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German Pages 362 Year 2014
Thomas Tripold Die Kontinuität romantischer Ideen
Kulturen der Gesellschaft | Band 6
Für Konstantin und meine Eltern
Thomas Tripold (Dr. phil.) ist Lektor an der Karl-Franzens-Universität Graz. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Kultursoziologie, Religionssoziologie und Sozialphilosophie.
Thomas Tripold
Die Kontinuität romantischer Ideen Zu den Überzeugungen gegenkultureller Bewegungen. Eine Ideengeschichte
Gedruckt mit Unterstützung des Forschungsservice der Universität Graz, der Abteilung für Wissenschaft und Forschung der Steiermärkischen Landesregierung und der Stadt Graz
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Inhalt
Hinführung zum Thema | 9
MET HODOLOGISCHE ÜBERLEGUNGEN
1. Kontinuität und Wirkung romantischer Ideen | 19
1.1 Latente Gewohnheiten des Denkens und die Idee des ›authentischen Selbst‹ | 22 1.2 Das metaphysische Pathos und die Idee des ›holistischen Pathos‹ | 26 1.3 Kritik und Reformation der traditionellen Ideengeschichte | 31 1.4 Ideen in kulturellen Bewegungen | 39 1.5 Ideen in sozialen Praktiken | 45
ROMANTISCHE ÜBERZEUGUNGEN
2. Das Überzeugungsnetz der Romantik | 57 2.1 Die romantische Idee der Empfindsamkeit | 59
2.2 Die romantischen Ideen von Liebe, Ehe und Geselligkeit | 78 2.3 Die Suche nach Originalität – das romantische Kunstverständnis | 92 Zwischenresümee | 104 2.4 Die instrumentelle Vernunft der Aufklärung und ihre gebildeten Verächter | 113 2.4.1 Die Welt als Maschine | 114 2.4.2 Romantische Gesellschaftskritik und ihre Ausstrahlung | 119 2.4.3 Instrumentelle Vernunft und Trivialisierung der Welt | 128 2.4.4 Die Internierung des Abnormen | 137 2.5 Romantische Naturphilosophie und die Nachtseiten des Unbewussten | 143 2.5.1 Franz Anton Mesmers »thierischer Magnetismus« | 146 2.5.2 Die magnetische »Allfluth« und der somnambule Schlaf | 152 2.5.3 Die magnetische Bewegung und ihre Ausstrahlung | 168 2.6 Entzauberung und Verzauberung | 178 2.6.1 Die Religion der Aufklärung | 178 2.6.2 Romantische Religiosität | 184 2.7 Zwischenbetrachtungen | 194 2.7.1 Das Progressive und sein Aufgehen in der Struktur | 202
ROMANTISCHE KONTINUITÄTEN IM 20. JAHRHUNDERT 3. Die Verheißungen der Morgenlandfahrer – Die Lebensreform | 209 3.2 Philosophische Ideen der Lebensreform | 213 3.2 Psychologische Ideen der Lebensreform | 224
3.3 Religiöse, okkulte und spirituelle Ideen der Lebensreform | 230 3.4 Kulminationsort Monte Verità | 241
4 . Die counter culture | 255
4.1 Vorspiel: Die Beat-Generation | 258 4.2 Das Überzeugungsnetz und die Praktiken der counter culture | 263 4.2.1 Port Huron Statement und der Protest der Neuen Linken | 263 4.2.2 Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch und die neue Sensibilität | 268 4.2.3 Wilhelm Reich: Ideen zur sexuellen und energetischen Revolution | 277 4.2.4 Paul Goodman: Ideen zur Selbstverwirklichung und Selbstorganisation | 284 4.2.5 Timothy Leary: Ideen zur psychedelischen Revolution | 294 4.2.6 Alan Watts und das Esalen Institute: Ideen zur spirituellen Revolution | 302 4.2.7 Death of the Hippie | 313
Epilog | 319
Literatur | 335
Abbildungen | 361
I went to the Garden of Love, And saw what I never had seen: A Chapel was built in the midst, Where I used to play on the green. And the gates of this Chapel were shut, And »Thou shalt not« writ over the door; So I turn'd to the Garden of Love, That so many sweet flowers bore. And I saw it was filled with graves, And tomb-stones where flowers should be; And Priests in black gowns were walking their rounds, And binding with briars my joys & desires. William Blake (1757-1827); The Garden of Love
Hinführung zum Thema »Gerade die Individualität ist das Ursprüngliche und Ewige im Menschen; an der Personalität ist soviel nicht gelegen. Die Bildung und Entwicklung dieser Individualität als höchsten Beruf zu treiben, wäre ein göttlicher Egoismus.« FRIEDRICH SCHLEGEL: ATHENAEUM
Diese Forderung, seine Individualität zu entfalten und zu akzentuieren – sie gleichsam zu einem »göttlichen Egoismus« zu treiben –, wurde vor über 200 Jahren in einem geistigen Umfeld geäußert, das unter dem Begriff »Romantik« bekannt ist. Erstaunlich daran ist, dass wir uns trotz der zeitlichen Distanz mühelos mit diesem Ideal identifizieren können. Als Zeitgenossen der westlichen Welt spüren wir die Anziehungskraft, die von diesem romantischen Fragment ausgeht: Es ist der Anspruch ein authentisches »eigenes Leben« (Beck/Ziegler 1995) zu führen, der für uns zu einem der höchsten anzustrebenden Werte und zu einer außerordentlichen Grundherausforderung zugleich geworden ist. Die meisten zeitdiagnostischen Analysen basieren demnach auch auf dem Gedanken, dass die moderne Gesellschaft ist eine individualisierte Gesellschaft ist. Der Begriff ›Individualisierung‹ wird dabei immer wieder bemüht, sowohl um die Veränderungen der mentalen Gepräge von Menschen zu erklären, als auch um Wandlungsprozesse im gesellschaftlichen Zusammenhalt theoretisch zu fassen. Wenn von der Zukunft des sozialen Zusammenhalts der Gesellschaft die Rede ist, wird in der einschlägigen Fachliteratur (durchaus nicht nur in jener der neueren Zeit) sorgenvoll die Auflösung der sozialen Bindekraft aufgrund der fortschreitenden Individualisierung konstatiert. Mit dem aufkommenden Individualismus geht jedoch auch eine zunehmende Hinwendung zum Subjekt einher. Durch das Wegfallen von traditionellen und sozialstabilen Bindungen und der Verflüchtigung althergebrachter Wertmuster besteht in der Moderne gewisser-
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maßen ein Zwang, sich am eigenen Selbst – mit all seinen widersprüchlichen und ständig in Konflikt tretenden Bedürfnissen – als normative Instanz zu orientieren. So zeigt Charles Taylor in seiner ausführlichen Studie zur Genese der neuzeitlichen Identität, dass zum modernen Subjekt vor allem die Wertschätzung der Innerlichkeit gehört. Aus dem von Augustinus stammenden Gedanken – »Geh nicht nach außen; kehr in dich selbst zurück; im inneren Menschen wohnt die Wahrheit« (Taylor 1996: 238; 2002b: 230f.) – lassen sich diverse Modelle der Selbsterkundung rekonstruieren, welche die moderne Kultur maßgeblich geformt haben. In früheren Zeiten führte dieser Weg noch zu Gott, der, wie Peter Sloterdijk (2009: 67) betont, als »überzeugendste[r] Attraktor für Lebens- und Übungsformen« einen konkurrenzlosen Status inne hatte. Inzwischen hat nicht nur Gott unzählige Rivalen bekommen, die ihm seine Funktion als Verwalter von Sinnquellen streitig machen, im Zuge des Prozesses der Entzauberung wurde auch der Weg zu ihm seiner spirituellen Dimension entkleidet. In der Moderne gehen nur mehr sehr wenige Menschen nach innen um Gott zu finden. Vielmehr ist man darum bemüht diesem Leben eine Ordnung, einen Sinn abzuringen. Natürlich ist man bei dieser Suche nicht allein. Eine Vielzahl an Sinnangeboten soll bei der Sichtung eines Horizontes helfen, vor dem die Dinge eine feste Bedeutung annehmen, wodurch der Einzelne in die Lage versetzt wird manche Lebensmöglichkeiten als gut oder sinnvoll, andere als verwerflich oder trivial bewerten zu können.1 Fündig wird man bestimmt auf dem Basar der Orientierungshilfen, wo Sinnangebote aller Art und jeglicher Provenienz eifrig gehandelt, getauscht und mehr oder weniger intensiv genutzt werden. Um es etwas polemisierend auszudrücken – der »flexible Mensch« verfügt in der Regel über eine gut gefüllte, sich beständig erweiternde Truhe voll mit vorgefertigten Teilidentitäten, die er, zum einen durch das aufkommende Gefühl der Langeweile, zum anderen durch eine gewisse innere Getriebenheit, den Anforderungen der Gesellschaft gerecht zu werden und ihren je aktuellen Moden zu folgen, überstreift oder wieder zurücklegt. Auch wenn man eine relativ stabile Quelle gefunden hat, um das Leben mit Bedeutung und Inhalt zu füllen, so gilt doch die Regel: »Man muss suchen« – selbst auf die Gefahr hin, dass das Gefundene oft nur all zu leicht schal oder altmodisch wird und man sich erneut ›auf den Weg‹ begeben muss. Stellvertretend für die Fülle an kritischen Zeitdiagnosen führe ich hier Peter Berger an, der diesen Zwang zur Wahl – um die Welt der Unsicherheit in Zaum zu halten – treffend beschreibt:
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Nach Charles Taylor (1992a) handelt es sich hierbei um »starke Wertungen« (siehe S. 51 in dieser Arbeit). Nach der Zersplitterung von relativ homogenen Werthorizonten ist man mehr den je gefordert, solche starken Wertsetzungen in Eigenregie zu finden.
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»Für den prämodernen Menschen stellt die Häresie eine Möglichkeit dar, für gewöhnlich allerdings eine fernab gelegene; für den modernen Menschen wird Häresie typischerweise zur Notwendigkeit. Oder noch einmal, Modernität schafft eine neue Situation, in der Aussuchen und Auswählen zum Imperativ wird.« (Berger 1980: 41)
Das Entscheidende am modernen Wahlverhalten ist nun, dass es sehr stark in eine »personenzentrierte« oder »subjektzentrierte« Richtung weist. Gewählt wird, was den überaus starken Werten der Selbsterfüllung und Selbstverwirklichung förderlich ist. Ein solcher, Ende des 18. Jahrhunderts erstmals aufkommender Expressivismus, ist mit »Wendung nach innen« verbunden, und damit charakteristisch für eine »Kultur der Authentizität« (Taylor 2002a: 71f.). Damit ist eine Lebensführung gemeint, deren Priorität auf der individuellen Wahl anstelle von Zwang beruht. Wie wir in Kapitel 2 des zweiten Teiles dieser Arbeit sehen werden, stellt die Gegenkultur der 60er-Jahre bei der Verbreitung dieser Ansprüche eine entscheidende Zäsur dar. So ist es uns heute wichtiger denn je, den eigenen, möglichst authentischen Weg zu finden, nach dem wir unser Leben gestalten wollen, anstatt uns fixen Handlungskoordinaten eines Modells unterzuordnen, das von außen, von der Gesellschaft, der vorhergehenden Generation oder von der religiösen oder politischen Autorität, vorgegeben wird. Die Suche nach Authentizität steht auch im Zentrum einer sich rasch entwickelnden, sehr intensiven Konsumkultur. Sie lässt sich in vielen Bereichen unserer postmodernen Gesellschaft finden, und hier können wir auch eine Reihe von Einrichtungen und Angeboten nutzen, die speziell diesem relativ neuartigen Phänomen zu entsprechen suchen. Im Bereich der Warenerzeugung, welche eher nach einem kurzfristigen Erlebniswert als nach einem langfristigen Gebrauchswert ausgerichtet ist, stehen dementsprechend gar nicht mehr so stark die praktischen als vielmehr die ästhetischen Ansprüche der Konsumenten2 im Vordergrund; im Bildungsbereich wird immer mehr auf die Bedürfnisse und das Entwicklungspotenzial der Kinder eingegangen; in der Arbeitswelt auf die der Arbeitnehmer – um die Arbeitszufriedenheit und damit auch die Produktivität zu
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An der Präsentation von Waren lässt sich treffend der Wandel der Bedürfnislagen der Konsumenten feststellen. Wurde früher der Gebrauchswert der Produkte in den Mittelpunkt gestellt – Haltbarkeit, Zweckmäßigkeit, technische Perfektion – wird heute immer stärker der Erlebniswert angepriesen: »Produkte werden nicht mehr als Mittel für einen bestimmten materiellen Zweck offeriert, sondern sie sollen zufrieden stellen, unabhängig von ihrer Verwendbarkeit für irgendetwas.« (Zepf 2002: 155)
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steigern3; schließlich wird auch in der Gesundheitsversorgung vermehrt auf die Bedürfnisse der Patienten – z.B. nach ganzheitlichen Therapieverfahren – abgestellt. Hierbei spielen vor allem die Ausbreitung psychologischer Ideen und die damit einhergehende Verbreitung diverser Ratgeberliteratur eine immer gewichtigere Rolle. Sie haben eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Ausgestaltung der modernen Selbstzentriertheit, mit der Fähigkeit, die eigenen Gefühle zu identifizieren und sich in die Position des Anderen einzufühlen (Illouz 2007: 20ff.). Und schließlich entstand in den letzten Jahrzehnten auch im Bereich der Religion und Spiritualität ein ausdifferenziertes Angebot, das der Forderung, seinen Glauben nach einem authentischen Weg leben zu können, entspricht. Der rege Zulauf zu expressivistischen Glaubenssystemen, wie sie östliche Religionen, New-Age oder andere mystisch-spirituelle Gruppierungen anbieten, ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Dass diese Ethik der Authentizität zu einem umfassenden und allgegenwärtigen Standard geworden ist, lässt sich paradigmatisch am Beispiel der Werbung veranschaulichen. Bei der Verbreitung möglichst authentischer Lebensstile hat die Werbung, als Exempel neuer Lebensweisen und Bote neuer Werte, eine besondere Bedeutung. Dies zeigt sich an den Werbeslogans wie »Leben. So wie ich es will«, »Entdecke dich selbst«, oder »Ich mach, was ich will, und ich will es jetzt«. Die Produkte werden mit der Aura von Unverwechselbarkeit und Originalität aufgeladen, die – so wird suggeriert – all jene zum Ausdruck bringen können, welche diese kaufen. Das eingangs erwähnte Fragment von Friedrich Schlegel birgt die Essenz dieses Ideals in sich und bringt damit unsere Wünsche,
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Seit den 50er-Jahren rückten mehr und mehr die subjektiven Sichtweisen und Probleme des Arbeiters in den Fokus. Die Programme der modernen Organisationskultur zielen dabei auf eine umfassende Indienstnahme der Subjektivität der Arbeitenden ab. So geht es den Firmen heute mehr und mehr darum, den Zugriff auf die Fähigkeiten des ganzen Menschen zu erschließen und auch sein privates Leben in die Firma einzubinden. Die totale Vereinnahmung der Person führt vermehrt zu Überlastungserscheinungen und psychischen Problemen bei den Mitarbeitern (Deutschmann 2002: 134ff). Eine ganze Industrie von Management-Beratern sind mit der Arbeit betraut, ein mobiles, flexibles und subjektiviertes Arbeitsleben ideologisch zu legitimieren. Geradezu paradigmatisch lesen sich hierzu die Lehren des Management Gurus Tom Peters, der die vorbehaltlosen Bejahungen der Herausforderungen des Arbeitslebens propagiert. Selbstausbeutung wird mit dem Credo verwischt, dass »wir alle wir selbst werden und, dass wir besonders sind« (Rumpfhuber 2008: 87f).
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Forderungen und Ansprüche derart treffend auf den Punkt, dass es sogar als Slogan für eine luxuriöse Automarke herhalten muss4. Die Breitenwirksamkeit des Selbstverwirklichungsideals zeigt sich auch an der Vielfalt sozialer Orte, wo dieses umgesetzt wird: »In Selbsthilfegruppen und Talkshows, in Beratungsgesprächen und Rehabilitationsprogrammen, in kommerziellen Workshops und Therapiesitzungen, schließlich auch im Internet. An all diesen Orten wird das Selbst aufgeführt, inszeniert und neu justiert. So sind diese Orte zu unsichtbaren und doch ungemein verbreiteten Anhängen in der stets fortgesetzten Arbeit des Habens und Aufführens eines Selbst geworden.« (Illouz 2007: 76)
Es ist also festzustellen, dass in der Moderne das Subjekt immer mehr Gewicht bekommt. Dieser Individualismus der Selbstverwirklichung, der vor allem seit den 60er-Jahren in den westlichen Industriegesellschaften eine besondere Dynamik entfaltet hat, wird in zahlreichen Zeitdiagnosen kritisch beleuchtet. Der Grundton der Analysen ist dabei von äußerstem Misstrauen gegenüber diesem modernen Ideal geprägt. So wird aus dieser Richtung einhellig beklagt, dass man es mit einem vom rücksichtslosen Egoismus verseuchten Phänomen zu tun hat, wodurch eine Kultur des Narzissmus gestärkt und Solidaritätsbande geschwächt werden. Diese Art von Kritik wird jedoch nicht erst im Zusammenhang mit postmodernen Lebensweisen geäußert. Seit die Individualisierung ihre soziale Wirkung entfaltet hat, weisen Gelehrte auf ihr gefährliches Potenzial hin: »Individualism [is] a deliberate and peaceful sentiment which disposes each citizen to isolate himself from the mass of his fellows and to draw apart with his family and friends [which] at first saps only the virtues of public life, but, in the long run, [...] attacks and destroys all the others and is eventually absorbed into pure egoism.« (Tocqueville 1835, zit. nach Lukes 1973: 595)
Bei diesen Analysen und Betrachtungsweisen finden oftmals die positiven Seiten des Individualismus’, mit seinem Authentizitätsideal im Gefolge, kaum Erwähnung. Dabei ermöglicht uns erst die Kultur der Authentizität ein Mehr an Selbstverantwortung: Die Möglichkeit sich eine eigene Meinung zu bilden und letztendlich auch ein sinnerfülltes und reichhaltiges Leben zu führen. Es ist vor allem das Verdienst von Charles Taylor, diese Varianten der Individualisierung gleichermaßen betont zu haben und neben den trivialisierten Formen einer »Ich bin
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http://www.mercedes-benz-accessories.com/content/mba/mpc/mpc_mba_website/de/ mpc_home/mba/home/ company/about_us/philosophy.html, 12.03.2010
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Ich« Mentalität (Henning 1989) auch den emanzipatorischen Wert und die qualitative Freiheit in Bezug auf eine reflexive Lebensführung zu akzentuieren (Taylor 1995; Honneth 2010: 205ff.). Eine ähnlich polarisierende Bewertung wie das Individualisierungsphänomen erfährt die seit den 70er- und 80er-Jahren stetig wachsende alternative therapeutische und spirituelle Szene, welche unter dem Sammelbegriff »New-Age« firmiert.5 Diese Phänomene werden als beispielhafte »Verflüchtigung der Religion ins Religiöse« verstanden, womit eine zunehmende Marginalisierung institutionalisierter Religion zugunsten privater und damit diffus gewordener religiöser Formen gemeint ist (Knoblauch 1991: 33). Gerade ein solcher Rückzug in die Privatsphäre bedeutet heute, wie Slavoj Žižek (2003: 42) kommentiert, jene Formen privater Authentizität anzunehmen, die von der gegenwärtigen Kulturindustrie propagiert werden – »von Kursen, die zur geistigen Erleuchtung führen sollen, bis zur Befolgung aktueller kultureller und anderer Moden wie etwa das regelmäßige Joggen und Body-Builden«, welche zusätzlich durch die mögliche Erfahrung kleiner Transzendenzgefühle eine besondere Erlebnisqualität vermitteln. In dieser Arbeit geht es mir neben dem Ausloten des modernen Individualitätsphänomens auch um diese Erlebnis- bzw. Gefühlsqualität, nach der Menschen durch Kultivierung diverser sozialer Praktiken streben. Seit jeher spielen dabei religiöse Praktiken eine hervorragende Rolle. Sie eröffnen Wege zur Grenzüberschreitung, die es ermöglichen, zumindest temporär aus einer Welt der Trennung oder aus dem von Max Weber bezeichneten »stahlharten Gehäuse der Hörigkeit« auszubrechen. Hierin liegt also ein Motiv, warum sich Menschen von solchen spirituellen, magischen oder okkulten Phänomenen, die mit fernöstlichen oder archaisch/schamanistischen Praktiken verknüpft sind, angezogen fühlen. Es geht darum, den Vorhang des Welttheaters für eine Weile fallen zu lassen und so in Welten abzutauchen, die anderen Gesetzmäßigkeiten gehorchen. Der betriebsamen Alltagswelt sucht man in jene Sphären zu entfliehen, wo Vernunft und Rationalität nicht hingelangen können. Die Struktur der Gesellschaft stellt dafür jedoch leidlich wenige Möglichkeiten bereit, und wenn sie es tut, dann duldet sie die menschliche Neigung zu Müßiggang, Vergnügen und Weltflucht eigentlich nur, um die Beschwerlichkeit und Mühe der Arbeit auszugleichen – »Muße, Müßiggang und Zeitvertreib dienen nach dieser Ideologie allein der Erholung von den Belastungen der Arbeit.« (Elias/Dunning 1984: 134). In
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Zu den unterschiedlichen sozial- und religionswissenschaftlichen Bewertungen, sowie Verunglimpfungen von Seiten der kirchlichen Weltanschauungsbeauftragten vgl. Höllinger/Tripold (2012): Ganzheitliches Leben. Das holistische Milieu zwischen neuer Spiritualität und postmoderner Wellness-Kultur.
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diesem instrumentellen Sinne lässt sich auch der Verbreitungserfolg von NewAge-Praktiken deuten. Hier kann das Individuum Körper und Geist harmonisieren und sich für die Anforderungen der (Berufs-)Welt wappnen. Daneben ist diesen Praktiken jedoch auch eine immunisierende Wirkung eingeschrieben, die sie in eine Reihe von kulturell praktizierten Ausbrüchen aus einer von mannigfachen Zwängen ausübenden, formalisierten Welt stellt: »Der Schlaf und die Dummheit, die ältesten Rückzugsräume des weltfernen Wesens, rühren an die Kulturen der Droge, der Meditation, der Spekulation – und an die Musik, die holde Kunst, die, wie es heißt, uns aus grauen Stunden in eine bessre Welt entrückt. Sie folgen wie die Glieder eines Immunsystems zur Abwehr von infektiöser, überforderter Welt.« (Sloterdijk 1993: 299)
Sloterdijk definiert solche Immunsysteme als »Schutz und Reparaturprogramme«, die man gegen schädigende Einflüsse aus der Umwelt ausbildet. Dabei handelt es sich um jene »symbolischen, beziehungsweise psychoimmunologischen Praktiken, mit deren Hilfe es den Menschen von alters her gelingt ihre Verwundbarkeit durch das Schicksal, die Sterblichkeit inbegriffen, in Form von imaginären Vorwegnahmen und mentalen Rüstungen mehr oder weniger gut zu bewältigen.« (Sloterdijk 2009: 22) Der Fokus dieser Arbeit liegt zum einen darauf, die oben skizzierte Zentrierung auf das eigene Selbst und einen damit einher gehenden authentischen und einzigartigen Lebensstil ideengeschichtlich zu erklären. Zum anderen soll jenes Transzendenzgefühl herausgearbeitet werden, welches für die Realisierung des Ideals eines ganzheitlichen und mit seiner Umwelt in harmonischer Beziehung lebenden Menschen verantwortlich ist. Ihre besondere Konzentration erreichten diese beiden Vorstellungen in den kulturellen Bewegungen6 der Romantik, der Lebensreform und der counter culture7.
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Im Folgenden werden die Romantik, die Lebensreformbewegung und die counter culture als »kulturelle Bewegungen« verstanden. Der Begriff grenzt sich insofern von den theoretischen Ansätzen sozialer Bewegungen ab, als Ressourcenmobilisierungsansätze keine wesentliche Rolle spielen. Nicht die Frage nach den diversen Strategien zur Lukrierung von Geld, Know-how, Zeit, Energie und wie diese für Protestaktionen eingesetzt werden steht im Vordergrund, sondern Fragen, wie das Individuum und dessen soziale Beziehungen zu ändern seien (Raschke 1988).
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Der Begriff counter culture steht hier, in Anlehnung an Theodor Roszaks (1971)
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Zu Beginn dieser Studie wenden wir uns der Zeit der Romantik zu, da sich hier jenes moderne Authentizitätsideal zu formieren begann, welches auf unsere Vorstellungen von einem »guten Leben« einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat. Zudem haben die Romantiker eine Reihe der oben angedeuteten »Immunisierungsstrategien« vorgeschlagen und praktiziert, die seither von den nachfolgenden gegenkulturellen Bewegungen immer wieder aufgegriffen und an die jeweilige Bedürfnislage der Zeit angepasst wurden. Als ein herausragendes Beispiel wird hier der Mesmerismus und der eng mit ihm verbundene ›künstliche Somnambulismus‹ – besser bekannt unter Hypnose – genauer betrachtet, außerdem soll das allgemeine aufgeklärte Geistesklima zu dieser Zeit geschildert werden. Der Mesmerismus erfasste als »romantischste aller Wissenschaften« (Saul 1921, zit. nach Barkhoff 1995: XVII) praktisch alle Protagonisten der Romantik, da er mit ihnen auch ein gemeinsames Ziel hatte – nämlich dem Bedauern über eine verloren gegangene Ganzheit im Bewusstsein des Menschen Ausdruck zu verleihen, sowie diesen Bruch und die Leiden, die daraus folgen, zu heilen. Mesmeristische Elemente haben sich dabei ebenso wie Romantische bis in die verschiedensten modernen Erfahrungsformen und Symbolwelten tradiert. Diese finden heute gerade im Boom alternativer Zugänge zur Körperlichkeit und Spiritualität ihren Ausdruck, aber auch in der Alternativmedizin und den verschiedenen okkultistischen/spiritistischen Praktiken. Im letzten Kapitel zur Romantik soll einiges über das Verhältnis der Romantik zur Religion, und speziell zu romantischen Formen der Spiritualität, gesagt werden. Hier lassen sich dann auch einige Verbindungsstränge zur modernen New-Age-Bewegung aufzeigen, wie beispielsweise der typisch romantische Synkretismus im Umgang mit Traditionen, der undogmatische Zugang zum Religiösen und der angestrengte Versuch, eine ganzheitliche Sichtweise auf den Menschen und den ihn umgebenden Kosmos zu rehabilitieren. Um einen systematischen Zugang zu den romantischen Ideen, ihrer Kontinuität und Wirkkraft zu gewinnen, bedarf es zuvor noch einiger methodischer Überlegungen.
gleichnamiger Studie, für die Avantgarde-, Studenten- und Jugendbewegungen der 50er- und 60er-Jahre in den USA.
Methodologische Überlegungen
1. Kontinuität und Wirkung romantischer Ideen
Die Beschäftigung mit Ideen hat eine lange Geschichte und reicht bis in die Antike zu den Vorsokratikern und den Platonikern zurück, wobei die Ideengeschichte ein Produkt der Aufklärung zu sein scheint (Dorschel: 2010)1. Es ist schwierig und vor allem nicht das Ziel dieser Arbeit eine Genealogie der Ideengeschichte zu erstellen. Ein herausragendes Datum für die Entwicklung der modernen Ideengeschichte, auf das hier jedoch hingewiesen werden soll, war der 24. Januar 1923. An diesem Tag trafen der Literaturhistoriker Gilbert Chinard, der Philosoph George Boas und Arthur O. Lovejoy zum ersten Mal im Rahmen ihres neu gegründeten »History of Ideas Club« an der Johns Hopkins University zusammen (Macksey 2002: 1083). Im intellektuellen Umfeld dieser monatlichen Zusammenkünfte, an denen sich Wissenschaftler unterschiedlichster Spezialdisziplinen aus den Geistes- und Naturwissenschaften beteiligten, entstand das paradigmatische Werk für das Studium der Ideengeschichte: Arthur O. Lovejoys ([1936] 1993) Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens.2 Hier werden eine Reihe von Überlegungen und Ansätzen zur Konzipierung der Ideengeschichte vertreten, die für diese Arbeit genutzt wurden. Obwohl Lovejoys Konzept als Pionierleistung gilt, das trotz der Jahrzehnte, die seit seiner Formulierung mittlerweile vergangen sind, heute längst nicht ob-
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Für den Beginn der Ideengeschichte in der Aufklärung sprechen die Beiträge von Ja-
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Das Werk beruht auf der William James Vorlesungsreihe an der Harvard Universität
cob Brucker (1696-1770) und Giambattista Vico (1668-1744) (ebd. 10f.). im Jahre 1933 und wurde 1936 publiziert. 1940 kam es zur Gründung des Journal of the History of Ideas, das gemäß der Zusammensetzung des ideengeschichtlichen Klubs an der Hopkins Universität und den Vorstellungen von Lovejoy, wie man Ideengeschichte betreiben sollte, interdisziplinär ausgerichtet ist. Für einen gerafften historischen Abriss zur Entwicklung des Journals im Speziellen, sowie allgemein zur Ideengeschichte vgl. Anthony Grafton 2006: 1-32.
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solet geworden ist, muss seine Position als ergänzungsbedürftig betrachtet werden. Deshalb wird hier auch auf die kritischen Stimmen und die neuen Entwicklungen in dieser Disziplin eingegangen, sofern sie dazu beitragen, ein adäquates Verständnis für das zentrale Thema der vorliegenden Arbeit zu erlangen: die Identifizierung grundlegender romantischer Ideen, ihre Wirksamkeit und ihre Kontinuität. Ich werde also versuchen, eine Synthese aus mehreren ideengeschichtlichen Theorieansätzen zu entwerfen, die sich zur Klärung der Fragen, welche ich an meinen Forschungsgegenstand herangetragen habe, als geeignet erweisen. Ein solches Vorhaben stellt sich gegen Entwürfe einer universellen Form der Ideengeschichte, deren Konstrukteure beständig darum bemüht sind, sie gegen kritische Einwände zu immunisieren. Die Ideengeschichte ist ein weites Forschungsfeld, weswegen es Sinn macht die Ideengeschichte je nach Forschungsinteresse auf spezifische Forschungsprogramme einzuschränken.3 Lovejoy hält hier für dieses Anliegen erste Hinweise bereit, aus dem sich ein methodisches Gerüst erstellen lässt. Zu Beginn der Einleitung seiner Vorlesung Die große Kette der Wesen formuliert Lovejoy (1993: 13f.) den Gegenstandsbereich, der im Fokus eines Ideengeschichtlers stehen soll: »Es sind die immer wiederkehrenden bewegenden Kräfte, die geschichtlich wirksam gewordenen Gedanken und Begriffe, denen er sein besonderes Interesse zuwendet.« Um diesen Kräften, Gedanken und Begriffen auf die Spur zu kommen, solle man so vorgehen, dass man die philosophischen Theorien und Lehrgebäude in ihre elementaren Bestandteile zerlegt, »in das, was man [...] ihre Elementarideen nennen könnte« (ebd. 11). Lovejoy bestreitet, dass es in der Geschichte ständig zu neuen Ideen oder philosophischen Gedanken kommt. Intellektuelle Innovation hat selten mit der Hervorbringung völlig neuer Ideen zu tun. Die Originalität beruht vielmehr auf der neuartigen Kombination von Elementen aus einem schon bestehenden Fundus (man kann auch sagen aus diversen historischen und/oder gegenwärtig existierenden Diskursen). Wenn es also weit häufiger vorkommt, dass basale Ideen als Bestandteile von philosophischen Systemen durch Neuanordnung und Verknüpfung abge-
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Eine solche Strategie ist auch deshalb plausibel, da bei genauerer Betrachtung »die Ideengeschichte kein Ganzes« ist. »Sie hat keine beherrschende problématique. Ihre Anhänger teilen nicht das Gefühl, sie hätten gemeinsame Themen, Methoden und konzeptuelle Strategien.« Robert Darnton (1998: 151). Zu der gleichen Feststellung kommt auch Foucault (1973: 195), der seine archäologische Methode gegen die Ideengeschichte abgrenzen will: »Es ist nicht leicht, eine Disziplin wie die Ideengeschichte zu charakterisieren: unbestimmtes Objekt, schlechtgezogene Grenzen, allseitig entlehnte Methoden, Vorgehen ohne Geradlinigkeit noch Festigkeit.«
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ändert und angepasst werden, und nur sehr selten vollständig neue Ideen erscheinen, dann sind die elementaren Ideen von begrenztem, überschaubarem Umfang. Daraus leiten sich also zwei zentrale Eigenschaften der Elementarideen ab: es existieren nur wenige, die man auch wirklich als eigenständig bezeichnen kann und sie sind unveränderlich, da sie über die Zeit hinweg Bestand haben. Nach dieser ersten vagen Charakterisierung stellt sich die Frage, worum es sich bei den Elementarideen nun genau handelt? Zur Beantwortung dieser Frage führt Lovejoy zunächst an, was Elementarideen nicht sind. Sie sind zunächst einmal nicht zwangsläufig Lehren und Richtungen, die mit den vertrauten -ismen enden. So enthalten beispielsweise die Termini Romantik, Idealismus, Rationalismus, Transzendentalismus oder Pragmatismus ein Ideenkonglomerat, aus dem nicht selten einander entgegengesetzte Überzeugungen entstanden sind. Für die Romantik kann hier beispielsweise die Differenz zwischen progressiver Früh- und repressiver Spätromantik angeführt werden. Dasselbe gilt für das Wort Christentum, das aus denselben Gründen keine Elementaridee darstellen kann.4 Wenn diese Bewegungen und Denkrichtungen zwar nicht die eigentlich ideengeschichtlich relevanten Gegenstände sind, so können sie jedoch als Ausgangsmaterial ideengeschichtlicher Studien begriffen werden. Zu den wichtigsten Erscheinungsformen beständig auftauchender elementarer Ideen gehören nun »stillschweigende oder nur unvollständig ausgesprochene Annahmen« bzw. »unbewusste Gewohnheiten des Denkens«; verschiedene Spielarten des »metaphysischen Pathos«; »Denkmotive«; »geheiligte Wörter und Ausdrücke eines Zeitalters oder einer Bewegung« und explizit ausgesprochene Sätze oder Prinzipien (z.B. »Die große Kette der Wesen«) (Lovejoy 1993: 1525). Charakteristisch für Elementarideen ist, dass diese weniger Ideen sind, über die nachgedacht wurde, sondern mit denen nachgedacht wurde.5 Für die einleitend dargestellten Problemstellungen, die sich um das Phänomen moderner Formen der Individualisierung und der Anziehungskraft neuer religiöser Phänomene ranken, sind besonders die ersten beiden Erscheinungsformen der Lovejoy’schen Differenzierung relevant.
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Auch Begriffe wie »Gott« schließt Lovejoy als Untersuchungsgegenstand aus, da dieser aus mehreren Elementarideen zusammengesetzt ist. Zum Verständnis der Lovejoy’schen Idee vgl. Thomas Bredsdorff 1977: 195-200.
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Diese Unterscheidung folgt der groben Einteilung von Louis Mink (1968: 8): »there are concepts we think about, there are concepts we use in thinking, and there are concepts (usually called a priori) we think with.
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1.1 L ATENTE G EWOHNHEITEN DES D ENKENS UND DIE I DEE DES › AUTHENTISCHEN S ELBST ‹ Lovejoy führt als Beispiel für latente Gewohnheiten des Denkens, die im Einzelnen als auch in einer ganzen Generation wirksam sein können, die im 18. Jahrhundert deutlich zum Ausdruck kommende Annahme von der »Einfachheit der Welt« an (Lovejoy 1993: 16-20). Mit dieser Idee geht die Vorstellung einher, dass der menschliche Verstand etwas Begrenztes und Mangelhaftes sei, das die Komplexität der Welt und des Universums nicht zu erfassen vermag. Angesichts dieser Kluft zwischen dem unergründlichen, unendlichen Universum und der limitierten, endlichen menschlichen Auffassungskraft, solle man sich in Bescheidenheit üben, um sich der Grenzen seiner geistigen Fähigkeiten bewusst zu werden. Ziel und Zweck einer so gearteten Bescheidenheit lag letztlich im Rückzug auf den mangelhaften Verstand und seinen ausschließlich instrumentellen Gebrauch. Begründet wurde dies damit, dass er das einzige Organ sei, welches zuverlässige Erkenntnis gewährt. Dieser Standpunkt begegnet uns beispielsweise bei John Locke: »Wir werden nicht viel Grund haben, uns über die Beschränktheit unseres Geistes zu beklagen, wenn wir ihn nur zu den Dingen gebrauchen, die für uns von Nutzen sein können; denn dazu ist er gut geeignet.« (John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand [1795]; zit. nach Lovejoy 1993: 18)
Lovejoy zeigt, wie die Idee von der Einfachheit der Welt und der menschlichen Natur als unbewusste Denkgewohnheiten in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts wirksam wurde und welche Annahmen sich daraus ableiteten. So ließ sich anhand dieser Idee schließen, dass alle sozialen und politischen Probleme der Menschen im Grunde einfach zu lösen seien, würde man sich nur auf den rationalen Verstand als Erkenntnisinstrument stützen. Mit ihr sucht das Aufklärungsdenken die vom Menschen errichteten metaphysischen Systeme zum Einsturz zu bringen, welche die Vernunft blockieren und den Geist in beständiger Unmündigkeit halten. Eine rationalen Durchforstung der religiösen, spirituellen, magischen Überzeugungen und ihrer mitunter komplizierten metaphysischen Annahmen, würde folglich eine entscheidende Quelle der Abhängigkeit zum Versiegen bringen. Der von Aberglauben und anderen irrationalen Verstrickungen befreite Geist ließe sich nun für jene Dinge gebrauchen, die – wie sich Locke ausdrückte – »für uns von Nutzen sein können«. Wie wir noch sehen werden, wird eine solche Position besonders im religionskritischen Materialismus artikuliert, dessen
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wirkungsvollste Vertreter Julien Offray de La Mettrie, sowie der aus Deutschland stammende Philosoph Paul Henri Thiry d’Holbach sind. Der Gedanke von der Einfachheit der menschlichen Natur bleibt jedoch nicht auf die Reinigung metaphysischer Systeme beschränkt. Auch Probleme, die sich in menschlichen Beziehungen ergeben sind einfach zu lösen. Die rationale Erkenntnis des Anderen sei der Schlüssel für ein gedeihliches und der Gesellschaft dienliches Auskommen. Zum Ausdruck kommt diese Auffassung in dem, was Taylor das »desengagierte Subjekt« (Taylor 1996: 266; 2002b: 238-248) nennt. Dieses neigt dazu, eine objektivierende und distanzierende Haltung gegenüber sich selbst und anderen Menschen, wie auch der es umgebenden Natur einzunehmen. Im Bereich der Partnerschaft wirkt diese Haltung etwa in einer nach schichtstrategischen Erwägungen kalkulierten Ehe. Es wird sich jedoch zeigen, dass es hier im 18. Jahrhundert zu entscheidenden Umstrukturierungen kam, die neue Überzeugungen in Bezug auf Liebe und Partnerschaft auf den Weg brachten. Die Idee von der Einfachheit der Welt lässt sich mit den Worten Isaiah Berlins zusammenfassend darstellen. Hier wird auch ersichtlich, dass eine Quelle ihrer Antriebskraft in ihrem utopischen Impetus liegt: »Die rationale Umgestaltung der Gesellschaft würde der geistigen und intellektuellen Verwirrung ebenso ein Ende bereiten wie der Vorherrschaft von Vorurteil und Aberglaube, dem blinden Glauben an ungeprüfte Dogmen, der Dummheit und Grausamkeit von Tyranneien, die geistige Finsternis entstehen und gedeihen ließen. Man brauchte nichts weiter zu tun, als die wesentlichen Bedürfnisse der Menschen zu bestimmen und die Mittel ausfindig zu machen, mit deren Hilfe sie sich befriedigen ließen. Hierdurch würde jene glückliche, freie, gerechte, tugendhafte, harmonische Welt geschaffen, die Condorcet 1794 in seiner Gefängniszelle [...] prophezeite. Diese Anschauung bildete die Grundlage allen Fortschrittsgedankens im 19. Jahrhundert [...].« (Berlin 1992a: 18f)
Bei all diesen Anforderungen an das Subjekt, sich in allen Lebenslagen als rational und objektivierend zu begreifen, stellt sich die Frage, was mit jenen geschehen soll, welche diese Ansprüche nicht verwirklichen konnten oder wollten. Mit dem Rückgriff auf die Idee von der Einfachheit der menschlichen Natur ließ sich auch dieses Problem leicht lösen. Menschen, die nichts zum gesellschaftlichen Nutzen beitrugen, da sie Eigenschaften wie Fleiß und Pflichtbewusstsein vermissen ließen und mit ihrem Müßiggang diese gar zu unterwandern drohten, müssen umerzogen werden. Dafür wurden eine Reihe von Einrichtungen geschaffen, die
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zur Läuterung unnützer Subjekte dienten.6 Diese Idee lässt sich konzentriert in der Ethik des Utilitarismus finden, dessen Kriterien für richtiges Handeln im Bestreben liegen, das größte Glück der größten Zahl zu erreichen. Mit dieser einfachen Prämisse zeigen sich dort die bedrohlichen Seiten des Utilitarismus, wo er allein die instrumentelle Effektivität des Glücksstrebens prämiert und alle anderen Werte diffamiert. Hier kommt es zu einer Nivellierung und Unterdrückung all jener Dinge, die nicht in den engen Gesichtskreis passen, der durch diese Ethik festgelegt ist. So wurde beispielsweise die Internierung von ›Arbeitsscheuen‹ in eigens dazu eingerichteten Lagern, und deren oftmals mittels quälender und bizarrer Prozeduren angestrebte Umerziehung zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft mit einer utilitaristischen Ethik gerechtfertigt. Diese Idee wurde im 18. Jahrhundert jedoch nicht von allen geteilt – ja es wurde sogar massiv gegen sie opponiert. Die Romantik verschrieb sich genau jenen Sphären, die von der Aufklärung missbilligt wurden: dem Unbegreiflichen, Phantastischen, Unergründlichen und Geheimnisvollen. Mit dem Mittel der Poesie sollen dann auch »die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft« aufgehoben werden, um »uns wieder in die schöne Verwirrung der Fantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen« (Schlegel, F.: Sämtliche Werke [1823]; zit. nach Dormann 2004: 48). In den nächsten Kapiteln werden wir das romantische Ideengebäude noch genauer kennen lernen – an dieser Stelle ist lediglich von Bedeutung, dass wir durch diese Ausführungen jener Elementaridee näher gekommen sind, deren Wirkung und geschichtliche Kontinuität wir feststellen wollen. Klarer tritt sie uns vor Augen, wenn wir das Bisherige resümierend, die Idee der Aufklärung mit jener der Romantik kontrastieren. So haben wir es auf der einen Seite mit Vereinfachungs-, Uniformierungs- und Normierungsbestrebungen des Denkens zu tun, die durch die Elementaridee der Einfachheit der Welt legitimiert wurden. Auf der anderen Seite stehen Auffassungen, welche der Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit einen hohen Wert einräumen (Lovejoy 1993: 351ff.). Die romantische Idee der Mannigfaltigkeit wurde entscheidend von Johann Gottfried Herder geprägt, der sich mit seinen Stellungnahmen für einen kulturellen Pluralismus, gegen Universalismus und Nivel-
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In England und Frankreich wurden ab dem 17. Jahrhundert Arbeitshäuser eingeführt, in denen unnütze und als faul deklarierte Subjekte entwürdigenden Prozeduren unterzogen wurden, die den Zweck hatten, sie an regelmäßige Arbeit zu gewöhnen. In Armenhäusern in Amsterdam wurden Arbeitsunwillige beispielsweise in Verliese gesperrt, in die zu bestimmten Tageszeiten langsam Wasser geleitet wurde. In Folge wären die Eingekerkerten ertrunken, hätten sie nicht eine eigens dafür vorgesehene Vorrichtung betätigt, die das Wasser wieder abpumpte (Füllsack 2009: 56f.).
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lierung aussprach. Diese alternative Sichtweise brachte zwei Implikationen mit sich: Zum einen solle man jeder (historischen) Kultur ihren unverwechselbaren Charakter und ihre Eigentümlichkeit zugestehen und sie nicht nach Idealen und Maßstäben des eigenen räumlichen und zeitlichen Standortes beurteilen (Berlin: 1992: 57ff.). Was für Kulturen gilt, trifft auch auf Menschen zu. Daraus folgt zum anderen, dass auch Menschen nicht der normierten und universalisierten Betrachtungsweise unterliegen dürfen. Mit dem Werkzeug der instrumentellen Vernunft abstrahiert die Aufklärung vom Besonderen. Gerade aber das Besondere erfährt durch Herder und durch die von ihm beeinflussten Romantiker eine enorme Aufwertung. Bedeutsam werden Unterschiede und Nuancen im Menschen und damit die Wertschätzung des Individuellen und Authentischen. Hier wird erstmals jene elementare Idee geschichtlich wirksam, die, wie einleitend erwähnt wurde, auf unsere moderne Identität eine enorme Anziehungskraft entwickelt hat. Georg Simmel (2008: 352) hat dafür den Begriff des »qualitativen Individualismus« gebraucht, mit dem er die romantische Suche nach Originalität und authentischem Ausdruck bezeichnet. Diesen grenzt er vom »quantitativen Individualismus« ab, den er auch als numerischen oder jenen der »Einzelheit« bezeichnen. Hier wird besonders die Freiheit und Gleichheit betont. Diesem Verständnis zur Folge ist die Individualität ein Merkmal, das allen Menschen innewohnt. Der qualitative Individualismus hingegen orientiert sich allein am Ideal der Freiheit und es wird zur lebensgeschichtlichen Aufgabe des Menschen, seine Individualität – in Form einzigartiger, unverwechselbarer Eigenschaften – auszubilden. Aus dieser Unterscheidung lässt sich erneut die Differenz zwischen dem Streben nach Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit und dem Streben nach Gleichförmigkeit erkennen. Am differenziertesten und umfangreichsten wird diese Beziehung bei Charles Taylor (1983: 13-80; 1996) behandelt, dessen ideengeschichtliche Rekonstruktion der modernen Individualität der vorliegenden Arbeit wichtige Impulse gegeben hat. Inspiriert von seinem Lehrer Isaiah Berlin, macht Taylor die Quellen der Authentizität bei Herder und Rousseau aus. Deren wirkmächtigste Realisierung ist jedoch in der Romantik zu finden, denn hier wurde die Idee der »Natur als innere Quelle« von einer Bewegung getragen, welche die vielfältigen Anlagen im Menschen betonte und die Entfaltung der eigenen Individualität forderte. Auch Taylor arbeitet die Gegensätze zwischen den romantischen Standpunkten und den von der Aufklärung her stammenden Anschauungen einer instrumentellen Haltung zu den Dingen heraus, die für ihn die zentralen Bruchlinien in unserer modernen Identität markieren. Aus dieser ersten Charakterisierung romantischer Überzeugungen folgt jene elementare Idee, die wir im Anschluss an Simmel und Taylor hier weiter verfol-
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gen werden. Es ist die Idee, ein unverwechselbares, authentisches und einzigartiges Individuum zu sein. Diese Idee konzentriert sich zunächst in kleinen elitären Gruppen, doch im 20. Jahrhundert wird sie von immer größeren Trägerschichten erfasst. Das beginnt mit der Lebensreformbewegung um die Jahrhundertwende und setzt sich in der counter culture Bewegung der sechziger Jahre fort. In der Postmoderne gelangt sie dann zu ihrer vollen Entfaltung und lässt sich – wie oben schon angedeutet – in vielfältigen Bereichen auffinden.
1.2 D AS METAPHYSISCHE P ATHOS UND DIE I DEE DES › HOLISTISCHEN P ATHOS ‹ Die zweite hier verfolgenswerte Elementaridee bezeichnet Lovejoy als »die Neigung zum metaphysischen Pathos in seinen verschiedenen Spielarten« (Lovejoy 1993: 21). Hier müssen wir das Feld der Rationalität und der Logik verlassen, denn was Lovejoy mit dieser »Neigung« meint, hat vielmehr emotionalen Charakter. Es sind Stimmungen wie »ein angenehmes Gefühl der Ehrfurcht und zugleich freudiger Erregung«, die sich beispielsweise angesichts der »Schönheit des Unbegreiflichen« einstellen. Solche tiefen Gefühle sind nur durch einen Sprung auf eine Ebene zu erreichen, wohin der logische Verstand nicht folgen kann. Viele Ideen bedeutender Denker wurden von verschiedenen Spielarten des metaphysischen Pathos wesentlich beeinflusst. Ersichtlich wird dies, wenn man als Leser den Inhalt philosophischer Texte nicht rein nach verstandesmäßigen Kriterien erfassen kann, sondern diese, ähnlich wie bei der Poesie, eine Form des Einfühlens fordern. Dieses Pathos lässt sich jedoch nicht nur in philosophischen Systemen finden, sondern ist vor allem für »die Popularität und Wirkung verschiedener philosophischer Lehren auf bestimmte Gruppen oder Generationen 7 verantwortlich« (ebd. 24). Wenn wir diese Elementaridee in einer Philosophie, einer geistigen Strömung oder Bewegung antreffen, dann gibt sie uns hauptsächlich über deren Selbstverständnis Auskunft. Dieses Selbstverständnis formt in der Regel die Identität einer Gruppe oder Bewegung, die damit ihre Grenzen zu in Opposition stehenden Haltungen zieht. Die elementare Idee, die es hier im Anschluss an jene der einzigartigen und authentischen Natur zu verfolgen gilt, ist das »holistische Pathos«. Um seine Ei-
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So meint der Literaturwissenschaftler Gumbrecht (2011: 14) über Nietzsche und Heidegger: »Was an diesem Text fasziniert, ist eine besondere Stimmung, die allein durch eine Ahnung, eine historisch spezifische Ahnung von der Gegenwart des Todes im Leben zum Vorschein kommen kann.«
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genart zu erfassen, betrachten wir zunächst wieder sein Gegenteil: Konträr zu dieser Variation des metaphysischen Pathos, die man auch »alles ist eins« Metaphorik nennen könnte, liegt die Vorstellung, mit zwei voneinander getrennten Wirklichkeiten zu operieren. Dieser einflussreiche Standpunkt wurde von René Descartes vertreten, der die Bereiche des Geistes, also alles was der Innenwelt des Menschen angehört, als grundverschieden von der Materie betrachtete. Diese Idee führte dazu, den Körper, die Natur – ja die ganze Objektwelt – instrumentell zu behandeln, als würden diese nach mechanischen Gesetzmäßigkeiten funktionieren. Im holistischen Pathos hingegen sind alle Formen der Fragmentierung überwunden. Wie wir sehen werden, drückt es sich im Bereich der romantischen Gesellschaftskritik aus, wo es auf das Gefühl der Entfremdung reagiert. Beklagt werden die Verdinglichung von Subjekt und Objekt, die höhere Bewertung der Rationalität im Gegensatz zu den emotionalen und sensitiven Erlebnisweisen und die damit einhergehende gekappte Verbindung zu den außeralltäglichen Sphären. Dementsprechend lässt sich das holistische Pathos besonders in der romantischen Naturphilosophie, wie dem damit verknüpften Mesmerismus und dem romantischen Verhältnis zum Religiösen finden. Hier ist es – um nur ein Beispiel zu nennen – daran beteiligt, zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos eine harmonische Verbindung anzunehmen. Dazu gehört auch die Einsicht, dass die Zerstörung der äußeren Natur eine Folge der Entfremdung von der inneren Natur des Menschen sei. Die mit dem holistischen Pathos verbundene emotionale Qualität liegt in einem »erfreulichen Gefühl der Freiheit, die aus einem Bewusstsein des Sieges über oder der Lossprechung von den ärgerlichen Teilungen 8 und Trennungen der Dinge entspringt« (Lovejoy 1993: 23). Um diese Art des Pathos genauer zu charakterisieren, das uns in den folgenden Abschnitten immer wieder begegnen wird, lohnt es sich, einen Blick auf Sigmund Freuds ([1930] 2009: 31f.) Ausführungen in Das Unbehagen in der Kultur zu werfen. Hier hat er diese Empfindungen in Anlehnung an Romain Rolland als »ein Gefühl wie von etwas Unbegrenztem, Schrankenlosen, gleichsam ›Ozeanischen‹« beschrieben, aus dem sich die Vorstellung »der unauflösbaren Verbundenheit, der Zu-
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Lovejoy verwendet zur Charakterisierung der oben dargestellten Idee den Begriff »monistisches Pathos«. Dieser soll hier jedoch durch den des »holistischen Pathos« ergänzt werden, da er besser das Bedürfnis nach einer ganzheitlichen Sichtweise von Mensch und Natur sowie von Körper und Geist abbildet. Im holistischen Pathos kommt der Monismus insofern zur Geltung, als in der romantischen Naturphilosophie und im Mesmerismus bis hin zu den diversen modernen Systemen, die unter dem Begriff »New Age« firmieren, von einer einzigen bewegenden Wirkkraft ausgegangen wird. Diese wird, je nach Kontext, als Energie, Fluidum, Ki oder Prana bezeichnet.
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sammengehörigkeit mit dem Ganzen der Außenwelt« nährt. Mit Freud lässt sich die Attraktivität dieses Gedankens psychoanalytisch dadurch erklären, dass wir das Gefühl der Ganzheit aus unseren frühen Entwicklungsjahren kennen. Der Säugling sondert sein Ich noch nicht von der Außenwelt ab und erlebt so jene Form der Allverbundenheit, nach der wir später sehnsüchtig suchen: »Ursprünglich enthält das Ich alles, später scheidet es eine Außenwelt von sich ab. Unser heutiges Ichgefühl ist also nur ein eingeschrumpfter Rest eines weit umfassenderen, ja – eines allumfassenden Gefühls, welches einer innigen Verbundenheit des Ichs mit der Umwelt entsprach. Wenn wir annehmen dürfen, dass dieses primäre Ichgefühl sich im Seelenleben vieler Menschen – in größerem oder geringerem Ausmaße – erhalten hat, so würde es sich dem enger und schärfer umgrenzten Ichgefühl der Reifezeit wie eine Art Gegenstück an die Seite stellen, und die zu ihm passenden Vorstellungsinhalte wären gerade die der Unbegrenztheit und der Verbundenheit mit dem All, dieselben, mit denen mein Freund das ›ozeanische‹ Gefühl erläutert.« ( Ebd. 34f.)
Dieses Gefühl ist in vielen Bereichen anzutreffen – in der Liebe und dem ekstatischen Geschlechtsakt, in der ästhetisch überhöhten Naturbetrachtung oder im Angesicht der gewaltigen, übermächtigen Natur, und auch der Genuss an den Werken der Kunst vermag uns einen Sinn dafür zu vermitteln.9 Gerade für manche Stilrichtungen in der Kunst ist das Ringen des Künstlers um einen »ozeanischen« Ausdruck symptomatisch, und häufig sucht man diesen in einer Hinwendung zum Stadium der Kindheit.10 Das holistische Pathos lässt sich aus solchen
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Neuerdings spricht man bei derartigen emotionalen Zuständen auch von FlowErlebnissen. Diese Glückserfahrung stellt sich dann ein, wenn man von einer Tätigkeit so vereinnahmt wird, dass man sein Ego transzendiert. Dass eine solche Erfahrung keine »Virtuosenleistung« ist zeigt Mihaly Csikszentmihalyi (2010: 112), demzufolge Künstler, Artisten, Mystiker, Wissenschaftler oder in anderwärtigen Bereichen arbeitende Menschen ihre befriedigendsten Erlebnisse mit den ähnlichen Worten beschreiben. »We might even feel that we have stepped out of the boundaries of the ego and have become part, at least temporarily, of a larger entity.«
10 Aus diesem Motiv lässt sich die Attraktivität des Kindlichen für die Romantik wie auch für die späteren Avantgarde-Bewegungen erklären. Im Surrealismus zum Beispiel, der in vielfacher Hinsicht als Erbe romantischer Überzeugungen betrachtet werden kann, suchte man in kindlichen Erfahrungsweisen den Zustand zivilisatorischer Unverfälschtheit. Besondere Bedeutung wird hier dem Automatismus beigemessen, der, so die psychoanalytische Idee, die Zensur durch die Instanz des Über-Ich außer Kraft setzen soll. Die Wirksamkeit des holistischen Pathos findet sich hier in solchen
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Kunstwerken und Texten herauslesen. Gumbrecht (2011: 27) schlägt dafür eine auf Stimmungen ausgerichtete Lesart vor. Untersucht man demnach die Vielfalt unterschiedlicher Texte, lassen sich dominante Stimmungen als Grundbefindlichkeit einer Zeit rekonstruieren. Es mag an der schon angedeuteten Erfahrung der Vereinzelung und Fragmentierung angesichts der sozio-kulturellen Umwälzungen gegen Ende des 18. Jahrhunderts gelegen sein, warum sich die Romantik als Epoche der Sehnsucht nach harmonischer Ganzheit besonders herausgetan hat. Eine derart verstandene Stimmung steht im Kontrast zur »Entmusikalisierung der Welt« (ebd. 168), wie sie von der Säkularisierung begleitet wird. Gerade die Romantik suchte diese Stimmung zu revitalisieren und zu kultivieren, indem sie nach Gegenbildern zu einer als disharmonisch erfahrenen Gegenwart suchte. Dabei war auch die Religion von Bedeutung. Jedoch keine, welche die erstarrten Formen der Tradition annahm, sondern eine Religiosität, die primär auf der Selbsterfahrung des Unendlichen im eigenen Ich beruhte. Die Romantiker beabsichtigten dem Menschen einen neuen Horizont zu geben, da der alte durch die instrumentelle Vernunft der Aufklärer zersetzt wurde. Somit gehören sie, wie Rüdiger Safranski (2007: 13) meint, zu einer »seit zweihundert Jahren nicht abreißenden Suchbewegung, die der entzauberten Welt der Säkularisierung etwas entgegensetzen wollen.« Die Kontinuität in der Suche nach solchen Gegenbildern lässt sich ausgehend von der Romantik in den kulturellen Bewegungen der Lebensreform, der counter culture und im gegenwärtigen holistischen Milieu feststellen. Hier sind es die synkretistisch gemixten und auf die individuellen Bedürfnisse abgestellten spirituellen, mystischen und magischen Elemente, in denen sich die emotionale Kraft des holistischen Pathos weitgehend unverfälscht erhalten hat. Hat man nun verschiedene Elementarideen isoliert, empfiehlt Lovejoy (1993: 26) jede durch »mehrere – letztlich sogar durch alle – Bereiche der menschlichen Geschichte zu verfolgen, in denen sie eine größere Rolle spielt, mag es sich dabei nun um Philosophie, Wissenschaft, Literatur, Kunst, Religion oder Politik handeln.« Aus einer solchen Vorgehensweise wird klar, das Ideengeschichte im Lovejoy’schen Sinn nichts für Spezialisten ist. Erst durch einen interdisziplinären Zugang werden Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Bereichen klar, die sich auf den ersten Blick nicht erkennen lassen. So könnte man sich fragen,
künstlerischen Praktiken, die dann auch den Zweck verfolgen, »heile, ganze, unzerspaltene, ›entfesselte‹, freigewordene Menschen«, gleich einer alchemistischen Transmutation, zu erschaffen (Nadeau 2002: 18; zum Ganzheitspathos in der russischen Avantgarde: Kručenych 2005: 64f.).
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was die verschiedenen Formen der Gartengestaltung mit der philosophischen Denkweise des 18. Jahrhunderts zu tun haben? Diese Frage wird in Kapitel 4 erörtert, wenn es darum geht, die romantischen Überzeugungen zu rekonstruieren. Es wird sich zeigen, dass die romantische Geisteshaltung dem englischen Garten entspricht. So wie die Natur hier wild und ungezähmt wachsen kann, soll sich auch die innere Natur des Menschen frei von zivilisatorischen Schranken und rationalen Beengungen entwickeln können. Ein zweites Beispiel, das hier einleitend erwähnt sei, ist die Nähe der Idee vom authentischen unverwechselbaren Ausdruck zur Sphäre der Kunst. Das neue Kunstverständnis ist nicht länger an objektiv, universell abgeleitete Regeln aus der Natur gebunden, die sich der Künstler aneignen und mit deren Hilfe er die Natur zu kopieren vermag. Der romantische Künstler befolgt nicht einfach Regeln, er schafft sich seine eigenen. Oben haben wir es als typisch für das Aufklärungsdenken betrachtet, dass es eine Kluft zwischen dem unergründlichen, unendlichen Universum und der limitierten, endlichen menschlichen Auffassungskraft postuliert. Für das romantische Denken hingegen ist diese Kluft aufgehoben, denn hier verlagert sich die Unergründlichkeit in die eigene Natur. So wird es auch zur Pflicht des Künstlers, aus den Quellen dieser potentiell unauslotbaren Natur zu schöpfen. In den Worten von Isaiah Berlin betreten wir hier »die Welt der Rebellen gegen die Konvention, der freien Künstler, der satanischen Gesetzlosen, der byronesken Außenseiter, der ›bleichen, fiebernden Generation‹, die von den deutschen und den französischen Romantikern des frühen 19. Jahrhunderts gefeiert wurde, die Sphäre der stürmischen, prometheischen Helden, die die Gesetze ihrer Gesellschaft ablehnen, die gegen jeden Widerstand und um jeden Preis zur Selbstverwirklichung und zum ungebundenen Selbstausdruck entschlossen sind.« (Berlin 1992b: 65)
Diese erste Charakterisierung der romantischen Ideen verdeutlicht den Umstand, dass diese nicht isoliert von einander auftreten, sondern in ein Beziehungsnetz eingebettet sind. Sie können demnach nur adäquat verstanden werden, indem man sie zusammen mit jenen Ideen untersucht, welche in Opposition zu ihnen stehen.
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1.3 K RITIK
R EFORMATION DER TRADITIONELLEN I DEENGESCHICHTE UND
Lovejoys ideengeschichtliches Programm wurde seit seinen Anfängen von unterschiedlichen Seiten kritisiert. Da seither auch eine Reihe von Alternativen und Erweiterungen zu diesem Ansatz entwickelt wurden, lohnt es sich, einige Stationen dieser Kritik zu verfolgen – nicht nur um allgemein ein besseres Verständnis der Genese und Wirkung von Ideen zu bekommen, sondern auch um den hier vertretenen Standpunkt zu erläutern. Besonders in den sechziger Jahren wurden Einwände gegen die traditionelle Ideengeschichte von mehreren Seiten vorgetragen. Maurice Mandelbaum beispielsweise schlägt eine Modifikation von Lovejoys Methode der Kontinuität von Elementarideen vor. Seiner Meinung nach gäbe es zwei verwandte, aber doch unterschiedliche Arten von Elementarideen. Hier schlägt er eine Unterscheidung zwischen kontinuierlichen Ideen vor, die eine lange einheitliche Geschichte hätten und sich deshalb gut durch die Zeit verfolgen ließen, und wiederkehrende Ideen, »which human beings are apt to entertain on many different occasions, quite independently of whether or not others had previously entertained them« (Mandelbaum 1965: 38). Im Fall der hier zur Untersuchung stehenden romantischen Elementarideen ist eine eindeutige Kontinuität auszumachen. Auch wenn im Zentrum der Untersuchung drei kulturelle Bewegungen stehen, die über beinahe 200 Jahre verstreut sind, so ist doch nicht anzunehmen, dass die Ideen in den Lücken dazwischen nicht aufzufinden wären. Eine revolutionäre Neuformulierung der Ideengeschichte brachte die Cambridge School mit ihren Protagonisten John Pocock und Quentin Skinner hervor. Im bedeutenden, sogar als »Manifest der Cambridge School« (Rosa: 1994: 207) bezeichneten Aufsatz Meaning and Understanding in the History of Ideas (1969) wendet sich Skinner gegen das Aufspüren von Elementarideen und zieht damit Lovejoy’s Methode in Zweifel. Die Verfehlungen der alten Ideengeschichte zeigt er anhand vier weit verbreiteter Mythologien auf, zu deren Entzauberung er beitragen möchte. Mit dem »Mythos der Lehre« (mythology of doctrines) sitzt der Ideenhistoriker einem Anachronismus auf, indem er durch eine zufällig entdeckte Ähnlichkeit der Begriffe, die von einem Autor verwendet werden, darauf schließt, dass dieser Ansichten vertreten habe, zu denen er gar nicht in der Lage war sich zu äußern (Skinner 2010: 26f.).11 Der »Mythos der Kohärenz« (mytho-
11 Als Beispiel führt Skinner die irrtümliche Annahme an, man könne Marsilius von Padua als Urheber des Prinzips der Gewaltenteilung betrachten, da dieser in Der Verteidiger des Friedens einige auf Aristoteles bezogene Bemerkungen über »die exekutive
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logy of coherence) meint die Neigung des Historikers, in verschiedenen inkonsistenten Texten eines Autors einen fehlenden Zusammenhang ausfindig zu machen oder herzustellen. So würden widersprüchlichen Ideen – wie beispielsweise jene humanistischen, die Marx in seinen frühen Jahren gehegt hat und die des späteren Marx, der im Kapital ein mechanistischeres System zeichnet – so lange homogenisiert, dass alle Unterschiede nivelliert werden und sich eine kohärente Lehre ergibt. Resümierend meint Skinner zu diesem Mythos: »Eine so verfasste Geschichte ist keine Geschichte der Ideen, sondern eine der Abstraktionen: eine Geschichte von Gedanken, die niemals gedacht wurden, auf einer Kohärenzebene, die niemals erreicht wurde.« ( Ebd. 41)
Charakteristisch für den »Mythos der Vorwegnahme« (mythology of prolepsis) ist die Asymmetrie zwischen dem, was an Bedeutungen einer Aussage oder einer Handlung zugeschrieben wird und der Bedeutung einer Handlung an sich. So lässt sich die Besteigung des Mont Ventoux durch Petrarca als der Beginn der Renaissance bestimmen. Damit wird dieses Ereignis jedoch mit einer Bedeutung versehen, die es für den Akteur gar nicht haben konnte, standen doch der Begriff, sowie seine Bedeutung erst zu späteren Zeiten zur Verfügung (ebd. 47). Eine letzte Gefahr ist laut Skinner darin gelegen, dass man »den Sinn wie auch den beabsichtigten Bezug eines Werkes fehlinterpretiert« (ebd. 49). Durch den »Mythos der Anverwandlung« (mythology of parochialism) läuft man Gefahr, eine fremde Kultur oder einen fernen Zeitabschnitt aus seinem vertrauten Standpunkt heraus zu beurteilen. Hier neigt man also zum einen dazu, »die Vergangenheit zu verkürzen und sie mit eigenen Erinnerungen zu füllen« und zum anderen den Sinn eines Werkes aus der aktuellen Perspektive des Beobachters zu beschreiben. Skinner hat nicht länger vor, die Ideengeschichte mit der Untersuchung einiger weniger Elementarideen zu betrauen. Dabei leugnet er nicht die mit solchen Ideen verbundenen »lang anhaltenden Kontinuitäten [...] und dass sich diese in einer stabilen Verwendung einer Reihe von Grundbegriffen und Argumentationsweisen widerspiegeln« (Skinner 2009: 59), nur sollen diese nicht zum Gegenstand des Ideenhistorikers werden. Skinner geht es im Grunde gar nicht so
Funktion des Herrschers, verglichen mit der legislativen des souveränen Volkes« machte. Im heutigen Verständnis erscheint es uns klar, dass die Trennung von Legislative und Exekutive eine Bedingung für politische Freiheit ist, während Marsilius diese Schlussfolgerung nicht gezogen hat und seine Bemerkungen zu Aristoteles deshalb auch nichts mit der Frage der politischen Freiheit zu tun haben können (ebd. 27).
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sehr um Ideen, als vielmehr um »die Geschichte ihrer Verwendung in bestimmten Argumentationen« (ebd. 60). Um sich diesen Standpunkt zu verdeutlichen, folgen wir der Interpretation von Marc Bevir, der die Cambridge School jener Position zuordnet, welche den Ideen hervorbringenden Geist als sprachliches Konstrukt betrachtet. Ideen sind demnach das Produkt von Sprache und werden durch die gesellschaftlichen Diskurse bestimmt (Bevir 2010: 203). Pocock und Skinner sind hier jedoch weniger vom Diskursbegriff Michel Foucaults beeinflusst, der davon ausgeht, dass sich die Regeln in Bezug auf den Wandel und die Etablierung eines Diskurses außerhalb der Wahrnehmung des Autors vollzieht. Demnach müsse man auch »darauf verzichten, im Diskurs ein Phänomen des Ausdrucks zu sehen [...]. Der so begriffene Diskurs ist nicht die majestätisch abgewickelte Manifestation eines denkenden, erkennenden und es aussprechenden Subjekts: Im Gegenteil handelt es sich um eine Gesamtheit, worin die Verstreuung des Subjekts und seine Diskontinuität mit sich selbst sich bestimmen könnten« (Foucault 1973: 82). Eine derart verstandene Verwandlung der Ideengeschichte in eine Geschichte der Diskurse wird von der Cambridge School vehement abgelehnt, da sie den historischen Vermittler überflüssig macht. Schriftsteller, Philosophen und andere Intellektuelle werden einfach vom jeweiligen Diskurs überrollt, was die Rede vom »Tod des Autors« (Barthes: The Death of the Author [1977]; zit. nach Harlan 2010: 162) impliziert. Dagegen steht Skinners Sprechakttheorie und Pococks Ansatz, der eine »Geschichte des politischen Denkens« schreiben will, in der »Männer und Frauen als denkende Wesen vorkommen« (Pocock: Virtue, Commerce and History [1985]; zit. nach ebd. 172). Die Vorgehensweise, Texte analog zur Rede als illokutionäre Sprechakte12 zu behandeln, die eine bestimmte Bedeutung vermitteln, beinhaltet eine Abkehr von den Elementarideen. Da nämlich Bedeutungen immer an einen Kontext – an eine bestimmte Zeit und Sprache – gebunden sind, könne man nicht davon ausgehen, dass Ideen »über die Jahrhunderte hinweg den Geist der Individuen heimsuchen und wieder verlassen« (Darnton: 1998: 154). Mit Skinner soll der Ideenhistoriker also die Äußerungen in einem Text als bewusste Handlungen in einer konkreten gesellschaftlichen Situation betrachten. Dabei ist zum einen der linguistische Kontext zu beachten: »Auf der Ebene der Interpretation versuchen wir herauszufinden, was der Autor zu tun in der Lage ist, in dem (und dadurch dass) er bestimmte Wörter und Sätze verwendet. Die
12 Ein illokutionärer Akt beinhaltet die Absicht, in Interaktion mit einem Empfänger zu treten. Die Bedeutung einer (oder ein und derselben) Äußerung kann variieren, je nachdem, welche Intention der Sprecher verfolgt.
34 | D IE K ONTINUITÄT ROMANTISCHER I DEEN auktoriale Intention ist in diesem Fall gleichbedeutend mit dem, was der Autor gemeint oder beabsichtigt haben könnte, indem er sagte, was er sagte. Wir wollen herausfinden, wie er seine Aussagen gemeint hat und verstanden wissen wollte.« (Skinner 2009: 8f.)
Zum anderen müssen Ideen auch wieder in einen historischen Kontext13 eingebettet werden, ohne sie jedoch auf einen solchen zu reduzieren. Ziel dieser Kontextualisierung ist es, den tatsächlichen historischen Gehalt einer bestimmten Idee herauszuarbeiten. Eine solche Vorgehensweise ist, wie Skinner einräumt, wesentlich von seinem Lehrer Robin George Collingwood beeinflusst. Er brachte ihn auf die Idee, alle Texte auf ihre von den Autoren verfolgte Absicht hin zu untersuchen. Alle großen philosophischen Werke könne man demnach nicht als überzeitliche Bedeutungen vorstellen, sondern als »Objekte, die zu einer bestimmten Zeit, für ein bestimmtes Publikum, vor dem Hintergrund bestimmter Probleme geschaffen wurden« (Skinner 2007: 86). Daraus leitet sich Skinners Authentizitätsforderungen ab, der man gerecht wird, befolgt man drei Punkte: »Wir müssen die Autorenintentionen herausfinden, damit wir die Bedeutung dessen verstehen, was der Autor schreibt. Um solche Intentionen zu erfassen, ist es [...] von größter Wichtigkeit, den jeweiligen Text in einen passenden Kontext aus Annahmen und Konventionen zu setzen, mit deren Hilfe dann die exakte, vom Autor intendierte Bedeutung entschlüsselt werden kann. Dies führt zu der entscheidenden Schlussfolgerung, dass die Kenntnis dieser Annahmen und Konventionen von größter Wichtigkeit für die Erfassung der Bedeutung des Textes sein muss.« (Skinner: Hermeneutics and the Role of History [1975-76]; zit. nach Harlan 2010: 161)
Wird Skinner auf der einen Seite als Reformer der Ideengeschichte gefeiert, so finden sich auf der anderen jene, die seine Methode als problematisch erachten. Ich möchte die Kritik in drei Punkten zusammenfassen. Erstens wird bezweifelt, ob man die Sprechakttheorie überhaupt auf Texte anwenden kann. Skinner unterscheidet nicht zwischen Schrift und Rede, da er von der Annahme ausgeht, dass der aus verschiedenen Schriftzeichen bestehende Text geronnene Rede sei. Diese Analogie ist für David Harlan unzulässig, denn »Rede ist nicht dasselbe wie Schrift, Autoren sind nicht dasselbe wie Sprecher, und Leser sind nicht dasselbe wie Hörer« (Harlan 2010: 164). So ist das Lesen
13 Skinner kritisiert am Kontextualismus vor allem seine materialistische Interpretationsweise, da hier Texte kausal aus ihrem ökonomischen, politischen, sozialen usw. Entstehungszusammenhang heraus erklärt werden (Rosa 1994: 208).
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eines philosophischen Werkes etwas anderes, als wenn man dem Philosophen zuhört und potenziell befragen kann. Wenn nun die Beziehung zwischen Leser und Autor eine fundamental andere ist als zwischen Hörer und Sprecher, dann wird auch die linguistische Kontextualisierung und Textrepräsentation problematisch (ebd. 165; zu den Unterschieden zwischen mündlicher Rede und schriftlichem Text vgl. Bühler 2010: 183f.). Die zweite gewichtige ins Feld zu führende Kritik basiert ebenfalls auf der Methode der Sprechakttheorie, denn durch diese wird das Problem der Intentionalität in die Ideengeschichte eingeführt. Skinner glaubt, die »exakte«, das heißt wahre Autorenintention zu entschlüsseln, wenn man den Text von allen angehäuften Interpretationssedimenten befreit und ihn in seinen ursprünglichen historischen Kontext überführt, den man zu diesem Zweck zu rekonstruieren hat. Ein solches Unterfangen kritisiert Harlan als »romantische Hermeneutik« (Harlan: 2010: 160). Hier verweist er auf die Ausführungen von Hans-Georg Gadamer in Wahrheit und Methode, der das Unterfangen, Texte aus ihren um sie herum gewachsenen Interpretationen zu lösen, als letztlich unmöglich beschreibt. Die Jungfräulichkeit eines Textes wiederherzustellen bedeutet, ihn aus seinem interpretativen Kontext zu entreißen, wodurch er zu »einem Gegenstand der Physik« werden würde: »Wiederherstellung ursprünglicher Bedingungen ist, wie alle Restauration, angesichts der Geschichtlichkeit unseres Seins ein ohnmächtiges Beginnen. Das wiederhergestellte, aus der Entfremdung zurückgeholte Leben ist nicht das ursprüngliche. Es gewinnt lediglich in der Fortdauer der Entfremdung ein sekundäres Dasein der Bildung. [...] Selbst das aus dem Museum in die Kirche zurückgeholte Bild oder das in seinem Zustand wiederhergestellte Bauwerk sind nicht, was sie gewesen sind – sie werden zum Touristenziel. Genauso bliebe ein hermeneutisches Tun, für das das Verstehen Wiederherstellung des Ursprünglichen heiße, nur die Mitteilung eines erstorbenen Sinnes.« (Gadamer: Wahrheit und Methode [1972]; zit. nach ebd. 167)
Daran anschließend erklärt Gadamer das geforderte offene und vorurteilsfreie Studium von Texten (vgl. mythology of parochialism) als undurchführbar. Vorgefasste Meinungen wären demnach keine Hindernisse, die es zu beseitigen gilt, sondern sie ermöglichen uns überhaupt erst ein Verstehen. Verstehen ist also immer auch Standortgebunden und man könne gar nicht anders, als vergangene Ereignisse aus dem eigenen kulturellen und sozialen Kontext zu beurteilen. Gerade dieser Umstand ermögliche uns »eine phantasievolle Annäherung an eine andere Zeit« (Harlan 2010: 166). Die Annahme eines Zustandes historischer
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Jungfräulichkeit ist also ebenso ein ›Mythos‹ wie die Rede von der Unberührtheit des Textes. Die dritte Kritik berührt die Historisierung und die damit verbundene Darstellung des historischen Kontextes. Nicht nur, dass es nach Gadamer ein aussichtsloses Unterfangen sei, einen historischen Kontext realitätsnah zu rekonstruieren, es stellt sich auch die Frage nach der Sinnhaftigkeit, Archive längst vergangener philosophischer oder politischer Diskurse zu erstellen. Natürlich soll nicht in Abrede gestellt werden, dass eine Kenntnis des geistigen und sozialen Umfelds, in dem Intellektuelle wirkten, von Bedeutung ist. Dabei muss jedoch auch bedacht werden, dass diese nicht nur durch ihr unmittelbares Umfeld geprägt sind, sondern auch von Denktraditionen, die sich mitunter weit in die Geschichte zurückverfolgen lassen. Berücksichtigt man diese Umstände eines Bemühens um adäquate Kontextualisierung, so tun sich, wie Niklas Luhmann (2008: 234) pointiert beschreibt, kaum lösbare Schwierigkeiten auf: »Forscher, die man mit dem Auftrag, festzustellen, wie es wirklich war, ins Feld jagt, kommen nicht zurück; sie apportieren nicht, sie rapportieren nicht, sie bleiben stehen und schnuppern entzückt an den Details.«
Eine derart verstandene Ideengeschichte würde in einer unentschlüsselbaren Vergangenheit verharren und es daher versäumen, Lösungen auf gegenwärtige Problemlagen anzubieten. Die Fixierung auf die Wahrheit von Text und Kontext erweist sich dann als unplausibel, wenn man die schriftlichen Materialien, mit denen es der Ideenhistoriker meist zu tun hat, in Anlehnung an Roland Barthes als »Schreibtexte« begreift. Es ist solchen Texten, im Gegensatz zu »Lesetexten« ein aktivistisches Moment inhärent, das den Leser dazu zwingt, »einen anderen, ›virtuellen‹ Text zu formen« (Harlan 2010: 182).14 Die Eigenheit von »Schreibtexten« beruht deshalb auf ihren mannigfaltigen Bedeutungen. Je nachdem von welchem Standpunkt wir uns ihnen nähern, »sie antworten immer mit etwas Neuem. Es spielt keine Rolle, wie oft wir sie uminterpretieren, sie haben uns immer wieder etwas Erhellendes mitzuteilen. Ihre ureigene Unbestimmtheit macht sie unerschöpflich« (ebd. 183). Aus dieser potentiellen Unerschöpflichkeit von Texten ergeben sich für den Ideenhistoriker neue Möglichkeiten: Indem er Texte in einen aktuellen Bedeutungshorizont stellt sind sie dazu in der Lage,
14 Vergleichbar sind die »Schreibtexte« mit dem von Dominick LaCapra verwendeten Begriff der »komplexen Werke«. Sie stehen in Kontrast zu bloßen »Lesetexten«, die wir auf passive Weise konsumieren und in denen wir dann auch genau jene Bedeutungen finden, die unsere Konventionen befriedigen (ebd.).
