similar processes concerning Orthodox saints in modern southeastern ­Europe see the contribution of Stefan Rohdewald in this volume.

Geistliche als Krieger für die Nation: Erstmilitarisierungen südslawischer Heiliger im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert Von Stefan Rohdewald Erinnerungsfiguren des Mittelalters wurden bis ins 19. Jahrhundert nicht in nationalen, sondern in dynastischen und kirchlichen bzw. klösterlichen Kontexten und meist über die Grenzen von Kirchenprovinzen oder (oft längst untergegangenen) Reichen (re)produziert  –  dies trifft sowohl für den Kosovomythos als auch für Kliment von Ohrid (ca. 835–916), den hl. Sava (1175–1236), Kyrill (ca. 826–869) und Method (815–885) zu. Kyrill und Method wurden in einem byzantinischen, dann bulgarischen und insgesamt slawischen Kontext als Missionare und Gelehrte verehrt. Auch weil die Lage ihres jeweiligen Grabes jedoch entweder unbekannt (Method) oder weit weg von Südosteuropa (Kyrill wurde in Rom begraben) waren und ihre Gebeine nicht vor Ort Wunder wirken konnten, erlangte jedoch im Spätmittelalter und auch in der Frühneuzeit ihre Verehrung nur einen sehr beschränkten, überwiegend kirchlichen Kreis. Kliment hingegen, einer der Schüler Kyrills und Methods und erster Bischof von Ohrid, aber auch Sava, der Sohn des serbischen Herrschers Stefan Nemanja (1113–1199) und erster Bischof der autokephalen serbischen Kirche, wurden von einem breiteren Kreis verehrt, zumal ihre Gebeine (im Falle Savas: über lange Zeit hinweg) zugänglich blieben – gerade deswegen bzw. wegen seiner Verehrung auch durch Muslime sollen die Gebeine Savas 1594 von den Osmanen verbrannt worden sein.1 Im Spätmittelalter als „bulgarisch“ bezeichnete Heilige wurden im Verbund des Osmanischen Reiches in Kirchen und Klöstern des der serbischen Dynastie dienenden Patriarchats von Peć verehrt und umgekehrt „serbische“ im Einflussbereich des Erzbistums von Ohrid.2 Das Ziel ihrer Verehrung blieb da1  Olga Zirojević, „Sveti Sava i naši muslimani“, in: Sima Čirković (Hrsg.), Sveti Sava u Srpskoj istoriji i tradiciji. Medjunarodni naučni skup, Belgrad 1998, S. 433– 438, hier S. 433 f.; Bojan Aleksov, „Nationalism in Construction: The Memorial Church of St. Sava on Vračar Hill in Belgrade“, in: Balkanologie, Bd. 7, 2 (2003), S. 47–72, hier S. 50, 52. 2  Ausführlich mit Diskussion des internationalen Forschungsstandes und einem Fokus auf der Analyse der genannten Heiligen sowie des Kosovomythos als Erinnerungsorte vom Mittelalter bis ins 19. und 20. Jahrhundert: Stefan Rohdewald, Götter

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mals vorrangig religiös, es diente zur Erinnerung der imaginierten Gemeinschaft mit den im Jenseits lebendigen Heiligen und den Christen im Diesseits bzw. auch zur Bewältigung von Krankheit oder anderen Alltagsproblemen. Während die Texte zu den Opfern der Schlacht auf dem Amselfeld (d. h. die Schlacht Sultan Murads gegen Fürst Lazar auf dem Amselfeld 1389) von Beginn an und ganz vorrangig durch den militärischen Kampf geprägt waren, war dies bei den meisten anderen religiösen lieux de mémoire des Mittel­ alters nicht der Fall. Der vorliegende Beitrag beschränkt sich auf religiöse Erinnerungsorte oder Heilige, die traditionell nicht in erster Linie als Kriegerheilige verehrt worden waren. Ihre rhetorischen bzw. diskursiven Militarisierungen, d. h. ganz allgemein die Verbindung ihrer Verehrung mit einem explizit kriegerischen Wortschatz und entsprechenden Konnotationen im 19. und frühen 20. Jahrhundert stehen hier im Zentrum der Aufmerksamkeit. Zu diesen Heiligen, die nicht in erster Linie als Kriegerheilige verehrt worden waren, zählten Kyrill und Method. Allerdings hatte eine Kliment zugeschriebene Lobrede über beide Brüder nach dem Vorbild byzantinischer Texte Method auch kriegerisches Talent verliehen: „Mit Flügeln versehen war er auch im Krieg wie Samson und Gedeon und Josua und trat schrecklich auf“,3 obschon die Viten keine Hinweise auf konkrete Kriege enthalten. Auch solche rhetorischen Militarisierungen sollen hier mithin im Fokus liegen. Deutlicher war Kliment ähnlich wie der geradezu klassische Schutzheilige Demetrios von Saloniki (Thessaloniki)4 als Schutzherr vor äußeren Angriffen beschrieben worden: So schrieb Theophylaktos von Ohrid (ca. 1155–1126): „Bewahre uns, die du genährt hast, unberührt von barbarischen Einfällen, und schaue immer, besonders aber jetzt, wo die Trübsal nahe ist, und niemand da ist, der hilft, wo das Skythenschwert mit bulgarischem Blut trunken ist.“5 der Nationen. Religiöse Erinnerungsfiguren in Serbien, Bulgarien und Makedonien bis 1944, Weimar 2014; ders., „Religious Wars? Southern Slavs’ Orthodox Memory of the Balkan and World Wars“, in: Katrin Boeckh/Sabine Rutar (Hrsg.), The Balkan Wars from Contemporary Perception to Historic Memory, Basingstoke 2016, S. 249– 273; Joachim Bahlcke/ders./Thomas Wünsch (Hrsg.), Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Konstitution und Konkurrenz im nationen- und epochenübergreifenden Zugriff, Berlin 2013. 3  Kliment Ochridski, Săbrani săčinenija, hrsg. v. Bonju Angelov/Kujo Kuev/ Christo Kodov, Bd. 1, Sofia 1970, S. 469; Bonju St. Angelov et al. (Hrsg.), Stara bălgarska literatura, in 7 Bdn., Sofia 1981–1992, hier Bd. 2, 1982, S. 86; zit. nach der Übers. von Winfried Baumann, Die Faszination des Heiligen bei Kliment Ochridski, Neuried 1983, S. 163. 4  Christopher Walter, The Warrior Saints in Byzantine Art and Tradition, Aldershot 2003. 5  Aleksandăr Milev (Hrsg.), Grăckite žitija na Kliment Ochridski, Sofia 1966, S.  146 f.; N[ikolaj]. L. Tunickij (Hrsg.), Materialy dlja istorii žizni i dejateľnosti učenikov svv. Kirilla i Mefodija/Monumenta ad SS Cyrilli et Methodii successorum



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Dabei gewann das Gedenken an den gänzlich unkriegerischen Gelehrten Kliment eine militärische Dimension. Selbstverständlich waren die Nemanjiden und Fürst Lazar in kriegerischen Kontexten etwa als „gute(r) Krieger des großen Heerführers“6 Christus verehrt worden, nur am Rande aber der nemanjidische Kirchenfürst Sava: Allerdings verglich sein ausführlichster Hagiograph Domentijan, ein Mönch des Klosters Hilandar, dessen Lebensdaten unbekannt sind, 1242/1243 oder 1253/1254 in seiner Vita Savas diesen mit Moses: So habe Sava den bulgarischen Herrscher Strez († 1214) wie ein „zweiter Prophet Moses“ „seinen Feind den zweiten Amalik“ besiegt.7 Der vermutlich früheste liturgische Text zu Savas Gedenken ist die Messe (služba) zur Überführung seiner Gebeine aus Tărnovo ins bei Prijepolje gelegene Kloster Mileševa (1237), die erst in einer Abschrift aus dem Jahr 1600 vorliegt. Der Text diente aber einem anderen zur Vorlage, der bereits in einer Handschrift des beginnenden 14. Jahrhunderts erhalten ist. Hier trat Sava in der Funktion eines Schutzheiligen auf:8 Die an ihn herangetragenen Bitten verlangten von Sava auch, „dein Vaterland“ zu schützen, sowie für „die Leute deiner Herde“ zu kämpfen.9 Auch Sava wurde damit als Schutzheiliger eingesetzt. Während die Verehrung dieser lieux de mémoire zunächst allgemeinslawisch oder dynastisch angelegt war, gewannen sie erst im Rahmen der nationalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang der Ausgestaltung von Visionen nationaler Modernität nationale Bedeutung. Vorgänge der Nationalisierung der Religion und der Sakralisierung der Nation in der transnationalen und europäischen Konkurrenz sind prominent und zentral anhand dieser Beispiele zu beachten. Zunächst ist im 19. Jahrhundert eine Säkularisierung von Heiligen zu beobachten: Gerade religiöse Erinnerungsfiguren wurden zur Verbreitung nationaler, säkularer Zielutopien und zur Festigung der kollektiven Identität möglichst großer Gruppen in ethnisch und religiös stark heterogenen Regionen im Verweis auf eine gemeinsame nationale Geschichte, als deren Teil die Heiligen galten, zur Umwandlung von vitas resque gestas pertinentia, Bd. 1 [Reprint mit Einleitung von Ivan Dujčev, London 1972], Sergiev Posad 1918, S. 138–141. 6  Angel Davidov et al. (Hrsg.), Žitie na Stefan Dečanski ot Grigorij Camblak, Sofia 1983, S. 64. 7  Domentijan, Žitije svetoga Save, hrsg. v. Ljiljana Juhas-Georgievska, Belgrad 2001, S. 180; ein weiterer ausführlicher Verweis auf Moses: ebd., S. 376–392. 8  „Unserer Rechtgläubigkeit aber helfe, und dein gleichnamiges Vaterland behüte (sachranjaj), erbitte ihm Friede und große Gnade.“ Đorđe Trifunović (Hrsg.), Srbljak, Bd. 1, Belgrad 1970, S. 36. 9  „Heile unsere offenen Wunden, / bete für uns, die Leute deiner Herde, / […], von allem Bösen erlöse den christusliebenden König, / und dein Vaterland, / orthodoxe Christen, / und kämpfe für sie, / wie der Große Archistratege für Jesus den Nazarener.“ Trifunović, Srbljak, S. 60.

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Bauern zu Bulgaren oder Serben eingesetzt. Im Kontext des Historismus und des intensivierten Nationalismus zu Ende des 19. Jahrhunderts sowie dann insbesondere während der 1930er Jahre sind darüber hinaus fortschreitende und immer explizitere Sakralisierungen der Nation erkennbar.10 Die Rolle von „nationaltheologischen Denkfiguren“,11„politischer Theologie“12 oder von kriegerischem Nationalismus13 im Rahmen moderner Gemeinwesen verspricht, Aufschluss über Debatten über Staats- und Gesellschaftsentwürfe innerhalb der jeweiligen Eliten zu geben. Nach den Maßgaben der Diskurs- und Kulturgeschichte wird damit der Wortgebrauch der Akteure als maßgeblich angesehen. Auch für das faschistische Italien zieht Richard Steigmann-Gall die Rede von „religiöser Politik (religious politics)“ derjenigen von „politischer Religion“ vor. Ein solches zu entwickelndes Konzept „religiöse Politik“ sollte im Gegensatz zur politikwissenschaftlich geleiteten Theorie über das analytische Konzept „politische Religion“ Gewicht auf den religiösen Inhalt anstatt auf die Form eines als religiös analysierten Rituals legen.14 In diesem Sinn wird eine „äußerst restriktive Position“ unterschieden, die den „Religionsbegriff“ nur auf jene Zusammenhänge bezieht, die zum Feld der traditionellen Religionen gehören.15 Auf diesen Bereich sind Vorgänge der „Nationalisierung der Religion“ zu beziehen, die für Entwicklungen stehen, in denen „der religiöse Mensch auch das Wertesystem der Nation in sein Denken und Handeln aufnimmt“,16 sowie Phänomene der „Politisierung von Religion“ durch Geistliche wie Politiker.17 10  Ausführlich: Rohdewald, Götter der Nationen; übergreifend: Martin Schulze Wessel, „Die Nationalisierung der Religion und die Sakralisierung der Nation im östlichen Europa“, in: ders. (Hrsg.), Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation im östlichen Europa, Stuttgart 2006, S. 7–14. 11  Hans-Ulrich Wehler, Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 2 2004, S. 29. 12  Zum Begriff vgl. Jürgen Brokoff/Jürgen Fohrmann (Hrsg.), Politische Theologie. Formen und Funktionen im 20. Jh., Paderborn et al. 2003. 13  Jörn Leonhard, Bellizismus und Nation. Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750–1914, München 2008. 14  Richard Steigmann-Gall, „Was National Socialism a Political Religion or a Religious Politics?“, in: Michael Geyer/Hartmut Lehmann (Hrsg.), Religion und Nation. Nation und Religion. Beiträge zu einer unbewältigten Geschichte, Göttingen 2004, S. 386–408, hier S. 394 f.; vgl. den Beitrag von Sarah Thieme im vorliegenden Band. 15  Danièle Hervieu-Léger, „Religiöse Ausdrucksformen der Moderne. Die Phänomene des Glaubens in den europäischen Gesellschaften“, in: Hartmut Kaelble/Jürgen Schriever (Hrsg.), Diskurse und Entwicklungspfade. Der Gesellschaftsvergleich in den Geschichts- und Sozialwissenschaften, Frankfurt am Main/New York 1999, S. 133–161, hier S. 150. 16  Schulze Wessel, „Nationalisierung der Religion“, S. 7. 17  Maria Falina, „Between ‚Clerical Fascism‘ and Political Orthodoxy: Orthodox Christianity and Nationalism in Interwar Serbia“, in: Totalitarian Movements and



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Beispielsweise wurde die Übertragung der Golgatha- oder Kreuzigungsvorstellung auf die moderne Nation jüngst an den Beispielen Polens, Frankreichs, Deutschlands, Irlands und Palästinas komparatistisch erforscht.18 Noch breiter vergleichend hat Anthony Smith unter dem Titel Chosen Peoples gearbeitet.19 Untersuchungen zu moderner „politischer Orthodoxie“20 in Ost- und Südosteuropa oder zur „Fusion von Faschismus mit klerikaler Ideologie“ auch im Sinne „alternativer“ Entwürfe im Rahmen „multipler Modernitäten“ (Shmuel N. Eisenstadt) diskutieren „klerikalen Faschismus“21 als Konzept für einen Zugang zu Verbindungen von Kirche und Nationalismus in der Zwischenkriegszeit. Eine enge Beziehung von moderner nationaler Identität, Politik und Religion ist aber weniger als osteuropäisches Spezifikum,22 sondern als allgemeineuropäisches Charakteristikum anzusehen.23 Der Erste Weltkrieg wird gerade im Kontext deutscher „Kriegstheologie“24 im engen Zusammenhang mit zahlreichen weiteren europäischen Beispielen als „Religionskrieg“ analysiert.25 Political Religions, Bd. 8/2 (2007), S. 247–258, hier S. 257; dies., „Svetosavlje. A Case-Study in the Nationalization/Politicization of Religion“, in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Bd. 101 (2007), S. 505–529. 18  Alan Davies, The Crucified Nation. A Motif in Modern Nationalism, Brighton/ Portland (OR) 22010. 19  Anthony Smith, Chosen Peoples. Sacred Sources of National Identity, Oxford 2004. 20  Vgl. diesen Begriff mit Fokus auf Byzanz, den slawischen Nachfolgestaaten sowie dem Osmanischen Reich verwendend: Hans-Georg Beck, Das byzantinische Jahrtausend, München 1978, S. 108. 21  Matthew Feldmann/Marius Turda, „ ‚Clerical Fascism‘ in Interwar Europe: An Introduction“, in: Totalitarian Movements and Political Religions, Bd. 8/2 (2007), S. 205–212, hier S. 209 f.; vgl. die in dem von Feldmann/Turda herausgegebenen Themenheft enthaltenen Beiträge zu West-, Nord- wie Südeuropa; zu Rumänien: Armin Heinen/Oliver Jens Schmitt (Hrsg.), Inszenierte Gegenmacht von rechts. Die „Legion Erzengel Michael“ in Rumänien 1918–1938, München 2013; in dem vorliegenden Band vgl. der Beitrag von Constantin Iordachi. 22  Vgl. etwa Georg G. Iggers, „Changing Conceptions of National History since the French Revolution. A Critical Comparative Perspective“, in: Erik Lönnroth/Karl Molin/Ragnar Björk (Hrsg.), Conceptions of National History (Proceedings of Nobel Symposium, 78), Berlin/New York 1994, S. 132–150, hier S. 134. 23  Zu west- wie osteuropäischen Beispielen: Heinz-Gerhard Haupt/Dieter Langewiesche (Hrsg.), Nation und Religion in Europa. Mehrkonfessionelle Gesellschaften im 19. und 20. Jh., Frankfurt am Main 2004; Smith, Chosen Peoples. 24  Karl Hammer, Deutsche Kriegstheologie (1870–1918), München 1971. 25  Gerd Krumeich/Hartmut Lehmann (Hrsg.), „Gott mit uns“. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jh., Göttingen 2000; Gerd Krumeich, „ ‚Gott mit uns‘? Der Erste Weltkrieg als Religionskrieg“, in: ebd., S. 273–283; ders., Jeanne d’Arc in der Geschichte. Historiographie – Politik – Geschichte, Sigmaringen 1989.

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Nach der Oktoberrevolution entfalteten sich orthodoxe Nationalkirchen nur noch in Südosteuropa sowie in der russischen Diaspora in einem ihr nicht prinzipiell feindlichen politischen und gesellschaftlichen Umfeld, sieht man vom in einer außerordentlichen Bedrohungssituation aufgetretenen Phänomen des Sowjetpatriotismus unter Josef Stalin und von seinem Aufruf zum „heiligen Krieg“ ab.26 Letztlich waren aber nur in Südosteuropa orthodoxe Kirchen nach dem Ende des Ersten Weltkrieges weiterhin dauerhaft in der Lage, Natio­nalstaaten als eigene Projekte aufzufassen und langfristig zu deren Promotoren und Stützen zu werden.27 Nur hier hatten orthodoxe Geistliche und Politiker ausreichend Gelegenheit, Antworten auf die Herausforderungen der modernen Gesellschaft in einem Staat mit säkularer Verfassung zu entwerfen und anzubieten, und dabei den Staat als den eigenen zu deuten.28 Insbesondere im Zusammenhang der Balkankriege und des Ersten Weltkriegs veränderten sich die genannten Verehrungszusammenhänge entscheidend: Jetzt wurden die wichtigsten Diskurse militarisiert, und auch die Heiligen dienten zumindest rhetorisch zur Mobilisierung der bewaffneten Massen.29 Sie dienten im Rahmen der Intensivierung religiösen Eifers und nationalisierter historischer Narrative zur Rechtfertigung räumlicher Erweiterungen des Staatsterritoriums auf Kosten der Nachbarn. Das ultimative Ziel war die Ablösung der sozialen, institutionellen und diskursiven Strukturen des Osmanischen Reiches durch neue soziale, nationale Formen der Rhetorik und Staatlichkeit. Die Flucht oder Auswanderung großer Teile der muslimischen oder türkischen Bevölkerung wurde in Kauf genommen oder begrüßt.30 Bereits während der serbischen Aufstände zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden mittelalterliche monarchische bzw. militärische Heilige wie Stefan von Dećani (1285–1331) zur Mobilisierung eingesetzt.31 Aber auch bisher nicht primär militärisch relevante Heilige wurden nun in diesem Kontext dienstbar gemacht. Die Verehrung Kyrills und Methods änderte sich in dieser 26  Steven Merritt Miner, Stalin’s Holy War. Religion, Nationalism, and Alliance Politics, 1941–1945, Chapel Hill (NC) u. a. 2003; Frithjof Benjamin Schenk, Aleksandr Nevskij. Heiliger – Fürst – Nationalheld. Eine Erinnerungsfigur im russischen kulturellen Gedächtnis (1263–2000), Köln et al. 2004, S. 395–404. 27  Ekkehard Kraft, „Von der Rum Milleti zur Nationalkirche – die orthodoxe Kirche in Südosteuropa im Zeitalter des Nationalismus“, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Neue Folge, Bd. 51 (2003), S. 392–408, hier 394. 28  Ebd. 29  Vgl. Rohdewald, „Religious Wars“? 30  Wolfgang Höpken, „Flucht vor dem Kreuz? Muslimische Emigration aus Südosteuropa nach dem Ende der osmanischen Herrschaft (19./20. Jh.)“, in: Comparativ, Bd. 6/1 (1996), S. 1–24. 31  Leontije Pavlović, Korišćenje kulta Stefana Prvovenčanog u XIX veku u političke svrhe, in: ders. (Hrsg.), Neki spomenici kulture. Osvrti i zapažanja, Smederevo 1964, S. 65–94.



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militarisierenden Hinsicht etwa bei der Feier des Gedenkens des 1000. Todestages von Kyrill 1869. Die Zeitung Makedonija, die in der osmanischen Hauptstadt Konstantinopel herausgegeben wurde, veröffentlichte das Schreiben eines anonymen Journalisten, der von einem „Altar der slawischen Wiedergeburt“ schrieb. Hier wurde auch ein sozialdarwinistisch zu verstehender „Existenzkampf“ des bulgarischen Volkes entworfen, der angeblich in der Vergangenheit an vorderster Front von der Geistlichkeit geführt wurde bzw. in der Gegenwart zu führen sei, aber auch vom ganzen Volk. Diese Imagination eines nationalen „Kampfes“ war eine gänzlich moderne Vorstellung und umso mehr die Überlagerung mit militarisierter Religiosität, die in dem Gedanken hervortrat: Kyrill sei „unsichtbar“ als „großer Heerführer“ und „Krieger Christi“ gegenwärtig und persönlich ein Teilnehmer dieses politischtheologisch legitimierten „Kampfes“: „Im Vergleich dieser Lage unseres heutigen Zustandes mit jenem von vor tausend Jahren wird uns das Gedächtnis (pamjaťtă) des unerschrockenen Kämpfers und Kriegers Christi noch teurer, und noch bedeutender der Tag des tausendsten Gedenkens an ihn. Unsere Geistlichkeit ist auch heute auf demselben Betätigungsfeld im Begriff, eine Großtat zu tun, und das ganze bulgarische Volk kämpft um seine Existenz mit seinem nationalen Namen (s narodnoto si ime), mit seinen nationalen Besitzungen (prinadležnosti): Das Gedenken (spomenăt) also an den Namen und die Arbeit dieses ersten Großtäters kann unsere Geistlichkeit in ihrer Großtat unterstützen, und sie mit der Kraft und Energie des Volkes in ihrem grausamen Kampf begeistern. Und was kann kräftigender und ermutigender sein, als wenn wir unter uns die Gegenwart des großen Heerführers (voevoda) spüren, der gekämpft hat und der auch heute unsichtbar in unseren Reihen für uns kämpft?“32

Kyrill diente hier direkt zur Sakralisierung der Nation. Er wurde überdies – ohne Verweis auf seinen Bruder – zum nationalen Widerstandskämpfer für „nationale Rechte“ und zum Spender einer nationalen historischen Identität im internationalen Rahmen bzw. einer „Bürgerschaft in der Weltgeschichte“: Erst mit ihm schien die bulgarische Geschichte bedeutsam oder im globalen historischen Zusammenhang legitim geworden zu sein. Tatsächlich wurde das Gedenken an die Brüder Kyrill und Method seit dem Beginn der 1870er Jahre in einem nächsten Schritt ganz gezielt eingesetzt, um unmittelbar militärische Kämpfer zu mobilisieren: 1871 dienten die „Brüder aus Saloniki“ dem „Bulgarischen Zentralen Revolutionskomitee“ als Schutzpatrone zum Beginn des zunächst auf den 11. Mai angesetzten Aprilaufstandes. Sie sollten angerufen werden, damit sie Hilfe und Schutz leisteten.33 Vorerst blieb diese unmittelbar zur Gewaltanwendung eingesetzte Funktion des Gedenkens aber die Ausnahme. 32  Makedonija,

Bd. 10 (01.02.1869), S. 1, o. A. Simeonova, Denjat na Kiril i Metodij, Sofia 1994, S. 61; Claudia Weber, Auf der Suche nach der Nation. Erinnerungskultur in Bulgarien von 1878–1944, Leipzig 2006, S. 47. 33  Gatja

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In einem weiteren Schritt der Militarisierung der Rhetorik des Gedenkens der Brüder Kyrill und Method wurden 1885, zur Erinnerung des Todestags von Method, die beiden Brüder nun bereits als „Krieger“ dargestellt, allerdings zunächst nur metaphorisch „im Bereich der Bildung“. Marko Balabanov (1837–1921), der frühere Außenminister Bulgariens, beschrieb Kyrill und Method als „auserwählte und selbstversagende Kämpfer (vojnici) im Feld der Bildung, das keine Grenzen kennt“.34 Auch Sava wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert mit ähnlichen rhetorischen Zuspitzungen in serbischen Texten beschrieben. Beispielsweise schrieb M. V. Radonjić 1887 in der Zeitschrift der Heilig-Sava-Gesellschaft „Bruderschaft“ in Belgrad unter dem Titel Kampf um die Nationalität (narodnost) und gab Sava in diesem Vorgang eine prominente Rolle.35 Insbesondere in Bosnien erkannte er als Folge des Wirkens der „Schüler von Kyrill und Method“ im „religiösen Streit“ einen „wahren Kampf um die Nationalität“.36 Sava sodann habe „auf die Fortdauer der Nationalität“ eingewirkt und durch die Einrichtung von „Klöstern, Kirchen und Schulen […] sein Volk […] mit geistiger Waffe zum Kampf“ gerüstet: „Wir wissen, wie der Sohn Nemanjas, der hl. Sava, auf das Volksdenken, und gleichzeitig auch auf die Fortdauer der Nationalität wirkte. Indem er Klöster, Kirchen und Schulen errichtete, wollte er sein Volk ausbilden, und es mit geistiger Waffe zum Kampf rüsten, den sein großer Geist voraussah; indem er ihm die kirchliche Unabhängigkeit erwirkte, wollte er jede äußere, fremde Einmischung in die serbischen nationalen und staatlichen Angelegenheiten abwehren.“37

Während Sava hier nur als geistiger Ausbilder zum militärischen Kampf erinnert wurde, war das Gedenken an die Schlacht auf dem Amselfeld im ausgehenden 19. Jahrhundert noch sehr viel direkter auf den Krieg ausgerichtet.38 Dies ist wichtig für den allgemeinen Kontext der Militarisierung religiösen nationalen Gedenkens und hatte Auswirkungen auch für unser Beispiel der Militarisierung von Heiligen, die bisher nicht vorrangig als Krieger oder Kämpfer imaginiert worden waren. Im Zusammenhang mit dieser Entwick34  Marko Balabanov, „Děloto na dvamata solunski bratija meždu Slověnetě izobščo i Bălgaretě osobito“, in: Sbirka ot rěči i skaski, naročito prigotveni i skazani pri urečeni slučai prěz tăržestvoto ot 6 Aprilij 1885 g. v Sofia (Osobna priturka kăm XIV knižka ot „Periodičesko Spisanie“ i na Bălgarskoto Knižovno Družestvo v Srědec; Teil 2), Srědec 1885, S. 51–87, hier S. 53. 35  M. V. Radonjić, „Borba za narodnost, s naročitom pogledom na prošlost polapskih Slovena, Čeha i Srba“, in: Brastvo, Bd. 3 (1887), S. 50–104, hier S. 90. 36  Ebd. 37  Ebd., S. 92. 38  Ausführlich: Miodrag Popović, Vidovdan i Časni krst. Ogled iz književne arheologije. Drugo, dopunjeno izdanje, Belgrad 1977; für einen breiteren Kreis auf Englisch: Branimir Anzulovic, Heavenly Serbia: From Myth to Genocide, New York 1999.



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lung verstärkte sich im Vorfeld der Balkankriege eine messianische und die bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts beobachtete militaristische Aufladung etwa Savas. Pavle Sofrić (1857–1925), der in Pest an der Philosophischen Fakultät studiert hatte und an serbischen Gymnasien Geschichte unterrichtete, schrieb 1909 in einer historischen Skizze unter dem Titel Die Seele des serbischen Volkes zur Zeit Stefan Nemanjas und des hl. Sava. Sava, nicht Nemanja, sei ein gläubiger „Staatsmann und Feldherr“, ja ein „angriffslustiger und gottgefälliger Kämpfer“, insbesondere aber ein gemäß den „geographischen Gegebenheiten“ geschickt zwischen West und Ost agierender Pragmatiker gewesen: „Sich an die unerschütterlichen Dogmen der orthodoxen Kirche haltend, arbeitete er als Westler (kao zapadnjak) für die Verwirklichung der Gelöbnisgedanken (zavetne misli) der Serben. Im engen Verband mit Byzanz, stand er in intimen Beziehungen mit dem Westen, den sie hier gut kennen und auf den sie rechnen. Seinem Glauben hingegeben ist er gleichzeitig ein Staatsmann und Feldherr außerordentlich praktischen Geistes und von unbeugsamer Ausdauer. Solange sich Byzanz vor ihm fürchtet, solange beschützt ihn der Westen freundschaftlich. Auf dem Balkan ist er gefeiert als Herrscher und Krieger, aber im Westen wird er Gegenstand romantischer Erzählungen als angriffslustiger und gottgefälliger Kämpfer. Diese seine Zweiheit (dvojnost) ist soweit das Resultat unserer besonderen geographischen Gegebenheiten, wie es auch das Geheimnis seines Erfolges ist und die wichtigste Lehre, die uns unsere Geschichte bereithält.“39

Diese nun primär bellizistische und geopolitische Wahrnehmung Savas als „gefeierter Krieger“ ist gegenüber den bisher betrachteten Texten eine deutliche Neuerung und ganz in den zeitgenössischen Kontext der Balkankriege bzw. des aufziehenden Ersten Weltkrieges zu stellen. Bemerkenswert ist dabei die Unterscheidung angeblich verschiedener Erinnerungskulturen an Sava seitens des „Westens“ sowie „auf dem Balkan“ in seinem als zwischen Byzanz und dem Westen gelegen dargestellten zentralen Wirkungsraum. Auch in Bulgarien war die Sakralisierung der Nation bereits vor dem Ausbruch der Balkankriege vorangetrieben worden und trug zu Mobilisierung der Bevölkerung bei. Weltliche und kirchliche bulgarische Publikationen verbanden Kyrill und Method zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend mit militaristischer Rhetorik. Gerade kirchliche Akteure schrieben sich nach 1890 vermehrt in diesen Diskurs ein. So übernahm die Kirche die Klage über 39  Pavle Sofrić, Tri priloga za poznavanje narodne duše kod nas Srba. I. Duša srpskog naroda za vreme Stevana Nemanje i Sv. Save. II. Duša srpskog naroda za njegova robovanja pod Turcima. III. Istorija srpskog đavola i srpske veštine. Preštampano iz „Glasa“ Eparhije Niške, Niš 1909, S. 18; vgl. ders., Četiri priloga za Srpsku kulturnu istoriju. I. O vaspitnom radu Sv. Save u srpskom narodu. II. Moje đačke uspomene iz života srpske narodne škole pre pola veka u S. A., u Ugarskoj. III. Srpska državna ideja za naših Nemanjića. IV. U Hilendaru. Preštampano iz „Glasa“ Eparhije Niške, Niš 1910.