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Fragen der Gegenwart zu beantworten. Mit einer solchen Re-Situierung einer Idee entreißt man sie einem historischen Kontext, in dem sie unterzugehen drohen und stellt sie in Bezug zum gegenwärtigen Untersuchungsinteresse. Mit diesen unterschiedlichen Auffassungen sind auch die Konfliktlinien zwischen Historikern und Literaturwissenschaftlern benannt: »Historiker sind in Bezug auf die Autorenintention verbissen dogmatisch. Es scheint die einzige verlässliche Bremse zu sein, um eine Auflösung der historischen Diskussion im Nebel der radikalen textlichen Zweideutigkeit zu stoppen. Während die Abschaffung der Autorenintention dem Literaturtheoretiker in der akademischen Welt das täglich Brot liefert, scheint sie es gleichzeitig dem Historiker zu entziehen.« (Ankersmit 2002: 31)
Die von den Literaturwissenschaftlern favorisierte Praxis der Re-Situierung kann ein gänzlich neues Licht auf einen Text werfen und zeigen, dass ein Autor für unsere Zeit durchaus etwas Interessantes zu sagen hat.15 Harlan (2010: 199) meint in diesem Sinne auch, man soll »die Gegenwart die Vergangenheit befragen« lassen – eine Vergangenheit, der man »unsere Fragen, die unseren Bedürfnissen entsprechen und auf unsere Lebensbedingungen bezogen sind« abzuringen bereit ist. Diese Forderung unterstreicht er mit der von Rorty entdeckten Analogie zwischen Anthropologen und Historikern: »Der Anthropologe hat seinen Beruf verfehlt, wenn er uns lediglich vermittelt, wie man mit seinem Lieblingsstamm streitet und in seine Rituale eingeführt wird usw. Was wir wissen wollen, ist, ob dieser Stamm uns irgendetwas Interessantes zu sagen hat – interessant nach unseren Kriterien, etwas, das auf unsere Fragen Antwort gibt, informativ ist in Bezug auf etwas, von dessen Existenz wir berührt sind. Jeder Anthropologe, der diese Verpflichtung von sich weisen würde mit der Begründung, dass jedes Herausfiltern und Paraphrasieren die Integrität der Stammeskultur verfälsche, könnte nicht mehr als Anthropologe gelten, er wäre eine Art Kultjünger. Schließlich arbeitet er für uns, nicht für sie. Ähnlich arbeitet der Historiker des Gegenstandes X, von dem wir wissen, dass X real und wichtig ist, für diejenigen von uns, die dieses Wissen teilen, und nicht für unglückliche Vorfahren, denen dies nicht bewusst war. (Richard Rorty: Philosophy in History [1884]; zit. nach ebd. 200)«
Diesem Zugang zu den romantischen Texten soll auch hier gefolgt werden, wenn es darum geht, die Attraktion der romantischen Elementarideen für unsere Zeit
15 David Harlan (2010: 194f.) skizziert als Beispiel für eine solche Vorgehensweise Noam Chomskys Cartesian Linguistics.
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zu begründen. Zudem wird sich zeigen, dass die Beiträge der Romantiker erstaunlich modern sind, weshalb sie in vielerlei Hinsicht als Lösungsangebote für Probleme verstanden werden können, mit denen wir heute konfrontiert sind. Dabei soll neben Sekundäranalysen vor allem auf das von den Romantikern produzierte Primärmaterial zurückgegriffen werden. Dieses reicht von philosophischen Abhandlungen bis hin zu Gedichten und Romanen. Neben diesen allgemeinen Quellensorten ist speziell das Fragment als literarische Gattung der Romantik relevant. Der offene und experimentelle Charakter des Fragments spiegelt die Reaktion der Romantiker auf die politischen, religiösen und wissenschaftlichen Umbrüche sowie die daraus folgende Heterogenität ihrer Zeit wieder (Borries/Borries 2003: 57f.). Zudem lässt sich der Fragmentbegriff analog zu Barthes Schreibtexten begreifen, denn die Unabgeschlossenheit erzwingt die aktive Beteiligung des Lesers. Damit wird auch dieser zum Textproduzenten, woraus sich wiederum die Deutungsvariation von Texten ergibt. Trotz der Verflüchtigung der Autorenintention aus den Literaturwissenschaften und der Re-Situierung von Texten, mittels derer wir Aufschlussreiches über die Gegenwart erfahren können, ist für das hier gewählte Vorhaben auch die historische Kontextualisierung relevant, wenngleich diese nicht im Zentrum der Untersuchung steht. Vor allem wenn es um die Rekonstruktion der zu verfolgenden Elementarideen geht, muss auf den historischen Kontext Bezug genommen werden, in dem sie sich entfalten konnten. Damit dies gelingt folge ich Lovejoys’ (1993: 31f.) Einsicht, dass »ein historisches Verständnis der [...] Schriftsteller einer Epoche ohne eine Kenntnis des geistigen Lebens und der herrschenden moralischen und ästhetischen Maßstäbe, die sie geprägt haben« nicht möglich ist. Hier stellt sich nun die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Elementarideen und den philosophischen und ästhetischen Texten der Romantiker. Lovejoy meint in Anlehnung an Whitehead (Wissenschaft und moderne Welt [1949]; zit. nach ebd. 28): »[D]as konkrete Weltbild der Menschen erhält seinen greifbaren Ausdruck in der Literatur. Auf diese – und besonders in ihren konkreten Formen, Lyrik und Drama – müssen wir daher blicken, wenn wir hoffen wollen, die innersten Gedanken einer Generation zu erkennen.«
Indem wir die Ideen in solchen Texten aufspüren können, ist jedoch nicht darauf zu schließen, dass die Romantiker als alleinige Urheber der Veränderungen zur Innerlichkeit, oder der Hinwendung zur ganzheitlichen Betrachtungsweise der Welt anzusehen seien. Jedoch haben sie diese überaus feinfühlig artikuliert und beschrieben und dies lässt sich in ihren Texten wiederfinden.
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1.4 I DEEN
IN KULTURELLEN
B EWEGUNGEN
Für die vorliegende Arbeit müssen zwei weitere Änderungen des Lovejoy’schen Programms vorgenommen werden. Die eine betrifft eine Einschränkung der zur Untersuchung stehenden Elementarideen auf einen zeitlichen und geographischen Raum, in dem sie eine spezifische Kulmination erfahren haben. Hier werden diese also nicht quer durch die Geschichte verfolgt, sondern sie werden aus einer bestimmten Kultur einer Zeit isoliert. Dies schließt zwar nicht aus, dass die Ideen originell sind, jedoch liegt der Fokus der Untersuchung auf einer Epoche, in der diese durchaus schon vorher bekannt gewesen sind. Deshalb ist das, was in der Romantik als innovativ erscheint, nicht ›neu‹ im Sinne eines erstmaligen Auftretens. Bei der Lokalisierung der Quellen der Authentizität und des ganzheitlichen Denkens müssten wir weit in die Geschichte zurückkehren, was den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde. Jedoch bekommen in der Romantik diese Ideen ihr besonderes Gewicht, da sie durch spezifische Konstellationen erst jetzt ins Zentrum gerückt werden. Davor würden wir nur auf vereinzelte Hinweise stoßen, in denen sich das moderne Phänomen des Individualismus finden lässt, und selbst da wird es meist negativ bewertet: »Wenn Individualität im Bewusstsein eines Weltbildes auftaucht, so taucht sie auf als behaftet mit einem Makel oder einem Defekt [...]. Im Griechischen scheint individuelles Verhalten in dem kainón, der gemeinsamen Sache, ausscherendes, ein ideopragmatisches, ja in letzter Instanz ein idiotisches Verhalten gemeint zu haben [...]. Ähnliches gilt [...] für weite Teile des frühen Mittelalters, wo Individualität vor allem als ein zu vermeidendes, abweichendes oder sündhaftes Verhalten oder Sein gedeutet ist. Dieser abschätzige Sinn von Individualität zieht sich weit über die Antike und das Mittelalter hinaus bis in die Wissenschaften und die bürgerliche Welt [...]. ›Bloß ein Individuum‹ das ist die knappste Formel für die Gegenposition zur frühromantischen Rehabilitation (und Neudefinition) des Wesens von Individualität [...].« (Frank 1988, zit. nach Beck 1995: 15f.)
Weiters lässt sich das Verhältnis zwischen den originären Quellen und einer Kulmination von Ideen anhand des modernen Verständnisses eines auf Partnerschaftlichkeit ausgerichteten Liebesideals verdeutlichen. Es ist anzunehmen, dass es schon sehr lange Formen der Liebe gibt, welche diesem Ideal folgen, denn auf Liebe basierende Ehen hat es auch in traditionelleren Gesellschaften gegeben. Doch Anzeichen dafür, dass sich vermehrt Menschen daran auszurichten beginnen und die individuelle Erfüllung im Bereich der Privatheit zu finden hoffen, zeigen sich – wie wir noch sehen werden – deutlich um das 18. Jahrhundert.
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Hier, in der Zeit der Romantik, beginne ich also mit der »kognitiven Isolierung« der Ideen, bei der man, nach Lepsius, so vorgeht, dass man deren spezifische Eigenschaften ergründet. Diese liegen darin, dass sie den Anspruch auf ein spezifisches Verhalten erheben, zudem müssen sie sich von anderen Ideen abgrenzen und stehen so in Kontrast zu diesen. Bei der Formulierung der Ideen sind die von Eyerman und Jamison benannten »movement intellectuals« (Eyerman/Jamison 1996: 98f.) von Bedeutung. Insbesondere Philosophen, Künstler und andere Kulturträger, welche eine hegemoniale Kultur kritisieren, haben demnach die wichtige Aufgabe, die spezifischen Anliegen für kulturelle Bewegungen zu formulieren und den Protest in einen signifikanten Zusammenhang zu bringen. Dadurch bekommen kulturelle Bewegungen nicht nur Konturen, sondern gewinnen auch an theoretischen Positionen, wodurch Ansprüche einer Delegitimierung der hegemonialen Kultur mit Nachdruck vertreten werden können. Ideen müssen folglich in Beziehung zu abgrenzbaren Trägergruppen gebracht werden. Nach Lepsius kommen für den Kultursoziologen nur solche Untersuchungsgegenstände in Betracht, bei denen ein hinreichend starker Zusammenhang zwischen einer Idee und einer Trägergruppe, die ihr Verhalten daran ausrichtet, gegeben ist. Könne man zwar eine Idee kognitiv isolieren, jedoch nicht ihren Geltungsbereich sozial lokalisieren, ergeben sich nach Lepsius (1990a: 35) erhebliche Schwierigkeiten, da eine Idee nun losgelöst von typischen Verhaltensweisen und damit von ihrer sozialen Wirksamkeit auftritt. Zur Lösung dieser Problematik schlägt er vor, abgegrenzte Gruppen in Bezug auf die Wirksamkeit von Ideen zu untersuchen. Besonders bei Sekten – aber auch bei den hier im Zentrum stehenden kulturellen Bewegungen – wird »das gesamte Leben ihrer Mitglieder [...] von einer spezifischen Ethik durchdrungen« was das Freilegen von Wirkungszusammenhängen erheblich erleichtert. Wie schon erwähnt wurde, wird die Untersuchung der beiden Elementarideen auf die kulturellen Bewegungen der Romantik, der Lebensreform und der counter culture eingegrenzt. Es lässt sich einiges über den Charakter dieser vier Bewegungen in Erfahrung bringen, versteht man sie mit Victor Turner (2005) als Formen von Communitas. Turner, der das Geheimnis der Veränderungen im menschlichen Leben ergründen wollte, entwickelte die Kategorien ›Liminalität‹ und ›Communitas‹ – in Abgrenzung zur ›Gesellschaft‹. Während Gesellschaft als »strukturiertes, differenziertes und oft hierarchisch gegliedertes System politischer, rechtlicher und wirtschaftlicher Positionen mit vielen Arten der Bewertung« dargestellt wird, welche »die Menschen im Sinne eines ›Mehr‹ oder ›Weniger‹ trennen« (ebd. 96), ist die Communitas als undifferenzierte, nur rudimentär strukturierte oder gänzlich unstrukturierte Gemeinschaft Gleicher zu verstehen. Communitas ist
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dort, wo Sozialstruktur nicht ist – sie stößt gleichsam in ihre Lücken und füllt diese aus. In ihrer Unstrukturiertheit versinnbildlicht sie »das ›Mark‹ menschlicher Verbundenheit, das Zwischenmenschliche, wie Buber sagt. Auf Martin Bubers Verständnis von Gemeinschaft verweist dann auch Turner, um sein Modell zu veranschaulichen: »[Gemeinschaft ist] das Nichtmehr-nebeneinander, sondern Beieinander einer Vielheit von Personen, die, ob sie auch mitsammen sich auf ein Ziel zu bewegen, überall ein Aufeinander zu, ein dynamisches Gegenüber, ein Fluten von Ich und Du erfährt. Gemeinschaft ist, wo Gemeinschaft geschieht.« (Buber 1984; zit. nach Bräunlein 2011: 96f.)
Ihre zentralen Elemente sind also Spontaneität und Unmittelbarkeit – ganz im Gegensatz zum normgeleiteten, institutionalisierten Wesen der Sozialstruktur. Besonders häufig tritt Communitas in Phasen des Schwellenzustandes auf, der durch »nicht mehr« und »noch nicht« charakterisiert ist (Turner 2005: 94f.). Diese liminalen Übergangszeiten finden sich sowohl im individuellen Bereich, wo beispielsweise durch Rituale die Eingliederung in einen neuen Status erreicht wird, als auch auf gesellschaftlicher Ebene: Hier sind es vor allem Zeiten, in denen »die Hauptgruppen oder sozialen Kategorien stabiler Gesellschaften von einem in einen anderen kulturellen Zustand überwechseln« (ebd. 110); wo sich alte Wertmuster aufzulösen beginnen und bisher geltende Ideen in Frage gestellt werden – ein neuer Horizont, vor dem die Dinge ihre scharfen Konturen gewinnen, jedoch noch nicht fraglos etabliert ist. Einer dieser kulturellen Wechsel ist nach Rainer Koselleck im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts anzusiedeln. Diese Übergangsperiode an der Schwelle zur Moderne benennt er mit dem markanten Begriff »Sattelzeit«. So wie Wolf Lepenies (1978) in diesem Zeitraum auf die Temporalisierungsaspekte des wissenschaftlichen Denkens hinweist, verzeichnet Koselleck eine gesamteuropäische Beschleunigungserfahrung. Dieser beschleunigte soziale Wandel hat gegen Ende des 18. Jahrhunderts in eine Richtung gedrängt, in der sich statisch geordnete Erfahrungsräume einer ständisch geordneten vorindustriellen Gesellschaft aufzulösen begannen. Die Zersetzung religiöser Weltbilder hinterließ eine Kluft, welche auf viele Individuen irritierend wirkte. Eine solche für liminale Phasen typische Umbruchserfahrung und die daraus folgenden Identitätskrisen wurden zum spezifischen Thema der Romantik. Um 1800 haben wir es also eindeutig mit einer liminalen Phase zu tun, in der die Romantik ihr Unbehagen am Wandel traditioneller Überzeugungen formulierte. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass hier eine Communitas – in romantischem Gewande – entstehen konnte.
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Verknüpft man Turners Konzept der liminalen Phasen und Kosellecks Sattelzeit, so müsste man eigentlich von »Sattelzeiten« sprechen. Für diese Pluralisierung spricht, dass sich auch am Beginn des 20. Jahrhunderts und in den 1960er-Jahren solche Umbruchsperioden finden lassen, welche die Entstehung der kulturellen Bewegungen der Lebensreform und der counter culture begünstigt haben. In beiden Zeiträumen kann eine stetige Verdichtung von Entfremdungserfahrungen bemerkt werden, wie sie beispielsweise Georg Simmel mit seinem Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben (1903) oder Herbert Marcuse mit dem Buch Der eindimensionale Mensch (1964) zum Ausdruck brachten. Schließlich gehört es zu den wichtigsten weltanschaulichen Überzeugungen der New-Age Bewegung in einer Wendezeit (Capra: 1983) zu leben – also in einem ambivalenten Zustand des »nicht mehr« und »noch nicht«, der das kriegerische Fische- vom friedlichen Wassermannzeitalter scheidet. Die Erscheinungsformen der Communitas sind vielfältig. Turner sichtet sie in millenaristischen religiösen Bewegungen, wo es »entwurzelte und hoffnungslose, am Rand der Gesellschaft [d.h. der strukturierten Gesellschaft] in den Städten und auf dem Land lebende Massen« (Turner 2005: 109) gibt, ebenso wie in den Verhaltensnormen der Beat- oder Hippie-Generation. Diese verweist mit ihrer Betonung der sexuellen Freiheit, Spontaneität und Unmittelbarkeit auf die Gegensätze zwischen Communitas und Struktur. Zudem treten hier die der Communitas häufig zugeschriebenen »Sakraleigenschaften« deutlich hervor. Diese als holistisches Pathos identifizierte Idee findet sich in der spirituellen Ausrichtung dieser Generation, die mit dem Blick gen Osten neue, ›authentische‹ und intensivere Erfahrungen im religiösen Erleben machen wollte. Formulierungen des Zen-Buddhismus wie »alles ist eins, eins ist nichts, nichts ist alles« zeigen so wiederum den unstrukturierten Charakter der Communitas auf (ebd. 108f.). Auch in der Romantik und in der Lebensreform lassen sich viele Elemente erkennen, die zur Communitas gehören. Eine auffallende Kontinuität zeigt sich jedoch im erwähnten Hang zur Sakralisierung, die wir anhand der Idee des holistischen Pathos darstellen werden. Da sich die spontanen Happenings der Hippies nicht mit dem »Symphilosophieren«16 der romantischen Zirkel vergleichen lassen, unterscheidet Turner drei idealtypische Formen: spontane, normative und ideologische Communitas. Spontane Communitas bildet sich jenseits institutioneller Vorgaben. Das Woodstock Festival, ein ›Happening‹, oder das, was William Blake »den geflü-
16 Hinter dem Begriff verbirgt sich ein für die Frühromantik typisches Gemeinschaftsideal, wo der freie Ideenaustausch und das freie Gedankenspiel, abseits instrumentellrationaler Verengungen, praktiziert werden konnten.
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gelten Augenblick« nennen würde, ließe sich diesem Typus zuordnen. Turner verweist darauf, dass die spontane Communitas stets etwas Magisches an sich hat. Ihr Wesenskern ist die Ekstase, im Sinne eines rauschhaften Heraustretens aus allen strukturellen Bindungen. Damit einher geht oft ein Gefühl der grenzenlosen Macht und Machbarkeit (ebd. 135). Aus diesen spontanen Zusammenschlüssen kann sich aufgrund der Notwendigkeit, Ressourcen zu mobilisieren und zu organisieren, sowie die Gruppenmitglieder bei der Verfolgung der Ziele zu kontrollieren, die normative Communitas entwickeln (ebd. 129). Als klassisches Beispiel einer solchen Entwicklung lässt sich die Veralltäglichung religiöser Bewegungen im Zuge ihrer Institutionalisierung anführen. Hier zeigt sich das zwangsläufige Schicksal jeder Communitas: Das heilige Feuer und das Charisma des Führers verflacht zu ›Routine‹, wobei sich jene Kraft und Intensität zu dumpfer Gewohnheit veralltäglicht. Das ist auch die Sicht von William James (1997: 63) auf das religiöse (Er-)Leben und seines Gerinnens in institutionellen Formen. Auch die ideologische Communitas geht von der spontanen aus und kann sich alternativ zur normativen bilden. Sie wird in utopischen Entwürfen oder politischen Programmen propagiert und zu leben versucht. Hier werden Erfahrungen der spontanen Communitas benannt und auch die Bedingungen angegeben, unter welchen diese reproduziert werden können. Deshalb ist sie ihrem Wesen nach spekulativ und neigt dazu, philosophische Ideen hervorzubringen, die sich als Gegenentwürfe zu den bestehenden Strukturen formulieren. Inhalte sind die Beziehung des Menschen zur Gesellschaft, zur Natur und zur Kultur, welche hier alternativ klassifiziert werden. Obwohl die Grenzen zwischen den verschiedenen Typen fließend sind, da Turner ein Modell der ständigen Bewegung entwickelte, indem sich die einzelnen Spielarten aus ihrer Prozesshaftigkeit selbst ergeben, lassen sich die hier im Fokus stehenden kulturellen Bewegungen wohl am ehesten mit der Form einer utopischen Communitas beschreiben. Das Besondere dieser gegenkulturellen Vergemeinschaftung liegt in ihren ideologischen Vorstellungen, eine für alle Menschen mögliche Lebensform zu entwickeln, die durch authentischen Ausdruck und persönliche Freiheit bestimmt ist und gleichzeitig der menschlichen Vereinzelung und Entfremdung entgegenwirkt. Wir können somit resümieren, dass sich die elementaren Ideen der Unverwechselbarkeit und Originalität sowie das holistische Pathos in den liminalen Phasen bzw. Sattelzeiten um das beginnende 19. und 20. Jahrhundert und der 1960er- und 70er-Jahre, anhand der dort auftretenden utopischen Communitasformen studieren lassen. Hier lässt sich an eine Topographie der beiden Elementarideen anknüpfen, denn Ideen benötigen Räume um sich entfalten zu können.
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Deshalb kann es für den Ideenhistoriker fruchtbar sein, wenn er seinen Blick auf solche Räume lenkt, in denen Ideen zirkulieren, aufgegriffen und weitergesponnen werden. In einem späteren Abschnitt werde ich daher die Rolle des Salons und des romantischen Geselligkeitsideals für die Entfaltung der eigenen Individualität und des Spieles mit unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten, an dem sich auch Frauen maßgeblich beteiligten, erläutern. Für die Romantik gilt, dass deren utopische Ideale in einer kleinen Gemeinschaft gelebt wurden, die Novalis als Prototyp eines zukünftigen Goldenen Zeitalters betrachtete. Dort wurden auch die philosophischen, ästhetischen und gesellschaftlichen Ideen gesponnen und in einer Gemeinschaftsproduktion namens Athenäum veröffentlicht. Die lebensreformerischen Ideale kulminierten an einem »sakralen Ort« (Szeemann: 1978) namens Monte Verità. Die dort gelebten utopischen Gegenentwürfe fanden wiederum ihre Kontinuität in der Bucht von San Francisco der 1960er-Jahre. Aus der Sicht solcher organischer Gemeinschaftsbeziehung ist es auch nachvollziehbar, dass »strukturelles Handeln leicht etwas Nüchternes und Mechanisches« (Turner 2005: 135) bekommt. Turner betont, dass Communitas – wie bereits anhand der Veralltäglichung religiöser Bewegungen erwähnt – kein Dauerzustand sein kann. So ist es »das Schicksal einer jeden in der Geschichte auftretenden spontanen Communitas, sich in einem, von den meisten Menschen als ›Niedergang und Verfall‹ aufgefassten Prozess in Struktur und Gesetz zu verwandeln« (ebd. 129). Bereits der normativen wie auch der ideologischen Communitas sind zumindest teilweise strukturelle Eigenschaften eigen. Auf jeden Fall ist es das Schicksal der Communitas wieder in der Struktur aufzugehen, wenngleich beide einander dialektisch bedingen: »Gesellschaft scheint eher ein Prozeß als eine Sache zu sein – ein dialektischer Prozeß mit aufeinanderfolgenden Struktur- und Communitasphasen. Die Teilnahme an beiden Modalitäten scheint ein menschliches ›Bedürfnis‹ zu sein [...]. Menschen, die in ihren funktionalen Alltagshandlungen eine der beiden Modalitäten entbehren, suchen sie im rituellen Schwellendasein. Die strukturell Inferioren streben im Ritual nach symbolischer Superiorität; die strukturell Superioren dagegen verlangt es nach symbolischer Communitas, und um sie zu erreichen nehmen sie selbst Qualen auf sich.« (Ebd. 193)
Das Verhältnis zwischen Communitas und Struktur ist hier nicht nur für die Charakterisierung der im Mittelpunkt stehenden kulturellen Bewegungen relevant, sondern auch für die Frage, welche Rolle diese für die Entstehung neuer Ideen spielen. So liegt anhand der Ausführungen Turners der Schluss nahe, dass die Struktur Ideen eher bewahrt und als Regelabläufe kanonisiert, während die
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Communitas als der eigentliche Ort der Ideeninnovation anzusehen ist. Damit lässt sich auch die Funktion der Communitas für die Struktur konkretisieren: Ihr spontanes und unvermitteltes Wesen ermöglicht das Entstehen neuer Ideen, die zur Verjüngung der in der Struktur verkörperten dienen können. Umgekehrt haben Ideen jedoch nur Bestand, und damit in irgend einer Weise eine relevante Wirkung, wenn sie von der Struktur aufgegriffen und bewahrt werden. Wie ich noch ausführlicher darstellen werde, konnten sich die für die romantische Naturphilosophie relevanten Grundannahmen des Mesmerismus im 18. Jahrhundert nicht in den etablierten medizinischen Apparat fügen. Jedoch fanden diese Ideen in zahlreichen Gesellschaften, Akademien und Salonzirkel ihren Raum, bevor sie später in der Psychoanalyse oder der Alternativmedizin aufgingen.
1.5 I DEEN
IN SOZIALEN
P RAKTIKEN
Die zweite Änderung betrifft eine Erweiterung, die auf jene Kritik an Lovejoys Programm antwortet, welche die Geschichtslosigkeit von Elementarideen konstatiert. Dieser Einwand wird von Louis Mink vorgebracht, der meint: »his doctrine of elements characterizes ideas in such a way that [...] they cannot have a history at all, that is, undergo development and change.« (Mink 1968: 9). Würde man lediglich die immer konstant bleibenden elementaren Ideen über einen gewissen Zeitabschnitt hinweg untersuchen, ließe sich die ständig neue ›Passung‹ und Adaptionsleistung von Individuen in einen anderen Kontext nicht adäquat erfassen. Lovejoy vernachlässigt diesen Aspekt jedoch nicht gänzlich. So betont er, dass es auch zur Aufgabe der Ideengeschichte gehöre, den Entstehungs- und den Wirkungszusammenhang von Ideen zu beachten. Bezüglich letzterem gilt es, »einen Beitrag zur Aufhellung der psychologischen Prozesse [zu liefern], durch welche sich die Popularität und der Einfluss von Ideen geändert haben, und dass sie, wenn möglich aufzeigen, wie Anschauungen, die in einer Generation wirksam oder vorherrschend waren, ihre Wirkung auf die Menschen einbüßen und anderen Platz machen« (Lovejoy 1993: 32). Es ist also notwendig zu erkennen, wie andere Gruppen oder spätere Generationen Schlüsse ziehen, die ihre Urheber nicht geteilt hätten. Dem ließe sich noch hinzufügen, dass hier offenbar der soziale Kontext eine wichtige Rolle spielt. So kann, wie Rainer Lepsius feststellt, eine Idee in einem anderen Kontext auch gänzlich andere Funktionszusammenhänge freisetzen (Lepsius 1990a: 37).17 Ein gutes Beispiel hierfür ist der Transfer
17 Man denke hierbei nur an die Entwicklung der Idee einer Zentrierung auf Produktion und Reproduktion in der religiösen Sphäre, wo sie in Form des protestantischen Be-
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der romantischen Idee der Einzigartigkeit und Originalität aus der Sphäre der Kunst in jene des kapitalistischen Wirtschaftssystems.18 Obwohl Lovejoy die Wirkung und den Wandel von Ideen in seinem methodischen Entwurf berücksichtigt, so ist doch unklar, wie er sich diesen konkret vorstellt. Dieser Mangel in Lovejoys’ Methodik lässt sich mit Marc Bevirs (2002, 2010) Konzept der »Überzeugungen« und Charles Taylors’ Begriff der »sozialen Praktiken« beheben. Nach Bevir soll der Ideenhistoriker Überzeugungen studieren, die er sich als von Individuen in Texten formulierte Bedeutungen von Äußerungen denkt. Da Überzeugungen hier stets im Plural auftreten, meint er, dass »unser ganzes Wissen [...] im Kontext eines einzigen Netzes von Überzeugungen entsteht« (Bevir 2010: 219). Aus den geschichtlichen Kontinuitäten der beiden in dieser Arbeit thematisierten Elementarideen leiten sich einzelne Überzeugungen ab, die je nach Kontext variieren können. So hegten die Romantiker die Überzeugung, man könne das Gefühl der Ganzheitlichkeit, und damit das Ausbrechen aus zivilisatorischen Schranken, mittels kontemplativer Naturbetrachtung oder mesmeristischer Heilungsrituale erreichen, während die Lebensreform von einer »naturgemäßen Lebensführung« überzeugt war, welche beispielsweise den Vegetarismus im Rahmen einer umfassenden Körperkultur beinhaltete. Die Hippies der counter culture favorisierten hierfür wiederum den Drogenkonsum und fernöstliche Meditations- und Körperübungen. Bevir meint, dass solche Überzeugungsbündel ein kohärentes Ganzes darstellen, das durch nachvollziehbare Verbindungen zusammengehalten wird. Kohärenz bedeutet hier Konsistenz zu einem bestimmten Zeitpunkt (ebd. 224). Sofern man sich mit Ideen beschäftigt, soll es nun die Aufgabe der Philosophie und der Geschichtswissenschaft sein, diese Verbindungen zu rekonstruieren (ebd. 234). Wenn man jedoch mit Bevir davon
rufsethos zum Ausdruck kommt. Ihre wirkmächtige Entfaltung hat sie jedoch, wie uns Weber zeigt, in einem ganz anderen Bereich, nämlich im kapitalistischen erfahren. 18 Anhand Boltanskis und Chiapellos (2006) Analyse Der neue Geist des Kapitalismus lässt sich eine solche Ideendiffusion veranschaulichen. Sie untersuchen den Kulturwandel, der seit den 1968er-Jahren zu einem neuen beruflichen Selbstverständnis führte. Mit dem Begriff der »Künstlerkritik« fassen sie den Wunsch nach individueller und authentischer Lebensgestaltung zusammen, der sich zunächst nur auf kleine Bohème-Kreise beschränkt, bevor er in der counter culture seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Der neue kapitalistische Geist greift nun diese Forderungen »für eine Beschreibung einer neuartigen, emanzipierten, ja sogar libertären Art der Profitmaximierung« (ebd. 257) auf und rechtfertigt sich selbst eben genau dadurch, dass er Selbstverwirklichung und persönliche Freiheiten verspricht.
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ausgeht, dass Handlungen Überzeugungen umsetzen – was wiederum nur gelingen kann, wenn man von einer konsistenten Menge von Überzeugungen ausgeht – dann kommt auch die Soziologie ins Spiel. Zum einen ist hier der Verweis auf Émile Durkheims Begriff des »Kollektivbewusstseins« relevant, den er »als die Gesamtheit der Meinungen und Gefühle, die den Gliedern ein und derselben Gesellschaft im Durchschnitt gemeinsam sind« (Kruse 2008: 79) definiert. Wie bei Bevir werden Überzeugungen und Gefühle, welche das Kollektivbewusstsein ausmachen, durch Sozialisation tradiert und bewirken dadurch eine Integration der Individuen in die Gesellschaft oder in soziale Bewegungen. Welche Vorstellung Durkheim von Ideen hat, zeigt sich, wenn wir seinen Ausführungen zur Rolle der Soziologie als Orientierungswissenschaft folgen: »Sie kann uns das geben, was wir am dringendsten brauchen, d.h. ein Bündel richtungweisender Ideen, die die Seele unserer Praxis sind und die sie stützen, die unserem Tun einen Sinn geben und uns an sie binden.« (Durkheim 2006: 55)
Zum anderen gibt uns Weber einen wichtigen Hinweis darauf, dass Ideen soziales Handeln ermöglichen und man dementsprechend angeben sollte, welche Handlungsrelevanzen man in den Ideen erkennen kann (Lepsius 1990a: 32). Aus diesen Kommentaren der soziologischen Klassiker wird deutlich, dass sich eine Verknüpfung von elementaren Ideen und den daraus abgeleiteten Überzeugungen mit sozialen Praktiken als sinnvoll erweist. Charles Taylor, der in den Quellen des Selbst seine Vorstellung von einer ideengeschichtlichen Analyse formuliert, meint, dass Ideen in unserem Leben hauptsächlich dadurch existieren, da sie in soziale Praktiken eingebettet sind. Die Herausbildung der modernen Identität ist für ihn bedingt durch umfassende Veränderungen des Selbstverständnisses in Bezug auf ein ganzes Konglomerat an Praktiken, die den religiösen, politischen, ökonomischen, familiären, intellektuellen und künstlerischen Bereich umfassen. Hierzu gehören seiner Meinung nach »[…] die Praktiken des religiösen Gebets und Rituals, der geistlichen Disziplin, der man sich als Mitglied einer christlichen Gemeinde unterwirft, der Selbstprüfung, der man sich als ein Wiedergeborener unterzieht, der Politik der Zustimmung, des Familienlebens in der Kameradschaftsehe, der im achtzehnten Jahrhundert aufkommenden neuen Methode der Kindererziehung, der künstlerischen Schöpfung unter der Forderung nach Originalität, der Abgrenzung und Verteidigung des Privatlebens, der Märkte und Verträge, der freiwilligen
48 | D IE K ONTINUITÄT ROMANTISCHER I DEEN Vereinigungen, der Verfeinerungen und Äußerungen der Empfindungen und des Strebens nach wissenschaftlicher Erkenntnis.« (Taylor 1996: 367)19
All diese Praktiken haben in wechselseitiger Verstärkung ihren Teil dazu beigetragen, die moderne Vorstellung von unserem Selbst zu prägen und den Subjektivismus, mit seiner Aufforderung nach Selbstverwirklichung, voranzutreiben. Doch dazu waren erst einige Brüche und Diskontinuitäten im Bereich der Praktiken vonnöten. Derartige Konflikte und Spannungen bringen uns zu der Kernfrage in den Sozialwissenschaften, nämlich was soziale Veränderungen antreibt und welches Prinzip dem geschichtlichen Wandel zugrunde liegt. Eine Antwort lässt sich mit dem von Taylor skizzierten Wechselspiel zwischen Ideen und Praktiken finden, für das er drei Varianten ausmacht: Die erste ist in einer wechselseitigen Verstärkung von Idee und Praxis zu sehen. Hier wird die Richtigkeit einer Idee durch die Erfahrungen in der alltäglichen Praxis bestätigt, wodurch sich wiederum die Praxis festigt. So wird die »Alles ist eins« Idee des holistischen Pathos durch Meditationspraktiken bestätigt, wodurch sich auch diese rechtfertigen. Bei der zweiten Variante handelt es sich um die Verzerrung einer Praktik durch eine vorherrschende Idee, sodass der Eindruck einer verdorbenen Praktik besteht. So kann man der Auffassung sein, dass die Praxis des Drogenkonsums zum Zweck der spirituellen Entwicklung der falsche Weg sei. Einer solchen ›degenerierten‹ Praxis wird dann eine ›wahre‹ oder ›reine‹ Praxis gegenübergestellt. Hier haben wir es meist mit Deutungskämpfen der adäquaten Anwendung einer Idee zu tun, die beispielsweise zwischen hegemonialen Kulturen und »anti-hegemonialen Bewegungen«20 ausgefochten werden. Die dritte Spielart ist durch ein Auseinanderdriften zwischen Ideen und Praktiken charakterisiert, das daraus entsteht, weil
19 Unter Praktik versteht Taylor »beinahe jede stabile Konfiguration gemeinsamer Tätigkeiten, deren Gestalt durch ein bestimmtes Muster von Geboten und Verboten bestimmt ist […]«. Darunter fallen z.B. Zeremonien des Grüßens, wie auch Praktiken der Kindererziehung oder Religionsausübung. Taylors Kulturanalyse ist um seine Theorie sozialer Praktiken konstituiert. Praktiken sind für ihn also routinisierte Handlungsweisen, die von einem entsprechenden Hintergrundwissen begleitet sind, welches diese erst möglich machen. Das Hintergrundwissen wirkt jedoch nicht bloß latent im Hintergrund und steuert von dort aus unsere Handlungsweisen, sondern es wird eben in den sozialen ›Praktiken‹ in Form von Symbolen ausgedrückt, die weitestgehend ritualisierten Charakter haben. Zur postphänomenologischen Wende in der Kulturtheorie – vom ›Bewusstsein‹ zu den ›Praktiken‹ vgl. Reckwitz 2008: 478-522. 20 Zur Unterscheidung von hegemonialen, subhegemonialen, nicht-hegemonialen und antihegemonialen Kulturen vgl. ebd. 71f.
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sich die eine oder die andere nicht mehr adäquat erneuert hat. Ein solcher Zustand wird als Entfremdung wahrgenommen. So kann die in institutionalisierte Formen erstarrte Religiosität, wie sie durch die Kirchen vertreten wird, keine adäquaten Praktiken mehr bereithalten, welche dem spirituellen Sinnsucher ein Gefühl des holistischen Pathos vermitteln könne. Die Folge aus dieser Asymmetrie ist, dass entsprechende Praktiken verändert werden oder dass passendere Ideen die alten Ideen verdrängen (Taylor 1996: 365). Idee und Praxis sind jedoch in der Regel unentwirrbar miteinander verknüpft: »Es liegt auf der Hand, dass sich Veränderungen sozusagen in beiden Richtungen abspielen können: durch Wandlungen und Entwicklungen der Ideen abspielen, »wozu auch neue Anschauungen und Erkenntnisse gehören – so dass es im Bereich der Praktiken zu Veränderungen, Brüchen, Reformen und Revolutionen kommt; und auch durch den Zufallsgang, den Wandel, die Beschränkungen oder Aufschwünge der Praktiken, durch die es im Bereich der Ideen zu Veränderungen, zu ersprießlichen Entwicklungen oder zum Niedergang kommt. Aber selbst dies ist zu abstrakt formuliert. Es wäre besser, zu sagen, in jeder konkreten historischen Entwicklung gehe der Wandel in beide Richtungen. Das wirkliche Knäuel der Ereignisse ist mit Strängen verflochten, die in beide Richtungen laufen. Eine neue revolutionäre Interpretation ergibt sich zum Teil womöglich deshalb, weil eine Praktik – vielleicht aus Gründen, die mit diesen Ideen gar nichts zu tun haben – einer Bedrohung ausgesetzt ist. Es kann auch sein, dass eine bestimmte Interpretation der Dinge Überzeugungskraft gewinnt, weil die Entwicklung der Praktik – wieder aus Gründen, die mit der betreffenden Idee nichts zu tun haben – Fortschritte macht. Aber diese Veränderungen, die sich daraus ergeben, werden selbst wieder wichtige Konsequenzen nach sich ziehen. Das Knäuel der Ursachen lässt sich nicht entflechten.« (Ebd. 366)
Das Wechselspiel zwischen Ideen und Praktiken steht im Kontrast zu den idealistischen Positionen von Lovejoy und Bevir, wonach eine Idee/Überzeugung nur von einer Idee/Überzeugnung verändert werden könne. Eine andere populäre Erklärung für die Veränderung und Neuformulierungen politischer Paradigmen oder Ideologien wird von James Tulli (1983: 505ff.) vertreten, der mit seiner »primacy-of-war-thesis« den Krieg als treibende Kraft für Veränderungen betrachtet.21 Solchen Theorien hält Taylor entgegen, dass sich Ideologien nur durchsetzen lassen, wenn sie an eine gesellschaftliche Bedürfnisstruktur anknüpfen können. Dies ist gegeben, »wenn sie [...] das Leben und Handeln der Mit-
21 »Effectual changes in European political thought and action are the consequences of war and secondarily the outcome of the ideological response to the legitimation crises engendered by the shifting power relations that give way to battle« (Ebd. 506).
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glieder einer politischen Gemeinschaft sinnhaft zu strukturieren und zu leiten« (Rosa 1994: 219) vermögen. Ideen sind also nur durchsetzungsfähig, wenn Individuen sie in ihre moralische Landkarte integrieren können. Erst dann entfalten sie ihre handlungsleitende und sinnstiftende Funktion. Hier trifft sich Taylor mit Bevirs Kohärenzannahme, da auch er der Auffassung ist, dass Ideen in einer zumindest ansatzweise kohärenten Einheit den moralischen Landkarten von Individuen eingeschrieben sind. Wäre dies nicht der Fall, so könne weder Identität gelingen, noch Handlungsfähigkeit gewährleistet werden (Rosa 1998: 277). Die Conclusio ist also: Ideen müssen für Individuen attraktiv sein. Taylor (1996: 361) stellt sich in seiner Rekonstruktion der verschiedenen Quellen moderner Identität die Frage, worin deren Anziehungskraft besteht. Die Fragen die er demnach an eine Idee heranträgt sind: »Was hat die Leute zu ihr hinbewogen? Was finden sie an dieser Idee anziehend? Was hat ihr Kraft und Auftrieb gegeben?« Damit grenzt er sein Vorhaben von einem »ehrgeizigen« ab, das nach dem Entstehungszusammenhang der neuzeitlichen Identität fragt. Hier setzt Skinners Kritik an Taylors ideengeschichtlichem Zugang an, der die ökonomischen, militärischen, machtpolitischen und verwaltungstechnischen Faktoren des Wandels negiere (Rosa 1994: 272f). Taylor wählt jedoch gerade nicht den »ehrgeizigen« Weg. Er räumt ein, dass sich auf die Frage der Entstehung des modernen Kapitalismus oder der industriellen Revolution vermutlich auch nur schwer eine befriedigende Antwort geben ließe. Statt die Geschichte einer kausalen Genese zu verfolgen ist es gewinnbringender, sich auf die idées-forces zu konzentrieren um in Erfahrung zu bringen, worin die Kraft von Ideen eigentlich liegt. Dabei ist es auch nebensächlich, wie sie letztendlich historisch entstanden sind. Ein weniger ehrgeiziges Unternehmen, wie es von Taylor (1996: 361f.) durchgeführt wurde, widmet sich also den dominanten Selbst- und Weltinterpretationen und der Anziehungskraft dieser Ideen. Natürlich lässt sich bei dem Versuch, ein Verständnis von der Überzeugungskraft bestimmter Ideen zu gewinnen, auch etwas über ihren Entstehungszusammenhang in Erfahrung bringen (ebd. 362). Doch da Taylor diese Fragen ausklammert, müssen wir nach anderen Wegen Ausschau halten, die uns darüber Aufschluss geben, wie Ideen entstehen und wodurch man sich an sie gebunden fühlt. Wenn wir voraussetzten, dass die beiden thematisierten Elementarideen für Individuen einen Wert darstellen, dann lässt sich an dieser Stelle an die von Hans Joas formulierte Theorie von der Entstehung der Werte anknüpfen. Mit Joas (1999: 10) lässt sich damit festhalten, dass Werte in Erfahrungen der Selbst-
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bildung und der Selbsttranszendenz entstehen.22 Besonders zwei Formen von Selbsttranszendenz sind hier von Belang: jene in außeralltäglichen Situationen und, in Anlehnung an John Dewey, jene in erschütternder Intersubjektivität (ebd. 162). Als Beispiele nennt Joas religiöse Rituale und Momente der »kollektiven Efferveszenz« (Durkheim) die Konfrontation mit dem Tod, Momente der Schuld, Scham, Reue, Demut, des Mitleids wie auch der Liebe, sowie die Öffnung im Gespräch und Erleben der Natur (ebd. 256). In solchen Momenten der Selbsttranszendenz können nicht nur Ideen entstehen; die besondere emotionale Qualität – das metaphysische Pathos – überzeugt uns auch von deren Richtigkeit. Es entsteht insofern eine Bindung an eine Idee bzw. Überzeugung, als dass wir ihr einen Wert beimessen und diesen somit in unseren Wertehorizont bzw. in unser Überzeugungsnetz (Bevir) integrieren. So können uns beispielsweise besonders intensive Naturerlebnisse von der Allverbundenheit des Menschen mit dem Kosmos überzeugen, und durch Erfahrungen der romantischen Liebe kommt man zu einer Auffassung, die den individuellen Eigenschaften einer geliebten Person einen hohen Wert beimisst. Die immer wieder neu erlebbare emotionale Erfahrung liefert hier also jene Antriebskraft, die für die Integration einer Idee in einen Wertehorizont ausschlaggebend ist. Wiederum muss hier auf die historisch-lokal spezifischen Praktiken – beispielsweise jene der Naturbetrachtung, des Kunstgenusses, der religiösen Erfahrung, der Ernährungsweisen, des Drogengebrauchs und den damit einhergehenden Körpererfahrungen hingewiesen werden, welche mit den Ideen verzahnt sind und durch die Ideen auch öffentlich »ausgedrückt« werden. Was hier als Ideen im Kleide von Werten in die moralische Landkarte integriert wird nennt Taylor »starke Wertungen«. Diese sind deshalb als »stark« zu bezeichnen, da sie nicht bloß auf die Erfüllung eines Wunsches bezogen sind. Sie leiten uns wesentlich dazu an, die Dinge nach Maßstäben der Sinnhaftigkeit für den eigenen Lebensentwurf zu betrachten. Starke Wertungen bieten somit die Möglichkeit etwas als Erstrebenswert zu betrachten und anders als trivial oder sinnlos abzutun. In diesem Sinne ist eines ihrer entscheidenden Merkmale, dass sie »Unterscheidungen zwischen Richtig und Falsch, Besser und Schlechter, Höher und Niedriger« (Taylor: 1996: 17) beinhaltet. Wie wir oben anhand der Gegenüberstellung von romantischen Ideen und den Aufklärungsideen angedeutet haben, nehmen auch kollektive Akteure solche evaluativen Kontrastierungen im Lichte starker Wertsetzungen vor. Das so zu-
22 Erfahrungen der Selbsttranszendenz ermöglichen es, dass die Person sich selbst übersteigt, »im Sinne eines Herausgerissenwerdens über die Grenzen des eigenen Selbst, eines Ergriffenwerdens von etwas, das jenseits meiner selbst liegt, einer Lockerung oder Befreiung von der Fixierung auf mich selbst.« (Joas 2004a: 17).
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stande kommende Überzeugungsnetz zeigt an, welche Güter, Handlungs- oder Lebensweisen als wertvoll und erstrebenswert ausgezeichnet sind. Damit ist an starke Wertungen auch immer die Frage geknüpft, welche Art von Leben man führen möchte (Taylor 1992a: 24; Rosa 1998: 98-125). Da sie sehr eng mit der kulturellen und individuellen Identität verbunden sind23, lässt sich in der Regel selten darüber Auskunft geben, worin denn nun eigentlich unsere starken Wertungen bestünden. Gerade aber in Krisenzeiten, in denen alte Handlungsmuster und die auf sie basierenden Überzeugungen brüchig werden, rücken starke Wertungen in das Blickfeld der Reflexion. Hier stellt sich dann immer wieder von neuem die Frage nach der adäquaten Lebensführung. Die hier zu diskutierenden kulturellen Bewegungen betrachteten es als ihre Aufgabe, vor dem Hintergrund der jeweiligen Sattelzeiten, eine Antwort darauf zu geben. Mit der Verwirklichung ihrer Ideen in den jeweiligen kontextgebundenen sozialen Praktiken sahen sie sich als avantgardistische Keimzellen – als Protagonisten neuer Formen des ›guten Lebens‹. An dieser Stelle ist es mir wichtig darauf hinzuweisen, dass die angeführten Elementarideen nicht so unabhängig voneinander sind, wie das von Lovejoy vorgeschlagene methodische Vorgehen des »Isolierens« suggeriert. Betrachtet man diese nämlich in ihrer Wechselwirkung zueinander, so wird klar, dass sie in den kulturellen Bewegungen meist gemeinsam aufzufinden sind. Obwohl jede Idee für sich prinzipiell eigenständig ist, treten sie in den jeweiligen Praktiken der kulturellen Bewegungen häufig als Bündel auf. Vor allem am Beispiel der diversen spirituellen Praktiken der Bewegungen lässt sich verdeutlichen, dass diese sowohl das Ziel verfolgen, die eigene Individualität zu entwickeln, als auch das »ozeanische Gefühl« zu erleben. Mit einer begrifflichen Unterscheidung zwischen Elementarideen, den daraus abgeleiteten Überzeugungen – die in kulturellen Bewegungen die Form von Überzeugungsnetzen annehmen – und den damit verknüpften sozialen Praktiken wird man der Veränderungsdynamik von Ideen gerecht. Die Berücksichtigung der stetigen Neuinterpretation und Adaption elementarer Ideen steht nicht im Widerspruch dazu, deren Kontinuitäten ausfindig zu machen. Kontinuität ist nicht mit Permanenz zu verwechseln, denn »[k]ontinuierlich ist, was sich fortsetzt; permanent ist, was bleibt, wie und was es ist« (Dorschel 2010: 121). Das vermeintlich Gleiche – selbst wenn es mit denselben Begriffen formuliert wird – unterliegt stets der Variation, die durch den Kontext bestimmt wird. Damit ist es auch adäquater, von kontinuierlichen Problemen zu sprechen, als ihre Zeitlosig-
23 Über den Zusammenhang von starken Wertungen und dem Konzept der Identität vgl. Taylor 1992a: 36ff.
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keit zu postulieren. So wird zwar die dominierende Idee des Fortschrittsglaubens, die von einer konstanten Verbesserung der Lebensumstände und Lebensweisen seit der Aufklärung ausgeht, von allen hier erörterten kulturellen Bewegungen kritisiert. Die konkrete Ausformung des Problems, sowie die darauf antwortenden alternativen Überzeugungen und Praktiken sind indes je nach historischem Kontext anders. Für die Reformbewegung der Jahrhundertwende kann beispielsweise ein durchaus ähnliches Gefühl des Unbehagens an der Kultur festgestellt werden, wie es die Romantiker angesichts der beginnenden Frühindustrialisierung und des repressiven politischen Klimas im preußischen Ständestaat verspürten. Ein Grund, warum die Lebensreform weitere soziale Kreise zog und damit mehr Menschen mit ihren Bestrebungen erreichte, liegt darin, dass die Romantiker zwar sensibel die Veränderungsprozesse ihrer Zeit erkannten, für viele ihrer Zeitgenossen sich diese jedoch noch nicht als drängende Problemlagen herausstellten, da die meisten Menschen noch in traditionellen Zusammenhängen lebten.24 Betrachtet man die von kulturellen Bewegungen artikulierten Spannungen und Krisen in ihrer Kontinuität, lässt sich an die Praxis der »Re-Situierung« von »Schreibtexten« anknüpfen. Diese stellt für eine derart verstandene Ideengeschichte dort ein gewinnbringendes Unternehmen dar, wo sie nach den Problemen der Gegenwart fragt und mögliche Lösungen in den Texten zu finden sucht. Wilhelm Dilthey (1991: XXXV) meint hierzu, mit dem Blick auf die Zeit der Romantik: »Es gilt also den Zusammenhang ihrer Lebensergebnisse mit unseren heutigen Aufgaben herzustellen, dem Bleibenden in ihnen eine erneute Wirkung in der Gegenwart zu schaffen.« Bevor wir uns nun auf den Weg machen, die beiden skizzierten Elementarideen zu verfolgen und mit Dilthey ihre »erneute Wirkung in der Gegenwart« zu ergründen, müssen noch ein paar Bemerkungen über die Romantik gemacht werden, wo wir unsere Spurensuche beginnen.
24 In der frühindustriellen Phase arbeitete ein Großteil der Arbeiter nicht dauerhaft in der Industrie, sondern nur saisonal und in bestimmten Lebensphasen. Bei konjunkturellen Schwankungen und Wirtschaftskrisen kehrten sie wieder in ländliche Gegend zurück. Darüber hinaus bestand auch nur ein geringer Identifikationsgrad mit ihrer industriellen Arbeit, die im Vergleich zur agrarwirtschaftlichen Arbeit als minderwertig betrachtet wurde, da sie kaum Know-how voraussetzt. Erst im 19. Jahrhundert setzte die urbane Sozialisation ein und damit eine Abkoppelung vom ländlichen Raum (Füllsack 2009: 53).
Romantische Überzeugungen
2. Das Überzeugungsnetz der Romantik
In gelehrten Kreisen ist die Bezeichnung »Romantik« als Epoche heute umstritten und man ist sich uneins darüber, wie dieses Phänomen einzugrenzen ist. Manche bestreiten sogar die Existenz eines Phänomens, das man unter den Begriff ›Romantik‹ subsumieren könne. Eine klare Bestimmung würde durch das Begriffswirwarr verunmöglicht: »The word ›romantic‹ has come to mean so many things that, by itself, it means nothing.« Lovejoy (1924: 232) führt eine Reihe von geistigen Bewegungen an, die als »Romantik« bezeichnet wurden, die jedoch nichts miteinander verband. Somit wäre es besser, wenn man sich angesichts der vielen Bedeutungsvarianten des Wortes Romantik von einem Allgemeinbegriff verabschieden würde. Isaiah Berlin meint, dass sich Lovejoy in diesem Fall geirrt habe. Er verteidigt die in Zweifel gezogene Existenz einer romantischen Bewegung, denn »sie hatte etwas [...], das ihren Wesenskern ausmachte.« Er behauptet sogar, dass sie »eine weitreichende Revolution im Bewusstsein« ausgelöst habe, »weshalb es wichtig ist zu klären, worum es sich handelt.« (Berlin: Die Wurzeln der Romantik [2004]; zit. nach Rorty 2008: 145). Man kann die Romantik zeitlich fassen und sie dem späten 18. Jh. zurechnen, oder man versucht es über ihre bedeutendsten Protagonisten, wie Jean-Jacques Rousseau als vielzitierten Vater der romantischen Bewegung, oder Gottfried Herder, den Begründer einer neuen dynamischen Geschichtsauffassung. Für die erste Möglichkeit spricht, dass die meisten romantischen Schriftsteller und Denker in den Zeitraum zwischen ungefähr 1770 und 1830 fallen. So wurden August Wilhelm und Friedrich Schlegel, Friedrich von Hardenberg (Novalis), Ludwig Tieck, E.T.A Hoffmann, Friedrich Hölderlin, Heinrich von Kleist, Clemens Brentano – um nur einige zu nennen – in den 1770er-Jahren geboren; Achim von Arnim, Joseph Eichendorff in den 1780er-Jahren (Kremer 2003: 1). Die meisten von ihnen starben in sehr jungen Jahren und überlebten das Jahr 1830 nicht. Letztere Variante klingt auch nicht unplausibel, wenn man sich Rousseaus Kritik der Verdorbenheit der gegenwärtigen Zivilisation durch den Verlust der
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inneren Verbindung mit der Natur vergegenwärtigt und Herders Lebensphilosophie der »lebendigen Vernunft« betrachtet. Diese Vernunft wird mit den Attributen irrational, spontan, unbewusst, dunkel und schöpferisch bedacht und verweist damit auf die grundlegenden Charakteristika der Romantik. Zusammengenommen sind dies essentielle Ideen, die zum Programm der Romantik gehörten. Doch das Problem einer genauen Ein- und Zuordnung der Romantik soll nicht Gegenstand der Untersuchung sein und ist für dieses Thema, mit den aufgeworfenen Fragestellungen, auch nicht sonderlich relevant.1 Im Fokus wird jedoch der Zeitraum um 1800 stehen und hier besonders die progressive Frühromantik in Deutschland, wo sich die Ausprägungen der zwei zu thematisierenden Elementarideen besonders gut studieren lassen. Um das Problem einer Ein- und Zuordnung zu umgehen, und Berlins Forderung einer Klärung des Wesenskerns der Romantik gerecht zu werden, lässt sie sich als dauerhaften Geisteszustand begreifen. Dieser hat zwar in der Zeit der Romantik seinen bis dato unerreichten Kumulationspunkt erreicht, man kann ihm jedoch allerorts und zu jeder Zeit in den verschiedensten Ausprägungen begegnen. Aus diesem Grund wird es – nach dem Vorschlag von Rüdiger Safranski (2007: 12) – auch vielmehr um das Romantische gehen, das als Geisteshaltung nicht auf eine einzige Epoche beschränkt bleibt und sich entgegen vielerlei widriger Umstände in manchen Nischen bis in unsere Zeit erhalten hat. Auch Karen Gloy (2005: 111) bezeichnet in ihrer Studie zur Geschichte des ganzheitlichen Denkens mit dem Wort »Romantik« eine Geistes- und Gemütshaltung, welche unabhängig von Epochen, Kulturen und Individuen zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Lebensphasen, aber speziell im bewegten jugendlichen Gemüt auftreten kann. Dieser Zugang steht auch nicht im Gegensatz zu den oben skizzierten methodischen Überlegungen, da man vom Standpunkt einer ideengeschichtlichen Betrachtung Ideen als Geistesprodukt verstehen kann. Das Aufspüren romantischer Kontinuitäten in Form von elementaren Ideen bildet somit jene dauerhafte Geisteshaltung ab, die wir in der Lebensreform und der counter culture verfolgen werden. Werfen wir nun einen genaueren Blick auf einige der zentralen neuartigen Auffassungen, wie sie einerseits in der Aufwertung des Empfindens, andererseits in den wechselnden Einstellungen zu Liebe, Ehe und Familie zum Ausdruck kommen oder durch die Entstehung eines völlig neuartigen Kunstverständnisses bedingt waren.
1
Der Begriff »Romantik« und »Romantiker« war eine Erfindung von Novalis. Damit bezeichnete er einen Verfasser von Romanen und Märchen. Zur historischen Nachzeichnung des Begriffs »Romantik« bzw. »romantisch« in und außerhalb Deutschlands vgl. Wellek 1949: 1-33.
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2.1 D IE
ROMANTISCHE I DEE DER
E MPFINDSAMKEIT
Die Romantik wird häufig als Zeit der Empfindsamkeit bezeichnet. Der romantisch empfindsame Subjektivismus soll hier als ein bewusstes, reflektiertes Gefühl verstanden werden, welches insbesondere vor dem Hintergrund des Unbehagens am Gleichförmigen, an der Normalität und am empirisch-rationalen Weltbild der Aufklärung zu sehen ist. Lothar Pikulik (1979: 81f.) beschreibt als charakteristische Vertreter eines solchen Gefühls Menschen, »die sich – zum ersten Mal in der Geistes- und Seelengeschichte – in vollem Umfang der Tatsache bewusst sind, dass sie über die Fähigkeit spezifisch seelischen Erlebens verfügen und sich nach innen in einer Sphäre individueller ›Innerlichkeit‹ zu entfalten vermögen«. Über das aufgeklärte Geistesklima zu jener Zeit soll später noch einiges gesagt werden, doch um diese Wende nach innen nachvollziehen zu können, muss man sich über einige grundlegende Brüche im Selbstverständnis der Menschen zu jener Zeit im Klaren sein. Der aufgeklärte Rationalismus bringt es mit sich, die Sphären des Denkens und Fühlens als getrennt zu betrachten, um objektive, empirische Verbindlichkeiten zu fördern und jeglicher subjektiven Willkür den Garaus zumachen. Dagegen steht Herders Versuch »die Welt von der Seele des Menschen her zu begreifen« (Unger: Herder, Novalis und Kleist [1922]; zit. nach Pikulik 1984: 283) »Wasser allein tut’s nicht, und die liebe kalte spekulierende Vernunft wird dir deinen Willen eher lähmen, als dir Willen, Triebfedern, Gefühl geben. Wo sollte es in deine Vernunft kommen, wenn nicht durch Empfindung? würde der Kopf denken, wenn dein Herz nicht schlüge?« (Herder: Werke; zit. nach Vietta 2006: 282)
Herder sah das Denken nicht von der Gefühlsebene getrennt, denn erst eine Abspaltung mache die Vernunft zur ›kalten‹ Institution. Mit seiner Anthropologie wird er – wie wir noch sehen werden – die Romantiker entscheidend beeinflussen. Der Gefühlskult in Deutschland kann vor dem Hintergrund von Herders Kritik an der reinen Vernunftherrschaft, welche eine zur Eindimensionalität neigende Gesellschaft befördert, und den beengenden sozialen und politischen Verhältnissen gesehen werden. Zum einen zeigen sich schon in dieser Zeit die negativen Auswirkungen der Urbanisierung und die Folgen einer frühkapitalistischen, vorindustriellen Gesellschaft, und zum anderen drängen die bürgerlichen Gehäuse der Hörigkeit darauf, in Besitz genommen zu werden. Diesen bürgerlichen Idealvorstellungen des 18. Jahrhunderts liegt ein Modell des »gewöhnlichen Lebens« zugrunde, in dessen Rahmen, nach Taylor (1996: 33-37), den Vorstellungen der Produktion und Reproduktion – der Arbeit und
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der Familie – eine hohe Wertschätzung beigemessen wird. Das tätig-produktive Leben im Dienst der Familie, welches seine höchste Würde in der Arbeit findet, wurde maßgeblich durch die Ideen der Reformation eingeleitet. »Da gibt es noch eine Verbindung von Tugenden, die in jedem lebendigen heiligen Christenmenschen seltsam gemischt ist, und das ist: Eifer in weltlichen Geschäften, und dennoch Unempfänglichkeit für die Welt; ein Geheimnis, das keiner lösen kann außer denen, die sich darin auskennen. Alle Gelegenheiten ausnutzen, um etwas zu leisten, ob früh oder spät, und keine Gelegenheit verpassen; überall sein und fleißig nach Gewinn streben, dies wird er im Berufsleben emsig tun und dennoch der Welt sein Herz verschließen. […] Mag er im Beruf auch nimmermüde arbeiten, mit dem Herzen hängt er an diesen Dingen nicht.« (Cotton: The New England Mind; zit. nach ebd. 395)
In dieser besonderen Berufung des Einzelnen zur Arbeit zeigt sich jener, für die ganze neuzeitliche Entwicklung der ›Bejahung des gewöhnlichen Lebens‹ bestimmende Charakter, der nach Max Weber durch die »aktive« oder »innerweltliche Askese« geformt wurde. Grundlegend für diese Form der Askese ist die Prädestinationslehre, die dazu führt, dass man hart arbeitet, das Geld wieder investiert und den daraus entstandenen Wohlstand dann als Beweis für die eigene Erwähltheit ansieht. Nach der Prädestinationslehre ist auch jedes einzelne Lebensschicksal schon von Geburt an von Gott vorherbestimmt: »Gott hat zur Offenbarung seiner Herrlichkeit durch seinen Beschluß einige Menschen […] bestimmt (predestinated) zu ewigem Leben und andere verordnet (foreordained) zu ewigem Tode« (Westminster confession 1647; zit. nach Weber 1988: 90). Weber entdeckte nun zwei seelsorgerische Ratschläge, die – angesichts dieses rigorosen Determinismus – dem diesseitigen Leben des Einzelnen Sinn verleihen und das Problem der eigenen Erwähltheit lösen sollen. Einerseits wird es schlechthin zur Pflicht gemacht, sich für erwählt zu halten, wodurch – wie Weber es ausdrückt – »jene selbstgewissen ›Heiligen‹ gezüchtet [werden], die wir in den stahlharten puritanischen Kaufleuten jenes heroischen Zeitalters des Kapitalismus [...] wiederfinden« (Weber 1988a: 105). Andererseits verscheucht die rastlose Berufsarbeit jeden religiösen Zweifel und gibt die Sicherheit des eigenen Gnadenstandes. Auch Ernst Troeltsch (1977: 949) beschreibt treffend diese methodische Lebensführung, welche sich besonders durch innerweltliche Aktivität äußert: »[Innerweltliche Askese bedeutet] die innere Lösung des Gefühls und des Genusses von allen Gegenständen der Arbeit, die rastlose Anspannung der Arbeit auf das im Jenseits liegende und darum bis zum Tode Arbeit fordernde Ziel, die Herabsetzung aller irdischen Dinge und Güter zu bloßen Zweckmäßigkeitsmitteln, die methodische Ausbildung der Arbeit zur Unterdrückung aller zerstreuenden und träge machenden Triebe.«
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Diese Bejahung des gewöhnlichen Lebens, welche sich heute weitgehend ihrer religiösen Legitimationen entkleidet hat, ist zu einer der wichtigsten Triebfedern moderner Gesellschaften geworden. Sie speist heute die Quellen ›bürgerlicher‹ Politik genauso, wie die einflussreichsten revolutionären und gegenkulturellen Ideen – vom Marxismus bis über vielfältige andere Formen der Zivilisationsund Gesellschaftskritik. Ein erstes Aufbegehren gegen dieses »stahlharte Gehäuse« der instrumentellen Vernunft formulierten die Romantiker. Sie setzten die Empfindsamkeit gegen alles Starre, Unechte und Rationelle, jenseits des Konventionellen. Dabei wird die Geltung allgemeinverbindlicher Normen des Handelns bezweifelt und man sucht seiner Individualität Ausdruck zu verleihen, »um über dem sich immer verändernden Strom des Lebens nur das Gefühl walten zu lassen« (M. Weber 1926: 373). Johann Gottfried Herder steht als deutscher Rousseau paradigmatisch für den romantischen Subjektivismus, der die Versenkung ins eigene Ich bedeutet, sowie den Ekel, den er der bürgerlichen Welt mit seiner Berufsgeschäftigkeit und hektischen Betriebsamkeit entgegenbringt: Was nützen uns Geschäfte? An die wir unsre Kräfte Verschwenden ohne Pflicht. In uns, in uns zu wohnen, Uns durch uns selbst zu lohnen: Die Demut gibt uns Hochmut nicht! In Wolken schwinden Dünste, Nach Wolken zielen Künste, Die sich des Leeren freun; In wem sich Menschheit regt, In wem sich Kraft bewegt, Der fühlt das Glück, Er selbst zu seyn. (Herder: Sämtliche Werke; zit. nach Pikulik 1984: 243)
Die Wende nach innen enthüllt für diejenigen, welche diesen Weg beschreiten, eine gänzlich neue Welt und Seelenlandschaft. »Ich kehre in mich selbst zurück und finde eine Welt« heißt es bei Goethes Werther. Dabei handelt es sich weniger um eine narzisstische Form der Ichzentriertheit, denn blickt der Narzisst in selbstbewundernder Manier in den Spiegel und verliert sich in egoistischer
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Selbstverwirklichung, welche zu allererst ihm selbst zum Nutzen gereicht, wobei den Bereichen jenseits seiner eigenen Wünsche keine Beachtung geschenkt wird, so schaut der sich mit einem umfassenden Ganzen in Verbindung bringende Empfindsame hinter den Spiegel. »Nach innen geht der geheimnisvolle Weg«2 belehrt uns Novalis. Dieser führt uns in die tiefsten Schichten der Seele und durch die Pforten des Unbewussten – wo ein reicher Schatz an kollektiven Bildern, die Archetypen, ruht – welcher weit jenseits des Ichs liegt. Die Beschäftigung mit den Abgründen des Seelenlebens und das psychologische Interesse der Romantiker an den verdrängten Nachtseiten des Ichs ist Ausdruck dieser tiefen Zuwendung zu den verschlungenen Pfaden nach Innen. Aus dieser Richtung kommt auch Herders Kritik an Kants abstrakter Vernunft. Er setzt dieser eine ›lebendige Vernunft‹ entgegen, welche in die Sphären des Unbewussten, Irrationalen, Spontanen – also ins dunkle, schöpferische Leben vorstößt (Safranski 2007: 21). In diesem Zusammenhang steht gleichfalls die Rehabilitierung der Narrheit, welche nicht mehr als krankhafte Abweichung von der Norm, sondern als legitime Komponente der menschlichen Natur betrachtet wird. Diese Dramatisierung des Unbewussten ist auch für den später noch zur Sprache kommenden Mesmerismus zentral. Der empfindsamen Einkehr ins eigene Ich stellen sich für die Romantiker jedoch jene massiven Hemmnisse aus den Ansprüchen der bürgerlichen Welt entgegen, wie sie in der Heiligung des gewöhnlichen Lebens zutage treten. So klingt in Friedrich Schlegels Lucinde die Kritik an der vom Menschen entfremdeten Arbeit – wie die Verwerfung der Arbeit überhaupt – an, wobei auf die Gestaltung zugunsten der Privatsphäre und des Innenlebens der poetischen Subjekte gedrängt wird. Hier zeigt sich gerade jene Kluft, welche die empfindsamen Romantiker von der bürgerlichen Sphäre trennt: »Der Bürger hat Gefühle, die aus der Tätigkeit erwachsen (z.B. Arbeit führt zur Freude an der Arbeit), Tätigkeit begleiten und zur Tätigkeit antreiben. Solchermaßen an das Handeln
2
Das Fragment, das die Innenorientiertheit der Romantiker auf den Punkt bringt, heißt vollständig: »Wir träumen von Reisen durch das Weltall – Ist denn dass Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht – Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten – die Vergangenheit und die Zukunft. Die Außenwelt ist die Schattenwelt – Sie wirft ihren Schatten in das Lichtreich. Jetzt scheints uns freilich innerlich so dunkel, einsam, gestaltlos – Aber wie ganz anders wird es uns dünken – wenn diese Verfinsterung vorbei, und der Schattenkörper hinweggerückt ist – Wir werden nicht mehr genießen als je, denn unser Geist hat entbehrt.« (Novalis: Werke; zit. nach Behler 1992: 152f.)
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gebunden, werden sie unabhängig vom Handeln, als ›Ideen‹, d.h. als Stoff der Reflexion, gar nicht bewusst, so dass sie nicht werden können, was sie dem Empfindsamen sind: Objekte einer Betrachtung, aus der sich der Fühlende einen ›unabhängigen Genuss‹ bereitet.« (Pikulik: 1984: 267)
Nicht von ungefähr stimmt Friedrich Schlegel in Lucinde ([1799] 1962b: 39) ein Loblied auf den Müßiggang an: »O Müßiggang, O Müßiggang! Du bist die Lebensluft der Unschuld und der Begeisterung; dich atmen die Seligen, und selig ist, wer dich hat und hegt, du heiliges Kleinod! einziges Fragment von Gottähnlichkeit, das uns noch aus dem Paradies blieb«. Das stille Innehalten lässt Platz für Reflexion, wodurch man der eigenen Tätigkeiten, sowie jener der anderen im geschäftigen Getriebe des Alltags gewahr wird – sie zu Objekten der Betrachtung macht, um sich von ihnen lösen zu können. Insofern gewinnt der Müßiggang an Bedeutung, als er uns für Momente aus der Betriebsamkeit entführt, und uns gleichsam zwingt, sich mit uns selbst zu beschäftigen.3 »Was soll also das unbedingte Streben und Fortschreiten ohne Stillstand und Mittelpunkt? Kann dieser Sturm und Drang der unendlichen Pflanze der Menschheit, die im Stillen von selbst wächst und sich bildet, nährenden Saft oder schöne Gestaltung geben? Nichts ist es, dieses leere unruhige Treiben, als eine nordische Unart und wirkt auch nichts als Langeweile, fremde und eigne […] der Fleiß und der Nutzen sind die Todesengel mit dem feurigen Schwert, welche dem Menschen die Rückkehr ins Paradies verwehrt. Nur mit Gelas-
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Diese Form der erzwungenen Beschäftigung mit dem eigenen Selbst löst bei vielen modernen Zeitgenossen ein Gefühl der Unruhe und Langeweile aus, das sich bis zu schweren psychischen Krisen ausweiten kann, wie beispielsweise Studien zur Arbeitslosigkeit zeigen (Marienthal). Dass das Ausscheiden aus der Erwerbsarbeit nicht als Befreiung von Mühsal und Fremdbestimmung gesehen wird, wodurch sich neue Freiheitsgrade ergeben können, zeigt deutlich, welchen Stellenwert das ›gewöhnliche Leben‹ mit seiner Zentrierung auf Produktion und Reproduktion im Dienste der Nützlichkeit hat. (Über diesen Siegeszug der Arbeit als der am höchst geschätzten Tätigkeit vgl. Hanna Arendt 2008.) Fällt man aus dieser Rolle, über die ein Gutteil der individuellen Identität definiert wird, kommt dies dem Ausschluss eines Stammesangehörigen aus der ihn schützenden Gemeinschaft gleich. Hier führt der soziale Tod zum tatsächlichen physischen Tod (vgl. dazu Krolop 2003), während sich beim modernen Individuum als ›animal laborans‹ zumindest allerlei psychosomatische Krankheiten einstellen können. Daher will auch der Müßiggang gelernt sein – eine Praktik, bei der es darauf ankommt, in Muße dem Leben, abseits der instrumentellen Vernunft, einen relativ stabilen Horizont zu verleihen.
64 | D IE K ONTINUITÄT ROMANTISCHER I DEEN senheit und Sanftmut, in der heiligen Stille der echten Passivität kann man sich an sein ganzes Ich erinnern, und die Welt und das Leben anschauen.« (Schlegel 1962b: 26f.)
Doch in einer Zeit der Beschleunigung und der rigiden sozialen und politischen Verhältnisse droht auch jenes letzte »Fragment von Gottähnlichkeit« zu verblassen. Dieses Gefühl verstärkt den Rückzug in die Innerlichkeit, wo Bedürfnisse wie Individualität, Spontanität und Sinnlichkeit nach Erfüllung drängen. Norbert Elias hat in seiner Studie zum Prozess der Zivilisation gezeigt, dass dieser auch eine Zügelung der Affekte und des gesamten Triebhaushalts mit sich bringt. Die Zwänge, welche Menschen aufeinander ausüben, bewirken eine Dämpfung und kontinuierliche Zurückhaltung der eigenen Trieb- und Affektäußerungen, welche sich nun nicht mehr direkt und spontan äußern können. Aus dieser eigentümlichen Spannung und Störung des Trieblebens der Individuen entwickeln sich verschiedene Kompensationsbedürfnisse – wie etwa der Rückzug in die Innerlichkeit und in die Tiefen der Phantasie.4 Die Empfindsamkeit ist also vor dem Hintergrund eines aufgezwungenen bürgerlichen Affekthaushalts und einer dominierenden Stellung der instrumentellen Vernunft in jenem aufgeklärtem Zeitalter zu sehen. Aus diesem Druck der Zwänge suchten die Romantiker in Vorstellungswelten von Lebensweisen der Menschen in früheren Zeiten auszubrechen, »von denen man fühlte, dass sie noch freier, einfacher, natürlicher, kurzum weniger bedrückt von den Zwängen, unter denen man selbst leidet, zu leben vermochten« (Elias 2003: 381). Dadurch erklärt sich auch die empfindsame Hinwendung zur Natur und zum einfachen ländlichen Leben, die mit den Bildern von Freiheit und Ungebundenheit belegt sind. Als Kontrast dazu steht vor allem die immer rasanter werdende Urbanisierung, welche die Straffung der wechselseitigen Abhängigkeiten und die daraus folgenden Zwänge, die Menschen aufeinander ausüben, fördert. Georg Simmel beschreibt in seinem Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben (1903) hundert Jahre später den Gegensatz von urbanem und ländlichem Leben. Er gibt damit eine treffende Beschreibung der sich wandelnden psychologischen Gepräge der Menschen im urbanen Milieu. Reizüberflutung, Anonymität und daraus folgende Entfremdung von der äußeren wie auch der inneren Natur spiegeln zwar die einsetzenden Metropolenerfahrungen um das beginnende 20. Jahrhundert wieder, wurden jedoch schon um die besagte (erste) »Sattelzeit« virulent. Aus diesem Grund zeigen sich Simmels Analysen auch für jenen nun einsetzenden Urbanisierungsprozess besonders treffend, den die Romantiker in vielen ihrer Werke thematisieren. Artikuliert werden hier die span-
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Zu den diversen Zivilisationskonflikten vgl. Elias 2007b: (Bd. 2.) 343-347.
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nungsreichen Facetten des Großstadtlebens, denn indem die Großstadt psychologische Bedingungen schafft, die durch beschleunigte und in ihrer Schrillheit sich aufdrängende Eindrücke zu einer »Steigerung des Nervenlebens« führen, »stiftet sie schon in den sinnlichen Fundamenten des Seelenlebens […] einen tiefen Gegensatz gegen die Kleinstadt und das Landleben, mit dem langsamen, gewohnten, gleichmäßiger fließenden Rhythmus ihres sinnlichen Lebensbildes« (Simmel [1903] 2006a: 11). Sind die Menschen am Land durch gefühlsmäßige Beziehungen miteinander verbunden, so setzt sich für Simmel die typisch moderne Einstellung aus einer gewissen Reserviertheit, Kälte und Gleichgültigkeit zusammen, welche, wie er hinzufügt, stets Gefahr läuft, in Hass umzuschlagen. In E.T.A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels schildert ein Jäger dem Helden die Vorzüge einer natürlichen Lebensweise auf dem Land, die er mit einem als entfremdet wahrgenommenen Stadtleben kontrastiert und bringt damit die romantische Geisteshaltung auf dem Punkt: »... ein rechtschaffener frommer Jägersmann führt ein gar lustig herrlich Leben, denn es ist ihm ja wohl noch etwas von der alten schönen Freiheit geblieben, wie die Menschen so recht in der Natur lebten und von all dem Geschwänzel und Geziere nichts wussten, womit sie sich in ihren gemauerten Kerkern quälen, so dass sie auch ganz entfremdet sind all den herrlichen Dingen, die Gott um sie gestellt hat, damit sie sich daran erbauen und ergötzen sollen, wie es sonst die Freien taten, die mit der ganzen Natur in Liebe und Freundschaft lebten, wie man es in den alten Geschichten lieset.« (Hoffmann: [1815/16] 2002: 124f.)
Stadt und Land werden so für die Romantiker – und wie wir noch sehen werden auch für die romantisch inspirierten Nachfolgebewegungen – zu zwei sich gegenüberstehenden Lebenskonzepten. Der städtische Lebensstil zeichnet sich durch rege Betriebsamkeit und durch eine auf Spezialisierung und Arbeitsteilung drängende Ordnung aus. Diese Ordnung »verlangt vom Einzelnen eine immer einseitigere Leistung, deren höchste Steigerung seine Persönlichkeit als ganze oft genug verkümmern lässt« (Simmel 2006a: 39)5. Es ist kein Wunder, dass der »unruhige Tumult« einer sich zerstreuenden städtischen Gesellschaft auch keine Zeit mehr lässt zum »stillen Sammeln des Gemüts, zum aufmerksamen Betrachten der inneren Welt« (Novalis: [1799] 2005b: 324). und deshalb Gift für jede emp-
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Simmel meint, dass das Individuum aufgrund der gesellschaftlichen Arbeitsteilung in eine Teilexistenz hineingepresst wird, die dem Drang nach einer ganzheitlichen Ausbildung völlig widerspricht (Simmel 1912: 85). Auch Norbert Elias (2007: 24) spricht von einer »kaum überbrückbaren Kluft« zwischen den persönlichen Bedürfnissen oder Neigungen und den gesellschaftlichen Anforderungen.
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findsame Seele ist. Vorherrschend wird das Gefühl der Entfremdung, denn das Individuum sieht sich herabgedrückt »zu einem Staubkorn gegenüber einer ungeheuren Organisation von Dingen und Mächten, die ihm alle Fortschritte, Geistigkeiten, Werte allmählich aus der Hand spielen und sie aus der Form des subjektiven Lebens in die eines rein objektiven Lebens überführen« (Simmel 2006a: 40). Auch in der englischen Romantik findet dieses Gefühl ihr Pendant im Denken und poetischen Schaffen von William Blake, der die durch das Anwachsen der städtischen Bevölkerung aufkommenden Spannungen und ihr, aus dem Verlust einer tragfähigen Ordnung resultierendes, verändertes Gepräge feinfühlig registrierte. Wenn ich durch die Straßen geh, Wo grau die Themse fließt im Trüben, Sind in jed’ Antlitz, das ich seh, Nur Weh und Schwäche eingeschrieben. (Blake 2000: 101)
In seinem Gedicht Expostulations and Reply schildert William Wordsworth – ein weiterer Vertreter der englischen Romantik – einen Zustand der Zweckfreiheit, der sich durch »wise passiveness« auszeichnet. Diese Haltung einer tagträumerischen Abstinenz vom forschenden Intellekt und von tradierten Buchweisheiten, fern einer von Nützlichkeitserwägungen geprägten Alltags- und Bildungswelt, erscheint ihm als Ideal. Konsequenterweise wendet sich Wordsworth auch von der betriebsamen Gesellschaft ab und dem einfachen Landbewohner zu, weil er hier noch »elementary feelings« in Form von spontaner Subjektivität vorfindet, die nicht, wie beim Stadtmenschen, durch einen Zwangsapparat in Zaum gehalten werden müssen. Der von ihm verwendete Begriff »restrain« – ein allgemein etablierter Begriff der mimetischen Ästhetik – meint eben jene Form der internalisierten Selbstkontrolle, welche durch gesellschaftliche Instanzen im Geiste der Vernunft erzwungen werden (Peper 1998: 1222). Das Landleben und das Leben in der Natur entsprechen also der romantischen Wertschätzung für das Stille und Sanfte, das Gedämpfte und Besinnliche, welche typisch sind für die Empfindsamkeit. Ahnherr des Zeitalters der Empfindsamkeit und der Auffassung von der Natur als Quelle eines reinen und unverfälschten Lebensstroms war Jean-Jacques Rousseau. Rousseaus Vorstellung von einer grundsätzlich guten Natur und einer Menschheit, die mit dieser in harmonischer Eintracht lebt, hat die romantische Geisteshaltung bis in unsere Zeit geprägt. Der zufolge fallen die große Erbsünde und der Niedergang der Menschheit mit der Entfremdung von der Natur zusam-
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men. Die einfühlsame Verbindung mit der Natur soll uns mit Schuberts ([1808] 2005: 74f.) Worten helfen, »den alten Bund des Menschen mit der Natur [zu] bewahren«, denn »damals hat nicht der Geist des Menschen die Natur, sondern diese den Geist des Menschen lebendig erfasst«. Doch die Dominanz einer verderbten Kultur zieht uns immer unaufhaltsamer in eine Richtung, wo wir den Kontakt zur inneren Stimme – die Rousseau mit der Natur vergleicht – verlieren. »Diesen Verlust erleiden wir, weil wir uns nicht mehr auf uns selbst und [unsere] inneren Regungen verlassen, sondern auf andere und das, was sie von uns halten, von uns erwarten, an uns bewundern oder verachten, an uns belohnen oder bestrafen. Durch das in der Gesellschaft zwischen uns geknüpfte dichte Gewebe der Meinungen werden wir von der Natur getrennt, zu der wir nun keine Verbindung mehr herstellen können.« (Taylor: 1996: 623)
Es wundert nicht, dass Rousseau dem Fortschrittsglauben der Aufklärungsnaturalisten, die davon ausgingen, man könne alle Übel des Menschen beseitigen, bringe man nur erst das Licht der Vernunft und Gelehrsamkeit in die Welt, äußerst skeptisch gegenüberstand. Im Gegenteil – gerade das Fortschreiten einer kalkulierenden Vernunft erstickt das Gewissen und ist das erste Anzeichen der ganzen menschlichen Misere. Dabei wird Rousseaus Aufruf »Zurück zur Natur« oft als Rückfall in ein primitives Zeitalter vor jeglicher Kultur gedeutet. Taylor weist hier auf das schon oben skizzierte Phänomen der Kompensation, in Verbindung mit einem aufgezwungenen bürgerlichen Affekthaushalt, und der Herrschaft der Vernunft hin. So deutet er eine Wiederherstellung der Beziehung mit der Natur bei Rousseau eher als anzustrebende Flucht vor der kalkulierenden Fremdbestimmung (ebd. 625).6 Gelingt diese Flucht, soll Vernunft und Natur oder Kultur und Gesellschaft miteinander versöhnt werden. Rousseaus Philosophie soll hier nicht als Primitivismus verstanden werden. Im Gegenteil – mit seiner Bejahung einer schlichten Lebensweise zeigt er uns einen Weg aus einer Zivilisation, die von steigenden Bedürfnissen und wachsender Konsumwut dominiert ist. In unserer Abhängigkeit von Anderen und von deren Meinungen vermehren sich unsere Bedürfnisse, die uns wiederum abhängig machen. Dieser Kreislauf wurde in der modernen gesellschaftskritischen Literatur, allen voran bei Herbert Marcuse ([1964] 2005) oder Theodor W. Adorno und Max Horkheimer (1947) – wo die tiefen Traditionen der romantischen Abwehr der Industriegesellschaft weiterleben – mit den Metaphern des »falschen Bewusstseins«,
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Über die Idealisierung der Natur bei Rousseau vor dem Hintergrund der Entwicklung eines spezifischen Zwangsapparats vgl. Elias 2003: 381f.
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der »instrumentellen Vernunft« bedacht oder als eine zur Eindimensionalität neigende Gesellschaft beschrieben. Wie wir noch sehen werden, wird die romantische counter culture der sechziger Jahre sich ihres Vokabulars bedienen, um die repressiven Verhältnisse ihrer »Sattelzeit« zu beschreiben (vgl. Kap. 4). Bei Rousseau (Emile [1762]; zit. nach Taylor 1996: 626) ist wahre Freiheit nur in der Genügsamkeit zu finden: »Oh, Mensch! Lebe dein Leben in dir selbst, und du wirst nicht mehr unglücklich sein. […] Deine Freiheit, deine Macht reichen nicht weiter als deine natürlichen Kräfte; alles übrige ist Sklaverei, Illusion, Blendwerk«. Für die Rückkehr zur Natur ist also ein genügsames Entbehren überschüssiger Bedürfnisse vonnöten. Voraussetzung dafür ist aber eine Wendung nach innen, um die eigenen Empfindungen und Neigungen zu Rate zu ziehen. Nun können wir auch sehen, was Rousseaus Denken für den neuzeitlichen Subjektivismus bedeutet: Es kommt zu einer enormen Aufwertung der inneren Stimme als autonome Instanz der Selbstbestimmung. Das Glück des Menschen besteht letzten Endes darin, in Übereinstimmung mit der Stimme der Natur – also mit seinem Inneren – zu leben und »ganz und gar man selbst zu sein« (Taylor: 1996: 630). Für diese Rettung aus der Fremdbestimmung, durch eine Wiederherstellung und engere Verknüpfung der authentischen moralischen Verbindung zu uns selbst, hat Rousseau sogar einen eigenen Namen gefunden. Er spricht vom »Gefühl des Daseins« (le sentiment des l’existence), das von Taylor (1995: 36f.) in Zusammenhang mit dem Begriff »Freiheit durch Selbstbestimmung« gebracht wird. Gemeint ist hier jene uns allseits vertraute Freiheit, die auf Eigenständigkeit beruht und gegen den Einfluss von außen besteht. Diese Freiheit durch Selbstbestimmung fordert den Ausbruch aus der Umklammerung aller Konventionen, Traditionen und wie auch immer gelagerten Autoritäten, um Entscheidungen aus dem Selbst, aus der inneren Stimme heraus zu treffen. Rousseaus Theorie der Selbsterkundung kann als Ausgangspunkt zu einer Kultur der Innerlichkeit gesehen werden, die von den Romantikern eifrig rezipiert und weiterentwickelt wurde und so bis in unsere Zeit hin wirksam ist. Es ist aus dem bisher Gesagten hervorgegangen, dass der Empfindsamkeit ein von der übrigen Welt sich absonderndes Ich zugrunde liegt, welches mit dem Gefühl eines auf Einzigartigkeit beruhenden Innerlichkeitserlebnisses ausgestattet ist – von Werther und Rousseau lernte man ja ›sich selbst zu fühlen‹. Den poetisch gestimmten Subjekten tritt jedoch eine kalte Lebenswelt entgegen, die als berechnender Mechanismus, als Räderwerk, als Öde und Leere empfunden wird. Die Entfernung von diesen Zwängen, die sich besonders im schrillen Getümmel des Stadtlebens mit seiner unsteten Betriebsamkeit verdichten, und der Rückzug aufs Land mit der Suche nach Einsamkeit und Naturerfahrungen sind Strategien einem ›echten‹ Leben zu folgen. Es zeigt sich hier eine immer wieder
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zu beobachtende Form des geistigen Rückzugs in die inneren Tiefen, in eine Festung der Innerlichkeit, in der man sich selbst verbarrikadiert, um die Belagerungen von allen Furcht einflößenden Umbrüchen des Lebens heil zu überstehen.7 Aber hier wie dort geht es so ganz ohne Gesellschaft nicht und deshalb drängt es den Empfindsamen zu engen Liebes- und Freundschaftsbeziehungen – eine nachvollziehbare Entwicklung, die sich aus der Diskrepanz zwischen einem hochgetriebenen Individualismus und dem Bedürfnis nach einer Nahwelt speist (Luhmann: 2004: 18). Auf sich selbst zurückgeworfen zu sein kann eben leicht zum Gefühl der Verlorenheit und Unsicherheit gegenüber einer anonymen Masse führen, weshalb man seinen Platz innerhalb stabiler Gemeinschaften sucht. Simmel (2006b: 802) meint dazu, dass »der Einzelne sich gegen die Gesamtheit nicht zu retten [vermag]; nur indem er einen Teil seines absoluten Ich an ein paar andre aufgibt, sich mit ihnen zusammenschließt, kann er noch das Gefühl der Individualität, und zwar ohne übertriebenes Abschließen, ohne Bitterkeit und Absonderlichkeit, wahren.« Den Mangel an gesellschaftlichem Austausch musste Friedrich Hölderlin am eigenen Leibe verspüren, wo sich eben durch jenes übertriebene Abschließen von der Außenwelt die Absonderlichkeit in seinem Tübinger Turm zur Geisteskrankheit steigerte, und man ihn Ludwig Tiecks ([1795/96] 1999: 10) Worte sagen hört: »Einsam sitz’ ich hier, wie ein Elender, der aus einem goldenen Traume in seiner engen Hütte erwacht.« Zum einen ist hier also die empfindsame Freundschaft von Bedeutung, die von den Romantikern religiös aufgeladen wird. Das religiöse Gefühl dient ihnen als Brücke vom Ich zum Du, wobei Novalis’ Heinrich von Ofterdingen (1977b: 288) fragt: »Was ist die Religion, als ein unendliches Einverständnis, eine ewige Vereinigung liebender Herzen?«8 Dies ist aber nicht die einzige Form der Verge-
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Vor diesem Hintergrund ist auch die pietistische Bewegung, die ein Teil des Luthertums war und in der letztlich auch die Romantik ihre Wurzeln hatte, zu verstehen. Der Pietismus, der im 18. Jh. seinen Höhepunkt ereichte, verstand sich als innerliche, tief empfundene Beziehung zu Christus. Der ganze Formalismus des Luthertums war ihm nebensächlich, wenn nur die von Jakob Böhme inspirierte Tradition einer inneren Begegnung von Seele und Gott gewahrt bleibe. Deshalb wurde der Pietismus auch ›Religion des Herzens‹ genannt und durch seine ablehnende Haltung gegenüber Äußerlichkeiten kam es zur Zentrierung auf das Innenleben (Berlin 2004: 79f; Taylor: 1983 24ff.)
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Die religiöse Konnotation der gefühlvollen Freundschaft kommt bei Novalis auch insofern zur Geltung, da er ein »Evangelium der Zukunft« zu schreiben plante und sich zu diesem Zweck mit Tieck, Schlegel und Schleiermacher zu einem Bund der vier Evangelisten vereinigen wollte (Hofmann 1974: 130).
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sellschaftung außerhalb traditioneller Bindungen, denn das 18. Jahrhundert ist, so Friedrich Tenbruck (1964: 297), voll von »Gründungen von Gesellschaften, Logen, Orden, Vereinen, Bruderschaften, Sekten, Konventikeln, mehr oder weniger geheimen Bünden, mehr oder weniger organisierten Bünden.« Prägend für die deutsche Geistesgeschichte jener Zeit war der Jenaer Kreis der Frühromantiker. Ausgangspunkt für diese romantische Gruppierung war die Freundschaft zwischen Friedrich Schiller und Friedrich von Hardenberg (Novalis). Um 1800 gehörten dieser Vereinigung neben den beiden Genannten in unterschiedlicher Intensität die Gebrüder Schlegel, Johann Gottlieb Fichte, Ludwig Tieck, Friedrich Schelling, Friedrich Schleiermacher und die beiden Naturwissenschaftler und spekulativen Naturphilosophen Wilhelm Ritter und Heinrich Steffens an. In dieser, gemeinhin als progressive Frühromantik bezeichneten Zeit, entstanden gänzlich andere Konzepte zur Stellung der Frau in der Gesellschaft, der Geselligkeit, sowie veränderte Vorstellungen von Liebe und Partnerschaft. In Bezug auf die Geschichte der Frauenemanzipation war vor allem das Ende des 18. Jahrhunderts bezeichnend, da sich hier die Fälle, in denen Frauen versuchten, entgegen der gesellschaftlich sanktionierten Rollenverteilung der Geschlechter, ihre je eigenen Vorstellungen von Lebensentwürfen umzusetzen, zu häufen begannen. Für die Neudefinition der Frauenrolle und für die Reflexion über Erotik im geselligen Austausch war es von großer Bedeutung, dass dem Jenaer Kreis zwei intellektuelle Frauen angehörten, welche dieser Gruppe einen etwas libertinären und skandalösen Anstrich gaben. Dorothea Veit – Tochter von Moses Mendelssohn – hatte sich von ihrem Mann mit ihren zwei Kindern getrennt, um in einer zunächst illegitimen Verbindung mit Friedrich Schlegel zu leben. Schlegels 1799 publizierter Roman Lucinde (1962b) erregte die Gemüter der Zeit, da das in diesem Roman recht freizügige Konzept der romantischen Liebe vom Publikum mit dem Leben des Autors mit Dorothea in Verbindung gebracht wurde. Mindestens ebenso skandalumwittert war das Leben von Caroline Böhme, der zweiten Frau im Bunde. 1793 wurde sie wegen ›revolutionärer Umtriebe‹ inhaftiert, aber noch im selben Jahr unter der Fürsprache von August W. Schlegel freigelassen. Caroline – in die auch Friedrich Schlegel verliebt war, der aber auf sie verzichtete, weil er meinte die Rechte des älteren Bruders respektieren zu müssen – heiratete vier Jahre später August Wilhelm. Doch die Jenaer Geselligkeit brachte es mit sich, dass diese Ehe nicht lange halten sollte, denn am Höhepunkt jener Vereinigung wechselte sie zu Schelling über (Safran-
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ski 2007: 84f.).9 Der Lebenswandel dieser beiden klugen Frauen kann als paradigmatisch für ein verändertes Frauen- und Geschlechterbild gesehen werden, oder wie Detlef Kremer (2003: 29) meint: »Beide Frauen sind in ihrer geistigen wie erotischen Selbständigkeit beispielhaft für die auf gleichberechtigte Partnerschaft und wechselseitige Ergänzung der Geschlechter angelegte romantische Liebe.«
Dass sich die Romantiker nicht nur auf den Rückzug in die Innerlichkeit beschränkten, zeigen diese Formen der Zusammenkünfte. Hier sollte die Idee der »progressiven Universalpoesie«10, die in der Literatur zur Auflösung starrer Gattungsgrenzen und zur ganzheitlichen Vereinigung von Heterogenem und Gegensätzlichem führt, ins Leben getragen werden. Ein Raum der herrschaftsfreien Kommunikation war geschaffen, wo traditionelle Geschlechterrollen der Überund Unterordnung zum Verschwinden gebracht wurden, und der sich geradezu als polemisches Gegenmodell zur patriarchalischen Kleinfamilie konstituierte. Diese im Jenaer Kreis praktizierte Geselligkeit enthielt ihre theoretische Begründung in Friedrich Schleiermachers fragmentarischem Entwurf über den Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799). Das Konzept einer »durch keinen äußeren Zweck gebundenen und bestimmten« (zit. nach Seibert 1993: 316) Geselligkeit wurde als ganzheitlicher Gegenentwurf zu einer fragmentierten und in vielerlei Hinsicht defizitären Alltagswelt entwickelt. In seiner Theorie ist Schleiermacher offensichtlich von Friedrich Schiller beeinflusst, der nur wenige Jahre zuvor sein Werk Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795) fertig stellte. Hier wird eine Gesellschaft gezeichnet, in der die Menschen erst durch das zweckfreie Spiel der Kunst zu sich selbst finden, und dadurch auf ein freieres Leben zusteuern. Wie Schiller – und die übrigen Romantiker – vertritt auch Schleiermacher den Standpunkt, dass die Ganzheit des Menschen durch die Dominanz einer von Nützlichkeitserwägungen beherrschten Vernunft gefährdet sei und beide sehen in der alles vereinnahmenden Heiligung der Arbeit ein Grundübel, für das sich in Zerrüttung befindliche Gemeinwesen.
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Einen guten Einblick in Leben und Umfeld der Protagonistinnen der Romantik liefert die Biographie von Roßbeck (2008): Zum Trotz glücklich. Caroline Schlegel-Schelling und die romantische Lebenskunst.
10 Zum Ausdruck »progressive Universalpoesie« und des ihm zugrundeliegenden ganzheitlichen Kunstkonzeptes vgl. Schlegel (1997/98) 2005b: 78f. – sowie Kap. 2.3 in dieser Arbeit.
72 | D IE K ONTINUITÄT ROMANTISCHER I DEEN »Wer nur zwischen den Sorgen des Häuslichen [sic] und den Geschäften des bürgerlichen Lebens hin und her geworfen wird, nähert sich, je treuer er diesen Weg wiederholt, nur um desto langsamer dem höheren Ziele des menschlichen Daseins. Der Beruf bannt die Tätigkeit des Geistes in einem engen Kreis: wie edel und achtenswert er auch sei, immer hält er Wirkung auf die Welt und Beschauung der Welt auf einem Standpunkt fest, und so bringt der höchste und verwickeltste wie der einfachste und niedrigste, Einseitigkeit und Beschränkung hervor. Das häusliche Leben setzt uns nur mit Wenigen, und immer mit denselben in Berührung: Auch die höchsten Forderungen der Sittlichkeit in diesem Kreise werden einem aufmerksamen Gemüt bald geläufig, und seine Ausbeute an mannigfaltigen Anschauungen der Menschheit und ihres Tuns wird mit jedem Tage um so geringer, je rechtlicher alles hergeht, und je mehr die sittliche Ökonomie vervollkommnet ist.« (zit. nach Seibert 1993: 315)
Nach Schleiermacher bedarf es einer Sphäre, die nicht von den äußeren Zwecken und Funktionen des bürgerlichen Lebens – der Familie und dem Beruf – aufgefressen wird. Um den Menschen in seiner ganzheitlichen Seinsweise zu berühren, und dadurch die Vielfalt seiner Anlagen zur Ausbildung zu bringen, ist also ein unvoreingenommener gesellschaftlicher Raum vonnöten, der gleichsam als Experimentierfeld für neue Formen des Austausches Bedeutung erlangt. Die Bereiche der Häuslichkeit und der Berufswelt hinter sich lassend, soll hier dem Individuum durch den Kontakt mit Anderen eine »Aussicht in eine andere und fremde Welt« gewährt werden, »so dass alle Erscheinungen der Menschen ihm nach und nach bekannt, und auch die fremdesten Gemüter und Verhältnisse ihm befreundet und gleichsam nachbarlich werden« (ebd. 316). Die Empfindsamkeit – zurückgezogen aus den unwirtlichen äußeren gesellschaftlichen Verhältnissen, in die Wärme kleiner, überschaubarer Gruppierungen –, kommt hier auch in ihrer Bedeutung des Einfühlens in »fremde Gemüter« zum Tragen. Dadurch wird das Fremde sich zu Eigen gemacht, was auch eine Auseinandersetzung mit dem individuellen Innenleben mit sich bringt. Die Geschichte neuzeitlicher Subjektivität kristallisiert sich so gleichsam in der Metapher des Spiegels, zu dem der Andere oder das Fremde wird. Um die Erfahrungen eines Menschen zugänglich zu machen, bedarf es der Handlungen Anderer, in denen man sich spiegelt und erkennt, da das Gegenwärtige ja nur mittelbar und nie unmittelbar erfahren werden kann. So ist Selbstbewusstsein nach Friedrich Hölderlin nur dadurch möglich, »dass ich mich mir selbst entgegensetze, mich von mir selbst trenne, aber ungeachtet dieser Trennung mich im Entgegengesetzten als Dasselbe erkenne« (Frank 1993: 464). Das Bewusstsein, dass ich es im Anderen tatsächlich nicht mit Anderen, sondern mit mir selbst zu tun habe, ist Kern jedes Subjektgefühls. Es tritt in den Blick, sobald das Subjekt der Vorstellung statt eines anderen sich
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selbst vorstellt. Thomas Luckmann (1991: 83) nennt diese Art von Erfahrungen »Mittlere Transzendenzen« und Schlegel begründet diese Notwendigkeit auf dem Pfad zur modernen Subjektwerdung: »Darum geht der Mensch, sicher sich selbst immer wieder zu finden, immer von neuem aus sich heraus, um die Ergänzung seines innersten Wesens in der Tiefe eines Fremden zu suchen und zu finden.« (Schlegel 1968: 286)
Selbsterkenntnis und das Einfühlen in die individuelle Welt des Anderen stehen so in einer dialektischen Beziehung, denn wie Novalis ([1798] 1977a: 425) bemerkt wird man »ohne vollendetes Selbstverständniß […] nie andere wahrhaft verstehn lernen«. Die Vermittlung zwischen dem Ich als empirische Erscheinung in Raum und Zeit und einem »transzendentalen Ich«, das jenen Wesenskern umschließt, der es ermöglicht in Freiheit zu entscheiden und zu handeln, liegt bei Novalis im Selbst und im Fremdverstehen. Auch hier zeigen sich die Romantiker erstaunlich modern, da die Aufforderung sein Selbst in den Blickwinkel zu bekommen, um somit zu verstehen, wie andere einen sehen, eine recht komplexe Form der Introspektion voraussetzt, zu der uns vor allem die Populärpsychologie in ihren verschiedenen Erscheinungsformen anhält. Unzählige Ratgeber, die behaupten, uns mit den für das Berufsund Privatleben unerlässlich gewordenen ›sozialen Kompetenzen‹ als wichtiges symbolisches Kapital auszustatten, empfehlen die eigene Innenschau, damit wir das Selbstbild mit dem Fremdbild vergleichen können. Die Empfindsamkeit in Form der Empathie – das Vermögen also, sich in die Sichtweise und Bedürfnislage des Anderen einzufühlen und sich mit seinen Gefühlen zu identifizieren – scheint in unserer postmodernen Gesellschaft für den Erfolg bei der Arbeit sowie im Privaten durchwegs unumgänglich zu sein. Diese Art der Empfindsamkeit, die mit einer Form des ökonomischen Kalküls ausgestattet ist11 und so im Begriff der instrumentellen Vernunft aufgeht, unterscheidet sich zweifelsohne von der romantischen, welche sich gerade durch ihre Antipathie gegen das Diktat aller Nützlichkeitserwägungen auszeichnet und jeden Kontakt mit der Sphäre instrumenteller Aktivität zu vermeiden sucht. Aus dem bisher Gesagten soll also deutlich werden, dass der Spiegel Momente der Selbstanschauung, der Selbstvergewisserung und Selbstkontrolle verbildlicht, aus denen sich das moderne Subjekt überhaupt erst hervorbringt – oder
11 Eva Illouz ( 2007: 51fff.) beschreibt anhand von psychologischen Tests und Ratschlägen zur individuellen Lebensführung, dass selbst in den intimen Bereichen des Privatlebens Emotionen in mess- und kalkulierbare Gegenstände verwandelt werden.
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anders gesagt, das Subjekt ist radikal reflexiv geworden, worauf die von den Romantikern vielfältig verwendeten Spiegelmetaphern hinweisen. Der geselligen Kommunikation, der Schleiermacher den Vorzug gibt, fällt hier eben eine entscheidende Bedeutung zu, da es ja um eine Subjektkonstitution geht, »die nicht allein als Selbstbildung sich vollziehen kann«, also in Form eines ›Stehenbleibens und Nachdenkens‹ als Grundlage einer kleinen Transzendenz12, sondern »... des geselligen Kreises bedarf und damit nur als Ergebnis eines Interaktionszusammenhangs zu denken ist, der die einzelnen Positionen in ihren Geltungsansprüchen wechselseitig so asymmetrisiert, dass sich für die Kommunikationssituation ein perfektibler, da nicht endender Austausch ergibt. Die persönlichen Besonderheiten arrangieren sich in mündlicher Rede, im Austausch der Stimmen, zu einem Diskursniveau, das als Allgemeines den Subjekten zur Verfügung steht, das sie ›bildet‹, gerade weil eine vorschnell festgestellte Komplementarität der Meinungen vermieden wird.« (Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte; zit. nach Kremer 2003: 30)
In diesem Sinne erlaubte, ja erwartete man bei den frühromantischen Zusammentreffen, deren Ort der Salon war, eine Selbstdarstellung des Individuums. Das gesellige Individuum, im Alltag darauf bedacht, seine Eigenarten und Besonderheiten angesichts einer konventionalisierten bürgerlichen Gesellschaft, welche Abweichungen von der Norm streng sanktionierte, zu verbergen, konnte sich nun im freien Spiel geselliger Kommunikation mit anderen zwanglos bewegen. Das gesellige Leben kann dann – Schleiermachers (Versuch einer Theorie des geselligen Betragens; zit. nach Seibert 1993: 317) Intention zufolge – als Kunstwerk realisiert werden, denn mit diesem hat die »Kunst im engeren Sinne gemein, dass sie Darstellung des Individuellen ist«. Hier spinnen die Romantiker das Authentizitätsideal, das durch Rousseau in Gang gebracht wurde, weiter. Die Idee Herders, welche paradigmatisch für die Autoren seiner Zeit steht, meint, dass jeder von uns eine unverwechselbare Weise des Menschseins hat, der es Ausdruck zu verleihen gilt. Folgt man diesem Gedanken, so ist der Einzelne dazu aufgefordert, sein Leben treu, gemäß seiner eigenen Vorstellungen zu führen, ohne das irgendeiner anderen Person nachzuahmen. Mit dieser Entwicklung der individuellen Verschiedenheit kommt also auch der Anspruch ins Spiel, wonach wir den Menschen zubilligen, ihre Persönlichkeit nach eigenem Gutdünken zu
12 Luckmann (1991: 82) meint: »Wie der Ausdruck »Stehenbleiben und Nachdenken« andeutet, setzten solche Akte voraus, dass sich der einzelne von der Gegenwärtigkeit und Unmittelbarkeit ablaufender Erfahrungen ablösen und sich [...] vergangenen oder vorentworfenen Erfahrungen zuwenden kann.«
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entfalten (Taylor 1983: 29ff.; 1995: 57). Die elementare Idee vom »authentischen Selbst«, welche auf unsere moderne Identität einen nachhaltigen Eindruck ausgeübt hat, wird uns in den romantischen Praktiken immer wieder begegnen – besonders im Bereich der Kunst, wo sie zu grundlegend veränderten Anschauungen im Kunstverständnis, wie auch im Bild vom Künstler geführt hat. Doch um noch einmal auf die romantische Geselligkeit zurückzukommen – diese bot vor allem eine Form des Experimentierens mit individuellen Ausdrucksmöglichkeiten. Hier konnte man der eigenen Originalität treu bleiben und sie artikulieren, wodurch man gleichsam auch sein Selbst definierte. Dieses ›Sich-seiner-Besonderheiten-bewusst-Werden‹ bildet den eigentlichen Hintergrund des modernen Authentizitätsideals mit seinen Zielen der ›Selbsterfüllung‹ und ›Selbstverwirklichung‹, wodurch Vorstellungen von der »›eigenen Aufgabe‹, der man sich widmen wolle, oder von der ›eigenen Erfüllung‹, die man finden wolle, ihren Sinn [erhalten]« (Taylor 1995: 39). Darüber hinaus scheinen romantische Zusammenkünfte als von der Zweckrationalität befreite Nischen, in denen sich Menschen geborgen fühlen, auch heute noch eine zumindest ideelle Anziehungskraft zu haben. In seiner Studie über die Wir-Ich-Balance weist Norbert Elias darauf hin, dass Menschen – besonders in der jüngeren Zeit – an einer spezifischen »Wirlosigkeit« leiden. Er macht diese Beobachtung an modernen literarischen Beispielen fest, wo die Träger des Menschenbilds der »wirlosen Iche« in einem ständigen Konflikt »zwischen dem Verlangen nach Gefühlsbeziehungen zu anderen Menschen und dem eigenen Unvermögen, diesem Verlangen Genüge zu tun« stehen. Die Helden dieser Erzählungen sind vereinsamt, »weil ein persönliches Leiden sie an der Möglichkeit genuiner Empfindungen für andere Menschen, genuiner Gefühlsbindungen an andere Menschen hindert«. Da der Grundtenor vieler moderner Erzählungen ähnlich ist und scheinbar bei uns auf große Resonanz stößt, schließt Elias (2007a: 268f.), »dass es sich hier nicht nur um ein vereinzeltes, individuelles Problem, sondern um ein HabitusProblem, um einen Grundzug der sozialen Persönlichkeitsstruktur von Menschen der neueren Zeit handelt«. Aus dem Umstand eines generellen Rückgangs an Gemeinschaftlichkeit erklärt sich also die Sehnsucht nach kleinen, überschaubaren, lokalen Gruppierungen nach romantischem Vorbild, wo »eine ausgewogenere Wir-Ich-Balance zur Vorherrschaft zu kommen vermag«13. Um wieder ins 18. Jahrhundert zurückzukehren – ausgehend vom Jenaer Zirkel der Frühromantiker entwickelte sich eine Reihe ähnlicher Zusammenkünfte,
13 So wird in der Fachliteratur zur Attraktivität alternativ religiösen Engagements als wesentlicher Grund, die individuelle Sehnsucht nach Gemeinschaft und persönlicher Nähe hervorgehoben (Stenger 1993, Gärtner 2000, Tripold 2005).
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die diese Praxis der Geselligkeit übernahmen. Diese von Frauen geführten Salons, bezogen auch Randgruppen mit ein und verhalfen diesen zu einer Stimme. Besonders der von Rahel Levin geführte Salon in Berlin wurde zum weithin bekannten Treffpunkt bedeutender Persönlichkeiten. Hier versammelten sich die Brüder Humboldt, die Brüder Schlegel, Hegel, Brentano und Schleiermacher zu Gesprächen über literarische, philosophische und politische Themen. Auch dieser Salon fungierte als sozialer Ort, an dem eine freie Geselligkeit Normzwänge, Standesschranken sowie Barrieren der Geschlechts- und Religionszugehörigkeit neutralisierte. »Es war eine punktuelle Symbiose von Individualität, jüdischer und nichtjüdischer Menschen, und es gelang darüber hinaus für einen historischen Augenblick die Ebenbürtigkeit und Gleichrangigkeit der Geschlechter. Die Faszination dieser Symbiose ist doppelt: Judenemanzipation und Frauenemanzipation gehen eine Verbindung ein, wie sie in dieser Art nie mehr herstellbar war.« (Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte; zit. nach Kremer 2003: 31)
Die Beschäftigung mit dem Anderen durch das Einfühlen in fremde Seelen im zweckfreien Raum dieser betont liberalen Geselligkeit und die Entdeckung individueller Besonderheiten, führt gerade auch dazu, dass man sich seiner Potenziale bewusst wird, sodass diese eine enorme Ausdifferenzierung erfahren. Sind diese Potenziale im Innersten erst einmal entdeckt, streben sie unabdingbar nach Verwirklichung. Wird den Menschen jedoch die Erfüllung der Summe an individuellen Bestrebungen von einer zur Einseitigkeit neigenden gesellschaftlichen Ordnung, die aufgrund der Aufspaltung ihrer Sphären von jedem nur einen Teil herauszieht und den Rest verkümmern lässt, verwehrt, suchen sie ihre Bedürfnisse im engen Kreis des Privaten und Vertrauten auszuleben. Diese Aufwertung des Privaten ergibt sich also gerade aus einem gesellschaftlichen Differenzierungsprozess, wie er sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts in wichtigen gesellschaftlichen Bereichen konstituierte und bis heute fortdauert. Der Bedarf nach einer noch verständlichen, vertrauten, heimischen Nahwelt – als letzte noch übriggebliebene Sphäre, von der man sich noch Stabilität und Sicherheit erwartet – wird vor diesem Hintergrund der immer komplexer und undurchschaubarer werdenden »Weltmöglichkeiten«, wie dies Niklas Luhmann (2004: 17) nennt, verständlich. Aus zivilisationstheoretischer Perspektive sei, nach Elias (2007a: 49), die besondere Wertschätzung des Rückzugs in die Privatheit durch eine zunehmend umfassendere Zurückhaltung von Affekten im Laufe des Zivilisationsprozesses bedingt, wodurch man gedrängt wird »eine Fülle von Verrichtungen, von Triebäußerungen und Wünschen in private, dem Blick der ›Außenwelt‹ entzoge-
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ne Enklaven der Heimlichkeit zu verlegen oder gar in den Keller des eigenen Seelenhaushalts, in das Halb- und Unterbewusste«. Die Aufwertung des privaten Raumes darf nicht mit der Exklusion politischer Belange aus diesem Bereich missverstanden werden. Gerade der Salon ist ein gutes Beispiel für Debatten, die eine Bandbreite an literarischen, sozialen und politischen Fragen abgedeckt haben. Somit kann der literarische Salon als Beispiel dafür gelten, dass die Sphäre der Öffentlichkeit aus dem Bereich des Privaten hervorgegangen ist (Ritter 2008:42). Resümierend bleibt festzuhalten, dass sich um das 18. Jahrhundert die Anzeichen dafür verdichten, dass in intimen Beziehungen – wie bei dem oben geschilderten geselligen Austausch – den einzigartigen Eigenschaften der Person oder prinzipiell allen Eigenschaften einer individuellen Persönlichkeit, Bedeutung beigemessen wird, wodurch diese auch eine soziale Bestätigung erfahren und folglich legitimiert werden. So auch im Bereich der Liebe, Familie und Partnerschaft.
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2.2 D IE VON
ROMANTISCHEN I DEEN
L IEBE , E HE
UND
G ESELLIGKEIT »Die Liebe ist der Endzweck der Weltgeschichte – Das Amen des Universums.« NOVALIS »Dies ist das Geheimnis der Liebe, daß sie solches verbindet, deren jedes für sich seyn könnte und doch nicht ist, und nicht seyn kann ohne das andere.« FRIEDRICH WILHELM SCHELLING AUS: WERKE
Das wohl kühnste Romanexperiment der Romantik, welches wegen seiner chaotischen Struktur eher an Erzählformen des 20. Jahrhunderts denken lässt, wagte Friedrich Schlegel mit seiner – hier schon erwähnten – Lucinde, eine Art Lady Chatterley des 18. Jahrhunderts. Das Buch war ein erotischer Roman, der einerseits unverhüllt verschiedene Liebespraktiken beschrieb, andererseits aber romantische Predigten über die Notwendigkeit der Freiheit und des Selbstausdrucks, angesichts einer immer länger werdenden Kette falscher Konventionen beinhaltete. Die Ungeheuerlichkeit aus der Sicht der damaligen Leser bestand vorwiegend darin, dass Lucinde ein Sinnlichkeit und Geistigkeit zur Verbindung bringendes Liebesverhältnis darstellt, welches nicht nur auf die Heiligung durch den Ehering verzichtet, ja obendrein überhaupt gegen die konventionelle Ehe polemisch Stellung bezieht (Schwering 1994: 535). Hierin vereinte sich dann auch die Lebensauffassung der Romantiker. Um die entrüstenden Reaktionen auf dieses »obszöne Machwerk«, wie es in der Literaturkritik schimpflich bezeichnet wurde, nachvollziehen zu können, ist es notwendig einen Blick auf die überbrachten Vorstellungen von Liebe, Ehe und Familie des ausgehenden 18. Jahrhunderts zu werfen. Vornehmlich waren diese zutiefst von Auffassungen des Protestantismus und Calvinismus geprägt. Luther hatte eine eher nüchterne Einstellung zur Ehe, hielt er doch die innere seelische Zusammengehörigkeit der Paare für nicht besonders wesentlich für ein Ehebündnis. Noch radikaler waren die streng puritanistischen Ansichten, die auf Vernunft gegründet, jegliche sinnlichen Neigungen vollständig unterdrückten. Ausschlaggebend für ein gutes Zusammenleben zwischen Mann und Frau war die Ausbildung einer freundschaftlichen Beziehung im Dienste Gottes. Erforderlich ist, dass, »[…] wer eine Frau hat, sie nicht als
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Selbstzweck betrachtet, sondern so, dass sie beide sich besser zum Dienst an Gott eigenen und Gott näher kommen« (Morgan: The Puritan Family; zit. nach Taylor 1996: 401). Demgemäß ist auch eine Zügelung unserer Zuneigung vonnöten. Derartige Vorstellungen, welche die Sinnlichkeit verteufelten und die Ehe allein auf Liebe im Sinne von Freundschaft gründeten, wirkten im 18. Jahrhundert von England bis nach Deutschland. Charles Taylor zeigt, dass hier besonders Platons Auffassung vom »guten Leben« eine einflussreiche Wirkung hatte. Dieses gründet auf Selbstbeherrschung, die in der Überwindung der Begierde durch Vernunft besteht. Dominierend wurde diese Weltsicht zur Zeit der Aufklärung, denn hier hat sie maßgeblich dazu beigetragen, das Ideal des »desengagierten Subjekts« zu befeuern, das nicht nur die Außenwelt, sondern auch die eigene Innenwelt, mit ihren Gefühlen und Neigungen, in kühler Distanz zu objektivieren sucht, wodurch ›vernünftiges‹ Handeln möglich sein soll. Radikalisiert hat diese Geisteshaltung der uns später noch begegnende cartesianische Dualismus, welcher der Aufklärung ihr ideelles Fundament bereitete. Vernunft wird hier nun als instrumentelle Leistungsfähigkeit, als Maximierung angestrebter Werte, im Sinne einer Kosten-Nutzenkalkulation bestimmt (Taylor: 1996: 47). Für die bürgerliche Familie heißt dies beispielsweise eine mehr oder minder genaue Berechnung zur Bestimmung der Zahl der Kinder, die notwendig erzeugt werden müssen, um den planmäßig sozialen Aufstieg zu gewährleisten, und, damit einhergehend, die Kinder vernünftig, also nach ökonomischen und schichtstrategischen Gründen zu verheiraten (Boudet 1992: 399f.).14 Das Verfügen über die ökonomischen Ressourcen sichert dem Mann nun auch die dominierende Autorität gegenüber seiner Frau und den Kindern zu. Wenn also auch Liebe für eine Ehe eher nebensächlich war – bestenfalls stellt sich eine tiefere Gefühlsbindung im Laufe der Zeit ein – so setzt das Gelingen einer solchen die völlige Identifizierung der Frau mit den Aufgaben und Zielen des Mannes voraus. Um also eine harmonische Ehe zu garantieren wurde die Erziehung der Frau, die Ausbildung ihrer intellektuellen und psychischen Fähigkeiten systematisch vernachlässigt. Zahlreiche Stützen für die Verfestigung patriarchaler Strukturen kommen von Philosophen und Schriftstellern der Zeit. Johann Gottlieb Fichte soll hier exemplarisch erwähnt werden, da ihn die Romantiker wegen seiner einseitigen Auffassungen heftig kritisierten. Fichte (Werke [1845]; zit. nach Kluckhohn 1922: 329) forderte unbedingte Hingabe des Weibes, das, indem es sich so zum Mittel
14 Vor allem dort, wo Familien Träger von Kapital sind, ist die Sorge um dessen Erhaltung und Vermehrung bei einer Planung der Ehe vorherrschend, sodass eine Eheschließung oftmals den alleinigen Zweck der Verbindung zweier Kapitalien hat und nicht zweier liebender Menschen.
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für den Zweck des Mannes macht seine Persönlichkeit aufzugeben habe. Diese »unbegrenzteste Unterwerfung unter den Willen des Mannes«15 solle aus Liebe geschehen. Dem Gedanken der Assimilierung der weiblichen Identität in der Ehe liegt die aus der Antike stammende Vorstellung der Frau als passives Wesen zugrunde.16 Durch die Metapher des ›Ackers‹, den der Mann sowohl sexuell als auch geistig erst ›bepflügt‹ und ›besät‹, wird dem ungleichen Geschlechterverhältnis Ausdruck verliehen. Die Frau wird so in den Bereich der Natur verwiesen, während der Mann sich der Sphäre der Kultur zugehörig fühlt und aus dieser Konstellation seine Vormachtstellung legitimiert. Waren also im 18. Jahrhundert Schriften populär, welche die Bestimmung der Frau auf den häuslichen Bereich beschränkten und – da sie ja »nicht zum eigentlichen selbständigen Wesen geschaffen sei« (Brandes: Betrachtungen über das weibliche Geschlecht und dessen Ausbildung in dem geselligen Leben [1802]; zit. nach Kluckhohn 1922: 309) – ihr Hauptbestreben darin sah, ihrem Manne zu gefallen, so beschworen die Romantiker ein gänzlich neues Frauenideal. Die mit den bürgerlichen Idealvorstellungen verbundene Herrschsucht des Mannes, bei gleichzeitiger Hingabe des Weibes, stieß bei Friedrich Schlegel auf Verachtung: »Unbedingte Hingebung und gänzliches Anschmiegen an den allein selbständigen Mann als den eigentlichen Vorzug des Geschlechts. Man versteht darunter nichts anderes als absolute Charakterlosigkeit […]. Aber eben der herrschsüchtige Ungestüm des Mannes und die selbstlose Hingegebenheit des Weibes ist schon übertrieben und hässlich. Nur selbständige Weiblichkeit, nur sanfte Männlichkeit, ist gut und schön.« (Schlegel, F.: Sämtliche Werke [1822]; zit. nach Kluckhohn 1922: 351)
15 Über das patriarchalische Eheideal und seine Legitimierung durch die Aufklärung siehe auch Sieder 2004: 171f. 16 Nach Aristoteles war der Mann »im Besitz des Prinzips der Bewegung und Entstehung, die Frau im Besitz des Prinzips der Materie«. Der Arzt Hippokrates ging von der unterschiedlichen Körperwärme als Resultat von Männlichkeit und Weiblichkeit aus. Demnach ist dem Heißen das Aktive, Starke, Männliche zugeordnet, und dem Kalten das Passive, Schwache, Weibliche. Diese medizinische Skala legitimierte also Formen der Über- und Unterordnung in der Antike. An der Spitze stand der freie Bürger Athens, dessen Körper von feurigen Debatten erglühte, und am Ende die Frauen und Sklaven, die wegen ihrer Physiognomie bzw. ihrer Spracharmut als geistig unbeweglich und kalt bezeichnet wurden (Sennett 2004: 51-66).
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Schlegel und die Frühromantiker glaubten an eine ursprüngliche Form der Androgynität – den noch nicht in Mann und Frau getrennten Menschen. Um den Antagonismus zwischen Mann und Frau zu überwinden, bedarf es einer Auflösung der starren Geschlechterrollen und letztendlich einer Synthese im höheren Menschen. Der Mensch sei mehr als ein Geschlechtswesen und seine Individualität ist das Ursprünglichste und Heiligste an ihm. Durch diese Ideen erfährt die Individualität der Frauen eine Aufwertung, da das Einbeziehen weiblicher Identität mit ihren bisher ausgeklammerten Anteilen, eine Erweiterung der Persönlichkeit bewirkt. Auch Friedrich Schleiermacher betont, dass eine Überbewertung des Geschlechts, mit den an sie geknüpften festgefahrenen Attribuierungen, die Entwicklung von weiblicher Identität behindert. Deshalb soll die Frau auch nicht »Haustier, nicht Gesellschaftsdame oder Spieltier« sein, sondern »durch die Macht des Willens und der Bildung sich dem Unendlichen nähern, aus den Fesseln der Missbildung sich erlösen, um zu sein und zu werden« – oder anders ausgedrückt – »immer mehr zu werden, was ich bin« (Schleiermacher: Idee zu einem Katechismus der Vernunft für edle Frauen [1800]; zit. nach ebd. 453).17 In Bezug auf weibliche romantische Individualitätsvorstellungen lässt sich resümierend festhalten, dass sich die Frau über den Horizont des ›gewöhnlichen Lebens‹, der darin besteht, nur in ihrem Geliebten und in ihren Kindern aufzugehen, erheben müsse, um ihre eigenen Ideen tätig zu leben. In dieser Beziehung übten die Lebensweisen der oben zum Teil schon erwähnten Caroline SchlegelSchelling, Dorothea Veit, Sophie Mereau, Karoline von Günderode, Rahel Levin-Varnhagen, Bettine von Arnim u.a. – die ohne Rücksicht auf bürgerliche Moral und Konvention sich selbst zu leben versuchten – großen Eindruck auf das romantische Frauenbild aus. Das neue weibliche Selbstbewusstsein speiste sich vor allem daraus, dass Frauen mittels Aneignung umfassender Bildung neue Selbständigkeit erlangten. Diese äußerte sich nicht nur in der schon beschriebenen, von Frauen dominierten Salonkultur der Zeit, sondern auch in ihrem literarischen und philosophischen Wirken. So ist Caroline Schlegel-Schelling, von Novalis als Magna Marta ihrer epochalen ›Geisterfamilie‹ erklärt (Roßbeck 2008: 167), aus der Philosophiegeschichte kaum wegzudenken, da sie Schellings Geist maßgeblich beeinflusste. Nicht nur die Shakespeare-Übersetzungen wurden mit ihrem zweiten Mann, A.W. Schlegel, in Teamarbeit erledigt, auch dut-
17 Schleiermachers Bekenntnis – »Ich glaube an die unendliche Menschheit, die da war, ehe sie die Hülle der Männlichkeit und der Weiblichkeit annahm« – trifft sich mit Schlegels Auffassungen des Übergeordnetseins schlechtsdifferenzierungen (ebd. 434).
der Menschheit über die Ge-
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zende Literaturbesprechungen stammten nachweislich aus ihrer Feder.18 Schelling schrieb nach ihrem Tod: »[…] wäre sie mir nicht gewesen, was sie war, ich müsste als Mensch sie beweinen, trauern, dass dies Meisterstück der Geister nicht mehr ist«19. Auch auf Friedrich Schlegel hatte Caroline eine starke Wirkung, die sich in vielen seiner Werke niederschlägt. Er bezeichnete sie als »selbständige Diotima«20 und meint: »Die Überlegenheit ihres Verstandes über den meinen habe ich sehr früh gefühlt« (Roßbeck 2008: 112). Überhaupt fasziniert bei Betrachtung der Lebensentwürfe frühromantischer Frauen die geistigintellektuelle Symbiose zwischen den Geschlechtern, welche großes emanzipatorisches Potential in sich barg.21 Die schon besprochene Salonkultur trug auch das ihre dazu bei, bot sie doch auch den Frauen persönliche Selbstverwirklichung und dadurch die Möglichkeit einer sozialen Befreiung. Diese Umstände machten es möglich, dass Frauen ein gesteigertes Verlangen nach erfüllenden Erlebnissen entwickelten, wodurch sich vor allem ein anderer Zugang zur Liebe eröffnete. Dass die Liebe in bürgerlichen Kreisen kein vorrangiges Motiv bei Verehelichung zweier Menschen war, und die Frau sich in dieser Beziehung strikt dem Manne unterzuordnen hatte, ist schon gesagt worden. Liebe war streng in der schichtmäßigen Gesellschaftsdifferenzierung verankert, und dementsprechend galten angemessene Standeszugehörigkeit und ökonomische Kriterien als nahezu
18 Wenn es auch Rahel Levin-Varnhagen ganz selbstverständlich fand, wenn Frauen ihre Werke veröffentlichen (»Wenn Fichtes Werke Frau Fichte geschrieben hätte, wären sie schlechter?«), so war es trotz Emanzipationsbestrebungen noch nicht die Regel, dass Frauen unter ihrem eigenen Namen publizieren konnten. A.W. Schlegel rang sich beispielsweise erst 1828 (19 Jahre nach Carolines Tod!) anlässlich des Erscheinens der ›Kritischen Schriften‹ das Geständnis ab, dass nicht alle Werke aus seiner Feder stammen, sondern zum Teil von seiner geistreichen Frau verfasst wurden, »welche alle Talente besaß, um als Schriftstellerin zu glänzen, deren Ehrgeiz aber nicht darauf gerichtet war.« Das letzteres bezweifelt werden darf, lässt sich aus der von Roßbeck erarbeiteten Biographie über Caroline erschließen (ebd. 144f.). 19 Und weiter: »dieses seltene Weib von männlicher Seelengröße, von dem schärfsten Geist, mit der Weichheit des weiblichsten zartesten liebevollsten Herzens vereinigt. O, etwas derart kommt nie wieder!« (Schellings Leben in Briefen; zit. nach Kluckhohn: 1922: 349) 20 Der Name Diotima wurde zum Sinnbild einer vollkommenen Frauengestalt, die mit ungewöhnlicher Bildung glänzt. Man bedachte damit beispielsweise die Fürstin Gallitzin, und auch Hölderlin gab seiner Angebeteten Susanne Gontard diesen Namen. 21 Für eine ausführliche Beschäftigung mit frühemanzipatorischen Bestrebungen aus moderner Perspektive vgl. Lühe 1999: 48-60.
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unerlässliche Voraussetzungen für Liebe. Sie ließen sich jedenfalls nur mit viel Mühe durch Tugend, aber weniger durch die individuelle Einzigartigkeit persönlicher Eigenschaften kompensieren. So kann man stellvertretend für viele Leidensgenossinnen dieser Zeit die zwangsverheiratete Göttingerin Frederike Boldinger zu Wort kommen lassen, die, mit Blick auf ihr trostloses Eheleben, resümiert, welch Unglück es ist, » […] dass man seinen Leib für Essen und Trinken an einen Mann verkauft, den man nicht lieben kann« (Roßbeck 2008: 44). Wurde mit Liebe Selbstentfremdung und Verlust der eigenen Identität assoziiert, so tritt nun in der Romantik ein neues Liebesideal auf den Plan. Niklas Luhmann weist darauf hin, dass das ganze 18. Jahrhundert von dem Bestreben erfüllt war, den Code für Intimität von Liebe auf ›innige Freundschaft‹ umzustellen (Luhmann 2004: 102f.).22 Dieses Bemühen fand nicht nur in der puritanischen Kameradschaftsehe seinen Ausdruck, sondern wurde auch von den Romantikern vorangetrieben. Jedoch in einem umfassenderen Zusammenhang: Die Sinnlichkeit wurde nicht geleugnet oder unterdrückt, sondern mit dem Geistigen ›veredelt‹. Friedrich Schlegel vertrat den Standpunkt, dass in allen Gefühlsbeziehungen sinnliche Empfindungen mitschwingen. Dementsprechend glaubte er auch nicht an eine ›reine Freundschaftsbeziehung‹ zwischen den Geschlechtern, denn »[…] etwas recht Albernes ist es, wenn so zwei Personen von verschiedenem Geschlecht sich ein Verhältnis ausbilden und einbilden, wie reine Freundschaft« (Schlegel 1962b: 33). Ebenso achtete er die Sanktionierung der Liebe durch einen ehelichen Vertrag gering und sprach sich für die freie Liebe aus, die er als heilig erklärte. Das hohe Liebesideal der Romantiker brachte es mit sich, bürgerliche Vorstellungen, die in dieser Beziehung eher von instrumentellen Vernunftgründen geleitete wurden, verächtlich zu betrachten und polemisch zu kritisieren. »Fast alle Ehen sind nur Konkubinate, Ehen an der linken Hand, oder vielmehr provisorische Versuche, und entfernte Annäherungen zu einer wirklichen Ehe [...].« (Schlegel [1997/98] 1962a: 170)
22 Luhmanns These der Veränderung und Verbreitung des Codes ›Liebe‹ durch die Romanliteratur lässt sich am Beispiel des Bildes eines mittelalterlichen Ritters veranschaulichen. Dieser hatte sich ständig durch Bestehen von Gefahren, also durch Heldentaten gegenüber seiner Liebsten zu bewähren (sog. Aventiure) – wie die Dichtung Erec und Enide von Chrétien de Troyes zeigt, wo sich der Held ›verliegt‹ und Enide ihn, auf seinen Stand und die damit verbundenen Pflichten hinweisend, zu Taten auffordert. Im 17. Jh. verlagert sich diese Art der Bewährung dann in die Verbalformen der Galanterie.
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Diese »provisorischen Versuche« sollten auch nicht mit Gewalt zusammengehalten werden, weswegen auf eine Erleichterung der Scheidung plädiert wird. »Wenn aber der Staat gar die mißglückten Eheversuche mit Gewalt zusammenhalten will, so hindert er dadurch die Möglichkeit der Ehe selbst, die durch neue, vielleicht glücklichere Versuche befördert werden könnte.« (ebd.)
Schlegel redet hier keineswegs der Libertinage das Wort und bezeichnet die Wollust insbesondere deshalb als »das heiligste Wunder der Natur«23, um sich von der Prüderie gewöhnlicher Lebensverhältnisse abzuheben. Schien ihm jedoch die auf Freundschaft beruhende Liebe schon als zu einseitig, so trifft dies auch auf die ausschließlich in sinnlichem Genuss aufgehende Liebe zu. »Das Erste in der Liebe ist der Sinn füreinander, und das Höchste, der Glauben aneinander. Hingebung ist der Ausdruck des Glaubens, und Genuß kann den Sinn beleben und schärfen, wenn auch nicht hervorbringen, wie die gemeine Meinung ist. Darum kann die Sinnlichkeit schlechte Menschen auf eine kurze Zeit täuschen, als könnten sie sich lieben.« (Schlegel 1962a: 178)
Die ideale Liebe sieht Schlegel in der »wunderbaren Gleichheit« zweier Seelen verwirklicht, wobei nicht allein sinnliche Empfindungen, noch ausschließlich geistige Hingabe in ihr aufgehen sollen, sondern beide zu einer Synthese gebracht werden. Der frühromantische Jenaer Kreis wurde ja eine Zeitlang als eine ›Familie‹ im Kontrast zu einer traditionellen Familie gelebt und trugen schon diese Zusammenkünfte dazu bei, die Individualität des Einzelnen zu stärken, so solle dies noch viel mehr in der Ehe geschehen. Demgemäß ging man mit der bestimmenden Vorstellung, dass in der idealen Ehe die beiden Partner ihre Zusammengehörigkeit durch Eins-Werdung dokumentieren zu haben, hart ins Gericht. Eine Auflösung des Individuums solle in jeder Hinsicht vermieden werden, denn »nur in der Antwort seines Du kann jedes Ich seine unendliche Einheit ganz fühlen«, wie Schlegel (1962b: 54) meint, und in den Lehrjahren der Männlichkeit heißt es: »Sie waren ganz hingegeben und eins und doch war jeder ganz er selbst, mehr als sie es noch je gewesen waren, und jede Äußerung war voll vom tiefsten Gefühl und eigensten Wesen.« Solch progressive Vorstellungen
23 »Die Wollust wird in der einsamen Umarmung der Liebenden wieder, was sie im großen Ganzen ist – das heiligste Wunder der Natur; und was für andre nur etwas ist, dessen sie sich mit Recht schämen müssen, wird für uns wieder, was es an und für sich ist, das reine Feuer der edelsten Lebenskraft.« (Schlegel 1962b: 67)
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wirkten natürlich in einer Zeit, in der vor allem Frauen einen großen Identitätsverlust zu beklagen hatten, und sich deshalb auch viele Ehen durch die geforderte Unterwerfung des weiblichen Geschlechts verengten, provokant. Schlegel hat nicht nur die Institution Ehe scharf angegriffen, sondern auch die von Staat und Kirche ausgehende Entindividualisierung. In seiner Polemik gegen die erotischen Hindernisse und repressiven Konventionen der bürgerlichen Welt stimmt er mit seinem Zeitgenossen Charles Fourier überein, der meinte: »Wie konnte sich ein Jahrhundert, das so zu Experimentieren jeder Art geneigt ist und kühn genug war, Thron und Altar zu erschüttern, in der Liebe so knechtisch den Vorurteilen beugen, die anzugreifen nur Gutes gebracht hätte? Warum hat man nicht hier die Freiheit erprobt, die man so sehr mißbraucht hat? Alles lädt dazu ein, ihre Wirkung auf die Liebe zu prüfen, da das Glück der Männer der Freiheit entspricht, die die Frauen genießen.« (Fourier: Der Frühsozialismus; zit. nach Kaltenbrunner 1979: 148)
In dieser Kritik gegen Selbstaufgabe und Unterwerfung fand Schlegel in Friedrich Schleiermacher einen treuen Weggefährten. Schleiermachers Grundgedanke, der seine ganze Philosophie entscheidend bestimmte und der auch oben in den Stellungnahmen zur geistigen Emanzipation der Frau nachvollziehbar wurde, ist das »Principium individuationis« – sprich: »dass jeder Mensch auf eigen Art die Menschheit darstellen soll« (Schleiermacher: Monologen; zit. nach Kluckhohn 1922: 426). Wie ihm Religion – wie wir noch sehen werden – geistiges Anschauen des Universums und das damit einhergehende Gefühl des holistischen Pathos ist, so bedeutet Liebe für ihn Anschauung der Individualität, also Erfassen der Eigentümlichkeiten eines anderen Menschen. Das Höchste in der Liebe ist ihm das vollständige Sichhineinversetzen in den Anderen, um sich den individuellen Wesenskern des Partners anzueignen. Diese Form der expressiven Liebe zielt auf eine Betonung der Besonderheiten jener Welt ab, in der man sich mit dem Geliebten – und mit keinem Menschen sonst – einig weiß. Sie ist also ganz auf die Individualität einer Person abgestellt und ereignet sich in einer miteinander geteilten einzigartigen Sphäre des gemeinsamen Geschmacks, der besprochenen Themen und bewerteten Ereignisse. Mit der Chiffrierung von Liebe als ›Verstehen‹, kommt nun also die Forderung auf, sich dem anderen einfühlend zu nähern – eine grundsätzliche Bedingung für eine partnerschaftliche Eheauffassung (Luhmann 2004: 28f.).24
24 Nicht zuletzt die bis ins 17. Jh. geläufige Psychologie der ›humores‹ bot wenig Raum für Personenentwicklung, da gleich hinter diesen grob geformten psychologischen Begrifflichkeiten das Dunkel der Triebe und Affekte lag. Deshalb dominierte Maß
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Über jenes Band der Ehe, in der der Partner bloß zur nützlichen Sache gemacht wird, heißt es bei Schleiermacher: »Ein Geheimniß bleibt ihnen was die thun, wenn sie es knüpfen; Jeder hat und macht sich seinen Willen nach wie vor, abwechselnd herrscht der Eine und der Andere, und traurig rechnet in der Stille Jeder, ob der Gewinn wohl aufwiegt was er an baarer Freiheit gekostet hat; des Einen Schicksal wird der Andere endlich, und im Anschaun der kalten Notwendigkeit erlischt der Liebe Gluth.« (Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe; zit. nach Stockinger 1999: 72)
Nicht länger soll also ein zu erwartender Nutzen zum Handeln auffordern, um dessentwillen Schleiermacher die Zweckehen verurteilt, in denen er keine Liebe erkennen kann, weil sie mit ihren Opfer- und Unterwerfungsvorstellungen die Anerkennung und Ausbildung hin zum ganzen Individuum verhindern. Aus diesem Grund tritt auch er für eine Erleichterung von Scheidungen ein und sah wechselnde Partnerschaften als Experimentierfeld für die Liebe, bevor man sich die ewige Treue schwört. »Auch in der Liebe muss es vorläufige Versuche geben, aus denen nichts Bleibendes entsteht, von denen aber jeder etwas beiträgt, um das Gefühl bestimmter und die Aussicht auf die Liebe größer und herrlicher zu machen […]. Hier Treue fordern und ein fortdauerndes Verhältnis stiften wollen, ist eine ebenso schädliche als leere Einbildung.« (Schleiermacher: Monologen; zit. nach Kluckhohn 1922: 445f.)
Es ist also allemal besser sich aus Verbindungen zu befreien, die aus äußeren Rücksichten geschlossen wurden – also nur »der Form und nicht dem Geiste nach Ehen sind« – als »das schönste Band der Menschheit so entheiligt zu sehen« (ebd. 430). Eine »romantische« und demnach auch einzig »wahre Ehe« soll eine »mit Liebe anfangende, auf Liebe gegründete Ehe« (ebd. 431) sein, die auf dem romantischen Geist des Individualisationsprinzips beruht. Mit den Romantikern kam es – zumindest kurzzeitig und punktuell – zu einer Neubewertung der Frau und ihrer Rolle in der Gesellschaft. Diese soll ihre Individualität entfalten können und sich dem Mann nicht bis zur Selbstaufgabe unterwerfen, da so niemals eine zweckfreie romantische Liebe entstehen könne. Mit Schlegel und Schleiermacher – die beiden erwähnten bedeutenden Vertre-
und Zurückhaltung im Eindringen in allzu Persönliches, das allen sozialen Beziehungen auferlegt wurde. Auch in der Liebe lag der Gedanke fern, dass deren Einfluss die Entwicklung einer individuellen Persönlichkeit befördern könnte (ebd. 125).
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tern jener Anschauung – bleibt als einflussreiche Errungenschaft die Einheit von körperlichem und seelischem Liebesleben, das seine Erfüllung im Zeichen der Gleichheit von Mann und Frau zu erreichen sucht. Durch die Erprobung neuer sozialer Rollen für die Frauen wandelte sich die Ehe von einem durch ökonomische und genealogische Erwägungen bestimmten Zweckbündnis hin zu einer enthierarchisierten Verbindung auf der Grundlage gegenseitiger erotischer und geistiger Zuneigung. Lassen sich diese Glücksvorstellungen in der Ehe nicht verwirklichen, soll die Ehe aufgegeben werden – wie es Dorothea Veith tat, weil ihr Mann nicht die geistigen Interessen mit ihr teilte (Borries/Borries 2003: 44). Dieser neue individualisierende Zuschnitt, bedingt durch die Ersetzung von auf Rationalität basierender Erkenntnis des Anderen durch auf Empfindsamkeit und Gefühl beruhende, floss in das neue Liebesideal ein. Die Romantik feierte diese große Theorie der Liebe, die an die Freigabe der Eheschließung aus gesellschaftlichen und familiären Zwängen geknüpft ist. Ein Problemfeld, das sich nunmehr auftut, ist freilich, dass Unstimmigkeiten im Liebesalltag nicht mehr auf Mechanismen des gesellschaftlichen Zwangs geschoben werden können, und – wie in allen Bereichen wo die Individualisierung durchschlägt – man nun selbst die Schuld am Scheitern zu tragen hat. Das 18. Jahrhundert verband zwar erstmals Liebe, Sexualität und Ehe, legte somit aber auch den Grundstein zur Auflösbarkeit derselben, denn wenn die Liebe als einzige Begründung der Ehe nachlässt, gibt es keine Notwendigkeit zu ihrem Fortbestand, in letzter Konsequenz auch nicht der Kinder wegen. Doch auch abseits romantischer Liebes- und Eheideale setzte gegen Ende des Jahrhunderts ein Individualisierungsschub durch Umwälzungen im Familienleben ein. Uns moderne Zeitgenossen schaudert es, wenn wir traditionelle Familiensysteme vor dem 18. Jahrhundert betrachten, die in Dorfgemeinschaften eingebettet von diesen in vielen Belangen rigide überwacht wurden.25 Diese lokal verdichteten und hochkomplexen Beziehungsnetzwerke blockierten geradezu einen Rückzug in die Privatheit einer Zweierbeziehung. Dementsprechend war für Intimität hier auch kein Platz, oder sie wurde zumindest sehr kurz gehalten, wie sich am Beispiel des Bedürfnisses nach Einsamkeit zeigt:
25 In Frankreich konnte z.B. ein Ehemann, den seine Frau geschlagen hatte, der Frauenarbeit tat, oder dessen Frau fremd gegangen war, der öffentlichen Lächerlichkeit in Form von Kundgebungen und spottenden Umzügen preisgegeben werden. Diese Gefährdung einer patriarchalen Ordnung konnte nicht als Angelegenheit betrachtet werden, die nur ihn und seine Frau betraf, sondern ging alle an, weil es auch eine Welt war, in der alle Individuen lebten (Taylor 1996: 514f.).
88 | D IE K ONTINUITÄT ROMANTISCHER I DEEN »Die Historiker haben uns bereits seit langem darüber aufgeklärt, dass der König niemals allein blieb. In Wirklichkeit war es jedoch bis ins 17. Jahrhundert so, dass überhaupt niemand allein war. Die Intensität des sozialen Lebens verbot die Isolierung, und man pries es als seltene Leistung, wenn es irgendjemand gelungen war, sich für einige Zeit ›hinter dem Ofen‹ oder ›hinter seinen Studien‹ zu verkriechen; all die Beziehungen zwischen Gleichgestellten, zwischen Personen desselben Standes, die jedoch voneinander abhängig waren, die Beziehung zwischen Herren und Dienern, Beziehungen des Alltagslebens, die den ganzen Tag beanspruchten, ließen es nicht zu, dass irgend jemand jemals allein war.« (Ariés: L’Enfant; zit. nach Taylor 1996: 315)
Mit der im 18. Jahrhundert einsetzenden Ausdifferenzierung des Gesellschaftssystems begannen die sozialen Beziehungen, vor allem in den Städten, unpersönlicher zu werden. Nach und nach wurde so die Unabhängigkeit des Einzelnen zu einem Wert und intime Beziehungen gewannen an Bedeutung. Jenes neue Bedürfnis nach einem Mehr an Privatheit spiegelt sich auch im zur Verfügung stehenden Wohnraum, wo durch abgetrennte Räume und Zimmer für alle Familienmitglieder diesem Verlangen Rechnung getragen wird. Wolf Lepenies weist im Zusammenhang mit diesem mentalitätsgeschichtlichen Wandel auf jene Temporalisierungsaspekte hin, die auch den Wandel in der Wissenschaft nachdrücklich beeinflusst haben. Demnach gelangen Prozesse der Entwicklung des Kindes in den Mittelpunkt des Interesses, die vor der Moderne unrelevant erschienen, galten Kinder doch als kleine Erwachsene. Erst mit dem Entwicklungsgedanken, d.h. dem aufkommenden Interesse an kindlichen Wachstumsprozessen, konnte sich »seit dem Ende des 18. Jahrhunderts [...] die Familie erstmals voll um das Kind zentrier[en]; sie erlebte einen Prozess der Intimisierung und distanzierte sich dabei gleichsam von der Gesellschaft, indem sie sich in eine immer weiter ausgedehnte Zone privaten Lebens zurückzieht.« (Lepenies 1978: 201)
Eine weitere Entwicklung, die den Rückzug in die Privatheit des Intimlebens beförderte und die schon oben, bei der Darstellung romantischer Geselligkeit als wichtiges Motiv Erwähnung fand, ist in der Sehnsucht nach Gefühlsbeziehungen angesichts einer immer komplexer werdenden Sozialwelt zu suchen. Wenn die gesellschaftlichen Bereiche immer undurchschaubarer werden, kommt es eben auch zu einer intensiveren Konzentrierung auf den intimen Bereich. Mit Grabriele Sorgo (2006: 94) kann man sagen, je mehr die zweckrationale Arbeitswelt Bedürfnisse nach Entspannung von ihren ausbeuterischen Mechanismen entstehen lässt, umso dringender soll das familiäre Leben diese durch ganzheitliche
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harmonische Einbindung erfüllen. Die Familie wird so zum Fluchtpunkt aus einer ›herzlosen Welt‹, in der das Individuum nur ein Rädchen im Getriebe ist. Dass diese Tendenz zur Entindividualisierung durch gesellschaftliche Ausdifferenzierung nicht erst mit dem Einsetzen der Industrialisierung schlagend wurde, sondern schon im späten 18. Jahrhundert vielfach zur Klage Anlass gab, darüber wird noch einiges zu sagen sein. Hier bleibt zunächst noch festzuhalten, dass es der Rückzug in den engen Kreis der Familie, die als Gemeinschaft der Liebe und Sorge füreinander aufgefasst wird, mit sich bringt, dass Verwandte und außenstehende Personen mit einer gewissen Distanz betrachtet werden, ja dass geradezu eine Mauer des Intimlebens zwischen den Einzelnen und die Gesellschaft geschoben wird. Diese ›Sakralisierung des Intimbereiches‹26 führt nach Luhmann (2004: 205) dazu, dass »die unpersönlichen Beziehungen […] ›nur‹ unpersönliche Beziehungen [sind]«, und »die persönlichen Beziehungen […] mit Erwartungen eines auf die Person Abgestimmtseins überlastet werden, woran sie oft zerbrechen, was aber die Suche danach nur verstärkt und das Ungenügen nur unpersönlicher Beziehungen nur umso deutlicher hervortreten lässt«. Durch den Verlust einer Vielzahl funktionierender sozialer Geflechte, steigt der Gefühlswert der wenigen, die uns noch geblieben sind. Es wird also verständlich, dass moderne Intimverhältnisse einiges zu (er)tragen haben und daher kaum Stabilität versprechen, obwohl gerade das von ihnen gewünscht wird. Zum einen sollen sie in einer hochkomplexen Umwelt, die von kalten marktförmigen Beziehungen beherrscht ist, zur ›Entspannung‹ beitragen, und andererseits muss auch der Partner die Forderung nach dem vorbehaltlosen Sicheinlassen auf die individuelle Welt des anderen und seiner Bedürfnisse erfüllen. Diese expressive Form der Liebe beruht auf der individualistischen Vision von einem passenden, einzigartigen Gegenstück, das mit den eigenen Ansprüchen auf Selbstverwirklichung kompatibel sein muss. Karl Hondrich (2007: 12) skizziert dieses so: »Die Liebe. Das ist die große Hoffnung der modernen Menschheit. Sie steigert alle Gefühle: als Hingabe, die ohne Gegenrechnung erwidert wird; als Anziehung, die alles andere zweitrangig erscheinen lässt; als Einklang zweier Seelen, der alle anderen ausschließt; als
26 Dieser Begriff soll auf den von Luckmann festgestellten Stellenwert der »Privatisierung« verweisen, wonach religiöse Inhalte zunehmend in der Privatsphäre entstehen. Bedeutsam hierbei ist der Rückzug aus den institutionellen Kontrollen ins Private. Das Intimleben erhält somit eine religiöse Weihe und wird mit Erwartungen nach größtmöglicher ›Erfüllung‹ seitens der Partner aufgeladen. Die große sozialpsychologische Last, die solche, mit einer religiösen Aura versehenen Beziehungen tragen müssen, ist letztlich auch für deren Instabilität verantwortlich (Luckmann 1991: 149).
90 | D IE K ONTINUITÄT ROMANTISCHER I DEEN Verstehen und Sichmitteilen, das keiner Worte bedarf; spontan einen neuen Anfang setzend, der kein Ende kennt, die Liebenden schicksalhaft ergreift und doch von ihnen aus freien Stücken ergriffen werden will. Das ist die Vorstellung von romantischer Liebe. Es ist unsere Vorstellung, millionenfach vorgestellt und tausendfach dargestellt in Geschichte, Gedichten, Theaterstücken, Filmen […]«
Dass einem so hochgetriebenen Liebesideal ein Scheitern inhärent ist, mussten auch die Romantiker erfahren, denn wie Simmel (1988: 225) zur Tragik der Liebe festhält: »Sie entzündet sich nur an der Individualität und zerbricht an der Unüberwindbarkeit der Individualität.« Koselleck meint, dass es gerade ein Zeichen der Moderne ist, wenn die eigenen Erwartungen und die eigenen Erfahrungen immer weiter auseinanderdriften (Koselleck: ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹; zit nach Illouz 2007: 143). Auf den Bereich der Liebe bezogen heißt dies, dass das individuelle Streben an der Realität scheitert, und durch die aufgetane Kluft eine Verwirklichung versagt bleibt. Die Romantiker reagierten auf diese Differenz mit einer Liebesauffassung, die von Phantasien beherrscht und von Sehnsüchten erfüllt ist. Gerade Sehnsucht lebt ja von Nicht-Erfüllung und deshalb darf der romantische Held in den einschlägigen Romanen der Romantiker27 gerade nicht finden, was er sehnsüchtig sucht. Ruhe und häusliches Glück – für viele der Lohn für ein aufreibendes Alltagsleben – bringen eben die Gefahren der Trägheit und des sich zufrieden Bequemens. Eben gegen diese eintönige, passive Trivialisierung des Lebens versuchen sich die Romantiker mit Geisteskräften zu wehren: Ausbrechen wollen sie doch aus der Enge der Alltäglichkeit, immer auf dem Weg und im Fluss, um allen erstarrten Formen zu entkommen. Diesen vitalistischen Impetus sollten sie mit den noch kommenden gegenkulturellen Bewegungen teilen. Mit dieser skizzenhaften Darstellung wird deutlich, dass die Kultur der Selbstverwirklichung besonderen Nachdruck auf Beziehungen im privaten Bereich legt. Vor allem Liebesbeziehungen werden als oberste Fixpunkte der Selbsterkundung und Selbstfindung angesehen – denn verschreibt man sich in der Sphäre der Produktion der Rationalität, so geht man im Bereich der Reproduktion ganz in der Emotionalität auf. Wie Taylor meint, sind Liebesbeziehungen nicht nur deshalb von Bedeutung, weil die moderne Kultur auf Erfüllung des »gewöhnlichen Lebens« drängt und daher den Bereichen der Arbeit, der Produktion, der Familie und eben auch der Liebe einen hohen Stellenwert beimisst, sondern auch weil im Privatleben die Identitätsbildung in der Liebe wichtig ist.