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das angebliche Leid Makedoniens und spitzte den Diskurs in einem slawischen Zusammenhang noch zu: 1903 beschwor der Kirchenbote am Vorabend des Gedenktags der beiden Heiligen eine vorgeblich durch diese geschaffene „sittliche Verbindung“ der „Masse“ des slawischen „Stammes“.40 Dieses Jahr habe der Gedenktag „besonders wichtige Bedeutung für das gesamte Slawentum“, und zwar wegen des durch „unsere fünfhundertjährigen Feinde“ angerichteten „Unglücks im viel erleidenden (mnogostradalna) Makedonien“, in der „Heimat“ und im „Vaterland“ der „Erstlehrer“. Gemeint war die Niederschlagung des Ilinden-Aufstands im Sommer 1903: War früher die Ablehnung griechischer Geistlicher das Hauptziel gewesen, richtete sich der Diskurs erst jetzt ausdrücklich gegen Konstantinopel. Der Widerstand gegenüber der osmanischen Herrschaft geriet zum in der Region durch bewaffnete Banden ausgetragenen „Kampf mit dem asiatischen Barbaren“, um das „türkische Joch“ abzuschütteln.41 Mit der Orientalisierung des imperialen Oberherrschers ging die Delegitimierung seiner Herrschaft und eine Europäisierung der eigenen Identität und die Förderung einer neuen, auf dem Entwurf eines Volkes begründeten Legitimität einher. Das offizielle Publikationsorgan der Kirche bettete die Beschreibung der Brüder ganz in den seit den 1870er Jahren entwickelten weltlich nationalen Diskurs ein. Der Geistliche Michail Chimitlijski (Lebensdaten unbekannt) stellte 1906 die Feiern zu Ehren Kyrills und Methods in der Zeitschrift Der Verkünder der guten Nachricht (Blagověstiteľ) unter dem Titel Kämpfer für die Orthodoxie und das Slawentum in eine Reihe mit Feiern zu Ehren von „Kriegern für das bulgarische Buch und die Sprache“. Auch hier ging die neuartige rhetorische Militarisierung des Gedenkens mit einer explizit kämpferischen Beschreibung einher, er bezeichnete die Brüder als „die ersten slawischen Riesen (velikani), die das Banner der Orthodoxie und des Slawentums hoch erhoben haben und einen gigantischen Kampf mit den Feinden dieser Orthodoxie und des Slawentums geführt haben – mit dem römischen Papst und den deutschen Prälaten!“ Neben dieser auch in den Kontext europäischer Kulturkämpfe42 zu stellenden Elemente zeichnet den Text aber auch eine bisher beispiellose Sakralisierung der „Nationalen Wiedergeburt“ des 19. Jahrhunderts aus, dem bis heute reproduzierten Kernnarrativ des bulgarischen Nationalismus seit dem ausge40  Dank „gelehrter Slawisten“ sei diese als „Idee der Solidarität zwischen den unterschiedlichen Teilen der Slawen“ im vergangenen Jahrhundert „auferstanden“. Cărkoven Věstnik, Bd. 19 (10.05.1903), S. 1–3, hier S. 1. 41  Ebd., S. 2. Zum Bandenkrieg in der historischen Region Makedonien immer noch: Fikret Adanır, Die makedonische Frage. Ihre Entstehung und Entwicklung bis 1908, Wiesbaden 1979. 42  Christopher Clark/Wolfram Kaiser (Hrsg.), Culture Wars. Secular-Catholic Conflict in Nineteenth-Century Europe, Cambridge 2003.



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henden 19. Jahrhundert,43 insbesondere im Rahmen der Referenz gerade auf die Brüder. Vermeintliche Diagnose bzw. erwünschte Zielutopie waren die „volle Auferstehung des slawischen Geistes, die Wiedergeburt (văzraždane) aller slawischen Völker: der Bulgaren, der Russen, der Tschechen, der Serben, der Kroaten, der Polen etc., – durchdrungen von den Vermächtnissen der heiligen Brüder Kyrill und Method, Vermächtnisse, die unserer ganzen slawischen Geschichte zugrunde liegen.“44 Durch die Überlagerung der Rede von der „Wiedergeburt“ mit der Vorstellung der „Auferstehung“ setzte der Geist­ liche einen „Volksgeist“ nationaltheologisch an die Stelle Christi und imaginierte Völker als lebendige Einheiten. Als kriegerische „Wiedergebärer“ nahmen die Brüder in dem Denkmodell des Geistlichen eine weitaus stärkere Position ein, als traditionellen Heiligen zukommen konnte. Die Brüder seien für „ihren Glauben und slawische Ideen“45 eingetreten, ja „Krieger für allgemeinslawische Ideen“ gewesen – das Engagement im Kampf um die Durchsetzung undefinierter ethnischer Interessen trat als weltlicher Handlungshorizont an die Stelle des Einsatzes für die universale christliche Mission. Für die Gegenwart hoffte Chimitlijski, die Brüder würden die Slawen zu „neuem politisch-kulturellem Leben erwecken (probužda)! Und die Feinde der Slawen sehen dieses große historische Drama und sie wagen nicht, ihre Sympathie zu zeigen, denn es entwickelt sich nicht so, wie sie es sich wünschen!“46 Die Wirkung der Tätigkeit der Brüder war hier gänzlich politisch-theologisch historisiert und in den Dienst eines allgemeinslawischen Nationalgefühls sowie des in der nahen Vergangenheit und Gegenwart geführten Krieges um nationale Unabhängigkeit und die diskursive sowie militärische Emanzipation vom gerade mithilfe dieser Texte delegitimierten Osmanischen Reich gestellt. Militarisierung im Ersten Weltkrieg Nicht nur Politiker, Geistliche und Offiziere, auch Philologen griffen im Kriegsdiskurs die Verbindung des Kämpferdiskurses mit den hier in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückten Erinnerungsfiguren auf: Eine bulgarische Sicht der Dinge vertrat Benjo Conev (1863–1926) in seiner in Sofia 1915 publizierten Broschüre Ruhm Kyrill und Method! Der Linguist und Dekan der Historisch-Philologischen Fakultät der Kliment-Universität in Sofia beantwortete die Frage nach der ethnischen Herkunft der Brüder sowie insgesamt der Heiligen der „Siebenzahl“ nicht einfach im bulgarischen Sinne, 43  Weber,

Suche nach der Nation. Chimitlijski, 1. Prazdnikăt na slavjanskite părvoučiteli i tjachnite učiteli. 2. Sv. Car’ Boris (rěči), Sofia 1914, S. 6. 45  Ebd., S. 7. 46  Ebd., S. 8. 44  Michail

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sondern gewissermaßen konstruktivistisch – sie seien wegen ihrer Verdienste als „Pfeiler der bulgarischen Kirche und Kämpfer für das bulgarische Wort“ von den Bulgaren so zu verehren, „als ob sie wirkliche Bulgaren gewesen wären“.47 Conev problematisierte damit direkt den bisher vorherrschenden transnationalen, gesamtslawischen Zusammenhang der Verehrung insbesondere der „Brüder aus Saloniki“. Er aktualisierte den Bezug mit seiner Einschätzung der angeblichen neuen „Versklavung“ durch die Serben – diese sei schlimmer als diejenige durch die Türken – und sie zeige sich insbesondere in der Verdrängung des eigenen, bulgarischen Diskurses. Conev brandmarkte insbesondere die diskursive Umdefinition der Heiligen. Der bewusste Eingriff in die bisherige Bedeutungsaufladung der Brüder, der die neue staatliche Zugehörigkeit untermauern sollte, wurde in Sofia als übergreifendes Zeichen der „Versklavung“ gedeutet. Conev beschrieb die Darstellung der Brüder in serbischen Zeitungen ausführlich und versuchte, was aus bulgarischer Sicht eine radikale Umdeutung war, zu delegitimieren: „Und wenn mit den überaus leuchtenden Namen und dem heiligen Gedächtnis der bulgarischen ersten Aufklärer Spott getrieben wird, berichten die serbischen Zeitungen darvon, dass dieses Jahr der 11. Mai am feierlichsten in ganz Alt- und Neuserbien gefeiert worden sei; ja, er wird gefeiert, aber nachdem Kyrill und Method zu Serben erklärt wurden!“48

Die bulgarische Beobachtung serbischer Diskurse führte im post-osmanischen Zusammenhang sogar zu einer positiven Bewertung „türkischer“ Herrschaft: „Oh weh, es brauchte den Sieg über die Türken, um zu bemerken, wie tolerant sie uns gegenüber waren! Überall, von wo die Türken verschwanden, verschwand auch unser nationaler Feiertag; heute wird er nur in unserem freien Zarentum gefeiert und in dem kleinen Ecken türkischen Landes, das noch in Europa liegt, aber in unseren christlichen und slawischen Nachbarreichen ist dieser als bulgarischer Feiertag verschwunden.“49

Der „Kampf“ des 19. Jahrhunderts im Zeichen der Brüder sollte nun zum Vorbild der (neuen) Versuche einer nationalen, auch militärischen Einigung werden: 47  B[enjo] Conev, Slava Kirilu i Metodiju!, Sofia 1915, S. 3; vgl. Weber, Suche nach der Nation, S. 172 f. 48  Conev, Slava Kirilu i Metodiju!, S. 12. 49  „Heute wagen unsere Gleichstämmigen (edinorodci), die Bewohner des Landes, wo die hll. Kyrill und Method das göttliche Licht gesehen haben, wo sie aufwuchsen und als erste das Wort Gottes in die eigene (rodna) slawische Sprache übersetzten, heute ­wagen unsere bedauernswerten Brüder in Makedonien nicht einmal des Namens Bulgare zu gedenken, geschweige denn den bulgarischen Feiertag zu feiern. Ja, unsere unglück­ lichen Brüder im noch unglücklicheren Makedonien denken nicht an Feiertage, sie schauen nur, wie sie ihren Besitz retten, ihre Ehre und ihr Leben, denn ihre neuen Versklaver nehmen ihnen alles weg, und nehmen ihnen sogar den Namen weg.“ Ebd., S. 12 f.



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„Lasst uns ein Beispiel nehmen an unseren Vätern, wie gemeinsam und einig sie den Kampf um die nationale Kirche führten, und deshalb schnell Erfolge erreichten. Die heiligen Antlitze Kyrills und Methods waren ihnen Helfer und Ermunterer in ihrem nationalen Werk. Auch jetzt mögen unsere Heiligen uns ein Symbol für die Eintracht (sgovor) sein, damit wir durch sie eine Zeit geistiger Einheit erreichen […], geschlossen und einträchtig (edinodušno): Kirche, Schule, Heer und Bürgerlichkeit (graždanstvo), um die allnationale (vsenarodno) Einigung zu erreichen. Ruhm Kyrill und Method!“50

Die Brüder sollten laut dem Dekan der Universität zum Schlachtruf nicht mehr nur eines Kirchenkampfes, sondern der staatlichen Erweiterung nach außen sowie und insbesondere der nationalen gesellschaftlichen Homogenisierung nach innen werden. Ganz in diesem Zusammenhang ließ Zar Ferdinand (1861–1948) nach dem Angriff der russischen Flotte auf Varna die als „Gedenkkirche“ für die während des Befreiungskampfes Gefallenen nach 1879 geplante und von 1882 bis 1913 erbaute Nevskij-Kathedrale in Sofia 1915 bzw. 1916 zu Ehren Kyrills und Methods umweihen.51 Bereits 1912 war das Gebäude mit einem großflächigen, historistischen Gemälde und mehreren weiteren Darstellungen der Heiligen ausgestattet worden.52 Der prominenteste Kriegerheilige des Russischen Reiches53 und seine in der Kirche hergestellte monumentale Verbindung mit Bulgarien, die für die Schutzherrschaft Russlands über das junge Fürstentum stehen sollte, wurde so durch ein bulgarisiertes Gedenken Kyrills und Methods ersetzt. Im August 1916 wurde der erste Todestag Kliments nach der erneuten, nun mit deutscher Hilfe erfolgten bulgarischen Besetzung großer Teile VardarMakedoniens vor Ort besonders gefeiert.54 Der Kirchenhistoriker und damals den Kirchenboten redigierende Ivan Sněgarov (1883–1971) hielt am 9. August in Skopje eine Ansprache zu Ehren Kliments mit dem Titel „Ein großer Leuchter über dem bulgarischen Land: Der hl. Kliment von Ohrid und seine geistigkulturelle Bedeutung“. Kliment diente nun ganz direkt als Medium der Imagination einer bulgarischen Nation in Vardar-Makedonien und damit zur Recht50  Ebd.,

S. 15. Radkova, Chram-Pametnik „Sv. Aleksandăr Nevski,“ Sofia 1999, S.  12 f.,  93; Dmitry Polyviannyi, „The Foundation of the Third Bulgarian Tzardom. Ferdinand von Saxe-Coburg-Gotha in Bulgaria (1887–1908)“, in: János M. Bak et al. (Hrsg.), Gebrauch und Missbrauch des Mittelalters, 19.–21. Jh., München 2009, S. 109–119, hier S. 119. 52  Asen Vasiliev, Obrazi na Kiril i Metodij v Bălgarija, Sofia 1970, Abb. 83 ff. 53  Schenk, Aleksandr Nevskij. 54  Weber, Suche nach der Nation, S. 201 f.; Björn Opfer, Im Schatten des Krieges. Besatzung oder Anschluss – Befreiung oder Unterdrückung? Eine komparative Untersuchung über die bulgarische Herrschaft in Vardar-Makedonien 1915–1918 und 1941–1944, Münster 2005. 51  Rumjana

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fertigung der gewaltsamen Besetzung: Die „im Namen des hl. Kliment“ versammelte „gesamte Bürgerschaft jeden Alters“ sollte ein tagespolitisches „Zeichen“ sein für die lebendige Gegenwart eines „nationalen Geistes“ im „Kampf“ gegen „Unterdrücker“ – in der Vergangenheit wie in der Gegenwart.55 Kliment wurde als „Alpha und Omega der bulgarischen Eigenart“ auch hier zum Christus der bulgarischen Nationalität stilisiert.56 Der „Geist Kliments“ wurde nun auch zur „Kraft“, die eine „bulgarische Nationalität“ schaffen konnte – und die Makedonien zu einer „Feuerstelle des bulgarischen Bewusstseins“ machen sollte. Sněgarov bedachte Makedonien so mit der Rolle eines Piemonts Bulgariens. Zudem schrieb er Bulgarien in den seit dem Spätmittelalter entstandenen (ost)mitteleuropäischen Antemurale-Diskurs ein.57 Dieser Schachzug erlaubte es, makedonische Identität ehrenvoll in einen übergreifenden, bulgarischen Rahmen stellen zu können, ohne dass sie von diesem gänzlich vereinnahmt worden wäre. Dennoch war es die „Mutter Bulgarien“, und nicht Gott oder Makedonien, die für die Geburt dieses „göttlichen Sohnes“ und „Kriegers“ verantwortlich zeichnete. Kliment war damit zur Gelegenheit geworden, die allegorische Vorstellung der Nation mit einer explizit göttlichen, religiösen Rolle zu versehen, die mit traditionellen theologischen Vorstellungen unvereinbar war. Seine Deutung als „Krieger“ ist nicht weniger weit von den mittelalterlichen Texten um ihn entfernt, auch wenn als sein Kampfgebiet nur „Gerechtigkeit und Bildung“ galten.58 Sněgarov rief die Bul55  „Meine Seele erfüllt sich mit Freude, wenn ich die gesamte Bürgerschaft allen Alters hier im Namen des hl. Kliment versammelt sehe. Ich freue mich, denn dies ist ein deutliches Zeichen, dass in dieser ruhmreichen historischen Stadt, die als erste den Kampf gegen die geistlichen Unterdrücker aufgenommen hat, auch heute ein wacher nationaler Geist lebt.“ Ivan Sněgarov, Veliko světilo nad bălgarskata zemja (Sv. Kliment Ochridski i negovoto duchovno-kulturno značenie), Sofia 1917, S. 5. 56  Ebd., S.  1. 57  Liliya Berezhnaya/Heidi Hein-Kircher (Hrsg.), Rampart Nations. Bulwark Myths of East European Multiconfessional Societies in the Age of Nationalism, New York/Oxford 2019; Paul Srodecki, Antemurale Christianitatis. Zur Genese der Bollwerksrhetorik im östlichen Mitteleuropa an der Schwelle vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit, Husum 2015; ders., „Antemurale Christianitatis“, in: Bahlcke/Rohdewald/ Wünsch (Hrsg.), Religiöse Erinnerungsorte, S. 804–822. 58  Der Redner fuhr fort: „Denn der Geist des hl. Kliment ist jene geheimnisvolle Kraft, die das bulgarische Volk gesund bewahrt hat, frisch und munter bis heute, […] denn dieser Geist ist jene Kraft, die in Makedonien eine starke, hartnäckige, während eines ganzen Jahrtausends durch keine feindlichen Schläge gebrochene bulgarische Nationalität geschaffen, und damit Makedonien dazu gerüstet hat, eine unerlöschliche Feuerstelle (ognište) des bulgarischen Bewusstseins, eine unerschöpfliche Quelle der bulgarischen Macht, eine ewige Wiege der bulgarischen Sehnsüchte und Ideale zu sein: weil schließlich der Ruhm des hl. Kliment der Ruhm der Mutter Bulgarien (maj­ka Bălgarija) ist, die einen solchen göttlichen (božestven) Sohn geboren hat, einen solch großen Krieger (ratnik) für die Gerechtigkeit und Bildung.“ Sněgarov, Veliko světilo nad bălgarskata zemja, S. 21 f.



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garen zum Lob des Herrn dafür auf, dass er ihnen einen solch „zuverlässigen Wächter“ geschenkt habe, und erneuerte so Kliments politisch-theologische Funktion als Schutzheiliger.59 Erst anlässlich der erneuten Besetzung Ohrids (1941–1944) im Zweiten Weltkrieg sollte die in dieser Rede erfolgte nationaltheologische Indienstnahme Kliments übertroffen werden. Schließlich sei aber auch auf ein seltenes Beispiel für eine Gegenentwicklung unmittelbar im Rahmen desselben Erinnerungsdiskurses hingewiesen: In einer Rede im Sofioter Geistlichen Seminar umriss der Theologe und zeitweilige Mitarbeiter sowie Redakteur des Kirchenboten Danail Laskov (Lebensdaten unbekannt) am 14. April 1915 Motivation und Vorbereitung des Gedenkens des 1000. Todesjahrs Kliments in einen antimilitaristischen Kontext zu rücken: Ein zu errichtendes Denkmal zu Ehren Kliments sollte für einen „heldenmütigen“ nationalen bulgarischen Gegenentwurf gegen „schrecklichsten Militarismus“, „blutige Kriege“ und „religiösen Indifferentismus“ stehen, sein Denkmal solchen von „Generälen“ und „Imperatoren“ entgegenstehen. Der damit angeblich demonstrierte „religiöse Geist“ und „gesunde Verstand des bulgarischen Volkes“ betonte einen pazifistischen, antiimperialen und religiösen Charakter des nationalen Projektes.60 Es galt, den die Region beherrschenden Imperien Europas ein im Kontext der Moderne entworfenes, aber gleichzeitig als „eigenes“, als orthodox wahrzunehmendes nationales Gegenstück entgegenzusetzen: Bulgarien sollte mithilfe Kliments eine postkoloniale, moralisch angeblich bessere Moderne repräsentieren. Schluss Im Zusammenhang mit den Balkankriegen und dann des Ersten Weltkriegs ist folglich eine deutliche rhetorische Militarisierung, aber auch eine weitere Sakralisierung der Nation im Medium bisher nicht primär als Heerführer verehrter Heiliger in Bulgarien und Serbien in der wechselseitigen Konkurrenz insbesondere um das osmanische Makedonien zu beobachten. Übergreifend ist festzuhalten, dass sich diese Diskurse ganz im europäischen Rahmen 59  Ebd.,

S. 22.

60  Angesichts

der Initiative der Universität sowie des Engagements des Staates sei hervorzuheben, dass in einer künftigen Geschichte des Slawentums des 20. Jahrhunderts, „des Jahrhunderts des schrecklichsten Militarismus und der fürchterlichsten blutigen Kriege, des Jahrhunderts des religiösen Indifferentismus und des ideellen Skeptizismus, ein kleines, aber heldenmütiges slawisches Volk, nach einem siegreichen Krieg zur Befreiung seiner unterdrückten Brüder, Denkmäler errichtet nicht von Generälen und Heerführern, nicht von Zaren und Imperatoren, sondern von bescheidenen Pionieren der geistigen Kultur, eines Volkslehrers und friedlichen Geistlichen!“ Danail T. Laskov, Život i dějnosť na sv. Kliment Ochridski s edna negova propověd, Sofia 1915, S. 4.

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entfalteten: Auch etwa für Frankreich wird bis 1914 die „Sakralisierung der Nation im Krieg“ festgestellt, wobei sich diese „von den ursprünglich christologisch-heilsgeschichtlichen Erlösungsinhalten der Monarchie abgekoppelt hatte, und die religiöse Formensprache immer mehr auf den Erlösungsanspruch der Nation selbst übertragen wurde“.61 Diese Entwicklung sollte sich in Bulgarien wie in serbischen Diskursen bis 1944 auch und nicht nur in Texten über die hier in den Fokus gerückten Heiligen intensivieren. Insgesamt bleibt der lokal verankerte, überregionale Konkurrenzzusammenhang in der wechselseitigen Beobachtung und Verflechtung der Erinnerungspraktiken hervorzuheben, die sich nach dem Krieg im Gedenken des Krieges62 fortsetzte: Eine Broschüre des Bildungsministeriums 1921 zu Ehren der Brüder Kyrill und Method publizierte den Text einer Ansprache, die ein bulgarischer Offizier bei der Begehung des Feiertages zu Ehren der beiden Brüder, vermutlich 1915, an der Front nahe Monastir/Bitola anlässlich einer militärischen Parade zum „großen Feiertag des Bulgarischen Landes“ gehalten hatte: Der Militär verglich in seiner Rede die Brüder direkt mit Nationalheiligen anderer slawischer Nationen: „die Serben verehren den hl. Sava, die Russen den hl. Aleksandr Nevskij, die Tschechen den hl. Nepomuk“. Im Gegensatz zu diesen seien aber die Brüder von größerer, transna­ tionaler Bedeutung, da sie „das ganze slawische Geschlecht aus der Dunkelheit und vor dem Untergehen (zatrivane) gerettet“ hätten.63 Diese überregionale Einordnung sowie die zitierte Reflektion über das Osmanische Reich rücken den Vorgang in einen transosmanischen Zusammenhang wechselseitiger ­postosmanischer Abgrenzungspraktiken.64

61  Leonhard,

Bellizismus und Nation, S. 823. Manfred Sapper/Volker Weichsel (Hrsg.), Totentanz. Der Erste Weltkrieg im Osten Europas (= Osteuropa, Bd. 2–4 [2014]). 63  „Bulgarische Söhne! Heute ist der große Feiertag des Bulgarischen Landes (zemja). Am heutigen Tag gedenken (spomvat) bulgarische Herzen überall, wo sie sich befinden, mit Dankbarkeit der beiden Soluner Brüder Kyrill und Method, die ihrer Heimat (Rodinata) und der ganzen slawischen Welt das Licht (světlina) durch das Wort und durch das Alphabet [spendeten, S. R.]. [ …] Jeder der slawischen Stämme hat seine Heiligen: die Serben verehren den hl. Sava, die Russen – den hl. Aleksandr Nevskij, die Tschechen – den hl. Nepomuk. Aber was haben diese Heiligen getan? Das weiß jedes Geschlecht (rod) von seinem Heiligen, aber kein slawischer Stamm kann sagen wie wir Bulgaren: Schaut, diese unsere Brüder haben nicht nur Bulgarien, sondern das ganze slawische Geschlecht aus der Dunkelheit und vor dem Untergehen (zatrivane) gerettet.“ Sv. Sv. Kiril i Metodi 24/11 Maj 1921 god, hrsg. v. Volksbildungsministerium, Sofia 1921, S. 8. 64  Stefan Rohdewald/Stephan Conermann/Albrecht Fuess (Hrsg.), Transottomanica – Osteuropäisch-osmanisch-persische Mobilitätsdynamiken. Perspektiven und Forschungsstand (= Transottomanica Osteuropäisch-osmanisch-persische Mobilitätsdynamiken, 1), Göttingen 2019. 62  U. a.

Sakralisierungen des soldatischen Sterbens: Nationalsozialistischer Totenkult um Weltkriegsgefallene, Märtyrerfiguren und Ruhrkämpfer im rheinisch-westfälischen Industriegebiet Von Sarah Thieme Hunderttausende SA- und SS-Männer, Hitlerjungen, Mitglieder des Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten und ehemalige Freikorpskämpfer sowie Kriegerund Schützenvereine versammelten sich am 28. Mai 1933 zu Gedenkfeiern anlässlich des zehnten Todestages von Albert Leo Schlageter auf der Golzheimer Heide in Düsseldorf.1 NSDAP-Gauleiter Friedrich Karl Florian (1894– 1974)2 übergab das bereits während der Weimarer Republik errichtete und nun zum „Nationaldenkmal“ erhobene Ehrenmal in seiner Rede während der Hauptkundgebung an die Stadt Düsseldorf, die das „Heiligtum“ zu einer „Wallfahrtsstätte der Nation“ ausgestalten solle. Sakraler Charakter wurde dem Ort durch seine besondere Bindung an den „Märtyrer der Idee“ zugesprochen.3 1  Zum Düsseldorfer Schlageter-Denkmal vgl. Michael Knauff, „Das SchlageterNationaldenkmal auf der Golzheimer Heide in Düsseldorf“, in: Geschichte im Westen, Bd. 10 (1995), S. 168–191; Christian Fuhrmeister, „Instrumentalisierung und Retusche. Widersprüche in der nationalsozialistischen Rezeption des Düsseldorfer Schlageter-Denkmals von Clemens Holzmeister“, in: Sabine Arnold u. a. (Hrsg.), Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert: Zur Sinnlichkeit der Macht, Wien 1998, S. 56–74. Zur Schlageter-Verehrung verschiedener politischer Gruppierungen während der Weimarer Zeit vgl.: Stefan Zwicker, „Ein Held für viele. Albert Leo Schlageter – Realität und Mythos eines ‚nationalen Märtyrers‘ “, in: Mythologica. Düsseldorfer Jahrbuch für interdisziplinäre Mythosforschung, Bd. 8 (2002), S. 155–166; zum NS-Gedenken vor 1933 vgl. auch: ders., „Nationale Märtyrer“: Albert Leo Schlageter und Julius Fučik. Heldenkult, Propaganda, Erinnerungskultur, Paderborn 2006, S. 123. Zur 10. Jahrfeier vgl.: Fuhrmeister, „Instrumentalisierung“, S. 65; Hans-Peter Görgen, Düsseldorf und der Nationalsozialismus. Studie zur Geschichte einer Grossstadt im „Dritten Reich“, Düsseldorf 1969, S. 102 f.; Knauff, „SchlageterNationaldenkmal“, S. 183–186; Zwicker, „Nationale Märtyrer“, S. 128 f. 2  Zum Düsseldorfer NSDAP-Gauleiter Friedrich Karl Florian vgl.: Joachim Lilla, Statisten in Uniform. Die Mitglieder des Reichstags 1933–1945. Ein biographisches Handbuch, Düsseldorf 2004, S. 145 f.; Peter Hüttenberger, Die Gauleiter. Studie zum Wandel des Machtgefüges in der NSDAP, Bonn 1969, S. 213. 3  „Am Schlageterdenkmal“, in: Rheinische Landeszeitung, Düsseldorfer StadtAnzeiger (10.11.1936). Zur NS-Mythenbildung um Schlageter s. u.