27 Zur Sehnsucht als Leitmotiv vgl. beispielsweise den Roman von Tieck [1798] (1994): Franz Sternbalds Wanderungen.
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Unsere Identität setzt maßgeblich die Anerkennung durch andere voraus – und zwar in dem Umfang wie alte, z.B. hierarchisch standesbezogene Muster der Identitätsbildung wegzubrechen begannen. Man muss zwar seine originelle Daseinsweise im Inneren selbst erzeugen, braucht aber spätestens dann einen anderen dazu, wenn es darum geht, diesen verinnerlichten Dialog zu führen und mit jemandem auszuhandeln (Taylor 1995: 54, 59ff.). Hier wird dann auch die Anerkennung durch andere bedeutend. Insbesondere sucht man gewährte Anerkennung in der Partnerschaft, denn gerade in der Liebe wird ja »die Eigentümlichkeit des anderen Menschen von dem Liebenden ganz verstanden und in sich aufgenommen«, wie Schleiermacher (Brautbriefe; zit. nach Kluckhohn 1922: 444) meint, der jedoch, die Gefahr einer ausschließlichen Fixierung auf den Intimbereich erahnend, mit seiner »Theorie der Geselligkeit« und der damit einhergehenden Erweiterung der Kreise persönlicher Beziehungen, entgegenzusteuern versucht. Das Erbe der Romantiker ist nicht nur in einem ganzheitlichen Liebesideal und den bemerkenswert modern klingenden frühemanzipatorischen Leistungen zu finden, sondern auch in der Entdeckung eines spezifischen ›Expressivismus‹, der die Vorstellung vom modernen Individuum geprägt hat. Unter diesen Begriff fällt die Aufforderung seinen originellen Wesenskern ausfindig zu machen und ihm Ausdruck zu verleihen. Hier können wir nahtlos anschließen an einen weiteren Bruch in einer sozialen Praktik, in der nun die Idee vom authentischen Selbst zum Ausdruck kommt. Die sich im Wandel befindliche Praxis betrifft das Bild vom Künstler und seiner künstlerischen Schöpfungen.
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2.3 D IE S UCHE DAS
O RIGINALITÄT – ROMANTISCHE K UNSTVERSTÄNDNIS NACH
»Da wir nun als Originale geboren worden, wie kömmt es doch, daß wir als Copien sterben?« EDWARD YOUNG: GEDANKEN ÜBER ORIGINALWERKE
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts beginnt sich ein Ideal zu etablieren, das Charles Taylor (1983: 28) mit dem Begriff »Ausdruck« (engl. »expression«) zu beschreiben sucht. Es handelt sich dabei um den neuartigen Gedanken, dass jedes Individuum unverwechselbar ist, was für die Lebensgestaltung zur Konsequenz hat, diese als die je eigene, individuelle zu betrachten. Die Pflicht, selbst der Architekt seiner originellen Lebenspläne zu sein, geht auf Herders alternative Anthropologie zurück, die sich radikal von einer rationalistischen Reduzierung des Menschen auf ein Vernunftwesen unterscheidet. Als Gegner des cartesianischen Dualismus verstand er die Vernunft nicht als dominante und separate Fähigkeit des Menschen, sondern als einen speziellen Modus bezüglich des Umgangs mit sich selbst und der Welt. Im menschlichen Ausdruckshandeln ist nach Herder der Dualismus aufgehoben: »Der sich ausdrückende Mensch wird selbst […] von seinem Ausdruck immer wieder überrascht und findet den Zugang zu seinem ›Innenleben‹ erst durch Reflexion auf das eigene Ausdrucksgeschehen. Damit hat der Ausdruck zwei Eigenheiten, die das dualistische Schema verfehlt. Zum einen gewinnen wir die Klarheit über die uns vorschwebenden Bedeutungsgehalte nur durch unsere Bemühungen um deren Ausdruck; zum anderen stellen wir bei unserer Bemühung um einen Ausdruck das Ausgedrückte immer in einer auch für andere Menschen wahrnehmbaren Weise dar.« (Joas 1996: 119)
Daran anschließend kristallisiert sich um den Begriff des »Ausdrucks« auch eine Auffassung, die im Gegensatz zur aristotelischen Tradition steht, wonach das Subjekt einen Plan zu verfolgen habe, der unabhängig von ihm vorgegeben und fixiert ist. Dazu stellt Herder fest: »Jeder Mensch hat sein eigenes Maß, gleichsam eine eigene Stimmung aller seiner sinnlichen Gefühle zu einander« (Herder: Ideen; zit. nach Taylor 1996: 654.28 Die epochemachende Forderung der »Aus-
28 Herder meint, dass nicht nur jedes Individuum einzigartig sei und man es deshalb nicht mit irgendeinem anderen Individuum ohne gewaltsame Verzerrung vertauschen
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drucks-Anthropologie« beruht also im Kern auf einer sich selbst bestimmenden Subjektivität. Nicht länger realisiert sich das Subjekt jenseits seiner Selbst mit Bezug auf eine ideale Ordnung, sondern aus seinem Innersten heraus. Entscheidend für eine expressive Anschauung ist, dass die Natur nicht mehr als etwas Äußeres gesehen wird, sondern als innere Quelle, die dem Menschen einen individuellen Wesenskern verleiht, dessen Neigungen und Bedürfnisse er zu verwirklichen hat. Die Einzigartigkeit eines jeden Individuums – also die Anerkennung, dass meine Vorstellungen vom guten Leben etwas anderes beinhalten, als die von anderen – wird nun von den Romantikern mit dem Begriff der Originalität gekoppelt. Ausgehend von Rousseau und Herder gewinnt bei den Romantikern jene Aufforderung eine besondere Kraft, wonach es gilt seine eigene Natur zu erfüllen, denn »sofern die Natur eine innere Quelle ist, muss jeder von uns seinem Inneren folgen; und das, was in seinem Inneren ist, kann durchaus ohne Beispiel sein« (Taylor 1996: 654). Der Verwirklichung des Bestrebens nach Originalität und individuellen Ausdruck ist es inhärent, dass sie auf Vorbilder als auch auf Orientierungen, die ›außen‹ liegen, verzichtet; zumal es nun in dieser Zeit der Brüche auch recht schwierig geworden ist solche stabilen Quellen ausfindig zu machen. Dem Gedanken des authentischen Ausdrucks folgen gleich mehrere Vorstellungen, die in ihrer Reichweite bis in die Moderne ausstrahlen. So ist darin das Bild, wonach unsere Empfindungen eine ›innere Tiefe‹ aufweisen, ebenso verwoben, wie der Begriff der ›Selbsterkundung‹ als Artikulation eines von uns nie zur Gänze ausschöpfbaren Bereichs des Seelenlebens (ebd. 207). Bringt man nun zur Artikulation, was zuvor im erkundeten Inneren aufgespürt wurde, wird es möglich, anderen sowie sich selbst die je eigenen Gefühle und Bestrebungen klar zu machen. Damit bestimmt die sich selbst zum Ausdruck bringende Person »womöglich zum ersten Male […], was sie fühlt oder will« (Taylor 1983: 31).
könne, sondern dass auch die verschiedenen Völker ihre ureigensten Weisen des Menschseins bewahren sollten. Es galt somit die Unterschiede auf kollektiver, wie auch auf individueller Ebene zu bestimmen. Wegen dieser radikalen Stellungnahme gegen Assimilierung und Vereinheitlichung war Herder auch ein leidenschaftlicher Gegner des Kolonialismus (Taylor 1996: 655; Berlin 2006: 31f.). Herder kann mit diesen Ideen auch als der Ahnvater eines neuen Geschichtsbewusstseins gelten: Um nämlich fremde Völker oder frühere Kulturen zu verstehen, ist es notwendig, sich mit Fantasie in ihre Lebensformen hineinzuversetzen um diese zu rekonstruieren (Berlin 2004: 117). Die Auffassung, eine Geschichtswissenschaft solle das ›Verstehen‹ zu ihrem Ziel machen, greift dann später Dilthey auf.
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An dieser Stelle können wir nun an die neue Kunstauffassung anknüpfen, welche durch die expressive Anschauung des menschlichen Daseins maßgeblich geformt wurde. Dass die Kunst in unserem geistigen Leben eine zentrale Stellung besetzt, indem wir – im Kontrast zu früheren Zivilisationen, in denen Künstler zwar meisterhafte, aber dennoch schlichte Handwerker waren – ein Leben, das auf künstlerisches Schaffen abgestellt ist, als besonders wertvoll erachten, wurzelt zum Teil in Platonischen Vorstellungen. Im Phaidros kommt beispielsweise der Gedanke zum Vorschein, der von manischen Eingebungen besessene Dichter vermöge weitaus besser zu sehen, als der in den engen Bahnen der Vernunft herumkreisende Mensch (Taylor 1996: 48f.). Auch heute noch gestehen wir dem Künstler mehr Weitblick ein, als den übrigen Menschen – wie allgegenwärtige Stellungnahmen zu Politik und Gesellschaft in den Medien zeigen. Obwohl sie von diesen öffentlichen Angelegenheiten vielleicht nicht mehr verstehen als andere, werden sie doch ernst genommen, was zum einen in ihrem außerordentlichen Einfühlungsvermögen liegen mag, aber auch in der Ausstattung eines besonderen Ausdrucksvermögens gründet, das ihren Statements etwas Originelles verleiht. Zur Deutung des Künstlers als Genie haben besonders der heute weitgehend in Vergessenheit geratene englische Dichter Edward Young und Gottfried Herder entscheidende Impulse geliefert. Youngs Einfluss auf die Genieästhetik der Romantik liegt vor allem in seiner Ablehnung der bloßen Nachahmung, die er als minderwertig betrachtet, und in der Begriffsbestimmung des Genies: »Denn Schönheiten, die man noch nie in Regeln vorgeschrieben, und etwas Vortreffliches, von dem man noch kein Exempel hatte, (und dieß ist die Charakteristik des Genies) diese liegen weit außer den Gränzzeichen der Herrschaft der Gelehrsamkeit und ihrer Gesetze. Diese Gränzzeichen muss das Genie überspringen, um zu jenen zu gelangen. Aber bei diesem Sprunge, wenn das Genie fehlt, brechen wir uns den Hals, und verlieren das kleine Ansehen, in dessen Besitz wir vielleicht vorher waren. Denn Regeln sind wie Krücken, eine notwendige Hülfe für den Lahmen, aber ein Hinderniß für den Gesunden. Ein Homer wirft sie von sich [...].« (Young 1977: 29)
Das Genie bewegt sich also außerhalb von kanonisierten Regeln und festgefahrenen Traditionen. Solche Krücken muss es weit von sich werfen, um wahre Originalität zu erreichen. Auch in Herders Kunsttheorie sucht das Genie nach neuen Formen des kreativen Selbstausdrucks. Besonders dem Dichter ist es demnach gegeben, »seine Empfindungen auszudrücken, wo andere in ihrer Not verstummen oder mit ihren Bemühungen scheitern« (Joas 1996: 119f.). Novalis
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gibt in Die Lehrlinge zu Sais ([1802] 2001a: 118) einen Hinweis darauf, warum der Künstler sich von den ›gewöhnlichen‹ Menschen abhebt: »Man beschuldigt die Dichter der Übertreibung, und hält ihnen ihre bildliche uneigentliche Sprache gleichsam nur zugute, ja man begnügt sich ohne tiefere Untersuchung, ihrer Phantasie jene wunderliche Natur zuzuschreiben, die manches sieht und hört, was andere nicht hören und sehen […]«
Daneben rückt die Ehrfurcht, die wir vor dem künstlerischen Schaffensprozess empfinden, die Kunst in den Bereich des Numinosen »und spiegelt die entscheidende Stellung, die der Komplex Schöpfung/Ausdruck in unserer Auffassung des menschlichen Lebens einnimmt« (Taylor 1996: 655) wider. Entscheidende Impulse für diese Betrachtung, wonach wir die in uns angelegten Daseinsmöglichkeiten ermitteln sollten, indem wir eine möglichst einzigartige Lebensweise annehmen, lieferte das Ende des 18. Jahrhunderts. Hier führt diese Auffassung zu einem neuen Paradigma in der Kunst. Das alte Kunstverständnis stützte sich auf die aristotelische MimesisKonzeption, die Kunst als Nachahmung oder Abbildung der Realität bestimmt. Für uns moderne Zeitgenossen ist es ganz selbstverständlich, dass Kunstgegenstände nicht notwendigerweise auf etwas außerhalb ihrer selbst Liegendes verweisen, sondern den Sinn in sich tragen. Im 18. Jahrhundert war das jedoch noch ganz anders. Das Augenmerk lag darauf, jenes objektive Ideal, auf das der Mensch und die Natur hinstrebten, in einem edlen Gemälde einzufangen. So malte der Athener Zeuxis Weintrauben so realistisch, dass Vögel herbeiflogen, um an ihnen zu picken und Raphael verriet seine Meisterschaft, indem er Goldstücke so detailgetreu malen konnte, dass der Wirt, bei dem er eine Rechnung offen hatte, sie für bare Münzen hielt und ihn ziehen ließ, ohne dass dieser seine Zeche tatsächlich beglichen hätte (Berlin 2004: 63). Dies sind Beispiele für die aus der Antike stammende Idee einer bloßen reproduktiven Einbildungskraft, die dem Gemüt immer wieder das schon Erfahrene neuerlich vorsetzt und dieses dabei vielleicht nur etwas anders variiert. A.W. Schlegel (1994: 43) meint dazu: »So hat man Kunst und Poesie zur bloßen Verstandesprosa gemacht, indem man Nachahmung der Natur, richtiger der äußeren Welt, zu ihrem letzten Ziel setzte […].« Für die Romantiker handelt es sich hierbei um keine wirklichen Höhenflüge des künstlerischen Genies. Sie hoben die schöpferische Einbildungskraft aufs Podest, die einzig dazu in der Lage ist etwas Beispielloses, nie Dagewesenes hervorzubringen. Ludwig Tiecks Sternbald beschreibt, worauf es im Prozess des romantischen Kunstschaffens ankommt:
96 | D IE K ONTINUITÄT ROMANTISCHER I DEEN »Denn was soll ich mit allen Zweigen, und Blättern? Mit dieser genauen Kopie der Gräser und Blumen? Nicht diese Pflanzen, nicht die Berge will ich abschreiben, sondern mein Gemüth, meine Stimmung, die mich gerade in diesem Moment regiert.« (Tieck 1994: 258)
Ihren progressiven Charakter erhält diese neue Ausdrucks-Kunst nun daher, dass sie durch das Kundtun der inneren Realität immer neue Formen erschafft und es so vermeidet in den starren Kielwassern der bloßen Reproduktion zu schwimmen. Weil Kunst nun Ausdruck und poiesis (griech. gestalten) ist, wurde auch der Künstler als Schöpfer betrachtet; als jemand, der etwas ›zur Existenz bringt‹ und den Menschen die geistige Realität vermitteln kann, da er hinter den Schleier des Vertrauten zu blicken vermag. Das Genie muss diesen Fähigkeiten entsprechen und kommt in seiner Funktion als Mittler der Stellung eines Priesters gleich. Auf den Poeten als zentralen Vertreter romantischer Kunst übertragen, führt also »ein solcher Glaube an die unmittelbar wahrheitskündende Kraft des Dichterwortes […] geradlinig dahin, den Dichter als ein vor anderen begnadetes Individuum zu achten und ihn vor anderen vom Volksgeist als dem Individuum höherer Potenz durchtönt zu sehen« (Lämmert: Germanistik – eine deutsche Wissenschaft; zit. nach Uerlings 1991: 12) – oder in Schellings Worten: »Der Künstler kann wie jeder geistig Wirkende nur dem Gesetz folgen, das ihm Gott und Natur ins Herz geschrieben haben, keinem anderen. Ihm kann niemand helfen, er selbst muss sich helfen; so kann ihm auch nicht äußerlich gelohnt werden, da was er nicht um seiner selbst willen hervorbrächte, also bald nichtig wäre: eben darum kann ihm auch niemand befehlen oder den Weg vorschreiben, welchen er gehen solle.« (Schelling: Sämtliche Werke; zit. nach Smitmans 1990: 166)
Überhaupt wurde mit dem neuen Kunstkonzept eine Ära eingeläutet, in der durch die Brüchigkeit der alten metaphysischen Ordnung die Kunst eine der Religion analoge Funktion übernahm und diese bis zu einem gewissen Grad auch ersetzte. Dass die Kunst bis heute ihren Stellenwert als funktionales Äquivalent zur Religion inne hat, kann als weiteres Indiz dafür gesehen werden, die Zeit um 1770 als ›Sattelzeit‹ in der Entwicklung der modernen Welt zu betrachten (Taylor 1983: 38). Daneben führt jene Brüchigkeit eines übergeordneten Kosmos dazu, dass Kunst nicht mehr fraglos und unmittelbar existiert. Ein allgemein verbindlicher Stilverband ist nun ebenso aufgelöst, wie die Dogmen des ›höchsten Schönen‹ ihrer Allgemeingültigkeit entkleidet sind. Die Kunst ist nun autonom geworden und hat keine Rechtfertigung mehr als die Reflexion über sich selbst – »die freigewordene Kunst, der Stütze aber auch zugleich des Zwangs enthoben, muss hinfort auf sich selbst ruhen« (Hofmann 1974: 255). Das Konzept der Poie-
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sis führt, wie wir gesehen haben, dazu, dass der Künstler sein Eigenstes in die Gestaltung einzubringen sucht, wodurch es nun zwangsläufig zu Verständigungsschwierigkeiten zwischen ihm und seinem Publikum kommt. Der Künstler, dessen Schaffen nun aus seinen eigenen Quellen kommt, sieht und erlebt ganz anders als sein Publikum, was Blake gelassen kommentiert: »I see Every thing I paint in this world, but Every body does not see alike« (Blake: The letters of William Blake; zit. nach ebd.) Erst durch dieses verhältnismäßig junge Kunstverständnis, das dem Gesetz der Autonomie gehorcht, werden Auslegung und Kommentar wichtig, um einen Zugang zum Werk des Künstlers zu bekommen. 29 Die aufgeklärte Haltung – übertragen auf die Kunstlehre mit ihren präzisen wissenschaftlichen Festschreibungen und ihrer Orientierung auf die Wirklichkeit – war den empfindsamen Romantikern mehr als suspekt, denn wer sich allein dem Reellen verpflichtet, verschenkt nach A.W. Schlegel jene innere Kraft des Geistes, die ihn eigentlich erst zum Menschen macht. Mit dem Anspruch, der menschlichen Natur durch Gesetzmäßigkeiten auf die Schliche zu kommen »glaubten sich die Aufgeklärten dann berechtigt, alle Erscheinungen, die über die Grenze der Empfänglichkeit ihres Sinnes hinauslagen, als KrankheitsSymptome zu betrachten und freigiebig mit den Namen Schwärmerei und Wahnsinn bei der Hand zu seyn. Sie verkannten durchaus die Rechte der Phantasie, und hätten, wo möglich, die Menschen gerne ganz von ihr geheilt« (A.W. Schlegel 1999: 7). Während also die Aufklärungsdichtung auf größtmögliche Einheit von Realität und Poesie abzielte und den romantischen Geist zu marginalisieren versuchte, bezeichneten die Romantiker ein Kunstwerk, das aus möglichst exakten Begriffen besteht als tot. Um aus der selbstverschuldeten Verkümmerung der Einbildungskraft zu entkommen, setzte man alles daran, die Quellen der Imagination im Reich des Unterbewussten zu erschließen. Denn ist die Welt des Sonnenscheins die Vernunft »als Sittlichkeit auf das thätige Leben angewandt, wo wir an die Bedingungen der Wirklichkeit gebunden sind«, so umhüllt das Reich der Nacht »diese mit einem wohlthätigen Schleier, und eröffnet uns dagegen durch die Gestirne die Aussicht in die Räume der Möglichkeit; sie ist die Zeit der Träume« (ebd. 5). War es zwar das große Anliegen der Ro-
29 Dadurch, dass der moderne Künstler seine Erfahrungen in ständig neue Formen kleidet, die keine offensichtlichen Anbindungen mehr an traditionelle Sinnbestände aufweisen, muss auch der Rezipient schöpferisch tätig werden: »Die vom Werk vermittelten Erfahrung muss interpretiert, beschrieben und in die Organisation des Betrachters aufgenommen werden« (Williams: 1983: 34). Eine solche Auffassung von kreativer Aneignung, wie sie von der pragmatistischen Handlungstheorie vorgetragen wird, stützt sich dann auch auf aktive Prozesse.
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mantiker, eine Synthese aus Vernunft und Phantasie anzustreben, so gab man doch letzterer den Vorzug. Die poetisch gestimmten jener Zeit revoltierten also gegen die Dominanz der neuen wissenschaftlichen Ordnung, von der man sich geknebelt und gefesselt sah. Im engen Kreis der Romantiker herrschte generell die Meinung, dass die vom Aufklärungsnaturalismus Infizierten auch nicht im Entferntesten verstünden, was es mit der Seele und ihren ungeahnte Tiefen auf sich habe. Wie sollten sie auch, da sie mit ihrem rationalen Instrumentarium keinen Zugang zu den tieferen Problemen, zu dem was Menschen eigentlich bewegt, hatten.30 Seit Thomas Hobbes und John Locke nimmt aber in der Tradition der Aufklärung die Vernunft die gewichtigste Position ein – nicht die dichterische Imagination. Gerade diese erfuhr nun aber angesichts des romantischen Rückzugs auf die Subjektivität des Ichs eine enorme Aufwertung. Zur höchsten Aufgabe des Künstlers wird es, sich selbst zu ergründen, um die dunklen und unbewussten Kräfte, die im Inneren walten, ins Bewusstsein zu bringen. Die Macht und Energie der Inspiration verleiht einem Kunstwerk dann erst jene Aura, für die wir es bewundern. Nicht auf bloße Technik oder Form kommt es an, sondern dass die originelle Schöpfung aus dem Pulsschlag der niemals völlig ausschöpfbaren und unerklärbaren Tiefen des Ichs entspringt – »Aus dem Innern herausarbeiten das alles muss der moderne Dichter« (Schlegel: 2005c: 81). Der Künstler und mit ihm die Kunst haben also auch eine eminent wichtige Funktion, die innere Zerrissenheit des Menschen zu überwinden. Im ersten Heft der Zeitschrift ›Athenäum‹31 – das Gemeinschaftsprodukt des frühromantischen Jenaer Kreises – vertritt Friedrich Schlegel als eigentlicher Begründer der romantischen Poetik seine Theorie zur progressiven Universalpoesie:
30 Im Besonderen hatten hier die Deutschen die Franzosen im Visier, die sie wegen ihrer zur instrumentellen Vernunft neigenden Denkweise pauschal als mumifizierte Affen bezeichneten (Berlin 2004: 100). Über den Ursprung einer »falschen Poesie« in Frankreich siehe Schlegel 1968: 302. 31 Das erste Heft der Zeitschrift Athenäum erschien im Jahr 1798. Die Gebrüder Schlegel als ihre Gründer verstanden sie als geistige Waffe, die alle Philosophie und Literatur unter ihre »kritische Guillotine« nehmen wollte. Der Kreis der Verfasser wurde schnell ausgeweitet, sodass unter anderen mit Schleiermacher, Novalis, den beiden Frauen Caroline Schlegel und Dorothea Veit eine Vielfalt an unterschiedlichen Meinungen erreicht wurde. Man beabsichtigte mit diesem Medium die »Unabhängigkeit des Geistes«, die »keiner flachen Einstimmigkeit aufgeopfert werden« sollte (Borries/ Borries 2003: 59).
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»Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben poetisch machen [...]« (Schlegel 1962a: 30)
Die progressive Universalpoesie fordert gemäß ihrer poietischen Grundausrichtung ein permanentes Fließen, da dies »ja ihr eigentliches Wesen [ist], dass sie ewig nur werden, nie vollendet seyn kann.« Aus ihrem fragmentarischen Charakter folgt die Aufforderung, der Einbildungskraft keine Grenzen zu setzen, um starre Strukturen aufzuweichen und Kunstwerke nicht zum Stillstand zu bringen. Schlegel bevorzugte ja auch in philosophischen Abhandlungen das Fragment, um spontane Ideen und Einfälle zu skizzieren, die auf Grund ihrer elastischen Gedanken zum Weiterdenken und Reflektieren anregen sollen. Eine progressive Universalpoesie wird hier demnach zum Mittel, die verlorene Ganzheit des modernen Menschen durch beständiges Reflektieren über sich selbst wieder herzustellen und der Vereinzelung der Zeit entgegenzuwirken, indem sie Leben und Kunst zur neuen Einheit bringt. Denn herrscht im Alltagsleben eine strikte Trennung zwischen Fakten und Fiktion, so besteht die progressive Zauberkraft der Poesie genau darin, »dass sie die Ordnung der Lebenswelt unterläuft und in der Zersetzung der Grenzen eine andere Wahrnehmung erlaubt« (Meier 1999: 17)32. Es soll also das Ziel sein, Illusion und Realität so weit als möglich durcheinanderzubringen und somit die Schranken zwischen Traum und Wachsein, dem Bewussten und dem Unbewussten niederzureißen, um so ein Gefühl für die absolut uneingeschränkte Welt zu erwecken. Poesie fungiert hier gleichsam als Schlüssel, der die Pforten der Wahrnehmungen aufschließt und es uns so ermöglicht, die Schwelle der Normalität zu überschreiten, um ins Reich der Fantasie zu gelangen. Dies kann jedoch nur dadurch geschehen, indem die Funktionsmechanismen des Alltags unterbrochen werden – was die Romantiker in der Kunst mit
32 Ludwig Tieck war der Wegbereiter des absurden Theaters und der Vorläufer des Surrealismus und Dadaismus, da er den Illusionsbruch zu einem zentralen Gegenstand seiner Dramen machte. In Verkehrte Welt (1996) sehen die Zuschauer nicht nur vier Handlungsstränge gleichzeitig, sondern finden sich plötzlich selbst vorübergehend als Schauspieler, während diese zu Betrachtern des Treibens werden. Auch in Der gestiefelte Kater (2001) verwirrt Tieck sein Publikum derart, dass es ihm nicht mehr möglich ist, der Handlung mit dem Verstand zu folgen. Der Bruch als Stilmittel soll hier also aus den starren Gewohnheiten, die Realität so und nicht anders zu sehen, befreien, und andererseits wird durch gezielte Verwirrung das Empfinden geschult.
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dem Stilmittel der Ironie zu bewirken versuchen. Hier sei auch erwähnt, dass mit der Ironie als Geisteshaltung eine Aufforderung verbunden ist, alles Gegebene kritisch-skeptisch zu hinterfragen.33 Der Einspruch, den nun die poetische Freiheit gegen die festgefahrenen Routinen der Weltwahrnehmung einlegt, führt zum Bruch mit der Normalität, die zwanghaft »in allen Dingen den Zusammenhang sucht« (Tieck [1828] 1996: 44). Auch Blake konstatierte hierzu zynisch: »Generalize is to be an idiot! To Particularice ist the Alone Distinction of Merit« (zit. nach Peper 1998: 1216). Gerade jene Automatismen, die uns die Welt beständig so vor Augen führen, wie wir sie eben zu betrachten gelernt haben – eingeordnet in vernunftmäßige generalisierende Kategorien – verhindern eine Sicht der Dinge, die sich nur dem Gemütsvermögen erschließt. »Ach ihr lieben Leute, […] das meiste in der Welt grenzt weit mehr aneinander, als ihr es meint; darum seid billig, seid nachsichtig und nicht gleich vor den Kopf geschlagen, wenn ihr einmal einen paradoxen Satz antrefft; denn vielleicht ist, was euch so unbehaglich verwundert, nur das Gefühl, dass ihr dem Magnetberge nahe kommt, der in euch alle eisernen Fugen und Klammern loszieht; das Schiff, welches euch trägt, zerbricht freilich, aber hofft, vertraut, ihr kommt an Land, wo ihr kein Eisen weiter braucht.« (Tieck 1996: 8)
Die Kunst soll diese Brüche mit der Normalität herbeiführen – »Poesie ist Gemütherregungskunst« heißt es bei Novalis ([1798] 2005c: 103) – um das Gemüt aufzuschließen und zu einer Seinsweise zu gelangen, welche das Individuum aus der eisenharten Umklammerung der Vernunft in ein neues Land entlässt, wo diese zusammen mit der Phantasie als »gemeinschaftliche Grundkraft unsres Wesens« (A. W. Schlegel 1999: 5) versöhnt sind. Das Medium für die romantische Kunst ist der Roman. »Ein Roman ist ein romantisches Buch« heißt es bei Friedrich Schlegel, und er meint mit der Identi-
33 »Ironie ist die Form des Paradoxen«, oder genauer: »Ironie ist klares Bewusstsein der ewigen Agilität, des unendlich vollen Chaos« schreibt F. Schlegel und will uns dadurch zum reflexiven Umgang mit Widersprüchen anleiten. So wird romantische Ironie zur Fähigkeit, »der Unterscheidung und Vermittlung unüberbrückbarer Gegensätze […], denn sie hält das Bewusstsein von dem Paradox wach, dass das Unendliche sich im Endlichen manifestiert« (Hoffmeister: Deutsche und europäische Romantik; zit. nach Kremer 2003: 94). In diesem Sinne bezeichnet Ricarda Huch (1951: 278) die romantische Ironie als eine Praxis der »Geistesfreiheit«, die »ein geistiges Fliegenkönnen« bezweckt. Für eine differenzierte Auseinandersetzung mit der romantischen Ironie vgl. Furst 1981: S. 29-37.
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fikation von »romantisch« mit dem »Romanhaften« das Abenteuerliche, Phantastische und Unglaubwürdige. Dieses »sucht und findet« er »bei den älteren Modernen, bei Shakespeare, Cervantes, in der italienischen Poesie, in jenem Zeitalter der Ritter, der Liebe und der Märchen, aus welchem die Sache und das Wort [romantisch] selbst herstammt«. Der Roman wird aber auch, gemäß den Forderungen der progressiven Universalpoesie zur Gattungsmischung und als ein Gesamtkunstwerk gedacht, das möglichst alle verschiedenen Kunstformen miteinander verbindet – »Ja ich kann mir einen Roman kaum anders denken, als gemischt aus Erzählungen, Gesang und andern Formen« (Schlegel 2005a: 99). Das Werk der Zeit, welches jenen Vorstellungen am nächsten kam, war Ludwig Tiecks Künstlerroman Franz Sternbalds Wanderungen34. Hier behauptet der Protagonist, welcher von der Sehnsucht nach einer höheren Existenz getrieben wird, die Sonderstellung des Künstlers gegenüber dem Normalbürger. Diese herausragende Stellung liegt in der Fähigkeit zum Phantasieren begründet, hilft sie ihm doch dabei, dem gewöhnlichen Leben den Schimmer des Wunderbaren – sprich romantischen Geist – zu verleihen. Zentrales Thema, welches die Romantiker zum Programm machten, ist auch hier die Flucht aus der als bedrückend empfundenen Enge der realen, nach den omnipräsenten Gesetzen der Vernunft funktionierenden Wirklichkeit. Diese Flucht führt in ein verlorenes Paradies des himmlischen Friedens, das für die verirrten Menschen so unerreichbar fern ist – auch wenn es »oft dicht vor unseren Füßen liegt«: »Warum treten wir denn nicht manchmal aus uns heraus und schütteln alles das ab, was uns quält und drückt, und holen darüber frischen Atem und fühlen die himmlische Freiheit, die uns eigentlich angeboren ist? […] Aber wir wollen uns gern immer mehr in dem Wirrwarr der gewöhnlichen Welthändel verstricken ].« (Tieck 1994: 29)
Damit hat Sternbald einen Lebensstil definiert, der ihn vom ›normalen‹ Menschen unterscheidet und ihn als Künstler auszeichnet, da er versucht nach innen, in die Tiefen des Selbst hinabzusteigen, um seine Empfindsamkeit gegenüber dem Göttlichen – wie es sich in der Natur, in der Liebe und eben auch in der Kunst offenbart – zu schulen. Das Denken in Kosten-Nutzenkategorien, das die meisten Menschen umtreibt, mitsamt ihrer kläglichen Sorge um den Lebensunterhalt, verachtet er. Selbst vor die Versuchung gestellt, eine gesicherte bürgerli-
34 Friedrich Schlegel nannte den Sternbald ein »göttliches Buch«: »Es ist der erste Roman seit Cervantes der romantisch ist, und darüber weit über den Meister« [gemeint ist hier Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre] (Schlegel: Briefe; zit. nach Borries/ Borries 2003: 95).
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che Existenz durch die Heirat mit einer reichen Kaufmannstochter zu erlangen, widersteht Sternbald und bleibt seiner poetischen Existenz treu. »So nah auf ihn zu war das wirkliche Leben noch nie getreten, um sein inneres poetisches zu verdrängen; er fühlte sich angezogen und zurückgestoßen […] Doch fürchtete er sich wieder, so seinen Lebenslauf zu bestimmen und sich selber Grenzen zu setzen; die Sehnsucht rief ihn wieder in die Ferne hinein, seltsame Töne lockten ihn und versprachen ihm ein goldenes Glück, das weit ab seiner warte.« (Ebd. 227)
Die Sehnsucht nach einem fernen ungewissen Glück, die Sternbald ruft, wird von der ewigen Nicht-Erfüllung genährt. Deshalb lebt der Held, für den der Weg das Ziel ist, in beständiger Suche – denn eingespannt in ein regelkonformes Alltagsleben zu sein, vermengt mit etwas häuslichem Glück, birgt die Gefahr, träge und unreflektiert zu werden. Gerade der Künstler habe aber als Vorbild zu wirken und sich seine Freiheit und Unabhängigkeit zu bewahren. Florestan, der als poetischer Reisegefährte die Lebensansichten von Franz aufs wunderbarste ergänzt, meint deshalb auch, dass die Poesie nur um ihrer selbst willen da ist. Die Forderung nach der Freiheit der Kunst entgegen zweckrationaler Vereinnahmung, und das Feiern des Spiels – im Sinne Schillers ([1795] 2000: 62f.) »der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt« – sind wichtige Gedanken der Romantik, die bis heute der Kunst eine exklusive Stellung einräumen. Von der Kunst kann man lernen, dass die wichtigen Dinge des Lebens – wie Freundschaft, Liebe und Religion – ihren Zweck in sich haben und nicht deshalb sinnvoll sind, weil sie Zweck und Nutzen für etwas anderes sind. Franz wünscht sich, dass alle Menschen Künstler wären, damit die Welt als Ganzes betrachtet werde, und so jedem ein sinnerfülltes Leben möglich sei. Doch ernüchtert muss er feststellen, dass die meisten »so abgetrieben [sind], so von Mühseligkeit, Neid, Eigennutz, Planen, Sorgen verfolgen, dass sie gar nicht das Herz haben, die Kunst und Poesie, den Himmel und die Natur als etwas Göttliches anzusehen. In ihre Brust kömmt selbst die Andacht nur mit Erdensorgen vermischt, und indem sie glauben, klüger und besser zu werden, vertauschen sie nur eine Jämmerlichkeit mit der anderen.« (Tieck 1994: 87)35
35 »Aber wenn alle Menschen Künstler wären, oder Kunst verständen, wenn sie das rein Gemüt nicht beflecken und im Gewühl des Lebens zerquälen dürften, so wären doch gewiß alle um vieles glücklicher. Dann hätten sie die Freiheit und die Ruhe, die wahrhaftig die größte Seligkeit sind.« (Ebd.)
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Diese Zersplitterung und Verstümmelung des Menschen durch Arbeitsteilung und funktionale Differenzierung vermag im Verständnis der Romantiker die Kunst zu heilen. Das Spiel der Kunst ermuntert den Menschen mit all seinen Kräften – wie Verstand und Gefühl, Imagination und Phantasie – zu agieren und verspricht ihn so aus einem, zum bloßen Abdruck seines Geschäfts gewordenen Leben, zu einer ganzheitlichen Existenz zu führen. Das romantische Kunstverständnis darf also nicht so gedeutet werden, dass zwischen Kunst und Leben eine Trennung vollzogen wird – im Gegenteil: Novalis’ ([1799/1800] 2005a: 51) Forderung – »Die Welt muss romantisiert werden« um so »den ursprünglichen Sinn wieder[zu finden]« – beinhaltet den utopischen Gedanken, dass die Welt einmal schöner gewesen sei, als sie sich uns nun darbietet. Diese Schönheit könne aber wiederkehren und der erste Schritt ist getan, wenn jedes Individuum aus der alles vereinnahmenden instrumentellen Vernunft ausbricht in eine Seinsweise des authentischen Ausdrucks, wo Gefühl, Phantasie und die spontanen Kräfte des Unterbewussten zu freier Verwirklichung gelangen können. Kunst wird hier sehr weit gefasst und greift auch ins tägliche Leben, da sie überall dort stattfindet, wo Menschen ihre Tätigkeiten mit gestalterischem Elan und vitalem Schwung verrichten. Deswegen ist Novalis auch überzeugt, dass sich selbst »Geschäftsarbeiten« poetisch behandeln lassen. Dem Künstler kommt »in unserem unfantastischen Zeitalter« (Schlegel 2005a: 93) dabei eine eminent wichtige Bedeutung zu, da er uns eine Welt aufzeigt, wie sie sein könnte, und uns zur Reflexion anhält. Für die Romantiker war die Kunst ein Mittel, solche poetischen Gegenwelten zu schaffen, die wiederum als Alternative zu einer Gesellschaftsmaschine, welche nach dem Diktat der Zweckrationalität und instrumentellen Vernunft funktioniert, Geltung beanspruchen. Das Adjektiv »romantisch« wird demnach keineswegs exklusiv auf literarische oder bildnerische Gegenstände bezogen, sondern markiert generell alles Wunderbare, Phantasievolle und Unendliche, das im scharfen Kontrast zum Alltäglichen steht. Im Sinne von Schlegels ›progressiver Universalpoesie‹ werden nicht nur die Spezialisierungen und Gattungsgrenzen in Wissenschaft und Kunst überwunden, sondern auch die Trennung zwischen dem alltäglichen Leben der Produktion und Reproduktion und den freien schöpferischen Impulsen aufgehoben. Diesen Impuls soll auch die Wissenschaft erfassen, die als langweilig und trivial empfunden wird, da sie sich zunehmend vom Alltag distanziert.36 Hegel (Phänomenologie des Geistes; zit.
36 Oder sie degeneriert zu einer ›Vor-Wissenschaft‹, die zwar im täglichen Leben wurzelt, jedoch reiner Zeitvertreib ist. Beispielhaft kommt eine solche im von Franklin 1748 veranstalteten »Elektrischen Dinner« zum Ausdruck: »Franklin und seine Freunde töteten einen Truthahn durch einen elektrischen Schlag und ließen ihn dann
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nach Safranski 2007: 59) nennt diese enthusiastische Vision einer ganzheitlichen Existenz einen »bacchantischen Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist.« Mit dieser Betrachtung des romantischen Kunstverständnisses wird uns nun auch klarer, was den Wesenskern des Romantischen eigentlich ausmacht. Man kann diesen mit den berühmten Worten Novalis’ (2005a: 51f.) auf den Punkt bringen: »Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisiere ich es.«
Zwischenresümee Die skizzierten Darstellungen zur Aufwertung des Empfindens, der Brüche in den Einstellungen zu Liebe, Ehe und Familie, sowie des Wandels hin zu einem völlig neuartigen Paradigma in der Kunst zeigen, wie sich die Idee vom authentischen Selbst entwickelte. Die Begründer der Ausdruckstheorie wie Rousseau, Herder, und vor allem die Romantiker, lieferten mit ihrer Betonung der Authentizität entscheidende Impulse für das moderne Selbstverständnis. Authentizität ist nach Charles Taylor (1995: 76ff) nicht nur an Schöpfung, Konstruktion und Originalität geknüpft, sie verlangt vor allem ihren in dialogischen Beziehungen geschaffenen Selbstausdruck auch gegen den Widerstand der althergebrachten Konvention durchzusetzen. Resümierend und ergänzend möchte ich hier noch einmal die wichtigsten Punkte im Wandel der sozialen Praktiken festhalten, der sich in dieser »Sattelzeit« vollzogen hat: 1. Wie wir also gesehen haben, ist der Authentizitätsbegriff ein Kind der Romantik. Diese hatte eine überaus kritische Einstellung gegenüber einem Atomismus, der keinerlei Gesellschaftsbande mehr kennt. Aus den Bedingungen einer restriktiven gesellschaftlichen Landschaft entwickelte sich der romantische Kreis mit seinen gegen jegliche Nützlichkeitserwägungen gerichteten Formen der freien Geselligkeit. Hier wurde die Freundschaft als Ersatzreligion gelebt, die eine Brücke vom ›Ich‹ zum ›Du‹ schlagend, auch als Fluchtpunkt aus einer
mit Hilfe eines elektrischen Bratenwenders vor einem Feuer rotieren, das durch eine elektrische Flasche entzündet worden war; dann tranken sie alle aus elektrisierten Gläsern auf die Gesundheit aller mit Elektrizität arbeitenden Wissenschaftler in England, Holland, Frankreich und Deutschland – und das alles beim Lärm einer sich entladenden elektrischen Batterie« (Lepenies 1978: 206).
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unpersönlichen Sozialwelt fungierte. Diese Geselligkeitsformen waren ein guter Nährboden dafür, individuelle Ausdrucksformen zu finden. Die Intersubjektivität – also das Empfindsame Sichhineinfühlen in fremde Seelen und der zweckfreie Austausch – erscheint in der Romantik geradezu als Voraussetzung für die Entwicklung und die Ausreifung der Individualität. Einsamkeitserfahrungen und Geselligkeitsbedürfnisse schließen sich hierbei nicht aus: »[…] ein gewisser gesetzlich organisierter Wechsel zwischen Individualität und Universalität« ist für Schlegel ([1799] 2007: 80) »der eigentliche Pulsschlag des höheren Lebens und die erste Bedingung der sittlichen Gesundheit.« Hier können wir eine parallele zu Martin Bubers Auffassung von Gemeinschaft feststellen. Für ihn entsteht eine solche, wenn in Form einer »Begegnung« jeder ganz das Sein des Anderen erfährt: »Nur wenn ich mit einem anderen wesentlich zu tun bekomme, so also, dass er gar nicht mehr ein Phänomen meines Ich, dafür aber mein Du ist, nur dann erfahre ich die Wirklichkeit des Mit-einem-redens – in der unverbrüchlichen Echtheit der Gegenseitigkeit.« (Buber: Das Dialogische Prinzip [1984]; zit. nach Turner 2005: 133)
Gemeinschaft ist für Buber aber nicht nur auf dyadische Beziehungen beschränkt. Wenn er vom »wesenhaften Wir« spricht, dann meint er »eine Verbindung mehrerer selbständiger, zum Selbst und zur Selbstverantwortung erwachsener Personen.« Es lässt sich unschwer das romantische Gesellschaftsideal erkennen, wenn es weiter heißt: »Das Wir schließt das Du potenziell ein. Nur Menschen, die fähig sind, zueinander wahrhaft Du zu sagen, können miteinander wahrhaft Wir sagen. […] Man kann […] keine bestimmte Art der Gruppenbildung als solche als Beispiel für das Wesenhafte Wir heranziehen, aber man kann bei manchen besonders genau die Abart bezeichnen, die die Entstehung des Wir begünstigt. […] die Aufnahme eines einzigen geltungssüchtigen, sich zur Schau stellenden Menschen wird genügen, um die Entstehung oder Entfaltung des Wir unmöglich machen.« (Buber: Das Problem des Menschen [1982]; zit. nach ebd.)
Wie Victor Turner festhält, hat eine solche Form der Gemeinschaft (Communitas) stets die Tendenz sozial vergänglich zu sein. Ist Buber davon überzeugt, dass diese in strukturelle Formen überführt werden kann, so zeigt Turner anhand des Schwellencharakters der Communitas ihre inhärente Kurzlebigkeit (ebd.). Auch den romantischen Geselligkeitsformen lässt sich eine gewisse Kurzlebigkeit attestieren, obwohl durch die Einrichtung der Salons Dauerhaftigkeit vermittels Institutionalisierung und Wiederholung angestrebt wurde. Warum diese
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Form der Communitas trotzdem zur Auflösung strebte und die fortschrittlichen Ideen der Romantiker im Konservativismus erstarrten, wird weiter unten noch erörtert werden (vgl. Kap. 2.7.1). Für die Entstehungsbedingungen romantischer Zusammenkünfte ist hier noch festzuhalten, dass die im 18. Jahrhundert immer komplexer werdende Sozialwelt eine Gesellschaft fördert, die zu groß wird um sich noch als Gemeinschaft begreifen zu lassen. Kristallisationspunkt solch atomisierter Lebensformen ist für die Romantiker die Stadt. Ihr gegenüber setzen sie die Faszination am Natürlichen, welche den Traum von überschaubaren und intakten Sozialbeziehungen ebenso beinhaltet, wie Lebensformen abseits hektischer Getriebenheit. Seit der Romantik besteht in Europa ein gewisser Hang zum Natürlichen, wie er in der Sehnsucht nach einem von Zwängen befreiten Dasein, nach einer harmonischen Beziehung zur Umwelt oder im stillen Genießen einer intakten Landschaft zum Ausdruck kommt. Der moderne Mensch sieht sich selbst von der Natur derart abgelöst, dass, wie Simmel (2001: 666) meint, »jenes Gefühl sehnsüchtigen Fremdseins und verlorener Paradiese entsteht, wie sie das romantische Naturgefühl charakterisieren.« Die Romantiker versuchten deshalb abseits von zweckrationalen Beziehungen und Zwängen der bürgerlichen Ordnung alternative Orte der Begegnung einzurichten. Sie entwickelten im kleinen Kreis – wie im Jenaer Zirkel oder in den Berliner Salons – zum einen neue fortschrittliche Sozialformen, die eine bessere Organisation der ganzen Gesellschaft vorwegnehmen sollen; und zum anderen sollten durch das Zusammenwirken unterschiedlicher Geister auch ganzheitliche interdisziplinäre Konzepte entstehen, wodurch »eine ganz neue Epoche der Wissenschaft und Künste beginnen [könnte], wenn die Symphilosophie und Sympoesie so allgemein und innig würde, dass es nichts seltenes mehr wäre, wenn mehrere sich gegenseitig ergänzende Naturen gemeinschaftliche Werke bildeten« (Schlegel 1962a: 185). 2. Zu diesen fortschrittlichen Sozialformen gehörten auch die emanzipatorischen Bestrebungen der romantischen Frauengestalten, die ihre eigenen Glücksvorstellungen zu verwirklichen suchten. Die in dem besprochenen Roman Lucinde geforderte Gleichberechtigung der Geschlechter, sowie die geistigseelisch-sinnliche Partnerschaft zwischen Mann und Frau trugen zumindest temporär zu einer Besserstellung der Frauen bei, die in der Salonkultur ein intellektuelles Betätigungsfeld fanden. Die Romantiker initiierten also einen Wandel im Diskurs von Sexualität und Liebe, der mit der Ausbildung eines neuen Individualismus korrespondierte. Liebe als Gefühl kann sich nur da einstellen, wo man sich vorbehaltlos in die individuellen Besonderheiten des Geliebten einfühlt. Schleiermacher und Friedrich Schlegel plädierten deshalb auch darauf, Ehen in
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denen diese Voraussetzung nicht erfüllt sind, und die lediglich instrumenteller Vernunftgründe wegen geschlossen wurden, wieder aufzulösen. Heftige Kritik erfährt auch eine aufgeklärte bürgerliche Moral, wo ökonomische Erwägungen selbst bis ins Intimleben reichen und man sich in den Dienst des ›gewöhnlichen Lebens‹ stellt: »Ohne irgend eine Ausnahme für besondre Naturen gelten zu lassen, sollten alle gleichermaßen in das Joch gewisser bürgerlicher Pflichten gespannt werden, in das Gewerbs- und Amts- und dann in das Familienleben, und zwar nicht aus Patriotismus und Liebe, sondern um den Acker des Staates wie Zugvieh zu pflügen und die Bevölkerung zu befördern.« (A.W. Schlegel 1999: 8)
Die frühen Experimente mit alternativen Vorstellungen von Partnerschaft und Ehe versandeten jedoch bald wieder, ehe sie zu Beginn des 20. Jahrhundert von der radikalen Frauenbewegung und einiger besonders individualistischer Frauen im Rahmen lebensreformerischer Bestrebungen wieder aufgegriffen wurden. Allgemein lässt sich jedoch festhalten, dass Liebesbeziehungen und die Familie als Hort der Geborgenheit nun umso wichtiger werden, je mehr sich letztere aus allen anderen Lebenssphären verflüchtigt. Im 18. Jahrhundert erfreut sich somit ein neuartiger Liebesdiskurs breiter öffentlicher Anerkennung, wonach man beginnt, Heiratspartner nach persönlichen Vorlieben auszuwählen, sich leidenschaftlich zu verlieben und sein Heil in der gefühlvollen Verschmelzung mit dem oder der Auserwählten zu suchen. Dieses neue Ideal spiegelt sich in der Literatur der Zeit wieder: »For the first time in history, romantic love became a respectable motive for marriage among the propertied classes, and that at the same time there was a rising flood of novels […] devoted to the same theme.« (Stone: The Family, Sex and Marriage in England 15001800; zit. nach Campbell 2005: 27)
Nicht länger wird man von einer übergreifenden Ordnung an einen bestimmten Platz gesetzt, den es unhinterfragt auszufüllen gilt; nunmehr heißt es selbst zu gestalten und sein Leben zu bestimmen – auch und vor allem in Liebesbeziehungen. Die Ansprüche auf individuelle Selbstverwirklichung, sowie die Widersprüche, welche die normativen Postulate des Berufslebens und die des Familienlebens mit sich bringen, stellen die hohen Erwartungen an ein romantisches Liebesideal dabei immer wieder vor große Herausforderungen:
108 | D IE K ONTINUITÄT ROMANTISCHER I DEEN »The notion that there is only one Person in the world with whom one can fully unite at all levels; the personality of that person is so idealized that the normal faults and follies of human nature disappear from view; love is often like a thunderbolt and strikes at first sight; love is the most important thing in the world, to which all other considerations, particularly material ones, should be sacrificed; and, lastly, the giving of full rein to personal emotions is admirable, no matter how exaggerated and absurd the resulting conduct may appear to others.« (Ebd.)
3. Folgt man Taylors inhaltlicher Füllung des Begriffs »Authentizität« wird klar, dass er eine enge Verbindung zur Kunst aufweist. Diese ist vor allem für zwei Prinzipien konstituierend, die seit der Romantik bis in unsere Zeit die Vorstellung von Kunst beeinflussen: Die Abkehr von der Naturnachahmung und die radikale Kunstautonomie. Wie wir gesehen haben, gehört nun zum künstlerischen Schaffensprozess nicht mehr bloß die Abbildung der Wirklichkeiten, sondern das Genie lässt sich aus den Untiefen seiner inneren Quelle leiten um neue Formen hervorzubringen. Romantische Kunst ist keine Mimesis, sondern zielt darauf ab, einen anderen Blickwinkel auf die so genannte ›Realität‹ zu erzeugen, mit dem Ziel uns von alltäglichen Sichtweisen und stereotypen Schematisierungen zu befreien. Hier wird der Künstler zum Seher, der seine Visionen in seinen Werken zum Ausdruck zubringen sucht und den Menschen die geistige Realität vermittelt. Damit tritt freilich der Künstler – wie Schleiermacher bemerkt – an die Stelle des Priesters, und Kunst wird ein Äquivalent der Religion. Der Künstler, den Schleier des Wohlvertrauten durchblickend, »ist ein wahrer Priester des Höchsten, indem er ihn [Gott] denjenigen näher bringt, die nur das Endliche und Geringe zu fassen gewohnt sind; er stellt ihnen das Himmlische und Ewige dar als einen Gegenstand des Genusses und der Vereinigung, als die einzige unerschöpfliche Quelle desjenigen, worauf ihr ganzes Dichten gerichtet ist« (Schleiermacher [1799] (1958): 7). Die Romantiker verfügten über ein erstaunliches Krisenbewusstsein, da sie genau erkannten, dass mit der fortschreitenden Entzauberung auch die rituelle Darstellungsmacht der christlichen Religion schwindet und sie es dadurch immer schwerer hat, ihre Schäfchen in eine starke Wir-Identität zu integrieren. Die Romantiker förderten zwar die Freiheitspotenziale des Individuums und übten dementsprechend scharfe Kritik an den einengenden verknöcherten Institutionen und Traditionen der Zeit, erkannten aber auch, dass eine Gesellschaft ohne Wir-Identität nicht existieren könne. Hier fanden sie in der Kunst genau jene Sphäre, welche Rituale des Ausstiegs aus dem Alltag und der ansteckenden Einbindung in sinnliche Erfahrungsbereiche außerhalb der Zweckrationalität hervorbringt und verwaltet. Kunst mit der Aura des Religiösen verse-
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hen, soll nun die neue Kraft zur Integration in eine Wir-Identität liefern. Ihren progressiven Charakter erhält sie aber auch durch die Forderung, in den Menschen das Organ zu wecken und auszubilden, welches sie befähigt, in den Dingen der Erscheinungswelt deren Entwicklungstendenzen zu sehen, damit auch sie sich als handlungsfähige Subjekte im Prozess der Vervollkommnung der Welt begreifen. Kunst gibt so immer ein Bild des Möglichen, nach dem sich unsere Handlungen messen lassen um von dort aus fortschreiten zu können. Radikale Kunstautonomie hat mit einem zweiten Motiv des Romantischen zu tun – Widerstand gegen eine in allen Belangen zur Einseitigkeit neigende Gesellschaft. Das romantische Kunstverständnis ist hier nicht von den lebenspraktischen Bezügen abgekapselt, sondern wenn von Autonomie die Rede ist, geht es vielmehr darum, die Kunst von den Sphären der instrumentellen Vernunft fernzuhalten. Dementsprechend sollen die Menschen der neuzeitlichen Gesellschaft auch durch sie aus ihren Verstrickungen in materielle Abhängigkeiten und fremdbestimmte Lebensumständen geführt werden. Diese Grundhaltung spiegeln die romantischen Protagonisten in Dichtung und Roman wieder. Zumeist sind es Künstler – Poeten, Maler, Musiker – deren Kunstverständnis ihnen zugleich eine Deutung der Welt liefert und die, da sie sich nicht an die dominierenden gesellschaftlichen Spielregeln halten, eine Existenz am Rande der bürgerlichen Welt führen. So kümmert sich der musikalische Held in Eichendorffs Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts ([1826] 2008) wenig um Geld und Besitz – ja er lehnt es sogar entschieden ab, als er für seine Kunst des Fiedelns von einem Biedermann Bezahlung erhalten soll. »Mich ärgert das«, meint er, »wenn ich gleich dazumal kein Geld in der Tasche hatte. Ich sagte ihm, er sollte nur seine Pfennige behalten, ich spiele nur so aus Freude, weil ich wieder bei Menschen wäre« (ebd. 41). Für eine auf instrumentelle Vernunft setzende Gesellschaft, die nach ökonomischen Äquivalenzregelungen funktioniert, sind solche Haltungen natürlich eine Provokation. Die Kunst erfährt also im 18 Jahrhundert eine Ausdifferenzierung und wird zu einem System für sich, worin wiederum die Logik des ökonomischen Systems keinen Platz hat. Nur aus dieser Position der Unabhängigkeit gegenüber den rationalen Funktionsmechanismen der bürgerlichen Welt lässt sich im künstlerischen Prozess das ›Ich‹ finden, indem es – nach Schelling – seine inneren Quellen aufspürt. Dadurch wird der ganze Mensch mit all seinen Kräften mobilisiert und setzt in Bewegung, was sonst brach liegt (Röder 1979: 164). Die Kunst als freie Tätigkeit kann den Menschen durch die Konfrontation mit dem von der Vernunft Verdrängten über sich selbst aufklären. So verstanden lässt sich auch nicht von einer reaktionären Verweigerung politischen Handelns sprechen, mit dem die Romantik gerne in Verbindung gebracht wird, da das progressive Kunstverständnis auf eine Außerkraftsetzung einer umfassenden Quan-
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tifizierung und Technisierung unserer Lebenswelt abzielt und von den Protagonisten als kulturrevolutionäres Programm entwickelt wurde. Mittel der romantischen Kunst ist die Einbildungskraft, die es zu schulen gilt, denn: »Die Einbildungskraft ist der wunderbare Sinn, der uns alle Sinne ersetzten kann – und der so sehr schon in unsrer Willkühr steht. Wenn die äußeren Sinne ganz unter mechanischen Gesetzen zu stehen scheinen – so ist die Einbildungskraft offenbar nicht an die Gegenwart und Berührung äußerer Reize gebunden.« (Novalis: Werke; zit. nach Stockinger 1994: 100)
Kunst wird bei den Romantikern so zur Therapie gegen die durch Aufklärungsnaturalismus und Entzauberung sichtbar gewordenen Schäden der modernen Kultur. Schließlich hilft die Einbildungskraft auch bei der Kompensation eines »unfantastischen Zeitalters«. Wenn die Normzwänge, die Individuen aufeinander ausüben, zu stark werden, flüchtet sich der Romantiker aus der empirischen Welt in eine künstlerische Gegenwelt. Die so entstehenden fiktionalen Freiräume sind Auffangbecken für all jene Kulturpraktiken, Seinsformen, Symbolwelten und Naturbeziehungen, die der Modernisierung zum Opfer gefallen sind. Das Verdrängen dieser Sinngehalte zugunsten der instrumentellen Vernunft belastet die Bilanz der Moderne, durch zunehmend radikalere Krisen, auf ruinöse Weise. Was den empfindsamen Subjekten also noch bleibt, lässt sich in der Aufforderung von Tieck an Wackenroder (Werke und Briefe [1967]; zit. nach Pikulik 1992: 31) ablesen: »Genau genommen solltest Du Dich allein mit der Musik, und ich mit der Dichtkunst beschäftigen, denn die Welt ist wirklich nicht für uns, so wie wir nicht für die Welt.« Einen Sinntransfer erfährt dieses romantische Autonomiekonzept der Kunst durch seine Integration in die bürgerliche Welt. Gerade die Forderung nach einer von zweckrationalem Handeln gesäuberten und vom Leben separierten Sphäre der Kunst findet an das bürgerliche Selbstverständnis Anschluss und wird von diesem assimiliert. In einem durch diese Annahmen geleiteten Kunstgenuss »erfährt der in seiner Lebenspraxis auf eine Teilfunktion reduzierte Bürger sich als ›Mensch‹; er vermag hier die Fülle seiner Anlagen zu entfalten, jedoch nur unter der Bedingung, dass dieser Bereich streng von der Lebenspraxis geschieden bleibt«. Somit wird, wie Peter Bürger (1974: 66) betont, »die Trennung der Kunst von der Lebenspraxis zum entscheidenden Merkmal der Autonomie der bürgerlichen Kunst.« Neben dem romantischen ›retreat‹ in den künstlerischen Praktiken – wie sie sich im stillen Musikhören, aber auch im kontemplativen Landschaftsgenuss äußern (Reckwitz 2006: 223-231) – besteht jedoch auch die Forderung, Kunst auf alle Lebensbereiche auszudehnen und die Distanz zu ant-
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agonistischen Systemen, wie das der Wissenschaft, aufzuheben (»Die Welt muss romantisiert werden«). »Leben und genialisches Princip oder Genie ist eins«, notiert Novalis (2001b: 440) als Anmerkung zu seinen naturwissenschaftlichen Studien und verkündet in vitalistischer Begeisterung die Verknüpfung von Kunst und Leben. Dementsprechend büßt ein derart verstandenes Kunstprogramm auch nicht seine emanzipatorischen Potenziale ein, die bei einer schlichten Reduktion der Kunst auf ein autonomes und von der Lebenspraxis entkoppeltes Feld unter die Räder kommt: »Werte wie Menschlichkeit, Freude, Wahrheit, Solidarität werden gleichsam aus dem wirklichen Leben abgedrängt und bewahrt in der Kunst. Die Kunst hat in der bürgerlichen Gesellschaft eine widersprüchliche Rolle: Sie entwirft das Bild einer besseren Ordnung, insofern protestiert sie gegen das schlechte Bestehende. Aber in dem sie das Bild einer besseren Ordnung im Schein der Fiktion verwirklicht, entlastet sie die bestehende Gesellschaft vom Druck der auf Veränderung gerichteten Kräfte. Diese werden in einem idealen Bereich gebunden.« (Bürger 1974: 68)37
Diese Form der bürgerlichen Konservierung des Protestes in der Sphäre der Kunst, bei gleichzeitiger Sedierung des Publikums, wird dann die Avantgardebewegung im 20. Jahrhundert aufgreifen, die den romantischen retreat verwirft und sich auf die Überführung der Kunst in den Lebensprozess fokussiert. 38 Auch in Bezug auf die Forderung nach Poiesis lässt sich ein Sinntransfer aus der Romantik feststellen, der die postmodernen Praktiken wie Arbeit, Liebe, Religion usw. stark beeinflusst hat. Hatte schon Herder die Anwendung seiner Ausdrucksanthropologie auf die gesamte menschliche Lebensführung im Blick (Joas 1996: 120f.), so ist der Anspruch nach Kreation nun auch nicht mehr allein in der Sphäre der Kunst zu finden, sondern dehnt sich auf alle Lebensbereiche aus. Heute gilt es, sein Leben wie ein Kunstwerk zu betrachten, wozu ein mög-
37 Ähnliche Vorwürfe werden auch der Religion zuteil, wie sie paradigmatische in der marxschen Formulierung Religion sei »Opium des Volkes« zum Ausdruck kommen. Auch Walter Benjamin (2006: 65), der sich intensiv mit den Strömungen der Avantgarde beschäftigte, sieht die problematischen Seiten einer Verknüpfung des romantischen Rückzugs mit konservativen bürgerlichen Idealen, denn gerade die Versenkung wurde in der Phase »der Entartung des Bürgertums eine Schule des asozialen Verhaltens«. 38 Auch der Avantgarde ging es um eine emanzipatorische Haltung der Freisetzung von schöpferischen Potenzialen im Menschen und um den Widerstand gegen seine Instrumentalisierung – hier lassen sich also unschwer romantische Motive erkennen.
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lichst authentisches Leben – also die aktivistische Entfaltung eines individuell einmaligen Wesenskerns gehört. Taylor (1983) hat hierfür den Begriff »Expressivismus« verwendet, der ihm als Grundlage für den neuen Individuationsbegriff gilt. Dieser schließt die im 18. Jahrhundert aufkommenden Vorstellungen mit ein, wonach jedes Individuum etwas Ureigenes ist und durch dessen Originalität festgelegt wird, wie es leben sollte. Auch Georg Simmel verweist mit seinem Konzept des »qualitativen Individualismus« auf eine Sehnsucht nach Authentizität und originellem Selbstausdruck, die, wie er meint, in der historisch-lokalen Bewegung der Romantik ihren Ausgangspunkt nahm, sich jedoch schnell verbreitete: »Für diesen Individualismus – man könnte ihn den qualitativen nennen gegenüber dem quantitativen des 18. Jahrhunderts oder den der Einzigkeit gegenüber dem der Einzelheit – war die Romantik vielleicht der breiteste Kanal, durch den er in das Bewusstsein des 19. Jahrhunderts einfloss.« (Simmel 2008: 352)
Das Neue an dieser Lebensweise ist nun die zum Imperativ geronnene Gebetsformel: ›Du musst deiner eigenen Originalität gerecht werden, deinen eigenen Weg beschreiten, stets deiner inneren Stimme folgen ohne Vorbilder oder Autoritäten außerhalb deiner selbst zu suchen‹. Die Voraussetzung eines authentischen Ausdrucks ist die Erkenntnis der eigenen Natur. Taylors These besagt, dass diese Idee der Natur als innere Quelle mit einer expressiven Anschauung des menschlichen Lebens einhergeht. »Meine Natur erfüllen« meint demnach die Stimme in meinem Inneren anzuerkennen und das, was vormals noch verborgen war, nun mir selbst als auch anderen gegenüber zum Ausdruck zu bringen (Taylor 1996: 652). Die Romantiker wiesen solche Wege zu den inneren Quellen der Natur. Nach Novalis (2004: 532) liegt in jedem Menschen ein Universum, das es zu erforschen gilt, denn »wir können alles aus uns selbst herausbilden, und nichts von innerlicher Beständigkeit und Zufriedenheit ist an eine äußere Stelle gebunden«. Dies drückt ein Lebensgefühlt aus, das sich kompromisslos moderne Individuen als Slogan auf die Fahnen heften können.39 Der für die Zeit typische Wandel im Selbstbewusstsein lässt sich besonders an der literarischen Gattung des Romans veranschaulichen. Sind, wie Elias (2007a: 142) anmerkt, die Prosaschriften früherer Jahrhunderte noch sehr auf die Außenwelt gerichtet, da sie Ereignisse wiedergeben und von Tätigkeiten der Menschen berichten, so konzentriert sich die Aufmerksamkeit der Schriftsteller
39 Über den Ausdruck des Authentizitätsideals in postmodernen Praktiken des Essens, der Kunst, des Musikhörens usw. siehe Lindholm 2008.
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nun zunehmend auf die ›innere Landschaft‹ der »inmitten der Ereignisse stehenden Menschen die Ereignisse erlebten«. Diese in der Literatur aufkommende Wende nach innen zeigt die besondere Sensibilität der Künstler, welche den gesellschaftlichen Wandel hin zu einer neuen Bewusstseinsebene feinfühlig registrierten. Denn würde sich dieser nicht im Zusammenleben der Menschen vollzogen haben, gäbe es wohl auch kaum Rezipienten, da keiner diese Werke verstanden hätte. Folglich hat es in dieser Zeit auch einen entscheidenden Wandel in der Sprache gegeben, die nun eben nicht mehr hauptsächlich als Mittel zur richtigen Abbildung einer unabhängigen Realität benutzt wird, sondern zur expressiven Äußerung dessen, was wir sind. Diese Feststellungen zeigt uns, wie stark die expressive Individuation in unserer modernen Kultur wirkt, nämlich auf eine Weise, dass wir kaum bemerken, dass diese Vorstellungen erst recht jungen Datums sind und in früheren Zeiten völlig unverständlich gewesen wäre. Doch nicht nur den Wandel im Selbstbewusstsein griffen die Romantiker auf, auch gegenüber den begleitenden Veränderungen in den Denkstrukturen bezogen sie ihre Positionen – so vor allem gegen die alles vereinnahmenden Anschauungen der Aufklärung.
2.4 D IE
INSTRUMENTELLE V ERNUNFT DER UND IHRE GEBILDETEN V ERÄCHTER
A UFKLÄRUNG
Wenn wir uns nun in den folgenden Betrachtungen dem Romantischen als alternative Geisteshaltung zuwenden, die mit den Schlagwörtern phantastisch, erfindungsreich, metaphysisch, imaginär, sinnlich, überschwänglich, abgründig umrissen werden kann, dann soll zuallererst bestimmt werden, wogegen sich die »Ausdruckstheoretiker« (Taylor) mit solcher Vehemenz richteten, dass ihre Ideale für viele gegenkulturelle Bewegungen und kritische Haltungen gegenüber den Paradigmen unserer Gesellschaft ihre Kraft behielten. Hier wird gemeinhin die Aufklärung ins Spiel gebracht, aus deren einseitigen Anschauungen sich das Protestpotenzial der Romantiker speiste. Bevor ich nun auf das Aufklärungsdenken im Besonderen eingehe, möchte ich zuerst auf die philosophischen Wurzeln hinweisen, die für diesen dominierenden Strang in unserer Geistesgeschichte maßgeblich waren.
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2.4.1 Die Welt als Maschine »Wer will was Lebigs erkennen und beschreiben, Muss erst den Geist herauser treiben, Dann hat er die Theil in seiner Hand, Fehlt leider nur das geistlich Band.« JOHANN WOLFGANG V. GOETHE: URFAUST
Für die epochale Bestimmung des modernen Individuums wurde schon oben einleitend der Beitrag Descartes’ erwähnt, der auch der Wissenschaft ein neues philosophisches Fundament verschaffte. Descartes wurde mit seinem Denken zum Propheten einer wissenschaftlichen Zivilisation, da er in einer Zeit, in der sichere Erkenntnis durch den beginnenden Zerfall eines traditionellen Weltbildes fraglich geworden ist, diese auf unbestreitbare Grundlagen stellen wollte. Hierfür entwickelte er ein Denkmodell, das nur solche Ideen als Wahr anerkannte, die sich widerspruchslos und klar dem Verstand präsentierten. Mit Hilfe einer disziplinierten, kritischen Rationalität vermöge man demzufolge zuverlässige Informationen über die Welt zu sammeln, die von den Eintrübungen der Phantasie sowie der Sinne gereinigt sein sollten. Vermittels des methodischen Zweifels werden aber letztlich alle Realitäten in Frage gestellt – allein das denkende Ich, das sich seines Zweifels bewusst ist existiert (Cogito ergo sum – ich denke also bin ich). Das Cogito wurde so zum Gradmesser für alles sichere Wissen, welches durch unmittelbare einsichtige rationale Betrachtung klar und deutlich erkannt werden kann und demnach nicht weiter anzweifelbar ist. Diese Denkweise – als ›cartesianischer Dualismus‹ bezeichnet – führt uns nun zu der bedeutsamen Unterscheidung zweier Bereiche innerhalb der Welt. Er übte einen bestimmenden Einfluss auf das westliche Denken aus, da er lehrt mit zwei getrennten Wirklichkeiten zu operieren. Der rationale Mensch wusste nun zwar um die Gewissheit seines eigenen Bewusstseins, aber auch um die Fremdheit alles dessen, was Außerhalb seiner selbst liegt. Diese gesamte Außenwelt, die den menschlichen Geistes umgibt, – Res extensa – mit ihren materiellen Substanzen, den Pflanzen und Tieren sowie dem physikalischen Universum ist ja der unmittelbaren Erkenntnis nicht zugänglich, weshalb die Res cogitans als das Denkende, das Geistige, also der Innenwelt des Menschen Zugehörige, als grundverschieden und getrennt zu dieser gedacht wird (Röd 1996: 26ff.). Auf der einen Seite stehen also Seele und Bewusstsein des Menschen – subsumiert unter die Begriffe Verstand und denkerische Aktivität. Auf sicheres rationales Verstehen gerichtet traut man der Einbildungskraft mit ihren phantastischen Verzerrungen genauso wenig über den
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Weg, wie den Gefühlen40. Am anderen Ende des Dualismus stehen die Objekte der Außenwelt, denen es an subjektivem Bewusstsein, an Geist fehlt. Als rein materielle Objekte und frei von jeglichen Anthropomorphismen können die physikalischen Phänomene der Außenwelt ihrem Wesen nach als Maschinen begriffen werden, von denen die höchste und größte, das von Gott nach mechanischen Gesetzen geschaffene Universum ist.41 Im Reich der Materie hat der Geist nichts verloren – könnte man den cartesianischen Dualismus auf einen Nenner bringen. Wir müssen demnach aufhören die Außenwelt als Ort der Eigenschaften, wie sie nur der menschliche Geist hervorzubringen vermag, zu begreifen. Dies gelingt ganz einfach dadurch, indem wir sie objektivieren und sie als bloßen Mechanismus ihrer geistigen Dimensionen entkleiden – sprich radikal ›Entzaubern‹. Nach Taylor (1996: 266; 2002b: 238-248) wurde aus dieser wirkmächtigen Geisteshaltung das ›desengagierte Subjekt‹ geboren, welches »die Welt – einschließlich des eigenen Körpers – objektiviert, und das heißt, […] sie nach und nach mechanistisch und funktional [zu] sehen, also ebenso, wie ein außenstehender unbeteiligter Beobachtern sie sähe.«42 Der menschliche Körper, wie der aller Lebewesen, ist also ein nach mechanischen Bewegungsgesetzen funktionierender Automat, der gleich einem komplizierten Uhrwerk funktioniert. Gott hat allein die mechanischen Gesetze festgelegt, gemäß denen das Räderwerk dann in Gang gesetzt wurde. Das von Descartes vorgelegte Modell der Herrschaft durch Vernunft beruht auf instrumenteller Kontrolle. Das Universum ist nun kein lebendiger, von einem teleologischen Zweck beseelter Organismus mehr, da es durch das Licht des
40 Descartes bemühte sich in seiner Metaphysik um das Erlangen von absolut sicherem Wissen. Um ein solches zu gewährleisten müsse man jedoch erst all jenes ausschalten, das auch nur im Geringsten unsicher ist – »so wie wenn man ein Gebäude auf sicheren Grund stellen will, Sand, Geröll und loses Erdreich wegräumen muss.« (Ebd. 21) 41 Das Universum wurde bis in die Achtziger-Jahre des 19. Jahrhunderts gemäß der mechanisch-cartesianischen Denktradition als ein Mechanismus – eine große Maschine, »ohne Anfang, ohne Ende, ohne Sinn«, beschrieben (Cap 2005: 22). 42 Denken und Fühlen – also der ganze Bereich des Psychologischen – sind nunmehr auf den Geist beschränkt. Taylor zeigt, dass diese uns modernen Zeitgenossen selbstverständlich erscheinende Vorstellung keineswegs immer bestand hatte. In der griechischen Philosophie kommt richtiges menschliches Erkennen und Werten dadurch zustande, dass man ein adäquates Verhältnis zwischen sich selbst und der Bedeutung herstellt, welche die Dinge ontisch bereits besitzen. Für das desengagierte Subjekt der Neuzeit sind Denken und Werten ganz klar lokalisiert: im Geist, denn »der Geist ist nun der ausschließliche Ort solcher Realitäten«. (Ebd. 332fff.)
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menschlichen Verstandes – der sich dem Instrument der Mathematik bedient – vollends ausgeleuchtet werden kann. Dementsprechend ist dem Menschen nun auch ein direktes Verstehen der Naturkräfte möglich, damit er sie für seine Zwecke nutzbar machen kann. Die Reichweite der Kontrolle beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Materie. Ebenso schließt sie die Leidenschaften mit ein, die man der instrumentellen Leitung der Vernunft zu überantworten hat. »Übrigens besteht der wahre Gebrauch unserer Vernunft für die Lebensführung nur darin, den Wert aller Vollkommenheiten, sowohl des Körpers als auch des Geistes, die durch unser Verhalten erworben werden können, ohne Leidenschaft zu prüfen und zu erwägen, damit wir immer die besten wählen.« (Descartes: Brief an Elisabeth [1645]; zit. nach Taylor 2009: 234)
So sind auch jene »großen Seelen« den Niederen und Gewöhnlichen, welche »sich in ihren Gefühlen gehen lassen« (Descartes: Briefe; zit. nach Taylor 1996: 278) gegenüberzustellen. Die Beherrschung der Leidenschaften durch das Denken und die völlige Autonomie des menschlichen Verstandes berührt eine ganz neue Auffassung der Innerlichkeit. War das Subjekt zuvor noch insofern abhängig, dass Gott in seinem Inneren gewirkt hatte, so führt die Idee der Trennung von Geist und Materie zu einer auf Unabhängigkeit bedachten Innerlichkeit, welche durch die Systematisierung durch die Vernunft »auch dazu beigetragen hat, der modernen Gottlosigkeit den Boden zu bereiten« (Taylor 1996: 287). Der menschliche Verstand wurde folglich durch die Unbezweifelbarkeit des denkenden Ich von Descartes auf den Thron gehoben. Allein er ist nun in der Lage, sichere metaphysische Wahrheit zu erkennen, da er mit Unfehlbarkeit gesegnet wurde, welche einst nur dem Papst und der Bibel vorbehalten war. Richard Tarnas (1998: 352) fasst die Neubestimmung des modernen Subjekts zusammen: »Konzipiert als ein völlig eigenständiges, sich selbst bestimmendes Wesen, für das sein rationales Selbstbewusstsein absolut primär war, zweifelte es alles an außer sich selbst. […] Es begriff sich als ein denkendes, beobachtendes, messendes, manipulierendes Wesen; es setzte sich als völlig verschieden von einem objektiven Gott und einer äußeren Natur. Die Frucht dieser Spaltung zwischen rationalem Subjekt und materieller Welt war die Wissenschaft: die Fähigkeit, sicheres Wissen von der Welt zu liefern und den Menschen zum ›Herrn und Meister der Natur‹ zu machen.«
Nun wird auch deutlicher, welchen Stellenwert diese, auf Descartes gründende und nach Taylor (2002b) im Aufklärungshumanismus kulminierende, Facette
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des Denkens, für uns moderne Zeitgenossen inne hat. Die Idee der cartesianischen Sichtweise, welche die Verbindung von Wissenschaft, Fortschritt, Verstand und menschlicher Identität mit einem mechanischen Universum eingeht, strahlt als wirkungsvolle Idee bis in unsere Zeit aus. Im 18. Jahrhundert führte sie zu einer Beschleunigung des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts und zur Omnipotenz des Vernunftdenkens, durch das sich die Logik der Natur vollends begreifen lässt und der Mensch sich zu ihrem Beherrscher aufschwingt. Die Aussperrung alles Irrationalen sollte eine Humanisierung der Lebenswelt bewirken, da allein rationale Individuen dazu in der Lage seien, die Welt und sich selbst zu verstehen und auf diese Weise zum Wohl des Ganzen zu handeln. Doch sie mündete in der zweckrationalen Normierung des modernen Subjekts. Daraus folgt außerdem die »Selbstverantwortlichkeit« (Taylor: 1996: 303; 2002b: 247) des Menschen, der nunmehr mit seiner desengagierten Vernunft gerüstet, allen Autoritäten feindlich gegenüber steht. Zur Vollendung und kulturellen Durchsetzung gelangten diese Vorstellungen am Ende der Aufklärung, wo der menschliche Verstand die tradierten Quellen der Erkenntnis völlig verdrängt hatte und seine eigenen Grenzen als identisch mit den Grenzen der empirischen Wissenschaften definierte. Noch ein Gedanke wird hier wichtig, nämlich der Umgang mit der Emotionalität. Das Denken – an sich in den Bahnen des Ursache-Wirkungs-Prinzips organisiert – wird konfus wenn sich res cogitans und res extensa nicht klar voneinander scheiden lassen. Doch gerade bei der menschlichen Emotionalität scheint dies der Fall zu sein, und da sich hier die an sich unmischbaren Substanzen berühren, ist sie auch der Grund dafür, dass die Herrschaft der reinen Vernunft auf Erden nicht anbrechen will (Geyer 1997: 51). Um diesem Störfaktor Herr zu werden, muss der chaotische Bereich menschlicher Emotionalität der Ordnung reiner Vernunft unterworfen werden. Damit liefert Descartes der Aufklärung auch eine Ethik, die diese als Basis für das sich neu etablierende Paradigma verwendete. Im 18. Jahrhundert ging der cartesianische Dualismus eine fruchtbare Verbindung mit den sich nun etablierenden technologischen Innovationen ein, welche zusammengenommen einen tiefgreifenden Wandel im Selbstbewusstsein, wie auch in den materiellen Lebensgewohnheiten der Menschen herbeiführten. »Die Definitionen, Vorstellungen und Konzepte der Philosophen waren Teil eines sehr viel umfassenderen Entwicklungsvorgangs, durch den innerhalb der folgenden zwei Jahrhunderte das Gesicht der Erde und die Lebensweise der Menschen in einem Maße umgestaltet wurden, wie nicht in tausend Jahren zuvor. Naturwissenschaftliche Entdeckungen im 18. Jahrhundert ermöglichten die Ausbildung der modernen Maschinentechnik und die weitgehende Herrschaft über die Natur, sodass ein Gott entbehrlich zu werden schien. Der
118 | D IE K ONTINUITÄT ROMANTISCHER I DEEN Weg zu den Antipoden wurde endgültig erschlossen und damit die Erde als Ganzes [sic!] greifbar für politischen, sowie ökonomischen Unternehmergeist.« (Schulz: Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration; zit. nach Schweizer 2008: 110)
Allgemein wird für diese Zeit eine Konsumrevolution diagnostiziert, in der eine aufkommende Mittelschicht nach den Gütern strebte, die vormals nur den Adelshäusern zugänglich waren (Cambell 2005; Bayly 2008). Politische und ökonomische Veränderungen begannen das traditionelle Fundament einer ständisch organisierten Gesellschaft aufzuweichen. So bewirkte beispielsweise die Agrarrevolution, welche die Leibeigenschaft und die Frondienste abschaffte, eine umfassende Entlassung der bäuerlichen Bevölkerung in die gesellschaftliche und berufliche Mobilität. Das europäische Gesellschaftssystem machte nun die ersten Erfahrungen mit den praktischen Vorteilen einer stärkeren Ausdifferenzierung funktionsbezogener Teilsysteme. »Was mit der signifikanten Ausweitung des geldwirtschaftlichen Sektors und einer Intensivierung besonders des städtischen Handelskapitals in den oberitalienischen und süddeutschen Kaufmannszentren im 15. Jahrhundert begann, erreichte nun erst um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert eine Dynamik, die mit einer politischen und einer industriellen Revolution die Weichen für eine moderne, funktional strukturierte Gesellschaft in Europa und Nordamerika unumkehrbar stellte.« (Kremer: 2003: 2)
In zahlreichen Regionen Deutschlands entstanden vor 1800 ›Protofabriken‹, welche die Vorläufer der späteren Industriefabrik waren. Diese wiesen schon eine fortschrittliche arbeitsteilig zergliederte Produktionsweise auf, wobei die zerlegten und vereinfachten Arbeitsvorgänge nach und nach von Maschinen erledigt wurden. »Sie heben die handwerksmäßige Tätigkeit als das regelnde Prinzip der gesellschaftlichen Produktion auf« und bilden nach Marx (Werke; zit. nach Wehler 2008: 116) einen der Ausgangspunkte, »wovon die industrielle Revolution im 18. Jahrhundert ausgeht«43. Die Rationalisierung der Produktionsprozesse entsprach einer immer rascheren Herstellung von Waren, die nun auf dem Markt einen massenhaften Absatz fanden. Hier lässt sich auch schon das Grundgefühl jener Zeit erahnen, das durch diese tiefgreifenden Veränderungen evoziert wurde und sich als ›Beschleunigung der Zeit‹ jenen empfindsamen Subjekten aufdrängte, welche dann dazu auch kritisch Stellung bezogen.
43 Hier kann nicht auf eine detaillierte Beschreibung des sozioökonomischen Wandels der Zeit eingegangen werden. Zur historischen Analyse siehe deshalb ebd.
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2.4.2 Romantische Gesellschaftskritik und ihre Ausstrahlung »Ich hör ein Bächlein rauschen Im Walde her und hin, Im Walde in dem Rauschen Ich weiß nicht, wo ich bin. Die Nachtigallen schlagen Hier in der Einsamkeit, Als wollten sie was sagen Von der alten, schönen Zeit.« JOSEPH EICHENDORFF
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts verdichten sich die unterschiedlichen Aspekte der zunehmenden Individualisierung, der Rationalisierung in Technik, Wissenschaft und Ökonomie sowie der speziellen revolutionären politischen Umstände derart, dass die nach eingespielten, langsamen Zeitrhythmen funktionierenden traditionellen Erfahrungsräume nachhaltig in Bewegung versetzt wurden. Hier treten nun keineswegs nur die positiven Aspekte der Fortschrittsgeschichte hervor, denn angesichts eines umfassenden beschleunigten sozialen Wandels werden die Individuen plötzlich erstmals mit immer rascher wechselnden Situationen konfrontiert und vor ständig neuen Möglichkeiten mit offenem Zukunftshorizont gestellt. Die Romantiker erwählten die sich daraus ergebenden Identitätskrisen zu Leitthemen ihrer poetischen Werke und Fragmentsammlungen. Aus dem hier vorangestellten Gedicht von Joseph Eichendorff spricht jenes verirrte und irritierte Subjekt, das auch in zahlreichen anderen charakteristischen Werken der Romantik seinen Auftritt hat. Zudem reflektiert die romantische Literatur oftmals das Gefühl in einem rasenden Getriebe zu leben. Die Klage um das »einförmige, taktmäßige Fortsausen der Zeit« (Wackenroder: Werke; zit. nach Kremer 2003: 4) spiegelt die Angst vor Erfahrungs- und Sinnverlust im »immerfort sausenden Räderwerk« (Klingemann [1804] 1947: 59) des Fortschritts wieder. Die wohl umfassendste Kritik an den Pathologien der modernen Gesellschaft kommt in Schillers sechstem Brief Über die ästhetische Erziehung des Menschen (2000) zum Ausdruck. In diesen wohl am häufigsten zitierten Absätzen seiner Briefe wird die Entzweiung und Zerrissenheit des modernen Menschen pointiert beschrieben. Schillers Analyse zeigt, dass Spezialisierung und Arbeitsteilung in der Gesellschaft, sowie Funktionalisierung und Bürokratisierung des Staates zur Entfremdung – als hervorstechendstes Merkmal der Moderne – führen. Die Fragmentierung der modernen Welterfahrung wird hier mit einem anti-
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ken Idealzustand kontrastiert, in dem die Anlagen und Fähigkeiten des Menschen noch vereint waren. Doch »wie ganz anders bey uns Neueren! […] Bey uns möchte man fast versucht werden zu behaupten, äußern sich die Gemüthskräfte auch in der Erfahrung so getrennt, wie der Psychologe sie in der Vorstellung scheidet, und wir sehen nicht bloß einzelne Subjekte sondern ganze Klassen von Menschen nur einen Theil ihrer Anlagen entfalten, während dass die übrigen, wie bei verkrüppelten Gewächsen, kaum mit matter Spur angedeutet sind« (ebd. 21f.). In demselben Maße also wie Arbeitsteilung und Spezialisierung fortschreiten, lässt eine funktional ausdifferenzierte Gesellellschaft den Einzelnen im Hinblick auf die Entfaltung seiner Anlagen und Kräfte verarmen. War der Mensch in der Antike, wo er »zum Ganzen werden konnte«, noch mit sich selbst und der Natur versöhnt, so macht dieser Ordnung jetzt »einem kunstreichen Uhrwerke Platz, wo aus der Zusammenstückelung unendlich vieler, aber lebloser, Theile ein mechanisches Leben im Ganzen sich bildet. Auseinandergerissen wurden jetzt Staat und Kirche, die Gesetze und die Sitten; der Genuß wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts.« ( Ebd. 23)
Was hier zum Ausdruck kommt, ist die Sehnsucht nach einer verloren geglaubten Beziehung mit einem umfassenderen Leben, das nicht durch rationale Ordnungsvorstellungen zergliedert und zerstückelt wurde. Diese ganzheitliche Daseinsweise sah nicht nur Schiller im antiken Griechenland verwirklicht. Die Romantiker idealisierten die Antike als eine Zeit, in der die Einheit und Harmonie im Menschen verwirklicht war. »Die Jungend der Phantasie« war »mit der Männlichkeit der Vernunft in einer herrlichen Menschheit vereinigt« (ebd. 21). Zudem gab es in jener Epoche noch keine Entfremdung des Lebensstroms der Natur vom menschlichen Geist – ebenso wenig wie der Mensch von seiner sozialen Umwelt distanziert war. »Es war eine Ära der Einheit und Harmonie unter den Menschen, in der Denken und Gefühl, Moralität und Sensibilität eins waren, in der die moralische, politische oder geistige Form, welche der Mensch seinem Leben gab, aus seinem eigenen natürlichen Sein hervorging und ihm nicht durch Gewalt einer rohen Willkür auferlegt war. Und selbstverständlich war in jener Epoche der große Lebensstrom der Natur dem menschlichen Geiste nicht entfremdet; im Gegenteil, er war in Göttern, die menschliche Gestalt hatten, anwe-
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send, Götter, zu denen der Menschen enge Verbindungen hielt und die ihn zu seinen größten Heldentaten anspornten.« (Taylor 1983: 45)
Eine solche Utopie scheint für Schiller (2000: 63) aber auch in der Zukunft realisierbar, nämlich dann, wenn der Spieltrieb nicht nur »das ganze Gebäude der ästhetischen Kunst«, sondern auch »der noch schwürigern Lebenskunst tragen« wird. Im Kontext seiner Kulturkritik misst er dem Spieltrieb die wichtige Aufgabe zu, den Menschen von der bedrückenden Realität und »von den Fesseln jedes Zwecks, jeder Pflicht, jeder Sorge« (ebd.) zu befreien. Schiller schwebt eine durch das Spiel initiierte ›Lebenskunst‹ vor, die durch eine Leichtigkeit des Daseins charakterisiert ist, welche ja schon den Griechen eigen war. Hier wäre auch kein Platz mehr für Erfahrungen von Entfremdung, denn ohne eine kultivierte instrumentelle Haltung zu den Dingen und ohne den Zwang zur Arbeit würde der Mensch die Freiheit erhalten, mit all seinen Möglichkeiten zu spielen und spielend seine Fähigkeiten zu entfalten. Nun wäre er endlich Mensch, denn »er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt«. Ungefähr 140 Jahre später wird der Kulturphilosoph Johann Huizinga an eine solche Spielauffassung anknüpfen. Das sich bis dahin die Schillersche Utopie noch nicht verwirklicht hat, zeigt Huizingas (1956: 183ff.) pessimistische Kulturanalyse, in der er einen, besonders vom 19. Jahrhundert ausgehenden, spielfeindlichen Schub diagnostiziert. Das Spiel, das er sich als intensivierte Affektgröße denkt, verflüchtigt sich aus allen kulturellen Feldern – wie Religion, Kunst, Sport usw. – und stattdessen macht sich profaner Ernst und Langeweile breit. Dies ist umso tragischer, da – wie bei Schiller – der Mensch nur als homo ludens Freiheit und Selbstverwirklichung finden könne. Sieht Schiller eine »Ära der Einheit und Harmonie« schon bei den Griechen verwirklicht, so ist das Bild, »von der alten, schönen Zeit« (Eichendorff) nunmehr am Verblassen. Die Romantiker reagierten mit Bestürzung und Schrecken auf die aufklärerische Vorstellung von einer Gesellschaft, die aus atomisierten und durch einseitiges Rationalitätsdenken disziplinierten Individuen zusammengesetzt ist. Die antike Polis vereinte noch vollkommenste Freiheit mit einem intensiven Gemeinschaftsleben, und die Bürger konnten das Polis-Leben so gestalten, dass sie sich selbst darin zum Ausdruck gebracht wussten (Taylor: 1983: 47). Gänzlich anders war das Empfinden der Romantiker ihrer Zeit gegenüber. Die voranschreitende Spezialisierung, als ein Ergebnis der Dichotomien des Verstandes, lässt den einzelnen nur mehr Bruchstücke seiner menschlichen Natur entfalten. Weiters korrespondiert sie mit der Teilung der Gesellschaft in Klassen, von denen jede auf eine Funktion beschränkt bleibt. Nicht länger kann
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die Gesellschaft als organische Einheit betrachtet werden, sondern transformiert sich nun in ein mechanisches Beziehungsgeflecht: »Einmal in Gang gesetzt, kann die komplexe Maschinerie der modernen Gesellschaft spontanen Initiativen ihrer Mitglieder nicht mehr überlassen werden, sondern muss bürokratischen Regelabläufen folgen. Die Menschen werden nicht mehr länger als konkrete Lebewesen behandelt, sondern als rein intellektuelle Konstrukte; infolge dessen können sie sich nicht mehr mit dem Staat identisch fühlen, der letztlich alle Autorität verliert und zu reiner herrschender Gewalt herabsinkt.« (Ebd. 48)
Welche Kreise die Kontrolle »spontaner Initiativen« und die Disziplinierung durch eine ordnende Vernunft zog, soll weiter unten noch besprochen werden. Wenn wir einen Blick auf die Liste der Zivilisationskritiker werfen, stoßen wir dabei auf prominente Vertreter, die Schillers pointierte Analysen über die Kollateralschäden der modernen Gesellschaft weitersponnen. Seine polemischen Darstellungen des zerstückelten Menschen werden Hölderlin, Hegel und später Marx, Max Weber und Georg Simmel aufgreifen. So schreibt Friedrich Hölderlin, der die Zerrissenheit der Zeit am eigenen Leibe verspürte, im Hyperion ([1997/99] 1958: 160): »Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt? […] Doch das wäre zu verschmerzen, müßten solche Menschen nur nicht fühllos sein für alles schöne Leben […].«
Auch Hölderlin, der in Schillers Werk viele Aspekte zum Verständnis seines eigenen Leidens an der Gegenwart findet, war ein Außenseiter. In einer Gesellschaft, die auf dem Weg war eine Industriegesellschaft zu werden, wo Arbeitsteilung und Entfremdung den Menschen zum Anhängsel der Maschinen verwandelte, wurden jene marginalisiert, welche die instrumentelle Vernunft nicht auf eine Weise internalisierten, dass sie dem ökonomischen Nützlichkeitsgebot der Gesellschaft dienlich waren. So wurde Hölderlin in den Worten Anatoli Lunatscharskis (zit. nach Wolf: 2008: 11) zum »Sprachrohr jenes zahlmäßig nur geringen Teils der deutschen Jugend, die auf ihrem phantastischen Posten sterben sollten, da sie keine Möglichkeit der Anpassung an jenes bürgerliche Deutschland fanden, das sich in der napoleonischen Ära gebildet hatte. […] Selbst völlig normale Menschen werden unter so schwierigen Verhältnissen krank. […] Sie
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gehen unter, singen dabei jedoch herrliche Lieder über ihren Untergang und markieren damit den weiten Abstand zwischen den fortschrittlichen Schichten der Gesellschaft und der Wirklichkeit.« Die hier skizzierte Gesellschaftskritik sollte uns vor Augen führen, wie die »Ausdruckstheoretiker« die Grundideen von Arbeitsteilung, Spezialisierung, Fragmentierung und Entfremdung zusammenfügten, um so die Krisen der Moderne aufzuzeigen, welche von der aufklärerischen Vernunft eingeläutet wurde. Bis in die Gegenwart bedient man sich dieser Ideen in verschiedenen Ausformulierungen und Adaptionen. War im 18. Jahrhundert die Klage gegen die Aufklärung und gegen die starren bürgerlichen Verhältnisse gerichtet, so gibt heute eine durchrationalisierte technologische Gesellschaft – welche in vielerlei Hinsicht ja das Erbe der Aufklärung ist – Anlass zu kritisch differenzierten Stellungnahmen. Nach Max Weber entsteht die moderne Gesellschaft durch einen langen Rationalisierungsprozess, wodurch sich immer weitere Kulturbereiche von ihren früheren religiös-institutionellen oder religiös-ideellen Bindungen losgelöst haben. Rationalisierung beinhaltet für ihn Prozesse der Bürokratisierung, der Spezialisierung von Wissen und dessen zunehmende Strukturierung, wodurch der Glaube daran entsteht, »dass es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, dass man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt« (Weber 1988b: 594). So führt diese Entwicklung dazu, dass immer mehr Lebensbereiche der Menschen den magischen und religiösen Deutungsrahmen entzogen werden. Nun sind die unterschiedlichen »Wertspähren« der rationalen Systematisierung, Beobachtung und Kontrolle überantwortet – zu dem letztlichen Zweck einer totalen Herrschaft über Natur, Gesellschaft und Kultur. »Geronnener Geist ist [...] jene lebende Maschine, welche die bürokratische Organisation mit ihrer Spezialisierung der geschulten Facharbeit, ihrer Abgrenzung der Kompetenzen, ihren Reglements und hierarchisch abgestuften Gehorsamsverhältnissen darstellt. Im Verein mit der toten Maschine ist sie an der Arbeit, das Gehäuse jener Hörigkeit der Zukunft herzustellen, in welche vielleicht dereinst die Menschen sich […] ohnmächtig zu fügen gezwungen sein werden, wenn ihnen eine rein technisch gute und das heißt: eine rationale Beamten-Verwaltung und -Versorgung der letzte und einzige Wert ist, der über die Art der Leitung ihrer Angelegenheiten entscheiden soll.« (Weber 2002: 835)
Während Schillers ästhetische Utopie – die Heilung der Gesellschaft durch das freie Spiel der Kunst – noch als Hoffnungsschimmer am Horizont leuchtet, befürchtet Weber eine Entwicklung, die durch eine immer effizientere Bürokratie
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alle Aspekte des menschlichen Lebens unter ihre nüchterne Kontrolle stellt. Selbst wenn er der Kunst, und in seinen späten Lebensjahren der Sphäre der Erotik die Macht zugesteht, den Menschen aus dem stahlharten Griff der »Skeletthände rationaler Ordnung« zu entwinden, so schwingen in seinem Werk doch eher pessimistische Untertöne mit, die im unaufhaltsamen Prozess der Rationalisierung kumulieren. Demnach wird der Mensch auf sein spezialisiertes Sonderwissen reduziert, das ihn allein für die Gesellschaft nützlich macht. Die »letzten Menschen« dieser Kulturentwicklung sind nun gänzlich ihrer transzendenten Tiefen beraubt – sie sind: »Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben« (Weber 1988a: 204).44 Auch Georg Simmel sieht ein bestimmendes Charakteristikum der modernen Gesellschaft in den immer rationaler werdenden Strukturen, bedingt durch gesellschaftliche Arbeitsteilung. Dabei vertritt er eine Theorie, wonach subjektive und objektive Kultur immer weiter auseinanderfallen. Die objektive Kultur beinhaltet die gesamten Kulturleistungen einer Gesellschaft, wie sie in ihrem angesammelten Wissen, Erfindungen und Entdeckungen zum Ausdruck kommt. Die subjektive Kultur besteht dann aus dem, was sich die Individuen davon aneignen. Umso mehr sich nun die objektive Kultur durch die fortschreitende Arbeitsteilung auffächert, umso schwerer fällt es dem Individuum an der immer komplexer werdenden Vielfalt des Kulturellen teilzunehmen. Simmel analysiert dies beispielsweise am Verhältnis von Maschine und Arbeiter. Die Maschine ist aufgrund ihres hohen Komplexitätsgrades ›geistvoller‹ geworden als der Arbeiter,
44 Rainer M. Lepsius (1990b: 50f.) weist im Zusammenhang mit der Ausdehnung der Rationalität, und der Kritik daran, auf die Doppelrolle des Intellektuellen hin: »Mit zunehmender Rationalisierung tritt eine zunehmende Intellektualisierung ein, die dem Intellektuellen immer größere Wirkungschancen verschafft – und dies in doppelter Weise. Intellektuelle [...] kämpfen für die Ausdehnung ihres Geltungsbereiches. Intellektuelle betonen andererseits die Spannungen zwischen verschiedenen Rationalitätskriterien und den von ihnen beherrschten Lebensbereichen.« Intellektuelle stellen Kriterien für Rationalität auf, um Ordnung in die sozialen Verhältnisse zu bringen und ein ›gutes Leben‹ zu garantieren. Häufig greifen jedoch materielle Interessen und Wertvorstellungen in die formalen Rationalitätskriterien ein, was Intellektuelle zum Anlass nehmen Kritik zu üben. Dabei handelt es sich um einen zirkulären Prozess, da die Rationalisierung der Lebensverhältnisse ihre Kritiker hervorbringt, welche jede Chance ergreifen Rationalitätskriterien zu entlegitimieren – dabei jedoch neue Aufstellen.
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der nun nicht mehr in der Lage ist, diese zu verstehen.45 Auch auf dem Gebiet des Geistigen operieren Menschen mit Begriffen, deren genauer Sinn und Inhalt sie nur unvollständig kennen, da die Blase des objektiv vorliegenden Wissens sich stetig aufbläht. Die »Tragödie der Kultur« besteht also darin, dass Subjektives und Objektives immer weiter auseinander driften und letzteres ein ungeheures Übergewicht gegenüber ersterem erlangte: »Die Kulturobjekte erwachsen immer mehr zu einer in sich zusammenhängenden Welt, die an immer weniger Punkten auf die subjektive Seele mit ihrem Wollen und Fühlen hinuntergreift« (Simmel 2001: 639). Hier lässt sich auch an die zeitdiagnostische Beobachtung Max Weber (1988b: 595) anknüpfen, der darauf hinweist, dass der moderne Kulturmensch – im Kontrast zum »lebensgesättigten« Bauern »der alten Zeit« – bestenfalls »lebensmüde« werden kann, da er von dem, »was das Leben des Geistes stets neu gebiert, ja nur den winzigsten Teil, und immer nur etwas Vorläufiges« erhaschen kann. Nach Schiller war die Arbeitsteilung, gepaart mit der Entfremdung von der Natur und der Spezialisierung verantwortlich dafür, aus dem Menschen eine Armee nützlicher Sklaven gemacht zu haben, deren rationales zusammenwirken er mit der Mechanik eines »kunstreichen Uhrwerks« vergleicht. Anschließend an Schiller meint auch Simmel, dass das Individuum aufgrund der gesellschaftlichen Arbeitsteilung in eine Teilexistenz hineingepresst wird, die dem Drang nach einer ganzheitlichen Ausbildung völlig widerspricht (Simmel 1912: 85). Aus der sich daraus ergebenden Spaltung in subjektive und objektive Kultur erklärt sich dann auch das bedrohliche Ausmaß der Entfremdung. Die moderne Maschine ist für Simmel die am weitesten getriebene Form der Spezialisierung von »Stoffen und Kräften« und an ihr ist das Maß der Entfremdung am Offensichtlichsten: »Indem die Maschine […] zur Totalität wird, einen immer größeren Teil der Arbeit auf sich nimmt, steht sie ebenso dem Arbeiter als eine autonome Macht gegenüber, wie er ihr
45 Diese Beobachtung tritt besonders deutlich im Hochtechnologiesektor hervor. Hier ist nur mehr ein intuitives erfassen der Maschinen möglich, da die Objektivierung des Wissens auf die Spitze getrieben ist. Für den Anlagenfahrer genügt es nicht, die Anzeigen auf den Monitoren und Schaltflächen im Auge zu haben und bei Störfällen gemäß den Regelabläufen eines Handbuchs einzugreifen. Probleme und Gefahren kann er nur dann erkennen und abwenden, wenn er ein ›Gefühl‹ für die Anlage entwickelt – wenn er sich also nicht nur auf die Vorschrift und das rationale Verstehen verlässt, sondern auch auf seine Erfahrung und Intuition (Böhle/Rose: 1992).
126 | D IE K ONTINUITÄT ROMANTISCHER I DEEN gegenüber nicht als individualisierte Persönlichkeit, sondern nur als Ausführer einer sachlich vorgeschriebenen Leistung wirkt.« (Simmel 2001: 637)
Simmel und Schiller berühren sich auch in der gemeinsamen Überzeugung, dass in der Sphäre der Kunst die menschliche Zersplitterung aufgehoben sei. Während alle anderen gesellschaftliche Bereiche immer nur einen Teil der Persönlichkeit beanspruchen und die anderen der Verkümmerung preis gegeben werden, ist »das Kunstwerk […] unter allem Menschenwerk die geschlossenste Einheit«. »Das Kunstwerk fordert nur einen Menschen, diesen aber ganz und seiner zentralsten Innerlichkeit nach« (ebd. 629f.), um dann auch das ganze »Ensemble der Gemütskräfte zu beschäftigen« (Schiller 2000: 281). Auch Karl Marx schlägt als Erbe der romantischen Gesellschaftskritik hier in die gleiche Kerbe und unterzieht die alles vereinnahmende Ökonomie seiner Zeit einer radikalen Kritik. In den Pariser Manuskripten (1844) versucht er sich an der Ausarbeitung eines ›romantischen Antikapitalismus‹ und fordert eine gesamtgesellschaftliche Aneignung der Fähigkeiten und Qualitäten der Individuen. Hier lobt Marx die halbkünstlerische Produktionsweise des Mittelalters und beklagt den großen Verlust der Subjekte an schöpferischen Vermögen, sinnlichen Empfindungen und Eigenschaften wie ihn der Kapitalismus hervorrief (Röder 1979: 151f.) Wie schon bei Schiller liegt auch bei Marx eine wesentliche Ursache für die Entfremdung in der Arbeitsteilung. Da Arbeit als Selbstverwirklichung des Menschen gedeutet wird, setzt nun die Entfremdung an der Stelle ein, an der die Möglichkeit der Aneignung des Erzeugungsprozesses unterbrochen wird. Im kapitalistischen System wird durch den blinden Mechanismus des Marktes das, was der Arbeiter erzeugt, zu einer von ihm und seiner Praxis abgekoppelten Ware. Entfremdung bedeutet hier also die Entfernung des Menschen von seinen Erzeugnissen, welche ihm jedoch nicht nur als etwas Fremdes gegenübertreten, sondern auch Gewalt über ihn ausüben. Durch diesen Sachverhalt entsteht dann das, was Marx den »Fetischcharakter der Ware« nennt. Ist die Ware eigentlich das Produkt des Arbeiters, so erscheint sie ihm nun als unabhängiges Gut, da sie von ihrer Herstellung abgekoppelt wurde. Durch dieses scheinbare Eigenleben kann sie auch jene religiösen Züge annehmen, wie sie in archaischen Gesellschaften der Zauberkraft des Fetischs innewohnen (Knoblauch 2005: 52). Die Entfremdung macht aber nicht nur vor den Produkten und Waren halt, sondern schließt auch die gesamte sinnliche Außenwelt – die Natur mit ein. So wird die sinnliche Außenwelt zur Ware degradiert und die Natur zum reinen Produktionsfaktor. Letztendlich schlägt die Entfremdung auch auf die Arbeiter selbst zurück. Im Arbeitsprozess löst sich ihre Identität auf wodurch sie lediglich noch auf ihre animalischen Funktionen reduziert werden. Hier wären wir wieder
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bei Schillers nützlicher Armee von Sklaven. Diese »Reservearmee« produziert nun nach Marx ([1967] 2009: 502) unter entfremdeten Bedingungen Waren und wird dabei selbst zu Waren gemacht. Zur Auflösung des menschlichen Unglücks schlägt Marx eine Reform des Bewusstseins vor mit dem Ziel, ein freieres Zusammenleben autoritätsunabhängiger Individuen zu erreichen, welche sich von der Verdinglichung der Natur abwenden (Röder 1979: 152). Man kann also feststellen, dass die Klagen im Wesentlichen dieselben geblieben sind. Sie richten sich gegen eine Gesellschaft, welche die Vernunft von den Emotionen und der Phantasie getrennt hat, ohne sich um den Preis einer Verkümmerung der menschlichen Anlagen und einer Abstumpfung ihrer Kreativität zu kümmern. Die Folgen sind nicht nur in einer gesellschaftlichen Deformation zu finden, sondern auch in den uns heimsuchenden ökologischen Schäden. Seit dem die Romantiker ihre Gesellschaftskritik vor nunmehr rund 200 Jahren geäußert hatten, gab es immer wieder romantische Aufbrüche, welche ein Unbehagen an der modernen Gesellschaft äußerten und alternative Gegenentwürfe dazu aufzeigten. Die letzte große Formulierung des romantischen Protests sollte in den sechziger Jahren die bürgerliche Welt erschüttern. Doch wir eilen der Geschichte voraus. Die Romantiker fühlten, dass eine Spaltung der Lebenssphären nicht nur das Bewusstsein der Menschen nachhaltig in eindimensionale Bahnen zwängte, sondern damit einhergehend, die Welt als trivialen Mechanismus entzauberte. Hier verdichtet sich der Begriff ›Romantisch‹ erneut: Er setzt auf eine bewusst inszenierte Kompensation mithilfe eines Weltbildes, das genau die entgegengesetzten Merkmale der eintönigen Normiertheit und nüchternen Alltäglichkeit aufweist.
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2.4.3 Instrumentelle Vernunft und Trivialisierung der Welt »Ist es keine Lust, ein Bürger der Gegenwart zu sein? Vermittelt es kein Gefühl von Macht und Glück, die Enzyklopädie des Wissens wachsen zu sehen? Das Universum lückenlos alphabetisch zu ordnen, ist das keine Aufgabe, die einen Mann stolz machen kann?« MONSIEUR BOISDEFFRE: PETER SLOTERDIJK, DER ZAUBERBAUM »Frühzeitig habe ich meine precaire Existenz fühlen gelernt und vielleicht ist dieses Gefühl das erste Lebensgefühl in der künftigen Welt.« NOVALIS: BRIEFE
Die entscheidende Einsicht, auf die die Aufklärung ein gänzlich neues Weltbild baute war, den Kreislauf der Welt als berechenbar und nach verlässlichen Gesetzlichkeiten funktionierend zu verstehen. Das neue Universum war – wie wir in Anlehnung an Descartes festgestellt haben – eine Maschine. Damit verschiebt sich auch die psychologische Bindung des Menschen vom Jenseits auf das Diesseits – das Transzendente verwandelt sich ins Empirische und der Mythos muss der Vernunft weichen. Die Welt wird von einer lückenlosen Kette aus Wirkung und Ursache durchzogen. Das Kausalitätsprinzip errichtet ein klar überschaubares Gebäude, das mit dem Skalpell der analytischen Vernunft alles Übersinnliche und Wunderbare abtrennt. Übrig bleibt, was sich rational beweisbar und widerspruchslos darstellen lässt. Um den Preis der vollständigen Begreifbarkeit schrumpft die schillernde Vielfalt der äußeren Erscheinungswelt auf einige wenige Grundbausteine zusammen. Ihren Niederschlag findet diese Sichtweise in der Quantifizierungswut der Wissenschaften. Selbst der Mensch wird schließlich als von statistischen Determinanten beherrscht betrachtet und somit zum geeigneten Objekt für die Wahrscheinlichkeitstheorie. »Der Mensch, sein Wesen und seine Zukunft, schien im Schnittpunkt der wissenschaftlichen Disziplinen sein Rätsel zu verlieren und als technisches Problem lösbar zu werden.« (Tarnas 1998: 418)
Die Fortschrittsgeschichte wird mit den Augen der Aufklärung also als Bruch mit den religiösen und metaphysischen Ordnungen gesehen. Sie wird insofern
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als optimistisch betrachtet, da die Vernunft immer mehr Bereiche näher ans Licht rückt, um dadurch zu einer möglichst vollständigen Überwindung des Irrtums zu gelangen. Mit ihrem heilsversprechenden Ansinnen, das allgemeine Wohlergehen der Menschheit immer weiter zu verbessern, stürzt die Wissenschaft die Religion vom Thron.46 Beginnt heute das goldene Zeitalter der Wissenschaft nach und nach zu verblassen, da sie durch die produzierten unintendierten Nebenfolgen oftmals die Geister, die sie rief, nicht mehr zu bändigen vermag, wurde schon im 18. Jahrhundert vereinzelt die Idee einer totalen Durchleuchtung des Kosmos skeptisch beäugt. Eine Welt, die »wie ein mechanisches, von selbst fortlaufendes Uhrwerk« (Tieck: William Lovell [1795/96]; zit. nach Pikulik 1979: 62) funktioniert, in der das Individuum »als umgetriebenes und treibendes Rad steckt« (Eichendorff: Werke IV; zit. nach ebd. 63) scheint von grauer Trivialität zu sein. Hinzu kommt die Eliminierung des Zufälligen, welche alle Lebensbereiche enträtselte. Der ehemals romantische Dämmer muss nun einem nüchternen Tageslicht weichen, in dessen grellen Schein die Welt ›normalisiert‹ wird. Ludwig Tieck (Schriften VI; zit. nach ebd. 72f.) bringt das romantische Unbehagen auf den Punkt: »Ich hasse die Menschen, die mit ihrer nachgemachten kleinen Sonne in jede trauliche Dämmerung hineinleuchten und die lieblichen Schattenphantome verjagen, die so sicher unter der gewölbten Laube wohnten. In unserem Zeitalter ist eine Art von Tag geworden, aber die romantische Nacht- und Morgenbeleuchtung war schöner als dieses graue Licht des wolkigen Himmels; den Durchbruch der Sonne und das reine Aetherblau müssen wir erst von der Zukunft erwarten.«
Entzauberung der Welt bedeutete den Romantikern die Vertreibung von Geheimnis und Wunder in dem Maße, wie ein rationales Vernunftdenken das auf Zweck-Mittelkategorien basiert, um sich greift. Auch wird ein ungeheurer Verlust an Spontaneität und Unbekümmertheit durch den immer rasanteren Zuwachs an Wissen festgestellt. Die unheimliche Ausdehnung der ›objektiven Kultur‹ (Simmel) führt bei gleichzeitiger Erodierung des alten Ordnungs- und Wertesystems zu dem Bedürfnis, die wachsende Komplexität einzugrenzen. Der Sinn für Wunderbares, Geheimnisvolles und für die Natur ist eine Reaktion auf die von
46 Zur Theorie über ein Menschengeschlecht, das von »der Herrschaft des Zufalls […] sicher und tüchtig auf dem Weg der Wahrheit, der Tugend und des Glücks vorwärtsschreitet« siehe Condorcets Zeitalterlehre (Condorcet: Esquisse). Hier im zehnten Zeitalter kommt all jenes zum Ausdruck, für das der Begriff ›Aufklärung‹ steht (Taylor 1996: 617f.)
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der instrumentellen Vernunft unterdrückten Bedürfnisse der Menschen. So versuchten die Romantiker mit allen Mitteln – vorrangig wie wir gesehen haben jedoch mit denen der Kunst – die »kleinen Sonnen« nicht gar zu hell erstrahlen zu lassen, denn »[…] eben auf dem Dunkel, worein sich die Wurzel unsres Daseyns verliert, auf dem unauflöslichen Geheimniß beruht der Zauber des Lebens, dies ist die Seele der Poesie. Die Aufklärung nun, welche gar keine Ehrerbietung vor dem Dunkel hat, ist folglich die entschiedenste Gegnerin jener, und thut ihr allen möglichen Abbruch.« (A.W. Schlegel: 1999: 6)
Besonders anschaulich lässt sich die Geisteshaltung der Aufklärung anhand der damals vorherrschenden Gartenkunst darstellen. Hier spiegelt sich das rationalistische Weltbild in einer geometrischen und beschnittenen Natur. Wie Lothar Pikulik (1979: 64) festhält, gab es während des ganzen 18. Jahrhunderts eine Tradition, in der die Gartengestaltung als Spiegel geistiger, politischer und sozialer Verhältnisse verstanden wurde.47 Gegen Ende des Jahrhunderts, wo die romantische Empfindsamkeit auf einen nüchternen Aufklärungsnaturalismus prallt, wird der Gegensatz dieser zwei Geisteshaltungen in der geometrischen Gartenanlage und dem natürlichen Landschaftsgarten manifest. Der Idealtypus eines ›aufgeklärten Gartens‹ beinhaltet die Elemente der Symmetrie und Geradlinigkeit, abgezirkelte Beete, beschnittene Hecken, marmorne Statuen usw. Er ist ein Sinnbild der Normalität, für welche die nach geometrischen Kriterien durchgestaltete Ordnung bürgt. Die chaotische Natur ist hier von der rationalen Vernunft gebändigt und zurechtgestutzt – ganz ähnlich wie die Triebnatur des Menschen von dieser unter Kontrolle und unter dem Zwang eines geregelten Lebens gehalten wird. Das reale Vorbild hierfür sind die Gärten von Versailles, von denen Eichendorff (Werke IV; zit. nach Pikulik 1979: 68) eine »allgemeine Herabstimmung des Lebens« abliest: »Die frische, kühne, wildfreie Waldeinsamkeit erscheint jetzt als ein französischer Lustgarten mit verschnittenen Bäumen, bunten Scherbenbeeten und geradlinigen Alleen; die ungezogenen Gebirgsquellen sind eingefangen, um unten als Fontänen artige Kunststücke
47 Nicht nur in der Gartenkultur manifestiert sich die dominierende rationale Ordnung. Auch in der Städteplanung ist diese abzulesen. Hier baute man vorzugsweise auf Räume, die von gewundene Straßen und irrationalen Ansammlungen von Gebäuden, die über Jahrhunderte gewachsen waren, bereinigt wurden (Sennett 2004: 363-368).
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zu machen, die Berg- und Waldgeister haben sich in bleiche stumme Statuen heidnischer Götter und Allegorien, die ganze Natur in einen großen Konversationssaal verwandelt.«
Der romantische Garten hatte hingegen den Anspruch, Empfindungen zu wecken, die Seele anzusprechen und die Phantasien zu beflügeln. Der oben dargestellte Gartentypus, in dem die »Wasserkünste wieder wie blödsinnig immerfort in endloser Einförmigkeit« (ebd. 69) dahinplätschern, ist ein Sinnbild für eine in Konventionen erstarrte Gesellschaft. Hier gibt es nichts Geheimnisvolles mehr. Dafür greift vor allem eines um sich: eine gähnende Langeweile. Das romantische Naturgefühl findet seinen Widerhall in dem vom Marquis René Louis de Girardin gestalteten Park von Ermenonville, in der Nähe von Paris. Dieser Park ist der Idee Rousseaus verpflichtet, der in seinem Roman Julie ou La Nouvelle Héloïse einen, zum rational konstruierten Barockgarten in Kontrast stehenden, natürlichen Garten skizziert. Hier finden sich – neben den ungetrübten Naturstimmungen – allerlei Requisiten, um den empfindsamen Betrachter in die Tiefen der Phantasie zu führen. So gibt es beispielsweise einen Altar der Träumerei, Grabstätten, Grotten und Tempel. Errichtete Ruinen, die manchmal Erinnerungen an ganz fremde Länder und Zeiten erweckten, ergeben zusammen mit unsymmetrisch gepflanzten Bäumen und wilden Gewächsen ein Ensemble wunderlicher Landschaftsbilder, welche die ganze Bandbreite der emotionalen Aspekte des Menschen – von den Erhabenen, bis zu den Sinnlichen – bedienten. Manche Mittel sollten für Angst und Grusel empfänglich machen und dem von zivilisatorischen Sicherheiten eingesponnen Menschen einen Schauder über den Rücken jagen. Aber vor allem ging es um das Gefühl (Taylor 1996: 526ff.)48 Hier erkennen wir ein zentrales Motiv des Romantischen, nämlich die Ausrichtung an der Natur. Dieser wendet man sich nicht zu um sie zu beherrschen, zu kontrollieren und sie dann, nach Bacons Vorschlag, zum Wohle der Menschen Auszubeuten. Man tritt mit ihr in Beziehung weil die Natur starke Gefühle der Ehrfurcht vor der Schöpfung, der Erhabenheit angesichts von Stürmen und überwucherten Ruinen, und der Melancholie in einem verlassenen Waldstück hervorruft. Den Empfindsamen reißt die Natur mit, da sie die in ihm schlummernden und verdrängten Gefühle erweckt. Ihre Anziehungskraft verdeutlichen die Bilder der romantischen Maler Philipp Otto Runge und Caspar David Friedrich. Bei Friedrich macht der Mensch den Eindruck der Verlorenheit und er zeigt Achtung vor der Übermacht einer niemals gänzlich erfassbaren Natur. So wird
48 Auf einer mit Pappelbäumen gesäumten Insel in Ermenonville wurde auch der Sarkophag von Rousseau nach seinem Ableben im Jahr 1778 aufgestellt. Das Grab wurde zum Denkmal melancholischer Naturverbundenheit (Hajós 1989: 39-44).
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die Natur zum dem, was sie auch für uns moderne Menschen ist: »Das wimmelnde und tiefe Leben, in das sich alles Unausdrückbare an uns ergießt« (Mornet: Le Sentiment de la nature; zit. nach Taylor 1996: 531). Der romantische Garten verdeutlicht die Entstehung des modernen Naturbezuges. Er ist das Symbol für einen Strang jener neuen Weltanschauung, die den sentimentalen, auf das Gefühl abgestellten Landschaftsgenuss ermöglichte. 49 Die Romantiker bedachten also das aufklärerische Weltbild mit den Metaphern einer beschnittenen und unterdrückten Natur, welche mit der psychologischen Landschaft des Menschen korrespondiert. Diese wird folglich als Eindimensional und verarmt begriffen, da die wichtigen Anteile des Gefühlshaushaltes mit den phantastischen und spirituellen Bedürfnissen der Menschen verdrängt werden. E.T.A. Hoffmann rezipiert diese Stimmung in dem Märchen Klein Zaches ([1819] 1963). In der alten Zeit gab es noch wunderbar herrliche Gärten, in denen »verschiedene vortreffliche Feen« angesiedelt waren. Dadurch ergaben sich in »beinahe […] jedem Dorfe, vorzüglich aber in Wäldern, sehr oft die angenehmsten Wunder«, sodass »jeder, von dem Entzücken, von der Wonne dieser Wunder ganz umflossen, völlig an das Wunderbare glaubte« (ebd. 17). Durch die Aufklärung ergeht es nun gerade den Feen schlecht. Die Dominanz der instrumentellen Vernunft heißt »die Wälder umhauen, den Strom schiffbar machen, Kartoffeln anbauen, die Dorfschulen verbessern, Akazien und Pappeln anpflanzen, die Jugend ihr Morgen- und Abendlied zweistimmig absingen, Chausseen anlegen und die Kuhpocken einimpfen lassen« (ebd. 18f.). Aber ihren bedeutsamsten Niederschlag findet sie in der Umerziehung der Feen – dort wo sie nicht ausgebürgert werden können – zu »nützlichen Mitgliedern des aufgeklärten Staates.«50 Diese chaotischen Wesen müssen unter allen Umständen gebändigt werde, da »[…] sie […] ein gefährliches Gewerbe mit dem Wunderbaren [treiben] und [sich nicht] scheuen […], unter dem Namen Poesie ein heimliches Gift zu verbreiten, das die Leute
49 Die Natur wurde im Kontext Barocker Gartengestaltung ja nur dann akzeptiert, wenn sie in das hierarchische System der Denk- und Herrschaftskategorien eingebunden werden konnte. Sie wurde aber auch als nützlich bzw. gütig, im Sinne des Hervorbringens von Gütern betrachtet. Die Vorstellung der Natur als Ort der Phantastik, die ein reines ästhetisches Erleben ermöglicht, ist dann ein Kind der Romantik (Hajós 1989). 50 Und weiter: »Wollen sie sich nicht auf solide Heiraten einlassen, so mögen sie unter strenger Aufsicht irgendein nützliches Geschäft treiben, Socken stricken für die Armee, wenn es Krieg gibt, oder sonst.« (Ebd. 20)
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ganz unfähig macht zum Dienste in der Aufklärung. Dann haben sie solche unleidliche polizeiwidrige Gewohnheiten, dass sie schon deshalb in keinem kultivierten Staate geduldet werden dürften. So z.B. entblöden sich die Frechen nicht, sowie es ihnen einfällt, in den Lüften spazieren zu fahren mit vorgespannten Tauben, Schwänen, ja sogar geflügelten Pferden.« (Ebd. 19f.)
Aus Hoffmanns Märchen lassen sich zwei Tendenzen herauslesen, welche den Protest der Romantiker entfachten. Zum einen wird die schon angesprochene Entzauberung beklagt. An die Stelle des Geheimnisses und des Phantastischen tritt nun die ewige mechanische Wiederkehr des Gleichen. »Ehemals war alles Geistererscheinung. Jetzt sehn wir nichts, als todte Wiederholung, die wir nicht verstehn. Die Bedeutung der Hieroglyfe fehlt« – heißt es bei Novalis (Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen [1798]; zit. nach Otabe 2005: 242). Zur Entzauberung hatte sicher auch der technische Fortschritt beigetragen. Im Jahr 1826 wurde in Berlin erstmals die moderne Gasbeleuchtung eingeführt. Heute ist es wohl kaum mehr vorstellbar, was es für die phantastische Vorstellungskraft bedeutet haben muss, wenn eine Stadt beim Einbruch der Dämmerung nicht illuminiert wird (Bloch: Technik und Geistererscheinungen; zit. nach Pikulik 1979: 114). Allein auf Kerzenlicht angewiesen, bleibt der Imagination ein weitaus größerer Spielraum als bei der Verwendung von grellem Gaslicht, das jede Art von Spuk zum Verschwinden brachte. Eichendorff (2008: 67) gibt eine kleine Kostprobe für jenes Empfinden, das uns heute nur mehr selten beschleicht: »Die Gänge waren alle mit hohem Grase bewachsen, die künstlichen Figuren von Buchsbaum waren nicht beschnitten und streckten, wie Gespenster, lange Nasen oder ellenhohe spitzige Mützen in die Luft hinaus, daß man sich in der Dämmerung ordentlich davor hätte fürchten mögen.«
Nun wurde den Wesen aus der Anderswelt nicht nur die Erhellung des Verstandes zum Verhängnis – auch die Erhellung der Stuben, Straßen und Gassen machte ihnen den Garaus. Nach dieser Entzauberung bleibt also nichts als eine gähnende Öde übrig. Das Gefühl, in einer unspektakulären Welt zu leben, wird auch dadurch forciert, dass nun der Staat und die Gesellschaft jenes Sicherheitsnetz zu knüpfen begann, das bis in die Gegenwart immer feinmaschiger geworden ist. Den darin eingesponnen Menschen soll es vor Leiden behüten und diverse Lebensrisiken eliminieren. Die Ausbildung eines Rechtssystems ging mit den Bedürfnissen nach Berechenbarkeit und Verlässlichkeit einher:
134 | D IE K ONTINUITÄT ROMANTISCHER I DEEN »Denn indem der spezifische Rechtsformalismus den Rechtsapparat wie eine technisch rationale Maschine funktionieren läßt, gewährt er dem einzelnen Rechtsinteressenten das relative Maximum an Spielraum für seine Bewegungsfreiheit und insbesondere für die rationale Berechnung der rechtlichen Folgen und Chancen seines Zweckhandelns.« (Weber 2002: 469)
Zudem versuchte man durch den Ausbau des Versicherungswesens, der nicht vorhersehbaren, zufälligen Phänomenen habhaft zu werden. Die ersten Feuerversicherungen wurden gegründet und auch auf vielen anderen Gebieten erfolgte die institutionelle Bekämpfung von Not, Schaden und Verlust (Pikulik 1979: 114f.). Wenn wir im übrigen die Religion nach ihren funktionalen Aspekten betrachten, so kann man feststellen, dass jene Form der Kontingenzbewältigung – die alle religiösen Kontexte zu leisten im Stande sind – nun auf den Staat und das Rechtssystem ausgelagert werden. Die »technisch rationale Maschine« des Rechtsapparats versucht jedoch eine totale Absicherung, wodurch Fortuna in Ketten gelegt wurde. Eine solcherart normierte, eintönige und unfantastische Welt erschien den Romantikern als zutiefst langweilig.51 Zum anderen äußert Hoffmann mit der Umerziehung oder Eliminierung der Feen und der Umgestaltung der Natur die von den Romantikern breit rezipierte Ablehnung einer ausschließlich der Vernunft verpflichteten Denkweise. Diese führt zum totalitären Nützlichkeitspostulat und Ordnungswahn der Aufklärung. Die anachronistischen Feen haben in dieser Welt keinen Platz, weil sie sich nicht von der Nützlichkeit im Sinne eines tätigen, produktiven Lebens unterjochen lassen. Metaphorisch gedacht entsprechen sie der chaotischen Natur – auch der im Inneren des Menschen – die um jeden Preis gebändigt werden muss, wie dies am Beispiel der Gartenkultur veranschaulicht wurde. Die äußere Natur wird, wie Hoffmann schreibt, durch das Umhauen der Wälder, das Schiffbarmachen des Stroms usw. nach ökonomischen Kriterien umgestaltet. Sie wird zerstört, ausgebeutet und in bare Münze verwandelt. Als berechenbare Größe im Dienst der Produktion verliert sie ihren Zauber. Ähnlich ergeht es der inneren Natur des
51 Vor diesem Hintergrund einer total abgesicherten Kultur, welche es sich zum Ziel gesetzt hat Leid zu vermeidenden, sind auch ihre irrational erscheinenden Ausbrüche erklärbar. So beispielsweise in den verschiedenen Formen des Extremsports, welche zumeist in viel höherem Masse das Signum des Schmerzes als jenes der Lust tragen. Weniger spektakuläre Betätigungsfelder lassen sich im Betrachten der inflationär in Erscheinung tretenden Horror- und Gruselfilme finden, die mit ›abnormalen‹ und ›abartigen‹ Szenen und Plots, wenigstens für kurze Zeit dem Leben ein wenig Spannung verleihen.
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Menschen mit ihren Phantasien, Gefühlen und spontanen Äußerungen. Eine nach ökonomischen Kriterien funktionierende Gesellschaft, die mit ihren utilitaristischen Bemühungen lediglich ein »erbärmliches Behagen« dieser »letzten Menschen«52, durch umfassende Technisierung und Bürokratisierung, als Zweck definiert, bleibt für eine ganzheitliche Ausrichtung des Menschen unempfänglich. Doch genau das war es, was die Romantiker im Sinn hatten. Sie werden zu unrecht als unverbesserliche Schwärmer abgetan, die sich in die Gefilde der Phantasie verstiegen haben. Das eigentlich Verwerfliche ist den Romantikern eben jene Vernunftkultur, die zur bürgerlichen Moral geronnen, dem Nützlichkeitsideal huldigt. Paradigmatisch für diese neue Ordnung steht der egoistische Bürger, der seinen Zweck lediglich in der Befriedigung materialistischer Glücksansprüche sieht. Wie Taylor (1996: 863) meint, kann eine instrumentelle Gesellschaft durch die alles vereinnahmende Sorge um das »erbärmliche Behagen« bewirken, dass tiefere Sinngehalte ausgeschlossen werden – oder zumindest recht schwer zu erkennen sind. Deshalb versuchten die Romantiker auch die Bastionen der Nützlichkeit und die des Dogmatismus der Vernunft und der Empirie zu schleifen, um so die Feinde der Vorstellungskraft zurückzudrängen. Denn es ist ja nicht die Vernunft, welche die Phantasie und die Imagination bedroht, sondern seine anmaßende und rigide Ausprägung, die das Unlogische und Unvereinbare minderbewertet, die Spontaneität und die Gefühle unterdrückt, das Poetische verbannt, sich alle sinnlichen Neigungen versagt und dem Quantifizierbaren und Berechenbaren den Vorzug gibt. So führt die Suche über die Synthese von Vernunft und Phantasie zum wohl wichtigsten Ziel der Romantiker: dem ›ganzen Menschen‹. A.W. Schlegel (1999: 5f.) schreibt über diese Gegensatzpaare, die sich nicht kategorisch ausschließen: »Einige Dichter haben den gestirnten Himmel so vorgestellt, als ob die Sonne nach Endigung ihrer Laufbahn in alle jene unzählichen leuchtenden Funken zerstöbe; dies ist ein vortreffliches Bild für das Verhältnis der Vernunft und Phantasie: in den verlohrensten Ahndungen dieser ist noch Vernunft; beide sind gleich schaffend und allmächtig, und ob sie sich wohl unendlich entgegen gesetzt scheinen, indem die Vernunft unbedingt auf Einheit dringt, die Phantasie in grenzenloser Mannichfaltigkeit ihr Spiel treibt, sind sie doch die gemeinschaftliche Grundkraft unsres Wesens.«
Das Bewusstsein von einer »Gemeinschaftlichen Grundkraft unsres Wesens« soll die tiefe Zersplitterung, welche die cartesianische Wende dem menschlichen
52 Dieser »hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht« und ruft »Wir haben das Glück gefunden« (Nietzsche [1886] 2005: 20).
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Bewusstsein zufügte, kitten. Müsste man sich auf einen zentralen Aspekt in den revolutionären Anliegen der Romantiker beschränken, so ist das wohl – den vorherrschenden Tendenzen zuwider – der Versuch, dem Menschen die Entwicklung seiner vielseitigen Anlagen und Bedürfnisse zu ermöglichen. So steht in der romantischen Naturphilosophie – wie wir noch sehen werden – der ganze, und damit auch heile und gesunde Mensch, dem Verkümmerten, Blockierten und von der Natur Abgeschnittenen gegenüber. Deshalb, so die Empfehlung, »muss [man] alle seine Kräfte üben und regelmäßig ausbilden – die Einbildungskraft – wie den Verstand«, denn »klarer Verstand mit warmer Fantasie verschwistert ist die ächte gesundheitsbringende Seelenkost« (Novalis: Fragment [1799]; zit. nach Pikulik 1992: 24). Schon damals bestand ein ökologisches Bewusstsein, welches die Romantiker mit ihrer Vorstellung von der Natur als Quelle artikulierten und dadurch einen Wert- und Sinneswandel im Verhältnis des Menschen zur Natur einläuteten. Darüber hinaus hat die Romantik als Bewegung nicht nur einen vehementen Einspruch gegen den Entzauberungsprozess der Moderne formuliert, sondern auch ein holistisches Menschenbild propagiert. Nach Silvio Vietta (1983: 66) ist sie deshalb auch »der vielleicht letzte große Versuch der Neuzeit, die getrennten Sphären: Körper und Geist, Diesseits und Jenseits, Vernunft und Sinnlichkeit, Mensch und Natur, Philosophie, Wissenschaft und Poesie im Medium der poetischen Einbildungskraft zu synthetisieren.« Das vorherrschende Paradigma blieb jedoch das aufgeklärte Bild vom »desengagierten Subjekt« mit der Objektivierung der Natur im Gefolge – der äußeren, sowie auch der eigenen inneren.
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2.4.4 Die Internierung des Abnormen »Wir haben viel getan, um das Reich der Körper in den Griff zu nehmen. Denn tatsächlich sind vor allem die Körper unsere Gegner. Sie stecken voll von unberechenbaren Ausfällen gegen Vernunft und Ordnung, sie quellen über von Fehlwüchsen und unsinnige Übergriffen auf ihre Mitwelt und gegen sich selbst […]« MONSIEUR MERRI, VORSTAND DER SALPETRIÈRE: PETER SLOTERDIJK; DER ZAUBERBAUM
Die Vertreter der Romantik machten der in ihren Ansprüchen dominanten Aufklärung besonders zum Vorwurf, dass sie den ganzen Menschen zerschnitt und ihn durch die Objektivierung der Natur entstellt hätte. Sie habe es fertig gebracht die Seele vom Körper, die Vernunft vom Empfinden und der Einbildungskraft, das Denken von den Sinnesempfindungen, das Verlangen von der Überlegung zu trennen. Diese Dichotomien haben tiefe Wunden in der Natur des Menschen hinterlassen. Bestes Beispiel dafür ist ein sich damals wie heute einschleichendes Unbehagen an der Kultur, das vom Traum von einem natürlichen Leben begleitet wird. Es zeugt davon, dass es ein schmerzhafter Weg ist, den Menschen in jene zivilisatorischen Bahnen zu lenken, die ihn zu einem funktionierenden Mitglied der Gesellschaft werden lassen. Doch die Zivilisationskruste war noch von äußerst dünner Beschaffenheit und konnte jederzeit einbrechen, weshalb die Fremdzwänge erst mühsam zu jener Selbstzwangapparatur internalisiert werden mussten, wie sie für uns moderne Zeitgenossen charakteristisch ist. Aus diesem Grund war man auch bemüht die Sanktionsmechanismen ins Innere des Subjekts zu verlegen, da das rationale Subjekt weit effizienter dazu im Stande ist, sich aufgrund von Schuldgefühlen vor einer rigiden Gewissensinquisition selbst zu richten.53 Allein so sei eine friedliche Gesellschaft auf der Basis von rational handelnden und Handel treibenden Individuen zu garantieren. Dementsprechend
53 Für die Postmoderne radikalisiert sich diese Forderung. Richard Sennett (2008: 11) konstatiert, dass der flexible Kapitalismus zwar propagiere neue Freiheiten zu gewähren, jedoch installiert »das neue Regime neue Kontrollen«, welche aber »schwerer zu durchschauen« seien. Besonders anschaulich vollzieht sich dieser Wechsel der Kontrollen in der Arbeitswelt, wo die ›Befreiung‹ von den alten hierarchischen und bürokratischen Zwängen in eine totale Vereinnahmung des Subjekts mündet, welches nicht erzwungen, sondern freiwillig dem neuen Arbeitsethos bis zum Burn-out huldigt.
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wurde allgemein das »desengagierte Subjekt« propagiert, dessen Haltung sich durch Distanz vom eigenen Innenleben, mit seinem komplexen Seelenhaushalt auszeichnet. Aber auch gegenüber äußeren Mächten, wie den religiösen Autoritäten und der Natur beansprucht es totale Unabhängigkeit. Simmel (2001: 404) meint dazu, dass »die Betonung der unabhängigen Individualität« und »der persönlichen Freiheit« sich in dem Maße entfaltet, wie »die Natur für uns objektiver, sachlicher und eigen-gesetzmäßiger wird« – auf die Spitze getrieben wird dies durch die »Objektivierung und Entpersönlichung des wirtschaftlichen Kosmos.« Hierin lässt sich nun auch die der Aufklärung zugrunde liegende Freiheitsauffassung erkennen. Ihr gegenüber steht jene Freiheit der Romantiker, die im authentischen Selbstausdruck gesehen wird. Höchste Selbstverwirklichung durch Harmonie mit der äußeren und inneren Natur wird hier zum zentralen Wert (Taylor 1983: 42f.). Dem Aufklärungsdenken zurfolge, lasse sich eine ›gute‹, gerechte und vor allem wohlhabende Gesellschaft nur durch eine auf der Ideologie des »desengagierten Subjekts« aufbauende Marktwirtschaft erreichen. So meint A.W. Schlegel (Minor II; zit. nach Stockinger: 1994: 89): »Wie ich nun durch das bisherige deutlich genug gemacht zu haben glaube, dass es das oekonomische Prinzip ist, welches die Aufklärer leitet, so ist es auch die nur zu irdischen Verrichtungen taugliche Fähigkeit des Geistes, der in lauter Endlichkeiten befangne Verstand, den sie dabey ins Werk gesetzt, und sich damit an die höchsten Aufgaben der Vernunft gewagt haben. Ein beschränkter endlicher Zweck lässt sich ganz durchschauen, und so soll ihnen auch das menschlichste Daseyn und die Welt rein wie ein RechenExempel aufgehn.«
Man war demzufolge bestrebt, die Individuen in eine von Affekten freigehaltene und durch Pflichtgefühl gefestigte marktwirtschaftliche Gesellschaft zu integrieren. All jene, die sich gegen diese Vereinnahmung wehrten, oder schlicht nicht dazu in der Lage waren, den Anforderungen dieses ökonomischen Systems genüge zu tun, wurden stigmatisiert und an den Rand der Gesellschaft gedrängt. So produzierten die Ausgrenzungsstrategien des Vernünftigen ganze Klassen von Außenseitern. Zu diesen, zum Teil zu Subkulturen sich formenden Repräsentanten der Asozialität gehörten »Bettler, Vagabunden, Zigeuner, Besitz-, Arbeitsund Berufslose, Verbrecher, politisch Auffällige und Häretiker, Dirnen, Wüstlinge, mit Lustseuchen Behaftete und Alkoholiker, Verrückte, Idioten und Sonderlinge, aber auch missliebige Ehefrauen, entjungferte Töchter und ihr Vermögen verschwendende Söhne« (Dörner: 1969, zit. nach Denneler 1996: 34). Noch im 16. Jahrhundert sah man im Asozialen keine ideologische Bedrohung und es
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wurde in Formen der Mildtätigkeit und Nächstenliebe eingebunden. Dem Verrückten kam sogar oftmals eine besondere Stellung in der Gesellschaft zu, da man annahm er sei mit speziellen übersinnlichen Gaben gesegnet, die ihm einen Blick in die Anderswelt gestatten. Diese Deutung konnte nur im Kontext einer umfassenden metaphysischen Ordnung Bestand haben. Georg Lukács (1916, zit. nach Denneler 1996: 34) meint, dass »Verbrechen und Wahnsinn […] Objektivationen der transzendenten Heimatlosigkeit« seien, die dementsprechend erst mit der Aufklärung entstanden. Im 18. Jahrhundert gefährdet nun das Abnorme die sich neu formierende rationale Ordnung. Verhaltensweisen, die vom geforderten Fleiß, Pflichtbewusstsein und produktiven Arbeitsleben abwichen, ja diese gar zu unterwandern drohten, konnten nicht toleriert werden. Deshalb begann man das Andere der Vernunft wegzusperren. Wurde dieses Andere in Form von psychischen Zuständen – Träumen, Phantasien, Emotionen, Begehren, Neigungen zum Müßiggang – in verborgene Winkel des Unterbewussten gestapelt und vom Über-Ich versiegelt, so ließ man die Anderen, die den Gesetzen der Nützlichkeit nicht Folge leisten konnten, da ihre innere Sanktionsinstanz nicht mit aller Härte gegen das psychische Chaos vorging, in staatlich betrieben Internierungslager einweisen. Das Ziel, das es unbedingt zu erreichen galt, war das reibungslose Funktionieren der Gesellschaftsmaschine. Alles was das Getriebe schädigen konnte, musste zum persönlichen, wie vor allem auch zum überindividuellen Nutzen umerzogen werden. Jene unbrauchbaren ›Irren‹, welche für geregelte Tätigkeiten, die mit Fleiß und Disziplin auszuführen waren, nicht in Frage kamen, fanden sich also in Zucht- und Korrekturhäusern wieder. Nicht selten erreichte die Stigmatisierung jener ›Armen im Geiste‹ – die ja nun gerade nicht mehr als arm, sondern als verwerflich betrachtet wurden, also selbst für ihre Unfähigkeiten zur Verantwortung zu ziehen seien – groteske Auswüchse. Sie wurden zu pathologischen Monstern erklärt, die man aus erzieherischer Absicht und zum Spektakel für die Sonntagsausflügler ausstellte. Die Lust am Voyeurismus der ›normalen‹ Menschen gestaltete sich wie eine Katharsis – das Irrenhaus wurde zur Schauspielbühne: »Der Blick ins Bestiarium des Irrenhauses war uneingestanden auch der Blick in die eigene Seele. In der Apathie des Stumpfsinnigen sah das Vernunftsubjekt seinen unterdrückten und ruhiggestellten Leib, in der Schaulust der Ausgestellten Irrenhäusler, ihren Fratzen und grotesken Gebärden, ergötzte es sich an den eigenen regressiven Lüsten des Leibes und der undisziplinierten Phantasie. Die Angst, die der Traum der Vernunft gebar, fand im Irren ihren Stellvertreter, wenn er sich vor den Schlägen seines Wärters oder den eigenen Obsessionen duckte.« (Denneler 1996: 76)
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Da, wie Iris Denneler (ebd. 68f.) festhält, wirklich Geisteskranke nur zehn Prozent aller Internierten ausmachten, lässt sich sehen mit welchem Rigorismus die instrumentelle Vernunft gegen ihre Feinde vorging. Mit der Grenzziehung, welche die Ratio vollzog, produzierte sie jene Formen der Irrationalität, welche wiederum für sie bedrohliche Dimensionen erreichte. So wurde Beispielsweise der Müßiggang, den die Romantiker »als einziges Fragment von Gottähnlichkeit, das uns noch aus dem Paradies blieb« (Schlegel), bezeichneten, unter aufgeklärten Gesichtspunkten ethisch verurteilt. Solche Individuen tragen nichts zum gesellschaftlichen Wohlergehen bei, das allein durch die Gemeinsamkeit der Arbeit zu gewährleisteten ist. Sie sind in dem Sinne als moralisch verwerflich zu betrachten, da ihr Nichtstun nicht auf persönliche Schwächen oder Krankheiten zurückzuführen ist, sondern schlicht als Verweigerung gilt. Wie stark diese Idee auch noch für uns moderne Zeitgenossen prägend ist, zeigt die Stigmatisierung von Arbeitslosen als faul und arbeitsscheu, sowie das Verschweigen von als ›unmoralisch‹ empfundener Krankheit, um den Leistungskriterien einer auf instrumentellen Vernunftgründen basierenden liberalen Wirtschaftsgesinnung zu entsprechen. Um zu veranschaulichen, welche Auswirkungen die ordnende, instrumentelle Vernunft, auf der Basis des cartesianischen Dualismus, im Bereich der Medizin hatte, machen wir einen kleinen zeitlichen Sprung in das Paris um das Jahr 1890. Hier begeben wir uns in das wohl berühmteste Symbol Europas im Kampf gegen Abnormalität und Geisteskrankheit – die psychiatrische Anstalt Hopital Salpetrière. Am Beispiel der hier internierten Madeleine lässt sich die Blindheit der sich in fortgeschrittenem Stadium befindenden aufgeklärten Vernunftsubjekte gegenüber den Mechanismen religiöser Denkweisen demonstrieren. Der indische Psychoanalytiker Sudhir Kakar und die französische Philosophin Catherine Clément beschreiben in ihrem Buch Der Heilige und die Verrückte (1993) die Geschichte zweier Personen, die in ihren Ekstasen, ihren körperlichen Symptomen und mystischen Erlebnissen zum Verwechseln ähnlich erscheinen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass der eine als bengalischer Mystiker und verehrter Heiliger und Guru auch über die Grenzen Indiens als Ramakrishna Berühmtheit erlangte, während die Französin zweiundzwanzig Jahre lang in der Salpetrière wegen Mystik-Wahn behandelt wurde. Madeleine, deren ekstatisches Verhalten mit dem der Heiligen Theresa von Avila und anderen prominenten Mystikerinnen vergleichbar ist, wäre wohl auch zu anderen Zeiten heiliggesprochen worden. Sie hatte lediglich das Pech in einen Teil Europas geboren zu werden, der gänzlich dem medizinischen Positivismus verfallen war, und deshalb auch kein Erkennen von mystischen Zuständen ermöglichte. Auch der sie behandelnde Arzt Pierre Janet ließ ein solches Sensorium vermissen. Er verkörpert
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perfekt die Geisteshaltung seiner Zeit, wie auch die des vergangenen Jahrhunderts, denn für ihn sind Gesundheit und Krankheit durch den Grad ihrer Effizienz an der Wirklichkeit definiert: »Das Ineffiziente steht auf der Seite des Schlechten; das Effiziente auf der Seite des Guten« (ebd. 234). Maßgeblich für diese Kategorisierung ist wiederum die Vorstellung vom ›desengagierten Subjekt‹, aus der die Psychoanalyse das Konzept vom ›starken‹ und ›schwachen‹ Ich ableitete. Ein von neurotischen Behinderungen befreites Ich, das solide Verteidigungsmechanismen gegen die Angriffe der Außenwelt aufgebaut und die Zuchtruten der instrumentellen Vernunft ins Innere verlagert hat, wäre demnach als ›stark‹ zu bezeichnen. ›Schwach‹ ist es, wenn es über keine derartigen Strategien verfügt.54 Madeleine ist also, nach den Ansichten ihres Arztes, mit Geisteskrankheit geschlagen. Zu dieser Diagnose leiten ihn auch die vielen ›Wunder‹ an, von denen seine Patientin enthusiastisch berichtet (ebd. 80f.). Da sein Geist vollends entzaubert ist, kann er auch nicht die magische Bedeutung von Madeleines Wundern erkennen. Überhaupt fehlt ihr jegliche soziale Bestätigung. Plausibilität kommt jedoch in einem großen Ausmaß durch Bestätigung seitens der Mitmenschen, einschließlich der ›Realitätsexperten‹ einer Gesellschaft – hier in Form des Leiters der Salpetrière – zustande. Wird das subjektive Weltbild nicht einmal in Ansätzen von jemandem geteilt, so fällt es in sich zusammen und man wendet sich sozial akzeptierten Realitäten zu. Auch die Vorstellungen und Eindrücke, die direkt und spontan durch sinnliche Erfahrung gewonnen werden, lassen sich nur mit Hilfe gesellschaftlicher Vorgänge in sinnhafte Wirklichkeitsvorstellungen umsetzen und integrieren (Berger 1970: 57). Als Madeleine schließlich geheilt aus dem Hospital entlassen wurde, war sie demzufolge zur Normalität und Alltäglichkeit zurückgekehrt. Sie war sowohl ihrer überwältigenden spirituellen Erlebnisse beraubt, als auch ihrer Freuden. Ihre Heilung durchlief jene Metamorphose, wie sie Sigmund Freud in den Studien über Hysterie (zitiert nach Clément/Kakar 1993: 104) beschreibt: das hysterische Elend wird in gemeines Unglück verwandelt. Betrachtet man Madeleines auffällige und anstößige Verhaltensweisen durch die indische Brille, ergeben sie plötzlich ›Sinn‹, während sie von einer religiösen Tradition abgeschnitten nur ›Wahnsinn‹ bedeuten. Soweit zur Stimmungslage eines auf Dichotomien aufbauenden Weltbildes. Doch die Selbstherrlichkeit des Vernunftdenkens befriedigt nicht den ganzen
54 Heute bedienen sich zunehmend Unternehmen bei der Personaleinstellung gezielter psychologischer Tests, beispielsweise im Rahmen von Assessment-Centern, um zu selektieren. Wer kein ›starkes‹ = ›normales‹ Persönlichkeitsprofil aufweist, schaut auch bei dem gewünschten Arbeitsplatz durch die Finger (ebd. 229f.).
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Menschen und produziert deshalb ihre Andersheit gleich mit. »Überall ist Rationalität jetzt die markierte Seite einer Form, die auch eine andere Seite hat«, meint Luhmann (1997: 174) und spricht dabei die Janusköpfigkeit der Aufklärung an. Wie überall, wenn besonders starre und dominante Denkweisen und Strukturen entstehen, bilden sich in demselben Maße auch ihre Gegenhaltungen aus. So ist es ein Paradox, dass im Jahrhundert der Aufklärung gleichzeitig auch eine große Faszination am Magischen, Okkulten, Spekulativen und Wunderbaren entstand. Wie Elias (2007a: 111) festhält, sind es gerade die Unzulänglichkeiten des an den klassischen Naturwissenschaften orientierten Denkens, welche die Neigung der Menschen verstärken, in vorwissenschaftlichen, mythischmagischen Vorstellungen von sich selbst eine willkommene Zuflucht zu suchen. Genau in die Lücken der rationalen Vernunft stießen nun der Aberglaube, die Phantasie, die spekulativen Wissenschaften und auch manch geschickter Scharlatan. Diese Nischen gediehen prächtig in jener Zeit. Sie zeigen uns, dass der Mensch die von der Aufklärung hinterlassenen Sinndefizite spürt und aus dieser Mangelerfahrung ein Bedürfnis nach dem von der Vernunft Ausgeklammerten entwickelt. Zudem lässt sich in der Popularität von ganzheitlichen Heilformen, wie sie am eindrucksvollsten im Mesmerismus und im künstlichen Somnambulismus zu Tage traten, die ungebrochene Sehnsucht nach Heilung von der Entfremdung und den Zerstörungen, welche der Weg in die Moderne mit sich brachte, ergründen. Den Menschen wieder ganz machen, war das Programm der Romantik, und dieses Ziel verfolgten auch andere alternative Zugänge zum Menschen, zu denen die Romantiker ein Naheverhältnis aufwiesen. Die Befreiung von körperlichem und seelischem Leid und die »Wiederverzauberung der Welt«55 stehen damals wie auch heute, wo sie gemeinhin unter Sammelbegriffen wie ›Neue Spiritualität‹, ›holistisches Milieu‹ oder ›New-Age‹ firmieren, im Vordergrund.