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Vermeintlich stimme der Standort des Denkmals mit der Hinrichtungsstätte Schlageters überein und wäre daher durch das von ihm vergossene Blut als Sakralort gekennzeichnet.4 Zugleich erinnerte das Denkmal ebenso an 141 „Helden des Ruhrkampfes“,5 die in Auseinandersetzungen mit den belgischfranzösischen Besatzern in den Jahren zwischen 1923 und 1925 verstorben waren. Der nationalsozialistische Schlageterkult überlagerte das Denkmal und vereindeutigte es.6 Der Nationalheld wurde für die nationalsozialistische ­Politik adaptiert.7 Ebenso wurden die aufgelisteten Toten aus der Besatzungszeit vereinnahmt. Der Schlageterkult war Teil der sakralisierten Politik der NS-Bewegung.8 Jene stiftete Sinn und deutete die Welt unter Verweis auf das Sakrale, d. h. der Repräsentation des als „heilig“ Imaginierten in der Welt.9 Die NS-Bewegung positionierte sich darin als eigenständiger Glaubens­ anbieter,10 um ihre Anhänger besonders anzusprechen und zum weiteren 4  Fuhrmeister,

„Instrumentalisierung“, S. 68. die rückseitige Inschrift auf dem überirdischen Denkmalsockel in Form eines stilisierten Sarkophags, auf dem ein Stahlkreuz thronte. Darüber hinaus waren im unterirdischen Gedenkraum – dem Kernstück des Denkmals – zwei Sandsteintafeln angebracht, die die 141 Namen der Ruhrkampf-Gefallenen auflisteten. Dazu: Fuhrmeister, „Instrumentalisierung“, S. 59; Görgen, Düsseldorf, S. 101; Knauff, „Schlageter-Nationaldenkmal“, S. 178. 6  Fuhrmeister, „Instrumentalisierung“, S. 68. 7  Ebd., S. 56; Knauff, „Schlageter-Nationaldenkmal“, S. 183; Zwicker, „Nationale Märtyrer“, S. 122. Zum NS-Schlageterkult nach 1933 vgl.: ebd., S. 133–139; Görgen, Düsseldorf, S. 100–104. Das Ehrenmal wurde auch als Sakralort zur rituellen Verehrung aller regionaler NS-Märtyrerfiguren genutzt, dazu: „Am Schlageterdenkmal“, in: Rheinische Landeszeitung, Düsseldorfer Stadt-Anzeiger (10.11.1936). 8  Zur NSDAP und ihren Gliederungen als soziale Bewegung vgl.: Armin Nolzen, „Der Durchbruch der NSDAP zur Massenbewegung seit 1929“, in: Hans-Ulrich Thamer/Simone Erpel (Hrsg.), Hitler und die Deutschen. Volksgemeinschaft und Verbrechen, Dresden 2010, S. 44–49; Sarah Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult. Sakralisierte Politik und Christentum im westfälischen Ruhrgebiet, Frankfurt am Main 2017, S. 35–41. Zum Konzept der sakralisierten Politik der NS-Bewegung: ebd., insbes. S. 46–50. Hockerts folgend wird das Erklärungsmodell der „politischen Religion“ im Folgenden nicht angewendet, da religiöse Elemente nur einen Aspekt der NS-Herrschaft ausmachten und diesen nicht in seiner Gänze erfassen können. Vgl. dazu: Hans Günter Hockerts, „War der Nationalsozialismus eine politische Religion? Chancen und Grenzen eines Erklärungsmodells“, in: Klaus Hildebrandt (Hrsg.), Zwischen Politik und Religion, München 2003, S. 45–71. Vgl. auch den Beitrag von Stefan Rohdewald in diesem Band. 9  Zur Definition des Sakralen vgl. Nadine Christina Böhm, Sakrales Sehen. Strategien der Sakralisierung im Kino der Jahrtausendwende, Bielefeld 2009, S. 49, 103– 105; Ähnlich bereits: Émile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt am Main 2007 (i. Orig. Les formes élémentaires de la vie religieuse: le système totémique en Australie, Paris 1912), S. 62–69. 5  So



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Engagement und zur besonderen Hingabe für die NSDAP zu motivieren. Unter Sakralisierungen sind dynamische Zuschreibungsprozesse des Heiligen und Grenzziehungen vom Außeralltäglichen zu verstehen.11 Dem dadurch als Sakrales Herausgehobenen kam eine sozial distinktive Rolle zu; es konnte als besonderes Vorbild dienen. Von besonderer Bedeutung sind dabei Medien der Zuschreibung und Vermittlung wie Mythen und Rituale. Strategien und Techniken der Sakralisierung umfassen beispielsweise die Verwendung von Sakralsprache und -musik, sakrale Narrative und Bilder, den Einsatz von inszenatorischer Liturgie, sakralen Zeichen und Symbolen sowie rituellen Elementen.12 Eine spezifische Strategie waren überdies Sakraltransfers,13 d. h. nachahmende oder synkretistische Rückgriffe auf das christliche Repertoire an Sprache und Formen des Sakralen, beispielsweise auf sakrale Figuren wie Märtyrer oder (militärische) Heilige. Sie konnten insbesondere zur Erfüllung von Traditionserwartungen der Teilnehmer dienen.14 Zudem wurden auch Traditionen aus dem militärischen Totengedenken übernommen, in dem Religion und Politik ineinander konvergierten.15 In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etablierte sich so eine eigene Sakralsphäre des soldatischen Gefallenengedenkens, die ebenfalls mit christlichen Inhalten und Symbolen durch10  Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult, S. 494. Zur sakralisierten Politik der NS-Bewegung vgl. ebd., insbes. S. 46–54. 11  Es handelt sich dabei um eine Kulturtechnik, so Insa Eschebach/Susanne Lanwerd, „Säkularisierung, Sakralisierung und Kulturkritik“, in: metis. Zeitschrift für historische Frauen- und Geschlechterforschung, Bd. 9 (2000), S. 10–26, hier S. 23; ähnlich: Angelika C. Messner, „Annäherungen an das „Heilige“ in kulturwissenschaftlicher Perspektive“, in: dies./Konrad Hirschler (Hrsg.), Heilige Orte in Asien und Afrika. Räume göttlicher Macht und menschlicher Verehrung, Schenefeld 2006 (Beiträge des Zentrums für Asiatische und Afrikanische Studien, 11), S. 1–16, hier S. 1. Heinzer u. a. sprechen in diesem Zusammenhang von „boundary works“ des Außeralltäglichen, in: dies., „Einleitung: Relation zwischen Sakralisierung und Heroisierung“, in: dies. (Hrsg.), Sakralität und Heldentum, Würzburg 2017 (Helden – Heroisierungen – Heroismen, 6), S. 9–18, hier S. 12. 12  Zu Sakralisierungsstrategien vgl. Eschebach/Lanwerd, „Säkularisierung“, S. 21.; Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult, S. 51. 13  Eschebach/Lanwerd führten den Begriff ein in: dies., „Säkularisierung“, S. 25. Siehe ebenso: Emilio Gentile, „Die Sakralisierung der Politik“, in: Hans Maier (Hrsg.), Wege in die Gewalt. Die modernen politischen Religionen, Frankfurt am Main 2000, S. 166–182, hier S. 171–173; Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult, S. 51–53. 14  Hans-Ulrich Thamer, „Faszination und Manipulation, Die Nürnberger Reichsparteitage der NSDAP“, in: Uwe Schultz (Hrsg.), Das Fest. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 1988, S. 352–368, S. 356; Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult, S. 202. Vgl. auch den Beitrag von André Johannes Krischer und die Einleitung von Liliya Berezhnaya in diesem Band. 15  Reinhart Koselleck, „Einleitung“, in: ders./Michael Jeismann (Hrsg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994, S. 9–20, S. 9.

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mischt war.16 Die Verknüpfung von Nation, Religion, Militär und Krieg erlangte in der nationalsozialistischen Praxis eine neue Qualität.17 Zentral in der sakralisierten Politik der NS-Bewegung war der Totenkult, insbesondere die Sakralisierung des militärischen Kampfes und des soldatischen sacrificiums als freiwillig erbrachtem Lebensopfer an die deutsche Nation. Exemplarisch untersuche ich daher Sakralisierungen des soldatischen Sterbens im NS-Totenkult für das „rheinisch-westfälische Industriegebiet“,18 einer der „Gewalthochburgen des Deutschen Reiches“,19 das in den Jahren nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wiederholt durch Gewalthandeln, Militarisierung und einer damit einhergehenden Brutalisierung von Politik und Gesellschaft geprägt war: In den Jahren 1918 bis 1920 erlebte das Ruhrgebiet den Bürgerkrieg des sogenannten „Ruhrkampfes“.20 Von 1923 bis 1925 schloss sich die französisch-belgische Besatzungszeit21 an. Seit Ende der 1920er Jahre bekämpften sich die politischen Gegner im Rahmen einer gewaltsamen Straßenpolitik, die ihren Höhepunkt im Krisenjahr 1932 erlebte.22 Zahlreiche Menschen wurden getötet. 16  Vgl. dazu: Michael Jeismann/Rolf Westheider, „Wofür stirbt der Bürger? Nationaler Totenkult und Staatsbürgertum in Deutschland und Frankreich seit der Französischen Revolution“, in: Reinhart Koselleck/Michael Jeismann (Hrsg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994, S. 21–50; vgl. auch: Insa Eschebach, Öffentliches Gedenken. Deutsche Erinnerungskulturen seit der Weimarer Republik, Franfurt am Main 2005, insbes. S. 60–65; Koselleck, „Einleitung“, S. 9. 17  Sven Reichardt, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln 2009, S. 562. 18  Diese zeitgenössische Gebietsbezeichnung schloss neben den Gemeinden und Kommunen des Ruhrgebietes auch die industriell geprägten Gebiete um Wuppertal und Düsseldorf ein. 19  Ebd., S. 80. Zur NSDAP im Ruhrgebiet vgl. Wilfried Böhnke, Die NSDAP im Ruhrgebiet 1920–1933, Bonn 1974; Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult, S. 82–100. 20  Zur Deutung des „Ruhrkampfes“ als Bürgerkriegsgeschehen vgl.: Klaus Tenfelde, „Bürgerkrieg im Ruhrgebiet 1918 bis 1920“, in: Karl-Peter Ellerbrock (Hrsg.), Erster Weltkrieg, Bürgerkrieg und Ruhrbesetzung. Dortmund und das Ruhrgebiet 1914/18–1924, Dortmund 2010, S. 13–66. 21  Zur Ruhrbesetzung vgl. Conan Fischer, The Ruhr Crisis, 1923–1924, Oxford 2003; Gerd Krumeich/Joachim Schröder (Hrsg.), Der Schatten des Weltkriegs: Die Ruhrbesetzung 1923, Essen 2004 (Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens, 69). Zur Gewalt in diesem Zeitraum vgl. insbes. Gerd Krüger, „ ‚Wir wachen und strafen!‘ – Gewalt im Ruhrkampf von 1923“, in: Krumeich/Schröder (Hrsg.), Der Schatten, S. 233–255. 22  Vgl. Daniel Schmidt, „ ‚Soldaten der Bewegung‘. Gewaltpraxis und Gewaltkult in der SA während der nationalsozialistischen ‚Kampfzeit‘ “, in: Jan Schedler/Alexander Häusler (Hrsg.), Autonome Nationalisten. Neonazismus in Bewegung, Wiesbaden 2011, S. 263–272, insbes. S. 263 f.



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Vor diesem historischen Hintergrund etablierte die regionale NS-Bewegung ihren politischen Totenkult, der neben der Erinnerung an die gefallenen Soldaten des Weltkrieges Nachkriegstote der Jahre 1918–1925 adaptierte sowie einen genuin nationalsozialistischen Märtyrerkult umfasste.23 Jene Regionalisierung und Anpassung der nationalsozialistischen Mythen des soldatischen sacrificiums an das Ruhrgebiet sowie die dortige lokale und regionale Gedenkpraxis stehen im Fokus der folgenden Analyse.24 In einem ersten Schritt analysiere ich die mythischen Inhalte des sakralisierten soldatischen Sterbens, die insbesondere in der regionalen NS-Presse, wie den Gauzeitungen,25 sowie in den Reden von NS-Funktionären anlässlich von wiederholten rituellen Ehrungen der Gefallenen im NS-Feierjahr vermittelt wurden. Inszeniert wurden die Mythen vor allem anlässlich des sogenannten „Heldengedenktages“ im Frühjahr, am sogenannten „Gedenktag der Gefallenen der Bewegung“ am 9. November sowie an den jeweiligen Todestagen einzelner lokaler NS-Märtyrerfiguren. Die Gedenkpraxis des Toten- und Soldatenkultes wird im zweiten Teil der Analyse untersucht, in dem ich nach der Ausformung und den Funktionen sowie den Sakraltransfers der Verehrungspraxis frage. Nationalsozialistische Mythen des soldatischen sacrificiums Bereits der nationalsozialistische Gründungsmythos war eng mit dem soldatischen Sterben und den Kämpfen des Ersten Weltkrieges verwoben.26 Auf seinen Schlachtfeldern sei der Nationalsozialismus „geboren“ worden;27 die NS-Aktivisten seien demnach die „Erben der Front“ und dementsprechend NS-Märtyrerkult vgl. Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult. Freiräumen für regionale Politik und Regionalität im Nationalsozialismus vgl. Kurt Düwell, „Regionalismus und Nationalsozialismus am Beispiel des Rheinlandes“, in: Rheinische Vierteljahreshefte, Bd. 59 (1995), S. 194–210. Zur regionalen Anpassung der NS-Herrschaftspraxis vgl. auch: Werner Blessing, „Diskussionsbeitrag, Nationalsozialismus unter regionalem ‚Blick‘ “, in: Horst Möller u. a. (Hrsg.), Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich, München 1996, S. 47–56. 25  Im NSDAP-Gau Essen und im Gau Westfalen-Nord erschien die Nationalzeitung, im Gau Westfalen-Süd die Rote Erde (Westfälische Landeszeitung), im Gau Düsseldorf die Volksparole. 26  Zur Herstellung eines engen Zusammenhangs zwischen der NS-Bewegung und den Soldaten des Ersten Weltkrieges als Spezifikum des NS-Totenkultes vgl. auch: Reichardt, Faschistische Kampfbünde, insbes. S. 560. 27  So etwa in der Rede des Bochumer NSDAP-Kreisleiters Riemenschneider anlässlich des Heldengedenktages 1937, wiedergegeben in: „Ihre Seelen zieh’n vor uns her …“, in: Rote Erde, Groß-Bochumer Nachrichten (22.02.1937). Zum nationalso­ zialistischen Gründungsmythos vgl. Sabine Behrenbeck, Der Kult um die toten Hel23  Zum 24  Zu

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vom „soldatischen Geist“ geprägt. Insbesondere SA-Führer, allen voran Ernst Röhm,28 verstanden die NS-Bewegung als „braune Armee“29 und ihre Aktivisten als „politische Soldaten“.30 Das Militärische nahm in der politischen Kultur der SA insgesamt einen zentralen Stellenwert ein.31 Gerade da die meisten SA-Männer – mehrheitlich Kriegsjugendliche32 – selbst nicht am Krieg teilgenommen hatten, beschworen sie eine idealisierte, heroisierte Gemeinschaft und Kameradschaft der Schützengräben. Diese wollten sie bewahren und fortführen.33 Wie der Zeithistoriker Sven Reichardt aufgezeigt hat, war das Nationsverständnis der SA im Anschluss daran „sakral und soldatisch“ geprägt:34 Ihre Nation war untrennbar mit einer mythischen Imagination des Krieges, einem vermeintlich heroischen Kampf und dem sakralisierten soldatischen Sterben verbunden.35 Diesen soldatischen Kampf im Ersten Weltkrieg setzten die Nationalsozialisten im Rahmen ihrer sakralisierten Politik mythisch mit ihrem eigenen paramilitärischen, gewaltsamen Einsatz gegen politische Gegner auf den Straßen des Ruhrgebietes gleich.36 Der Straßenkampf wurde als Wiederkehr des Weltkrieges inszeniert,37 den sie zu einem endgültigen Sieg bringen und darin dem Opfer der zwei Millionen gefallenen Soldaten nachträglich Sinn den. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole, Köln 22011 (Kölner Beiträge zur Nationsforschung, 2), S. 268. 28  Zum Selbstverständnis Röhms vgl. Peter Longerich, Die Braunen Bataillone, Geschichte der SA, München 1989, S. 113 f.; Reichardt, Faschistische Kampfbünde, S. 571. Zum Verhältnis der SA zum Militär vgl. ebd., S. 570–574. 29  Vgl. zum in der SA verbreiteten Selbstverständnis als „braune Armee“ etwa ebd., S. 179–182, 237 f. 30  Bspw. in der von Friedrich Alfred Beck 1938 herausgegebenen südwestfälischen Gaugeschichtsschreibung „Kampf und Sieg,“ S. 99 f. Zum Bild der „Soldaten der Idee“ in der Nachfolge der kaiserlichen Armee vgl. auch Daniel Siemens, „Gewalt, Gemeinschaft, Inszenierung: Zur Geschichte der Sturmabteilung (SA) der NSDAP“, in: Stephanie Becker/Christoph Studt (Hrsg.), „Und sie werden nicht mehr frei sein ihr ganzes Leben“. Funktion und Stellenwert der NSDAP, ihrer Gliederungen und angeschlossenen Verbände im „Dritten Reich“, Münster 2012, S. 49–68, hier S. 49, 57; Schmidt, „Soldaten“, S. 270. 31  Schmidt spricht ebd. vom „Soldatenkult“ der SA. 32  Vgl. dazu: Longerich, Die braunen Bataillone, S. 85–91; Reichardt, Faschistische Kampfbünde, S. 346–389. 33  Ebd., S.  590 f.; Schmidt, „Soldaten“, S. 269; Daniel Siemens, Stormtroopers. A New History of Hitler’s Brownshirts, Yale 2017, S. 77 f. 34  Reichardt, Faschistische Kampfbünde, S. 593, 598. 35  Ebd., S. 609, 617. 36  Schmidt, „Soldaten“, S. 270. 37  Ähnlich: Reichardt, Faschistische Kampfbünde, S. 599, 617.



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verleihen müssten.38 Durch die Gleichsetzung der eigenen Gewaltpraxis mit dem mythisch verklärten Weltkrieg stiftete die NS-Bewegung der Gewalt ihrer Aktivisten, die insbesondere die SA im Inneren identitätsstiftend zusammenhielt,39 besonderen Sinn. Gewalt wurde darin als spezifisches und erwünschtes Mittel der Politik legitimiert.40 Zugleich beanspruchten NSFunktionsträger hierin alleinigen Vertretungsanspruch für die gesamte Nation und nutzten die Mythen, um sich gegen die Weimarer Republik abzugrenzen, da jene die Soldaten nicht hinreichend würdigen würde. So führte beispielsweise der Bochumer NSDAP-Kreisleiter Ernst Riemenschneider (1900–1960) anlässlich des Heldengedenktages 1938 rückblickend aus: „Damals wollte es so scheinen, als ob ihr Opfer umsonst gewesen ist. Dann aber kam der Führer und wurde zum Vollstrecker des Vermächtnisses der Toten. 400 seiner Getreuesten mußten ihr Leben im Kampfe um ein neues Deutschland lassen, tausende haben geblutet alle aber kämpften im wahren soldatischen Geist für eine schönere Zukunft Deutschlands.“41

Verbindungslinien zwischen den mythischen Weltkriegskonzeptionen und der NS-Bewegung zogen ihre Mythenkonstrukteure in besonderem Maße über die Verstorbenen. In ihren Narrationen schrieben sie die in der Weimarer Republik weit verbreitete Deutung des soldatischen Sterbens als freiwillig erbrachtem sakralen Lebensopfer mit heilbringender Wirkung fort. Wie eingangs bereits angesprochen, hat die historische Forschung wiederholt aufgezeigt, dass die zeitgenössische Praxis des Gedenkens an die Weltkriegsgefallenen in den Jahren seit 1918 von verbalen und performativen Rekursen auf religiöschristliche Motive geprägt gewesen ist.42 Hierin wurde insbesondere die seit dem 19. Jahrhundert einsetzende Übertragung des christlichen Verständnisses des Erlösungsopfers auf das heroisierte Sterben von Soldaten als sakralisiertes Lebensopfer für die Nation als höchstem Sinn fortgeführt.43 Verflochten war 38  Sabine Behrenbeck, „Wie man Helden macht. Heroische Mythenbildung nach dem Ersten Weltkrieg bis zur Machtergreifung“, in: Gudrun Brockhaus (Hrsg.), Attraktion der NS-Bewegung, Essen 2014, S. 45–61, insbes. S. 48 f. 39  Dazu: Schmidt, „Soldaten“, S. 263. 40  Zur Übertragung von Kriegsrhetorik auf die faschistische Politik vgl. Reichardt, Faschistische Kampfbünde, S. 616. Zur Funktion der Anpassung der Todeserfahrung an „gegenwärtige Legitimationsbedürfnisse“ im Totenkult bereits: Jeismann/Westheider, „Wofür stirbt der Bürger“, S. 43. 41  „Ihr Opfer galt dem Sieg“, in: Rote Erde, Groß-Bochumer Nachrichten (14.03.1938). Deutlich wird auch die Zuschreibung der Vermittlerrolle an Adolf Hitler, der vielfach als Soldaten-Held stilisiert wurde, der das Vermächtnis der Weltkriegsgefallenen erfüllt, soldatischen Geist und den Sieg für die „Volksgemeinschaft“ gebracht habe. Vgl. dazu insb. Behrenbeck, „Wie man Helden macht“, insbes. S. 60. 42  Eschebach, Öffentliches Gedanken, S. 62 f.; Jeismann/Westheider, „Wofür stirbt der Bürger“, S. 39–42; Koselleck, „Einleitung“, S. 9, 14. 43  Zum Transfer des Sakralopfers, das offen für Zuschreibungen und Deutungen der Nachlebenden blieb, vgl.: Behrenbeck, „Wie man Helden macht“, S. 45, 48; Jeis-

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dies mit Sakralisierungen des Militärischen und der Nation, die insbesondere von Kriegervereinen, Veteranenverbänden und der politischen Rechten seit dem Ende des Ersten Weltkrieges öffentlich verbreitet wurde.44 Für die nationalsozialistischen Mythenkonstrukteure war dies unmittelbar anschlussfähig; ihre Narrationen fügten sich nahtlos in den zeitgenössischen Opferdiskurs ein. Sie vereinnahmten die Weltkriegsgefallenen und ihr sakralisiertes Opfer in ihrer Gesamtheit für ihre gegenwärtigen politischen Ziele. Infolgedessen schrieben sie den Gefallenen zu, dass auch jene sich bereits vermeintlich für die Errichtung der NS-Heilsutopie eines „neuen Deutschlands“ geopfert und den Weg für den Nationalsozialismus bereitet hätten. In einem Gedenkartikel anlässlich des 9. Novembers 1932 führte der nationalsozialistische Journalist Gunter d’Alquen45 in der südwestfälischen Gauzeitung Rote Erde hierzu aus: „Wir gedenken in Andacht der Väter und Brüder, der Millionen unbekannten Soldaten des deutschen Volkes, die alle sich selbst zum Opfer gaben, die alle bluten und sterben mußten, damit erst der Weg frei wurde, den wir heute gehen müssen und zu Ende marschieren wollen.“46 mann/Westheider, „Wofür stirbt der Bürger“, S. 25. Zum Opfertyp des soldatischen Kriegsopfers für Deutschland, Volk und Vaterland im 20. Jahrhundert vgl. auch: ­Sabine Behrenbeck, „Heldenkult und Opfermythos, Mechanismen der Kriegsbegeisterung 1918–1945“, in: Marcel van der Linden/Gottfried Mergner (Hrsg.), Kriegsbegeisterung und mentale Kriegsvorbereitung. Interdisziplinäre Studien, Berlin 1991 (Beiträge zur Politischen Wissenschaft, 61), S. 143–159; Herfried Münkler/Karsten Fischer, „ ‚Nothing to kill or die for …‘ – Überlegungen zu einer politischen Theorie des Opfers“, in: Levianthan, Bd. 28 (2000), S. 343–362, hier S. 345, 357–359. 44  Zum sakralisierten, auf den Ersten Weltkrieg bezogenen Nationsverständnis vor allem des rechten Bürgertums vgl.: Reichardt, Faschistische Kampfbünde, S. 598, 606. Das politische Gefallenengedenken blieb während der Zeit der Weimarer Republik kontrovers und umstritten zwischen den verschiedenen Lagern. Vgl. dazu: Alexandra Kaiser, Von Helden und Opfern. Eine Geschichte des Volkstrauertags, Frankfurt am Main 2010, S. 24 f.; Alan Kramer, „First World War and German Memory“, in: Heather Jones (Hrsg.), Untold war: new perspectives in First World War studies, London 2008, 385–416, hier S. 390; Bernd Ulrich, „Die umkämpfte Erinnerung. Überlegungen zur Wahrnehmung des Ersten Weltkrieges in der Weimarer Republik“, in: Jürg Duppler (Hrsg.), Kriegsende 1918: Ereignis, Wirkung, Nachwirkung, München 1999, S. 367–375, hier S. 367; Benjamin Ziemann, Veteranen der Republik. Kriegserinnerung und demokratische Politik 1918–1933, Bonn 2014, S. 314. 45  Der 1910 in Essen geborene und aufgewachsene Gunter d’Alquen, der sich seit seiner Jugend in der NS-Bewegung engagierte, war zu diesem Zeitpunkt bereits Redakteur des Völkischen Beobachters. Als Hauptschriftleiter des Schwarzen Korps entwickelte er sich zum Chefpublizisten der SS, der er seit 1931 angehörte. Vgl. Werner Augustinovic/Martin Moll, „Gunter d’Alquen. Propagandist des SS-Staates“, in: Ronald Smelser/Enrico Syring (Hrsg.), Die SS: Elite unter dem Totenkopf. 30 Lebensläufe, Paderborn u. a. 22003, S. 100–118. 46  Gunter d’Alquen, „9. November“, in: Rote Erde, Überregional (9.11.1932); ähnlich im Jahr zuvor: „Das November-Verbrechen“, in: Rote Erde, Überregional



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Jenen Kult um das sakralisierte Opfer der Soldaten verbanden NS-Mythenkonstrukteure zugleich mit ihrem genuin nationalsozialistischen Märtyrermythos, in dem über die eigenen Toten – vermeintlich verstorben im Straßenkampf gegen politische Gegner als Dienst an der NS-Bewegung47 – direkte Kontinuitätslinien des Kampfes in Krieg und Nachkrieg gezogen wurden.48 Ihre eigenen Märtyrerfiguren setzten NS-Funktionsträger mit den gefallenen Soldaten gleich.49 So erinnerte etwa der NSDAP-Kreisleiter von Castrop-Rauxel, Dr. Anton (1887–1977) während einer Gedenkfeier für August Pfaff, der im Oktober 1932 den vermeintlichen Märtyrertod für die NSBewegung gestorben war,50 in seiner Grabrede zunächst an die Millionen gefallenen deutschen Soldaten des Ersten Weltkrieges, um sodann zu betonen: „Diesen Helden des Weltkrieges schließen sich die Toten der NSDAP. würdig an.“51 NS-Märtyrermythen verbanden das in der Weimarer Zeit erfolgreiche Motiv des sakralisierten soldatischen Lebensopfers für die Nation und damit verbundene heroische Narrative mit dem aus dem Religiösen übernommenen Motiv des Märtyrers: Ihr Märtyrerkult, der neben mythischen Konstruktionen auch eine umfangreiche kultische Gedenkpraxis umfasste, war ein entscheidender Bestandteil der sakralisierten Politik der NS-Bewegung.52 Jene eindeutige und absolute Sinnstiftung des Todes begann unmittelbar nach Eintritt des Sterbeereignisses mit der Märtyrertitelverleihung an die „Märtyrer“53 bzw. die „Blutzeugen des neuen Deutschlands“54 durch NS-Funktionsträger sowie in der regionalen und lokalen NS-Presse. Ein entscheidendes Instrument der Sakralisierung, das zugleich Kontinuität und Übereinstimmung zwischen Märtyrerkult und Gefallenengedenken er(9.11.1931). Zur regionalen Feiern des 9.  November in den Jahren vor 1933 vgl. auch: Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult, S. 300–303. Für einen internationalen Vergleich des Kultes um den Unbekannten Soldaten nach dem Ersten Weltkrieg vgl. etwa: Christoph Mick, „Der Kult um den Unbekannten Soldaten in der Zweiten Polnischen Republik“, in: Martin Schulze Wessel (Hrsg.), Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation im östlichen Europa, Stuttgart 2006, S. 181–200, insbes. S. 182–185. Vgl. auch die Einleitung von Liliya Berezhnaya im vorliegenden Band. 47  Vgl. dazu: Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult, S. 131–134. 48  Ähnlich: Schmidt, „Soldaten“, S. 270. 49  So auch Reichardt, Faschistische Kampfbünde, S. 599. 50  Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult, S. 501. 51  „Am Grabe August Pfaffs“, in: Stadtanzeiger Castrop-Rauxel, Lokalseite (23.10.1934). 52  Vgl. hierzu: Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult. 53  Zur Märtyrertitelverleihung vgl. ebd., S. 102 f. 54  „Düsseldorf ehrt die Toten“, in: Rheinische Landeszeitung, Düsseldorfer StadtAnzeiger (9.11.1937).

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zeugte, war die Verwendung einer einheitlichen Sakralsprache, die aus dem religiösen Bereich zunächst in den militärischen und nationalen, dann auch in den nationalsozialistischen Sprachgebrauch einging. Beispielsweise hieß es anlässlich der Beisetzungsfeier der Dortmunder NS-Märtyrerfigur Heinrich Habenicht55 im Sommer 1932, dieser habe sein Leben „auf dem Altar des Vaterlandes“ geopfert.56 Nationalsozialistische Mythennarrationen schrieben beiden Opfergruppen – Weltkriegsgefallenen wie Märtyrerfiguren – einen heroischen Tod als Lebensopfer für die deutsche Nation zu. Der sakralisierte Nationalmythos des Gefallenengedenkens wurde mit nationalsozialistischen Inhalten und Zielsetzungen überwölbt und auf die eigenen Toten übertragen.57 „Deutschland“ erschien in den Märtyrermythen als höchste Sakralinstanz,58 die von den Aktivisten der NS-Bewegung die Bereitschaft zur Selbstopferung einforderte. Als Ausdruck des eigenen Glaubens wurde die Todesbereitschaft zur obersten und vermeintlich geheiligten Tugend erhoben, da nur sie „Erlösung“ für die Gemeinschaft versprach.59 Gleichsam präsentierten sich die Nationalsozialisten als alleinige Rettungsoption der Nation. Zentraler Bezugspunkt der innerweltlichen Soteriologie des Nationalsozialismus war der Glaube an ein diesseitiges Kollektivheil, welches in einem utopischen „neuen Deutschland“ unter NS-Herrschaft, dem sogenannten „Dritten Reich“, erhofft wurde. Jenes sollte besser, schöner und „freier“ sein als der Ist-Zustand der Nation, der als enorm defizitär und veränderungsbedürftig wahrgenommen und propagiert wurde.60 Im Nachruf auf den Dortmunder NSDAP-Pressewart Walter Ufer (1878–1932)61 hieß es etwa: „Er starb als Kämpfer für Deutschlands Freiheit im unerschütterlichen Glauben 55  Thieme,

Nationalsozialistischer Märtyrerkult, S. 498. Habenicht’s letzte Fahrt“, in: Rote Erde, Westfalen (29.06.1932). 57  Die Todesanzeige der NSDAP-Kreis- und Ortsgruppe Castrop-Rauxel für die lokale NS-Märtyrerfigur August Pfaff betonte beispielsweise im Juni 1932: „Mit ihm ist einer unserer Besten im Kampfe für das Vaterland gefallen“, in: Rote Erde, Anzeigenseite (26.10.1932). 58  Zur Nation als „letztbegründete, mit sakralen Weihen ausgestattete Instanz“ vgl. Eschebach, Öffentliches Gedenken, S. 48. 59  Bspw. zur „Erlösung“ Deutschlands durch den Opfertod des Erkrathers Kurt Hilmer: Gedenkrede des NSDAP-Ortsgruppenleiters Tillmann, wiedergegeben in: „Nächtliche Weihestunde in Erkrath“ in: Rheinische Landeszeitung, Düsseldorfer Stadt-Anzeiger (10.11.1935). Zur Heiligung der Gewaltpraxis der SA vgl. Reichardt, Faschistische Kampfbünde, S. 535 f., 593, 596–598. Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult, S. 164, 199. 60  Zur Funktion des politischen Totenkultes als Konfliktbewältigung in einer als defizitär empfundenen Gegenwart vgl. Eschebach, Öffentliches Gedanken, S. 64. 61  Zu Walter Ufer vgl. Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult, S. 503 f. 56  „Pg.