55 So der gleichnamige Titel des New-Age Manifests von Morris Berman (1984).
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2.5 R OMANTISCHE N ATURPHILOSOPHIE UND DIE N ACHTSEITEN DES U NBEWUSSTEN »War wohl auch Europa zu einer anderen, als zu der jetzigen Zeit so sehr mit Vampiren, Rosenkreuzern, Konvulsionären, Magnetisierten und Kabbalisten überschwemmt?« COMPENDIO DELLA VITA ET DELLE GESTE DI GUISEPPE BALSAMO, ROM 1791 »Es sind in dem gemeinsten Menschen viele wunderbare Kräfte tief verborgen, dem gemeinen Auge, dem Besitzer selbst ganz unsichtbar.« FRIEDRICH SCHLEGEL: BRIEFE
In den vorhergehenden Ausführen haben wir die Festigung eines aufgeklärten Selbstbewusstseins erörtert, das all jene Teile, welche seine Selbstherrlichkeit gefährdeten und dem Weltbild einer kontrolliert-ordnenden Vernunftbestimmtheit zuwiderliefen unter das Signum pathologischer Unnützlichkeit stellte. Aus dieser Entwicklung folgern Horkheimer und Adorno (2006: 33): »Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war.« Für eine solche Anstrengung musste also ein hoher Preis bezahlt werden. Dieser wurde in Form einer enormen Verdrängungsleistung entrichtet, in dessen Verlauf man alles, was im geforderten Selbstbild keinen Platz hatte, aus dem Inneren verbannte und als Feindbild nach außen projizierte. So erging es den unbewussten Phantasien, den Triebkräften, den Gefühlen des Unbehagens an einer rationalistisch zerstückelten Welt sowie den irrationalen Anteilen und metaphysischen Sehnsüchten ähnlich wie den Hoffman’schen Feen – sie wurden ›ausgebürgert‹. Die Ratio hielt mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln den Deckel über die verdrängten und verteufelten Energien, die ihr Recht zu beanspruchen suchten. Dies hatte zur Konsequenz, dass es im Inneren des Seelenlebens zu brodeln begann. Nur aus dieser speziellen Konstellation ist es begreifbar, warum die spekulative Naturphilosophie sowie Formen des Spiritismus und Okkultismus plötzlich so breite Aufmerksamkeit erlangten. Magier, Geisterseher, selbsternannte Heiler und Propheten lüfteten den Deckel und fingen die aufgestauten Dämpfe mit ihren mehr oder weniger spektakulär inszenierten Séancen und alternativen Behandlungsmethoden auf. Wie Robert Darnton für das vorrevolutionäre Frankreich konstatiert, hat es wohl nach dem Ende des 18. Jahrhunderts wohl kaum mehr eine Zeit ge-
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geben, in der die verschiedensten esoterischen Methoden und Techniken so breiten Zulauf gefunden haben: »Es dürfte das Verständnis [jener] Mentalität […] befördern, wenn wir berücksichtigen, dass sie am Vorabend der Revolution mit Geistern, mit entfernten Planeten und miteinander über große Entfernungen verkehrten, dass sie den Charakter von Personen aus ihren Gesichtszügen herauslasen; dass sie den Behauptungen von Sonderlingen Glauben schenkten, im Dunkeln sehen zu können, oder Wasser zu ›fühlen‹; dass sie schließlich selbst außerordentliche Kunststücke vollbrachten, wie etwa ihre Eingeweide während einer somnambulen Trance wahrzunehmen und im Falle ihrer Krankheit die Heilmittel und das Datum ihrer Gesundung anzugeben.« (Darnton 1986: 48)
Auch die Romantiker faszinierten all jene Zugänge zu den Seelenregungen des Individuums, die sich mit den von der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossenen Anteilen des Menschen befassten. Durch die Beschäftigung mit den verdrängten Nachtseiten des Ichs kommt es zur Aufwertung des Übernatürlichen und Irrationalen – wie auch der diesen Sphären zugehörigen seelisch Kranken, Wahnsinnigen, Träumern und Phantasten.56 Eine besondere Ausstrahlung übte in diesem Zusammenhang die Alchemie auf die romantische Naturphilosophie aus, weil hier die schöpferische Macht in der Nachahmung magischer Praktiken liegt. Die Zeichensysteme der Alchemie durchziehen in vielfältigsten Variationen die romantischen Märchen und Gedichte. Am offensichtlichsten zeigt sich diese Symbolik wohl in E.T.A. Hoffmanns Erzählung vom Goldenen Topf ([1813] 1977). Hier verbindet sich der junge Held Anselmus nach einigen Bewährungsproben, die seine poetische Imagination testen, mit der ätherischen, als Schlange auftretenden Dame Serpentina in einer alchemistischen Hochzeit, um sodann geistig veredelt und von seinen materiellen Fesseln befreit als Dichter auf einem Rittergut in Atlantis zu leben.57
56 All die großen Gestalten, die sich von den gewöhnlichen Menschen abhoben und deshalb von den Romantikern geschätzt wurden, waren auf die eine oder andere Weise krank oder von Wunden gezeichnet: Herakles, Ajax, Sokrates, Solon, die Bacchanten – sie alle hatten einen ›abnormen‹ Menschenverstand vorzuweisen (Berlin 2004: 108). 57 Nach der alchemistischen Transformation des Helden schließt das Märchen mit der Frage: »Ist denn überhaupt des Anselmus Seligkeit etwas anderes als das Leben in der Poesie, der sich der heilige Einklang aller Wesen als tiefstes Geheimnis der Natur offenbaret?«
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Das Faszinosum am Anderen, Geheimnisvollen und Phantastischen liegt zum Teil im oben beschriebenen Protest gegen die Subsumierung des Gefühlshaushaltes unter den Verstand begründet. Zum anderen hat das Interesse am Innenleben der Menschen mit der Auffassung der Natur als Quelle zu tun. Da ja für die Aufklärer die Natur lediglich ein Abbildung 1: Caspar David Friedrich: toter, mechanistischer, äußerlicher Wanderer über dem Nebelmeer (1818). Ablauf ist, liegt das Bestreben der Romantiker dagegen im Aufspüren der inneren lebendigen, dynamisch belebten Natur. Diese unterliegt nicht mechanischen Gesetzmäßigkeiten, weshalb dem gesamten Ensemble der inneren Seelenvorgänge mit ihren Träumen, Stimmungen, Ahndungen usw. das Vermögen zugesprochen wird, in die inneren Gesetzmäßigkeiten der Natur vorzudringen. Es geht also um die »tiefen Kräfte unseres Wesens […], welche an geistigem Umfange weit über die Gränzen unserer jetzigen Fähigkeiten hinausgehen, und die wir uns doch vergeblich bemühen, im Gang des Der Wanderer geleitet uns nach innen. Mit seigewöhnlichen Lebens fest zu halnen Augen betrachten wir unsere Seelenlandschaft. Diese ist zerklüftet und rau, mit zahlrei- ten.« Diese, von Schubert in seinen chen beängstigenden, aber auch wunderbaren Ansichten von der Nachtseite der Untiefen. Hier ist das Reich des schattenhaften Bewusstseins, die Quelle, zu der das romant- Naturwissenschaft ([1808]; zit. sche Suchen strebt. nach Hinderer: 2004: 214) beschworenen Kräfte, liegen für den romantischen Naturphilosophen im Unbewussten als dem Urgrund allen Lebens. Die Pforten zum Unbewussten, die wir jede Nacht aufs Neue durchschreiten, liegen im Traum: »Im Schlaf sieht der Mensch in den allgemeinen Organismus zurück. Hier ist sein Wille unmittelbar der der Natur und umgekehrt. Beide sind jetzt Eins. Hier ist der Mensch wirklich physisch allmächtig und wahrer Zauberer.« (Ritter: Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers [1810]; zit. nach Dormann: 2004: 163)
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Dies notiert der romantische Physiker und enge Freund von Novalis, Johann Wilhelm Ritter. Allgemein wird der Schlaf also als heilsam gesehen, da wir in ihm zu einem »naturgemäßen Zustande« zurückfinden, der oftmals auch in dem des von Zwängen noch nichts ahnenden Kindes gesehen wird: »Mich dünkt der Traum eine Schutzwehr gegen die Regelmäßigkeit und Gewöhnlichkeit des Lebens, eine freie Erholung der gebundenen Phantasie, wo sie alle Bilder des Lebens durcheinanderwirft, und die beständige Ernsthaftigkeit des erwachsenen Menschen durch ein fröhliches Kinderspiel unterbricht.« (Novalis [1802] 1977b: 199)
Der Schlaf öffnet uns aber auch die Augen für ein höheres Erkennen. Vor allem der in dieser Zeit entdeckte künstliche Somnambulismus – besser bekannt unter Hypnose – erschließt eine direkte Beziehung zur Natur, zu Geist und Seele der Mitmenschen (durch magische Beeinflussung und Gedankenlesen) sowie zum Zukünftigen (in Form von Hellsehen und Prophetien). Die gesamte romantische Naturphilosophie hatte also das Ziel die Naturferne und die Distanz des modernen Menschen zum Gefühl zu überwinden. Durch die Anwendung des Somnambulismus hatten die Hypnotisierten einen direkten Zugang zu den Weltgesetzen, weswegen man ihnen die Gabe zuschrieb in die Zukunft blicken zu können sowie die heilbringenden Kräfte der Natur zu erkennen und wahre Einsichten in die Seele anderer Menschen zu haben (Mahlendorf 1994: 597). Eine epochemachende Erscheinung jener Zeit, welche mit dem künstlichen Somnambulismus aufs engste verbunden ist und auch von den Romantikern bei ihrem Interesse an seelischen Vorgängen breit rezipiert wurde, war der Mesmerismus. 2.5.1 Franz Anton Mesmers »thierischer Magnetismus« Franz Anton Mesmer, der 1734 am Bodensee geboren wurde, gilt als einer der Vorväter der Tiefenpsychologie. Sein Blick in die Abgründe des Unbewussten, die Forderung, dem dabei an Einbildungskraft und Phantasmen zu Tage tretenden mit dem nötigen Ernst zu begegnen, sowie sein kosmologisch inspiriertes Vernetzungsmodell von Mensch, Umwelt und den transzendenten Sphären, verhalfen ihn nicht nur in seiner Zeit zu enormer Popularität. Der Mesmerismus ist bis heute in verschiedenen Nischen und gesellschaftlichen Subkulturen tradiert. Vor allem in den Bereichen diverser holistischer Zugänge zum Menschen, die den Bogen von der Alternativmedizin und den neuen Formen der Spiritualität bis zum Spiritismus und Okkultismus schlagen, finden sich mesmeristische Elemente. Doch Mesmer wurde nicht nur als charismatischer Heiler gefeiert, der durch
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seine magnetischen Behandlungen in den Seelen der Patienten unbekannte, geheimnisvolle Kräfte in Bewegung setzte und so erstaunliche Erfolge erzielte. In Wien promovierte Mesmer 1766 zum Dr. med. und erhielt zunächst die offizielle Anerkennung durch das gelehrte Establishment – es sollte jedoch die einzige überhaupt in seinem Leben bleiben. Mesmer, der stets nach Bestätigung seitens der wissenschaftlichen Fachwelt suchte, schien sich im Jahre 1777 nun endlich die Gelegenheit zu bieten, die breite Öffentlichkeit von seiner Methode zu überzeugen. Maria Therese Paradies, von Kindesbeinen an mit Blindheit geschlagen, erwies sich nämlich gegenüber allen Behandlungsversuchen – z.B. mit einer damals üblichen, mehrere tausend Stromstöße umfassenden ›Kur‹ – als resistent. Ihre Blindheit wurde als hysterisch bedingt verstanden und wurde von den Ärzten als unheilbar erklärt.58 Aufgrund ihres sensorischen Mangels, flüchtet sie sich in das Klavierspiel und wurde von Kaiserin Maria Theresia als Konzertpianistin protegiert. Im Alter von elf Jahren musizierte sie bereits am Hof der Kaiserin und mit achtzehn Jahren kannte sie mehr als sechzig Klavierkonzerte auswendig. Bei den Wienern und Wienerinnen erfreute sie sich als blinde Pianistin außerordentlicher Beliebtheit und wurde als ›künstlerisches Kuriosum‹ gefeiert (Bronfen 1998: 155fff; Zweig 1986: 61f.). Mesmer gelang nun mithilfe seiner Behandlungen eine tatsächliche Heilung der Blindheit, die jedoch unter tragischen Umständen in ein Desaster umschlug. Er konnte zwar die psychische Sehblockade durchbrechen, jedoch reagierte die junge Frau auf das plötzliche Wiedererlangen ihres Augenlichts mit Verwirrung und Desorientierung. Im Gefolge dieser psychischen Ausnahmesituation büßte Maria Therese auch die Sicherheit im von ihr geliebten und im Schutz der Dunkelheit perfektionierten Klavierspiel ein. »Die beständige Uebung, die sie anstellen musste, ihre Ungeschicklichkeit zu verbessern, und die Menge von Dingen, die sie zu lernen hatte, ärgerten sie oft so sehr, dass sie fast wünschte wieder blind zu seyn, um so mehr, da man, in diesem Zustand, ihre Geschick-
58 Elisabeth Bronfen (1998: 130f.) weist auf die Schwierigkeiten hin Hysterie zu klassifizieren. Hysterie als »Störung wurde als Manifestation von nahezu allem aufgefasst, von göttlicher dichterischer Inspiration und satanischer Besessenheit bis zu weiblicher Unvernunft […].« Im 18. Jahrhundert wurde die Hysterie vor allem an empfindsamen Frauen festgemacht, welche Affekte, Leidenschaften und Phantasien kultivierten und dadurch – so das moralische Urteil – die Kontrolle über die Sinnlichkeit und Sittlichkeit verlieren würden.
148 | D IE K ONTINUITÄT ROMANTISCHER I DEEN lichkeit und Klugheit bewundert hatte.« (Mesmer: Abhandlungen über die Entdeckung des thierischen Magnetismus [1781]; zit. nach Florey 1995: 106)59
Zudem kam es plötzlich zu Interventionen seitens der Familie, die von der skeptischen und auch etwas neidischen Ärzteschaft geschürt wurden.60 Es standen wohl auch pragmatische Gründe im Vordergrund, weshalb man Mesmer die Patientin entzog, da ein genesenes Mädchen ihre von der Kaiserin gewährte Gnadenpension verlieren würde. Diese Umstände zwangen nun Mesmer seine Therapie zu unterbrechen, worauf Maria Therese lebenslang in ihre Blindheit zurückfiel, jedoch ihre musikalische Karriere fortsetzte und zu einer gefeierten internationalen Konzertpianistin wurde.61 Mesmer, des Missbrauchs an dem Mädchen für seine Experimente, und folglich des Betrugs bezichtigt sah sich gezwungen Wien zu verlassen. In der Hoffnung in einer Weltstadt auf Offenheit für seine Methode zu treffen, fand er sich 1778 in Paris ein. Bevor von der Methode des thierischen Magnetismus und ihrem Anklang in der Pariser Gesellschaft die Rede sein wird, muss das gesellschaftliche Klima jener Zeit in Frankreich skizziert werden, damit wir ein vages Bild von der Sensationslust und der Bedürfnislage jener Zeit bekommen. Paris pulsierte gegen Ende des 18. Jahrhunderts von einer bis ins Absurde gehenden Wissenschafts- und Wundergläubigkeit. Es begannen sich Rezepte zu Hygiene und Vernunft auszubreiten. Die Salons und Buchhandlungen quillten über von diätetischen Traktaten, die dem Volk die Prinzipien eines vernünftigen, gehorsamen und folglich gesunden Lebens näher brachten. Plötzlich schien die Hoffnung theoretisch begründet, die Menschheit würde demnächst Missstände aller Art überwinden können. Man sah sich in naher Zukunft bereit, die Konstruktionspläne der Natur vollständig zu entschlüsseln, woran sich die Hoffnung knüpfte, dass ihre verborgenen Elemente und Kräfte endlich durchsichtig und
59 Eine literarische Darstellung dieses Falls findet sich in Per Olov Enquist (2004): Der fünfte Winter des Magnetiseurs. Hier versucht der Autor sich in Gestalt seines Helden Friedrich Meisner dem Phänomen des Mesmerismus zu nähern – wenngleich ihm dies nur recht oberflächlich gelingt, da er den philosophischen Hintergrund des thierischen Magnetismus völlig ausblendet. 60 Über die anfänglichen Lobeshymnen angesichts der »so wichtigen Heilung« seitens der »beyden Präsidenten der medicinischen Facultät« vgl. Florey 1995: 108. 61 Hier haben wir es mit einer ›glücklichen‹ Hysterikerin zu tun – gerade durch das Scheitern von Mesmers Behandlungsmethode konnte sich Theresa zu einer berühmten Berufsmusikerin entwickeln, wodurch sie eine gehobene Stellung im öffentlichen Bereich erlangte – was zu jener Zeit nur wenigen Frauen gelang (Bronfen 1998: 162).
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zum Nutzen aller verfügbar werden würden. Die Theologie wurde von ihrem jahrhundertealten Thron gestoßen, auf dem nun anstandslos die Wissenschaft Platz nahm. Der neue Fortschrittsglaube spiegelt sich in der Begeisterung für die ersten Ballonflüge wieder, bei deren Überwindung der Schwerkraft hunderttausende Menschen jubelten, weinten und reihenweise in Ohnmacht fielen. Ein Zeitgenosse (Roziers im Journal de Brüxelles; zit. nach Darnton 1986: 28) schreibt zu dem erhebenden Gefühl eines »im Januar 1784 gemachten aerostatischen Experiments [sic] mit einem Ballon von 100 Fuß Durchmesser«: »Ein unendlicher Raum trennt uns von den Himmeln, Aber, dank der Montgolfiers, deren Genie uns beflügelt, Hat der Adler Jupiters sein Reich verloren, Und der schwache Sterbliche vermag sich den Göttern zu nähern.«
Aus den Zeilen ist das neue Selbstverständnis ablesbar, demzufolge die Wissenschaft aus dem Menschen eine Gott gemacht habe, weil sie seine Vernunft derart befeuerte, wodurch er in der Lage sei die Naturgesetze verstehen und beherrschen zu können. Die Wissenschaft, von der breite Schichten mit an religiöser Begeisterung grenzenden Gefühlen schwärmten, hat dem Menschen jene unendlichen Weiten des Möglichen eröffnet, wie sie in den Ballonflügen symbolhaft zum Ausdruck kamen. »Die unglaublichen Entdeckungen, die sich während der letzten zehn Jahre vervielfacht haben […] die Durchdringung des Phänomens der Elektrizität, die Umwandlung der Elemente, das Verständnis der Luftzusammensetzung, die Kondensation der Sonnenstrahlen, die Befahrung der Lüfte durch menschliche Waghalsigkeit und tausend andere Erscheinungen haben in erstaunlicher Weise den Bezirk unserer Erkenntnisse erweitert. Wer wüßte, wie weit wir noch gehen können? Welcher Sterbliche könnte es wagen, dem menschlichen Geiste Grenzen zu setzen […]?« (Ebd. 30)
Die Ambitionen seitens der Wissenschaft, die Welt erklärbar und technisch handhabbar zu machen, löste bei den Zeitgenossen den Glauben aus, der wissenschaftliche Fortschritt könne das Mängelwesen Mensch in ein omnipotentes Individuum verwandeln, das zu allem in der Lage sei: zu fliegen, auf dem Wasser zu wandeln, alle Krankheiten zu heilen etc.62 Die rationale Wissenschaft beför-
62 Viele obskuren Behauptungen kursierten damals in den Zeitungen, wie beispielsweise jene, wonach die Erfindung ›elastischer Schuhe‹ das Beschreiten von Wasser ermöglichen sollte (ebd. 33).
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derte also gleichzeitig auch das Wunderbare und zwar deshalb, weil das wirklichkeitskongruente Wissen – also das rationale Wissen – selbst unter Fachleuten noch äußerst spärlich gesät war. »Die Liebe zum Wunderbaren besiegt uns immer, weil wir verworren spüren, wie wenig wir über die Naturkräfte wissen, und deshalb alles begeistert begrüßen, was uns zu irgendwelchen Entdeckungen über sie führt.« (Mercier: Tableau de Paris [1783]; zit. nach ebd. 31)
Einer Zeit, in der sich metaphysische Deutungshorizonte weitgehend aufgelöst haben, erscheinen wesentliche Teile der alltäglichen Welt unbegreifbar. Vor allem jene, welche der technische Fortschritt mit sich brachte, stehen in ihrer Funktionsweise dem Menschen fern. Hier sind es nun die Phantasien, welche wir »begeistert begrüßen«, wenn wir nach Erklärung angesichts des Unerklärbaren suchen. Norbert Elias hat in diesem Zusammenhang von einer Zunahme an Phantasiewissen gesprochen, das die Lücken des wirklichkeitskongruenten Wissens auffüllt. Phantasien stärken den Zusammenhalt der Gesellschaftsverbände und geben ihren Mitgliedern das Gefühl, Ereignisse kontrollieren zu können. Elias (2007a: 113) erörtert dies am Beispiel der Magie als einer Form des Phantasiewissens: »Sie hilft Menschen, die Unerträglichkeit einer Situation, in der sie wie kleine Kinder mit Leib und Leben rätselhaften und unkontrollierbaren Gewalten ausgeliefert sind, durch Phantasiegedanken und -handlungen zu lindern.« Ein Mangel an wirklichkeitskongruentem Wissen kann somit zu Orientierungskrisen führen, weshalb »die menschliche Fähigkeit zur Hervorbringung von Phantasien als Antwort auf sich stellende Fragen [...] keinen geringeren Überlebenswert [besitzt] als die Fähigkeit, herauszufinden, was – wie man zu sagen pflegt – die Wahrheit ist« (Elias 2001: 116). Diese Bedeutung des Phantasiewissens ist natürlich in der Postmoderne, mit ihrer aufgeblähten ›objektiven Kultur‹, (Simmel) besonders relevant. Hieraus speist sich zum Teil auch der bei uns modernen Zeitgenossen auffällig werdende Trend zum Rückgriff auf magischmythische Interpretationsmuster der Wirklichkeit, da trotz moderner Naturwissenschaften – oder gerade wegen dieser und ihrer zunehmenden Spezialisierung – unzählige Phänomene im Alltag der Menschen existieren, die diese nicht rational bewältigen können:63
63 »Und in diesem Falle wäre es wohl möglich, dass die Unzulänglichkeit des an den klassischen Naturwissenschaften orientierten Denkens die Neigung der Menschen verstärkt, in vorwissenschaftlichen, mythisch-magischen Vorstellungen von sich selbst eine willkommene Zuflucht zu suchen.« (Elias 2007a: 111).
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»Das Problem liegt darin, dass man nicht für alles Spezialist sein kann, so dass die meisten unserer alltäglichen Lebensvollzüge sich – entgegen dem Anspruch nach ihrer rationalen Gestaltung – in der unbegreiflichen Komplexität von zumeist organisierten Systemzusammenhängen verlieren.« (Kaufmann 1989: 21)
Im 18. Jahrhundert beginnt daher die Wissenschaft jene Phantasien und Wundergläubigkeiten indirekt zu fördern, zu deren Bekämpfung sie ja eigentlich ausgezogen war. Neben dem offensichtlichen Ungenügen, alle Lebensbereiche nach naturalistischen Gesichtspunkten zu verhandeln, stellt Isaiah Berlin fest, dass es sich bei der Zunahme an Phantasiewissen um eine »unvermeidliche Reaktion« handelt, »welche die »Woge des Rationalismus« mit sich bringt: »Mir scheint, es ist eine historische Tatsache, dass es, wenn der Rationalismus eine bestimmte Kraft gewonnen hat, sehr oft zu einer Art von emotionalem Widerstand kommt, zu einem ›Rückschlag‹, der aus dem erwächst, was der Mensch an Irrationalem in sich hat.« (Berlin: 1992b: 54f.)
So gingen Information und Aufklärung nahtlos in irrationale magische Vorstellungen über. Wie Robert Danton meint, konnte sich bis an die Wende zum 19. Jahrhundert die Scharlatanerie zweihundert Jahre lang als Nische zwischen den Formationen des Glaubens und des Wissens halten. Dabei nährte sie sich sowohl vom Charisma sakraler Heil(s)mittel, als auch von der ständig anwachsenden Popularität der neuzeitlichen Naturwissenschaft. Was im christlichen Mittelalter an Splittern vom Kreuz, Knöchelchen, Stofffetzen und sonstigen Reliquien der Apostel und Heiligen abergläubisch verehrt wurde, fand nun in destillierten Essenzen, den Luftsalzen, Goldtinkturen und Lebenselixieren, welche bis weit ins 19. Jahrhundert die Märkte überschwemmten seine heilsbringende Entsprechung (Darnton: 1986: 195). Soweit zur Stimmungslage in Frankreich, bei der, so möchte man meinen, ein Mesmer mit seinen spektakulären Wunderkuren euphorischen Anklang finden musste. Und tatsächlich schien die Pariser Gesellschaft nur auf eine Gestalt, wie sie Mesmer repräsentierte, gewartet zu haben. In seiner Pariser Praxis vibrierten Herrschaften aller Schichten in den von ihm konstruierten elektrischen Wannen, wälzten sich in schamlosen Konvulsionen auf dem Boden und überließen sich in voller Hingabe wilden ekstatischen Körpergefühlen. Auf dem Besitz der Brüder Chastenet de Puységur in Buzancy fielen Heilsuchende in magnetische Trance und förderten unerhörte Bekenntnisse aus ihrem Inneren zutage (ebd. 58). Doch welcher Techniken bediente sich Mesmer bei seinen Behand-
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lungen und aus welchem theoretischen Fundament – Mesmer verstand sich ja als Wissenschaftler – entfalteten sie ihre Kraft? 2.5.2 Die magnetische »Allfluth« und der somnambule Schlaf »Und alles was wirkliches und unbestreitbares in den Erscheinungen des Somnambulismus, der Prophezeiungen, der Sybillen, der Orakel, der Magie, der Zaubereien, der Dämonurgie sich findet, wird sich durch diese Theorie erklären lassen.« FRANZ ANTON MESMER: MESMERISMUS
In Wien hatte Mesmer noch erste Experimente mit Magneten an seinen Patienten vollzogen, doch er begriff schnell, dass für die erstaunlichen Wirkungen seiner Therapie nicht der metallische Magnetismus verantwortlich sein konnte, da die Patienten schon vor den magnetischen Bestreichungen in außeralltägliche Zustände fielen. Diverse Versuche überzeugten ihn von der Existenz einer anderen Kraft. So konnte Mesmer seinen Patienten allein durch seine Handflächen, die aus Entfernungen von mehreren Metern und sogar durch Wände hindurch auf sie gerichtet wurden, so heftige Schläge zufügen »gleich als hätten sie einen Hieb mit einem Stumpfen Eisen bekommen« (Mesmer: Schreiben über die Magnetkur; zit. nach Florey 1995: 65). Daraus schloss er, dass es neben dem bekannten metallischen Magnetismus auch einen »animalischen Magnetismus«64 geben müsse, der seine Grundlage in einem den ganzen Kosmos durchströmenden Fluidum65 habe. Mesmers Theoriekonzept basiert dabei auf Newtons Anticartesianismus der von einer Durchdringung von Geist und Materie ausgeht. Die Vorstellung, die gesamte unbelebte und belebte Natur durchströme eine magnetische »Allfluth«, bringt Mesmer in scharfen Kontrast zum cartesianischen Dualismus mit seiner kategorialen Trennung von Materiellem und Geistig-Seelischem. Das mesmeristische Prinzip ist ein streng monistisches, da hier eine Kraft am Werke
64 Der animalische Magnetismus leitet sich vom Lateinischen ›animal‹, »Tier, Lebewesen« her; Mesmer verwendete die Bezeichnung thierischer Magnetismus. 65 Das von Mesmer konstatierte Fluidum ist im Zusammenhang mit einer Reihe von unterschiedlichen Bezeichnungen für eine universale Lebensenergie zu sehen. Emmanuel Swedenborg (1688-1772) hatte dafür den Begriff influx gefunden, während Henri Bergson von elan-vital spricht, und der noch zu erwähnende Wilhelm Reich hat sich mit seiner Entdeckung der Orgon-Energie ins wissenschaftliche Abseits befördert.
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ist, die alles bewegt – von den Abweichungen der Planetenbahnen bis zu den Gemütsregungen der Seele. Mesmer bemühte sich, da er ja als seriöser Wissenschaftler die Aufnahme in die etablierte Ärzteschaft anstrebte, seine Heilungsmethode mit einer zwar eklektischen und hochspekulativen, aber doch systematischen Naturphilosophie zu untermauern. Besonders an den vorteilhaften medizinischen Anwendungen des von ihm entdeckten Fluidums war es Mesmer gelegen. Krankheit nämlich entstehe durch Hindernisse im Fluss des Fluidums durch den Körper. Der mit dem Fluidum aufgeladene Magnetiseur sei nun dazu in der Lage, die Blockaden im Patienten zu durchbrechen und die Krankheit aufzulösen, indem er den Magnetisierten wieder in die Harmonie kosmischer Strömung zurückführe (Barkhoff 2004: 92). Gesundheit wird hier umfassend als harmonische Beziehung zwischen Mikrokosmos Mensch und Makrokosmos verstanden. Dieses holistische Konzept faszinierte die Romantiker, die im thierischen Magnetismus eine Methode erblickten, um sowohl mit der inneren als auch mit der äußeren Natur in direkte Beziehung zu treten. Dank Mesmers Entdeckung einer innigen Verbundenheit, sowie einer dynamischen Wechselwirkung zwischen allem Unbelebten und dem Belebten, hatte man auch eine ganz klare Vorstellung davon, wie die Krankheit der Zeit zu heilen sei: »Wie wenn in dieser alles vergeistigenden Zeit, […] da die innige Verwandtschaft, der geheimnisvolle Verkehr des physischen und psychischen Prinzips klarer, bedeutender hervortritt, da jede Krankheit des Körpers sich ausspricht im psychischen Organismus, wie wenn da der Magnetismus die im Geist geschaffene Waffe wäre, die uns die Natur selbst darreicht, das im Geist wohnende Übel zu bekämpfen?« (Hoffmann: Die SerapionsBrüder, zit. nach Mahlendorf 1994: 599)
Mesmer beschreibt zwei grundlegende Techniken um den Menschen in einen harmonischen Gleichklang mit der Natur zu versetzen. Die häufigste Anwendung besteht im magnetischen Bund zweier Individuen. Hier sitzt der mit Fluidum aufgeladene Magnetiseur dem Patienten gegenüber und überträgt direkt sein Lebensfeuer auf die ›verstopften‹ Körperpartien. Dies wird einerseits mittels magnetischer Striche bewerkstelligt, oder aber schlicht durch den Willen des Magnetiseurs. Daneben werden auch Gruppenbehandlungen rund um das Baquet66 oder einen magnetisierten Baum angewandt. Bei diesen Varianten waren
66 Ein Baquet (in Anlehnung an die Leydensche Flasche) ist ein Gefäß mittlerer Größe, das mit Wasser gefüllt und mit herausstehenden eisernen Stangen versehen war. Im Gefäß konzentrierte sich das Fluidum, das durch die Stangen auf die Kranken, die in mehreren Reihen rings um das Baquet saßen, verbreitet wurde (Darnton: 1986: 15).
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die Menschen mittels eines leitenden Bandes miteinander verbunden, oder bildeten mit den Händen eine Kette, durch die das Lebensfeuer fließen konnte (Barkhoff 1995: 26). Abbildung 2: Mesmeristisches Baquet
In diesem Behandlungsraum sind ungefähr dreißig Patienten zu einer magnetischen Kette verbunden. Im Zentrum befindet sich das Baquet, aus dem Metallstangen herausragen. Der Magnetiseur neben den Baquet überwacht die kollektive therapeutische Krise.
Darnton (1986: 16f.) schildert eine Darstellung mesmeristischer Sitzungen: »M. Mesmer, Doktor der medizinischen Fakultät Wien in Österreich, ist der alleinige Erfinder des thierischen Magnetismus. Diese Methode, eine Vielzahl von Übeln zu kurieren (u.a. Wassersucht, Paralyse, Gicht, Skorbut, Blindheit und unfallbedingte Taubheit), besteht in der Anwendung eines Fluidums oder Agens, welches M. Mesmer auf diejenigen richtet, zuweilen mittels einem seiner Finger, zuweilen auch mittels eines Eisenstabes, den jemand anders nach seinem Gutdünken dirigiert, welche seine Zuflucht zu ihm nehmen. Er bedient sich ebenfalls eines mit Seilen versehenen Bottichs, welchen die Kranken sich umbinden, und der Eisenstäbe, die sie in die Nähe der Magengrube, der Leber oder der Milz und im allgemeinen in die Nähe des erkrankten Körperteils bringen. Die Kranken, besonders die Frauen, erleben Konvulsionen oder Krisen, die ihre Heilung bewirken. Die Mesmeristen (das sind diejenigen, denen Mesmer sein Geheimwissen enthüllt hat […]) legen ihre Hände auf die erkrankte Stelle und reiben sie eine Weile. Diese Operation beschleunigt die Wirkung der Seile und der Eisenstangen. Jeden zweiten Tag wird auch ein
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Baquet für die Armen zur Verfügung gestellt. Im Vorzimmer spielen Musiker Weisen, die geeignet sind, die Kranken froh zu stimmen. Man sieht zu diesem berühmten Arzt eine Menge Männer und Frauen jeglichen Alters und jeglicher Verhältnisse kommen, den ausgezeichneten Soldaten, den Rechtsanwalt, den Geistlichen ebenso wie den Cordon bleu (Ordensträger Anm. d. Verf.), den Künstler, den Arzt, den Chirurgen. Es ist ein Schauspiel, wahrhaft empfindsamer Seelen würdig, durch ihre Geburt und ihre gesellschaftliche Stellung ausgezeichneter Männer ansichtig zu werden, die mit einer rührenden Besorgnis Kinder, Greise und vor allem die Bedürftigen mesmerisieren.«
Die allgemeine harmonische Atmosphäre wurde von Mesmer musikalisch unterstützt, indem er auf der Glasharmonika spielte. Dieses Instrument erhielt eine herausragenden Stellung, nicht nur um »die Kranken froh zu stimmen«, sondern auch deswegen, weil sich auf ihm am besten die ›Naturmusik‹ nachahmen ließe, »die auf unser Inneres in den tiefsten Beziehungen so wunderbar wirkt« (Hoffmann: Der Magnetiseur [1814]; zit nach Barkhoff 1995: 209). Die Musik der Glasharmonika verstärkte nicht nur die Zirkulation des Fluidums; ihre Sphärenklänge galten vor allem in der romantischen Interpretation als Nachklänge eines »Goldenen Zeitalters« (Schubert), »welche uns mit mächtigem Zauber ergreifen, ja […] die Ahndungen eines fernen Geisterreiches und unsers höhern Seins in demselben hervorrufen« (ebd.). Bei Eichendorff ([1841] 1970a: 47) findet die romantische Bedeutung der Musik in der Verbindung von Mensch, Natur und Kosmos ihren poetischen Ausdruck: »Schläft ein Lied in allen Dingen, Die da träumen fort und fort, Und die Welt hebt an zu singen, Triffst du nur das Zauberwort.«
Mesmers Prinzip der Wechselwirkungen erfasste nicht nur die physischen Krankheiten. Auch an der moralischen Gesundung war ihm gelegen, weshalb man Kinder schon frühzeitig dem »agens der Natur« aussetzte, um sie als natürliche Menschen aufwachsen zu sehen. Die Gesellschaftskritik dahinter, welche vor allem bei den Romantikern auf eifrigen Zuspruch stieß, war der Einspruch gegen die Abspaltung des vernünftigen Menschen aus dem Naturzusammenhang. Hier plädiert Mesmer für die Aufwertung des Instinkts, als ein dem Menschen von der Natur eingepflanztes Wahrheitsorgan, das jedoch in Anpassung an die herrschenden Verhältnisse verschüttet wurde.
156 | D IE K ONTINUITÄT ROMANTISCHER I DEEN »Da der Instinkt eine Wirkung der Ordnung und der Harmonie des Weltalls ist, so ist derselbe auch eine sichere Regel für die Empfindung, so wie für die Handlung. Allen empfindenden Wesen wurde der Instinkt von der Natur verliehen, um nützliche Wahrheiten zu erreichen. Es sey hier wiederholt gesagt, dass es für die Vervollkommnung der Menschen überaus wichtig seyn würde, ihn dieses kostbare Vermögen von seiner Kindheit an ausbilden zu lernen« (Mesmer: Mesmerismus; zit. nach Barkhoff 1995: 31)
Überhaupt beanspruchte seine Theorie, dass der thierische Magnetismus die ideale Behandlungsmethode für alle Formen der Degeneration sei. So würden auch die moralisch Verdorbenen, welche sich in den heilsamen Strom des Fluidums einklinken als sittliche Menschen wiedergeboren. Mesmers Harmoniegesetz macht auch nicht auf individueller Ebene halt, denn, wie Nicolas Bergasse (Considérations [1784]; zit. nach Darnton 1986: 105), einer von Mesmers eifrigsten Schülern, meint: »Jeder Wechsel, jede Veränderung unserer physischen Verfassung bringt deshalb unweigerlich einen Wechsel und eine Veränderung unserer moralischen Verfassung hervor. Somit genügt es, die physische Ordnung einer Nation zu reinigen oder zu verderben, um eine Revolution ihrer Sittlichkeit zu bewirken.«
Die Revolution der Sittlichkeit liegt bei Mesmer in einer Einübung in eine gesellschaftliche Ordnung, die auf ein harmonisches Miteinander ausgerichtet ist. Aus diesem Grund war er auch bemüht alle Menschen mit seiner Behandlungsmethode zu erreichen. Wie aus den oben angeführten Schilderungen hervorgeht, herrschte in seiner Praxis keine soziale Exklusivität. Der »Behandlungsraum Mesmers war«, meint Ernst Benz, »der einzige Ort in Frankreich, an dem sich die Angehörigen der verschiedensten sozialen Klassen nicht nur trafen, sondern sich auch die Hände reichten und sich um das Baquet zu einer magnetischen Kette miteinander verbanden« (Benz: Franz Anton Mesmer und seine Ausstrahlung in Europa und Amerika; zit. nach Mazza 2004: 245). Um den beeindruckenden Inszenierungscharakter der Mesmerschen Heilkunst zu vergegenwärtigen, machen wir noch einmal einen Blick in seine Pariser Praxis. Die dort in großer Anzahl abgehaltenen Gruppenbehandlungen in den Jahren 1780-84 kann man wohl ohne zu übertreiben als ›Spektakel‹ und ›Sensationen‹ bezeichnen. In Scharen strömten die Menschen zu seinen öffentlich zugänglichen Therapien, um entweder das Fluidum am eigenen Leib zu verspüren, oder zumindest seine spektakuläre Wirkung auf Körper und Geist als Zuschauer zu erleben. Besonders anschaulich schildert der junge Christoph Hufeland
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(Mesmer und sein Magnetismus [1785]; zit. nach Barkhof 1995: 4f.), aus der Sicht eines ablehnenden Aufklärers, eine mesmeristische Szenerie: »Hier saßen Menschen beiderlei Geschlechts, von allen Ständen und Krankheiten, um einen großen hölzernen Kasten herum, der der Behälter der magnetischen Kraft war, und den Namen Baquet hatte. Sein Obertheil war mit einer Menge Löcher durchboret, aus welchen eiserne Stangen ausgingen, die die geheime Kraft auf den Kranken leiteten. Jeder hielt eine solche Stange, die mit Hilfe eines Gelenkes gerade auf den leidenden Theil gerichtet werden konnte; und ein um den Leib geschwungenes Seil verband sie alle mit einander, um die magnetische Kraft durch die Vereinigung zu verstärken. In eben dieser Absicht machten sie von Zeit zu Zeit die magnetische Kette mit den Händen, indem ein jeder seinen Daumen zwischen den Daumen und Zeigefinger seines Nachbarn legt, und den Daumen, den er so hielt, drückte. Um sie herum giengen die Priester des Magnetismus, mit eisernen Stäben in der Hand, und magnetisierten sie durch folgende Manöuvres. Bald richteten sie den Finger oder den eisernen Stab auf das Gesicht, über oder hinter dem Kopf und auf die kranken Theile; bald sahen sie die Kranken mit starren Blicken an; bald berührten sie die magnetischen Pole des menschlichen Körpers, […]. Eine Menge Spiegel schmückten den Saal und vervielfältigten die Scenen. Ein ausgesuchtes Orchester führte während der Behandlung die schönsten Symphonien auf, begleitet von dem himmlischen Tone der Harmonica, welche Mesmer selbst meisterhaft spielte. […] Man kann sich keinen Begriff von den wunderbaren Erscheinungen machen, die dies Verfahren hervorbrachte. Eine begeisterte Quaker-Innung ist nichts dagegen, und kaum kann man Gassners Besessene [berühmt berüchtigter deutscher Exorzist, Anm. d. Verf.] den magnetisierten Franzosen an die Seite stellen. Einige empfanden Schmerzen und Erhitzung; andere geriethen in einen Zustand von Betäubung und Ohnmacht; nur wenige blieben unbewegt. Man sah die gewaltsamsten unwillkührlichen Verdrehungen der Glieder, halbe Erstickungen, Auftreibung des Leibes, verwirrte Blicke; hier stößt einer das durchdringendste Geschrey aus; dort will einer für Lachen bersten; da zerfließt ein andrer in Thränen. Unter manchen entstehen geheime Sympathien; sie suchen sich auf, werfen sich einander in die Arme, bezeugen sich die lebhafteste Zuneigung, und suchen sich gegenseitig ihren Zustand zu versüßen. […] Nichts kann diese Bezauberung aufheben als der Befehl des Magnetisten: und die Kranken mögen sich nun in der heftigsten Raserey oder in der tiefsten Betäubung befinden, so ein Wort, ein Blick, ein Wink des Meisters hinreichend sie zu sich zu bringen. […] Man sollte denken, eine so gewaltsame Kurart müsse mehr abgeschreckt als angezogen haben. Aber so groß war die Kraft des Magnetismus, daß, wer einmal diesen Rausch geschmeckt hatte, kaum die Zeit erwarten konnte, wo er ihn wieder genießen würde; […] die darauf folgenden Empfindungen hielten für alles Leiden vollkommen schadlos. Man fühlte sich leichter, neubelebt; man empfand eine wohlthätige Wärme in allen Adern; Munterkeit und Thätigkeit verbreiteten sich über Leib und Seele; man dachte heller, fühlte feiner, freute sich mehr des Lebens, und hatte dabei den herrlichsten Appetit,
158 | D IE K ONTINUITÄT ROMANTISCHER I DEEN den auch Mesmers Lehre möglichst zu sättigen gebot. Man bekam eine lebhafte Zuneigung, einen unwiderstehlichen Zug zu der Magnetcur, und durch wiederholten Gebrauch wurden Wunderkuren möglich.«
Auffallend bei dieser Beschreibung ist der theatralische Inszenierungscharakter in Mesmers Krankensaal. Das sorgsam einstudierte Arrangement der »Priester des Magnetismus« mit ihrer dramatischen Gestik wird unterstützt mit sphärischer Musik, die das allgegenwärtige Fluidum in Gang halten soll. Eine Vielzahl an Requisiten fanden dabei unterstützende Verwendung. Nicht nur das seltsam anmutende Arrangement des Baquets sorgte für den magischen Charakter der Aufführung, auch diverse strategisch platzierte Spiegel, durch welche die Fluidumstrahlen gebündelt auf die Kranken zurückgeworfen werden sollten, verstärkten das Gefühl, an einem mystisch aufgeladenen Ort zu sein. Schwere Teppiche, seltsam astrologische Wanddekorationen und zugezogene Vorhänge taten ihr übriges dazu (Darnton: 1986: 17f.). Diese aufwendig gestaltete Vorstellung hatte nur einen Sinn: Die Lockerung und Auflösung besonders hartnäckiger Blockaden im Körper durch Hervorrufung einer »Krise« beim Patienten. Die zuckenden, ekstatischen Leiber der vom Fluidum Ergriffenen gaben in Mesmers Behandlungsraum ihre erst mühsam internalisierte Selbstzwangapparatur an jene »geheime Kraft« ab, die sich durch Eisenstangen, Spiegel, und nicht zuletzt durch die magnetische Kette der miteinander Verbundenen machtvoll ausbreitete. Hufeland schildert die spektakulären kathartischen Wirkungen solcher somatischen und psychischen Entgrenzungserfahrungen, wenn auch als Skeptiker mit ironischem Unterton. Doch hieraus erschließt sich uns der enorme Zulauf zum Mesmerismus. Zum einen liegt er in den oben skizzierten Anforderungen an das aufgeklärte Vernunftsubjekt begründet. Dieses wurde ja dazu angehalten sich in der Disziplinierung der Sinne, der Selbstbeherrschung und der Diätetik zu üben, um somit dem Ideal des homo oeconomicus zu entsprechen. Im thierischen Magnetismus sah der aufgeklärte, wissenschaftliche Umgang mit dem Körper seine blinden Flecken. In Sloterdijks historischen Roman Der Zauberbaum (2005: 59) erklärt der Mesmerianer LaBrasseur dem Helden die Krux des Zivilisationsprozesses unter geordnet-vernünftigen Vorzeichen: »Haben Sie nie bemerkt, wie wenige Menschen in unseren Kreisen noch imstande sind, aus Leibeskräften zu lachen, zu schreien oder zu schluchzen?« So ist in der ›Ekstasetechnik‹, der sich Mesmer geschickt bediente, die befreiende Entladung dessen wahrzunehmen, was den gequälten und geknebelten Leib unter der Vernunftherrschaft an Verkrampfungen und Einschnürungen zugemutet wurde. Hier konnte sich ohne Hemmungen und oftmals gewaltsam entladen, was sonst als ›Verstopfung‹ zu psychosomatischen Krankheiten führte. Es ist kein Wunder,
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dass sich die Patienten durch »eine so gewaltsame Kurart« nicht »mehr abgeschreckt als angezogen [gefühlt] haben« (Hufeland). Zum anderen baut Mesmers Erfolg auf die Mängel der Schulmedizin. Die von Hunderten belegten und häufig sogar notariell beglaubigten Heilungen mussten das Vertrauen an die konventionellen Ärzte mit ihren Aderlässen und unverständlichem Latein erheblich geschwächt haben. Zudem standen sie vielen psychosomatischen Krankheiten mit diesem mangelhaften Instrumentarium hilflos gegenüber. Ein nicht unerheblicher Teil des Publikums bestand auch aus Armen, die nicht in der Lage waren, sich richtige Ärzte leisten zu können. Diese wandten sich nun Quacksalbern und Glaubensheilern aus der medizinischen Unterwelt zu, welche mit geheimen Heilmitteln aller Art hantierten. Möglicherweise fuhren sie sogar besser dabei, denn als Idealbild der aufgeklärten Ärzteschaft galt der Arzt Julien Offray de La Mettrie, der den Menschen als eine organische Maschine beschrieb, dessen Illusion eine unabhängige Seele zu besitzen, einfach vom Zusammenspiel ihrer physischen Komponenten bestimmt wird (Tarnas 1998: 390). Diesem rein materiellen Menschenbild fehlt es an einem Sensorium für die komplexen Wechselbeziehungen zwischen Körper und Geist und die intuitiven, aus der Natureinfühlung gewonnen Erkenntnisse. Natürlich hatte der große Zulauf zu Mesmers Behandlungen auch mit Neugierde und einer gewissen Sensationslust zu tun. Der beschriebene Inszenierungscharakter erzeugte jene magische Atmosphäre, von der sich die Menschen angezogen fühlten. Die Schwärmerei über Außeralltägliches heizten auch Alchemisten, Zauberer und Wahrsager an, die im Pariser Leben fest verwurzelt waren. »Gewiß waren niemals Rosenkreuzer, Alchemisten, Propheten und alles was mit ihnen in Zusammenhang steht so zahlreich und niemals schenkte man ihnen so viel Gehör. Die Konversation wendet sich fast ausschließlich derartigen Dingen zu; sie beschäftigen die Einbildung von jedermann […] Wenn wir uns umsehen, dann sehen wir nur Zauberer, Adepten, Nekromanten und Propheten. Ein jeder hat seinen eigenen, auf den er schwört.« (Barbéguière: La Maconnerie mesmérienne [1784]; zit. nach Darnton 1986: 69)
Auf der Hitliste ganz oben stand jedoch der Mesmerismus, der sogar die enthusiastische Begeisterung für Ballonflüge übertroffen hatte. Überall, so scheint es, war er Gesprächsthema unter den von magnetischen Wundern geblendeten Parisern und Pariserinnen: »Der Mesmerismus wurde in den Akademien, Salons und Cafés diskutiert. Er wurde von der Polizei untersucht, von der Königin begünstigt, so manches Mal auf der Bühne ins Lä-
160 | D IE K ONTINUITÄT ROMANTISCHER I DEEN cherliche gezogen, in volkstümlichen Liedern, Knittelversen und Karikaturen verspottet, von einem Netz freimaurerartiger Geheimgesellschaften praktiziert und publizistisch durch eine Flut von Pamphleten und Büchern verbreitet. Er gelangte sogar bis in Così fan tutte von Wolfgang Amadeus Mozart, Mesmers Freund aus seinen Wiener Tagen.« (Darnton 1986: 45)
Mindestens ebenso aufsehenerregend wie Mesmers Fluidum war die Wiederentdeckung des schon angesprochenen künstlichen Somnambulismus durch seinen Schüler Marquis de Puységur. Auf seinem Besitz in Buzancy fand er heraus, dass ein Bauer während einer magnetischen Sitzung in einen merkwürdigen Schlaf verfiel, in dem er mechanisch seinen Anweisungen Folge leistete. Diese Entdeckung wurde auch an anderen Versuchspersonen wiederholt festgestellt und bald ließen sich die erstaunlichsten Effekte mit diesem »mesmeristischen Somnambulismus« hervorrufen. Berühmtheit erlangten die magnetisierten Ulmen, um die herum die Menschen mit Seilen gebunden waren und in wohltuenden Schlaf versanken. In diesem hypnotischen Zustand konnten die Somnambulen nicht nur die Gedanken des Magnetiseurs erraten und dessen Aufforderungen Folge leisten, sie vermochten sogar mit toten oder weit entfernten Personen zu kommunizieren, ihre Krankheit zu diagnostizieren, den Krankheitsverlauf vorherzusagen, sowie sich selbst geeignete therapeutische Maßnahmen zu verschreiben (Barkhoff 1995: 27f.).67 Wie bei den Inszenierungen in Mesmers Krankensaal ist auch zum Verständnis der unter Bäumen in hypnotische Trance Fallenden, der diesen Aufführungen innewohnende Ritualcharakter wichtig. Die Wahrheit des durch rituellen Handelns gewonnen Wissens wird durch einen reziproken Prozess gewonnen. Indem sich die Heilsuchenden in den mesmeristischen Kontext begeben, bestätigt die direkte Erfahrbarkeit ver-rückter Zustände und das Eintauchen in außeralltägliche Wirklichkeiten die Wirkmächtigkeit des Rituals. Mesmer meint, dass die Realität des animalischen Magnetismus gefühlt werden muss und dass man sich von der Wahrheit seiner Theorie nur durch Partizipation überzeugen könne: »Er [thierischer Magnetismus] will vor allen Dingen empfunden seyn und diß Gefühl allein kann die Theorie davon verständlich machen« (Mesmer: Kurze Geschichte des thierischen Mesmerismus; zit. nach Barkhoff 1995: 52). Von außen, vom Standpunkt der wissenschaftlichen Distanzierung betrachtet, erscheinen die Prozeduren lediglich als Humbug und okkulte Obskurantismen.
67 Eine schöne literarische Beschreibung des mesmeristisch-somnambulen Heilungsrituals in Buzancy, findet sich bei Sloterdijk 2005: 243-266.
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In diesem Zusammenhang ist die Analogie zwischen Mesmerismus und Schamanismus auffallend, wobei Mesmer die Rolle eines modernen Schamanen einnimmt. Eine solche Interpretation legen die Überlegungen von Claude LéviStrauss (1977) zur Wirksamkeit von Symbolen im »Schamanen-Komplex« nahe. Für die sinnhafte Ausdeutung des außeralltäglichen Heilungsrituals sind demnach drei Faktoren verantwortlich: » […] die des Schamanen selbst, der, wenn seine Berufung echt ist (und sogar, wenn sie es nicht ist, aufgrund der Ausübung), spezifische Zustände empfindet, die psychosomatischer Natur sind; dann die des Kranken, der eine Besserung verspürt oder auch nicht; und schließlich die der Öffentlichkeit, die auch an der Heilung teilnimmt, wobei das Mitgerissensein, dem sie unterliegt, und die intellektuelle und gefühlsmäßige Befriedigung, die sie daraus zieht, eine kollektive Zustimmung erzeugen, die selbst wiederum einen neuen Kreislauf inauguriert.« (Ebd. 197)
Die affektive Ausdehnung der Heilungszeremonie auf das Kollektiv wird anhand der Schilderungen Hufelands ersichtlich, der sich zu Beginn dem Phänomen mit skeptischer Distanz annähert, letztendlich jedoch dem Rausch der Empfindungen erliegt und das Spektakel mit unverhüllter Euphorie schildert.68 Damit stützt die »kollektive Zustimmung« das außeralltägliche Sinnsystem, in dessen Kontext die Heilung stattfindet. Die Rolle des Schamanen – wie auch des Magnetiseurs – ist hierbei diejenige des Dramaturgen und Schauspielers. So wie bei den magnetischen Behandlungen eine Vielzahl von Requisiten und symbolischen Akten zur Anwendung kommen (siehe oben), gehören diese auch zum Repertoire schamanistischer Heilverfahren. Dabei kann eine Mischung aus »Pantomime, Gaukelei und empirischen Erkenntnissen, darunter die Kunst, Ohnmacht zu heucheln, Nervenanfälle vorzutäuschen, die Lehre magischer Gesänge, die Technik, sich selbst zum Speien zu bringen« (Strauss 1977: 192) ebenso zur Anwendung kommen, wie eine Manipulation bzw. das Saugen an kranken Organen oder Gliedern, welche die Ursache der Krankheit herausziehen soll, die »im allgemeinen einen Dorn, einen Glassplitter, eine Feder, die man im geeigneten Augenblick erscheinen lässt« (ebd. 209) repräsentiert. Den Kern der schamanistischen Praktik bildet je-
68 Hufeland, der zunächst zu jener rationalistischen Ärzteschaft gehörte, die den Mesmerismus heftig kritisierte, konvertierte schließlich und wurde einer seiner glühensten Vertreter (Safranski 2010: 296). Seine ›sanften Behandlungsmethoden‹, zu denen auch makrobiotische Diäten zählten, waren unter anderem auch bei Schiller und Goethe beliebt.
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doch, wie Strauss darstellt, nicht die bloße Reproduktion bestimmter Akte während des Dramas, sondern das immer wieder neue, affektive Durchleben dieser Situation in ihrer einzigartigen Originalität. Solche Zustände fasst Strauss mit dem Begriff des »Abreagierens«, womit der Brückenschlag zur Psychoanalyse getätigt ist. Der Schamane gibt, wie der psychoanalytisch Geschulte, zuallererst dem Kranken die Möglichkeit, sein Leiden in eine sprachliche Ausdrucksform zu kleiden, wodurch eine sinnhafte Verortung der Krankheit erreicht wird. Damit werden unbewusste, da verdrängte Hemmungen ins Bewusstsein gebracht. Die Konflikte lösen sich jedoch, wie Strauss betont, nicht einfach deshalb, weil der Kranke nun ein besseres Verständnis davon habe, sondern »weil diese Erkenntnis eine spezifische Erfahrung ermöglicht« (ebd. 218). Die Erfahrung einer freien Entwicklung der Konflikte im vom Schamanen aufgespannten Ordnungsrahmen, führt schließlich zu ihrer Auflösung. Damit ist die Wiederherstellung des kosmischen Gleichgewichts erreicht und der Mensch mit der Natur versöhnt. Verdeutlichen lässt sich der Weg von der Krise zur Versöhnung mit einem Rückgriff auf die religionspsychologischen Überlegungen von William James (2003: 192), der das Innere des Menschen als Kampflatz »für zwei vermeintlich in Todesfeindschaft verbundene [sic!] Seelen« beschreibt: das Idealselbst und das tatsächliche Selbst. Dieser Kampf wird im von Turner (2005) bezeichneten Schwellenzustand (»Liminalität«) ausgefochten. Wie James (2003: 197) am Beispiel der Konversion zeigt, wo das »gespaltene Selbst« in eine höhere Einheit überführt wird, so lassen auch die mesmeristischen Heilungszeremonien den Schluss zu, dass es hier zu einer plötzlichen – da durch eine kathartische Ekstase hervorgerufene – Geburt des »neuen Menschen« kommt. In diesem ist die »Periode des Sturms, der Spannung und der Unstetigkeit« überwunden und es folgt zumindest temporär »ein Zustand der Festigkeit, der Stabilität und des Gleichgewichts.« Mesmers Behandlungserfolg erschließt sich uns daher aus der Reproduktion traumatischer Erschütterungen. In diesem Zustand der äußersten Verwundbarkeit ließ er den heilenden Strom des animalischen Magnetismus auf seine Patienten wirken. Die Wirkkraft des Heilungsrituals begründet sich aus dem Umstand, dass »der Schamane [...] seine Unterhaltung mit dem Patienten nicht mit Worten [führt], sondern durch konkrete Tätigkeiten, wahre Riten, die die Bewusstseinsschwelle ohne Schwierigkeiten überschreiten und ihre Botschaft unmittelbar an das Unbewusste richten« (Strauss 1977: 220). Eine solche gelebte Erfahrung ist mit dem Begriff »Abreagieren« gemeint und das oben skizzierte Geschehen in Mesmers Behandlungsraum führt ihn uns eindrucksvoll vor Augen. Hier ließen sich verdrängte Krisen bzw. unbewusste Hemmungen intensiv erleben und da-
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durch überwinden: »In diesem Sinn ist der Schamane ein professioneller Abreagierer« (ebd. 199). Fragt man genauer nach der Spezifik einer solchen Erfahrung, so lässt sie sich mit Emil Durkheim (1981: 290) als Überwältigung der Person charakterisieren, die bis zum vielfach kritisierten Selbstverlust reichen kann: »Man kann sich leicht vorstellen, dass sich der Mensch bei dieser Erregung nicht mehr kennt. Er fühlt sich beherrscht und hingerissen von einer äußeren Macht, die ihn zwingt, anders als gewöhnlich zu denken und zu handeln. Ganz natürlich hat er das Gefühl, nicht mehr er selbst zu sein. Er glaubt sogar, ein neues Wesen geworden zu sein.«
Zwar schildert Durkheim hier die Ritualhaltungen der australischen Urbevölkerung, um die Frage nach der Entstehung des Totemismus zu beantworten, jedoch zeigen sich eindeutige Parallelen zu den mesmeristischen Behandlungspraktiken. Auch diese stehen unter dem Signum von Erfahrungen des Selbstverlustes in der Ekstase – und wo Massenbehandlungen durchgeführt werden – in kollektiver Ekstase. Bei letzterer reißt uns der »Energiefluss von außen« 69 in eine andere Welt, weshalb Durkheim (ebd. 291) hier von »kollektiver Efferveszenz« spricht. Zusammenfassend boten der somnambule Schlaf, sowie die ekstatische Trance Schutzräume, in denen einerseits neue Rollenidentitäten ausprobiert werden konnten, und die andererseits als Überdruckventil gegen Verletzungen, Kränkungen und andere Krisen fungierten (Barkhoff 2004: 108). Mit dieser Form des »Abreagierens« zeigen sich deutliche Parallelen zwischen dem Schamanen-Komplex und der Psychoanalyse, in deren Kontext der Mesmerismus zu verorten ist. Im Jahre 1784 mesmerisierte der Marquis in großem Stil – vorwiegend ohne ein Honorar zu verlangen, da er zu jener Harmonieloge gehörte, wo Adelige einem philanthropischen Impuls folgend auch viele Arme zu Heilzwecken mesmerisierten. Berichte von seinen Wundertaten gingen zusammen mit denen von Mesmers Heilungen durch das ganze Land. Die Mischung aus modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und vormodernen magischen Ritualen gewürzt mit alchemistischen Elementen erhöhte zwar unter den Anhängern die Plausibili-
69 Aus den gewaltigen Kräften der kollektiven Efferveszenz entstehen demnach Erfahrungen, die dem Menschen aus seinem Alltag reißen und ihn in eine andere Welt führen. Jedoch stehen hinter solchen rituellen Erfahrungen nach Durkheim keine höheren, übernatürlichen Wesen, sondern religiöse Praktiken der Gemeinschaft. Weil diese Aktivitäten in Wirklichkeit also von der Gesellschaft kommen, ist diese die eigentliche Kraft des Religiösen.
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tät und Autorität des therapeutischen Settings – bei den Skeptikern wurde dieser Synkretismus freilich argwöhnisch als fauler Zauber betrachtet, den es zu entlarven gilt. Daneben bedeuteten für Mesmer die Entdeckungen der paranormalen somnambulen Phänomene des Marquis nicht gerade eine Vermehrung an wissenschaftlicher Reputation. Im Gegenteil, wurde doch seine naturwissenschaftlich gemeinte Lehre durch jene unglaubwürdigen Wunderberichte von den aufgeklärten Zeitgenossen schlicht mit dem Bannfluch ›okkult‹ belegt. Gerade die Nähe des Mesmerismus zu Wunderheilungen, magischen Ritualen und divinatorischer Ekstasen bei gleichzeitigem theoriegestützten Anspruch auf wissenschaftliche Wahrheit, machte ihn in den Augen der Aufklärung gefährlich. Es war ja eines der großen Projekte der Aufklärung, die Grenzziehung zwischen dem Schattenreich der Schwärmer, Scharlatane und Phantasten und dem Licht der Vernunft trennscharf zu ziehen. Der Mesmerismus drohte nun diese Grenzen zu unterwandern. Zudem war das entscheidende Kriterium bei der Anerkennung eines neuen Heilverfahrens nicht die Erleichterung, welche sie dem leidenden Individuum verschafft, sondern ob ihre Methode in einem Kausalzusammenhang beweisbar ist. Nicht die Dramen der kathartischen Heilung sind hier relevant, sondern einzig die von Leidenschaften gereinigten Versuche, allgemeine Gesetze abzuleiten, denen zufolge die von La Mettrie so beschriebene ›Körpermaschine‹ entweder funktioniert, oder Störungen aufweist. Mesmer ließ sich jedoch von seinen Ambitionen nicht abbringen, von der berühmten Akademie der Wissenschaften – der Académie Francaise – anerkannt zu werden. Da er jedoch bei einem ersten Gutachten vor den, als voreingenommen erachteten Sitzungsteilnehmern der Akademie erniedrigt wurde, weigerte sich Mesmer bei erneuter Einsetzung einer königlichen Kommission sich untersuchen zu lassen. Er befürchtete nicht zu Unrecht einen vernichtenden Schlag seitens der dieser Kommission angehörenden bekanntesten und – wie er meinte – vorurteilsvollsten Wissenschaftler in ganz Frankreich. Die Untersuchung leitete kein geringerer als Benjamin Franklin. Berühmtheiten wie Frankreichs bedeutendster Chemiker, Antoine-Laurent Lavoisier, der kurz davor den Sauerstoff entdeckt hatte, sowie der Arzt Joseph-Ignace Guillotine, dessen Enthauptungsmaschine als humanitärer Fortschritt gefeiert wurde, waren aufgerufen sich ein Urteil über Mesmers Fluidum-Theorie zu bilden. Da sich Mesmer der Analyse entzog, wurden die Beobachtungen an seinem glühendsten Verehrer Charles d’Eslon angestellt (Florey 1995: 149f.). Die Kommission verbrachte Wochen damit, d’Eslons theoretische Vorlesungen anzuhören und zu beobachten, wie seine Patienten in Konvulsionen und Trance verfielen. Sie unterzogen sich selbst längerem Mesmerisieren, ohne jedoch irgendeine Wirkung des behaupteten Fluidums zu verspüren (»Es hat keiner von ihnen das Geringste empfunden«
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[Barkhoff 1995: 60]). Schließlich wurde beschlossen, die Effekte von d’Eslons Fluidum außerhalb der erregten und aufgeladenen Atmosphäre seiner Klinik zu überprüfen. Man baute eine Reihe von Versuchsanordnungen auf, die klare Schlüsse über die Wirksamkeit magnetischer Ladungen zulassen sollten. Allesamt kamen zu Ergebnissen, die das mesmeristische Theoriegebäude falsifizierten. So reichte bei einer weiblichen Patientin allein die Information, man würde sie durch eine Tür hindurch magnetisieren, aus, dass sie in eine ›Krise‹ fiel. Ein weiterer ›sensitiver‹ Patient wurde in Franklins Garten zu fünf Bäumen geführt, von denen zuvor einer magnetisiert wurde – er fiel am Fuße des falschen in Ohnmacht. Praktisch alle Versuche folgten diesem Muster. Ganz gleich, ob man einer Kranken normales Wasser vorsetzte, worauf sie in heftige Konvulsionen verfiel, während magnetisiertes Wasser ruhig getrunken wurde, oder ob eine Probandin an Körperstellen mit Magnetstrichen behandelt wurde, jedoch angab, die Ladung an ganz anderer Stelle zu verspüren (Darnton 1986: 64). Eine ganze Reihe dieser in rationaler Sprache abgehandelten Experimente bestätigten die Kommission in ihren Vermutungen: Ein alles durchflutendes Fluidum existiere nicht und die außeralltäglichen Zustände der Patienten beruhen auf der Manipulation des Magnetiseurs, der durch psychische Suggestion die Einbildungskraft der von ihm Getäuschten befördere. D’Eslon (Observations sur le magnetism animal; zit. nach Florey 1995: 151) verteidigte den Mesmerismus gegen das Urteil der Kommission mit folgender Stellungnahme: »Wenn Herr Mesmer kein anderes Geheimniß hätte, als jenes, dass Er die Einbildungskraft, in Absicht auf die Gesundheit, auf eine wirksame Art benutzen kann: würde wohl dieß nicht ein großer Schatz für ihn seyn? – denn wenn diese Art von Arzney, die in der Einbildung läge, für die Menschen wahrhaft das beßte Heilmittel wäre, warum sollten Wir also nicht diese Arzney der Einbildung in wirklichen Gebrauch setzen?«
Das Fazit des Berichts diskreditierte jedoch genau jene durch den Mesmerismus entfesselte Einbildungskraft als »fast allzeit schädlich« und warnte vor den »heftigen Wirkungen und Zuckungen«, welche die »nothwendigen traurigen Folgen« (Barkhoff 1995: 62) der Behandlungsmethode seien. Man sprach den ausgelösten Krisen, die sich in ekstatischen Zuckungen entluden und so ihren kathartischen Charakter entfalteten, also jede wohltuende Wirkung ab. Man definierte sie sogar als schädlich, und zwar aus dem gleichen Grund, warum man bemüht war, das Abnorme zu exkludieren. Die Wächter der Aufklärung ergriff die Furcht vor den nicht von der Vernunft kontrollierten Naturanteilen im Menschen, deren Ausdruck eine direkte und ungefilterte Emotionalität bzw. Körperlichkeit ist. Gerade der Mesmerismus als Massenphänomen machte ihnen Kopf-
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zerbrechen, da sie der enthemmten Einbildungskraft eine ansteckende Wirkung zuschrieben, die – wie ihnen das wilde Spektakel am Baquet bewiesen hatte – sich wie ein Strohfeuer ausbreiten und so die gesellschaftliche Ordnung unterwandern könnte. Aus diesem Anlass brachte auch Kant sein Unbehagen gegenüber der Hysterie um dem Mesmerismus zum Ausdruck, die er in dem Beitrag Über Schwärmerei und die Mittel dagegen ([1790]; zit. nach Darnton 1986: 1994) formulierte. Hier tritt er dafür ein, »diesen Unfug« möglichst unbeachtet zu lassen, denn »weitläufige Widerlegungen ist hier wider die Würde der Vernunft und richtet auch nichts aus; verachtendes Stillschweigen ist einer solchen Art von Wahnsinn besser angemessen […]«. Das auf den ersten Blick tolerante Gewährenlassen entpuppt sich dann jedoch bei Kant als »Unfug«, dem man beikommen müsse – hier eben durch Verdrängung und Totschweigen. Daneben erschien nicht nur den Aufklärern die völlige Fremdbestimmtheit der magnetisierten Patienten befremdlich. Hofmann beschreibt in Die SerapionsBrüder ([1819-21]; zit. nach Barkhoff 2004: 104) das bedrohlich wirkende Abhängigkeitsverhältnis im magnetischen Rapport, »diese gänzliche Willenlosigkeit der Somnambulen, dies gänzliche Aufgeben des eigenen Ichs, diese trostlose Abhängigkeit von einem fremden geistigen Prinzip.« Vor allem der Umstand, dass die Damen im Zustand der mesmerschen Krise wehrlos den Magnetiseuren ausgesetzt waren, gab Anlass für diskreditierende Stimmen. Wenn man Mesmer als charismatischen Guru sieht und ihn in den Kontext spiritueller östlicher Führer stellt, erklärt sich die geforderte, oder sich einstellende völlige Selbsthingabe der Heilsuchenden. In den östlichen Traditionen herrscht Einigkeit darüber, welche Rolle dem spirituellen Lehrer zufällt. Trotz der erheblichen Unterschiede in den verschiedenen spirituellen Praktiken, haben Gurus meist den unbedingten Anspruch auf vollkommener Hingabe an ihre Anhänger und auf einen nicht zu hinterfragenden Glauben. Sudhir Kakar (2008: 106) meint, dass es weniger die Form der spirituellen Praxis ist, als vielmehr das therapeutische Potenzial der Lehrer, das jene Menschen anzieht, die sich von emotionalen und körperlichen 70 Leiden befreien wollen. Dieses kann aber nur seine volle Wirkung entfalten, wenn der Patient zur vollkommenen Hingabe des Selbst in der Lage ist. William James (1997: 141) nennt diese Form der Selbstaufgabe, welche in allen religiö-
70 Über die meisten berühmten indischen Gurus kursieren zahllose Schilderungen ihrer Anhänger über vollbrachte Wunderheilungen. Die dazugehörende Philosophie ist oftmals nebensächlich. Selbst im Fall des ›intellektuellen‹, modernen Guru Jiddu Krishnamurti, dessen Anhänger aus der gehobenen Mittelschicht stammen, erregt nicht seine Lehre, sondern Berichte über wundersame Heilungen das größte Interesse (ebd. 107).
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sen Traditionen der Welt zu finden ist »Erneuerung durch Entspannung und durch Gelassenheit«: »Es geht allein darum, das eigene kleine, private, verkrampfte Selbst zur Ruhe kommen zu lassen und festzustellen, dass ein größeres Selbst da ist.« Dieses Loslassen des verkrampften Selbst, welches das erklärte Ziel aller religiösen und spirituellen Praktiken ist, geht Hand in Hand mit der Auflösung der Kontrolle über Gefühle und Triebregungen und einer allmählichen Aufgabe der kritischen Urteilskraft und des rationalen Denkens. In Indien, wo Vernunft und Einbildungskraft stets in einem ausbalancierteren Verhältnis zueinander existierten, erscheint das erlösende Aufgehen im machtvollen, weisen Guru als erstrebtes Ziel, um in Kontakt mit seiner heilenden Aura zu gelangen. Im Westen hingegen sind solche metaphysischen Deutungshorizonte ›obskur‹ geworden, der Einbildungskraft wird nicht über den Weg getraut und die Hingabe an einen charismatischen Heiler als gefährlicher Rückschritt für das desengagierte Subjekt betrachtet. Stand Mesmer im Jahre 1784 wohl am Höhepunkt seiner Kariere, so folgte noch im selben Jahr die empfindliche Niederlage. Mit der Publikation der Kommissionsberichte wurde Mesmers Lehre unter das Obskurantismusverdikt gestellt und er geriet mitsamt seiner Anhängerschaft ins gesellschaftliche Abseits. Zumindest der Umstand, dass viele prominente Personen von adeligem Stand sich seiner Methode verschrieben, verhalf ihm noch zu einer gewissen sozialen Reputation, wenngleich ihm die Anerkennung durch die Fachwelt verwehrt blieb. Zusammen mit seinem befreundeten Rechtsanwalt Nicolas Bergasse gründete Mesmer die Societé d‹Harmonie in Paris. Hier konnte man sich durch einen Mitgliedsbeitrag das Recht erkaufen, vom Meister selbst unterrichtet zu werden. Doch die Gesellschaft war auch eine politische. Für die Politisierung des Mesmerismus war vor allem Bergasse verantwortlich, da er die Menschenkette um das Baquet als egalitäres Symbol verstand, und in der Harmoniegesellschaft eine standesübergreifende Konkurrenz zu den etablierten erstarrten Institutionen sah (vgl. die Turner’schen ideologische Communitas).71 Nach und nach breiteten
71 Zum Mesmerismus als radikale politische Theorie vgl. Darnton 1986: 95-110. Bergasse war von Rousseau inspiriert, da auch er von der Zerrüttung und Dekadenz der gegenwärtigen Welt und einem ursprünglichen Naturzustand (das Glück der ersten Zeitalter) ausgeht. Um die modernen Disharmonien zu beseitigen bräuchte man nur möglichst viele Menschen mit dem heilsamen Fluidum zu durchströmen. Da dieses die sittlichen Beziehungen zwischen den Menschen begünstigt, versprechen solche Behandlungen letztlich auch die sittliche Wiedergeburt der ganzen Nation (ebd. 105).
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sich in vielen Städten Frankreichs Schwesterlogen aus, die bis nach St. Domingo (damals eine französische Kolonie), Bordeaux, Marseilles, Nantes und andere Städte reichten. Die bedeutendste der neuen Harmoniegesellschaften erwuchs in Straßburg, wo unter der Führung des Marquis de Puységur der mesmersche Somnambulismus als Therapieform praktiziert wurde. Die Gesellschaften übernahmen manches Zeremoniell von den florierenden Freimaurerlogen. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit fanden hier Einweihungen in die Geheimlehre des Mesmerismus statt. Die Initiierten mussten absolutes Stillschweigen über die von Mesmer oder seinen Stellvertretern gehaltenen Vorlesungen und Demonstrationen wahren. Sie durften zwar magnetische Behandlungen vornehmen, mussten dies aber unentgeltlich tun (Florey 1995: 153ff.). Mesmer zog sich jedoch nach und nach aus der Öffentlichkeit zurück, und trotz seines berüchtigten Rufes, der einige Jahre ganz Paris mit Gesprächsstoff versorgt hatte, vergaß man ihn schnell. Zuletzt übte er den Magnetismus – da er sich von seinen Ärztekollegen übergangen fühlte – nur mehr im kleinen Kreise aus und starb am 5. März 1815 in Meersburg (Barkhoff 1995: 18). Sein theoretisches Konzept, sein Fluidum und sein harmonisches Prinzip der Wechselwirkungen lebten jedoch weiter. 2.5.3 Die magnetische Bewegung und ihre Ausstrahlung Noch zu Lebzeiten Mesmers unterhielten die verschiedenen HarmonieGesellschaften enge Kontakte zu esoterischen Gruppierungen. Die Swedenborgianische Exegetische und Philanthropische Gesellschaft zu Stockholm arbeitete mit den Straßburger Mesmeristen zusammen, da diese der Ansicht waren, dass Mesmerismus und Swedenborgianismus einander vollkommen ergänzten und mit ihrem gemeinsamen Wirken zur Regeneration der Menschheit beitragen würden. In Lyon wurde die mesmeristische Gesellschaft von Rosenkreuzern, Swedenborgianern, Alchemisten, Kabbalisten und verschiedenen Theosophen geziert (Darnton 1986: 67f.). In verschiedenen Zirkeln war man vor allem der somnambulen Trance zugetan, da sie den direkten Kontakt mit der geistigen Welt garantierte. Einigkeit bestand darin, dass Dichter, Propheten und Somnambule im Grunde dieselbe Sprache sprechen – die der Natur. Zudem gewährten die hypnotischen Zustände aber auch einen Blick in jene Sphären, die von verschiedenen Geistwesen bewohnt sind. Dieser Strang führte direkt zum modernen Spiritismus. Um das Jahr 1789 – fünf Jahre nach dem vernichtenden Urteil der Kommission – hatte sich die spiritualistische Spielart des Mesmerismus auf ganz Europa ausgebreitet. Der Kirchenhistoriker Ernst Benz (Gebet und Heilung im brasilianischen Spiritismus; zit. nach Ruppert 2005: 248f.), meint, dass »die Ent-
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stehung des modernen Spiritismus […] unmittelbar mit dem Mesmerismus zusammen[hängt], jener großen Bewegung der Heilung, die auf Franz Anton Mesmer, den Entdecker des animalischen Magnetismus zurückgeht.« Mesmers Entdeckung eines unsichtbaren Fluidums, welches die gesamte belebte und unbelebte Natur erfüllt und sich zur Heilung jeglicher Krankheiten auf den Patienten übertragen lässt, konnte sich zusammen mit dem Somnambulismus mit allerlei Spekulationen und Theorien zum Übernatürlichen verbinden. Betrachtete er diese Verbindungen zum Spiritismus und Okkultismus auch kritisch, so ließen sich die einmal geschlagenen Wellen nicht mehr aufhalten. In Folge der Diskreditierung seiner Rolle als Wissenschaftler, aus der er ja bis zuletzt nicht fallen wollte, zog sich nicht nur er aus der Öffentlichkeit zurück. Auch seine Theorien gingen in den Untergrund, wo sie sich mit den dort wuchernden esoterischen Weltanschauungen aufs engste verbanden.72 Da die Naturphilosophie im 18. Jahrhundert zum größten Teil spekulativ war, konnte sie sich ohne Anstrengung mit populären esoterischen und spiritistischen Systemen zu einem »interessanten Rührei« – wie Friedrich Schlegel das synkretistische Gemenge bezeichnete – verbinden. Die magnetischen Kräfte wanderten seit ihrer Vertreibung aus den seriösen Heilpraktiken dorthin, wo die Einbildungskraft ihre neue Heimstätte gefunden hatte – ins Feld der Ästhetik und Literatur. Die Romantiker mit ihrem Interesse am Außeralltäglichen und dem Bestreben, Träumen und ekstatischen Wahnzuständen eine höhere Wahrheit abzugewinnen, rezipierten den Mesmerismus in ihren Schriften. Schubert und Schelling sahen im Magnetismus (wie auch in der Kunst) die zentrale Gelenkstelle des Übergangs zwischen Naturreich und transzendenten Realitäten. Für Friedrich Schlegel (Zur Philosophie und Theologie [1983]; zit. nach Barkhoff 1995: 308) kündigt sich der animalische Magnetismus an »wie eine Epoche machende Begebenheit der inneren esoterischen Weltgeschichte«. Als »neues magnetisches und magisches Wissen« symbolisiert er »die ersten Regungen der neuen Zeit, und [den] eigentlichen Wendepunkt der gegenwärtigen Entwicklung«. Ein Besuch bei Karl Christian Wolfahrt, der zentralen Gestalt des Mesmerismus in Berlin, wurde fast ein ›Muss‹ für gelehrte Forscher, Denker, Literaten und hoffnungslos Kranke. So gingen bei ihm nicht nur Wilhelm und Karoline von Humboldt ein und aus, er befreite auch Schleiermacher durch fast tägliches Magnetisieren von seinem nervösen Magenleiden. Insbeson-
72 Die Mesmeristen empfingen auch einige Saint-Simonisten. Während Saint-Símon als Newton der Gesellschaftswissenschaft mit seiner Einbildungskraft fest auf der Erde verwurzelt blieb, entschwebten seine Schüler in die oberen Regionen des Mystizismus (Darnton 1986: 126).