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an unsere heilige Sache.“62 Der Nachruf auf den SA-Mann Josef Woltmann (1903–1933)63 aus Gelsenkirchen-Buer hielt überdies fest: „Er fiel auf dem Felde der Ehre, für die Wiederaufrichtung eines besseren und schöneren Deutschlands.“64 Insbesondere auch der aus dem Religiösen transferierte Begriff der „Auferstehung“ der Nation verwies sprachlich auf die sakralisierte Heilserwartung, die sowohl mit dem Opfer der Weltkriegssoldaten als auch mit dem der NS-Märtyrerfiguren verbunden wurde.65 Auch der Lünener SA-Truppführer Emil Erich Fröse (1905–1932)66 war laut dem Bericht der Roten Erde verstorben, da er „sein Vaterland mehr geliebt als sich selbst.“67 Diese Deutung wurde während der Beisetzungsfeierlichkeiten dezidiert durch den zelebrierenden protestantischen Pfarrer Friedrich Mendel unterstrichen, der in seiner Grabpredigt betonte: „Der Entschlafene mußte sterben, damit sein Vaterland leben kann!“68 Dies verweist zugleich auf die vielfältigen inhaltlichen Sakralinteraktionen, die durch die Beteiligung von christlichen Geistlichen in den NS-Märtyrerkult eingebracht wurden.69 Vor allem nationalprotestantische und symbiotisch glaubende, nationalsozialistische Pfarrer unterstützten das nationalsozialistische Opferverständnis, indem sie aus dem Ersten Weltkrieg bekannte Opfer-Stilisierungen kritiklos auf die NS-Toten übertrugen. Auch jene hätten demnach einen entscheidenden Beitrag zur nationalen Erneuerung geleistet. Zugleich sakralisierten beteiligte Pfarrer die NS-Toten christlich. Insa Eschebach sieht in dieser spezifisch nationalsozialistischen Vorstellung von Politik und Sozialem, die mit sakralisierten Deutungsangeboten 62  Nachruf der NSDAP-Ortsgruppe Dortmund, Sektion Eving in: Rote Erde, GroßDortmunder Anzeiger (09.07.1932). 63  Zu Woltmann vgl. Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult, S. 504. 64  „SA-Mann Woltmann“, in: Buersche Zeitung, Lokalseite (07.10.1933). 65  Die Bochumer NSDAP-Ortsgruppe forderte ihre Mitglieder etwa auf: „So ehrt die Gefallenen des großen Krieges und die Kameraden der SA., SS. und St., die um Deutschlands Auferstehung ihre Leben opferten!“, in: Bochumer Anzeiger (8.11.1933), Anzeige: Heldengedenken ist Dankespflicht. Ebenso hieß es bspw., Kurt Hilmer aus Erkrath habe „von kommunistischen Kugeln durchbohrt, sein junges Leben für Deutschlands Auferstehung“ gegeben, so: „Erkrath“, in: Rheinische Landeszeitung, Düsseldorfer Stadt-Anzeiger (18.03.1935). 66  Zu Fröse vgl. Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult, S. 497. 67  „Pg. Emil Fröse’s letzte Fahrt“, in: Rote Erde, Groß-Dortmunder Anzeiger (07.06.1932). 68  Ebd. Ebenso verlieh bspw. Pfarrer Bertelsmann aus Bochum-Weitmar den Märtyrertitel an verstorbene Nationalsozialisten während der örtlichen Feier des Heldengedenktages, in: „Heldengedenkfeiern in den Vororten,“ in: Rote Erde, Groß-Bochumer Nachrichten (18.03.1935). 69  Zu christlichen Sakralinteraktionen im NS-Märtyrerkult vgl. Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult, S. 336–486.

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verbunden wurde, die größte Diskontinuität im Vergleich zu anderen Nationalmythen der Weimarer Zeit.70 Laut mythischer Konstruktion hatten die NS-Märtyrerfiguren nicht nur bereits einen entscheidenden Beitrag zum Sieg geleistet, der in naher Zukunft erwartet und im Opfer der Toten vermeintlich bereits vorweggegriffen wurde, gleichzeitig konnte auch eine Umdeutung der gegenwärtigen Situation der NS-Bewegung im Ruhrgebiet vorgenommen werden, sodass man sich als spiritueller Sieger fühlen konnte. Über die Märtyrerfiguren wurde der Gewalteinsatz als aktive Glaubenspraxis und notwendiger Beitrag zur Erlangung des NS-Heilszieles sakralisiert.71 Erlösung für die Gemeinschaft, die über das individuelle Leben gestellt wurde, war demnach nur durch die Vernichtung des politischen Gegners möglich. Mit der Hoffnung auf den baldigen tatsächlichen Sieg wurden ihre Aktivisten zum weiteren Engagement für die NS-Bewegung und zum Kampf auf den Straßen des Ruhrgebietes motiviert und mobilisiert. Ebenso gewaltlegitimierend und -mobilisierend sollte die propagierte Fortführung des Ersten Weltkrieges wirken. So rief der südwestfälische Gau­ geschichtsschreiber Dr. Alfred Beck (1899–1985)72 in seiner Gedenkrede anlässlich der Totengedenkfeier der NSDAP-Ortsgruppe Bochum am 9. November 1931 die Teilnehmer zu Kampf- und Opferbereitschaft für die ­NS-Bewegung auf, indem er dieses Engagement bewusst in die Tradition der Weltkriegssoldaten und der verstorbenen SA- und SS-Männer stellte: „Die unbekannten Helden des Weltkrieges erheben sich als Warner. Sie starben für die Volks- und die Schicksalsgemeinschaft. […] Und doch wissen wir, daß wir das Erbe der zwei Millionen, das Erbe A. L. Schlageters, der Toten vom 9. November 1923 angetreten haben, und doch wissen wir, daß der Geist der toten SA.- und SS.-Männer in unseren Reihen mitmarschiert, weil wir durch das Schicksal, durch das Blut aneinandergeschmiedet wurden. Wir kämpfen, wofür sie gekämpft haben und wir sterben, wofür sie gestorben sind. Kämpfen und sterben, immer opferbereit für Volk und Heimat […].“73

Zugleich konnte durch die Vereinnahmung das vermeintliche Martyrium der eigenen Anhänger aufgewertet und die paramilitärische Straßengewalt der SA mit militärischer Prägung versehen werden. Dies unterstützte ebenso das SA-Gemeinschaftsidealbild als militärische Kameradschaft.74 Auch die 70  Eschebach,

Öffentliches Gedanken, S. 65. „Soldaten“, S. 265; Reichardt, Faschistische Kampfbünde, S. 594 f.; Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult, S. 46 f., 116–118. 72  Zu Dr. Friedrich Alfred Beck vgl. Leon Poliakov, Das Dritte Reich und seine Denker, Berlin 1959, S. 44 f.; Erich Stockhorst, Fünftausend Köpfe. Wer war was im 3. Reich, Kiel 21985, S. 47. 73  „Die Ortsgruppe Groß-Bochum ehrt ihre Toten“, in: Rote Erde, Westfalen (12.11.1931). 74  Zur Konstituierung einer Gemeinschaft und der Idee ihrer selbst im Totenkult vgl. Eschebach, Öffentliches Gedenken, S. 9 f., 15 (in Anlehnung an Durkheim). 71  Schmidt,



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vorbildhaften Märtyrer-Viten und die über sie vermittelten Normen und Werte eines SA-Mannes waren von soldatischen Idealen und Tugenden geprägt.75 Seit der NS-Machtübernahme 1933, mit der das Heilsziel vermeintlich erreicht worden war, wurde der Opfertod der NS-Märtyrerfiguren vor allem als „Saat“ des NS-Staates propagiert: „Ihr Glaube an Adolf Hitler und seine Sendung ließ sie, ohne zu zögern, ihr Leben hingeben für den Führer, für uns und die Zukunft des deutschen Volkes. Die Saat des Nationalsozialismus hat, mit ihrem Blute geweiht, herrliche Früchte getragen, sie hat Deutschland vom Untergang gerettet und ihm seine Ehre wiedergegeben.“76

Dem Mythos nach hätten die nationalsozialistischen Märtyrerfiguren hierfür aktiv in die Geschichte eingegriffen, innerweltlich gewirkt und den NSAktivisten Kraft für ihren Einsatz gespendet. So betonte beispielsweise der Düsseldorfer NSDAP-Kreisleiter Karl Walter (1901–1957) am sogenannten „Gedenktag der Gefallenen der Bewegung“ im Jahr 1936: „Ihr Opfertod hat uns die Kraft gegeben, nie müde zu werden. Ihr Märtyrertum hat der Bewegung den Sieg geschenkt.“77 Diese Wirkung würde auch in der Gegenwart weiterbestehen.78 Ferner wurden der permanente positive Bezug auf den Ersten Weltkrieg sowie das soldatische Ideal der SA in den NS-Märtyrermythen seit 1933 vertieft und bekräftigt.79 Der Wattenscheider NSDAP-Kreisleiter Wilhelm Bönnebruch-Althoff (1901–1969)80 stellte etwa den gemeinsamen, soldatischen „Geist des grauen und braunen Heeres“81 heraus. Dies entsprach der 75  Zu

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den Märtyrerviten vgl. Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult, S. 104–

76  So die Gedenkrede im Rahmen der Gedenkfeier der Dorstener NSDAP-Ortsgruppe, wiedergegeben in: „Und ihr habt doch gesiegt!“, in: National-Zeitung, Westfalen (11.11.1935). 77  „Die Bewegung ehrt ihre Toten“, in: Rheinische Landeszeitung, Düsseldorfer Stadt-Anzeiger (10.11.1936). 78  Dazu etwa: „Den Toten des Weltkrieges“, in: Rheinische Landeszeitung, Düsseldorfer Stadt-Anzeiger (15.03.1935). 79  Sven Reichardt, „Gewalt, Körper, Politik, Paradoxien in der deutschen Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit“, in: Geschichte und Gesellschaft. Sonderheft, Bd. 21: Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939 (2005), S. 205–239, hier S. 223. 80  Zum NSDAP-Kreisleiter von Wattenscheid und Wanne-Eickel Wilhelm Bönnebruch-Althoff vgl. Wolfgang Stelbrink, Kreisleiter von Westfalen und Lippe. Versuch einer Kollektivbiographie mit biographischem Anhang (Veröffentlichungen der staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen, Reihe C48) Münster 2003, S. 214– 216. 81  In seiner Rede anlässlich des „Heldengedenktages“ 1938, in: „Ich hatt’ einen Kameraden …“, in: Rote Erde, Wattenscheider Nachrichten (14.03.1938).

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soldatischen Denkweise der SA-Führung, die weiterhin für eine Militarisierung der Gesellschaft und eine Fortführung des SA-Aktionismus warb.82 Nach dem Machtverlust der SA im Sommer 1934 dienten die Märtyrermythen fortan vor allem der Selbstvergewisserung und Statuserhöhung ihrer „Alten Kämpfer“.83 Desgleichen deuteten NS-Mythenkonstrukteure als Erinnerungsmonopolisten seit 1933 auch das sakralisierte Opfer der Weltkriegsgefallenen in ihrem Sinne als Beitrag zur Errichtung des „Dritten Reiches“ um: „So dürfen wir ihr Sterben groß und heilig im Lichte unseres Glaubens sehen. (…) Ihr Sterben und ihr Opfer war (…) nicht umsonst, die Nation selbst hat es heute gerechtfertigt und ist ihrer würdig geworden. Deutschland ist wieder groß und stark und frei, und rein und makellos von jeder Schuld, ein ehrhaftes Volk und Reich.“84

Beide Opfergruppen hätten ihren Beitrag zur Erlangung des Heilszieles erbracht und wurden hierin als gleichwertig angesehen.85 NS-Mythenkon­ strukteure prägten die Geschichte in ihrem Sinne und nahmen gleichsam für sich in Anspruch, durch die Errichtung des NS-Staates dem Tod der Weltkriegssoldaten Sinn verliehen und das von ihnen begonnene Werk „vollendet“ zu haben.86 Gleichsam spezifisch im NS-Totenkult war die Bekräftigung des Willens der „Erfüllung“ des Totenvermächtnisses auch in den Jahren nach 1933.87 Weiterhin wurden die Gefallenen als Vorbilder und Mahner instrumentalisiert.88 Dementsprechend wurden sie immer wieder zur Recht­ fertigung und Mobilisierung von „Kämpfen“ herangezogen, neue (noch zu 82  Longerich,

Die Braune Bataillone, S. 180. dazu: Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult, S. 172–183, 313–331. 84  „Ihre Seelen zieh’n vor uns her …“, in: Rote Erde, Groß-Bochumer Nachrichten (22.02.1937). 85  So betonte etwa die Rheinische Landeszeitung anlässlich des „Heldengedenktages“ 1937: „Das nationalsozialistische Deutschland ist nicht denkbar ohne das Erlebnis des großen Krieges, ohne das Opfer der zwei Millionen im feldgrauen Rock. Es ist nicht denkbar ohne den Opfertod der Männer, die im Kampf für die Befreiung Deutschlands gefallen sind. Aus ihrem Blut fließt neue Saat, vielfältige Frucht. Das deutsche Volk bekennt sich wieder zu seinen Toten, die durch ihre Tat die Gegenwart gestaltet haben.“ In: „Ewig lebt der Toten Tatenruhm“, in: Rheinische Landeszeitung, Düsseldorfer Stadt-Anzeiger (22.02.1937). Ähnlich die Rede des Wattenscheider NSDAP-Kreisleiters Bönnebruch-Althoff, in: „Ich hatt’ einen Kameraden …“, in: Rote Erde, Wattenscheider Nachrichten (14.03.1938). 86  So bspw. der Herner Oberbürgermeister Albert Meister in seiner Gedenkrede zum 9. November 1933, wiedergegeben in: „Sie starben, damit Deutschland lebt“, in: Herner Anzeiger (10.11.1933). Zur Wiederherstellung der Ehre der Frontsoldaten durch die NSDAP bspw. auch „Ewig lebt der Toten Tatenruhm“, in: Rheinische Landeszeitung, Düsseldorfer Stadt-Anzeiger (22.02.1937). 87  Eschebach, Öffentliches Gedanken, S. 65. 88  Am Bsp. Laboe: ebd., ab S. 99. 83  Vgl.



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erreichende) Etappenziele angeführt und das endgültige Heil wiederholt in die Zukunft verschoben.89 Charakteristisch für das rheinisch-westfälische Industriegebiet war zudem die Erweiterung der nationalsozialistischen Sakralisierung des soldatischen Sterbens um regionale Nachkriegstote aus den Jahren 1918 bis 1925. Durch diese Vereinnahmung der Nachkriegstoten erfuhren der NS-Totenkult und insbesondere der Mythos der Sakralisierung des soldatischen Sterbens eine spezifische Regionalisierung. Dies war besonders geeignet, um NS-Anhänger von Rhein und Ruhr anzusprechen, ihnen (räumlich und sozial) nahe Vorbilder zu präsentieren und sie darüber zum Einsatz für die NS-Bewegung zu motivieren. Zugleich schuf sich die NS-Bewegung hierüber historische Traditionen und prägte ihr eigenes Geschichtsbild im Revier. Als nationalsozialistische Vorkämpfer und Sakralopfer propagandistisch vereinnahmt wurden erstens die Toten der Ordnungsseite, d. h. Schutzpolizisten, Freikorpskämpfer, Angehörige von Einwohnerwehren und Wehrmacht, die im Bürgerkrieg der Jahre 1918 bis 1920 gegen die Rote Ruhrarmee gekämpft hatten. Die Erinnerung an die verschiedenen Bürgerkriegstoten beanspruchten während der Weimarer Zeit zahlreiche Gruppierungen. Das Totengedenken war widerstreitend. Gemeinsame Trauer war nicht möglich.90 Im öffentlichen Gedenken an den „Ruhrkampf“ dominierten vor 1933 jedoch deutlich kommunistische Opfer des Bürgerkrieges.91 Nationalsozialisten traten hierin zunächst nicht öffentlich in Erscheinung. Erst in den Jahren seit der NS-„Macht­ ergreifung“ mobilisierten sie das Totengedenken der Gegenseite.92 Zweitens vereinnahmten die Nationalsozialisten im Ruhrgebiet die Toten aus der Zeit der französisch-belgischen Besatzung (1923–1925), die als antagonistisches Gegenbild zum außenpolitischen Erzfeind Frankreich als heroisierte, natio89  Subsummiert werden konnten hierunter auch gänzlich gewaltfreie „Kampf“Einsätze wie die Unterstützung des Winterhilfswerkes, die ebenfalls über das soldatische „Opfer“ und deren Ersehnen des „Dritten Reiches“ beworben wurde, in: „Sie starben für das neue Reich“, in: Rote Erde, Regional (24.02.1934). Der notwendige, siegreich zu vollendende Kampf wurde etwa um den „Anschluss“ Österreichs verlängert, in: „Blüh, Deutschland, über’m Grabe mein …“, in: Rote Erde, Groß-Bochumer Nachrichten (13.03.1939); ähnlich: „Alles Leid wird gemeinsam getragen!“, in: Rote Erde, Bochum/Wattenscheid (14.03.1942). 90  Klaus Tenfelde, „Framentiert, verschüttet. Der Bürgerkrieg 1920 und die Denkmalskultur im Ruhrgebiet“, in: Karl Christian Führer u. a. (Hrsg.), Revolution und Arbeiterbewegung in Deutschland 1918–1920, Essen 2013, S. 413–430, hier S. 418. 91  Ebd., S. 419; Joana Seiffert, „ ‚…die letzten Schlacken marxistischer Verhetzung zu lösen‘. Der Ruhrkampf und die Rote Ruhrarmee in der nationalsozialistischen Erinnerungskultur“, in: José Brunner u. a. (Hrsg.), Politische Gewalt in Deutschland. Ursprünge – Ausprägungen – Konsequenzen, Göttingen 2014 (Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, 42), S. 69–88, hier S. 77. 92  Tenfelde, „Framentiert“, S. 419.

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nale Märtyrerfiguren gezeichnet wurden. Bereits seit den 1920er Jahren beanspruchte die NS-Bewegung des Reviers (insbesondere die regionale SA) diese Toten in Konkurrenz mit anderen nationalen Verbänden und Gruppierungen für sich. Besonders prominent in der Erinnerung waren dabei der – bereits einleitend angeführte – Mythos um Albert Leo Schlageter, der am 26. Mai 1923 in Düsseldorf als Terrorist hingerichtet worden war93 und in der Folge als nationale Helden- und Märtyrergestalt erinnert wurde, sowie der Mythos um Ludwig Knickmann – von einer belgischen Patrouille auf der Flucht angeschossen und anschließend in der Lippe ertrunken –, der in Westfalen zu einem deutschnationalen Regionalheroen stilisiert wurde.94 Beide Männer wurden als primäre nationalsozialistische Märtyrerfiguren des rheinischen und westfälischen Ruhrgebietes konstruiert und erlangten bereits in den Jahren vor 1933 regionale bzw. republikweite Berühmtheit. In der mythischen Narration zu ihnen vereinten sich alle angeblichen Etappen des nationalsozialistischen Kampfes um Deutschland. Herausgestellt wurde ihr vermeintlicher Einsatz als Akteure sowohl des Weltkrieges als auch des Bürgerkrieges seit 1918 und des sogenannten „Abwehrkampf[es]“95 gegen die Besatzungsmächte.96 Dies zeuge von ihren besonders ausgezeichneten Qualitäten als Soldaten wie auch von der besonderen Größe ihres sa­kralisierten Lebensopfers. Daher präsentierten die NS-Mythenkonstrukteure Schlageter und Knickmann als besonders vorbildhaft für NS-Aktivisten des Ruhrgebietes.97 Es war insbesondere Albert Leo Schlageter, der als „erster Soldat des Dritten Reiches“ vielfach propagandistisch aufgegriffen wurde.98 Aus Sicht der NSMythenkonstrukteure verband sich in seiner Person in idealer Weise die Kontinuität des Weltkrieges in der Ruhrbesetzung:

93  Zur Person Schlageters und seinen terroristischen Akten vgl. Knauff, „Schlageter-Nationaldenkmal“, S.  186 f.; Zwicker, „Nationale Märtyrer“, S. 53–68. 94  Zur Verehrung Knickmanns vgl. Heinz-Jürgen Priamus, „Helden- und Totenfeiern  – Normiertes Totengedenken als Feiertag“, in: ders./Stefan Goch (Hrsg.), Macht der Propaganda oder Propaganda der Macht? Inszenierung nationalsozialistischer Politik im „Dritten Reich“ am Beispiel der Stadt Gelsenkirchen, Essen 1992, S. 21– 41; Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult, S. 250–262. 95  „Ludwig Knickmann“, in: Rote Erde, Westfalen (21.06.1933). 96  Bspw. in: „Ludwig Knickmann – ein deutscher Held“, in: National-Zeitung, Sonderseite (21.06.1933); „Ludwig Knickmann“, in: Rote Erde, Westfalen (21.06.1933). 97  „Ludwig Knickmann – ein deutscher Held“, in: National-Zeitung, Sonderseite (21.06.1933). 98  Bspw. in: „Der 9. November in Hagen“, in: Westdeutsche Volkszeitung, Hagen (10.11.1933). Der Begriff des „ersten Soldaten des Dritten Reiches“ wurde insbesondere durch das gleichnamige, im April 1933 uraufgeführte Drama von Hanns Jobst geprägt, so Zwicker, „Nationale Märtyrer“, S. 124 f.



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„Albert Leo Schlageter ist einer der deutschen Männer, die in der Standarte Horst Wessel marschieren, er ist aber auch der letzte Soldat des Weltkrieges, der für seine deutsche Heimat gefallen ist.“99

Derart reklamierte ihn die NS-Bewegung im Ruhrgebiet bereits seit den 1920er Jahren als Vorkämpfer und beanspruchte ihn für ihre Ziele, obgleich völlig unklar ist, ob er tatsächlich jemals der NSDAP angehörte.100 Vielmehr vereinnahmten nationalsozialistische Mythenkonstrukteure eine nationale Märtyrerfigur, die seit den 1920er Jahren von zahlreichen Gruppen aus dem nationalen und völkischen Milieu beansprucht und als Gefallener eines fortgeführten Weltkrieges stilisiert wurde.101 So diente die mythische Figur Schlageter vor allem revanchistischen Forderungen und legitimierte gewaltsamen Aktionismus über das Jahr 1923 hinaus.102 Weiten Teilen der Ruhrgebietsbevölkerung galt er als „Volksheld“ und „nationaler Märtyrer“.103 Erst seit 1933 konnten die NS-Mythenkonstrukteure alle anderen Mythen um Albert Leo Schlageter „gleichschalten“ und ihren eigenen, monopolisierten Mythos umfangreich politisch instrumentalisieren.104 Vor allem dem Düsseldorfer NSDAP-Gauleiter Florian gelang es, sich über den Schlagetermythos, den er selbst massiv vorantrieb, regionalpolitisch zu profilieren.105 Ebenfalls erst im Anschluss an die „Machtergreifung“ monopolisierten die Nationalsozialisten des Ruhrgebietes auch die öffentliche Erinnerung an die Toten der Ordnungsseite, die gegen die Rote Ruhrarmee gekämpft hatten. Sie versuchten die öffentliche Gedenktradition umzuwidmen und im Sinne ihres eigenen Geschichtsbildes zu prägen.106 Konstruiert wurde ein Opfermythos, 99  „Der letzte Soldat des Weltkrieges“, in: Rheinische Landeszeitung, Düsseldorfer Stadt-Anzeiger (08.03.1936). 100  Zwicker etwa betont, dass es sich hierbei lediglich um eine Behauptung handelte. Nationalsozialisten seien nicht am Ruhrkampf beteiligt gewesen, so Zwicker, „Nationale Märtyrer“, S. 122. 101  Fuhrmeister, „Instrumentalisierung“, S.  58; Knauff, „Schlageter-Denkmal“, S. 190; Zwicker, „Nationale Märtyrer“, S. 122. Zu den ganz unterschiedlichen Zuschreibungen zu Schlageter als Märtyrerfigur der (unterschiedlich imagierten) nationalen Freiheit durch ihn beanspruchende politische Gruppen, wie beispielsweise dem Cartellverband der katholischen deutschen Studentenverbindungen, dem Stahlhelm, DVP und DNVP, während der Weimarer Republik vgl. insbes. Zwicker, „Ein Held“. Zur Fortführung des Weltkrieges vgl. ebd., S. 163; Knauff, „Schlageter-Denkmal“, S. 186. 102  Knauff, „Schlageter-Denkmal“, S. 187. 103  Zwicker, „Nationale Märtyrer“, S. 122. 104  Dazu auch: Fuhrmeister, „Instrumentalisierung“, S. 58; Knauff, „SchlageterDenkmal,“ S. 190; Zwicker, „Nationale Märtyrer“, S. 128–139. 105  Zu seiner Instrumentalisierung durch Florian vgl. Düwell, „Regionalismus“, S. 200 f. Auch die Kommune Düsseldorf vermarktete ihren Status als „SchlageterStadt,“ vgl. dazu: Görgen, Düsseldorf, S. 104; Knauff, „Schlageter-Denkmal“, S. 188. 106  Die nationalsozialistische Deutung des Bürgerkrieges wird beispielsweise ersichtlich in der Einweihungsrede des Ruhrkämpferehrenmals durch den Essener

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der den „Ruhrkampf“ der Ordnungsseite vermeintlich zu einem heilsgeschichtlichen Beitrag aufwertete. Die Ruhrkämpfer propagierten sie als „Vorkämpfer der NS-Bewegung“.107 In seiner Gedenkrede am Essener Wasserturm – einem zentralen Erinnerungsort des „Ruhrkampfes“108 – übertrug der preußische Ministerpräsident Hermann Göring (1893–1946) im März 1934 die aus Gefallenen- und Märtyrergedenken bekannten sakralisierenden, nationalsozialistischen Opfernarrationen auf die Ruhrkämpfer.109 Hierin nutze Göring auch die getöteten Aktivisten der Freikorps, Bürgerwehren sowie der Schutzpolizei zur Wertevermittlung eines idealisierten heroisch-kriegerischen und opferbereiten Nationalsozialisten. Die mythischen Narrationen dienten insbesondere auch der antikommunistischen Propaganda.110 Forciert wurde das antagonistische Feindbild bolschewistischer Verantwortlicher des „Ruhrkampfes“. So hätten sich die Kräfte der Ordnungsseite „dem Bolschewismus im Inneren entgegen“ geworfen,111 „um den deutschen Westen von dem bolschewistischen Terror zu befreien“.112 Neuartig an der nationalsozialistischen Ruhrkampferinnerung war insbesondere die antisemitische und rassistische Ausdeutung als Befreiungskampf „gegen artfremde Anführer“, die die Ruhrarbeiter vermeintlich zur Revolution verführt hätten. Hierin sollte den Ruhrarbeitern – so die These von Joana Oberbürgermeister Reismann-Grone. Vgl. dazu: Seiffert, „…die letzten Schlacken“, S. 73; Tenfelde, „Fragmentiert“, S. 421. 107  Seiffert, „…die letzten Schlacken“, S. 78. 108  Zum Gedenken am Essener Wasserturm s. u. 109  So sei bspw. das „Opfer“ der Männer der Ordnungsseite ein „Bekenntnis für Volk und Vaterland“ gewesen, dass einen „Samen“ für die „Frucht der Auferstehung des deutschen Volkes“ gelegt hätte. Vorbildhaft kennzeichnete er die Männer als „Männer, in denen die Soldatentugend festgefügt war[en].“ So hätten sie dem Ansturm der Roten Ruhrarmee auf den Turm standgehalten, weil sie in „Treue“ und „Ehre“ ihre Pflicht bis in den Tod erfüllten und durch „die Kraft der Kameradschaft“ zusammengeschweißt wurden. Die Gedenkrede Görings abgedruckt in: „Heldengedenkfeier am Wasserturm“, in: National-Zeitung (19.03.1934). Ein Bericht zur Feier auch in: „Deutschland ehrt die Toten des Ruhrgebiets!“, in: Rote Erde (19.03.1934). 110  Alfons Kenkmann, „Totenkult – Tradition – Trubel – Transfer. Die wechselvolle Geschichte des ‚Ruhrkämpfer-Ehrenmals‘ “, in: Essener Beiträge, Bd. 122 (2009), S. 277–295, hier S. 284; Seiffert, „…die letzten Schlacken“, S. 80 f. 111  So Generalleutnant a. D. Oskar Freiherr von Watter (1861–1939) in seiner Gedenkrede am Essener Ruhrkämpferehrenmal im Jahr 1937, wiedergegeben in: „Gedenkfeier für die Freikorpskämpfer“, in: Rote Erde, Westfalen/Rheinland (22.02.1937). Ganz ähnlich führte Göring bereits 1934 aus, dass „im heroischen Kampfe gegen die spartakistischen Meuchelmörder zahlreiche Essener Söhne ihr Leben zum Opfer brachten.“ „Heldengedenkfeier am Wasserturm,“ in: National-Zeitung (19.03.1934). Zur Person von Watters und seiner führenden Beteiligung an der Niederschlagung des Ruhraufstandes vgl. Seiffert, „… die letzten Schlacken“, S. 73. 112  StA Essen, Chronik der Stadt Essen für das Jahr 1934, S. 66, zitiert nach: Kenkmann, „Totenkult“, S. 282.



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Seiffert – ein positives und versöhnliches Angebot unterbreitet und ihre Integration in die NS-„Volksgemeinschaft“ ermöglicht werden.113 Mithin wurden beide beschriebenen Gruppen der Nachkriegstoten mythisch in die Narration des NS-Kampfes um Deutschland eingebunden.114 Dieser mythische Zwischenschritt verstärkte die Konstruktion nicht nur einer Wiederaufnahme, sondern vielmehr einer ununterbrochenen Fortführung des Ersten Weltkrieges durch die NS-Bewegung im Ruhrgebiet – von der Bürgerkriegsgewalt im sogenannten „Ruhrkampf“ über die gewaltsame Auseinandersetzung mit den Besatzern bis hin zu den Straßenkämpfen gegen politische Gegner – enorm.115 Dass die Gefallenen des Ersten Weltkrieges, die Toten der Nachkriegszeit ebenso wie die lokalen NS-Märtyrerfiguren vermeintlich dasselbe (nationalsozialistische) Heilsziel für die Nation verfolgt hätten, betonte etwa der Düsseldorfer SA-Standartenführer Hoevel im Rahmen der Gedächtnisfeier für Josef Hilmerich (1905–1930)116 im Jahr 1936. Jener habe als „fanatischer Kämpfer der nationalsozialistischen Bewegung […] in vorderster Front gestanden, genau so wie die Kameraden im Weltkrieg und in der Nachkriegszeit, die nur ein Ziel kannten, das Vaterland zu retten“.117 Die Gewalthandlungen wurden als ein Kampf mit einem gemeinsamen Ziel propagiert.118 113  Seiffert, „… die letzten Schlacken“, S. 87. Ähnlich betont auch Tenfelde, dass in nationalsozialistischer Deutung, Juden und Bolschewisten den Bürgerkrieg ausgelöst und die Revolution in das Proletariat getragen hätten. Tenfelde, Fragmentiert, S. 421. In diesem Sinne stellte etwa der Essener NSDAP-Kreisleiter Freytag am ­Ehrenmal an der Ruhr heraus, dass die Arbeiter des Ruhrgebietes nach 1918 „nach ­geordneten Verhältnissen strebten“ und sich daher vielfach in der NS-Bewegung engagiert hätten, wiedergegeben in: „Gedenkfeier für die Freikorpskämpfer“, in: Rote Erde, Westfalen/Rheinland (22.02.1937). 114  Sie hätten demnach mit ihrem Lebensopfer im „Geist des deutschen Soldatentums“ die „Grenzen des Vaterlandes“ geschützt, so Generalleutnant a. D. Watter, wiedergegeben in: ebd. 115  Auch in der historischen Forschung wird z. T. erst das Ende der Ruhrbesetzung als Endpunkt des Weltkrieges gesehen, so: Gerd Krumeich, „Der „Ruhrkampf“ als Krieg: Überlegungen zu einem verdrängten deutsch-französischen Konflikt“, in: ders./Schröder (Hrsg.), Der Schatten, S. 9–24, hier S. 9. Er zeigt ebenfalls auf, dass die Ruhrbesetzung von der dortigen Bevölkerung insgesamt als kriegerischer Akt wahrgenommen wurde (insbes. S. 20), unterstützt von massiver politischer Kriegsrhetorik, dazu insbes. S. 16–19. 116  Zum Tod von Hilmerich vgl.: Görgen, Düsseldorf, S. 21. 117  Wiedergegeben in: „SA. gedachte Josef Hilmerichs“, in: Rheinische Landeszeitung, Düsseldorfer Stadt-Anzeiger (23.11.1936). 118  Bspw. in der Gedenkrede des Wattenscheider NSDAP-Kreisleiters BönnebruchAlthoff, der sowohl die Weltkriegssoldaten als auch die gefallenen Freikorpskämpfer des Ruhrgebietes als Vorkämpfer „für ein besseres Deutschland“ hervorhob, deren Kampf von den Nationalsozialisten fortgeführt worden sei, wiedergegeben in: „Die Toten stehen in unseren Reihen“, in: Rote Erde, Wanne-Eickel (10.11.1936).

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In den Jahren seit 1933, in denen die nationalsozialistischen Mythen der Nachkriegstoten Monopolstellung erlangen konnten, waren es gerade die vereinnahmten, regionalen Nachkriegstoten, die über die engere Gruppe der NS-Aktivisten hinaus Anknüpfungspotentiale für ein (politisch) weiteres Publikum boten. Sie waren für politische Rechte vielfach anschlussfähig. Rituelle Gedenkpraxis des NS-Totenkultes im Ruhrgebiet Auch in der rituellen Gedenkpraxis des NS-Totenkultes wurden Weltkriegsgefallene und NS-Märtyrerfiguren kontinuierlich gemeinsam sakralisiert und erinnert. Der politische Totenkult war in der NS-Bewegung von Beginn an sowie auch im NS-Staat sehr präsent. Sabine Behrenbeck hat aufgezeigt, dass keine nationalsozialistische Feierstunde ohne das obligatorische Senken der Fahnen und das Niederlegen eines Kranzes zu Ehren der Verstorbenen auskam.119 Dies galt für nationale Feiern wie die Nürnberger Reichsparteitage, aber ebenso für regionale und lokale Feiern, etwa NSDAPGauparteitage oder den Tag der südwestfälischen SA.120 Zwei zentrale Termine waren jedoch in besonderem Maße mit der Totenehrung des Krieges und der NS-Bewegung verflochten: Erstens der Volkstrauertag – seit 1934 in den sogenannten „Heldengedenktag“ umbenannt121 – am Sonntag Reminiscere,122 d. h. am zweiten Sonntag der österlichen Fastenzeit sowie zweitens der 9. November als sogenannter „Gedenktag der Gefallenen der Bewegung“,123 der in Erinnerung an den gescheiterten Hitlerputsch

119  Behrenbeck,

Der Kult, S. 291. bspw.: „Erinnert Euch der 18 toten SA.-Kämpfer“, in: Schwerter Zeitung, Lokalseite (31.05.1933); „Gauparteitag Westfalen-Süd“, in: Rote Erde, Regional (24.02.1934); Programmheft des Gaues Westfalen-Nord zum Gautreffen 1934, in: BArch, NS 22/275, Reichsorganisationsleiter der NSDAP, Schriftwechsel mit den Gauleitungen insbes. zu Organisations-, Ausbildungs- und Personalfragen, Veranstaltungen, Beschwerden; Rote Erde, Titelseite (12.11.1934); „Westfalens SA. vor dem Chef des Stabes“, in: Wanne-Eickeler Zeitung, Lokalseite, (12.11.1934); NationalZeitung, Sonderseiten zum Gautag (27.06.1936); „Ludwig-Kickmann-Feier während des Gautreffens“, in: Buersche Zeitung, Westfalen (22.06.1938). 121  Zur Umbenennung vgl. Kaiser, Von Helden, S. 180–182. 122  Zur Terminfindung und -festlegung während der Weimarer Zeit vgl. ebd., Von Helden, S. 72. Zur Terminfestlegung auf den 16. März oder den vorherigen Sonntag im Jahr 1939 vgl. ebd., S. 185. 123  Zu Feiern des 9. November vgl. Behrenbeck, Der Kult, S. 268–280, 300, HansJochen Gamm, Der braune Kult. Das Dritte Reich und seine Ersatzreligion, Hamburg 1962, S. 138–143; Hans Günter Hockerts, „Mythos, Kult und Feste. München im nationalsozialistischen ‚Feierjahr‘ “, in: Richard Bauer u. a. (Hrsg.), München  – „Hauptstadt der Bewegung“. Bayern Metropole und der Nationalsozialismus, Mün120  Dazu



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am 9. November 1923 gefeiert wurde.124 Durch die terminliche Überschneidung mit dem Kriegsende 1918 war der Tag jedoch von Beginn an für beide Gefallenengruppen von entscheidender Bedeutung und ermöglichte den NSMythenkonstrukteuren insbesondere eine propagandistische Kontinuitätsbehauptung zum Ersten Weltkrieg. Dass (zunächst) beide Gedenktage dem gemeinsamen Erinnern gewidmet waren, verdeutlichen auch die offiziellen Vorgaben der NSDAP: So ordnete die Reichspropagandaleitung etwa im November 1931 an, dass am 9. November ein sogenannter „Reichstrauertag für die Gefallenen der Bewegung und des Weltkrieges“125 zu begehen sei. Dies wurde dementsprechend von den NSDAP-Ortsgruppen und den lokalen Einheiten der Kampfverbände in die Gefallenen vereinenden Gedenkfeiern umgesetzt. So feierte die Bochumer NSDAP-Ortsgruppe beispielsweise eine „Toten-Gedächtnisfeier für die im Weltkriege und im Dienste der nationalsozialistischen Freiheitsbewegung für ihr Volk und Vaterland gefallenen deutschen Helden“.126 Im selben Jahr bewarb der Völkische Beobachter auch den Volkstrauertag als „[e]ines Volkes Trauertag den toten Kameraden des Krieges und den Kämpfern für die deutsche Freiheit zum Gedächtnis!“127 Insgesamt ist für die Jahre vor 1933 festzuhalten, dass der NS-Totenkult in seiner rituellen Liturgie lediglich rudichen 1993, S. 331–341, hier S. 334–337; Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult, S. 291–313. 124  So auch Behrenbeck, Der Kult, S. 248. Seit 1926 feierte die NS-Bewegung am 9. November einen sog. „Reichstrauertag,“ so: Reichardt, Faschistische Kampfbünde, S. 551 f. Hinzukam drittens der spezifische Totengedenktag für die nationalsozialistische Jugend, der Langemarck-Gedenktag im November, der ebenfalls mit lokalen Gedenkakten gefeiert wurde, bspw.: „Gedenken an Langemarck“, in: Rote Erde, Hagener Beobachter (8.11.1934); „Langemarckfeier der Studenten“, in: Rheinische Landeszeitung, Düsseldorfer Stadtanzeiger (11.11.1937,); „Weihestunde der Hitler-Jugend“, in: Rote Erde, Groß-Bochumer Nachrichten (10.11.1941); „Ihr sollt und ewig Vorbild bleiben!“, in: Rote Erde, Bochum (11.11.1941). Vgl. dazu auch: Arndt Weinrich, „Kult der Jugend – Kult des Opfers. Der Langemarck-Mythos in der Zwischenkriegszeit“, in: Historical Social Research, Bd. 34 (2009), S. 319–330; Michael Buddrus, Totale Erziehung für den totalen Krieg: Hitlerjugend und nationalsozialistische Jugendpolitik, München 2003, S. 68 f.; René Schilling, „Kriegshelden“: Deutungsmuster heroischer Männlichkeit in Deutschland 1813–1945, Paderborn 2002, S. 355f; Sarah Thieme, „Vorbildhafte Verstorbene? Die Rolle der ‚deutschen Jugend‘ innerhalb des nationalsozialistischen Märtyrerkultes im Ruhrgebiet“, in: Westfälische Forschungen, Bd. 67 (2017), S. 433–452, hier S. 441 f. 125  Bekanntmachungen, Betr. Reichstrauertag 9.11.1931, bspw. veröffentlicht in: National-Zeitung, Sonderseite „Sturmabteilung“, S. 2 (6.11.1931). 126  „Unseren Toten zum Gedächtnis!“, in: Rote Erde, Groß-Bochumer Nachrichten (10.11.1931). 127  „Eines Volkes Trauertag“, in: Völkischer Beobachter (Bayernausgabe), Beiblatt (1./2.03.1931).

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mentär ausgebildet gewesen ist.128 Im folgenden Abschnitt stehen daher die NS-Gedenkpraxis und ihre rituellen Sakralisierungsstrategien des soldatischen Sterbens in den Jahren seit 1933 im Fokus der Analyse, die exem­ plarisch lokale Ausgestaltungen des „Heldengedenktages“ im Ruhrgebiet untersucht. Hieran kann die spezifische Verbindung des Gedenkens an die verschiedenen Opfergruppen verdeutlicht werden. Der in der Weimarer Zeit vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. als Gedenktag für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges initiierte Volkstrauertag war von einer revanchistischen Deutung des Soldatentodes geprägt, die sich symbolisch auch im Frühjahrstermin ausdrückte.129 Neben der Trauer stand der Tag vor allem für die Hoffnung auf eine nationale „Auferstehung“ Deutschlands.130 Hierin war der Volkstrauertag für den NS-Opferkult anschlussfähig und wurde unmittelbar nach der sogenannten „Machtergreifung“ aufgewertet.131 Unter nationalsozialistischer Herrschaft wurde der Tag im Jahr 1934 zum reichsweiten Feiertag erklärt und als „Heldengedenktag“ neubenannt.132 Dies führte die NS-Deutung des heroisierten Kriegstodes auch im Namen vor Augen: Statt zu trauern, wurde endgültig die Heroisierung der Verstorbenen in den Mittelpunkt gerückt.133 Fortan wurde der Tag sowohl der offiziellen ritualisierten Erinnerung an die Gefallenen des Ersten Weltkrieges als auch den Märtyrerfiguren der NS-Bewegung gewidmet. Im rheinisch-westfälischen Industriegebiet wurde gleichsam auch die Erinnerung an die Nachkriegstoten in den Tag integriert. Andere Deutungen wurden zunehmend verdrängt, die Gedenkkultur vereinheitlicht bzw. vereinseitigt.134 Im öffentlichen Raum wurde dieser NS-Totenkult massiv inszeniert.

128  Behrenbeck, Der Kult, S. 249. Vielmehr standen in diesem Zeitraum Beisetzungsfeierlichkeiten der lokalen Märtyrerfiguren im Fokus, vgl. dazu: Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult, S. 203–227. 129  Zur Geschichte des Volkstrauertages vgl. Kaiser, Von Helden. Zur Prägung und Terminwahl insbes. S. 176. Zur reichsweiten Gedenkpraxis mit Schwerpunkt auf dem seit 1925 jährlich wiederkehrenden Staatsakt in Berlin vgl. ebd., S. 185–193 sowie Behrenbeck, Der Kult, S. 264–267. 130  Kaiser, Von Helden, S. 184. 131  Ebd., S. 176; Behrenbeck, Der Kult, S. 262. 132  Bereits 1933 hatten fast alle Länder, so auch Preußen, Verordnungen zum Schutz des Gedenktages erlassen, bevor das Reichskabinett im Februar 1934 für ein neues Feiertagesgesetz stimmte, so Kaiser, Von Helden, S. 178–181; zum Gesetz vgl. auch: Behrenbeck, Der Kult, S. 262. 133  Ähnlich Kaiser, die zudem betont, dass die Glorifizierung der Wehrmacht sowie die Präsentation der Stärke Deutschlands in den Vordergrund gerückt worden seien. Kaiser, Von Helden, S. 184. Die Umbenennung wurde auch vom Volksbund gejubelt. Er betonte, jene Bedeutung von Beginn an angestrebt zu haben, so ebd., S. 182. 134  So auch Tenfelde, „Fragmentiert“, S. 427.



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Durch einen Runderlass von Reichsinnenminister Frick, der die Identität der Totentage näher bestimmen sollte, wurde im Frühjahr 1935 offiziell zwischen dem „Heldengedenktag“ zur Erinnerung an die Weltkriegsgefallenen und dem 9. November zur Erinnerung „für die Toten der NS-Bewegung“ unterschieden.135 Entgegen dieser Verordnung wurden die doppelte Widmung und das gemeinsames Gedenken an Weltkriegsgefallene und NS-Märtyrer­ figuren in der Praxis im rheinisch-westfälischen Industriegebiet jedoch vielfach über Jahre kontinuierlich beibehalten. So war der „Heldengedenktag“ in Bochum im Jahr 1939 offiziell „dem Gedenken der Gefallenen des Weltkrieges und der Opfer der Bewegung gewidmet“.136 Die Toten der feldgrauen und braunen Armee wurden hierin auch rituell als Einheit präsentiert.137 Noch während des Zweiten Weltkrieges hielt die dortige NSDAP Gedenkfeiern ab, in die sie nun zusätzlich auch die gegenwärtigen lokalen Toten der Luftangriffe zu integrieren suchte.138 Die rituelle Ausgestaltung der lokalen Gedenkfeiern anlässlich des „Heldengedenktages“ stimmte dabei über weite Strecken mit den Feiern des 9. Novembers sowie des lokalen Märtyrerkultes überein.139 Sowohl der Ritualaufbau, die in ihrer Reihenfolge variierten Bausteine der Feiern wie Kranzniederlegung, Musik- und Liedbeiträge, Ehrensalven, das Stellen von sogenannten „Ehrenwachen“, das Senken der Fahnen, Gelöbnis, Trauerdefilees und (Schweige-)Märsche als auch die eingesetzten Sakralisierungselemente ähnelten sich stark. Zentrales Element der Feiern waren stets Gedenkreden, in denen Mythen vom Opfertod für Deutschland konstruiert wurden. Neben NS-Funktionsträgern trugen auch Wehrmachtsakteure und Pfarrer in ihren Reden das nationalsozialistische Geschichtsbild mit.140 135  Kaiser, Von Helden, S. 182; ähnlich: Behrenbeck, Der Kult, S. 263. Cornelia Schmitz-Berning hingegen sieht die endgültige Zuweisung des 9. November für die ausschließliche Erinnerung an NS-Tote erst im Jahr 1939, so Cornelia Schmitz-Berning, „Heldengedenktag“, in: dies., Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin 22007, S. 304–306. 136  „Zum Gedächtnis der toten Helden“, in: Rote Erde, Groß-Bochumer Nachrichten (11.03.1939); ebenso in: „Blüh, Deutschland, über’m Grabe mein …“, in: Rote Erde, Groß-Bochumer Nachrichten (13.03.1939). 137  Ebenso bspw. auch in Düsseldorf: „Den Toten des Weltkrieges“, in: Rheinische Landeszeitung, Düsseldorfer Stadt-Anzeiger (15.03.1935). 138  Bspw.: „Sie starben für Deutschland“, in: Rote Erde, Groß-Bochumer Nachrichten (17.03.1941); „Wir kämpfen und fallen, um zu siegen“, in: Rote Erde, Bochumer Nachrichten (22.03.1943). 139  Zur Liturgie des 9. Novembers vgl.: Behrenbeck, Der Kult, S. 268–279; zur rituellen Ausgestaltung des lokalen Märtyrerkultes vgl. Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult, S. 267–279. 140  So hielt beispielsweise der Bochumer Pfarrer Klein, ein zentraler Akteur der westfälischen DC, bei der Hauptfeier der Stadt am „Löwendenkmal“ unter Beteili-

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Die rituellen Sakralisierungen waren dabei insbesondere von Sakraltransfers geprägt: In den Feiern wurde die adaptierte Formensprache der christlichen Religion, die vorwiegend an die katholische Glaubenspraxis angelehnt war,141 mit ebenfalls übernommenen rituellen Elementen des sakralisierten militärischen Trauerzeremoniells verwoben. Jene waren mit nationalsozialistischen Symbolen, Zeichen und Topoi überwölbt.142 Auch der liturgische Ablauf – vor allem der Feiern im Freien – orientierte sich am Weltkriegsgedenken der Kriegervereine sowie an lokalen Feiern des Volkstrauertages der Ortsgruppen des Volksbundes in der Weimarer Republik.143 Als spezifischer Baustein für den „Heldengedenktag“ ist die Radioübertragung des Berliner Staatsaktes unter Beteiligung der Parteiprominenz herauszustellen, die sich in der Regel dem lokalen Gedenkakt anschloss.144 Im Vergleich zu den über das Jahr verteilten lokalen Märtyrergedenkfeiern, die sich vor allem an die Aktivisten der NS-Bewegung als Mitwirkende richteten und sich zunehmend zu internen Feiern der SA-Veteranen ent­ ­ wickelten,145 war die Gruppe der Akteure des lokalen „Heldengedenktages“ im Ruhrgebiet erweitert: An den von der örtlichen NSDAP organisierten Feiern nahmen neben den uniformierten NS-Organisationen auch Polizeieingung von NS-Formationen die Gedenkreden in den Jahren 1933 bis 1935, in denen er zum Lebensopfer für Deutschland und zum Treuegelöbnis an Hitler aufrief. Die Weltkriegsgefallenen und die NS-Märtyrerfiguren sollten „Vorbild sein für die Arbeit, die Gott der Herr und unser Vaterland von uns als die Lebendigen fordern“, in: „Heldengedächtnisfeier am Volkstrauertage“, in: Rote Erde, Groß-Bochumer Rundschau (24.02.1934); „Uns mahnen die Gräber der Toten“, in: Rote Erde, Groß-Bochumer Nachrichten (18.03.1935). Auch in den Stadtteilen waren zahlreiche Geistliche mit Wortbeiträgen vertreten, bspw. Pfarrer Bertelsmann in Bochum-Weitmar, Superintendent Reuhaus in Bochum-Linden-Dahlhausen, Pfarrer Wilhelm Christiansen in Altenbochum, Pfarrer Rummeld in Werne, Pfarrer Konrad Meierfrankenfeld in Laer, Pfarrer Koch in Günnigfeld, Pfarrer Mathieur in Wattenscheid-Eppendorf und Pfarrer Sichtermann Wattenscheid-Höntrup, dazu: „Heldengedenkfeiern in den Vororten“, in: Rote Erde, Groß-Bochumer Nachrichten (18.03.1935); „Die Heldengedenkfeiern in Wattenscheid“, in: Rote Erde, Wattenscheider Nachrichten (18.03.1935). Zur Beteiligung der Wehrmacht s. u. 141  Hans-Ulrich Thamer, Verführung und Gewalt. Deutschland 1933–1945, München 42004, S. 417; Klaus Vondung, Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, Göttingen 1971, S. 155. 142  Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult, S. 282–290. 143  Vgl. dazu: Kaiser, Von Helden, insbes. S. 146–175. Zur Übereinstimmung mit vaterländischen Verbänden vgl. auch Behrenbeck, Der Kult, S. 249. 144  Bspw.: „Ewig lebt der Toten Tatenruhm“, in: Rheinische Landeszeitung, Düsseldorfer Stadt-Anzeiger (22.02.1937). Laut Behrenbeck handelte es sich um Medien­ ereignis, dessen Rezeption die NSDAP monopolisiert habe, so dies., Der Kult, S. 265–267. 145  Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult, S. 264–267, 323–331.



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heiten, Kriegervereine, Soldaten- und Veteranenverbände teil.146 Ebenso war der Volksbund weiterhin an den Feierlichkeiten beteiligt.147 Hierin wurde insbesondere rechten Gruppierungen nach ihrer „Gleichschaltung“ ein positives Identifikations- und Integrationsangebot unterbreitet. Die Bevölkerung fungierte vor allem als Publikum und Kulisse der Gedenkfeiern.148 Zu betonen ist darüber hinaus insbesondere die Einbindung der Wehrmacht, die – laut Verwaltungsvorschriften zum 17. März 1935 (nach Anordnung von Wehrminister Werner von Blomberg)149 – die Organisation und Durchführung militärischer Gedenkfeiern in Garnisonsstädten unter Beteiligung der NSDAP und ihrer Gliederungen, des Volksbundes, der Behörden sowie der Bevölkerung übernahm. Exemplarisch hierfür sind die Düsseldorfer Feierlichkeiten zum „Heldengedenktag“ 1936, die am Sonntag, 8. März, d. h. nur einen Tag nach der Re-Militarisierung des Rheinlandes,150 stattfanden. Inszeniert wurde im Rahmen der Feiern der bejubelte Einzug der neuen Garnisonstruppen in die Stadt. Diese marschierten am sogenannten Ulanen-Denkmal151 vorbei, an dem sich zahlreiche Ehrengäste  – unter ihnen Generalmajor Kühne (1883– 1972), Gauleiter Florian (Düsseldorf) und der Essener Gauleiter Josef Terboven (1898–1945),152 der Führer des SS-Oberabschnittes West Fritz Weitzel (1904–1940), SA-Gruppenführer Niederrhein Heinrich Knickmann (1894– 1941), NSDAP-Kreisleiter Walter (1901–1957), der Düsseldorfer Oberbürgermeister Dr. Wagenführ (1886–1944)  – sowie Behördenvertreter und die 146  Bspw.: „Ich hatt’ ein Kameraden“, in: Rote Erde, Wattenscheider Nachrichten (14.03.1938). Vgl. auch: Kaiser, Von Helden, S. 182. 147  Laut Alexandra Kaiser begrüßte die Volksbundleitung die NS-Machtübernahme und schaltete sich selbst gleich. Auch die neue politische Bedeutung des Volkstrauertages war aus Sicht des Volksbundes positiv zu bewerten. Nach 1933 konnte der Bund seine Mitgliederzahlen deutlich erhöhen und erhielt zusätzliche finanzielle Zuschüsse von Staat und NSDAP. Kaiser, Von Helden, S. 176–178. 148  Behrenbeck, Der Kult, S. 301. 149  Dazu: Kaiser, Von Helden, S. 182 f. 150  Die Re-Militarisierung erfolgte am Samstag, 7. März durch die Rheinüberquerung bei Köln. Mittags erreichten die Truppen Düsseldorf, so: Alexander Wolz, Die Rheinlandkrise 1936. Das Auswärtige Amt und der Locarnopakt 1933–1936, München 2014. Vgl. zur Remilitarisierung allgemein: Helmut-Dieter Giro, Die Remilitarisierung des Rheinlands 1936: Hitlers Weg in den Krieg?, Essen 2006. 151  Zum Düsseldorfer Ulanendenkmal des westfälischen Ulanenregimentes Nr. 5 vgl. Clemens von Looz-Corswarem, „Das Ulanendenkmal“, in: ders./Jörg Engelbrecht (Hrsg.), Krieg und Frieden in Düsseldorf. Sichtbare Zeichen der Vergangenheit, Düsseldorf 2004, S. 213–218. 152  Zur Person vgl.: Klaus Wisotzky, „Josef Terboven (1898–1945): die Karriere eines Nationalsozialisten“, in: Benedikt Mauer (Hrsg.), Das Heute hat Geschichte: Forschungen zur Geschichte Düsseldorfs, des Rheinlands und darüber hinaus, Festschrift für Clemens von Looz-Corswarem zum 65.  Geburtstag, Essen 2012 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Niederrheins, 10), S. 251–278.

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Kommandantur der Landespolizei versammelt hatten. Vor dem Denkmal waren zwei ehemalige Ulanen als „Ehrenwache“ positioniert und Kränze niedergelegt worden. Die Rheinische Landeszeitung kommentierte: „Hier standen unsichtbar die Toten der alten Armee und sichtbar die Veteranen des Krieges, vertreten durch die beiden Ulanen in Friedensuniform, und erwarteten den Gruß der neuen Armee.“153 Die gegenwärtige politische Entwicklung erhielt durch die Einbindung in den Totenkult besondere Legitimation.154 Im folgenden Jahr wurde der Vorbeimarsch am Ulanen-Denkmal zur Totenehrung rituell wiederholt. Nun jedoch marschierten Wehrmacht und SA „Schulter an Schulter“.155 Die Rheinische Landeszeitung lobte das „stolze […] Bild, diese Gemeinsamkeit“ der „Kämpfer für das neue Deutschland“.156 Rituell wurde im Marsch die militärische Einheit von Wehrmacht und SA in Bewegung verdeutlicht, ihr gemeinsames Engagement für die Nation unterstrichen. Hierin wurde die mythisch betonte Kontinuität und Gleichheit symbolisch hergestellt. Dies wertete insbesondere die SA-Aktivisten zeichenhaft enorm auf. Die Parteigliederungen vereinnahmten die militärischen Feiern.157 Wie das Düsseldorfer Ulanen-Denkmal waren Kriegerdenkmäler zentrale Orte der Heldengedenkfeiern im Ruhrgebiet. Sie waren in den Stadtteilen bereits in der Weimarer Zeit gesetzt und sakralisiert worden. Kriegervereine und Volksbund hatten an jenen Sakralorten, die besonders mit dem soldatischen Opfertod verbunden waren und das Sakrale in der Welt sichtbar machten, der Toten gedacht.158 Auch die örtlichen NS-Bewegungen nutzten Kriegerdenk153  „Wir haben wieder Soldaten“, Rheinische Landeszeitung, Düsseldorfer StadtAnzeiger (09.03.1936). Auch bei der anschließenden Heldengedenkfeier der NSDAPKreisleitung in der Tonhalle wurden die Toten unter dem Eindruck des Truppeneinmarsches geehrt. Vgl. die Rede des NSDAP-Kreisleiters Walter, wiedergegeben in: „Das Vermächtnis der Toten ist erfüllt“, in: Rheinische Landeszeitung, Düsseldorfer Stadt-Anzeiger (09.03.1936). 154  Sabine Behrenbeck hat herausgearbeitet, dass die Verbindung zu gegenwärtigen Erfolgen Hitlers zentral für die Wirkung des Tages gewesen ist, in: Behrenbeck, Der Kult, S. 262, 265, 304. 155  „Ewig lebt der Toten Tatenruhm“, in: Rheinische Landeszeitung, Düsseldorfer Stadt-Anzeiger (22.02.1937). 156  Ebd. Diese Verflechtung wurde ebd. auch in der Gedenkrede deutlich, die Wehrmachtsmajor Schmidt-Stünde während der Heldengedenkfeier auf dem Maifeld hielt. Er griff darin den NS-Opfermythos explizit auf und präsentierte den anwesenden Soldaten sowie NS-Aktivisten insbesondere die NS-Protomärtyrerfiguren Horst Wessel und die lokale Übermärtyrerfigur Albert Leo Schlageter als heroische Vorbilder. Er appellierte: „In ihrem Geiste weiterzumarschieren, das soll das Gelöbnis dieser Stunde sein“. Die Toten seien „herrliche Saat“ geworden. 157  Dies betont bereits Behrenbeck für Berlin, in: Behrenbeck, Der Kult, S. 267. 158  Zu Kriegerdenkmälern als geheiligte Stätten vgl. Eschebach, Öffentliches Gedanken, S. 65–74.