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dere Novalis, dessen Aufzeichnungen zur romantischen Medizin große Aufmerksamkeit auch außerhalb seines literarischen Wirkens gefunden haben, hatte ein Naheverhältnis zum Mesmerismus. Als ein in das magnetische Wissen involvierter machte er nicht nur animalmagnetische Experimente mit seiner Verlobten. Mesmers Theoriekonzept floss ebenso in sein naturphilosophisches Denken ein (Uelings 1991: 166-178). Insbesondere das von den zwei Berliner Ärzten Johann Christian Reil und Carl Alexander Ferdinand Kluge weiterentwickelte Modell des animalischen Magnetismus ist in seinem Einfluss auf die romantische Naturphilosophie und die aufkommende Psychotherapie wohl kaum zu unterschätzen (Barkhoff 1995: 97). Schließlich vertrat Arthur Schopenhauer, der in seiner Jugend stark von den Romantikern geprägt war, Mitte des 19. Jahrhunderts die Meinung, der animalische Magnetismus sei »vom philosophischen Standpunkt aus betrachtet die inhaltsschwerste aller jemals gemachten Entdeckungen; wenn er auch einstweilen mehr Rätsel aufgibt als löst« (Schopenhauer: Versuch über das Geistersehen [1851]; zit. nach Darnton 1986: 211). Die Erfahrungen, die sich bei mesmeristischen Therapien einstellten gleichen vielfach denen der unio mystica. Berichtet werden tiefe Einheitserfahrungen, die durch eine Überwindung der Subjekt-Objekt-Spannung in der Alltagswelt zustande kommen, wie auch die daraus resultierenden starken Glücksgefühle. Zudem traten durch die Behandlungen – besonders bei der somnambulen Trance – die schon erwähnten paranormalen Fähigkeiten auf. Hellsehen, Präkognition, schamanistisches Reisen wurden auch als Phänomene gedeutet, die sich durch Praktiken der Kontemplation einstellen können. Hier wird von verschiedenen Ärzten, die der romantischen Naturphilosophie nahestanden, der Versuch unternommen, spirituelle Praktiken – vornehmlich aus Indien – in den Kontext des mesmeristischen Theoriegebäudes zu stellen. Besonders die in Indien gebräuchliche Methode, sich willentlich der Sinneswelt zu entziehen, wird mit dem Rück73 zug des Somnambulen nach innen gleichgesetzt. Was die reichhaltige spirituelle Kultur Indiens betraf stützte man sich im 17. und 18. Jahrhundert auf Erzählungen der Reiseliteratur-Autoren. Das europäische Publikum zeigte sich fasziniert von der exotischen Vielfalt des Landes und seiner Bewohner, die sich in
73 So z.B. bei dem mit dem Mesmerismus vertrauten Arzt Johann Karl Passavant (17901857), der sich in seinen Untersuchungen über den Lebensmagnetismus und das Hellsehen ausführlich mit Kontemplationstechniken und der Spiritualität Indiens beschäftigt. So stellt er einen Vergleich zwischen der indischen Vorstellung der Seele als reines Licht, das aus der höchsten Seele ausstrahlt und der Theorie des Ätherleibs her, die später für die Theosophen und Rudolf Steiner wichtig werden sollte (Baier 2009: 218).
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absonderlich anmutenden Askeseleistungen übten. Dabei beschränkte man sich meist auf eine möglichst spektakuläre Schilderung dieser als »Fakire« oder »Yogins« bezeichneten religiösen Virtuosen. Eine andere Sichtweise schilderte der Arzt und Philosoph François Bernier, der zehn Jahre in Indien verbringend, differenzierter die verschiedenen yogischen Meditationstechniken und -erfahrungen dokumentierte. Sein Reisebericht Histoire de la dernière révolution des états du Grand Mogol (1709) blieb auch für die späteren Mesmeristen noch eine wichtige Bezugsquelle (Baier 2009: 215f.). Die berichteten außeralltäglichen Fähigkeiten galten den Mesmeristen als Beispiele des »willentlichen Selbstmagnetisierens«. Dazu gehörten auch »alle Erscheinungen der Ekstase in den Legenden der Heiligen, die durch tiefe und reine Andacht, als unbedingte, gläubige Hingebung an das höchste Wesen durch inbrünstige Gebete etc. erzeugt, so wie häufig durch Abziehung von allem Irdischen und durch Fasten und andere das somatische Leben depotenzierende und hierdurch das Psychische erhöhende Mittel« (Kieser: System des Tellurismus oder Thierischen Magnetismus [1822]; zit. nach ebd. 219). So wird selbst Yoga als asketische Versenkungsübung mesmeristisch gedeutet. Ausgangspunkt ist die Erfahrung von Leid, das durch die Verstricktheit in der Welt entsteht und, nach den berühmten Yoga-Sutras des Pantanjali, für die peinvollen Irrfahrten durch den Kreislauf von Tod und Wiedergeburt verantwortlich ist (Dumoulin 1966: 62). Die Heilung davon ist durch die Praxis der inneren Sammlung zu erreichen. Hier knüpfen nun die Mesmeristen an und stellen fundamentalen Ähnlichkeiten zwischen Yoga und dem mesmeristischen Somnambulismus fest. Am Anfang steht stets eine intensive seelische Krise, die zur psycho-somatischen Krankheit oder zur Sehnsucht nach Befreiung aus dem Alltäglichen führt. Daraus folgt der durch mesmeristische oder meditative Praktiken unterstützte Rückzug in das »innere Reich der Freiheit«. Dieses Abgeschlossensein von der Außenwelt erzeugt beim Somnambulen, wie beim Meditierenden letztlich die Ekstase, in der das kosmische Fluidum bzw. Prana den menschlichen Körper durchströmt.74 Die Auseinandersetzung der Mesmeristen mit indischen Meditationsformen wurde später besonders für die Theosophie wichtig. Deren weltanschauliche Grundlagen werden uns zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch begegnen, wo sie wichtige Impulse für die Lebensreformbewegung lieferten. Zunächst fanden mesmeristische Ideen jedoch ihre Zufluchtsstätte im Okkultismus und Spiritismus des 19. Jahrhunderts.
74 Die hier nur kurz angerissenen Bemerkungen zur Rezeption indischer spiritueller Praktiken im Mesmerismus gehen besonders auf den Arzt, Philosophen und Freund Schlegels Karl Joseph Hieronymus Windischmann (1775-1839) zurück. Einen detaillierteren Überblick findet man bei Baier 2009: 231-246.
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Hier war wohl der deutsche Arzt, Dichter und Okkultist Justinus Kerner der bekannteste unter den Magnetiseuren. Er wandte einerseits den Heilmagnetismus in seiner Arztpraxis an, andererseits war er bemüht, beobachtete somnambule Zustände akribisch zu dokumentieren. Aus den daraus gewonnen Einsichten versuchte er mit vielen Beispielen die Existenz einer Geisterwelt zu belegen, welche in die irdische Welt hineinwirkt (Pytlik 2005: 30f.). Die Kontaktaufnahme mit Geistern während des magnetischen Schlafs erklärte er sich dadurch, dass die Seele unerlöster Toter noch nicht vollständig vergeistigt sei und so auf magnetisch Sensibilisierte wirke. Im spiritistischen Kontext haben Geister in der Regel noch etwas Wichtiges zu erledigen, was ihr endgültiges Ausscheiden aus der Welt verhindert. In somnambule Trance versetzte Medien vermögen die Wünsche der Wesen zu erfahren, damit diese das Reich der Lebenden endgültig verlassen können. Durch die Heilung zweier psychotischer Patientinnen durch Mesmerisieren erwarb er sich den Ruf als »Magier von Weinsberg«; seinen endgültigen Ruhm erwarb er sich jedoch mit der Krankengeschichte von Friederike Haufe Die Seherin von Prevors (1829). Die Aufzeichnungen dokumentieren den somnambulen Zustand der Patientin, in dem sie die üblichen paranormalen Phä75 nomene – Hellsehen, Telepathie, Geistervisionen – zeigte. Gerade Kerners Conclusio, die beobachteten Phänomene seien als Beleg einer Geisterwelt zu betrachten, machten das Buch zu einem wahren Bestseller in Spiritistenkreisen.76 Dazu trugen auch die durch Aufforderung Kerners (zit. Daiber 2008: 120) an Friederike bei, ihre Visionen minutiös darzustellen: »Während ich die Geister sehe und sie mit mir sprechen, [...] sind meine Augen wie an ihr Bild bebannt, sodass es mir schwerfällt, mich von ihnen mit den Augen zu wenden [...] Ihr Aussehen ist mir gleich einer dünnen Wolke, die man zu durchschauen glaubt, was wenigstens aber ich nicht kann. Ich sah nie, dass sie einen Schatten werfen. [...] Mit geschlossenen Augen sehe ich sie nicht [...], aber ich fühle ihre Gegenwart so genau, dass ich den Standpunkt, wo sie stehen [...] angeben kann. So höre ich sie auch bei verstopften Ohren sprechen. Stehen sie sehr nahe bei mir, so kann ich sie nicht ertragen, sie schwächen mich. Manche Menschen, die sie nicht sehen, fühlen sie, wenn sie in meiner Nähe sind, durch ein besonderes Gefühl auf der Herzgrube, Beengung, Anwandlung von Ohnmacht. [...] Ih-
75 Zur Krankengeschichte vgl. Daibler 2008: 111-126. Hier wird die Patientin analog zu Victor Turners Ritualtheorie als »liminales Wesen« bezeichnet. 76 Schleiermacher, Gotthilf Heinrich Schubert, Schelling und andere gaben sich in Kerners Haus in Weinsberg die Ehre und vermehrten seinen Ruhm. ›Die Seherin‹ wurde noch zeit seines Lebens vier mal aufgelegt und auch ins Englische übersetzt, wodurch sich die Rezeption schnell verbreitete.
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re Gestalt ist immer so, wie sie wohl im Leben war, nur farblos, grau; so ist auch ihre Kleidung, wie sie im Leben war oder gewesen sein mochte, aber farblos, wie aus einer Wolke.«77
Kerner wurde 1856 Mesmers erster Biograph. Er stellte das gerade in Mode gekommene spiritistische Tischerücken in einen magnetisch-somnambulen Kontext und wandte Mesmers Lehre von der Allflut auf okkulte Phänomene an. Damit wurde Kerner nicht nur zu einem frühen Vertreter parapsychologischer Theoriebildung, in seinem Denken kristallisierte sich gleichzeitig der Übergang vom Mesmerismus in den Spiritismus. Vor allem in Pariser Kreisen wurden Kerners Theorien begeistert aufgenommen. Hier sprachen somnambule Medien bei den regelmäßig abgehaltenen Séancen mit Geistern berühmter Ärzte, wie auch mit Mesmer selbst, der seine medizinischen Diagnosen aus dem Jenseits diktierte. Im gleichen Jahr, in dem Kerner seine Biographie Erinnerungen an Franz Anton Mesmer (1856) herausgab, wurde ein gewisser Hippolyte Léon Denizard Rivail in den Kreis der Pariser Mesmeranhänger eingeführt. Mit seinem Buch der Geister (1857), das Botschaften aus der Anderswelt enthält, sorgte er für Aufmerksamkeit in der spiritistischen Szene. Die Conclusio aus dieser Schrift ist: »Der Spiritismus lehr nur Vernünftiges, dient dem moralischen Fortschritt und wird die Menschheit vereinigen« (zit. nach Ruppert 2005: 249). Der Geist, dessen Mitteilungen er hier zusammenfasste, gab sich ihm als ein Druide mit dem Namen Allan Kardec zu erkennen. Rivail veröffentlichte auch zahlreiche andere seiner folgenreichen Schriften unter diesem Pseudonym, das ihn weit über die Grenzen Europas hinweg bekannt machen sollte. Vor allem auf die spiritistische Szene Lateinamerikas hatten Kardecs Schriften einen dominierenden Einfluss. Hier tritt der Kardecismo nicht nur als religiöse Bewegung auf, die den spiritistischen Geisterglauben mit Versatzstücken des fortschrittsoptimistischen Positivismus eines Auguste Comte vermengt, sondern auch als Vater der Umbanda.78
77 In weiterer Folge ist Kerner nur mehr an den entrückten Zuständen interessiert und fällt somit aus seiner Rolle als Arzt und Heiler. Er drängt seine Patientin immer mehr in die Welt der Erscheinungen, die sie selbst als beängstigend empfindet und eigentlich verlassen möchte. Friederike stirbt am 5. Mai 1829 an fortgeschrittener Zerstörung der inneren Organe (ebd. 123). 78 Diese Religion entwickelte sich aus farbigen Mitgliedern kardecistischer Gemeinschaften, die sich aus Ärger darüber, dass indianische und afrikanische Geister von weißen Medien nicht akzeptiert wurden, vom Kardecismus abspalteten und ihre eige-
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In Europa fließt Mesmers kosmologisch inspiriertes Vernetzungsmodell von Mensch, Umwelt und Transzendenz in die Bereiche der Esoterik und der neuen Formen der Spiritualität ein. Hier sind es die inneren und äußeren Entfremdungen einer radikal entzauberten und technisierten postindustriellen Gesellschaft, die mit Defiziten einhergeht, deren Linderung oder Auflösung ersehnt wird. Hatte Mesmer ein heilendes, verbindendes, harmonisierendes universales Fluidum im Sinn, das den Menschen wieder mit der Natur zu versöhnen vermag, so kann man im Diskurs der neuen ganzheitlichen Theorien und Therapieformen getrost statt Fluidum das Wort Energie setzen. Wenn wir zurück in Mesmers perfekt inszenierten Krankensaal schauen, so assoziiert man aus heutiger Sicht bei diesen Behandlungen wohl eher gruppentherapeutische Settings einer boomenden therapeutischen Selbsterfahrungsszene, wo mit verschiedenen Mitteln energiehemmende Blockaden aufgelöst werden. Auch hier wird eine spirituell aufgeladene Verheißung in Aussicht gestellt, wonach sich ein harmonischer Bezug zu Erde und Kosmos wiederherstellen lässt. Gerade Körpertherapien wie die von Alexander Lowen, einem Schüler von Wilhelm Reich, entwickelte Bioenergetik stehen dem mesmeristischen Konzept sehr nahe. Diese wohl einflussreichste unter den Körpertherapien geht davon aus, dass der Fluss der Bioenergie durch Traumata aus der frühen Kindheit blockiert wurde. Diese blockierte Energie (blockiertes Fluidum) versucht man mit diversen Übungen wieder zum Fließen zu bringen. Um die notwendige ›Krise‹ zu erreichen und eine kathartische Heilung zu gewährleisten bedient man sich des ›Groundings‹. Hierbei handelt es sich um eine anstrengende stehende Haltung, die körperlichen Stress auslösen soll, wodurch man das Hervorbrechen unterdrückter Emotionen provoziert (Utsch 2005: 1919f.). Im Gefolge von Wilhelm Reich und seiner Orgon-Theorie, die selbst Mesmers Theoriegebäude im Hinblick auf eine differenzierte naturwissenschaftliche Klärung übertraf, entstanden eine Reihe von Körpertherapien, wie ›CoreEnergetik‹, ›Biosynthese‹ oder ›Biodynamische Psychologie‹. Diese von den so genannten Neo-Reichianern entwickelten Verfahren verbinden vielfach Reichs spekulatives, naturwissenschaftliches Theoriekonzept mit esoterischen Elementen. Ähnlich wie die Anhängerschaft von Mesmer bringt auch Reichs Gefolgschaft sein Konzept in Nahverhältnisse zum Okkultismus, wie die Verbindung zwischen Orgontherapie und Channeling zeigt (ebd. 125). Während weder Reich noch seine Schüler sich auf das mesmeristische Theoriekonzept beriefen (trotz auffallender Parallelen), schließt der englische Naturheilarzt Rudolf Stone direkt daran an. Er entwickelte eine energetische Technik
ne Gemeinschaft gründeten (Höllinger/Valle-Höllinger 2007: 97-103; Reuter 2003: 91-96).
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namens ›Polarity-Massage‹, die auf Grundlagen des thierischen Magnetismus aufbaut. Zwischen den zwei Polen, Kopf und Füßen, fließt Energie, welche die Körperzellen mit Lebenskraft versorgt. Negative Einstellungen und falsche Ernährung führen zu Krankheit – also zu Blockaden im Energiefluss. Diese vermag der Masseur nun wieder zum Fließen zu bringen, indem er seine Hände auflädt und in die Nähe des Körpers bringt – mit dem Ziel, den energetischen Kreislauf wieder zu schließen (ebd. 125f.). Die besprochenen ganzheitlichen Techniken sind symptomatisch für die Wiederkehr des Mesmerismus im Bereich der Esoterik. Hier vermischen sich alternative Psychotherapien, körperorientierte Selbstfindungstechniken, magische Praktiken, komplementärmedizinische Angebote und neue Spiritualität zu buntesten Formen. Jede Buchhandlung weist heute gut bestückte Regale auf, an denen sich die Vielfältigkeit dieser Angebote ablesen lässt, die in ihren Wirkungsweisen und ihrer Methodik Ähnlichkeiten mit dem thierischen Magnetismus aufweisen. Ob es sich nun um Holotropes Atmen, Aura-Massage, Akupressur, Reiki, Shiatsu oder andere aus dem Osten stammende Körpertechniken handelt, oder um die verschiedenen Arten von Energiearbeit am feinstofflichen Leib – all diese Techniken basieren auf einem monistisch-energetischen Weltbild mesmeristischer Provenienz: Hier steht die Vermittlung des holistischen Pathos – also leibseelischer Ganzheits- und Verbundenheitserfahrungen im Zentrum, wodurch sich eine harmonische Beziehung zur Natur einstellt. Mesmers heilsame Rückführung des isolierten und seelisch beschnittenen Individuums in eine größere Realität kosmischer Harmonien ist ebenso das Ziel der meisten esoterischholistischen Zugänge zum Menschen. Mit seinen subkulturellen Traditionslinien, die über den Spiritismus bis zum modernen Geistheilen führten, sind die Ideen des animalischen Magnetismus stets präsent geblieben und gehen in der Gegenwart reichhaltige Allianzen ein. Mesmers Konzept von Krankheit, verursacht durch ein blockiertes oder stagnierendes Fluidum im feinstofflichen Körper, findet sich ebenfalls in vielen Grundüberzeugungen der New-Age Szene wieder. Hier ist es nicht mehr das Fluidum, das zum Fließen gebracht werden muss, sondern Energie, Ki, Prana oder – in der Tradition von Wilhelm Reich – »Orgon«. Mit einem Blick auf das postmoderne New-Age Phänomen wird deutlich, dass die Motive für den regen Zulauf zu diesen Praktiken zu Mesmers Zeiten wie auch heute im Wesentlichen die gleichen geblieben sind. Natürlich faszinierten im 18. Jahrhundert Ballonfahrer, Magnetiseure und Scharlatane unterschiedslos und in heute kaum mehr vorstellbarem Ausmaß, zumal ja Schwerkraft und Elektrizität als ebenso geheimnisvolle Mächte galten wie der thierische Magnetismus. Aber auch die Moderne hat – wie Elias deutlich machte – ihr Phantasiewissen, das angesichts immer komplexer werdender Vorgänge in die Hohlräume des
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Wirklichkeitskongruenten stößt. Ferner sind es vor allem die Sehnsüchte nach Überbrückungen der vielschichtigen Formen der Entfremdung: der Distanz zu anderen Menschen, den Produkten des täglichen Konsums und der Kluft zwischen unserer äußeren als auch inneren Natur. Nicht nur für uns moderne Zeitgenossen stellt sich manchmal das Gefühl ein, dass etwas Wichtiges übergangen wurde, man in einer eigenartigen Beziehungslosigkeit zu der Umwelt steht. Besonders zeigen sich die Mängel einer eindimensionalen Sichtweise im Bereich der Medizin, wo sich die Descartes’sche Trennung von Körper und Geist als besonders wirkmächtig darstellt. War in vormodernen Zeiten die Grenze zwischen Psychischem und Physischem noch durchlässiger, so besteht seit dem 18. Jahrhundert in der Schulmedizin der Hang, das individuelle Seelenleben völlig auszublenden. Gerade die verschiedenen Praxisformen der Esoterik basieren nun auf intuitiven Erfahrungen mit körperlichen und seelischen Vorgängen, die vor allem selbst gespürt werden können. Deshalb liefern sie auch Gewissheit von einer größeren Realität und einem harmonischen Wechselspiel von Körper und Geist, wie sie die Organ- und Apparatemedizin niemals zustande gebracht hat. Der Mesmerismus, gerade auch in seiner somnambulen Spielart, geleitet, wie dies Sloterdijks Held in Der Zauberbaum (2005) erfahren muss, in die Ur- und Abgründe des eigenen Ich. Mit seiner präfreudianischen Entdeckung des Unterbewussten wird er zum Mittel gegen die zivilisatorischen Selbstzwänge des aufgeklärten Bürgertums und die Dominanz eines einseitigen Vernunftdenkens. Der Mesmerismus bot mit seinen mystisch-rituellen Inszenierungen auch eine Alternative zur entzauberten Welt. Im Roman erhält der Held vom Marquis de Puységur auch eine Begründung dafür, warum traditionell religiöse Deutungsmuster ihre Anziehungskraft verloren haben: »Wer wirklich leidenschaftlich um den Glauben bemüht war, der konnte auch darin die Verschmelzung des aufgesplitterten Willens mit dem tieferen Grund des Lebens wiederfinden. Aber für den modernen Menschen ist dieser Weg fast unmöglich geworden, weil unsere Köpfe von der paradoxen Symbolik der Religionen unweigerlich Abstand nehmen. Außerdem ist das moderne Ich noch so tief in seine Selbstbehauptungskämpfe verstrickt, dass es unmöglich Verständnis aufbringen kann für die Paradoxien einer radikalen Unterweisung.« (Ebd. 248)
Mesmerismus und die diversen Spielarten des New-Age gleichen sich gerade insofern, als sie zwar alte oder weit entfernte exotische Symbolwelten integrieren, jedoch zu unmittelbaren religiösen Traditionslinien kühle Distanz wahren. Wouter Hanegraaff kennzeichnet deshalb das breite Kontinuum des New-Age als »secularised esotericism«:
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»Esoteric and spiritual methods which are used for holistic (cognitive, sensual and emotional) experiences and for exploring one’s personality, without their traditional religious or spirituel connotations.« (Höllinger/Smith 2002: 246)
In gleicher Weise kann man auch den Mesmerismus verstehen. New-Age und Mesmerismus sind deshalb auch Auffangbecken für jene, die den traditionellen kirchlichen Strukturen ablehnend gegenüber stehen. Ähnlich wie im New-Age spekulative wissenschaftliche Theorien und spirituelle Elemente aufeinander treffen gilt dies auch, wie wir gesehen haben, für den Mesmerismus. Deshalb können sich von den Theorien um eine unsichtbare Energie oder eines alles verbindenden Fluidums auch die »gebildeten Verächter« der Religion angezogen fühlen, welche sich dann von ihrem Ursprung weg, in ungeahnte Richtungen weiterverbreiten: »Scientists, physicians, psychologists, philosophers, or occultists could all adapt such a proposition to their own purposes, and draw from it implications undreamt-of by is originator. In all cases, the theories suggested […] a unification of opposites: religion and science, mind and matter; and to many people such a unification held the promise of a new society, in which humanity would have progressed from fragmentation to wholeness.« (Hanegraaff 1998: 435)
Die gebildeten Verächter sollten nun auch von jener ›neuen Religion‹ angesprochen werden, die von den Romantikern an die Stelle einer gähnenden metaphysischen Leere gesetzt wurde. Aus den bisherigen Schilderungen ist verständlich geworden, dass die Aufklärung es nur höchst ungenügend zustande brachte, die Tiefe des Lebens und seine Nachtseiten dadurch zu erfassen, indem sie sie mit dem schalen Licht der instrumentellen Vernunft ausleuchtete. Die Romantiker erkannten diese missliche Lage eines nicht nur »unfantastischen Zeitalters« (F. Schlegel), sondern auch einer »religionslosen Zeit« (F. Schleiermacher) und entwarfen alternative Konzepte zu den althergebrachten traditionellen Formen, die nun zu verblassen drohten.
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2.6 E NTZAUBERUNG
UND
V ERZAUBERUNG
2.6.1 Die Religion der Aufklärung Als oben versucht wurde die philosophischen Grundlagen der Aufklärung rudimentär zu umreißen, stießen wir dabei auf Descartes’ Verständnis der Materie als bloßen Mechanismus dem alles Geistige abgeht. Descartes – so haben wir festgestellt – schuf so ein theoretisches Fundament für den Prozess der Entzauberung. Das aus seiner Philosophie hervortretende desengagierte Subjekt gründet sich auf eine Innerlichkeit, die nach Unabhängigkeit strebt. Nach Augustinus handelt im Inneren des Subjekts noch Gott, doch seit Descartes bleibt nur mehr das Ich übrig, dessen systematisierende Vernunft eine Begegnung mit transzendenten Sphären verunmöglicht (Taylor 1996: 266ff.). Resümierend bedeutet die desengagierte Lösung von einer kosmischen Ordnung also, dass sich das Individuum nicht mehr als Bestandteil dieser begreifen lässt und folglich sich selbst überlassen bleibt. Das mechanistische Weltbild mit dem desengagierten Subjekt im Gefolge wirken also derart zusammen, dass sie eine Kluft zwischen Bewusstsein und Welt erzeugen. Sich selbst überlassen bleibt auch die Welt. Diese Vorstellung nährt sich aus dem Deismus. Wie Taylor (2009: 379-459) überzeugend in seiner letzten großen Studie zum Verhältnis von Religion und Glauben in der westlichen Moderne dargestellt hat, ist der Deismus der erste Schritt auf dem Weg über die atheistische Aufklärung zur säkularen Kultur der Moderne. Er schöpft die Gotteserkenntnis aus der Vernunft und schließt jeglichen Offenbarungsglauben – also die Enthüllung eines göttlichen Willens – aus. Beinhaltet der Theismus die Vorstellung von einem göttlichen Wesen in Analogie zur menschlichen Natur, so verzichtet der Deismus auf solch eine Anschauung. Taylor (ebd. 546) meint: »Er verspricht – oder droht – uns den Schlüssel zu geben, der die ganze neuzeitliche Entwicklung erschließen soll, die wir mit dem Wort ›Säkularisierung‹ andeutungsweise umreißen.« Der von John Locke angeregte Deismus bewirkt, dass jegliches Mysterium in der Religion bedeutungslos wird. Die Vorsehung Gottes ist in immer höherem Maße erkennbar, da sie auf vernünftigen Grundlagen beruht. Deshalb tendiert diese Position auch zur rationalen Durchsichtigkeit. Nach diesem Bild ist die Welt lediglich als eine Ordnung des wechselseitigen Vorteils zu begreifen. Der in diese Ordnung gestellte Mensch ist auf dem besten Weg Gottes Plan (und damit Sinn und Zweck des Daseins) zu verwirklichen, wenn er sein eigenes Wohl realisiert, da sich dadurch das gemeinschaftliche Glück aller vernunftbegabten Geschöpfe einstellt (Taylor 2009: 380f.). Die vom Empirischen ausgehende Vernunft ist nach Locke also die ausreichende religiöse Er-
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kenntnisquelle. Durch vernünftiges Denken gelangen wir auf die Ebene eines Mitarbeiters am Vorhaben Gottes. Dies setzt auch eine gewisse Unabhängigkeit und Freiheit von Autoritäten voraus. Im Deismus finden wir deswegen die zentrale Vorstellung, dass sich Gott zu den Menschen als Vernunftwesen verhält und auch ihre autonome Vernunft respektiert. Locke wirkte vor allem durch seine empirisch-exegetische Methode geradezu epochemachend auf die deutsche rationale Schriftauslegung des 18. Jahrhunderts, welche die übernatürlichen oder geheimnisvollen Bibelinhalte einer kritischen Analyse unterzogen (Gestrich 1981: 399) Er gilt als Ahnvater des Deismus, dessen Gestalt jedoch erst im frühen 18. Jahrhundert klar umrissen zu Tage treten wird. Zentrale Motive des Deismus werden dann die Hervorhebung des menschlichen Subjekts als autonom denkendes Wesen und der Ausschluss der Gnade – also des Gedankens, dass die bereits zur Gänze verdorbene Menschheit dringend der göttlichen Vergebung bedürfe (Taylor 1996: 443). Die Gnade verliert hier deshalb ihre Bedeutung, da man sich mit Hilfe rationaler Erkenntnis dem von Gott gemeinten Guten immer vollständiger annähern kann. Durch die allgemeine Zugänglichkeit der ›Wahrheiten‹ durch die Vernunft geraten sie somit immer stärker in den Bereich der menschlichen Kräfte. Dies stellte nicht nur einen Bruch mit der gängigen christlichen Tradition dar, welche den Menschen als geschaffen betrachtet, um Gott zu dienen und es angesichts unserer Sündigkeit seines Beistandes bedarf (eine umgekehrte Sichtweise wäre als anmaßend disqualifiziert worden), sondern bedeutet auch eine enorme Aufwertung der Autonomie des Menschen. Der Mensch wird Selbstverantwortlich und bekommt ein Gefühl für die enorme Reichweite seines Handlungsvermögens. Mit der Idee, dass Gott zwar die Dinge zum Wohle der Menschen plante, danach jedoch nicht mehr in seine Schöpfung eingreift, spielen auch Wunder – wie sie für die Volksfrömmigkeit zentral sind – keine Rolle mehr für den Gläubigen: „Der Sinn für das Geheimnisvolle wird schwächer“ (Taylor 2009: 383). Die Denker dieser Richtung greifen die Überzeugungen der Reformation vom Niedergang des »Zeitalters der Wunder« auf und durchleuchten, wie Locke, die Bibel mit skeptisch-rationalem Blick (Taylor 1996: 483f.). Bedurfte es in der traditionellen Theologie noch der Wunder um den Menschen aus einer sündigen Welt zu erretten, so wird nun die Welt als vollkommener Entwurf vorgestellt. Die Menschen müssen nicht mehr aus dem teuflischen Chaos erlöst werden, sondern sollen sich einfach dem guten Plan der Dinge richtig anpassen. Wie man Einsicht in diesen Plan bekommt schildert Max Weber (1988b: 597):
180 | D IE K ONTINUITÄT ROMANTISCHER I DEEN »Gott ist verborgen, seine Wege sind nicht unsere Wege, seine Gedanken nicht unsere Gedanken. In den exakten Naturwissenschaften aber, wo man seine Werke physisch greifen konnte, da hoffte man, seinen Absichten mit der Welt auf die Spur zu kommen.«
Doch auch der Deismus muss sich an dieser Stelle mit einem grundlegenden Bedürfnis der Menschen auseinander setzen. Erfahrungen der Irrationalität der Welt, wie sie im als ungerecht empfundenen Leiden zu Tage treten, müssen einer sinnhaften Deutung zugeführt werden. Mit Max Weber kann man feststellen, »dass die hochkulturell verzweigten Pfade religiöser Rationalisierung von den Anfängen im Mythos bis zur Schwelle des modernen Weltverständnisses [...] von demselben Problem, nämlich dem der Theodizee ausgehen« (Habermas 1987: 275). Im Deismus werden die verschiedenen Übel, die den Menschen zu schaffen machen, als notwendige unintendierte Nebenfolgen der regelmäßigen Erzeugung des Guten erklärt. So existiert Krankheit, damit wir wissen, dass der Körper eine, durch widrige Umstände erlittene Funktionsstörung aufweist. Die damit einhergehenden Schmerzen sind notwendig um den Menschen anzuregen, sich aus seiner misslichen Lage selbst zu befreien. Würden alle Hindernisse durch Gott aus dem Weg geräumt und somit die Vorstellungen eines paradiesischen Zustandes auf Erden verwirklicht, hätten die Menschen überhaupt keinen Antrieb mehr, besonnen und tugendhaft zu handeln.79 Nun ist also erkennbar, worin die grundlegende Anziehungskraft des Deismus liegt. Wir haben es hier mit einer vollkommen vernunftbestimmten Religion zu tun, die dem Ideal der selbstverantwortlichen Vernunft die größte Bedeutung beimisst und traditionell begründete Autoritäten ablehnt. Die Welt ist eine Ordnung, in der jedes Teil einen bestimmten Zweck erfüllt, und diese von jedem Einzelnen vollführten kausalen Funktionen sind derart miteinander verzahnt, dass sie zum harmonischen Ganzen beitragen. Jedes Wesen dient somit, indem es sich selbst nützt, der Gesamtordnung. Stützte sich das alte Weltbild noch darauf, dass jedes Einzelne seinen Platz im Ganzen innehatte, so sind nun die Dinge durch die Verbindung ihrer gegenseitigen Nutzenleistung zueinander bestimmt. Besonderen Auftrieb erhielt diese Anschauung der instrumentellen Vernunft durch den wachsenden Erfolg der mechanistischen Wissenschaft. Die Welt als Maschine zu begreifen heißt auch, dass die Dinge wie Rädchen in einem Urwerk harmonisch ineinander wirken und so aufeinander abgestimmt, eine Funktion füreinander erbringen. Diese Ordnung entspricht Gottes Plan und wird durch seine Güte gewährleistet.
79 So der deistische Lösungsversuch der Theodizee, wie ihn der Moraltheologe Francis Hutcheson beschreibt (Taylor 1996: 484ff).
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Die neue Vorstellung vom naturgemäßen Leben wird verständlich, wenn man die, auf eine hierarchische Vernunft bauende Ordnungsvorstellung der Antike betrachtet. Hier haben gewisse Tätigkeiten eine höhere und gewichtigere Wertigkeit als andere. So kommt, nach Aristoteles, unser Leben dem Göttlichen am Nächsten, wenn man über das staatsbürgerliche Leben nachdenkt, wo wir uns mit anderen beraten und entfalten können. Jenes Gut steht weit über dem Leben der bloßen Produktion und Konsumtion (Taylor 2002b: 249). Diese Ordnung steht in scharfem Kontrast mit der in der Neuzeit aufkommenden Ethik des ›gewöhnlichen Lebens‹. Hier werden Arbeit im Beruf und das Leben in der Familie zu bestimmenden Gütern, die wir aufgrund von Gottes Plan erfüllen müssen. Sie werden deshalb zu bedeutenden Tätigkeiten, weil sie bestimmen, wie man nach Gottes Willen zu leben hat und was er bei unserer Schöpfung eigentlich mit uns vorhatte. Taylor folgert, dass mit einem naturgemäßen Leben nun nicht mehr gemeint ist, dass man sein Leben gemäß einer Hierarchie der Ziele führt, die den vernunftbegabten Wesen zugewiesen werden. Es gilt nun den Plan der Dinge zu erfüllen, der vorsieht, dass jeder Einzelne durch Zwecke in Eintracht mit anderen verbunden ist (Taylor 1996: 493ff.)80 Die aus diesem Plan abzuleitende Moralvorstellung beruht auf der Idee, dass das Wohl jedes Einzelnen dem wechselseitigen Nutzen dient (Taylor 2009: 387). Deshalb soll es auch in unserem Eigeninteresse liegen zum Wohle aller zu handeln. Die instrumentelle Vernunft leitet den Menschen nicht nur dabei an, sich in dem Rahmen der ineinander greifenden Ordnung an gebührende Stelle zu platzieren, um den größtmöglichen Nutzen zu erzielen – vor allem der Plan selbst ist ihre großartigste Schöpfung. Freilich wird er aber noch immer auf Gott zurückgeführt, der ihn nicht nur kreierte, sondern auch uns mit der nötigen Vernunft ausgestattet hat, um ihn zu erkennen. Hier wird noch der Bezug auf ein transzendentes Wesen deutlich. Im Unterschied zu Descartes’ Erben, die den Weg der selbstverantwortlichen Vernunft bis zum Ende gingen, anerkannte dieser, wie auch seine Zeitgenossen, noch die Religion und die aus ihr stammenden moralischen Forderungen. Auch im 17. und frühen
80 Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: In der Neuzeit nimmt der Vorsehungsplan der Natur die zentrale Stellung ein, während man in der Antike auf eine hierarchische Vernunftordnung stößt. Locke kann hier als der Protagonist der Ethik des ›gewöhnlichen Lebens‹ betrachtet werden, welche über spätere naturalistische und bürgerliche Formulierungen maßgeblich den Aufstieg des Kapitalismus gefördert hat. Er greift hier die zentralen Punkte der protestantischen Forderungen des fleißigen, vernünftigen Verhaltens, der Notwendigkeit Müßiggang zu vermeiden, auf, um zum einen die Absichten Gottes zu erfüllen und gleichzeitig zum Nutzen der Menschheit zu handeln (ebd. 421ff.).
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18. Jahrhundert war tatsächliche Ungläubigkeit etwas äußerst Seltenes, denn ohne Gott erschien es kaum möglich, die spirituellen Dimensionen des menschlichen Daseins zu erklären. Im »ausgrenzenden Humanismus« wurde nun das Ungedachte denkbar: Gott erschien als ordnende Kraft entbehrlich (Taylor 2009: 402). Ein weiter Vertreter des Deismus, der diesen jedoch mit einer etwas anderen philosophischen Grundlage versah, war Shaftesbury. Für ihn spielte Gott nicht nur die Rolle als Gestalter der Ordnung. Er ist es, der das Ganze nicht nur entwirft, sondern auch beseelt und bewegt. Shaftesbury ist insofern ein ›Rationalist‹, weil er die oben skizzierten Prinzipien des Deismus anerkennt – wie jenes, dass keine Form von religiöser Autorität Bedeutung hat, die der autonomen Vernunft nicht überzeugend dargestellt werden kann (Taylor 1996: 450). In diesem Punkt partizipiert er noch am Projekt der Aufklärung. Er steht jedoch deshalb für einen Wechsel im Deismus, weil eine ausschließlich vernunftbestimmte Zugangsweise durch eine, die dem Gefühl ihren Platz einräumt, ergänzt wird. Er vertritt die Anschauung, dass das Verfahren, mit dem Plan in Verbindung zu treten, nicht nur auf vernunftmäßiger Einsicht beruht, sonder ebenso durch die in uns selbst liegenden natürlichen Empfindungen des Mitgefühls und des Wohlwollens gelingt. Dies führt zu einer neuen Stellung der Natur als Quelle des richtigen Empfindens. Die Natur wird zur inneren Stimme, der man sich empfindsam nähert (ebd. 503f.). Dies wurde dann, wie oben geschildert, von Rousseau und den Romantikern aufgegriffen und weiterformuliert. Shaftesbury inspirierte die Romantiker also, weil er die Einheit der Natur empfindet. Seine rationalen Wurzeln als Locke-Schüler gerieten dabei in Vergessenheit. Taylor findet zwei Stränge im Deismus, die sich in Bezug auf die Moralquellen als grundverschieden erweisen. Gleichzeitig markieren sie in der Folge zwei für das westliche Denken typische Auffassungen vom menschlichen Dasein. Im einen Fall sind sie in der Würde des desengagierten, rationalen und kontrollbereiten Subjektes, das den Gesetzen der instrumentellen Vernunft folgt, zu finden. Im anderen Strang liegen die Moralquellen in den Empfindungen, auf die wir stoßen, wenn wir in unser Innerstes blicken. Als sich im 18. Jahrhundert die Auffassung der Natur als innere Quelle herausbildet, wird diese Unterscheidung besonders markant. Hier besteht die Neigung sich mit den Aspekten der menschlichen Erfahrung und dem – wie wir oben gesehen haben – vom dominierenden Geist des Rationalismus der Aufklärung Unterdrückten zu beschäftigen. »Durch Rousseau und die Romantiker lodert der Streit auf und entwickelt sich zu einem der tiefsten Gegensätze unserer Kultur« (ebd. S. 471; vgl. auch Tarnas 1998: 462).
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Den Deismus der ersten Spielart nannte Ernst Troeltsch (Deismus [1898]; zitiert nach Gestrich 1981: 394) »die Religionsphilosophie der Aufklärung.« In England zielte der Deismus im Übergang zum 18. Jahrhundert vor allem auf die rationale, moralische Reinigung des Glaubens ab. Der Übergang vom Deismus zum Materialismus und Atheismus vollzog sich fließend. Anfangs staunte man noch andächtig über Gottes Wunderwerk, dem man mit Hilfe des Verstandes den eignen Platz darin ablesen konnte. Dann beflügelte dieses mechanistische Bild die forschende Vernunft jedoch derart, dass mit Hilfe der Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten eigene Werke verfertigt werden konnten. Nicht nur Gnadeninterventionen wurden überflüssig, auch auf Gottesbezüge konnte man getrost verzichten. Einen religionskritischen Materialismus artikulierten vor allem der schon erwähnte Julien Offray de La Mettrie, sowie der aus Deutschland stammende Philosoph Paul Henri Thiry d’Holbach (Le Système de la nature [1770]; zit. nach Taylor 1996: 574), dessen Religionskritik später Saint-Simon und seinen Schüler Auguste Comte beeinflussen sollte: »Der Mensch höre also auf, außerhalb der Welt, die er bewohnt, Wesen zu suchen, die ihm ein Glück verschaffen sollen, das die Natur ihm versagt: er studiere die Natur, lerne ihre Gesetze kennen und betrachte ihre Energie und die unveränderliche Art, wie sie wirkt; er nutze seine Entdeckungen für seine eigene Glückseeligkeit und unterwerfe sich stillschweigend Gesetzen, denen ihn nichts zu entziehen vermag.«
Für Holbach ist der Mensch, wie alles Übrige im Universum, ein rein physisches Wesen. Sein Materialismus meint, dass wir mit Hilfe der Physik zu einer Deutung des menschlichen Lebens gelangen können, indem wir die Analogien zwischen den Wirkungsweisen der Wesen studieren. Basis für diese Anschauung ist die Bereinigung aller von der Phantasie erzeugten falschen Systeme. Wie im Deismus liegt auch hier die wahre Basis des moralischen Lebens im Glück bewahrenden und vermehrenden menschlichen Handelns (Taylor 1996: 575f.). Der Deismus entledigte sich jedoch zunehmend seiner religiösen Bezugspunkte – die wesentlichen profanen Inhalte, wie die Bejahung des gewöhnlichen Lebens und die empirisch-rationale Zugangsweise wirken jedoch im Utilitarismus und Naturalismus weiter. Für den Aufklärungsnaturalismus gehören die denkenden Wesen zu einer gewaltigen physischen Ordnung, die keinerlei metaphysische oder spiritualistische Elemente enthält. Die aus dem Naturalismus folgende materialistische Weltdeutung beginnt sich nun im 18. Jahrhundert von einer exotischen Außenseiteranschauung zur bestimmenden Einstellung zu wandeln, die sich bis in unser Jahrhundert fortsetzt. Der Aufklärungsnaturalismus bricht mit allen religiösen, deistischen Wurzeln und baut auf die vollkommene Freisetzung der
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menschlichen Vernunft, welche dann eine Wahrheit nach der anderen entdeckt und zur Überwindung des Irrtums führt. Es wurde schon darauf hingewiesen, welche Konsequenzen diese rigorose Bevorzugung der Vernunft auf das Seelenleben der Menschen hatte. Das ausgehende 18. Jahrhundert erlebte gegen den rationalistischen Deismus und Naturalismus eine Reihe von Reaktionen, welche von den Romantikern vorgetragen wurden. Diese haben dann Gruppierungen wie der Lebensreform, der counter culture Bewegung der sechziger Jahre, der ökologischen Bewegung und dem gegenwärtig boomenden holistischen Milieu den Weg gebahnt. Doch hier eilen wir der Zeit voraus. Vorerst möchte ich die unmittelbaren Einsprüche der Romantiker gegen eine entzauberte religiöse Landschaft beschreiben. 2.6.2 Romantische Religiosität »Die Modernisten behalten die Oberhand, und die Zeit nähert sich einer gänzlichen Atonie der höheren Organe, der Periode des praktischen Unglaubens.« NOVALIS: EUROPA »Freunde, der Boden ist arm, wir müßen reichlichen Samen Ausstreun, daß uns doch nur mäßige Erndten gedeihn.« NOVALIS: BLÜTHENSTAUB
Wir haben gesehen, dass nach den Ansichten der Romantiker sich die Individuen in der Haltung des Desengagements von der Natur abschneiden und die Verbindung zu ihr verlieren. Dem Leben der instrumentellen Vernunft, so der Vorwurf, fehle es an Kraft, Tiefe und der Freude, die eine innige Berührung mit dem Strom der Natur erzeugen könne. Die Spaltung verläuft nicht nur zwischen Mensch und der äußeren Natur, sondern auch in seinem Inneren tut sich eine Kluft auf, die sich in weiterer Konsequenz auf die Beziehung zwischen den Menschen ausweitet. Offenbar sind dies die Nebenfolgen des zum Atomistischen neigenden Naturalismus, der durch die rein instrumentelle Haltung zu den Dingen auch eine tiefere Einheit der Gesellschaft verunmöglicht. Hier setzten nun die Bestrebungen der Romantiker an: Rückführung zur Verbindung mit der Natur, Versöhnung zwischen Vernunft und Fantasie, Überwindung der Trennung zwischen den Menschen und Schaffung von stabilen Gemeinschaftsbanden außerhalb von zweckrationalem Kalkül.
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Führte der rationale Deismus mit dem Aufklärungsnaturalismus im Gefolge zu einer spürbaren Abkühlung der Weltverhältnisse, fand man auf der anderen Seite eine Kompensation im Omnipotenzgefühl, über die ›abgekühlte‹ Natur technisch zu herrschen. Für die Romantiker war die Natur eine Quelle religiöser Inspiration – ein Ort, wo man mit dem Göttlichen in Verbindung treten kann. Hölderlin nannte sie »Gottes geheiligten Tempel« und Novalis (2001a: 117) meint, dass »der unerschöpfliche Reichtum ihrer Phantasie […] keinen vergebens ihren Umgang aufsuchen [läßt].« In der Natur wird alles zur Chiffre, die auf das Geheimnisvolle und Transzendente hinweist: »Der Wind ist eine Luftbewegung, die manche äußere Ursachen haben kann, aber ist er dem einsamen, sehnsuchtsvollen Herzen nicht mehr, wenn er vorüberbraust, von geliebten Gegenden herweht und mit tausend dunklen, wehmütigen Lauten den stillen Schmerz in einen tiefen melodischen Seufzer der ganzen Natur aufzulösen scheint?« (Ebd.)
Der Natur steht man nicht als bloßer kühler Beobachter gegenüber, vielmehr soll man sich in sie hinein fühlen, um wiederzuentdecken, »was die Natur dem Menschen sein kann« (ebd.). Folglich hatte der oben geschilderte Prozess der Ausbildung einer desengagierten Haltung zu den Dingen für sie zur Folge, dass sich der Zauber in der Welt verlor. Novalis (2005b: 332) schreibt zu dieser Entwicklung: »Man sucht der alten Religion einen neueren vernünftigen, gemeineren Sinn zu geben, indem man alles Wunderbare und Geheimnisvolle sorgfältig von ihr abwusch.« Der gegenwärtige Mensch »ist rastlos beschäftigt, die Natur, den Erdboden, die menschlichen Seelen und die Wissenschaften von der Poesie zu säubern, – jede Spur des Heiligen zu vertilgen, das Andenken an alle erhebenden Vorfälle und Menschen durch Sarkasmen zu verkleiden, und die Welt alles bunten Schmucks zu entkleiden« (ebd. 331). Er schildert den großen Verlust des Kindlich-Wunderbaren, das im Verlauf des neuzeitlichen Erwachsenwerdens verdrängt und ausgesperrt wurde, da es sich mit der Haltung eines desengagierten Subjekts nicht vertrug. Wie wir sahen, blieb hiervon auch das religiöse Selbstverständnis nicht unbeeinflusst. »Der Religions-Hass, dehnte sich sehr natürlich und folgerecht auf alle Gegenstände des Enthusiasmus aus, verketzerte Phantasie und Gefühl, Sittlichkeit und Kunstliebe, Zukunft und Vorzeit, setzte den Menschen in der Reihe der Naturwesen mit Not oben an, und machte die unendlich schöpferische Musik des Weltalls zum einförmigen Klappern einer ungeheuren Mühle, die vom Strom des Zufalls getrieben und auf ihm schwimmend, eine Mühle an sich, ohne Baumeister und Müller und eigentlich ein rechtes Perpetuum mobile, eine sich selbst mahlende Mühle sei.« (Ebd.)
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Dem seelenlosen Materialismus, der hier mit dem Bild einer »sich selbst mahlenden Mühle« beschrieben wird, gibt den religiös gestimmten Individuen das Gefühl, in einer religionslosen Zeit zu leben. Dieser Befund ist auch der Ausgangspunkt für Friedrich Schleiermachers Reden Über die Religion (1958: 173): »Nichts ist die Religion fast in Allen der jetzigen Zeit.« Dieser Bruch mit der Tradition erfordert vollkommene Neuschöpfungen, welche die Zeitgenossen auch anzusprechen vermögen. »Neue Bildungen der Religion müssen hervorgehen, und bald, sollten sie auch lange nur in einzelnen und flüchtigen Erscheinungen wahrgenommen werden« (ebd.). Diese Aufforderung nahmen sich Friedrich Schlegel und Novalis zu Herzen und befassten sich mit dem Plan eine neue Religion zu stiften. »Mit der Religion, lieber Freund, ist es uns keineswegs Scherz, sondern der bitterste Ernst, dass es an der Zeit ist, eine zu stiften. Das ist der Zweck aller Zwecke, und der Mittelpunkt.« (Schlegel: Briefe an seine Bruder August Wilhelm [1980]; zit. nach Conrad 2003: 154)
Diese Zeilen schreibt Friedrich Schlegel an seinen Bruder, welcher zum Thema Entzauberung der Aufklärung zu folgendem Befund kommt: »Aber die Aufklärung hat doch den Menschen durch die Befreiung von den Aengstigungen des Aberglaubens eine große Wohltat erzeugt? Ich sehe nicht, dass diese so arg gewesen waren, vielmehr finde ich jeder Furcht eine Zuversicht entgegen gesetzt, die ihr das Gleichgewicht hielt, und von jener erst ihren Werth bekam. Gab es traurige Ahndungen der Zukunft, so gab es auch wieder glückliche Vorbedeutungen; gab es eine schwarze Zauberei, so hatte man dagegen heilsame Beschwörungen; gegen Gespenster halfen Gebete und Sprüche; und kamen Anfechtungen von bösen Geistern, so sandte der Himmel seine Engel zum Beistande. Von der Furcht überhaupt […] aber den Menschen zu befreien, wie er denn auch die Gegenstände derselben nennen mag, dies wird der Aufklärung niemals gelingen [...].« (A.W. Schlegel: 1999: 8)
Um dem Menschen Trost zu spenden und ihm seine Lebensfreude zu bewahren bedarf es also der Religion, die nun neu entstehen solle. Die Religion, die ihnen da vorschwebt, muss jedoch eine werden, die über das traditionelle Christentum hinausgeht und Philosophie und Poesie miteinschließt. Mit ihnen selbst als Propheten sollte dann das neue Zeitalter des Religiösen beginnen. Die Romantiker bevorzugten eine offene und undogmatische Religion, die zum Bindeglied aller Menschen und Lebensbereiche werden sollte. Diese neue Religion beinhaltet auch die Freiheit, sich seine Mittler selbst zu wählen. Doch eines Mittlers in
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Form von etwas Konkretem und Bestimmten bedarf es unbedingt, denn sonst verliert sich das religiöse Gefühl im Diffusen. »Nichts ist zur wahren Religiosität unentbehrlicher als ein Mittelglied, das uns mit der Gottheit verbindet. Unmittelbar kann der Mensch schlechterdings nicht mit derselben in Verhältniß stehn. In der Wahl dieses Mittelglieds muß der Mensch durchaus frey seyn. Der mindeste Zwang hierin schadet seiner Religion.« (Novalis: 1977a: 441f.)81
Als Mittler kann also alles fungieren – nicht allein, wie in der christlichen Orthodoxie, Christus. Novalis plädiert auch für das eigene Erfahrungswissen anstatt einem toten Buchglauben, wie beispielweise der Bibel, zu folgen. So ist es in jedem Fall besser, »wenn ich geneigt bin, in mir selbst höheren Einflüssen nachzuspüren, und mir einen eigenen Weg in die Urwelt zu bahnen« (Eichendorff 1970b: 767). Diese Gedanken regten Schlegel sogleich zu neuer Radikalität an, indem er statuiert, dass keine Bibel, keine offizielle Offenbarung, weder Kirche noch Sakramente nötig sind. Der enthusiastische Mensch schöpft alles aus sich selbst (Safranski 2007: 135). Hier kommen wir wieder in den Bereich, wo Religion im Kern nichts anderes ist als Kunst. Spinozas Pantheismus, nach dem Gott überall in den Erscheinungen der Natur anzutreffen ist, kam dem Lebensgefühl der Romantiker weit näher, als der dogmatische Kirchenglaube (Taylor 1996: 646)82 – schon gar nicht in seiner deistisch-rationalen Spielart. Wie wir in dem Abschnitt über das romantische Kunstverständnis sahen, obliegt es dem Dichter als Bildner der Menschen den göttlichen Geist, der überall im Universum unmittelbar zu erfühlen sei, zur Darstellung zu bringen. Die eigentliche Crux der Religion im Zeitalter der Aufklärung ist, neben ihrer unsinnlichen und dogmatischen Ausrichtung, ihre Reduzierung auf die Moral (Taylor 2009: 387). Nach Kant gründet sich die Religion auf die Moral und er bringt damit eine bis in unsere Zeit gehende Vorstellung in Gang, den Religionsbegriff durch ethisch-soziale Komponenten zu bestimmen.83 Die romantischen
81 Und weiter heißt es: Fetische, Gestirne, Thiere, Helden, Götzen, Götter, Ein Gottmensch. Man sieht bald, wie relativ diese Wahlen sind, und wird unvermerkt auf die Idee getrieben, daß das Wesen der Religion wohl nicht von der Beschaffenheit des Mittlers abhänge, sondern lediglich in der Ansicht desselben, in den Verhältnissen zu ihm bestehe (ebd. 443). 82 Bei Friedrich Schlegel (2005: 89) heißt es: »So ist auch Spinosa auf ähnliche Weise der allgemeine Grund und Halt für jede individuelle Art von Mystizismus.« 83 Diese Vorstellung liegt dann der reformierten Religion selbst zugrunde. Die Analyse eines repräsentativen Katechismus aus dem 19. Jh. kommt zu folgendem Schluss:
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Überzeugungen halten dieser Auffassung entgegen, dass die Religion dadurch die Kraft verliert, die Natur zu heiligen und ein Mysterium in ihr zu entdecken. Genau hier setzt nun Schleiermacher in seiner Schrift Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799) an. Mit diesem Werk, das in fünf »Reden« an die intellektuelle Elite gerichtet ist, knüpft Schleiermacher an Novalis und Schlegel an und entwickelt für die damalige Zeit geradezu revolutionäre Vorstellungen einer neuen Religiosität. Die im Geistesklima des Jenaer und später Berliner Zirkel gemachten Erfahrungen mit Poesie, Musik und Malerei beflügelten den aus protestantischem Elternhaus stammenden Pastorensohn zu der berühmt gewordenen Definition: »Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche« (Schleiermacher 1958: 30). Diese Erfahrung ist der eigentliche Kern der Religion. Leider wird er jedoch immer wieder überwuchert und verschüttet durch Moral, Nützlichkeitserwägungen, Wissenschaft und Dogmatik, weshalb es darauf ankommt ihn immer wieder freizugraben. Die Schleiermacher’sche Religionslehre weist fünf Aspekte auf84, welche besonderen Anklang unter den Romantikern fanden. Die Einheit mit dem Göttlichen erreicht man nicht erst mit dem Leben nach dem Tode. Unsterblichkeit ist das »mitten in der Endlichkeit eins werden mit dem Unendlichen und ewig eins sein in einem Augenblick« (Schleiermacher 1958: 74). Schleiermacher spricht von der mystischen Erfahrung, welche die Religion befeuert, weniger im Sinne ihrer extremen ekstatischen Ausprägung, sondern in Form eines lustvollen Bewusstwerdens des »geräuschlosen Verschwindens unseres ganzen Daseins im Unermeßlichen« (ebd. 30). Diese Überzeugung leitet sich von der elementaren Idee des holistischen Pathos ab, das Romain Rollland als »ozeanisches« Gefühl bezeichnet hat.85 Novalis (2001a: 122), berauscht
»Die Moral wird wichtiger als alles andere, und die Religion wird zu ihrer Dienerin« (Germain: Parler du salut?; zit. nach Taylor 2009: 831). In der Tradition der Aufklärung ist die Religion bestimmt durch das ›Gute‹. Dies ist eine Folge aus der ablehnenden Haltung gegenüber der christlichen Dogmenreligion, die durch ihren autoritären Charakter den Menschen in beständiger Unmündigkeit halte. Für säkularisierte Geister bleibt somit nur mehr, die Religion auf ihre ethischen Inhalte zu reduzieren. So liegt für Jürgen Habermas z.B. der Wert der Religion darin, dass sie zur Moral der Gesellschaft beiträgt (Grabner-Haider 1993: 187-198). 84 Diese Gliederung der Schleiermacher’schen Religionsphilosophie in fünf Punkte ist Rüdiger Safranskis Buch Romantik (2007: 142-145) entlehnt. 85 Der französische Schriftsteller und Nobelpreisträger Rolland schrieb während seiner Arbeit an der Biographie des berühmten Mystikers Ramakrishna einen Brief an Freud, in dem er spontane religiöse Empfindungen als ›ozeanisch‹ bezeichnet. Dieses Gefühl
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von den »unendlichen Wellen« und geheimnisvollen Tiefen des Wassers, nähert sich diesem in der einzig geeigneten Sprache an – in der poetischen: »Im Durste offenbaret sich diese Weltseele, diese gewaltige Sehnsucht nach dem Zerfließen. Die Berauschten fühlen nur zu gut diese überirdische Wonne des Flüssigen und am Ende sind alle angenehmen Empfindungen in uns mannigfache Zerfließungen, Regungen jener Ungewässer in uns.«
Wie in vielen anderen mystischen Traditionen findet Schleiermacher im »geräuschlosen Verschwinden« die Sehnsucht nach liebender Vereinigung mit dem Göttlichen bzw. Unendlichen verwirklicht. Der Friedensnobelpreisträger Nathan Söderblom spricht in diesem Zusammenhang von einer »Mystik des persönlichen Lebens«. Auch für Schleiermacher wurzelt das Erleben nicht in ekstatischen Verzückungsspitzen, sondern mitten im Leben: »Die Dinge des Lebens, auch das Individuum mit seinen Beschränkungen, bleiben wichtig, aber sie relativieren sich vor einem Horizont des Ungeheuren. Sie behalten ihren Ernst, verlieren aber die bedrückende Schwere. Das Leben bekommt etwas Schwebendes.« (Safranski 2007: 143)
Zweitens ist Schleiermachers Zugang zur Religion antiinstitutionell. Alle Orthodoxie, Zwecke und Zwänge, alles Einseitige und Festgefahrene wollte er aus der Religion verbannen. Es ist an der Zeit, dass die Kirche wieder eine »fließende Masse wird, wo es keine Umrisse gibt, wo jeder Teil sich bald hie bald dort befindet, und Alles sich friedlich untereinander mengt« (Schleiermacher 1958: 125). Hier decken sich seine Vorstellungen mit der Unterscheidung Simmels (1912: 40) zwischen Religion und ›religiös‹. Das religiöse, bzw. das religioide Moment ist bei ihm eine Art tieferes Empfinden. Das religiöse Gefühl ist der »kreative Eigenbeitrag des Einzelnen zur religiösen Weltdeutung.« Aus dieser Charakterisierung ergibt sich die Überflüssigkeit vermittelnder Instanzen in Form von Priesterhierarchien, da es auf die Unmittelbarkeit religiöser Erfahrung ankommt. Seine gemeinschaftsbildende Kraft entfaltet das Religiöse, indem es nach Mitteilung drängt. Man möchte die Erfahrungen mit andren teilen. In der wechselseitigen sozialen Plausibilisierung gewinnt sie an Stabilität und Gewissheit.
galt ihm als wesentlicher Quell neuer Lebenskraft. Siehe die einleitenden Überlegungen zum holistischen Pathos.
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Zudem hat in Schleiermachers Religion der ganze christliche Apparat des heiligen Schreckens samt Sünde und Verdammnis keinen Platz. Gleich seinen Mitstreitern sieht er das Wesen der Religion im Gefühl, und zwar in dem der »absoluten Liebe« (Novalis). Eine Religion, die ihre beängstigenden Schatten auf die Menschen wirft, um sie zur Sittlichkeit anzuhalten, kommt für ihn nicht infrage. Aus den vorhergehenden Punkten ergibt sich schon der Vierte: Das Fehlen jeglicher Dogmatik. Am besten geht dies aus folgenden Textpassagen hervor, welche die Eigenverantwortung und – initiative des Menschen einfordern: »[Die Religion] ist kein Sklavendienst und keine Gefangenschaft; auch hier sollt Ihr Euch selbst angehören, ja dies ist sogar die einzige Bedingung unter welcher Ihr ihrer teilhaftig werden könnt. Jeder Mensch, wenige Auserwählte ausgenommen, bedarf allerdings eines Mittlers, eines Anführers, der seinen Sinn für Religion aus dem ersten Schlummer wecke und ihm eine erste Richtung gebe, aber dies soll nur ein vorübergehender Zustand sein; mit eignen Augen soll dann jeder sehen und selbst einen Beitrag zu Tage fördern zu den Schätzen der Religion, sonst verdient er keinen Platz in ihrem Reich und erhält auch keinen. Ihr habt recht die dürftigen Nachbeter zu verachten, die ihre Religion ganz von einem Andern ableiten, oder an einer toten Schrift hängen, auf sie schwören und aus ihr beweisen. Jede heilige Schrift ist nur ein Mausoleum der Religion, ein Denkmal, daß ein großer Geist da war, der nicht mehr da ist; denn wenn er noch lebte und wirkte, wie würde er einen so großen Wert auf den toten Buchstaben legen, der nur ein schwacher Abdruck von ihm sein kann? Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern der welcher keiner bedarf, und wohl selbst eine machen könnte [Hervorhebung von T.T].« (Schleiermacher 1958: 67f.)
Hier werden die absolute Freiheit in der Glaubenssuche und die Mobilisierung der schöpferischen Kräfte des Individuums betont. Auf die enge Verbindung der romantischen Religion mit der Kunst wurde schon mehrfach hingewiesen. Für beide Sphären gilt die Forderung, poietisch tätig zu sein. Hier gelangen wir schließlich zum letzten Punkt, der für die Romantiker von höchster Bedeutung war. Die Religion ist eine ästhetische. Der religiöse Sinn öffnet das Gemüt für die Schönheiten der Welt. Vor allem wird man der »entzückende[n] Offenbarungen der liebenden Natur gewahr« (Novalis 1977b: 329). Eine ästhetische Religion ist somit »weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl« (Schleiermacher 1958: 29). Aus dieser Öffnung hin zu einer größeren Harmonie wird auch die eigene Seele schön. Die religiöse Erfahrung, welche den Menschen begleitet, wird in Analogie zur ›heiligen‹ Musik gesetzt. Die Musik gibt einen Ausblick in die Unendlichkeit und in ihr vereinen
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sich Gefühl, Verstand und Einbildungskraft. So wie man es als Musiker zur Meisterschaft bringen kann, gelangen auch in der Religion manche zu religiöser Virtuosität – manche bleiben hingegen ewig ›religiös unmusikalisch‹. Schleiermacher dürfte wohl zu den ersteren gezählt haben. Um das Religiöse auch sinnlich nachvollziehbar zu machen, bräuchte es nach Meinung der Romantiker eine neue Mythologie, denn – wie Schlegel (2005: 81) festhält – »Wir haben keine Mythologie. Aber, setze ich hinzu, wir sind nahe daran eine zu erhalten, oder vielmehr es wird Zeit, dass wir ernsthaft dazu mitwirken sollen, eine hervorzubringen.« Im gleichen Text nennt er auch die Vorzüge mythologischer Bilderwelten: »Was sonst das Bewusstsein ewig flieht, ist hier dennoch sinnlich geistig zu schauen« (ebd. 87). Die Dimensionen einer entfesselten Sinnlichkeit finden die Romantiker im Dionysischen, im Rausch und im Orgiastischen, wo man das Unendliche zu spüren vermag. Besonders für Hölderlin waren die griechischen Götter von besonderer Bedeutung. Gerade die dionysischen Mysterien um Wiedergeburt und Erneuerung hatten ihn und seine Stubengenossen, Schelling und Hegel, im Tübinger Stift fasziniert (Safranski 2007: 163). Die mythische Phantasie muss demnach kultiviert werden, denn erst sie vermag dem Leben einen Horizont zu verleihen, durch den die Dinge eine tiefere Bedeutung erlangen. Hölderlin sucht und findet die mythische Erfahrung, also ein Gespür für tiefere Bedeutungen, im antiken Griechenland. Hier ist sie den Griechen noch selbstverständlich gewesen, doch bei den Zeitgenossen kann davon kaum mehr was wahrgenommen werden. Aus diesem Grund versuchen die Romantiker mythische Erfahrungen aus allen ihnen zur Verfügung stehenden Quellen anzuzapfen. Hier wird das romantische Spielen – in Anlehnung an Schillers »der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt« – zu einem Spielen mit verschiedenen Traditionen und mythisch-phantastischen Vorstellungen, die virtuos gemixt werden. Hier antizipieren die Romantiker in vielerlei Hinsicht das für die Postmoderne charakteristische ›Sinn-Basteln‹. Nicht nur im antiken Griechenland begibt man sich auf Spurensuche für die »neue Mythologie«, auch die »Schätze des Orients« möchte man sich erschließen – denn »Im Orient müssen wir das höchste Romantische suchen« (Schlegel 2005c: 88). Besonders in der tiefen Vergangenheit des geistigen Kontinents des Ostens sollten sie dabei fündig werden. Die Romantiker waren ausnahmslos, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, von Indien ergriffen, das durch Herders Rezeption idealisierter Reiseberichte initiiert wurde (wie wir sahen packte die Faszination am spirituellen Reichtum Indiens auch die späteren Mesmeristen). Jean Paul, Wilhelm Wackenroder, Ludwig Tieck, Novalis und auch Hölderlin, Friedrich Schleiermacher aber besonders die Gebrüder Schlegel sahen im poetisch verklärten Indien eine Insel des
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reinen, unverdorbenen und naturverbunden Lebens, das mit der verhassten aufgeklärten, fortschrittshörigen Welt kontrastiert wurde. Novalis (2005b: 336) schreibt: »Reizender und farbiger steht die Poesie wie ein geschmücktes Indien den kalten, toten Spitzbergen jenes Stubenverstandes gegenüber«, und Friedrich Schlegel (1962b: 27) fragt: »wo hat sich aber der Geist zarter und süßer gebildet als in Indien?« Schlegel war es auch der sich nach Paris aufmachte, um dort als erster Deutscher Sanskrit zu studieren. Mit zahlreichen Sanskrit Übersetzungen, vor allem der Bhagavadgita, machte er den deutschsprachigen Kulturkreis mit dem Indischen bekannt. Daran anknüpfend erfuhr die Indologie einen deutlichen Aufschwung, der im ersten deutschen Lehrstuhl kulminierte, den Wilhelm Schlegel innehatte (Michaels 2004: 334f.). Hoffmanns (1963: 98) Aufruf: »Ich muß fort nach dem fernsten Indien!« folgten die Romantiker noch in der Phantasie, für die späteren Generationen nach den Blumenkindern wird es das idealisierte Reiseland werden. In der Beschäftigung mit dem Geheimnisvollen in den fernen Mythologien suchten die Romantiker nach verschütteten Spuren von Erfahrungen mit dem Unendlichen. Sie fühlten sich gleich Bergwerkern, die aus den dunklen Höhlen des kollektiven Menschheitsgedächtnisses jene »Blüten des Mineralreiches« (wie Novalis die Kristalle nannte) hervor förderten, welche in uns den Sinn fürs Unendliche aufschließen sollten. Sodann erkennen wir auch in der Natur das Göttliche. »Eine Welt ist jeder von euch, wie die Sterne des Himmels lebt ihr, jeder ein Gott, in freiem Bunde zusammen.« So besingt Hölderlin Die Eichenbäume (1946: 206f.). Die gesamte Natur ist belebt beseelt, fühlt und empfindet. Schellings Naturphilosophie, welche die Romantiker stark beeinflusste, vertrat einen solchen mystischen Vitalismus: Wenn die ganze Natur lebendig ist, dann sind wir einfach ihre Vertreter mit dem höchsten Grad an Selbstbewusstsein (Berlin 2004: 172). In Anlehnung dazu spricht Novalis von einer Analogie zwischen Makro- und Mikrokosmos, von Universum und Mensch: »Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns?« Der Welt der Erscheinungen stellt er jenes innere Lichtreich gegenüber, das zu echter Erkenntnis führe. Diesem vermag man sich nur vermittels der Phantasie, der Ahndung und der schöpferischen Kräfte zu nähern, die uns den Weg nach innen aufschließen sollen. Hier wird erneut der Künstler zum Seher, und Kraft seines inneren Vermögens zum Vermittler zwischen den zwei Bereichen – denn »die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht« (Novalis 1977: 418f). Das romantische Naturerleben bekommt also, wie wir bei Hölderlin, Novalis und Schleiermacher gesehen haben, eine religiöse Weihe, da hier jenes holistische Pathos stimuliert wird, das durch Aufhebung aller Grenzen, im magischen Verschmelzen und Ineinanderfließen besteht. Besonders schön wird dieses – zu-
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sammen mit dem romantischen Motiv der Sehnsucht – im Gedicht Mondnacht (1837) von Eichendorff (1970a: 285) beschworen: »Es war, als hätt der Himmel Die Erde still geküßt, Daß sie im Blütenschimmer Von ihm nun träumen müßt. Die Luft ging durch die Felder, Die Ähren wogten sacht, Es rauschten leis die Wälder, So sternklar war die Nacht. Und meine Seele spannte Weit ihre Flügel aus, Flog durch die stillen Lande, Als flöge sie nach Haus.«86
Heute hat die Natur ihren Zauber weitgehend verloren. Auch wenn wir uns nach intensiven Naturgefühlen sehnen, so besteht der dominierende Zug der Gegenwart doch darin, die Natur zu unterwerfen und zu kontrollieren. Auch die Menschen machen sich gegenseitig zum Ding, wodurch das Göttliche verschwindet. Doch »wo keine Götter sind, walten Gespenster« (Novalis 2005: 337) – die Gespenster des Egoismus und der instrumentellen, desengagierten Haltung zu den Dingen.
86 Die Sehnsucht nach dem Mysterium und nach dem für den in der Alltagswelt verwurzelten Menschen unerreichbar erscheinenden mystischen Ganzheitsgefühl kommt hier in der Wendung »als flöge sie nach Haus« zum Ausdruck. Das Begehrte ist hier nur im Konjunktiv vorstellbar – man kommt nie ganz an. Selbst nach wiederholtem Eintauchen in jene transzendenten Sphären muss man doch wieder zurück in die alltägliche Lebenswelt. In Novalis’ Heinrich von Ofterdingen (1977b: 195) erscheint das sehnsuchtsvolle Streben im wohl berühmtesten Symbol der Romantik: der blauen Blume – die »sehn’ ich mich zu erblicken«.
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2.7 Z WISCHENBETRACHTUNGEN Anhand der romantischen Thematisierung von Religion und Mythos eröffnete sich uns die im 18. Jahrhundert beginnende »Zersplitterung der Horizonte«, welche jenes Unbehagen in der westlichen Zivilisation auszulösen begann, das geläufig mit dem Begriff der »Säkularisierung« benannt wird. So fällt es uns modernen Zeitgenossen schwer, Seelen, Geister oder Dämonen neben den empirischen Wesen, welche unsere Alltagswelt bevölkern, aufzuzählen und falls wir tatsächlich auf Menschen stoßen sollten, die sich dementsprechenden Äußerungen hingeben, befällt uns in der Regel unweigerlich ein Gefühl, es mit ›verwirrten Seelen‹ zu tun zu haben. Ein sich auf diese Weise artikulierendes Unbehagen, das aus der Entzauberung der Welt resultiert, ist ein Charakteristikum der Moderne. Heute ist die weitverbreitete Vorstellung, welche dem Säkularisierungsprozess zugrunde liegt, jene, dieser sei ein selbstverständlicher Teilaspekt des allgemeinen Prozesses der Erosion traditioneller Sozialformen, welche aus dem Aufstieg der Naturwissenschaften oder aus der Entwicklung der neuzeitlichen Wirtschaftsordnung resultiert. Hinter dem Verfall der Religion stehen also die Kräfte der Modernisierung. Eine dementsprechende Auffassung wurde von fast allen Gründervätern der Sozialwissenschaften vertreten, »von Ferdinand Tönnies zu Georg Simmel, von Emile Durkheim zu Max Weber87, von Willhelm Wundt zu Sigmund Freud, von Lester Ward zu William G. Sumner, von Robert Park zu
87 Bei Max Weber ist diesbezüglich Vorsicht angebracht. Wenn auch aus seinen Schriften die Schlagwörter »Rationalisierung« und »Entzauberung der Welt« besonders plakativ hervorleuchten, wodurch er von vielen Religionssoziologen als vermeintlich früher Säkularisierungstheoretiker enttarnt wurde, hat Weber selbst das Schicksal der Religion wohl etwas differenzierter gesehen, als dass er bloß ihren Bedeutungsrückgang konstatiert: »Es ist das Schicksal unserer Zeit, mit der ihr eigenen Rationalisierung und Intellektualisierung, vor allem: Entzauberung der Welt, dass gerade die letzten und sublimsten Werte zurückgetreten sind aus der Öffentlichkeit, entweder in das hinterweltliche Reich mystischen Lebens oder in die Brüderlichkeit unmittelbarer Beziehungen der einzelnen zueinander. Es ist weder zufällig, dass unsere höchste Kunst eine intime und keine monumentale ist, noch dass heute nur innerhalb der kleinsten Gemeinschaftskreise, von Mensch zu Mensch, im pianissimo, jenes etwas pulsiert, das dem entspricht, was früher als prophetisches Pneuma in stürmischem Feuer durch die großen Gemeinden ging und sie zusammenschweißte« (Max Weber 1988a: 612). Damit formuliert er die Verlagerung der Religion aus den Institutionen in den privaten Bereich.
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George H. Mead« (Casanova: Public Religions in the Modern World [1994]; zit. nach Joas 2004c: 81). So versteht Peter Berger (1988: 103) unter Säkularisierung Auswirkungen »auf die Totalität des kulturellen Lebens und der Ideation, [die] sich am Verschwinden religiöser Inhalte aus den Künsten, der Philosophie und Literatur sowie – und dies ist am wichtigsten – am Aufkommen der Naturwissenschaften als autonome, durch und durch säkulare Weltansicht beobachten [lassen].« Die Säkularisierungstheorie – in ihrer populären Anwendung – geht also von einem Spannungsverhältnis zwischen Religion und Moderne aus, wobei im Mittelpunkt der Rückgang der sozialen Relevanz von Religion steht, und zwar in dem Maße, wie sich Gesellschaften modernisieren. Faktoren der Modernisierung sind dabei Prozesse der Industrialisierung, des technischen Wandels, der Urbanisierung, der geographischen Mobilität, der Wohlstandserhöhung, des Bildungsanstieges usw. (siehe dazu der »Fahrstuhleffekt« Beck 1986: 122ff). Der Glaube wird also von der wissenschaftlichen Rationalität ausgetrieben oder fällt der Industrialisierung mit ihrer mobilen, technisierten Gesellschaft im Gefolge zum Opfer.88 Zweifelsohne haben diese Entwicklungen die Lebensformen früherer Gesellschaften untergraben und führten zu tiefgreifenden Veränderungen.89 Ebenso haben sie zum Zeitalter des Unglaubens beigetragen, aber nicht dergestalt, dass sie dieses auch zwangsläufig provozieren mussten. Es ist bei weitem nicht einsichtig, dass zwischen den, die Modernisierung begleitenden, institutionellen Veränderungen und den Transformationen religiöser Vorstellungen ein Kausalzusammenhang besteht. So ist etwa die religiöse Landschaft der USA, trotz Modernisierung, keineswegs von einem Bedeutungsverlust der Religion gekennzeichnet.
88 Zur Kritik an einer derart verstandenen Säkularisierungsthese, wie sie vor allem durch Peter Berger vorgetragenen wurde (»Säkularisierung durch Pluralisierung«) vgl. Joas 2004b: 32-49. 89 So sieht beispielsweise Daniel Bell (1979: 64) eine zentrale Veränderung, welche durch technologische Innovationen seit dem 19. Jahrhundert bedingt ist, in der Sinneswahrnehmung der sozialen Umwelt. Die Sinneseindrücke gerieten durch neue Erkenntnisse über Geschwindigkeit, Licht und Klang in Verwirrung in Bezug auf das Raum-Zeitgefühl. Allesamt zogen sie Revolutionen im Bereich der Kommunikation und des Verkehrs nach sich. Peter Berger (1980: 15) findet für diese Entwicklung die Metapher des Jet-Reisenden, dessen Welt sich von jener der in archaischen Gesellschaften lebenden Menschen fundamental unterscheidet. Der Weltraum, den er mit unglaublicher Geschwindigkeit durchkreuzt, ist allein durch die Grenzen der Welt selbst beschränkt, der ihre ist bestimmt durch den menschlichen Körper, den Rhythmus der Natur sowie durch traditionell verfestigte Lebensweisen.