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mäler in den Jahren vor 1933 zur Gefallenenehrung durch Kranzniederlegungen, insbesondere anlässlich des 9. Novembers, da sie zu diesem Zeitpunkt im Revier keine eigenen Sakralorte im öffentlichen Raum errichten konnten.159 Seit 1933 hielten die NSDAP-Ortsgruppen jährlich am „Heldengedenktag“ Gedächtnisfeiern an lokalen Kriegerdenkmälern ab. Hierin griffen sie die Tradition des Volksbundes auf und führten sie fort.160 Die Deutung bestehender Kriegerdenkmäler wurde vereinheitlicht.161 Zudem wurden in der NSZeit neue Kriegerehrenmale zur Schaffung und Markierung von Sakralorten gesetzt, so etwa in Bochum-Harpen,162 wo zum „Heldengedenktag“ 1939 ein Findling für die „im Weltkriege und im Kampf um Deutschlands Befreiung gefallenen Söhne“ eingeweiht wurde.163 Die Widmung des Steines folgte dem nationalsozialistischen Geschichtsbild der Gleichartigkeit und -wertigkeit des Opfers der Kriegsgefallenen und ihrer eigenen Verstorbenen. Kriegskameradschaften und SA feierten miteinander; gemeinsam stellten sie auch die „Ehrenwache“. Der erste Weiheredner des Festaktes, der Bochumer Kreiskriegerführer und Hauptmann der Reserve Dr. Ernst Pean (1900– 1966),164 sakralisierte den Ort, indem er den Charakter des Denkmals als „geheiligte […] Stätte“165 und darin sprachlich dessen Außeralltäglichkeit hervorhob. Heiligung hätte der Ort durch das „Opfer“ der „Männer aus Har159  Bspw.: „Kurzer Traum vom ‚Dritten Reich‘ “, in: Volksstimme Hagen (10.11.1931); „Rotmordgesindel sucht Kranzniederlegung der Nationalsozialisten zu verhindern“, in: Rote Erde, Bochumer Nachrichten (11.11.1931). 160  Bspw.: „Heldengedenkfeier in Wersten“, in: Rheinische Landeszeitung, Düsseldorfer Stadt-Anzeiger (08.03.1936); „Dem Gedenken der Gefallenen“, in: Rheinische Landeszeitung, Düsseldorfer Stadt-Anzeiger, (09.03.1936); „Heldengedenkfeiern in den Vororten“, in: Rote Erde, Groß-Bochumer Rundschau (20.02.1937); „Sie gedachten der toten Helden“, in: Rheinische Landeszeitung, Düsseldorfer Stadt-Anzeiger (22.02.1937). 161  Das heißt durch Übernahmen, Neubewertungen, Umwidmungen sowie durch das Schleifen ungewollter Denkmäler, etwa kommunistischer Erinnerungszeichen zum Ruhrkampf, vgl. Seiffert, „… die letzten Schlacken“, S. 81. Zu den begrenzten Selbstaussagen von Denkmälern vgl. Koselleck, „Einleitung“, S. 10. 162  „Harpens neues Ehrenmal“, in: Rote Erde, Groß-Bochumer Nachrichten (13.03.1939). 163  Findlinge dienten Nationalsozialisten häufig auch als Grabsteine sowie als Denkmäler an Sakralorten ihrer Märtyrerfiguren, dazu: Daniel Siemens, Horst Wessel. Tod und Verklärung eines Nationalsozialisten, München 2009, S. 169; Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult, S. 235, 243 f. 164  Zu Dr. Ernst Pean vgl. Peter M. Quadflieg, Gerhard Graf von Schwerin (1899– 1980). Wehrmachtgeneral, Kanzlerberater, Lobbyist, Paderborn 2015, S. 406. 165  „Harpens neues Ehrenmal“, in: Rote Erde, Groß-Bochumer Nachrichten (13.03.1939). So bezeichnete bspw. Major Schmidt-Stünde auch das Kriegerdenkmal auf dem Heldenfriedhof als „geheiligte Stätte“, in: „Ewig lebt der Toten Tatenruhm“, in: Rheinische Landeszeitung, Düsseldorfer Stadt-Anzeiger (22.02.1937).

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pen“ erfahren, die „im Weltkriege und als Kämpfer der Bewegung ihr Leben für ihr Vaterland hingaben“.166 Auch auf Soldatenfriedhöfen, sogenannten „Ehren-“ oder „Heldenfriedhöfen“, fanden lokale Feiern des „Heldengedenktages“ statt. Ihnen wurde sa­ krale Qualität durch die vermeintlich transzendente Präsenz der Opferhelden, d. h. die bestatteten Überreste, zugeschrieben.167 So marschierte etwa die Altenbochumer NSDAP-Ortsgruppe im Jahr 1934 nach einer Kranzniederlegung am Kriegerehrenmal „zu Ehren der im Weltkriege und im Kampfe um Deutschlands Erneuerung gefallenen Kameraden“168 zum dortigen „Ehrenfriedhof“ weiter. Neben den 250 Gräbern von Weltkriegssoldaten waren ebenso lokale Tote der Nachkriegskämpfe bei der Feier ideell präsent. Zu den sogenannten „Toten aus den Bruderkämpfen der Nachkriegsjahre“, die vermeintlich für Deutschland gestorben waren, zählten beispielsweise Verstorbene des Kapp-Putsches von 1920, getötete Straßenkämpfer sowie Stadt­ obersekretär Fritz Blum, der während des roten Maiaufstandes 1923 „für den Schutz der Stadt“ ums Leben gekommen sei.169 Neben derartigen Verbin­ dungen verschiedener Sakralorte durch rituelle Bewegung im Rahmen von Gedenkfeiern, die das Gedenken an die verschiedenen Opfergruppen zeichenhaft verband, wurde vor Ort auch eine konkretere Verbindung der Verstorbenen durch Herstellung von räumlicher Nähe der Überreste geschaffen. So wurden lokale NS-Märtyrerfiguren nach 1933 auf Heldenfriedhöfen beigesetzt und dorthin umgebettet, um ihre Gleichwertigkeit zu symbolisieren.170 Dies verweist zugleich auf den dritten möglichen Ort für Heldengedenktagsfeiern: Sakralorte des nationalsozialistischen Märtyrerkultes,171 d. h. Gräber von NS-Märtyrerfiguren sowie Tat-Orte ihrer vermeintlichen Marty166  Der zweite Redner, der Harpener NSDAP-Ortsgruppenleiter Röder schloss sich den Ausführungen an. „Harpens neues Ehrenmal“, in: Rote Erde, Groß-Bochumer Nachrichten (13.03.1939). 167  Die Friedhöfe seien „geheiligt durch das Blut derer, die ihren Opfertod brachten für das Vaterland“, in: „An den Grabstätten der Kameraden“, in: Rote Erde, Hagener Beobachter (10.11.1935). 168  „Heldengedächtnisfeier am Volkstrauertage“, in: Rote Erde, Groß-Bochumer Rundschau (24.02.1934). 169  Ebd.; „Ein Gang über Bochums Ehrenfriedhof“, in: Rote Erde, Groß-Bochumer Nachrichten (25.02.1934). 170  Bspw. wurde Bernhard Schlothan aus Wanne-Eickel 1936 zwischen den gefallenen Soldaten der Stadt beigesetzt, in: „Als Held gestorben“, in: Rote Erde, Westfalen (11.03.1936); „Dein Tod muß uns Warner sein“, in: Wanne-Eickeler Zeitung, Lokalseite (16.03.1936). Der Leichnam von Helmut Barm wurde auf den örtlichen „Ehrenfriedhof“ umgebettet, so: „Dem Gedenken Helmut Barms“, in: Rote Erde, Groß-Bochumer Nachrichten (23.10.1936). 171  Zu Sakralorten des NS-Märtyrerkultes vgl. Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult, S. 229–262.



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rien. In der Zuschreibung von Aura bzw. Märtyrercharisma durch die Anwesenheit des Leichnams bzw. des vergossenen Blutes ist ein christlicher Sakraltransfer auszumachen. Die NS-Martyriumsorte wurden als „Altäre des Glaubens, der Treue und der Ehrfurcht“ gedeutet.172 Die Glaubenspraxis des individuellen Märtyrergedenkens wurde auch anlässlich des „Heldengedenktages“ vorwiegend in internen Gedenkfeiern der NS-Bewegungen umgesetzt: Lokale SA- und SS-Einheiten aus Wattenscheid marschierten 1935 beispielsweise sowohl zur mutmaßlichen Mordstelle als auch zum Grab des SSMannes Fritz Borawski,173 um dort Kränze niederzulegen.174 1938 wurden am „Heldengedenktag“ an allen Märtyrergräbern Bochums Kränze niedergelegt.175 Auch Feierlichkeiten zum Ruhrkampf-Gedenken wurden mit Märtyrergedenken verbunden.176 Das Gedenken an die Ruhrkämpfer fand zunächst an einem eigenen dritten Gedenktag (17./18. März) statt. Ein Beispiel für einen zentralen Erinnerungsund Sakralort des NS-Nachkriegstotengedenkens ist der Essener Wasser­ turm,177 an dem eine Gedenktafel 40 Namen verzeichnete, um an die Bürgerkriegsgefallenen der Ordnungsseite im Essener Raum zu erinnern – darunter die elf am Turm Verstorbenen.178 Die Gedenkfeiern am 17. und 18. März 1934 in Essen, an denen ca. 60.000 SA-Männer teilnahmen, waren die bis dato größten Feiern zum Ruhrkampfgedenken.179 Am Wasserturm wurde eine große Gedenkfeier unter Beteiligung von NSDAP-Parteiprominenz, Abordnungen von SA und HJ, Formationen von Polizei-Ehrenhundertschaften und Mitgliedern ehemaliger Einwohnerwehren inszeniert.180 Höhepunkt war 172  „Die Bewegung ehrt ihre Toten“, in: Rheinische Landeszeitung, Düsseldorfer Stadt-Anzeiger (10.11.1936). 173  Zu Fritz Borawski vgl. Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult, S. 496. 174  „Die Heldengedenkfeiern in Wattenscheid“, in: Rote Erde, Wattenscheider Nachrichten (18.03.1935). 175  „Ihr Opfer galt dem Sieg“, in: Rote Erde, Gross-Bochum (14.03.1938). 176  So weihte beispielsweise SA-Führer Ernst Röhm im März 1934 ein Ehrenmal am Grab des SA-Mannes Fritz Felgendreher in Essen-Kray parallel zu den Ruhrkampffeiern ein. „Heldengedenkfeier am Wasserturm“, in: National-Zeitung (19.03.1934). 177  Dazu auch: Ernst Schmidt, Essen erinnert. Orte der Stadtgeschichte im 20. Jahrhundert, Essen 1991, S. 29–32. 178  Am Essener Wasserturm fand die blutigste Auseinandersetzung im Kampf zwischen Roter Ruhrarmee und Sicherheitspolizei sowie Einwohnerwehr auf Essener Stadtgebiet statt. Zur Legendenbildung über die sog. Schlacht am Wasserturm, deren Zielsetzung es war, die Rote Ruhrarmee zu diskreditieren, vgl. Ernst Schmidt, „Der Kapp-Putsch 1920 und die Wasserturmlegende“, in: Johannes Gorlas/Detlev J. K. Peukert (Hrsg.), Ruhrkampf 1920, Essen 1986, S. 75–85; Seiffert, „… die letzten Schlacken“, S. 79. 179  Ebd., S. 83. 180  „Heldengedenkfeier am Wasserturm“, in: National-Zeitung (19.03.1934).

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die bereits angesprochene Gedenkrede von Hermann Göring, der auch einen Kranz niederlegte. Er sprach dem Wasserturm als „Opferstätte“ aufgrund des dort vergossenen Blutes sakralörtlichen Charakter zu. In den folgenden Jahren wurde am Wasserturm jährlich wiederkehrendes r­ ituelles Gedenken (mit Kranzniederlegungen und Reden) gefeiert.181 Aufgrund der terminlichen Überschneidung wurde das Gedenken an die Ruhrkämpfer in den folgenden Jahren in die lokalen Feiern des „Heldengedenk­ tages“ integriert. Weitere Gedenkfeiern für die „Gefallenen der Nachkriegskämpfe, die Männer, derer das deutsche Volk heute als der dritten Gruppe neben den Gefallenen des großen Krieges und denen der Bewegung gedenkt,“182 wurden insbesondere am neuerrichteten und im November 1934 in Anwesenheit von Reichsstatthalter Franz Ritter von Epp (1868–1946),183 dem Essener Oberbürgermeister Dr. Theodor Reismann-Grone (1863–1949),184 dem preußischen Polizeigeneral Kurt Dalugue (1897–1946),185 NSDAP-Gauleiter Terboven und Generalleutnant Freiherr von Watter (1861–1939) sowie tausender weiterer Teilnehmer feierlich eingeweihten Essener Ruhrkämpfer­ ehrenmal an der Ruhr in Horst initiiert.186 Die regional spezifische Erinnerung an die Nachkriegstoten der Jahre 1918–1923 wurde Bestandteil der NS-Gedenkpraxis. Hierin wurden insbesondere den ehemaligen Freikorps-

181  Schmidt,

„Der Kapp-Putsch“, S. 81; Tenfelde, „Fragmentiert“, S. 425. die Widmung von Generalleutnant a. D. Watter bei der Gedenkfeier am Essener Ehrenmal im Jahr 1937, der sich die NS-Geschichtsdeutung umfassend zu eigen machte. „Gedenkfeier für die Freikorpskämpfer“, in: Rote Erde, Westfalen/Rheinland (22.02.1937). 183  Zur Person vgl. Bernhard Grau, „Steigbügelhalter des NS-Staates. Franz Xaver Ritter von Epp und die Zeit des Dritten Reiches“, in: Marita Krauss (Hrsg.), Rechte Karrieren in München. Von der Weimarer Zeit bis in die Nachkriegsjahre, München 2010, S. 29–51. 184  Zur Person vgl.: Stefan Frech, Wegbereiter Hitlers? Theodor Reismann-Grone, Paderborn 2009. 185  Zur Person vgl.: Bernhard Sauer, „Alte Kämpfer und feste Bande. Kurt Daluege und Herbert Packebusch“, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Bd. 62 (2014), S. 977–996. 186  Es handelte es sich hierbei um das größte Ehrenmal des Ruhrkampfes. Es war bei der Schlageterfeier im Jahr 1933 angeregt und unter intensiver Beteiligung der SA rasch umgesetzt worden. Zur Gestaltung und Einweihungsfeier sowie zur weiteren rituellen Aktualisierung des Essener Ehrenmals vgl.: Kenkmann, „Totenkult“, S.  279 f.; Schmidt, Essen erinnert, S. 42–44; Seiffert, „… die letzten Schlacken“, S. 82; Tenfelde, „Fragmentiert“, S. 421 f. Das Ehrenmal fungierte überdies als Ort des polizei­ lichen Totenkultes im NS-Staat, dazu: Daniel Schmidt, Schützen und Dienen. Polizisten im Ruhrgebiet in Demokratie und Diktatur 1919–1939, Essen 2008, S. 388 f. 182  So



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kämpfern von Rhein und Ruhr positive Identitäts- und Integrationsangebote im NS-Staat unterbreitet.187 Der nationalsozialistische Totenkult diente im Ruhrgebiet überdies der r­ituellen Teilhabe an den Mythen, die Werte und Normen des heroischen, soldatischen Kämpfers sowie der Sterbebereitschaft als sacrificium für die Nation vermittelten und Feindbilder perpetuierten.188 Er unterstützte das NSGeschichtsbild und schuf der NS-Bewegung eine direkte Traditionslinie von den Weltkriegsgefallenen an. Durch die Einbindung von Wehrmacht, Volksbund und Kriegervereinen konnte der NS-Opfermythos über die Gruppe der eigenen Aktivisten hinaus verbreitet werden. Gerade durch die Integration von Nationalheroen wie Schlageter konnte der NS-Mythos zudem an ein größeres Publikum adressiert werden. Die Feiern stifteten Gemeinschaft und werteten insbesondere die SA auf. Behrenbeck folgend diente der Totenkult in den 1930er Jahren zudem der Kriegsvorbereitung, da er auch zukünftige Tote rechtfertigte und ein heroisches Ethos verbreitete.189 Während sich der NS-Märtyrerkult nach dem Ende der sogenannten „Kampfzeit“ zunehmend zu nostalgischen SA-Veteranentreffen entwickelte,190 verlief sich die NS-Erinnerung an die Ruhrkämpfer gegen Ende der 1930er Jahre, da die kommunistischen Feinde im Inneren besiegt, eine Feind­ bildkonstruktion daher nicht mehr notwendig war.191 Im Frankreichfeldzug jedoch wurde beispielsweise die mythische Figur Schlageter noch einmal antifranzösisch, propagandistisch instrumentalisiert.192 Auch „Heldengedenktage“, die nun zusätzlich die Gefallenen des gegenwärtigen Krieges inte­ grierten,193 wurden im Ruhrgebiet während des Zweiten Weltkrieges im ­bescheideneren Rahmen weiter veranstaltet.194

187  Bspw. wird dies auch in der Gestaltung des Ruhrkämpferehrenmals deutlich, das nicht nur die Namen der Verstorbenen, sondern auch die Symbole der kämpfenden Formationen festhielt, so: Kenkmann, „Totenkult“, S. 280. 188  Ähnlich zu Funktionen des polizeilichen Totenkultes: Schmidt, Schützen und Dienen, S.  389 f. 189  Behrenbeck, Der Kult, S. 408. 190  Vgl. Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult, S. 323–331. 191  So Seiffert, „…die letzten Schlacken“, S. 88. Kenkmann hingegen geht davon aus, dass das Gedenken an die Ruhrkämpfer bis 1945 fortgeführt worden sei, so: Kenkmann, „Totenkult“, S. 283. 192  Zwicker, „Nationale Märtyrer“, S. 138 f. 193  Dazu: Kaiser, Von Helden, S. 185. 194  Behrenbeck, Der Kult, S. 450. In den Vordergrund seien jedoch die Heldenehrungsfeiern für die aktuellen Gefallenen gerückt. Zum NS-Heldenkult im Krieg vgl. zudem ebd., S. 403–531.

III. Schlussbemerkungen

Heilige, Helden, Krieger  – zwischen Religion und Ideologie: Epilog Von Alfons Brüning Zwischen Heiligen und Helden waren die Grenzen womöglich immer schon fließend. Und vom Helden zum heiligen Krieger bleibt dann oft nur ein kleiner Schritt übrig, wie auch die Beiträge auf den vorangegangenen Seiten zeigen können. Dabei haben Geistliche und Theologen eigentlich immer auch gestritten und geschrieben gegen eine zu eindeutige Inbesitznahme des oder der Heiligen für das Heroische. Aber die christliche Theologie hat diese Ambiguität anscheinend erst in jüngerer Zeit wirklich zum Hauptthema gemacht. „Inbesitznahme“ ist hier sogar relativ direkt zu verstehen, insofern ein durchaus konsensfähiges Verständnis vom deutschen bzw. germanischen Wort „Heiligkeit“ (entspr. lat. sanctitas) auf eine Wortwurzel im Begriffsfeld des „Eigentums“ (wie bei altnord. helga, „zueignen“) verweist. Das Heilige ist damit in christlicher Terminologie das, was Gott gehört, und der oder die Heilige entsprechend durch große Nähe zu Gott gekennzeichnet.1 Der Held aber ist weniger entrückt, und verrichtet seine großen Taten im Dienst des Kollektivs, das seinen Ruhm verbreitet und von seiner „Exorbitanz“ umgekehrt profitiert.2 Heiligkeit gegen Heldentum abzugrenzen bedeutet demnach auch, wie man hypothetisch formulieren kann, die Universalität der Kirche in Schutz zu nehmen gegenüber partikularen Narrativen. Zugleich sind einerseits alle Getauften grundsätzlich „heilig“, partizipieren also wie die besonders Verehrten am gleichen göttlichen Privileg, während andererseits dem Heldenhaften stets das Außergewöhnliche, Besondere und Aristokratische anhaftet. Das alles erschöpft die Spannung nicht, markiert aber wichtige Aspekte. Die historische Relevanz solcher Differenzierungen illustrieren mehr als deutlich die Beiträge zu den Kriegerheiligen in diesem Band. Dabei gilt die 1  Vgl. Günther Lanczkowski/Diether Kellermann/Michael Lattke/Johannes Laube, Art.: „Heiligkeit“, in: Gerhard Krause/Gerhard Müller (Hrsg.) Theologische Real­ enzyklopädie, Bd. 14, Berlin/New York 1985, p. 695–712, hier p. 695 f. 2  Hierzu die Beiträge und Diskussionen bei Andreas Hammer/Stephanie Seidl (Hrsg.), Helden und Heilige. Integrationsfiguren des europäischen Mittelalters, Heidelberg 2010.

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genannte Spannung wohl, wenn auch in unterschiedlicher Akzentuierung, im östlichen wie im westlichen Christentum gleichermaßen. Den unterhalb der jeweiligen „Militarisierung“ der Heiligen, oder je nach Sichtweise deren Inbesitznahme wirksamen semantischen Strukturen und Denkbildern, auch in christlich theologischer Perspektive, will dieser Epilog nachzugehen versuchen. Man kann sich schnell überzeugen von der Aktualität dieser Spannung als Thema der Theologie. Unter dem Stichwort „Heiligsprechung“ verzeichnet etwa die aktuelle Ausgabe des katholischen Lexikons für Theologie und Kirche einen Hinweis auf die in Kanonisierungen so häufig anzutreffende heroisierende Tendenz, die leicht eine Verzerrung des eigentlich Heiligen bedeuten könne. So sieht man sich zu einer Klarstellung genötigt: Heilig ist zuerst die Kirche, und daher auch befugt, konkrete Personen als Heilige namhaft zu machen. „Die Heiligen sind demzufolge keine ‚Glückstreffer‘ einer abstrakten Heilsanstalt Kirche, deren heroisch geübter Tugendgrad sie als Vorbilder aus dem sündigen Alltag der ‚normalen‘ Gläubigen abhebt u. denen man desh. die schuldige Heldenverehrung entgegenzubringen hat. Heilige sind vielmehr die Verwirklichung der konkreten Heilszusage Christi an seine Kirche […].“3

Die innere Spannung von „Heiligkeit“ ist dabei keineswegs allein katholisch oder westlich. Die östliche Orthodoxie, vor allem die ostslawische Tradition kennt von alters her den Begriff des podvig, im Deutschen üblicherweise – etwas ungenau – als „Großtat, Heldentat“ wiedergegeben, eine „Leistung“, die auch jeder Heilige für sich in Anspruch nehmen kann.4 Aber im allgemeinen Sprachgebrauch wird eben auch siegreichen Soldaten derlei Großtat zugeschrieben. Immerhin liegt der Akzent, zumindest wenn das Wort im kirchlichen Kontext verwendet wird, zunächst vor allem auf der Askese und Selbstüberwindung. Anders gesagt, der Kampf, in dem sich der oder die Heilige bewährt, ist zuerst der gegen sich selbst. Der Kern dieses „heiligen Heldentums“, dessen Wurzeln in der asketischen Literatur der spätantiken Wüstenväter zu suchen ist, liegt in der Beherrschung sündhafter, chaotischer und den Menschen versklavender Leidenschaften, des Zorns, der Wollust, der Habsucht und Gier, aber auch der Angst oder der Herrschsucht. Erst als Folge davon gelingen dem einzelnen Menschen – dem podvižnik – dann auch besondere Taten und Werke, die ihn zum Vorbild machen und in besondere Nähe zu Gott rücken. Womöglich nur eine konsequente Fortentwicklung dieses Prinzips bedeutet es, wenn etwa in Fedor M. Dostoevskijs Roman Die Brüder Karamasow (1880) verschiedentlich der Blick gelenkt wird auf die „fortdauernde Großtat“ (dolgij podvig) der Einübung in die 3  Winfried Schulz, Art.: „Heiligsprechung“, in: Walter Kasper et  al. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 4, Freiburg 2006, Sp. 1328–1331, hier 1330. 4  Die direkte Ableitung stammt vom Wortfeld dvigat‘ (bewegen) und dviženie (Bewegung), es geht also allgemein darum, „etwas zu bewegen“.



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christliche Tugend der Demut (smirenie), die Nächstenliebe, Friedfertigkeit und Versöhnung hervorbringt. Ausdrücklich unterschieden wird solch ein quasi heldenhafter Langmut und derartige Hingabe von der kurzfristigen Heldentat, die vor allem auf Ruhm und schnellen Effekt bedacht ist.5 Solcherart zu Ende gedacht, ist dies nicht allein die vollendete Verwirklichung der schon bei den Kirchenvätern so gepriesenen christlichen Tugend der „Nüchternheit“ (gr. nepsis, russ. trezvost), die auch in der in Russland im 19. Jahrhundert geschätzten Anthologie der geistlichen Väter der östlichen Tradition, der Philokalia (russ. Dobrotoljubie) so oft gepriesen wird.6 Es ist auch, wie der Wortkern (smirenie ist abgeleitet von mir, „Frieden“ und bedeutet wörtlich „Befriedung“) schon erkennen lässt, gerade auf das Gegenteil von Krieg gerichtet. Diese Ableitungen und Richtigstellungen lassen am Ende wenig Raum für ein allzu konfrontatives Verständnis dessen, was den Heiligen und die Heilige jeweils ausmacht. Ein adäquates Verständnis der Kirche in ihrer eschatologischen und universalen Dimension,7 aber auch die Betonung der zuvorderst spirituellen Ausrichtung jeder heiligmäßigen Großtat lassen sich nicht leicht übersetzen in archaisch anmutendes kriegerisches Heldentum. Doch man merkt den Richtigstellungen und Differenzierungen auch eine gewisse Anstrengung an. Es braucht offenkundig die immer wieder neu zu leistende theologische Besinnung, um den latent stets vorhandenen heldenhaften – oder gar archaisch-heidnischen? – Kern in den Narrativen der Heiligen unter Kontrolle zu behalten, und nicht in offenen Heroismus mit Vorbild- und Konkurrenzcharakter umschlagen zu lassen. Wie die Beiträge des vorliegenden Bandes nahelegen, ist dies in historischer Perspektive keineswegs immer gelungen, und war in langen Phasen noch nicht einmal gewollt. Dass Heilige Helden gleich kamen, und es von da oft nur noch ein Schritt war zum Krieger, liegt anscheinend irgendwie in der Natur der Sache. Es geht jedenfalls bei solchen Prozessen, wie die Zahl der Beispiele nahelegt, keineswegs nur um vereinzelte Ausnahmen. Nahezu jedem und jeder Heiligen kann es passieren, als überirdischer Verbündeter die je eigenen Schlachtreihen füllen zu müssen. Auf einem Weg vom Märtyrer und Opfer oder friedlichen Mahner wurden, wie sich an sonst so unterschiedlich kontextualisierten Beispielen wie heiligen Soldaten, also Menas in Ägypten8 und Demetrios von Thessaloniki, aber auch komplexen Gestalten 5  Das Thema taucht wiederholt auf vor allem in den Dialogen Aljoscha Karamasows mit dem greisen Starec Zosima in Buch 6 des Romans. S. Fedor M. Dostoevskij, Brat’ja Karamazovy, Buch 10–11, in: ders., Sobranie sočinenij v 30 tomach, Bd. 14, Moskau 1976. 6  Vgl. Dobrotoljubie v russkom perevode, Bd. 1–5, Moskau 21895–1900. 7  Schulze, „Heiligsprechung“. 8  Vgl. den Beitrag von Eva Haustein-Bartsch im vorliegenden Band.

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wie Martin von Tours oder Patriarch Germogen in Russland lernen lässt, aus manchen ursprünglich sublim geistlichen Heiligen unter veränderten Bedingungen kampfbereite Abwehrhelden. Das Heiligengedenken wird dann auch äußerlich sichtbar gleichsam aufgerüstet. Die Symbolik der Ikonographie spiegelt geradezu Bewaffnung und konfrontativen Bedeutungswandel, und die Heiligen stehen nun den in die Konfrontation verwickelten irdischen Menschen in unterschiedlicher Weise zur Seite: als Fürsprecher für den Sieg, als Schutzpatrone in Abwehrgefechten, zuweilen als aktiv ins Schlachtgeschehen eingreifende mächtige Verbündete. Warum aber passiert dies so leicht, und mit so stereotyper Regelmäßigkeit im frühen Mittelalter und bei den Ritterorden, aber eben auch in Byzanz, in der frühen Neuzeit in Ost und West, und noch in der Moderne? Natürlich geschieht das oft, vielleicht immer in Konfliktsituationen, oder in konfliktreichen Konstellationen und in Grenzregionen, sei es unter der Bedrohung normannischer Überfälle, sei es in der russischen „Zeit der Wirren“ (1598–1613) mit fünf teilweise falschen Regenten auf dem Zarenthron und polnischer Besatzung, oder in Grenzgebieten wie Nordirland und dem Balkan in modernen Zeiten. Im Hintergrund solcher Prozesse steht aber immer auch eine Wahrnehmung und Deutung des je gegebenen Konfliktes, die nur den Sieg als dessen einzig legitime, „gerechte“ Lösung betrachten kann. In historischer Perspektive, so suggerieren die hier versammelten Beiträge, ist eine solche Haltung, die geradezu folgerichtig aus Heiligen wieder echte Helden und schließlich Krieger macht – auch wenn sie es ursprünglich oft gar nicht waren – eine ziemlich regelmäßige Erscheinung. Die Auffassung des jeweiligen Konfliktes, die allein den Sieg für „gerecht“ hält, mutet dann aber, je nachdem, natürlich oder naiv an. Dass selbst Heilige derart eindeutig Partei ergreifen, hat jedenfalls theoretisch zur Voraussetzung, dass der Konflikt, zumindest in wichtigen Teilen, und auf eine schlichte Art ins Metaphysische reicht, und nicht nur irgendwie gleichberechtigte Streitparteien einander gegenüberstehen, sondern „Gut“ gegen „Böse“ antreten lässt. Und leicht erscheint die Kritik und bemühte Relativierung, wie sie die Theologen und die Asketen üben wollen, dann sogar kopflastig und weltfremd – wer wollte schließlich dagegen sein, dass am Ende „das Gute“ gewinnt, und „das Böse“ unterliegt? Nicht einzelne Gegner unterliegen, besiegt wird das Böse selbst. Diese grundlegende Hoffnung ist es, die in Gestalt des hl. Georg und seines Sieges über finstere Mächte und Ungeheuer so anschaulich versinnbildlicht wird. Selbst christliche Theologen haben, wie in den vorherigen Beiträgen verschiedentlich zu sehen ist, an dieser Heiligung der vermeintlich gerechten Sache oft genug eifrig mitgewirkt, und damit auch der Indienstnahme ursprünglich sogar im Wortsinne passiver Heiliger, wie des Märtyrers hl. Demetrios oder der russischen „Leidensdulder“ hl. Boris und Gleb, Vorschub geleistet. Differenzierung und Akzeptanz von Ambigui-



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tät, die den Platz der Heiligen als Botschafter einer besseren Welt verteidigt, nicht nur als irgendwie ins Transzendente verlängerte irdische Macht, ist historisch eher die Ausnahme. Um eine zwar manchmal hastige und recht vordergründige, aber oft scheinbar so aufdringlich plausible und nachvollziehbare Parteinahme zu überwinden, muss auch die christliche Theologie oft gehörig über ihren Schatten springen. Zudem, ist der Krieg nicht gerade eine jener Urerfahrungen, die, wie zuletzt etwa Friedrich Wilhelm Graf betont hat, allein schon als Extremsituation die Menschen dem Heiligen näherbringt,9 und dabei sowohl das Beste wie das Schlechteste des Menschen zu mobilisieren vermag – also Heilige und Verbrecher gleichermaßen geradezu hervorbringt? Folglich ist es auch noch nicht allzu lange her, dass der Krieg eben nicht allein als Übel und Unglück gesehen wurde, sondern dessen „reinigende Kraft“ beschworen, und der positive Effekt, den Anspannung und Bedrohung auf die im Frieden leicht müßig, nachlässig und schwächlich werdende Bevölkerung haben müsse. Soldaten wiederum sind schon von Berufs wegen geradezu zum Außergewöhnlichen bestimmt. Allerdings beginnt hier gerade die Ambivalenz. Die Mehrdeutigkeit soldatischer Größe wird aber geschichtlich erst allmählich wirksam und entsprechend reflektiert. Eher unproblematisch erscheint es einstweilen, dass schon im biblischen Kontext manch ein Soldat recht positiv gezeichnet wird. Es beginnt mit dem Hauptmann von Kapernaum (vgl. Mt 8, 5–13), dessen Glaubenszeugnis so beeindruckend wirkt, weil er sich der Wahrheit fügt und keine überflüssigen Fragen stellt. Er, und auch der römische Zenturio am Fuße des Kreuzes, der spontan Jesu Gottessohnschaft bezeugt (vgl. Mk 15, 39), stehen dem Originaltext nach immerhin schon als Glaubenszeugen zur Verfügung. Der inhärente Widerspruch, dass sie als Krieger auch töten müssen, wird noch nicht thematisiert. Doch das Problem bestand. Jedenfalls tat sich das frühe Christentum, worauf auch auf den vorherigen Seiten oft hingewiesen wird, mit dem Soldatenberuf erst einmal schwer. Der Pazifismus des Evangeliums wurde vor allem in den frühen Jahrhunderten ernst genommen. Die frühen Canones bestehen darauf, dass ein Soldat, der von seinem Beruf nicht lassen will, nicht getauft und in die Kirche aufgenommen werden kann.10 Noch im 4. Jahrhundert, in 9  Friedrich Wilhelm Graf, „Sakralisierung von Kriegen: Begriffs- und problemgeschichtliche Erwägungen“, in: Klaus Schreiner/Elisabeth Müller-Luckner (Hrsg.), Heilige Kriege. Religiöse Begründungen militärischer Gewaltanwendung: Judentum, Christentum und Islam im Vergleich (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien, 78) München 2008, S. 30. Siehe auch die Einleitung von Liliya Berezhnaya zu diesem Band. 10  Zahlreiche Beispiele in der Anthologie von Hildo Bos/Jim Forest (Hrsg.), For the Peace from Above. An Orthodox Resource Book on War, Peace and Nationalism, Rollinsford/NH 2011.

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einer auch in der östlichen Tradition viel zitierten Quelle, verweist Basilius von Caesarea in einer Abhandlung über verschiedene Arten des Mordes und die dafür zu verhängende Strafe darauf, dass zwar die Alten das Töten im Krieg nicht als Verbrechen angesehen hätten, während ihm selbst nichtsdestotrotz eine Strafe von drei Jahren Ausschluss von der Eucharistie als angemessen erscheint.11 Der in den paulinischen Texten und frühen Quellen öfter auftauchende miles Christi war stattdessen, in höchstens allegorischer Auffassung, ein Soldat des Friedens, übte im Namen Christi Gehorsam, Selbstüberwindung und Verzicht, und kämpfte „mit dem Waffen des Friedens und der Liebe“. Eine Ausnahme aber gab es: Töten war immerhin verzeihlich, wo es – wie es der genannte Kanon 13 des Basilius formuliert – geschah für die „Verteidigung von Frömmigkeit und Nüchternheit“. Bestraft werden mussten die Betreffenden aber dennoch, da, wie es im Text heißt, ihre Hände nicht rein seien.12 Was das Töten jedenfalls entschuldigt, sind immer noch geistliche Ideale, wobei nicht so ganz klar ist, auf wessen Seite – des Verteidigers, der Verteidigten? – diese vor allem ihren Platz haben. Das schwer aufzulösende Dilemma der Nächstenliebe, dass jemand sich womöglich ebenfalls schuldig macht, wenn er Gewalt und Unrecht gegenüber seinen Nächsten einfach zulässt, statt zu begrenzter Gewalt zu deren Verteidigung zu greifen, wird zudem auch in der alten Kirche schon formuliert.13 Geistliche Tugenden wie die „Frömmigkeit und Nüchternheit“, aber auch Wahrheitsliebe und Standhaftigkeit hatten jedenfalls ihren Wert bei denjenigen Soldaten, die die Rolle des Glaubenszeugen in gesteigerter Kategorie übernahmen, und den Märtyrertod erlitten, so wie der im Band besprochene hl. Menas oder der hl. Demetrios. Wiewohl freilich die Ikonographie sie recht bald in soldatischer Uniformierung wiedergab, und ihnen und ihren Ikonen Wunder zugeschrieben wurden, verdankten sie doch ihre Heiligkeit ihrem Sterben und vorbildlichem Lebenswandel, nicht ihrer soldatischen Profession. Die offizielle Kirche blieb demnach lange bei ihrer Skepsis. Oft wird in diesem Zusammenhang auf die Absage verwiesen, die sich Kaiser Nikephoros II. Phokas noch 969 beim Patriarchen holte, als er die im Kampf gegen die Muslime gefallenen Soldaten zu Märtyrern erklären lassen wollte. Patri11  „Canons 12  Hier

of the Fathers of the Church“, in: ebd., S. 49–51, hier S. 50. nach Stanley Harakas, „The Teaching on Peace in the Fathers“, in: ebd.,

S. 404. 13  Die klassischen Passagen bei Ambrosius von Mailand (De officiis ministrorum I, 36, 178 sowie I, 27, 129) werden als ein Ausgangspunkt westlicher Lehren vom „gerechten Krieg“ gesehen. Die östliche Tradition scheint diese Pflicht zur Verteidigung ebenfalls als selbstverständlich gegeben gesehen zu haben, ohne einstweilen weitere Schlüsse im Hinblick auf ein Kriegerideal zu ziehen, siehe „Killing and Bloodshed“, in: ebd., S. 116–127, insbes. S. 122.



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arch Polyeuktos wies das Ansinnen bekanntlich mit Verweis auf Basilius’ Kanon zurück, da es sich in seinen Augen um Sünder handelte, die stattdessen Buße zu tun hatten.14 Ähnlich wurde der russische mittelalterliche Fürst und Kriegsherr Alexander Nevskij (1220–1263), der zwar einen ruhmreichen Sieg über die Deutschordensritter errungen hatte, angesichts der Kräfteverhältnisse aber einer Konfrontation mit den Tataren aus dem Weg gegangen war, zunächst wegen seiner Klugheit und seines frommen Lebenswandels, nicht wegen seiner militärischen Erfolge kanonisiert. Schließlich hatte Fürst Alexander sein Leben als Mönch Alexij ein einem Kloster vollendet, und wurde als solcher erst heiliggesprochen.15 Zu dieser Zeit war der Volksglaube im Osten genauso wie im Westen freilich den sublimen Vorbehalten der Theologen und kirchlichen Hierarchen schon länger davon gelaufen. Im Westen, aber auch in Byzanz benötigten Kollektive, Kommunen und Volksgruppen den himmlischen Beistand, und suchten und fanden diesen in Heiligen, die sich für sie in die Bresche schlugen.16 Im Westen, etwa im fränkischen Reich der Merowinger, ging es zunächst um eine „Christianisierung des Kriegers“, die germanisches Kriegerethos in sich aufzunehmen und zu sublimieren versuchte – eine teils missionstheologisch begründete Konzession an die mentalen Welten der neuen Gläubigen. Später, unter der normannischen Bedrohung, wurden Heilige zu Schutzpatronen der Kommunität und übernahmen die Verteidigung ihrer Heiligtümer selbst, griffen mitunter selbst ins Schlachtgeschehen ein. Wiederum sind es bestimmte Gruppen, Stände oder ethnische Verbände, die sich zumal in Konfliktsituation die Heiligen als ihre Fürsprecher zu eigen machen. Vielleicht geht es nicht zu weit wenn man feststellt, dass die Mönche und Chronisten, die hierzu entscheidend beitragen, „dem Volk“ teils näher sind als entrückte Theologen.17 Dergleichen geschah im Westen im Frühmittelalter, und vor den Zeiten des eben genannten byzantinischen Kaisers Nikephoros. So sind zwar, wie Wolfram Drews vermutet hat, zunächst Unterschiede in der westlichen und byzantinischen Entwicklung auszumachen, insofern Byzanz auf das von einer bestimmten „innerweltlichen Askese“ geprägte Kriegerideal zunächst nicht 14  Vgl. die Einleitung von Liliya Berezhnaya zu diesem Band, mit weiteren Verweisen. 15  Vgl. Frithjof Benjamin Schenk, Alexander Nevskij. Heiliger-Fürst-Nationalheld. Eine Erinnerungsfigur im russischen kulturellen Gedächtnis (1263–2000), Köln 2004, S. 58–67. Wie Schenk ausführlich darstellt, war freilich das Schicksal von Nevskijs Andenken höchst wechselvoll, ähnlich wie dasjenige des im vorliegenden Band von Robert Greene untersuchten Patriarchen Germogen. 16  Christopher Walter, The Warrior Saints in Byzantine Art and Tradition. Alder­ shot 2003. 17  Vgl. die Beiträge von Laury Sarti und Thomas Scharff in diesem Band.

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angewiesen war.18 Demnach hielten die späteren Quellen der östlichen Tradition zwar die Soldaten an, sich von Meuterei, Plünderung und Rebellion fernzuhalten und mit ihrem Sold zufrieden zu sein.19 Aber jenseits dieses eher nüchtern daherkommenden Aufrufs zur professionellen Disziplin gab der Soldat kein vermittelndes Ritter-Ideal mit Brücken zur Welt der Heiligen ab. Die Frage ist freilich, inwieweit angesichts dieser relativen Volksnähe der Militarisierung – abseits offizieller Diskurse unter Hierarchen und Theologen – der anfängliche Unterschied zwischen Ost und West von Dauer war. Heilige töteten bald, seit der mittelbyzantinischen Zeit, auch in Byzanz nicht mehr nur Drachen. Vom hl. Georg, dem Prototyp des Drachentöters, der unterdessen einen besonderen Ruf als Helfer gegen die Sarazenen erworben hatte, wurde ein Wunder erwähnt, in dem der Heilige einen ihn lästernden muslimischen Angreifer mit Pfeil und Bogen niederstreckt, und seine Gefährten in chaotische Flucht schlägt.20 Ikonen des hl. Demetrios zeigen diesen, wie er im Jahr 1207 den Bulgaren-Khan Kalojan (1197–1207) bei dessen Angriff auf Thessaloniki mit einer Lanze durchbohrt (Abb. 1). Heilige werden auch hier zu Verteidigern nicht allein einer Idee, sondern eines – mitunter gerade durch seinen christlichen Charakter bereits sakralisierten – Gemeinwesens. Dass Heilige zu Kriegern werden können, hat zur Voraussetzung, dass sie für „das Gute“ streiten. Die Feststellung mutet banal an, aber hatte offenkundig historisch große Wirkung, nachdem erst einmal verschiedene Hintertüren für legitime Gewaltanwendung geöffnet waren – immer zur Verteidigung, und dann des Gemeinwesens, der Stadt oder des Volkes, oder von sakralen Werten oder Orten. Wenig vermag offenbar den Menschen und vor allem den Mann so zu veredeln – oder eben zu heiligen – wie seine streitende Hingabe im Dienst der „guten Sache“ (das ist auch die causa iusta als Grundbestandteil der seit Augustinus überlieferten Lehre vom „gerechten Krieg“ im Westen), also etwa der Verteidigung der Heiligen Stätten oder der Heidenmission. Die mittelalterlichen Ritterorden verbanden auf dieser Grundlage geradezu das Ideal des Asketen und des Kriegers. Der Aufruf zum heiligen Heldentum aber bedeutete mit seinen asketischen Ingredienzien eben nicht nur einen 18  Wolfram Drews, „Heilige Männer im Kampf. Formen religiösen ‚Heldentums‘ im christlichen und islamischen Mittelalter“, in: Andreas Hammer/Stefanie Seidl (Hrsg.), Helden und Heilige. Kulturelle und literarische Integrationsfiguren des europäischen Mittelalters (Germanisch-Romanische Monatsschrift Beiheft, 42), Heidelberg 2010, S. 47–67, hier 60. Siehe auch die Einleitung von Liliya Berezhnaya zu diesem Band. 19  Vgl. die Kapitel zu „Killing and Bloodshed“, in: Bos/Forest (Hrsg.), For the Peace from Above, S. 33–37, 117–126, hier S. 33, 122, 124. 20  Joaotes B. Aufhauser, Miraculi S. Georgii, Leipzig 1913, S. 8–12.



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Abb. 1: Hl. Demetrios von Thessaloniki, Russland, 16. Jahrhundert, Ikonen Museum Recklinghausen (Inv.-Nr. 0451). Foto: Jürgen Spiler.

Versuch zur Zivilisierung des Krieges, sondern auch zur Zähmung des Kriegers. Zugleich konnte ein solches Ideal selbstgewiss genug daher kommen, um noch auf himmlischen Schutz sogar der Gottesmutter selbst zu rechnen, die damit selbst als Frau und geradezu idealtypische Verkörperung der kenosis (der Unterwerfung unter göttlichen Willen) und als Leidende dem Schicksal der Indienstnahme für Angriff und Eroberung nicht entkam.21 Dass ein nüchterner Blick schnell zu entlarven vermochte, wie oft und regelmäßig diese Versuche zur Zähmung des Krieges und des Kriegers gründlich missglückten – hier wird oft erinnert an die Chroniken und Berichte nach der Eroberung von Jerusalem im ersten, oder von Konstantinopel im vierten Kreuzzug22 – hat weder dem Ritterideal noch dem Lob des Krieden Beitrag von Stefan Samerski im vorliegenden Band. etwa den Bericht des Niketas Choniates (1155–1217) über die Eroberung Konstantinopels 1204, in Englischer Übersetzung von Dana Carleton Munro, Translations and Reprints from the Original Sources of European History, Serie 1, Bd. 3, 1, 21  Vgl. 22  Vgl.

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ges als ultimativer Ort der Bewährung auf Dauer schaden können. Dies festzustellen heißt übrigens nicht, die durchaus ebenso vorhandenen Zeugnisse des Mittelalters selbst zu ignorieren, oder aus den scheinbar gleichlautenden Klängen der Chroniken voreilige Schlüsse zu ziehen. Die westliche Kirche des Mittelalters ist ja weder kritiklos den Kreuzzugs- und Missionsaufrufen des Bernhard von Clairvaux (1090–1153) gefolgt, noch hat sie aufgehört, über die Grenzen des Erlaubten beim „gerechten Krieg“ zu wachen oder den „heiligen Krieg“ gleich ganz aus ihrem intellektuellen Arsenal heraus zu halten.23 Mit anderen Worten, auch die mittelalterlichen Theologen des Westens unternahmen bereits die gebotenen Anstrengungen, um die Spannung gegenüber banaler Freigabe von Gewalt zu erhalten, und das Heldenhafte im Heiligen unter Kontrolle zu behalten. Gelungen ist das allerdings nur teilweise, indem nicht nur die Krieger, sondern auch das stets religiös konnotierte Kriegerideal immer wieder zu zähmen versucht wurden. Auch militarisierte Heilige waren damals zwar mächtige Verbündete, aber nie eigentlich gewaltverherrlichend. Verschwunden ist das Ideal des Kriegers dadurch aber nicht. Als irdisches Abbild des hl. Erzengels Michael tragen die Ritter weiter bei zur Verwirklichung des endgültigen gerechten, christlichen Friedens, der eintreten soll, nachdem die (vermeintlichen) Feinde der Christenheit – Türken, Tataren, Sarazenen oder Juden – überwunden sind. Im „Herbst des Mittelalters“ scheint das Ideal des christlichen Ritters freilich zu verfallen. Nach und nach wird es überführt in das Adelsideal des galanten Hofmanns, der sich als verbindliches Vorbild mehr schlecht als recht in die frühe Neuzeit rettet.24 Der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) und die mit­ unter schon proto-national konnotierten Konfrontationen der Zeit des Konfessionalismus brachten anscheinend konfessionelle Glaubenszeugen oder frühnationale Märtyrer, aber kaum einmal echte neue Soldatenheilige ­hervor.25 Philadelphia 1912, S.  15–16 [hier nach https://sourcebooks.fordham.edu/source/ choniates1.asp, zuletzt besucht 14.12.2019]. 23  Weitgehend zum Stand der Forschung, und differenzierend zu verbreiteten Stereotypen: Arnold Angenendt, Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, Münster 2007, S. 403 f., 425–435. 24  Klassisch: Johan Huizinga, „Herfsttij der Middeleeuwen“, in: ders., Verzamelde Werken, Teil 3, Haarlem 1949, insbes. S. 79–127. 25  Der klassische Aufsatz Peter Burke, „How to Become a Counter-Reformation Saint“, in: Kaspar von Greyerz (Hrsg.), Religion and Society in Early Modern Europe, London 1984, S. 45–55, zählt unter den Tugenden und Verdiensten möglicher neuer Heiliger schlicht nichts, was mit dem militärischen Bereich in Verbindung zu bringen wäre. Katholische, aber auch orthodoxe Gemeinwesen oder Kirchen beriefen sich um diese Zeit zwar auf einen profilierenden Kanon von eigenen Schutzheiligen, oft mit der Mutter Gottes an der Spitze, aber selten stachen bei diesen Heiligen neben einer allgemeinen Schutz- und Verteidigungsfunktion besondere soldatische oder militärische Tugenden heraus.



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Vielmehr scheint im Barock in West und Ost vor allem Maria sehr oft als Schutzheilige von politischen Gemeinwesen, aber auch Armeen oder angegriffenen Heiligtümern gedient zu haben, während andererseits die dekorative, die jeweilige Gemeinschaft aufwertende Funktion der Heiligen, nicht zuletzt der Adligen unter ihnen, eine größere Bedeutung hatte.26 Es folgten die scheinbar aufgeklärten Gentleman-Gefechte und Kabinettskriege, die zwar in Wahrheit kaum so kultiviert ausgefochten wurden wie die Theorie es wollte, aber in eben dieser Theorie wenig Anknüpfungspunkte boten für heiliges Heldentum. Aber auch wenn der Ritter somit allmählich aus der Geschichte verschwand, Ideale wie die des der guten Sache ergebenen, altruistischen Streiters für „das Gute“ sind nicht so leicht abzuschaffen, nur werden sie zu unterschiedlichen Zeiten neu und anders definiert und beschworen. Die Idee vom Heldentum einerseits, und die Wahrnehmung der existentiellen Dimension des Krieges, der die Heiligen und geheiligten Helden hervorbringt, andererseits, leben genotypisch fort, erhalten aber quasi phänotypisch eine andere Gestalt. Das geschah auch, als das adlige Kriegerideal allmählich ausgedient hatte, aber der Krieg seine existentielle Konnotation behielt. Existentiell meint dann wiederum, „Gut“ und „Böse“ sind in einer bestimmten Situation nicht nur klar geschieden, sondern treffen ganz und unmittelbar aufeinander, wenn auch terminologisch verschleiert. Es ist diese existentielle Entscheidungssituation, die religiöse Dimensionen hat, und zur Bewährungsprobe der neuen Heiligkeit der Moderne wird, und alten Heiligen zu neuem, nun heldenhaft-soldatischem Gesicht verhilft. Konkret ist die Frage, welchen Namen „Gut“ und „Böse“ bekommen, und wer oder was das eine oder andere verkörpert – welcher heilige Wert, welche Kommunität oder historische Mission jeweils existentiell bedroht gesehen wird, und welcher terminologische Schleier zum Zuge kommt. Im gleichen Zug wie modernes Heldentum entstehen moderne Feindbilder. Die neuen Zeiten generierten neue militarisierte Heilige – manchmal im Rückgriff auf Berühmtheiten früherer Zeiten. So erfolgte etwa bei Johanna von Orléans (1412–1431) die Seligsprechung erst 1909, und ihre Heiligsprechung erst 1920. Die berühmte Jungfrau Frankreichs symbolisierte den Kampf gegen feindliche – nur im engeren historischen Sinne englische – Versuche, die Oberherrschaft über das Land zu erringen.27 Ein mögliches anderes Beispiel 26  Vgl. Damien Tricoire, Mit Gott rechnen. Katholische Reform und politisches Kalkül in Frankreich, Bayern und Polen, Göttingen 2013. Vgl. auch den Beitrag von Natalia Sinkevych in diesem Band. 27  Vgl. Gerd Krumeich, Jeanne d’Arc in der Geschichte, Historiographie – Politik – Kultur, Sigmaringen 1989; ders., Jeanne d’Arc: Die Geschichte der Jungfrau von Orleans (Beck’sche Reihe), München 2012.

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ist die Geschichte des russischen Flottenadmirals und späteren Hegumen von der Einsiedelei von Sarov, Fedor Ušakov (1745–1817, kanonisiert 2001), „dessen starker christlicher Geist Ausdruck fand nicht allein in seinen Siegen für das Vaterland, sondern auch in seiner Barmherzigkeit selbst seinen besiegten Feinden gegenüber […].“28 Demgegenüber stand das personifizierte Böse als Feind. Die Erinnerungen an die napoleonischen Kriege sorgten in Russland auch für ein quasi-apokalyptisches Bild des angreifenden Franzosenkaisers.29 Als die alten Ritterideale mitsamt ihrem unterdessen leicht degenerierten, jedenfalls überwiegend aristokratischem Tugendideal, unter anderem im „Demokratisierungsschub“ der Französischen Revolution vollends ausgedient hatten, fragte archaisches Heldentum offenbar nach neuer Verkleidung, und tat dies nunmehr im religiös-nationalen Kontext. Das aber bedeutet, dass auch Heilige jetzt unter neuen Bedingungen zu Kriegerheiligen werden. Die napoleonischen Kriege waren es wohl, die zuerst zu einer neuen Auffassung vom Krieg allgemein, aber auch vom Heldentum im Besonderen beitrugen. So lautet zumindest das Fazit des Theoretikers und Militärhistorikers Carl von Clausewitz (1780–1831), der sein Werk unter dem Eindruck dieser Erfahrung schrieb. Clausewitz hält die Kraft nationaler Gesinnung selbst gegenüber numerisch überlegenen Gegnern für einen Faktor, mit dem man von nun an rechnen müsse, und sieht zugleich den Helden im Krieg vor allem durch klaren Blick, Mut und Entschlossenheit gekennzeichnet, im Extremfall durch „heldenhafte Verzweiflung“.30 Clausewitz’ wissenschaftlich daherkommendem Traktat fehlt freilich die religiöse Komponente scheinbar ganz – anderswo wurde sie alsbald mit Eifer, und mit bereitwilliger Vereinnahmung nicht nur der Heiligen, sondern der Heilsgeschichte dem nationalen Gedanken hinzugefügt. Das Europa des 19. Jahrhunderts ist gerade voll von „auserwählten Völkern“,31 die in der Abwehr vernichtungsgesinnter Feinde rei28  Valerij Ganičev, Svjatoj pravednyj Fedor Ušakov, Moskau 2005, S. 503; vgl. auch Irina Paert, Spiritual Elders: Charisma and Tradition in Russian Orthodoxy, DeKalb, Illinois 2010. 29  Vgl. Liliya Berezhnaya, „Apokalyptische Gestalt oder ‚Feind Russlands‘? Napoleon in russischen Karikaturen zu Anfang des 19. Jahrhunderts“, in: Martina Winkler (Hrsg.), 1812 in Russland  –Erzählung, Erfahrung und Ereignis (= Comparativ, Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung, 4 [2012]), S. 71–96. 30  Carl von Clausewitz, Vom Kriege, revidierte Ausgabe, Berlin 2010, S. 31 f., 108 f., 130 f [hier nach https://www.clausewitz-gesellschaft.de/wp-content/uploads/ 2014/12/VomKriege-a4.pdf, zuletzt besucht 15.12.2019]. 31  Zum Hintergrund: Anthony D. Smith, Chosen Peoples. Sacred Sources of National Identity, Oxford 2003; Alois Mosser (Hrsg.), „Gottes auserwählte Völker“: Erwählungsvorstellungen und kollektive Selbstfindung in der Geschichte, Frankfurt 2001.



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henweise früher friedliche, wenn auch irgendwie dem Soldatischen nahe Heilige nun vollends zu Kriegshelden und militärischen Patronen erheben. Viele der neuerdings militarisierten Heiligen hatten aber ursprünglich mit dem Soldatisch-Militärischen gar nichts zu tun, und mitunter wird dabei auch die altkirchliche Regel, der zufolge Klerikern und Priestern der Dienst als Soldat kategorisch untersagt ist,32 komplett ignoriert. Der vorliegende Band rückt mehrere solcher Beispiele in den Vordergrund. So kommt es etwa in Serbien und Bulgarien zu regelrechten „Erstmilitarisierungen“ von Heiligen, die eigentlich der Tradition nach als Missionare, Mönche oder Bischöfe dem militärischen Bereich ziemlich fern standen.33 Die Ambivalenz zwischen Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation drängt geradezu zur Konstruktion neuer, teils in die Tiefe der geschichtlichen Zeit verlängerter Gegensätze.34 Zugleich verlangt der neue Glaube an das Auserwähltsein der Nation neue Glaubenszeugen, die Opfer bringen im Dienst der nationalen Selbsterhaltung – so entstehen neue säkulare Märtyrer, wie in den irischen Aufständen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.35 Der Erzengel Michael wird für die rumänischen „Eisernen Garden“ zum verpflichtenden Schutzpatron.36 Die Grenze zur „politischen Religion“ und puren Ideologie, inklusive der inhärenten Säkularisierung des Vorgangs, ist bei derartiger Inanspruchnahme offenkundig verwischt – was man vermutlich auch in Kenntnis der jüngeren Debatten um „politische Religion“, und ohne „Ideologie“ allein polemisch zu verwenden, feststellen kann.37 Auch die irischen neuen Märtyrer standen ja nicht sofort im religiösen Zusammenhang, vielmehr wurde dieser Kontext erst nach und nach im Rückgriff auf alte konfessionelle Gegensätze beigesteuert. Im Ex­ tremfall sind jedenfalls selbst in scheinbar gänzlich säkularisiertem, ja dezi32  Vgl. die Kapitel und Zeugnisse „A New Reality brought about by Christianity“ und „Spiritual Warfare“, in: Bos/Forest (Hrsg.), For the Peace from Above, S. 128– 131, 134–142, hier S. 129–131, 135. 33  Entsprechend in diesem Band der Beitrag von Stefan Rohdewald. 34  Vgl. zum Hintergrund auch die Beiträge in Martin Schulze Wessel (Hrsg.), Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation im östlichen Europa, Stuttgart 2006. 35  Entsprechend der Beitrag von André J. Krischer im vorliegenden Band. 36  Vgl. den Beitrag von Constantin Iordachi. 37  Teils ist Eric Voegelins u. a. Konzept der „politischen Religionen“ zuletzt kritisch diskutiert worden. Vgl. in Bezug auf der NS-Regime: Hans Günter Hockerts, „War der Nationalsozialismus eine politische Religion? Chancen und Grenzen eines Erklärungsmodells“, in: Klaus Hildebrandt (Hrsg.), Zwischen Politik und Religion, München 2003, S. 45–71; Richard Steigmann-Gall, „Was National Socialism a Political Religion or a Religious Politics?“, in: Michael Geyer/Hartmut Lehmann (Hrsg.), Religion und Nation. Nation und Religion. Beiträge zu einer unbewältigten Geschichte, Göttingen 2004, S. 386–408.

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diert atheistischem Kontext Tugendanforderungen und Opferterminologie dem der Heiligen und Glaubenszeugen eng verwandt, wie dies etwa jüngst für die russischen Revolutionäre des späten 19. Jahrhunderts und den Kult der „Selbstaufopferung für die Revolution“ nachgewiesen wurde.38 Pazifismus hat es unter solchen Umständen schwer, vor allem wenn er Ideale demontiert, und scheinbar Heiliges in Frage stellt. Beispielhaft ist die Kritik, die der russische Religionsphilosoph Wladimir Solowjew (1853–1900) bei Gelegenheit am radikalen Pazifismus der Tolstojaner übte. Vermutlich gebe es tatsächlich, so führt er aus, keine Rechtfertigung dafür, zur Verteidigung des eigenen Lebens Gewalt anzuwenden – anders aber lägen die Dinge, wenn der Angriff nicht einem selbst, sondern den Nächsten, oder nahestehenden Schwachen gelte. Hier sei es geradezu unmoralisch, diese unter Berufung auf eine höher motivierte Gewaltlosigkeit ihrem Schicksal zu überlassen.39 Im unmittelbaren Kontext kann hier immer noch ein moralischer Konflikt gemeint sein, in dem von Unvermeidlichem die Rede ist, ohne den Kontext zu idealisieren. Wie gesehen, hat bereits die frühe Kirche auf dies Dilemma hingewiesen, freilich zugleich die Versuchung gesehen, hieran einen eigenen Heldenkult anzuknüpfen. Spätestens der Verweis auf den liturgischen, und damit auch gemeindlichen Kontext stellt die Relationen zwischen unmittelbarem Kollektiv und Gesamtkirche andererseits wieder her. Selbstaufopferung und Heldentum als abstrakte Pflicht und Ideal, im wiederum existentiell verstandenen Moment der Bewährung, scheinen im neuzeitlichen Nationalkult aber, anders als vorher, sicher in dem Augenblick durch, wo in erweiterter Perspektive aus „dem Nächsten“ statt der Menschen im persönlichen Umfeld oder in konkreter Situation allgemein die Landsleute, Angehörige desselben Volkes oder Kulturkreises und damit Mitglieder der eigenen imagined community werden.40 Oder, wie es in der Einleitung von Liliya Berezh­ naya schon angesprochen wird: „Nationalheilige werden zu (quasi)religiösen Erinnerungsorten stilisiert um für ‚die Konstituierung von Gemeinschaften, deren Mitglieder sich nicht persönlich kennen und dennoch untereinander verpflichtet fühlen‘ “, Identifikationsangebote mit besonderem Gewicht zu liefern.41 Das betrifft moderne Gesellschaften in Ost und West. Der serbische 38  Vgl. Vitalij Fastovskij, Terrorismus und das moderne Selbst. Religiöse Semantiken revolutionärer Gewalt im späten Zarenreich (1860–1917), Göttingen 2018. 39  Vgl. Paul Robinson, „The Justification of War in Russian History and Philosophy“, in: ders. (Hrsg.), Just War in Comparative Perspective, Aldershot 2003, S. 62– 75, hier S. 70 f. 40  Vgl. Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, Neuausg. London 2006. 41  Thomas Wünsch, „Einleitung: Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa“, in: ders./Joachim Bahlcke/Stefan Rohdewald (Hrsg.), Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Konstitution und Konkurrenz im nationen- und epochenübergreifen-



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Theologe und Heilige Nikolaj Velimirović (1880–1956) schrieb es ähnlich, wenn auch allgemeiner: „War as well as peace is one of the tools in the hands of God. War is a poison, which kills, but which at the same time can cure and heal. It is better to have one great and mighty river than many small streams which easily freeze in frost and which are easily covered with dust and filth. A war which gathers an entire people for a great cause is better than a peace which knows as many tiny causes as it knows people, which divides brothers, neighbours, all human beings, and which hides in itself an evil and hidden war against all. We have to wish those, whom we love, both a good life and a good death. To die in the struggle for a great common cause is a good death.“42

Die russisch-orthodoxe Kirche hat noch im Jahr 2000 in ihrer Sozialkonzeption die heiligen Soldaten in ihrer Tradition auf dieser Grundlage eigens hervorgehoben: „In all times, Orthodoxy has had profound respect for soldiers who gave their lives to protect the life and security of their neighbours. The Holy Church has canonised many soldiers, taking into account their Christian virtues and applying to them Christ’s word: ‚Greater love hath no man but this, that a man lay down his life for his friends‘ (Jn. 15:13).“43

Es liegt in einem solchen gesellschaftlichen Klima wohl zugleich etwas Verführerisches im Beschwören der ultimativen Bewährungssituation des Krieges, die Gelegenheit gibt, den heiligen Vorbildern nachzueifern. Dann ist der Krieg eben plötzlich nichts Schreckliches mehr, sondern wirkt der Banalität des Alltags entgegen. Zum Ende des 19. Jahrhunderts sind, nicht nur bei den eben genannten Revolutionären, sondern auch bei Kirchenleuten, Intellektuellen und Politikern überall in Europa immer wieder Mutmaßungen in dieser Richtung anzutreffen. Im Deutschen Kaiserreich haben Schriftsteller, Künstler und eben auch Theologen lange vor der unmittelbaren Vorkriegszeit hierfür ebenso gute Beispiele geliefert wie russische Bischöfe und berühmte Schriftsteller.44 Bereits Fedor M. Dostoevskij selbst hatte, allerdings etwas zweideutig, 1876 in seinen Tagebüchern Mutmaßungen darüber angestellt, den Zugriff, Berlin 2013, S. XXVIII. Vgl. die Einleitung von Liliya Berezhnaya zu diesem Band, S. 50. 42  Vgl. St. Nicholas (Velimirovic) of Ochrid, „Thoughts about War and the Military Endeavour“, in: St. George’s Anthology, Paris 1928 (Russ.), hier englisch nach Bos/ Forest (Hrsg.), For the Peace from Above, S. 224 f. 43  The Basis of the Social Concept of the Russian Orthodox Church, Kap. VIII, 1: https://mospat.ru/en/documents/social-concepts/viii/ [zuletzt besucht 16.12.2019]. 44  Vgl. die Beispiele etwa bei Ulrich Hermann, „Erziehung für Verdun“, in: Die Zeit online, https://www.zeit.de/2014/06/erster-weltkrieg-erziehung-kaiserreich [zuletzt besucht am 19.12.2019], Zur „Kriegstheologie“ im deutschen Christentum vor 1914 vgl. Thomas Nipperdey, Religion im Umbruch. Deutschland 1870–1914, München 1988, S. 49–51 (Katholizismus), S. 98–100 (Protestantismus).

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welche verborgenen Kräfte und Tugenden der Krieg gegebenenfalls zu mobilisieren imstande sei.45 Das einzige, wofür im Krieg, wenigstens in der dramatisierenden Vorstellung der Literaten, offenkundig kein Platz ist, ist alles Durchschnittliche, Mittelmäßige, Alltägliche. Als geradezu willkommenes, „reinigendes“ Ereignis angesichts von Banalität des Alltags, Sittenverfall und moralischer Laxheit wurde denn auch der Erste Weltkrieg schließlich von Intellektuellen und von Theologen auf allen Seiten begrüßt. Thomas Mann (1875–1955) produzierte damals auffallend ähnliche Töne wie etwa der weithin geachtete russisch-orthodoxe Erzbischof von Wolhynien und Žytomyr Antonij (Chrapovickij, 1863–1936).46 In dessen kurz nach Kriegsbeginn veröffentlichter, auch nochmals scharf mit Leo Tolstojs (1828–1910) Pazifismus ins Gericht gehender Broschüre erscheint der russische Soldat dann – ohne ausdrücklich heilig genannt zu werden – doch nicht als Krieger, sondern vor allem als Asket und Opferheld: „Unsere Soldaten, als sie zum Schlachtfeld aufbrachen […] dachten nicht darüber nach, wie sie töten, sondern wie sie sterben würden. In deren Augen ist ein Soldat kein selbstgenügsamer Eroberer, sondern ein selbstloser Asket, der sein Leben opfert für Glaube, Zar und Vaterland.“47

Die Besinnung der Theologen kam in diesem Fall erst nach dem Krieg, mehr noch nach den beiden Kriegen, dem „europäischen dreißigjährigen Krieg“ des 20. Jahrhunderts, von dem Winston Churchill (1874–1965) schließlich gesprochen hatte.48 Sie kam vor allem, weil der Mythos des Krieges als Bühne für Heldentum und letztendliche Bewährungsprobe gegenüber der Hässlichkeit moderner industrieller Kriegführung nur noch schwer zu behaupten war. Zu viele hatten sich in jugendlichem Enthusiasmus zur Verteidigung des Vaterlandes und zur Kavallerie gemeldet, und waren dann in Schützengräben, im Maschinengewehrfeuer und im Gas umgekommen. Einstweilen gab es noch Rettungsversuche zur Verklärung der existentiellen Bewährungsprobe wie Ernst Jüngers Stahlgewitter (1920), und später die teils an solche Verklärungen anknüpfenden Heldenkulte der Nationalsozialisten.49 45  Fedor M. Dostojevskij, „Dnevnik Pisatelja“, in: ders., Sobranie Sočinenij v 15 tomach, Bd. 13, St. Petersburg 1994, S. 142–146. Die Gedanken zum Krieg werden in diesem Dialogfragment vom Autor einem fiktiven Gegenüber zugeschrieben. 46  Beispiel Thomas Mann, „Gedanken im Kriege“, in: Die Neue Rundschau, Bd. 25 (1914), S. 1471–1484; für den orthodox russischen Kontext: Antonij (Chrapovickij), Bischof von Charkov, „Christianskaja vera i vojna“, in: Pastyr’ i Pastva, Bd. 40–41 (1916), S. 1073–1092, später auf Englisch: Anthony Khrapovitsky, The Christian Faith and War, Jordanville 2005. 47  Ebd. [hier nach der online-Version unter https://www.rocorstudies. org/2016/11/16/the-christian-faith-and-war/, zuletzt besucht 15.12.2019]. 48  U. a.: Winston Churchill, The Gathering Storm, Boston 1948, S. VII. 49  Hierzu der Beitrag von Sarah Thieme im vorliegenden Band.



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Jenseits metaphorischer Anspielungen sind solche Kulte bereits weitgehend des ehemals christlichen Gehalts beraubt. Umgekehrt hatte auch für viele Literaten außerhalb der Theologie die Realität der Kriegserfahrung selbst nunmehr einen wichtigeren Beitrag geliefert zur „Entzauberung“ des Kriegsmythos, als es theologisch inspirierte Bedenken je gekonnt hätten. Die Banalität des Sterbens führte in der Literatur der Veteranen, in Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues (1928) oder R. C. Sherriff’s A Journey’s End (1928) heldenhaften Enthusiasmus gründlich ad absurdum. Parallel dazu rechnete christliche Theologie teils schon in den 1920er Jahren mit allen Kriegsrechtfertigungen ab – nicht nur mit dem Sündenfall einer „Kriegstheologie“ vor und während des Krieges, sondern generell mit Mythen vom Krieg als ultimativem Tugendtest, von „gerechter Sache“ und dem „gerechten Krieg“ selbst. Der Dominikanerpater Franziskus Maria Stratmann (1883–1971) begründete bis heute ernst diskutierte Einwände gegen die katholische Doktrin vom „gerechten Krieg“, da seiner Ansicht nach unter den Bedingungen industrieller Massenvernichtung keines der einstmals formulierten Kriterien für einen solchen „gerechten Krieg“ noch Bestand haben könne.50 Um die gleiche Zeit sprach der Leidener Theologieprofessor und Remonstrantenprediger Gerrit Jan Heering (1879–1955) vom „Sündenfall des Christentums“ in dem Moment, als unter der „konstantinischen Wende“ die christliche, von Jesus so deutlich vertretene Gewaltfreiheit und Feindesliebe einem Staatskult mit Rückkehr archaischer, in diesem Falle alttestamentarischer Kriegsrechtfertigung, einer „antik-barbarischen Gesinnung“ gewichen sei.51 Hier klingt zum Teil die verbreitete Skepsis vieler protestantischer Theologen gegenüber dem Erbe der Spätantike an, doch das tut dem Argument keinen Abbruch. Jedenfalls, man tut Heering, der danach auch die Gesellschaft „Kirche und Frieden“ (Kerk en Vrede) gründete, vermutlich nicht ganz unrecht mit der Feststellung, dass mindestens so sehr der national-kollektive Wahn der Vorkriegszeit wie eine nüchterne Untersuchung der Spätantike seine Analyse leitete. Vollends nach dem nächsten, dem Zweiten Weltkrieg entlarvte die Reflexion die Verfehlungen einer „Kriegstheologie“, von der es nur noch ein Schritt gewesen war zum nationalsozialistischen, nur noch pseudo-religiös daherkommenden Heldenkult.52 Heinrich Böll (1917–1985) beklagte in seiner Abrechnung mit 50  Franziskus M. Stratmann, Weltkirche und Weltfriede, Katholische Gedanken zum Kriegs- und Friedensproblem, Augsburg 1924. 51  Gerrit J. Heering, De zondeval van het christendom. Een studie over Christendom, staat en oorlog, Arnhem 1928 (Utrecht 51981). 52  Vgl. Karl Hammer, Deutsche Kriegstheologie (1870–1918), München 1971; Heinrich Missala, „Gott mit uns“. Die deutsche katholische Kriegspredigt, München 1968; ders., Art.: „Kriegspredigt“, in: Walter Kasper et al. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 6, Freiburg 2006, Sp. 480. Vgl. zur „Kriegstheologie“ allgemein die Beiträge in: Gerd Krumeich/Hartmut Lehmann (Hrsg.), „Gott mit uns“. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2000. Die

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einem obrigkeitshörigen und selbstgenügsamen Katholizismus, dessen Morallehren so wenig zu den moralischen Dilemmata des modernen Krieges zu sagen hätten, auch den Missbrauch des Hauptmanns von Kapernaum als vermeintlichen Kronzeugen für Militärgehorsam und Dienstpflicht.53 Die Beispiele ließen sich vermutlich beliebig vermehren, und wahrscheinlich sind die eingangs erwähnten Differenzierungsbemühungen zwischen Heldentum und Heiligkeit auch dieser Denkrichtung zu verdanken. Dennoch ist nach dieser modernen Welle der Demontage alter Mythen vom Krieg als gottgesandter Bewährungsprobe und vom Kriegerideal als Verkörperung christlicher Tugenden das Grundthema nicht vom Tisch. Vor allem das Dilemma der Pflicht zur Verteidigung gegen ungerechte Gewalt, die gegenüber dem und den wehrlosen Nächsten in konkreter Bedrohungs­ situation besteht, kann noch immer herhalten als Ausgangspunkt zur Kon­ struktion des Krieges als immerhin „kleineres Gut“ (nicht als „kleineres Übel“), inklusive der Gegenüberstellung eines Soldatenideals gegenüber dem des Priesters, unter Berufung auf Eusebius von Caesarea (260/264–339/340).54 Dies moralische Dilemma bleibt real, die daraus abzuleitenden Prämissen bleiben Diskussionsthema. Kriegerische Heilige sind unter modernen Bedingungen zwar ihrer aristokratische Konnotation beraubt, aber noch immer nicht einfach nur als Relikt vergangener Zeiten oder als allein eine Sache religiösen Fundamentalismus abzutun.

östliche Kirche und deren Rolle im 1. Weltkrieg verrät ähnliche Züge, ist aber bisher weniger gut erforscht. Für einen ersten Überblick vgl. z. B.: Alfons Brüning, „Kata­ strophe und Epochenwende. Die Russische Orthodoxe Kirche im Weltkrieg“, in: Manfred Sapper/Volker Weichsel (Hrsg.), Totentanz. Der Erste Weltkrieg im Osten Europas (= Osteuropa, Bd. 2–4 [2014]), S. 263–278. 53  Heinrich Böll, Brief an einen jungen Katholiken, Köln/Berlin 1961, S. 6 f. 54  Vgl. Alexander F.  C. Webster, „Justifiable War as a ‚Lesser Good‘  “, in: St. Vladimir’s Theological Quarterly, Bd. 47, 1 (2003), S. 3–57, insbes. 24 f., und die daran anschließende Diskussion im gleichen Heft. Webster ist ein orthodoxer Theologe und Militärseelsorger. Das Themenheft entstand im Umfeld der Diskussionen um den amerikanischen „Krieg gegen den Terror“ als Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Dr. Liliya Berezhnaya ist seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Projektleiterin am Exzellenzcluster „Religion und Politik. Dynamiken von Tradition und Innovation“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Ihre Forschungsinteressen sind vergleichende Studien der europäischen Grenzregionen (borderland studies), imperiale und nationale Diskurse in der Osteuropäischen Geschichte, symbolische Geographie und die Konstruktion des „Anderen,“ Erinnerungsorte in Ost- und Ostmitteleuropa, Kultur- und Religionsgeschichte Osteuropas, sowie wie eschatologische und millenaristische Vorstellungen in christlichen Traditionen. Sie ist Autorin und Herausgeberin unter anderem von (mit John-Paul Himka), The World to Come. Ukrainian Images of the Last Judgment, Cambridge, Mass. 2015; (mit Christian Schmitt), Iconic Turns: Nation and Religion in Eastern European Cinema since 1989, Leiden 2013; und zuletzt (mit Heidi Hein-Kircher), Rampart Nations. Bulwark Myths of East European Multiconfessional Societies in the Age of Nationalism, New York/Oxford 2019. Prof. Dr. Alfons Brüning ist seit 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Instituut voor Oosters Christendom der Radboud Universität Nijmegen, Niederlande; ferner ist er seit 2012 auch außerordentlicher Professor für „Orthodoxie, Menschenrechte, Friedensforschung“ an der Protestantischen Theologischen Universität (PThU) in Amsterdam. Seine Forschungen gelten der Religionsgeschichte Ostmittel- und Osteuropas seit der frühen Neuzeit, sowie Fragen von Religion und postsowjetischer Gesellschaft, und der Relation der orthodoxen Kirchen zu Menschenrechten und Friedensethik. Zu seinen Publikationen zählen: „Unio non est unitas“. Polen-Litauens Weg im Konfessionellen Zeitalter (1569–1648), Wiesbaden 2008; als Herausgeber (mit Evert van der Zweerde), Orthodox Christianity and Human Rights, Leuven 2012; Human Dignity and Patristic Legacy (= Sondernummer des Journal of Eastern Christian Studies, 71, no 3–4, 2019). Prof. Dr. Robert H. Greene ist seit 2006 Associate Professor und Co-Director des Russian Studies Program an der University of Montana, USA. Er hat an der University of Michigan studiert und anschließend dort promoviert. Sein Forschungsschwerpunkt ist die religiöse und kulturelle Geschichte des Russischen Imperiums und der Sowjetunion. Greene ist Autor u. a. von: Saints and Relics in Orthodox Russia, DeKalb 2009, und Co-Herausgeber von (mit Eugene M. Avrutin), The Story of a Life: Memoirs of a Young Jewish Woman in the Russian Empire, DeKalb 2012, sowie (mit Valerie Kivelson), Orthodox Russia: Belief and Practice under the Tsars, University Park 2003. Dr. Eva Haustein-Bartsch studierte Kunstgeschichte sowie süd- und ostslavische Philologie in Tübingen, Wien und Bonn, abgeschlossen mit Promotion in Bonn über „Der Nemanjidenstammbaum. Studien zur mittelalterlichen serbischen Herrscherikonographie.“ Sie war von 1983 bis November 2018 Leiterin des Ikonen-Museums Recklinghausen, wo sie zahlreiche Ikonenausstellungen organisierte. Von 1996 bis

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

2005 war sie Mitglied des wissenschaftlichen Komitees des Ikonenmuseums im Palazzo Leoni Montanari in Vicenza (Italien). Seit 2012 ist sie in der wissenschaftlichen Bearbeitung der Ikonen im Nationalmuseum Oslo tätig. Haustein-Bartsch ist Autorin und Herausgeberin zahlreicher Ausstellungskataloge, Bücher und Aufsätze vorwiegend über das Ikonen-Museum und zu Ikonen u. a.: Nikolaus. Ein Heiliger für alle Fälle. Leben – Legenden – Ikonen (Ausstellungskatalog Ikonen-Museum Recklinghausen, 19.  Oktober 2013–23.  Februar 2014), Recklinghausen 2013; Von Drachenkämpfern und anderen Helden. Kriegerheilige auf Ikonen (Ausstellungskatalog Ikonen-Museum Recklinghausen, 2.  Oktober 2016–12.  Februar 2017), Recklinghausen 2016; (mit Simon Morsink), Die Farben des Himmels. 15 kretische Ikonen aus einer europäischen Privatsammlung (Ausstellungskatalog Ikonen-Museum Recklinghausen, 21. Oktober 2017–25. März 2018), Recklinghausen 2017. Seit November 2018 sie ist Vorsitzende von „EIKON. Gesellschaft der Freunde der Ikonenkunst e. V.“ Prof. Dr. Constantin Iordachi ist an der Historischen Fakultät der Central European University in Budapest/Wien tätig. Er ist Co-Direktor des dortigen „Pasts, Inc. Center for Historical Studies,“ Co-Herausgeber der Zeitschrift East Central Europe (Brill Verlag) und Präsident der International Association for Comparative Fascist Studies (www.comfas.org). Zu seinen Publikationen zählen: Karizma, politika, erőszak: A fasiszta Vasgárda Romániában, 1927–1941, Budapest 2017; Charisma, Politics and Violence: „The Legion of Archangel Michael“ in Inter-War Romania, Trondheim 2004; und Liberalism, Constitutional Nationalism and Minorities: The Making of Romanian Citizenship, c. 1750–1918, Leiden 2019. Iordachi ist Herausgeber und CoHerausgeber u. a. von: (mit Kristof Van Assche), The Biopolitics of the Danube Delta, Lanham 2014; (mit Arnd Bauerkämper), The Collectivization of Agriculture in Communist Eastern Europe. Comparison and Entanglements, Budapest 2014; (mit Anders E. B. Blomqvist/Balázs Trencsényi), Hungary and Romania beyond National Narra­ tives, Bern 2013; Comparative Fascist Studies: New Perspectives, London 2009, übersetzt ins Rumänische und Türkische; (mit Dorin Dobrincu), Transforming Peasants, Property and Power: The Process of Land Collectivization in Romania, 1949–1962, Budapest 2009. Iordachi ist auch Mitglied des Hauses der Europäischen Geschichte, Brüssel. PD Dr. André Johannes Krischer ist Leiter der Arbeitsstelle für die Geschichte Großbritan­niens und des Commonwealth, Historisches Seminar an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Projektleiter am Exzellenzcluster „Religion und Politik. Dynamiken von Tradition und Innovation.“ Zu seinen wichtigsten Publikationen gehören: Reichsstädte in der Fürstengesellschaft. Politischer Zeichengebrauch in der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006; Die Macht des Verfahrens. Englische Hochverratsprozesse 1554–1848, Münster 2017. Er ist auch Herausgeber von: Verräter. Geschichte eines Deutungsmusters, Köln u. a. 2019; und (mit Tilman Haug), Höllische Inge­ nieure. Kriminalitätsgeschichte der Attentate und Verschwörungen zwischen Spätmittelalter und Moderne, Konstanz 2020. Prof. Dr. Stefan Rohdewald hat seit 2020 den Lehrstuhl für Ost- und Südosteuropäische Geschichte an der Universität Leipzig inne. 2013–2020 war er Professor für Südosteuropäische Geschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seine Forschungsschwerpunkte sind: überregionale Verflechtungsgeschichte zwischen dem östlichen Europa und dem Nahen Osten, Stadtgeschichte, Erinnerungsdiskurse, Sportgeschichte, Transkulturalität, Transkonfessionalität. Rohdewald ist Koordinator und



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Sprecher des DFG Schwerpunktprogramms „Transottomanica: Osteuropäisch-osmanisch-persische Mobilitätsdynamiken (2017–2023).“ Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen gehören: „Vom Polocker Venedig“. Kollektives Handeln sozialer Gruppen einer Stadt zwischen Ost- und Mitteleuropa, Stuttgart 2005; Götter der Nationen. Religiöse Erinnerungsfiguren in Serbien, Bulgarien und Makedonien bis 1944, Köln/ Weimar/Wien 2014. Ausgewählte Mitherausgeberschaften: (mit David Frick/Stefan Wiederkehr) Lithuania and Ruthenia. Studies of a Transcultural Communication Zone (15th–18th Centuries), Wiesbaden 2007; (mit Arié Malz/Stefan Wiederkehr) Sport zwischen Ost und West. Beiträge zur Sportgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert (Osnabrück 2007); (mit Klaus Gestwa) Kooperation trotz Konfrontation. Wissenschaft und Technik im Kalten Krieg (= Themenheft der Zeitschrift Osteuropa, 59/10, 2009); (mit Joachim Bahlcke/Thomas Wünsch) Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Konstitution und Konkurrenz im nationen- und epochenübergreifenden Zugriff, Berlin 2013; (mit Andreas Helmedach/Markus Koller/Konrad Petrovszky) Das osmanische Europa. Methoden und Perspektiven der Frühneuzeitforschung zu Südosteuropa, Leipzig 2014; (mit Stephan Conermann/Albrecht Fuess), Transottomanica – Osteuropäisch-osmanisch-persische Mobilitätsdynamiken. Perspektiven und Forschungsstand, Göttingen 2019. Prof. Dr. Stefan Samerski ist seit 2011 Professor für Kirchengeschichte am Priesterseminar in Berlin (Affiliation zur Gregoriana/Rom). Er ist ebenfalls Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit 2018 ist er Vizepräsident der Sudetendeutschen Akademie der Wissenschaften und Künste. Samerskis Forschungsschwerpunkte sind die Kirchen-, Frömmigkeits- und Diplomatiegeschichte der Neuzeit, dazu insgesamt ca. 290 Veröffentlichungen mit 29 Büchern. Zu seinen letzten Veröffentlichungen gehören: „Zur Spiritualität des Deutschen Ordens. Die Funktionalität der Ordenspatrone einst und jetzt“, in: U. Arnold/H. Huber (Hrsg.), Peregrinans Peregrinantibus. 823 Jahre Deutscher Orden, Weimar 2020, S. 45–65; (mit Arno Mentzel-Reuters) (Hrsg.), Catrum sanctae Mariae. Die Marienburg als Burg, Residenz und Museum, Göttingen 2019; Cura animarum. Seelsorge im Deutschordensland Preußen, Köln 2013; (mit Ludwig Mödl) (Hrsg.), Global-Player der Kirche? Heilige und Heiligsprechung im universalen Verkündigungsauftrag, Würzburg 2006; Wie im Himmel, so auf Erden? Selig- und Heiligsprechung in der Katholischen Kirche, 1740 bis 1870, Stuttgart 2002. Dr. Laury Sarti ist Akademische Rätin für mittelalterliche Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Sie beschäftigt sich u. a. mit den Verbindungen zwischen der fränkischen und der byzantinischen Welt und leitete die Forschergruppe „Militarisierung frühmittelalterlicher Gesellschaften“ (2016–2020, Fritz Thyssen Stiftung). Zu ihren Publikationen gehören: „Frankish Romanness and Charlemagne’s Empire“, in: Speculum, Bd. 91, 4 (2016), S. 1040–1058; „Eine Militärelite im merowingischen Gallien? Versuch einer Eingrenzung, Zuordnung und Definition“, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Bd. 124, 2 (2016); „The military, the clergy and Christian faith in sixth-century Gaul“, in: Early Medieval Europe, Bd. 25, 2 (2017), S. 162–185; „Der fränkische miles: weder Soldat noch Ritter“, in: Frühmittelalterliche Studien, Bd. 52, 1 (2018), S. 99–117. Sie ist außerdem Mitherausgeberin von: (mit Rodolphe Keller), Pillages, tributs, captifs: prédation et sociétés de l’Antiquité tardive au haut Moyen Âge, Paris 2018, (mit Stefan Esders, Yaniv Fox, Yitzhak Hen), East and West in the Middle Ages. The Merovingian King-

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doms in Mediterranean Perspective, Cambridge 2019, und (mit Ellora Bennett, Guido M. Berndt, Stefan Esders), Early Medieval Militarisation, Manchester 2021. Ihr erstes Buch, Perceiving War and the Military in early Christian Gaul (ca. 400–700 A. D.) erschien in 2013. Ihre zweite Monographie, Orbis Romanus? Byzantium and the Roman Legacy in the Frankish World (ca. 600–1000 A.D.) befindet sich in der Fertigstellung. Prof. Dr. Thomas Scharff studierte Mittelalterliche und Alte Geschichte sowie Ägyptologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Dort wurde er 1992 mit einer Arbeit über die Zusammenhänge zwischen Schriftgebrauch und Repression („Häretikerverfolgung und Schriftlichkeit. Die Wirkung der Ketzergesetze auf die oberitalienischen Kommunalstatuten im 13. Jahrhundert“) promoviert. Anschließend war er in Münster wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent am Historischen Seminar und am Sonderforschungsbereich 231 („Träger, Felder, Formen pragmatischer Schriftlichkeit im Mittelalter“). Er habilitierte sich 2000 mit einer Studie zur Wahrnehmung und Darstellung des Krieges im Frühmittelalter („Die Kämpfe der Herrscher und der Heiligen. Krieg und historische Erinnerung in der Karolingerzeit“). 2004 wurde er auf die Professur für Mittelalterliche Geschichte an der Technischen Universität Braunschweig berufen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Häresie und Inquisition im Mittelalter, Krieg im Frühmittelalter, mittelalterliche Schriftkultur, Königtum und Historiographie, die Geschichte Braunschweigs im Mittelalter, die mittelalterliche Rezeption des antiken Ägypten sowie Formen von Mittelalterrezeption in der Neuzeit. Dr. Nataliia Sinkevych ist Postdoc an der LMU München, Historisches Seminar, Lehrstuhl für Geschichte Ost- und Südosteuropas. Dort leitet sie ein Forschungsprojekt mit dem Titel „Erfindung der Tradition: Kiewer kirchliche Tradition auf der Suche nach ihrem Weg zwischen Rom, Konstantinopel, Wittenberg, Warschau und Moskau (1596–1720),“ gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Zu ihren Publikationen zählen: „Paterykon“ Sylvestra Kosova: pereklad ta doslidžennja pamjatky [Das Paterikon von Sylvester Kosov: Übersetzung und Untersuchung des Werks], Kiew 2014; „Religious Cults in Early Modern Ukrainian Society in the Journal of Paul of Aleppo“, in: Yulia Petrova/Ioana Feodorov (Hrsg.), Europe in Arabic Sources: „The Travels of Macarius, Patriarch of Antioch“, Kiew 2016, S. 67–76; „The 1635 ‚Paterykon‘ by Sylvestr Kossov. Its Purposes, Originality, Sources and Interpretation“, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 64, 2 (2016), S. 177–198; „Dva vektora pravoslavnoj identičnosti v Ukraine XVII v. Moskva i moskovity v dvuch proizvedenijach Mogilanskogo vremeni [Zwei Richtungen der orthodoxen Identität in zwei Werken aus Petro Mohylas Zeit]“, in: Andrej Doronin (Hrsg.), Drevnjaja Rus’ posle drevnej Rusi: diskurs vostočnoslavjanskogo (ne)edinstva, Moskau 2017, S. 272–290. Dr. Sarah Thieme ist seit 2017 wissenschaftliche Projektleiterin am Exzellenzcluster „Religion und Politik. Dynamiken von Tradition und Innovation“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) sowie Lehrbeauftragte am Historischen Seminar der WWU. In ihren Forschungen beschäftigt sie sich schwerpunktmäßig mit Religion und Politik im 20. Jahrhundert, mit der Kulturgeschichte des Nationalsozialismus sowie der Zeitgeschichte von Christentum, Gläubigkeiten und Kirchen in re­ gionalhistorischer Perspektive. Publikationen u. a.: „Praktiken der (Doppel-)Gläubigkeit vor Ort: Advents- und Weihnachtsfeiern von NSDAP und NS-Frauenschaften“,



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in: Olaf Blaschke/Thomas Großbölting (Hrsg.), Was glaubten die Deutschen zwischen 1933 und 1945? Religion und Politik im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2020, S. 110–134; Nationalsozialistischer Märtyrerkult. Sakralisierte Politik und Christentum im westfälischen Ruhrgebiet (1929–1939), Frankfurt am Main 2017; Das katholische Milieu und der Kriegstod. Sinnstiftungen, gemeindliche Trauerpraxis und kollektive Memoria in Münster und Coesfeld 1939 bis 1945, Coesfeld 2013.