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Taylor (1996: 549) rückt in Bezug auf die Säkularisierungsthese die Vervielfältigung der Moralquellen in den Blick. Moralquellen sind für ihn »konstitutive Güter, insofern wir uns zur moralischen Stärkung, in der ihnen jeweils angemessenen Weise, auf sie beziehen, sei es durch Kontemplation, Beschwörung, Gebet oder sonst ein Verfahren. Ein ›Zeitalter des Glaubens‹ ist eine Epoche, in der alle überzeugenden Moralquellen Gott beinhalten.« Um das Phänomen der Säkularisierung nicht allein auf den Fortschritt in den Wissenschaften, der Technik und der Ökonomie zu reduzieren, wäre es demgemäß notwendig, den kulturellen Wandel, der diesen Prozess vorantreibt genauer zu betrachten. Hier erweisen sich die Analysen von Max Weber als besonders treffend, da sie den weltanschaulichen Wandel skizzieren, auf dem unsere moderne technische Gesellschaft aufbaut. So zeigt er in seinen Studien zur Religionssoziologie, welche ideologischen Bedingungen letztlich zum modernen Kapitalismus geführt haben. Wie wir am Beispiel der Entwicklung des Deismus hin zum Aufklärungsnaturalismus und der daraus folgenden materialistischen Weltdeutung gesehen haben, gibt es nun Moralquellen, die weder einen Gott, noch den Glauben an transzendente Wirklichkeiten voraussetzen. Die wissenschaftliche Ethik eines seelenlosen Materialismus, welche aus der desengagierten Vernunft und der damit einhergehenden Loslösung aus einer kosmischen Ordnung entspringt, ist jedoch nur eine mögliche Quelle unter vielen anderen. Daneben existiert noch eine breite Palette an Standpunkten, die von der Romantik inspiriert sind und die ganz eigene Wege zur Weltdeutung anbieten. Um etwas Ordnung in die zahlreichen zum Teil sich nur marginal unterscheidenden, zum Teil sich heftig widersprechenden Standpunkte zu bringen, verteilt Taylor die Moralquellen idealtypisch auf drei große Bereiche, die ihrerseits wiederum in verschiedene Fragmente zerfallen.90 Zu Beginn stehen demnach die theistischen Varianten, die durch den darauf folgenden Naturalismus der desengagierten Vernunft erweitert wurden und sich heutzutage etwa in szientistisch-materialistischen Standpunkten finden; ferner
90 Taylor (2009: 507-517) spricht hier vom »Nova-Effekt«, womit er das Hervorbringen einer immer größer werdenden Vielfalt von moralisch-spirituellen Optionen meint. Diese Vielfalt, im Sinne eines gleichzeitigen Bestehens verschiedener Glaubenbestände in einer Gesellschaft, hat es auch schon in früheren Zeiten gegeben. Der Unterschied zur Moderne ist jedoch, dass sie früher keine richtige Option war. Das Andere blieb unverstanden und fremd, wodurch es nicht zur Disposition stand. Erst durch die Nivellierung der Unterschiede, meint Taylor, eröffnet sich die Möglichkeit bedenkenlos zu wählen. Das gewählte Bekenntnis ist jedoch nicht – im Unterschied zur Annahme von Peter Berger – als fragil, im Sinne von unbeständig zu betrachten, da es sich unter modernen Bedingungen häufig aus den eigenen Quellen speist.
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existiert eine dritte Gruppe von Ansichten, die ihre Kraft aus der Quelle des Expressivismus der Romantik schöpfen (Taylor 1996: 856). Der theistische Horizont ist also in Sphären zersplittert, die wiederum in vielerlei Grenzbereiche fragmentiert sind. Die desengagierten Anschauungen sind dabei die Quellen für eine nüchterne Ethik der selbstverantwortlichen Freiheit, wie sie etwa im Liberalismus oder in einem »säkularisierten Mittelstands-Humanismus« zu Tage treten, dessen Prototyp uns Michael Novak (God in Colleges [1964]; zit. nach Roszack 1971: 214) treffend vor Augen führt: »Er sieht sich selbst demütig agnostisch und vermeidet die ›mystischen Höhenflüge‹ der Metaphysiker, Theologen und Träumer; er ist vorsichtig und verhält sich distanziert gegenüber großen und leidenschaftlichen Erfahrungen, die den Stoff großer Literatur und Philosophie darstellen. Er beschränkt sich auf diese Welt und ihre Sorgen, Angelegenheiten, die, wie sich glücklicherweise herausstellt, zum größten Teil Gegenstand präziser Formulierungen sind und mithin eine zwar begrenzte, aber tröstliche Sicherheit aufweisen.«
Ebenso äußern sich die desengagierten Haltungen in utilitaristischen Standpunkten, welche die instrumentell-rationale Beherrschung der Welt im Dienste des Glücks der Menschen fordern.91 Utilitaristische Vorstellungen beinhalten in der Moderne eine Denkweise, in der die verschiedenen Arten des Zusammenlebens nicht durch ihren inneren Wert geschätzt werden, sondern aufgrund der Wirksamkeit in der Erzielung von Gewinnen Bedeutung erlangen, die dann von den Individuen ›konsumiert‹ werden können. Diese Haltung führt zu einer fortschreitenden Vergegenständlichung von sozialen Beziehungen, sowie zu einem Instrumentalismus gegenüber der Natur. Die Attraktion einer utilitaristische Ethik lässt sich heute beispielsweise an der Überhöhung und Heiligung des homo oeconomicus ablesen, dessen größtes Glück in der erfolgreichen Maximierung des Eigennutzes liegt, oder an der Verbreitung neuerer Management-Ratgeber, welche den nötigen ideologischen Überbau für dieses Menschenbild liefern.92
91 Vgl. dazu die in der Einleitung skizzierte Idee der »Einfachheit der menschlichen Natur« (Lovejoy), die im Utilitarismus eine wichtige Rolle spielt. 92 Geradezu paradigmatisch lesen sich in diesem Zusammenhang die Managementlehren des Berater-Gurus Tom Peters. Demnach besteht der Schlüssel zum Erfolg für jeden in der vorbehaltlosen Bejahung der Herausforderungen des Arbeitslebens. Wir müssen Verantwortung übernehmen und aus uns selbst heraus handeln. Das größtmögliche Glück besteht dann darin, uns selbst in kreative Unternehmer zu transformieren, die
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Dagegen werden die romantischen Quellen in der Moderne angezapft, wenn die Wertschätzung der schöpferischen Phantasie und der expressiven Selbstverwirklichung durch individuelle Sinnsuche und authentischer Selbsterfahrung im Vordergrund steht, oder wenn Auffassungen artikuliert werden, die auch der Natur eine innere Dimension zuschreiben.93 Dass diese Haltung in diametraler Opposition zur Haltung der desengagierten Vernunft steht, ist offensichtlich. Für die Romantiker konnte die spröde Vernunft, wie sie etwa den Deismus in seiner Lock’schen Variante durchzieht, die letzten Wahrheiten in keiner Form erreichen. Schleiermachers Religionsverständnis verweist hier auf eine wichtige Veränderung des Zugangs zum Religiösen, die mit der geschilderten expressiven Wende zusammenhängt. Damit die religiöse Sprache ihre spezifische Kraft entfalten kann, muss sie den Rezipienten ansprechen. Hier ist nicht die Zustimmung zu einer äußeren Formel das, worauf es ankommt, sondern die bewegende und tiefe Einsicht in eine größere Realität. Genau dieses persönliche Erlebnis wird nun zur kostbarsten spirituellen Ressource. Schleiermacher zeigt, dass es wichtiger ist, sich in religiösen Angelegenheiten auf sich selbst zu verlassen und auf seine innere Stimme zu hören, als einen toten Buchglauben nachzubeten. Heute findet sich der antiinstitutionelle, undogmatische und auf das innere Gefühl fokussierende Aspekt der romantischen Zugangsweise zum Religiösen gerade bei jenen Menschen, die zwar religiös gestimmt sind, ihre religiösen Überzeugungen jedoch außerhalb der christlichen Orthodoxie äußern. Im späten 19. Jahrhundert knüpft William James an die Schleiermacher’sche Religionslehre an. Für James (2003) liegt der wahre Ort der Religion in der Erfahrung, das heißt im Erleben, und nicht in den Formulierungen, mit denen die Menschen ihre Gefühle definieren, rechtfertigen und rationalisieren – Prozeduren, die sich in den traditionellen Institutionen der Kirche abspielen. Er unterscheidet zwischen der lebendigen religiösen Erfahrung, die eine individuelle Erfahrung darstellt, und dem religiösen ›Nach-Leben‹, das davon abgeleitet ist und unter der Regie einer Religionsgemeinschaft oder Kirche steht. So hat der gewöhnliche Gläubige eine Religion, die »von anderen Menschen für ihn gemacht worden ist« (ebd. 67). James zeigt, wie die Quelle lebendiger religiöser Erfahrungen durch Institutionalisierung und durch eine zur Orthodoxie erstarrte Religion zunehmend versiegt, sodass die
sich auch immer und überall für das zu erreichende Ziel einsetzen (Rumpfhuber 2008: 88f.; Boltanski/Chiapello 2006). 93 Den Gedanken von verschiedenen Sakralisierungstypen, die sich in der Moderne durch den Transformationsprozess religiöser Formen bildeten, verdanke ich Stephan Moebius, der diesen in einem Vortragspaper zum Thema Person und Gesellschaft. Sakralisierungsprozesse in der Kultur der Moderne näher ausführt.
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Gläubigen vorwiegend »aus zweiter Hand« leben. Hingegen bezog jede Religion in ihren Anfangsphasen ihre Kraft aus »der direkten persönlichen Gemeinschaft mit dem Göttlichen« (ebd. 63). Religion ist hier bestimmt durch »die Gefühle, Handlungen und Erfahrungen von einzelnen Menschen in ihrer Abgeschiedenheit, die von sich selbst glauben, dass sie in Beziehung zum Göttlichen stehen« (ebd. 64). James bezieht sich hier auf jenen Typ religiöser Gemeinschaftsbildung, der von Ernst Troeltsch (2003: 216), neben Kirche und Sekte, als Mystik bezeichnet wird: »Sie [die Mystik] ist in Wahrheit ein radikaler, gemeinschaftsloser Individualismus. Unabhängig von Geschichte, Kultus und äußerer Vermittlung steht hier der Christ in unmittelbarem Verkehr mit Christus oder mit Gott. Die sozialen Beziehungen bestehen nur in der naturgemäßen Verbindung der einzelnen gleichgestimmten Seelen, die die Gleichheit der inneren Vorgänge und die Gemeinsamkeit des Verständnisses verbindet.«
Die lose Organisationsform sowie die der Mystik innewohnende Eigentümlichkeit des subjektiven Heilsbesitzes und die eventuell nur im kleinen Kreise von Gleichgesinnten ausgetauschten, direkt erfahrbaren Erlebnisse mit dem Göttlichen, machen diesen Typus soziologischer Selbstgestaltung des Religiösen für moderne Zeitgenossen besonders attraktiv. Troeltsch erkennt ebenfalls das Potenzial dieser individuellen Form der religiösen Sinnsuche, die immer mehr an Bedeutung gewinnt und sich abseits der wenig anspruchsvollen Religiosität der Volkskirchen neue Bahnen der Verwirklichung sucht. So setzt sich das romantische Streben nach Einheit und Unmittelbarkeit im religiösen Erleben in der Postmoderne fort. Wie in der Romantik so kann man auch hier Suchbewegungen beobachten, die mit dem Anspruch auftreten, den Menschen in einen ganzheitlichen Zusammenhang zu stellen, um Fragmentierung und das Rasen der Zeit aufzuheben. Solche Suchhaltungen – welche besonders nach Zusammenbrüchen großer Wahrheitssysteme Konjunktur haben – finden jedoch auch gänzlich individualisiert statt und verfolgen meist das Ziel, einigermaßen stabile Sinnhorizonte aufzuschließen. Neben den religiösen Quellen im engeren Sinn existieren seit der Romantik jedoch auch solche, welchen erst ein metaphysisches Kleid übergestreift werden musste. Als Ersatz und Alternative zu den traditionellen Stützpfeilern eines allgemeinverbindlichen Horizonts und einer bürgerlichen Ordnung schufen die Romantiker ihre Gegenwelten. Diese bestanden im empfindsamen, mit der Weihe religiöser Stimmungen versehenen Freundschaftskult, in der ebenso religiös aufgeladenen Liebe, die uns zur modernen Tendenz der ›Sakralisierung von Intimbeziehungen‹ führt, sowie in der Sphäre der Kunst als charakteristisches
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Äquivalent zur Religion, mit dem Künstler als Priester – oder wie sich Simmel (1957: 143) ausdrückt: »Das Leben erzeugt in seinem kontinuierlichen Ablauf etwa Gefühle und Verhaltungsweisen, die man religiös nennen muss, obgleich sie keineswegs unter dem Begriff der Religion erlebt werden oder unter ihn gehören: Liebe und Natureindrücke, ideale Aufschwünge und Hingebung an die weiteren und engeren Gemeinschaften der Menschheit haben oft genug diese Färbung.«
Im Zuge der modernen Ausdifferenzierung kommt noch eine Unzahl an entsprechenden Praktiken hinzu, denen das Prädikat ›religiös‹ angeheftet werden kann – was Religionssoziologen die These über eine ›unsichtbar‹ gewordenen Religion entlockte (Luckmann 1991). In unserer Zivilisation gibt es kaum jemand, dessen Ansichten über persönliche Erfüllung nicht von der Romantik geprägt wären. Diese Tatsache zeigt die – vor allem in den Kapiteln eins bis drei – erörterte elementare Idee des authentischen Selbst, wonach der Person und ihrem individuellen Ausdruck eine ausgezeichnete Stellung zugeschrieben wurde. Paul Heelas meint in seiner Studie zum ›holistischen Milieu‹: »[The turn towards a subjective-life] has to do with states of consciousness, states of mind, memories, emotions, passions, sensations, bodily experiences, dreams, feelings, inner conscience, and sentiments – including moral sentiments like compassion. The subjectivities of each individual become a, if not the, unique source of significance, meaning and authority. […] The goal is not to defer to higher authority, but to have the courage to become one’s own authority. Not to follow established paths, but to forge one’s own innerdirected, as subjective life. Not to become what others want one to be, but to ‹become who I truly am‹.« (Heelas/Woodhead 2007: 3f.)
Die bisherigen ideengeschichtlichen Ausführungen dienten dem Versuch, die beiden Elementarideen des authentischen Selbst und des holistischen Pathos aus der Zeit der Romantik freizulegen. Die Hinwendung zur »Natur als Quelle« mit den Idealen des Schöpferisch-Authentischen und der expressiven Selbstverwirklichung hat auf die »Zweite Moderne«94 eine große Anziehungskraft entfaltet. In
94 Für Ulrich Beck, der den Begriff in Abgrenzung zur Ersten Moderne verwendet, ist ein Charakteristikum der Zweiten Moderne »der seit den Sechzigerjahren auf der Basis wohlfahrtsstaatlicher Modernisierung entstandene Individualisierungsschub [der]
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einem weiteren Schritt können wir nun fragen, wie sich die Idee von der Natur als Quelle in der postmodernen Kultur reproduziert und welche Formen sie hervorbringt? Die Antwort auf diese Frage – die schon aus der Opposition der Romantik zur Aufklärung hervorgeht – legt gleichzeitig das große Spannungsgebiet der Moderne frei. Es ist der, nach Taylor, unüberwindbar scheinende Konflikt zwischen einem desengagierten Instrumentalismus und dem romantischen Aufbegehren gegen diese einseitige Weltsicht (Taylor: 1992b: 235-294). Dieser Protest formulierte sich gegen eine Zweiteilung des Menschen in Körper und Seele, Geist und Natur, gegen eine atomisierte Gesellschaft unabhängiger Individuen und gegen die Vorstellung, die Natur diene uns nur als Depot, das sich rücksichtslos zum Nutzen der Menschheit ausbeuten lässt. Das Romantische ist hier Teil der modernen westlichen Kultur geblieben, wenngleich es manchmal von der antiromantischen Haltung der Moderne, die ganz im Dienste der Bejahung des gewöhnlichen Lebens steht, verschleiert wird. Doch gerade in der Definition der individuellen Erfüllung macht sich der Einfluss des romantischen Gedankenguts bemerkbar. Jedoch bei weitem nicht dergestalt, wie die Romantiker selbst sich dies vorgestellt haben dürften. Heute existieren auch Mischverhältnisse zwischen Aspekten des Romantischen und einer desengagierten, instrumentellen Haltung: »In der modernen Zivilisation sind die romantischen Vorstellungen vom privaten Leben und von der privaten Erfüllung weiterentwickelt worden, und zwar zusammen mit einer wachsenden Rationalisierung und Bürokratisierung kollektiver Strukturen und einer offen ausbeuterischen Haltung gegenüber der Natur. Die moderne Gesellschaft ist romantisch in ihrem privaten Leben und utilitaristisch oder instrumentalistisch in ihrem öffentlichen, auf Effektivität ausgerichteten Leben.« (Taylor 1983: 710)
Es ist zum einen eine zentrale Leistung, aber auch eine besondere Schwäche, von Teilen der sozialwissenschaftlichen Theorien und Zeitdiagnosen den gesellschaftlichen Wandel auf je spezifische Weise ausschließlich aufgrund der ihm eigenen Rationalisierungsdynamik und Differenzierungslogik zu analysieren. In diesen Konzepten wird das Subjekt dann auch nur als Unterworfenes im »stahlharten Gehäuse der Hörigkeit« (Weber) thematisiert. Obwohl dieses Bild meiner Meinung nach viel Richtiges an sich hat, verstellt man sich bei einer ausschließlichen Fokussierung auf diese anziehende Metapher doch den Blick auf die Re-
auf eine Erosion ständisch eingefärbter, kollektiver Lebensmuster hinaus[läuft]«. (Beck/Bonß/Lau 2002: 23f.)
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levanz der »Ausdruckstheoretiker« (Taylor) und die von ihnen ausgelöste »ästhetische Bewegung«95, welche dann auch bei den ›Klassikern‹ kaum Erwähnung findet. Im Folgenden werden wir deshalb den romantischen Ideen nachgehen, wie sie von kulturellen Bewegungen der Lebensreformbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts und in den kulturrevolutionären counter culture Bewegungen der 1960er und 70er-Jahre weitergetragen wurden und von da an in die Gesellschaft diffundierten. Bevor wir diese Entwicklung weiterverfolgen, muss zunächst noch auf eine Eigentümlichkeit hingewiesen werden, welche allen diesen Bewegungen anhaftet: Wie die Romantik – als Epochenbegriff – keine in sich geschlossene und kohärente Form aufweist, die sich als Gegenpol zum herrschenden Paradigma hätte konservieren können, so finden sich auch in anderen Gemeinschaftsformen gleichen Typs Brüche und Wandlungsprozesse. Mit einem Verweis auf Turners Konzept der Liminalität und der Communitas – wie es in den methodischen Überlegungen zur Wirkung und Kontinuität romantischer Ideen schon ausführlich geschildert wurde – möchte ich den Wandel innerhalb der Romantik veranschaulichen. 2.7.1 Das Progressive und sein Aufgehen in der Struktur Wir haben bisher die Geschichte der progressiven Seiten der Romantik betrachtet und konnten feststellen, dass die Geisteshaltung der Romantik als kulturelle Gegenbewegung zur bürgerlichen Gesellschaft, auf dem emanzipatorischen Sinnmuster der Individualität, Kreativität, Phantasie, des Inneren sowie auf das Gefühl abgestellten Erlebens und der Hinwendung zu den Tiefen des Ichs basiert. Gelebt und entfaltet wurden diese Ideen in einer Gemeinschaft, die sich jene Avantgardisten als Grundlage einer künftigen Gesellschaft vorstellten. Hier sollte man durch die Aufhebung jeglicher Beschränkungen durch Stand, Herkunft oder Geschlecht zu den »mannigfaltigen Anschauungen der Menschheit« (Schleiermacher) kommen. Das Individuum könne sich in solch einem Klima dann auch endlich ohne Fremdbestimmung ganz nach seinem eigenen Maßstab
95 Auch Andreas Reckwitz (2006: 15ff.) zeigt in seiner umfangreichen Studie zur modernen Subjektkultur, dass es neben dem durch die einschlägigen Theorien hinreichend bekannten rationalistischen Subjekt eine alternative Figur gibt, nämlich die des ästhetischen Subjekts, das seine Wurzeln in der Romantik hat.
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entfalten. Vor allem im Rahmen der Jenaer Geselligkeit wurde ein Zusammenleben praktiziert, das in Ansätzen an spätere Kommunen erinnert.96 Doch die Zeit der romantischen Geselligkeit mit ihrem so außerordentlich produktiven »Symphilosophieren« und »Sympoetisieren« war nicht von langer Dauer. Sowohl die »sich gegenseitig ergänzenden Naturen« (Schlegel 1962a: 184f.), der Dichterkreise in Jena wie auch die Berliner Salongemeinschaft lösten sich rasch wieder auf und mit ihnen auch das phantastische Gedankengebäude, das sie ohne Rücksicht auf bürgerliche Moral und Konvention zu leben versuchten. Das revolutionäre und innovative Moment jener frühen Versuche gesellschaftlicher Experimentierfreudigkeit war aufgebraucht. Das Charakteristische der Frühromantik war ihre Offenheit, worauf nun eine Regression in Form des Rückgriffs auf traditionelle Identitätsmuster folgte. Prototyp dieses Wandels ist Friedrich Schlegel, der sich vom jungen Revoluzzer in der intensiven Zeit vor 1800 hin zum restaurativen Beamten im österreichischem Staatndienst entwickelte. Das Propagieren für eine ›Heilige Allianz‹ im Dienste Metternichs und die Flucht in die Arme der katholischen Kirche (Müller-Funk 2006: 202-226) passen so gar nicht zu einem Protagonisten der Romantik, der maßgeblich das Bild einer innovativen, phantastischen, hochreflexiven und spielerisch-freien Gemeinschaft mitgeprägt hatte. So versuchte der späte Schlegel dann auch eifrig seine Jugendjahre zu relativieren und zu vertuschen. In der Schrift Signatur eines Zeitalters ([1820] (1999): 28) schreibt er, dass es ihm ergangen sei »wie immer, wenn das Blut und die ganze Lebenskraft zu sehr zu Kopfe steigen.« Nachdem nämlich »der lebendige Quell des tieferen Denkens einmal geöffnet worden, sprudelte eine nie versiegende Fülle von wechselnden Systemen und chaotischen Ideenfluthen […] unaufhaltsam hervor. Das dynamische Denken und Gedankenconstruieren war ein Zeitvertreib und Würfelspielen einer leichtsinnigen neuen
96 Vom Sommer 1799 bis in das Frühjahr 1800 waren um die Schlegel’sche Mittagstafel in Jena bis zu zwanzig Personen versammelt, von denen das Ehepaar Tieck, Novalis, Schelling und Schleiermacher zeitweilig sogar im Hause wohnten. Caroline Schlegel musste wohl große Anstrengungen auf sich nehmen, da sie neben den unerlässlichen Haus- und Planungsarbeiten – wie putzen, stricken, stopfen und die aufwändige Vorratswirtschaft zu besorgen – eine ganze Schar zu verköstigen hatte. Daneben hatte sie ja auch Rezensionen zu schreiben, literarisch auf dem Stand der Dinge zu sein und sich als wortgewandte Gesellschafterin an den Konversationen zu beteiligen. Doch was bedeutete schon die physische Überlastung sowie ein rasant dahinschmelzender finanzieller Polster im Vergleich zum epochalen, frühromantischen Gruppenerlebnis: »Wir lebten in schöner Geselligkeit« meint Caroline, welche die heiter-anmutigen Unterhaltungen zwischen Gleichgestellten anleitete (Roßbeck: 2008: 167f.).
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Schülerjugend, die sich darin genialisch Dünkte […].« Doch zum Glück ging aus den ganzen phantastischen Mixturen mit ihren »spekulativen Verirrungen« nichts Schlimmeres als lediglich ein Ideenchaos hervor, das den gesunden Charakter nicht weiter beschädigen sollte, wenn er sich nur an die Ordnungsmächte und an die Tradition halte. Überhaupt war die Tradition wieder gefragt – nur diesmal keine, mit der man poetisch und spielerisch umging. So kam die versprengte Schar der Romantiker letztendlich doch zu der Einsicht, dass man Gott sei Dank nicht alles selber machen müsse und man sich durchaus am Althergebrachten orientieren könne. Mit der konservativen Wende verschwanden all die revolutionären Errungenschaften zunehmend wieder. Das neue Frauenbild und die auf Gleichheit zwischen den Geschlechtern ausgerichtete romantische Liebe verflüchtigten sich und machten einer Erneuerung traditioneller Geschlechterverhältnisse Platz. Im Zuge der gesellschaftlichen Restauration sah man die Rolle der Frau wieder den Bereichen der Häuslichkeit und Familie zugeordnet. Diese Brüche und Gegensätze finden sich bei vielen Romantikern – zumindest bei jenen, die lange genug lebten, um auf die Jugendjahre mit Skepsis zu blicken. So auch bei Frauen wie Dorothea Schlegel, die sich von der intellektuellen und provokanten Jüdin, die im Namen der Liebe mit allen familiären und sozialen Banden gebrochen hatte, im Alter zur frömmelnden und sittenstrengen Katholikin entwickelte. Gerade Friedrich Schlegel, der die Unterwerfung der Frau unter den Mann als »Konkubinate, Ehen an der linken Hand« anprangerte und im Roman Lucinde die sinnliche Liebe gleicher Seelen preist, sollte später mit Dorothea eine Verbindung eingehen, 97 in der Anpassung und Selbstaufopferung kultiviert wurde (Lühe 1999: 55ff). Wo früher also Ich-Kult und ein freier Umgang mit der schöpferischen Phantasie gepflogen wurde, hält man nun lieber Ausschau nach etwas Festem und Beständigem – sowohl was das Leben in Beruf und Beziehung, als auch die religiö-
97 Gerade die rückwärtsgewandten Seiten der Romantik, die sich in der Verherrlichung des christlichen Mittelalters und der nationalen Volkstradition spiegeln, motivierten die Kritik an der Epoche bis ins 20. Jahrhundert. Die Deutung der Romantik als irrationale Bewegung, die in Opposition zur Moderne stünde, wird vor allem von George Lukács (Die Zerstörung der Vernunft, 1955) vorgebracht. Zur negativen Rezeption und Tradierung eines geschlossenen und einheitlichen Bildes verhalf ihr schon Heinrich Voß, der das Wort ›romantisch‹ in seinen Streitschriften mit einer christlich-katholisch reaktionären Haltung gleichsetzte (Huch 1951: 647ff.). Der Fokus auf die romantische Identifikation mit dem Mittelalter stellt jedoch eine drastische Verkürzung dar. Im eigentlichen Sinne trifft sie auch nur auf die Spätromantik zu – hier existierte der Jenaer Kreis jedoch nicht mehr.
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se Ausrichtung betrifft. Das poetische Moment, im Sinne eines authentischen (künstlerischen) Lebens, wird dann doch zugunsten der Mimesis aufgegeben: »Es folgt aus der gesetzlosen Willkür des jetzigen Zeitgeistes – der lieber ichsüchtig die Welt und das All vernichtet um sich nur dem freien Spiel-Raum im Nichts auszuleeren […] dass er von der Nachahmung und dem Studium der Natur verächtlich sprechen muss.« (Paul: Vorschule der Ästhetik [1804]; zit. nach Rüdiger Safranski 2007: 87)
Und so zerstreut sich die romantische Spielschar nach 1800. Diese Seite der Romantik wird hier nicht deshalb so sehr betont, um die Geschichte dieser Epoche zu vervollständigen – denn mir ist es ja, wie eingangs erwähnt, um die elementaren Ideen, wie den daraus abgeleiteten Überzeugungen und ihrer Wirksamkeit in sozialen Praktiken gelegen, die sich in dieser Zeit besonders stark ausdrückten. Vielmehr möchte ich auf ein Phänomen aufmerksam machen, das sich bei den meisten Gemeinschaften, die sich aus spontanen Zusammenschlüssen mit ideologischer Ausrichtung entwickeln, zeigen lässt. Christa Wolf (2008: 439f.) meint, dass die progressive Gruppe der Romantiker letztendlich deshalb auseinander brechen musste, da die Gesellschaft sich ihr gegenüber totalitär und ablehnend verhalten hatte. Damit spricht sie im Wesentlichen eine Eigentümlichkeit zwischen »Blütezeit und Verfall« (Ricarda Huch) von Gemeinschaft an, die Victor Turner als dialektische Beziehung zwischen Communitas und Struktur bezeichnete. Turners Begrifflichkeiten, die in der Einleitung zur Charakterisierung der gegenkulturellen Bewegungen ausgeführt wurden, lassen sich auch auf die Wandlungsprozesse im menschlichen Leben übertragen. Die Unbeständigkeit der Communitas bietet dabei eine plausible Erklärung für die »reflexive Öffnung und restaurative Schließung« (Kremer 2003: 23) der Romantik. Im Verlauf der Eingliederung in die Struktur ist nun nicht mehr die Antizipation utopischer Ordnungen gefragt, sondern eine Bindung an die bestehenden gesellschaftlichen Institutionen: »Die nationale, politische und religiöse Restauration führte auf den unterschiedlichsten Ebenen zu einer Zurücknahme revolutionärer Neuerungen der Frühromantik. Emanzipatorische Lebensentwürfe für Frauen wurden ebenso wieder in traditionellen Rollen zurückgenommen wie die kulturelle und politische Akzeptanz der Juden. Parallel dazu sind bei etlichen Autoren Verschiebungen von einer Autonomie zu einer Zweckästhetik und von einem subjektiven ›Occasionalismus‹ zu objektiven ›Normativismus‹ zu beobachten. Hierunter lassen sich biedermeierliche Tendenzen fassen, die die intellektuelle Spannkraft und die reflexive Öffnung der Frühromantik durch eine Entlastung von Reflexion und durch Bereitstellung tradierter Ordnungen zurücknimmt.« (Ebd. 27)
Romantische Kontinuitäten im 20. Jahrhundert
3. Die Verheißungen der Morgenlandfahrer – Die Lebensreform »Wenn mich willkommner Traum mit Sammethänden streicht, Und Tag und Wirklichkeit von mir entweicht, Der Welt entfremdet, fremd dem tiefsten Ich, Dann steht das Wort mir auf: Mensch werde wesentlich!« ERNST STADLER AUS: DER SPRUCH
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ist für die Vereinigten Saaten und in Teilen Europas ein »explosiver Wandel von Lebensumständen und Wirtschaftssystemen« (Blom 2009: 226) festzustellen. Kurz vor der Jahrhundertwende setzte in Deutschland ein enormes Wachstum ein, das bis zum ersten Weltkrieg anhielt. Dieses spiegelt sich im Zuwachs des industriellen Sektors wieder, in dem 1913 schon fast 38% beschäftigt waren, und dem damit einhergehenden Anwachsen der Städte (Rohkrämer 2001: 71). Auch die technischen Errungenschaften, wie beispielweise die Dampfmaschine oder die Eisenbahn, führten zu einer Produktivitätssteigerung sowie zu einer Potenzierung der räumlichen Reichweite des Menschen. Die technische Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse rief bei manchen Zeitgenossen einen Fortschrittsenthusiasmus hervor, wie er schon mit den ersten Ballonflügen der Gebrüder Montgolfiers verbunden war (vgl. S. 149). Dieser Optimismus veranlasste auch Werner von Siemens 1886, ein »neues Zeitalter der Menschheit [auszurufen], welches wir berechtigt sind, das naturwissenschaftliche Zeitalter zu nennen« (zit. nach Ziche 2001: 75). Dieser Fortschritt, der breite Teile der Bevölkerung erfasste und deren Lebensstandard wesentlich verbesserte, hatte aber nicht nur positive Folgen. Die Zerstörung der äußeren und die Disziplinierung der inneren Natur sowie die Zersplitterung aller Lebensbereiche aufgrund der Zersetzung der Tradition brachten,
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genau so wie in der »Sattelzeit« um 1800, auch ihre Kritiker hervor. Diese betrachteten die Tendenzen ihrer Zeit mit wachsendem Unbehagen und deuteten die gesellschaftlichen Umbrüche als Krise, die unweigerlich zu Krankheit und Verfall führen würde. Dem Menschen als »Mängelwesen« (Gehlen) sei die Kontrolle über die Objektwelt entglitten, lautete eine Diagnose, die Sigmund Freud (2009: 57) den Kommentar entlockte: »Der Mensch ist ein Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er all seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen.« Die zerstörerischen Auswüchse der Industrialisierung sowie die nochmalige Beschleunigung des ohnehin schon »sausenden Räderwerks« (Klingemann) durch einen Zuwachs an Mobilität und Kommunikation, führten zu jenen ichdissoziierten Wahrnehmungsbedingungen, wie sie Silvio Vietta (Vietta/Kemper 1997: 21) in Anlehnung an Georg Simmels Analyse des reizüberfluteten Grosstadtlebens beschreibt. Neben den kritischen Haltungen zur Moderne gab es aber auch gelebte Gegenentwürfe, die als kollektive Lösungsversuche verstanden werden können die Spannungen der Zeit auszugleichen. Eine spektakulärere Rebellion gegen die Gesellschaft war die Wandervogelbewegung, die 1896 in Berlin-Steglitz gegründet wurde. Schüler und Studenten, meist bürgerlicher Herkunft, hatten von den restriktiven und künstlichen Lebenswelten die Nase voll und packten, vom Geist des romantischen Aufbruchs beseelt, ihre Rucksäcke, um in den Wald zu ziehen. Der Wandervogel setzte sich aus einer Vielzahl von Gruppierungen zusammen. Eine kurzlebige, wenngleich in ihrer Wirkung besonders intensive, war die »Neue Schar«, die im Sommer 1920 zu einem regelrechten Triumphzug heranwuchs. Tausende Menschen, von denen viele mit Dudelsäcken, Gitarren, Geigen und dergleichen ausgestattet waren, rissen ganze Städte in einen dionysischen Tanztaumel, ehe der Winter und die bürgerlichen Ordnungshüter mittels Zucht und Moral dem Treiben ein Ende bereiteten (Safranski 2007: 334fff.). Der wohl umfassendste Versuch die Krisen der Zeit zu bewältigen wurde jedoch von der Lebensreformbewegung vorgetragen, die mit der Wandervogelbewegung in enger Wechselwirkung stand. Diese nahm ihren Ausgangspunkt in den 1880er Jahren, kulminierte jedoch im wilhelminischen Deutschland am Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer Gruppierung, die »so viel Gewicht [gewann], dass von einer gesellschaftlichen Bewegung gesprochen werden kann« (Rohkrämer 2001: 73). Auch die Lebensreform war keine einheitliche und homogene Bewegung, sondern eine netzwerkartige Verflechtung, die sich aus der Siedlerbewegung, der Gartenkulturbewegung und der Naturheilkundebewegung zusammensetzte (Krabbe 2001: 25ff.). Die Siedlerbewegungen vereinte die Abscheu gegenüber dem ökonomischen Profitdenken und einer damit einhergehen-
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den materialistischen Lebensweise. Mit dem Wunsch nach einem naturverbunden Leben abseits der Großstadt kam es zu Gründungen von Lebensgemeinschaften und Landkommunen, die man mit Turner als »ideologische Communitas« bezeichnen kann. Sie setzten dem Hässlichen der Großstadt das Schöne und Natürliche des Ländlichen entgegen Abbildung 3: Fidus: Lichtgebet (1922) und dem Artifiziellen, Angepassten und Starren der bürgerlichen Kultur das Authentische, Einfache und Wahre. Die Gartenkulturbewegung bezog sich ebenfalls auf eine naturnahe Lebensweise, jedoch im städtischen Umfeld, wo sie sich für ein ästhetisches und menschenwürdiges Wohnen einsetzte. In der Naturheilkundebewegung schließlich wurde der Fokus auf die Krankheiten des Menschen in der 1 »zivilisatorischen Moderne« gelegt. Hier sind es umfangreiche Konzepte für die Heilung psychischer Leiden, bedingt durch die Erfahrungen der Entfremdung und der Reizüberflutung, sowie der damit Das Gemälde gibt in typischer Weise die mit dem Reformanliegen verbundene Aufbruchs- einhergehenden körperlichen Bestimmung wieder. Das Licht symbolisiert das schwerden, die in der Zeit auf vitalistische Prinzip, das den »neuen Men- fruchtbaren Boden fielen. Dabei beschen« am Morgen seines Erwachens durchruhte die Vorstellung von einem strömt. gesunden Menschen auf zwei Grundannahmen, wie wir sie schon im Mesmerismus vorfanden: Zum einen wird ein holistischer Zusammenhang zwischen Körper und Geist, Mikrokosmos und Makrokosmos angenommen: Gesund ist der Mensch, wenn er in allumfassender Harmonie mit seiner Umwelt lebt; Störungen in diesen kosmischen Beziehungen
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Mit dem Begriff »zivilisatorische Moderne« ist der Prozess der Rationalisierung, Urbanisierung und Industrialisierung gemeint, wie auch eine immer weiter um sich greifende Ausdifferenzierung der Gesellschaft, Entzauberung der Welt, Instrumentalisierung der Natur usw. Die Vertreter der »ästhetischen Moderne« greifen diese Elemente des zivilisatorischen Modernisierungsprozesses auf und opponieren dagegen (Anz 2002: 18ff.).
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führen demnach zur Krankheit. Zum anderen greift die Naturheilkundebewegung den zu dieser Zeit in der Alternativkultur verbreiteten Vitalismus2 auf. Dieser wurde allgemein als aktivistisches Prinzip gegen ein starr gewordenes, unechtes Leben gesehen. In Bezug auf die Leiden an der Zivilisation galt die Vorstellung der Existenz einer lindernden Natur- oder Lebenskraft, die man als Selbstheilungskraft nutzen könne. Der Erfolg der Naturheilkundebewegung beruhte zum Teil auf einer ähnlichen Grundlage wie der Mesmerismus 100 Jahre zuvor in Paris. Viele Patienten wandten sich enttäuscht von den einseitigen Behandlungsmethoden der Schulärzte ab, denen vielfach die Zugänge fehlten, mit den neuen Zivilisationskrankheiten umzugehen. So suchten sie ihr Heil bei Wunderheilern und ›Quacksalbern‹, die nun wieder Konjunktur hatten, sich aber auch häufig gegen Klagen der etablierten Ärzteschaft vor Gericht verteidigen mussten. Orte der Naturheilkundebewegung waren der »Weiße Hirsch« in der Nähe von Dresden, Bircher-Brenners Sanatorium »Lebendige Kraft« bei Zürich, »Wörishofen« – der Wirkungsort von Sebastian Kneipp im Allgäu, »Jungborn« im Harz –, wo Franz Kafka den Kuralltag in seinem Tagebuch festhielt (Jütte 2001: 378ff.), und neben zahlreichen andere Naturheilanstalten auch der Sanatoriumsbetrieb am berühmten Monte Verità – auf dem sich unter vielen anderen prominenten Gästen auch ein völlig überarbeiteter Max Weber einfand, um sich bei vegetarischer Kost zu erholen (Whimster 2001: 43-59). Abseits der unterschiedlichen Ausformungen der Lebensreform lässt sich auf der Basis der Diagnose, dass mit der Distanz zur Natur die Gesellschaft in eine Krise geschlittert sei, das Gemeinsame aller lebensreformerischen Bestrebungen festhalten: eine Rückkehr zur naturgemäßen Lebensführung. Ein damit verbundener Lebensstil wäre demnach auch der Schlüssel zur Lösung der Probleme, mit denen die Menschen der Zeit konfrontiert waren. Die Praktiken der Lebensreform, von denen der Vegetarismus3 eine der wichtigsten war, zielten primär auf eine Selbstreform ab. Mit der Vorstellung, dass die Menschheit untereinander und vor allem mit der Natur verbunden sei, teilten die Lebensreformer die Ansicht – vergleichbar mit der von Mesmer und seinen Schülern entworfenen Harmonielehre –, dass eine Gesellschaftsveränderung nur durch eine Veränderung der persönlichen Einstellungen des Menschen möglich wäre. Der »neue Mensch« wird durch »Veredelungspraktiken« der richtigen Ernährung, der Lei-
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Zum Vitalismus als »gesteigerte Lebensintensität«, der auch die verschiedenen Strö-
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Die vegetarische Ernährung war insofern ein zentraler Faktor der Lebensreform, da
mungen der historischen Avantgarde verbindet vgl. ebd. 50-60. sie in ihr nicht nur eine Prävention vor Krankheiten sah, sondern vor allem eine ›Erlösung des Menschen‹ aus seiner unnatürlichen Lebensweise (Brisen 2010: 92ff.).
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beserziehung, wie auch mystischen und spirituellen Übungen, die ihn lehren, sich als Teil der Natur zu begreifen, zuallererst in der privaten Sphäre geboren. Mit dem Rückzug in die Innerlichkeit berühren wir wiederum ein romantisches Grundthema. Dieses entspringt, wie schon anhand der Reaktion der Romantiker festgestellt wurde, der von Simmel (2001: 648) attestierten »Feindseligkeit [...] mit der sehr individualistische und vertiefte Naturen jetzt so häufig dem ›Fortschritt der Kulturen‹ gegenüberstehen.« Der Fortschritt, der auf der instrumentellen Vernunft beruht, wird von den Lebensreformern als rückschrittliche Transformation der äußeren Natur und gefährliche Disziplinierung der inneren Natur gedeutet. Als fortschrittlich betrachten sie dagegen eine Lebensweise, die gewachsenen Lebensformen mit Respekt begegnet, Rücksicht auf die Umwelt nimmt und der Entfaltung der inneren Natur genügend Spielraum lässt. In ihrer Zivilisationskritik schöpften die Lebensreformer aus den romantisch inspirierten Diagnosen der Gelehrten ihrer Zeit. Hier sollen besonders jene drei Felder geschildert werden, die zusammengenommen das Überzeugungsnetz der Lebensreform ausmachten: die Lebensphilosophie, die Psychoanalyse und die neuen religiös-spirituellen Praktiken und Lehren, wie sie von der Theosophie und Anthroposophie formuliert wurden.
3 .1 P HILOSOPHISCHE I DEEN
DER
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»In dein Auge schaute ich jüngst, oh Leben! Und in’s Unergründliche schien ich mir da zu sinken.« FRIEDRICH NIETZSCHE: ALSO SPRACH ZARATHUSTRA »Leben kann nicht vor den Richterstuhl der Vernunft gebracht werden.« WILHELM DILTHEY: AUFBAU DER GESCHICHTLICHEN WELT
Wie schon angedeutet wurde, entstand in Deutschland, einerseits durch den politischen, sozialen und kulturellen Konservativismus in der wilhelminischen Gesellschaft, andererseits infolge eines besonders spannungsreichen ökonomischen und technischen Wandels, ein Klima der Kritik an den bestehenden Verhältnissen. Eine Vielzahl an Intellektuellen entwickelte eine besondere Sensibilität für die Ambivalenz des Fortschritts und der Moderne. Manche beschworen in pes-
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simistischen Tönen die lebensfeindlichen Tendenzen der Zivilisation, andere wiederum entdeckten neben einer totalen Instrumentalisierung auch Sphären, die von einer kalten Verstandesherrschaft noch nicht usurpiert schienen, und von diesen ausgehend sich gar die Gesellschaft revolutionieren ließe. Ludwig Klages, der zusammen mit Stephan George, Karl Wolfskehl, Alfred Schuler und Franziska von Reventlow zur Kosmischen Runde in Schwabingen gehörte, ist der ersten Kategorie zuzuordnen. Zum Ausgangspunkt seiner Philosophie machte er die Zerstörung der Natur. Diese sei das Signum der Moderne und damit die Wurzel des Leidens, das sich im Zerbrechen des Lebendigen in der Außenwelt, wie auch im Inneren des Menschen widerspiegelt: »Eine Verwüstung ohnegleichen hat die Menschheit ergriffen. Die ›Zivilisation‹ trägt die Züge entfesselter Mordsucht, und die Fülle der Erde verdorrt vor ihrem giftigen Anhauch [...]. Wir täuschten uns nicht, als wir den ›Fortschritt‹ leerer Machtgelüste verdächtig fanden, und wir sehen, das Methode im Wahnwitz der Zerstörung steckt. Unter den Vorwänden von ›Nutzen‹, ›wirtschaftlicher Entwicklung‹, ›Kultur‹ geht er in Wahrheit auf Vernichtung des Lebens aus. Er trifft es in allen seinen Erscheinungsformen, rodet Wälder, streicht die Tiergeschlechter, löscht die ursprünglichen Völker aus, überklebt und verunstaltet mit dem Firnis der Geweblichkeit die Landschaft und entwürdigt, was er von Lebewesen noch übriglässt gleich dem Schlachtvieh zur bloßen Ware, zum vogelfreien Gegenstande eines schrankenlosen Beutehungers. In seinem Dienst aber steht die gesamte Technik und in deren Dienst wiederum die weitaus größte Domäne der Wissenschaft [...]. So hätten wir denn beisammen die Früchte des ›Fortschritts‹! Wie ein fressendes Feuer fegt er über die Erde hin, und wo er die Stätte einmal gründlich kahl gebrannt, da gedeiht nichts mehr, so lange es noch Menschen gibt. Vertilgte Tier und Pflanzenarten erneuern sich nicht, die heimliche Herzenswärme der Menschen ist aufgetrunken, [...] und es bleibt ein mürrischer Arbeitstag mit dem falschen Filter lärmender ›Vergnügungen‹ angetan. Kein Zweifel, wir stehen im Zeitalter des Untergangs der Seele. [...] Die meisten leben nicht, sondern existieren nur mehr, sei es als Sklaven des Geldes, besinnungslos anheimgegeben dem Zahldelirium der Aktien und Gründungen, sei es endlich als Sklaven des großstädtischen Zerstreuungstaumels, ebenso viele aber fühlen dumpf den Zusammenbruch und die wachsende Freudlosigkeit. In keiner Zeit war noch die Unzufriedenheit größer und vergiftender. [...] Und da der Mensch sich die Welt stets nach dem Bilde des eigenen Zustands deutet, so glaubt er auch in der Natur ein wüstes Ringen um Macht zu sehen, wähnt sich im Recht, wenn er allein im ›Kampf ums Dasein‹ übrigbliebt, malt sich die Welt nach dem Gleichnis einer großen Maschine, wo immer die Kolben nur dampfen, die Räder schnurren müssen, damit ›Energie‹ – man sieht nicht zu welchem Ende [fließt].« (Klages: Mensch und Erde [1973], zit. nach Falter 2003: 10)
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Klages Schriften durchzieht eine stets polemisch gefärbte Anklage gegen die westliche Zivilisation, die durch Kapitalismus, Mechanisierung und Monotheismus die Naturzerstörung forciert. Der jüdische und christliche Gott geben nach Klages Ansichten zwar nicht den direkten Impuls, sich die Natur zum Untertanen zu machen, jedoch schafft der Monotheismus den Raum für die Entgöttlichung der Natur und dadurch die Bereitschaft diese zu beherrschen (Falter: 2003: 61f.). Der Mensch löst sich aus dem Naturzusammenhang und steht diesem als Fremder gegenüber. Er kann die Welt nur mehr als »große Maschine« wahrnehmen und hat dadurch »keinen Maßstab mehr für die Schönheit der Landschaft, glaubt schon Natur zu sehen beim Anblick eines Kartoffelfeldes und findet auch höhere Ansprüche befriedigt, wenn in den mageren Chausseebäumen einige Stare und Spatzen zwitschern« (Klages: Mensch und Erde, zit. nach Falter 2003: 11). Das desengagierte und auf Kontrolle bedachte Subjekt, welches, wie wir gesehen haben, maßgeblich durch den Deismus geformt wurde, hat nicht nur zu seiner inneren Natur ein objektivierendes Verhältnis, sondern auch zur äußeren Natur. Für die »alten Völker« war die Natur voll von »heiligem Leben«, doch »fremd geworden den planetarischen Strömen sieht der heutige Mensch in alledem nur kindlichen Aberglauben« (ebd. 64). Klages, der sich gegen eine Deutung des Menschen als rationales Lebewesen ausspricht, steht mit seinen Ansichten von Natur und Mensch der romantischen Naturphilosophie nahe. Der Bruch zwischen Mensch und Natur, als ein zentrales romantisches Thema, wurde schon von Novalis formuliert, der, wie Klages, den Verlust eines ganzheitlichen Zusammenhangs bedauert: »O! daß der Mensch, sagten sie, die innre Musik der Natur verstände, und einen Sinn für äußere Harmonie hätte. Aber er weiß ja kaum, dass wir zusammen gehören, und keins ohne das andere bestehen kann. Er kann nichts liegen lassen, tyrannisch trennt er uns und greift in lauter Dissonanzen herum. Wie glücklich könnte er sein, wenn er mit uns freundlich umginge und auch in unsern großen Bund träte, wie ehemals in der goldnen Zeit, wie er sie mit Recht nennt.« (Novalis 2001: 113)
Klages gilt als Vater der modernen Ökologiebewegung und seine radikale Kritik an der Zerstörung des natürlichen Lebens nahmen die Lebensreformer in ihr Weltbild auf. Aber auch bei den übrigen Diagnosen zur Gegenwartsgesellschaft nahmen die Lebensreformer eifrig Anleihen, um ihr exzentrisches Leben als Vegetarier, die nackt oder in Reformkleider gehüllt in Landkommunen den Müßiggang praktizierten, zu rechtfertigen. Das große Leitthema, dass auch in Klages Schriften immer wieder angesprochen wird, ist die Entfremdung. Dimensionen von Entfremdung sind der Verlust gemeinschaftlicher Beziehungen durch eine
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kühle Distanz zwischen den Menschen, ein ebenso distanziertes Verhältnis zur inneren Natur wie auch zur äußeren Natur und Objektwelt. Die Symptome dieser Entfremdungserscheinungen sind vielfältig. Sie reichen vom »mürrischkalten Arbeitstag« der »Sklaven, die sich maschinenhaft im Dienst großer Betriebe verbrauchen« (Klages), über die »Skeletthände rationaler Ordnung«, welche die Welt entzaubern und den Menschen metaphysisch vereinsamt dem Gebot des Nutzens anheimfallen lassen, bis zur »Stumpfheit des Alltags« (Weber 1988a: 561), die letztendlich zum dominierenden Lebensgefühl wird. Klages’ allzu kulturpessimistischen Diagnosen, in denen sich kaum ein Hoffnungsschimmer für den Menschen zeigt, den Zerstörungs- und Entfremdungserscheinungen der Zeit zu entkommen, stehen auch andere gegenüber, die ein differenzierteres Bild zeichnen. Wohl am ergiebigsten und einflussreichsten sind hier die Arbeiten von Georg Simmel, der besonders in seinem Hauptwerk Philosophie des Geldes (1900) die Frage nach dem Leben in der vollendeten Geldwirtschaft stellt. Die über das gesamte Buch verstreuten Gegenwartsdiagnosen verdichten sich im letzten Kapitel zu einer umfassenden Charakterisierung des »großen Objektivierungsprozesses der modernsten Kultur« (Simmel 1992: 581). Simmel zeigt, dass das Gefühl der Selbstentfremdung erst in der vollendeten Geldwirtschaft entstehen konnte. Dem Einfluss des Geldes ist es demnach auch geschuldet, dass eine überwiegend instrumentelle Haltung zum Leben besteht: »Die geistigen Funktionen, mit deren Hilfe sich die Neuzeit der Welt gegenüber abfindet und ihre inneren – individuellen und sozialen – Beziehungen regelt, kann man großenteils als rechnende bezeichnen. [...] Das Leben vieler Menschen wird von solchem Bestimmen, Abwägen, Rechnen, Reduzieren qualitativer Werte auf quantitative ausgefüllt. [...] Aber nicht nur die körperliche Welt gilt es mit Wägen und Messen geistig zu bezwingen; den Wert des Lebens selbst wollen Pessimismus wie Optimismus durch ein gegenseitiges Aufrechnen von Lust und Leid festsetzen, der zahlenmäßigen Fixierung beider Faktoren mindestens als ihrem Ideal zustrebend.« (Simmel 2001: 612f.)
Diese Welt als »ein großes Rechenexempel zu begreifen« (ebd.) war für die Lebensreformer Grund genug sich von ihr abzukehren. Sie suchten nach unverfälschten Lebensräumen und elementaren Gefühlen, wobei häufig ›primitive‹ Kulturen als Projektionsraum für diese antizivilisatorischen Wünsche fungierten. In Simmels Resümee über die Auswirkungen der Geldwirtschaft auf die moderne Geisteshaltung findet man auch eine Begründung für die Präferenz, den Fortschritt im Rückgriff auf das zu suchen, was dem zivilisatorischen Fortschritt voranging:
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»Der hiermit charakterisierte zeitpsychologische Zug, der sich in so entschiedenen Gegensatz zu dem mehr impulsiven, auf das Ganze gehenden, gefühlsmäßigen Wesen früherer Epochen stellt, scheint mir in enger kausaler Verbindung mit der Geldwirtschaft zu stehen.« ( E bd. 613f.)
Mit der Analyse der Ursache für das Gefühl der Selbstentfremdung, welches dem oben skizzierten Auseinanderdriften von subjektiver und objektiver Kultur geschuldet ist, zeigt Simmel auch, dass dieses nun nicht – wie bei Marx – auf die proletarischen Schichten begrenzt bleibt. Gerade die nicht-proletarischen Teile der Gesellschaft haben einen größeren Anteil an den Segnungen der objektiven Kultur und erleben folglich den Mangel der subjektiven Teilhabe intensiver. Hieraus lässt sich auch plausibel ableiten, dass die Träger vieler alternativer Bewegungen selbst aus dem bürgerlichen Milieu kommen. Sie spüren das ›Unbehagen an der Kultur‹ und reagieren auf diese Spannung mit einer Abwertung jener bürgerlichen Lebensweise, die sie selbst eine Zeit lang gepflogen haben und nun als ›verlogen‹ und ›sinnlos‹ erkennen. So zeigt auch Eva Barlösius (1997: 165) in ihrer empirischen Studie zur Lebensreform, dass sich die Basis der Bewegung aus einer breit gefassten bürgerlichen Mittelschicht zusammensetzte. Für Simmel ist das Gefühl der Entfremdung jedoch nichts Definitives und Unausweichliches. Es existiert eine Reihe von Möglichkeiten, wie man mit dem Missverhältnis zwischen subjektiver und objektiver Kultur umgehen kann.4 Eine davon erkennt Simmel (2001: 653) im Rückzug in die Innerlichkeit. Hier erweist sich der distanzierende Effekt des Geldes als Vorteil, das zum »Torhüter des Innerlichsten [wird], das sich nun in eigensten Grenzen ausbauen kann«. Dabei wird eine Wende zur Innerlichkeit von den intellektuellen Zeitgenossen Simmels durchaus nicht so positiv bewertet. Für Max Scheler (Von zwei deutschen Krankheiten [1963]; zit. nach Scheuer 2001: 109) tritt diese in Deutschland erstmals auf, »als der Materialismus der äußeren Lebenspraxis zur allgemeinen Lebensform des Volkes geworden ist.« Er erklärt die Wende nach innen zu einer Verdrängungsideologie, die eine schwermütige Gefühlssentimentalität hervorbringe. Letztendlich mündet der Innerlichkeitskult in die Passivität des cult du
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Die Psychoanalyse zeichnet im Übrigen ein ähnliches Bild der Entfremdung: Hier wird der Mensch deshalb neurotisch, da »er das Maß von Versagung nicht ertragen kann, das ihm die Gesellschaft im Dienste ihrer kulturellen Ideale auferlegt.« Die Lösung dieses Konflikts, von der auch die Lebensreformer überzeugt waren, liegt demnach in einer Rückkehr zur einfachen Lebensweise, in der diese Anforderungen herabgesetzt seien (Freud 2009: 52f.).
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moi, der breite Schichten des Bürgertums ergreift (ebd. 110)5 (die hier vorgetragene Kritik wird heute in ganz ähnlicher Weise den modernen Selbstfindungstechniken, wie sie sich im New-Age Phänomen finden, entgegengebracht). Simmel (2001: 653) hingegen hatte eine Wirkung des Rückzugs in die Innerlichkeit im Sinn, wie wir sie schon am Beispiel des romantischen Retreats erkennen konnten. Dieser führt zur »Verfeinerung, Besonderheit und Verinnerlichung des Subjekts«. Eine andere Variante der Bewältigung von Entfremdungserscheinungen, die sich durchaus mit einer Wende nach innen kompatibel zeigt, ist im »grimmigen Hass« zu sehen, »den die Prediger des äußersten Individualismus, Nietzsche voran, gegen die Großstädte hegen.« Diese Kritiker – meint Simmel (2006a: 41f.) – sind »gerade in den Großstädten so leidenschaftlich geliebt«, da sie »dem Großstädter als die Verkünder und Erlöser seiner unbefriedigtsten Sehnsucht erscheinen.« Den Menschen in der Großstadt verführt nicht die äußere Hast und Aufgeregtheit des modernen Lebens, sondern diese ist »vielfach der Ausdruck, die Erscheinung, die Entladung jenes inneren Zustandes [...]. Der Mangel an Definitivem im Zentrum der Seele treibt dazu, in immer neuen Anregungen, Sensationen, außeren Aktivitaten eine momentane Befriedigung zu suchen; so verstrickt uns dieser erst seinerseits in die wirre Halt- und Ratlosigkeit, die sich bald als Tumult der Großstadt, bald als Reisemanie, bald als die wilde Jagd der Konkurrenz, bald als die spezifisch moderne Treulosigkeit auf den Gebieten des Geschmacks, der Stile, der Gesinnungen, der Beziehungen offenbart« (Simmel 2001: 675). Auf der Suche nach Definitivem bleibt dem modernen Menschen noch die Kunst, die »eine Entfernung von der Unmittelbarkeit der Dinge« stiftet und somit als rettender Anker aus dem Gefühl der Zerrissenheit führt. Aber analog zur Kunst leistet dies auch die Natur: »Aus der Vielfachheit der Beziehungen, in die sich die Menschen, die Gruppen, die Gebilde verflechten, starrt uns allenthalben der Dualismus entgegen, dass das Einzelne ein Ganzes zu sein begehrt und dass seine Zugehörigkeit zum größeren Ganzen ihm nur die Rolle des Gliedes einräumen will. Wir wissen unser Zentrum zugleich außer uns und in uns, denn wir selbst und unser Werk sind bloße Elemente von Ganzheiten, die uns als ar-
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Ernst Troeltsch (Die deutsche Idee von der Freiheit [1916]; zit. nach Dumont 1991: 147) zeigt sich hierzu objektiver. Er meint zum deutschen Rückzug nach innen, dass ihn die Enge der deutschen politischen Verhältnisse bewirkt hat. Aus diesem Grund konzentrierte sich hier die Befreiung des Geistes »wesentlich auf das Innere der Seele, auf die persönliche Freiheit, Lebendigkeit und Tiefe des Gedankens, auf Phantasie und Poesie.«
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beitsteilige Einseitigkeiten fordern – und dabei wollen wir dennoch selber ein Abgerundetes und Auf-sich-selbst-Stehendes sein und ein solches schaffen. Während sich hieraus unzählige Kämpfe und Zerrissenheiten im Sozialen und im Technischen, im Geistigen und im Sittlichen ergeben, schafft die gleiche Form der Natur gegenüber den versöhnten Reichtum der Landschaft, die ein Individuelles, Geschlossenes, In-sich-Befriedigtes ist, und dabei widerspruchslos dem Ganzen der Natur und seiner Einheit verhaftet bleibt. [...] Als ganze Menschen stehen wir vor der Landschaft, der natürlichen wie der kunstgewordenen, und der Akt, der sie für uns schafft, ist unmittelbar ein schauender und ein fühlender, erst in der nachträglichen Reflexion in diese Gesondertheiten zerspaltener.« (Simmel 1957: 142)
Letztendlich bleibt noch die Sphäre der Erotik, hinsichtlich dieser sich Simmel aber verhaltener äußerte als Max Weber. Für Weber (1988a: 555) bedeutet diese, gleich der Kunst, die »Erlösung [...] von dem zunehmenden Druck des theoretischen und praktischen Rationalismus.« Besonders nach seiner Liebesaffäre mit Else Jaffé-Richthofen in seinen späten Lebensjahren (Green 1996: 234f.) galt ihm die Erotik als »Pforte zum irrationalsten und dabei realsten Lebenskern gegenüber den Mächten der Rationalisierung« (Weber 1988a: 558): »Gerade deshalb, weil die erotische Beziehung unter den angegebenen Bedingungen den unüberbietbaren Gipfel der Erfüllung der Liebesforderung: den direkten Durchbruch der Seelen von Mensch zu Mensch, zu gewähren scheint. Allem Sachlichen, Rationalen, Allgemeinen so radikal wie möglich entgegengesetzt, gilt die Grenzenlosigkeit der Hingabe hier dem einzigartigen Sinn, welchen dies Einzelwesen in seiner Irrationalität für dieses und nur dieses andere Einzelwesen hat. Dieser Sinn und damit der Wertgehalt der Beziehung selbst aber liegt, von der Erotik aus gesehen, in der Möglichkeit einer Gemeinschaft, welche als volle Einswerdung, als ein Schwinden des »Du« gefühlt wird und so überwältigend ist, daß sie ›symbolisch‹: – sakramental – gedeutet wird. Gerade darin: in der Unbegründbarkeit und Unausschöpfbarkeit des eigenen, durch kein Mittel kommunikablen, darin dem mystischen ›Haben‹ gleichartigen Erlebnisses, und nicht nur vermöge der Intensität seines Erlebens, sondern der unmittelbar besessenen Realität nach, weiß sich der Liebende in den jedem rationalen Bemühen ewig unzugänglichen Kern des wahrhaft Lebendigen eingepflanzt, den kalten Skeletthänden rationaler Ordnungen ebenso völlig entronnen wie der Stumpfheit des Alltages.« (Ebd. 560f.)6
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Martin Green (1996: 28) meint in seiner psychoanalytisch inspirierten Ideengeschichte, die sich der Rekonstruktion der Biographien der Richthofen Schwestern und der ihnen nahestehenden Intellektuellen und Künstlerpersönlichkeiten widmet, dass sich
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Klages (Rhythmen und Ruinen [1944]; zit. nach Falter 2003: 25f.) hingegen konnte auch in der Erotik keine Fluchttür aus der zerstörerischen instrumentellen Vernunft sehen, da seine große Liebe zu Franziska von Reventlow tragisch verlief und letztendlich scheiterte: »Es gab eine Zeit, da glaubte ich, dass Liebe alles vermöchte [...]. Ich habe erfahren müssen, dass beides eine Täuschung war.« Simmel und Klages vereint indes ihre lebensphilosophische Anschauung. Die Lebensphilosophie7 war stark von der Nietzsche-Rezeption (vgl. Linse 2001: 165ff.) zwischen 1890 und 1914 beeinflusst. Der Begriff ›Leben‹ vereinte Seele, Geist, Natur, Dynamik, Kreativität und galt – ähnlich wie den Romantikern der Naturbegriff – als Kampfparole gegen Materialismus und Positivismus. Bei Nietzsche wurde ›Leben‹ mit schöpferischer dionysischer Kraft identifiziert. Es ist in einer ständigen dynamischen Wandlung begriffen und der bewusste Wille, das Leben selbst zu gestallten, ist der »Wille zur Macht« (Safranski 2003: 333ff.). Nietzsche wurde zum Wegbereiter der Lebensphilosophie, die sich als holistischer Entwurf verstand und sich am Beginn des 20. Jahrhunderts als Gegenbewegung zum dominanten rationalistischen Welt- und Wissenschaftsverständnis positionierte: »Sie ist geprägt durch die Entfremdungserfahrung, durch das Gefühl, dass der Mensch sich in den von ihm konstruierten Welten nicht mehr wieder erkennt. Dadurch entstand das Verlangen, die wissenschaftliche Erfahrung an die Fülle der natürlichen Welterfahrung zurück zu binden.« (Fellmann 1993: 29)
In diesem Zusammenhang charakterisiert Simmel das Leben als Kampf gegen die Form. Gerade seine Zeit würde sich dadurch auszeichnen, dass »auf allen möglichen Gebieten das Leben sich dagegen empört, in irgendwie festen Formen verlaufen zu sollen« (Simmel 1999: 186). In einem kurzen historischen Abriss zeichnet Simmel eine ständige Ablöse alter Formen durch neue nach, bis wir am Beginn des 20. Jahrhunderts »die Gegnerschaft gegen das Prinzip der Form überhaupt heraushören können« (ebd. 189). Dass diese Gegnerschaft ihre Wurzeln eigentlich in der Romantik hat, kann mit Novalis noch einmal verdeutlicht werden, wenn er meint: »Aus der Zeit der stabilen Formen sind wir heraus« (zit. nach Luhmann 2009: 211). Dies bemerkt auch Simmel und trägt dem mit seiner
die Liebeserfahrungen von Max Weber mit Else Richthofen in den Ausführungen zu den Zwischenbetrachtungen in seiner Religionssoziologie widerspiegeln. 7
Neben Simmel und Klages zählen besonders Arthur Schoppenhauer, Wilhelm Dilthey, Henri Bergson, Edmund Husserl, und Friedrich Nietzsche zu den wirkungsvollsten europäischen Lebensphilosophen.
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Unterscheidung zwischen qualitativem und quantitativem Individualismus Rechnung (vgl. S. 25), welcher seinen gesellschaftlich gewichtigen Verbreitungserfolg doch erst um das beginnende 20. Jahrhundert feierte. Auch hier gab wiederum die Kunst den Anstoß, zur Natur als Quelle vorzustoßen. Exemplarisch betrachtet Simmel dazu den Expressionismus, welcher der Lebensreform in vielen Punkten nahesteht8 und den er als Revolte des Lebens gegen externe »Zwänge der Form« charakterisiert. Diese werden als »Hemmungen des Lebens« gedeutet, »das sich aus sich selbst heraus schöpferisch ergießen will« (Simmel 1999: 191). Hier lässt sich an das romantische, von Herders Ausdrucksanthropologie beeinflusste Kunstkonzept anschließen, denn Simmel verweist auch auf die außerhalb des Kunstbetriebs zu beobachtende »Originalitätssucht«. Diese wirkt gemäß des Authentizitätsideals dergestalt, dass wir »das wirklich eigene Leben zur Äußerung [...] bringen, und die Sicherheit, dass es wirklich seine Äußerung ist, scheint nur gegeben, wenn nichts sonst Bestehendes, Überliefertes in sie aufgenommen ist« (ebd. 195). Der moderne Individualismus verzichtet also auf die ausgetretenen Pfade der Tradition und ist bemüht, ganz aus seiner eigenen Natur schöpfend, neue anzulegen, die seinen Lebensweg gestalten. Fügt sich das Leben jedoch in Formen, wird es ein »abgebrochenes, starr gewordenes, unechtes« (ebd. 191). Einer solchen Interpretation ›des Konflikts der modernen Kultur‹ legt Simmel ein dynamische Prinzip des Lebens zugrunde: Es kann sich zwar nur innerhalb fester Formen entwickeln – gerinnen diese jedoch zum »stahlharten Gehäuse« (Weber), werden sie vom Leben wieder aufgebrochen.9 Simmel skizziert dies am Beispiel der Erotik, wobei er seine Ausführungen dazu an der laut werdenden Kritik bestehender Sexualverhältnisse anlehnt, die maß-
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Zwar hatte der Expressionismus mit dem lebensreformerischen Programm der Naturheilkunde, der Siedlungsbewegung, der Reformpädagogik usw. wenig gemein, jedoch lässt sich eine Übereinstimmung im zeitgleichen Nebeneinander der Suche nach zivilisatorisch unverfälschten Ursprüngen feststellen (Walther 2001: 257fff.). An ihren programmatischen Entwürfen ist zwar ein eindeutiges Bekenntnis zur Moderne abzulesen, jedoch verachteten die Lebensreform und der Expressionismus den Materialismus, den Naturalismus und eine damit einhergehende instrumentelle Vernunfthaltung. Es kann als das gemeinsame emanzipatorische Anliegen der beiden Bewegungen betrachtet werden, den Menschen auf eine höhere Kulturstufe zu heben.
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Das ›Leben‹ hat in dieser Konzeption die gleiche Funktion wie die von Victor Turner benannte Communitas. Diese kann auch nur im Rahmen der Struktur entstehen und hat ebenso die Aufgabe, diese in immer wiederkehrenden Phasen zu erneuern. Vgl. hierzu S. 40fff. in dieser Arbeit.
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geblich von dem noch zu erwähnenden Psychoanalytiker Otto Gross beeinflusst war: »Das echte Leben der Erotik fließt in ganz individuellen Kanälen, und die Opposition richtet sich gegen jene Formen, weil sie dieses Leben in allgemeine Schemata einfangen und damit seine jeweilige Besonderheit vergewaltigen. Hier wie in vielen der anderen Fälle ist es der Kampf zwischen Leben und Form, der, weniger abstrakt, weniger metaphysisch, als Kampf zwischen Individualisierung und Verallgemeinerung ausgefochten wird.« (Simmel 1999: 201)
In diesem Prozess liegen dann auch die Spannungen in der Kultur, wie sie in periodisch auftretenden Phasen immer wieder bei »anti-hegemonialen Bewegungen« (Reckwitz 2006: 71f.) zum Ausdruck kommen, die sich als Vertreter des Lebens in Opposition zur starren, den Lebensstrom hemmenden, dominanten Kultur setzen. Eine Analyse solcher Spannungen wird in ganz ähnlicher Manier von Schiller getätigt. In seiner Unterscheidung zwischen »Formtrieb« und »Stofftrieb« spiegelt sich das Verhältnis zwischen Starrheit, Bestimmtheit und dem Verlangen nach Mannigfaltigkeit und individuellem Gehalt. Der Schillersche Konflikt liegt darin, dass diese beiden ambivalenten Prinzipien im Menschen ständig im Streit liegen und die Tragödie ist in der Unerreichbarkeit einer Versöhnung zu sehen: »In der Wirklichkeit wird immer ein Übergewicht des einen Elements über das andere übrig bleiben, und das Höchste, was die Erfahrung leistet, wird in einer Schwankung zwischen beiden Prinzipien bestehen.« (Schiller 2000: 64)
Gerade so wie Simmel kommt demnach Schiller zu dem Schluss, dass in der Geschichte der Kunst, wie auch im Leben des Individuums und der Entwicklung des Menschengeschlechts, beständig Phasen des »unersättlichen Verlangens nach mehr ›Leben‹« und Phasen nach Fesselung desselben in die Ketten dauerhafter Ordnungen einander abwechseln.10 Dass die Romantiker leidenschaftliche
10 Die Parallelen zwischen Schiller und Simmel wurden mir bei der Lektüre von Artur O. Lovejoy: Die große Kette der Wesen (263ff.) bewusst. Erstaunlicherweise nimmt Lovejoy selbst in diesem 1933 veröffentlichten Werk an keiner Stelle auf Simmel Bezug, obwohl sich dazu einige Gelegenheiten bieten würden, zudem Simmel kurz nach dem ersten Weltkrieg in den USA breit rezipiert wurde. So ließe sich beispielsweise an Simmel anknüpfen, wenn Lovejoy den Wandel vom Streben nach Gleichförmigkeit zum Streben nach Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit, den er wesentlich durch die
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Vertreter der Ausdehnung der ersteren Phase waren, sollte an dieser Stelle nicht weiter verwunderlich ist. So beschwört Friedrich Schlegel ([1799] 1984: 454) in ähnlich lebenstrunkener Manier »die innigste, ganz rastlose, beinahe gefräßige Teilnahme an allem Leben, und ein gewisses Gefühl von Heiligkeit verschwenderischer Fülle«, wie sie von den Avantgardebewegungen des frühen 20. Jahrhundert artikuliert worden sind. Gerade so wie diese, kontrastiert er den dionysischen Taumel mit der Versteinerung des bürgerlichen Menschen, der »nicht ohne Mühe und Not zur Maschine gezimmert und gedrechselt« (ebd.) wurde. Resümierend gilt es festzuhalten, dass das ›Leben‹ in dieser philosophischen Tradition nur aus seiner Ganzheit heraus verstanden werden kann. Somit handelt es sich hier um jene Kategorie, durch die der Geist-und-Körper-Dualismus durchbrochen wird (Wiggershaus 2001: 145). Diese Grundprinzipien der Lebensphilosophie wurden auch über das akademische Feld hinaus für die weltanschaulichen Grundlagen der Lebensreformbewegung relevant, die das holistische Pathos beschworen, indem sie sich um ein Gleichgewicht von Körper und Geist, Denken und Fühlen bemühten. Zudem geht es im Zeichen des Lebens »gegen das Tote und Erstarrte, gegen eine intellektualistische, lebensfeindlich gewordene Zivilisation, gegen in Konventionen gefesselte, lebensfremde Bildung, für ein neues Lebensgefühl, um ›echte Erlebnisse‹, überhaupt um das ›Echte‹: um Dynamik, Kreativität, Unmittelbarkeit, Jugend« (Schnädelbach: Philosophie in Deutschland [1983]; zit. nach: Joas 1996: 174). Damit gaben Lebensphilosophie und Lebensreformbewegung vergleichbare Antworten auf ein und dasselbe geistige und gesellschaftliche Dilemma, in das sich die Moderne seit ihrer Geburt immer wieder verstrickt. Neben dem Einfluss kulturphilosophischer Intellektueller auf die Lebensreformbewegung kommen auch entscheidende Impulse von Seiten der Psychoanalyse. Hier ist es besonders der österreichische Psychoanalytiker und Kulturrevolutionär Otto Gross, in dessen Schriften lebensphilosophische Ideen – besonders wie jene von Simmel über die Erotik – mit einer Psychoanalyse der Befreiung zusammenfallen.
Romantik initiiert sah, analysiert. Simmel hat hierzu, wie oben erwähnt, die Unterscheidung zwischen qualitativem und quantitativem Individualismus gebraucht.
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3.2 P SYCHOLOGISCHE I DEEN
DER
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»Die Psychologie des Unbewussten ist die Philosophie der Revolution.« OTTO GROSS: ZUR ÜBERWINDUNG DER KULTURELLEN KRISE
Als Geburtsstunde der Psychoanalyse gilt Sigmund Freuds Traumdeutung aus dem Jahre 1900. Ihr reformerisches Anliegen bestand darin, eine logische Beschreibung der psychischen Ereignisse zu liefern, damit der Mensch für sich selbst, wie auch für andere verständlicher und berechenbarer werde. Eine zentrale Leistung Freuds liegt in der Beschreibung konflikthafter Zusammenhänge zwischen Bewusstem (Ich) und Unbewusstem (Es). Die Erforschung der Nachtseiten des Bewusstseins war ja schon ein Anliegen der romantischen Naturphilosophie, die sich der Theorie und Praxis des Mesmerismus bediente, um einen Schlüssel zu den verschlossenen Pforten der Seele zu bekommen. Obwohl also das Unterbewusste als Freuds wichtigste Entdeckung gilt, kann diese nicht von ihm allein in Anspruch genommen werden. Wohl aber die Formulierung einer wissenschaftlichen Systematik zur Erforschung dessen, was »Nietzsche in verliebter Verzückung ›Leben‹, Bergson dynamisch-heiter ›élan-vital‹ [und] Freud in kühler Distanz ›Es‹ [nannte]« (L. Marcuse: Sigmund Freud; zit. nach Sabin 2001: 118). Freuds reformatorisches Bestreben ging jedoch weit über die Ziele der romantischen Beschäftigung mit den unbewussten Seelenvorgängen hinaus. Als Wissenschaftler ging es ihm um eine vollständige Durchleuchtung und damit Entzauberung des Innenlebens. Die Menschen sollten verstehen, warum sie sich so verhalten, so empfinden, so denken, wie sie es eben tun. Das psychoanalytische Programm sah eine Stärkung des Ich vor, wodurch sich die unbändigen und chaotischen Energien, die beständig aus dem Es sprudeln, beherrschen lassen. Mit diesem Anliegen ging sie mit einer, seit der Aufklärung bestehenden, bürgerlichen Forderung nach der Herrschaft des Bewusstseins über das Unbewusste d’accord. Damit ist auch ein Grund für den Verbreitungserfolg der Psychoanalyse benannt, die von weiten Teilen der Öffentlichkeit deshalb akzeptiert wurde, weil sie sich mit »den kulturell bedingten Ansichten über wünschenswerte Eigenschaften und Fähigkeiten von Personen« (Kirschner: The Religious and Romantic Origins of Psychoanalysis [1996]; zit. nach Illouz 2009: 76) kompatibel zeigte. Besonders mit einer Erhöhung des »gewöhnlichen Lebens« (Taylor) konnte Freud punkten. Diese vollzog sich zum einen in der Sphäre der Reproduktion. Hier wurde der familiäre häusliche Bereich ›auratisiert‹, indem er zu ei-
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ner primären Quelle der Ausbildung des Selbst avancierte. Zum anderen sollte das Selbst aber auch in und für die Sphäre der Produktion gestärkt werden. Freud (Über Psychoanalyse [1910]; zit. nach ebd. 87) zieht hier eine kausale Verbindung zwischen emotionaler Gesundheit und einem Erfolgsideal, wie es für die neoliberale Ideologie charakteristisch ist: »Der energische und erfolgreiche Mensch ist der, dem es gelingt, durch Arbeit seine Wunschphantasien in Realität umzusetzen.« Gleich dem Puritaner, der seinen Gnadenstatus am innerweltlichen Erfolg ablesen konnte, ist dem modernen Mensch nach der psychoanalytischen Wende gesellschaftlicher Erfolg ein Garant für seine emotionale Gesundheit – oder umgekehrt: Misserfolg im Beruf verweist auf Mängel im psychischen Korsett. Daneben steckte aber auch ein revolutionär-romantisches Potential im psychoanalytischen Projekt, das von den kulturellen Protestbewegungen immer wieder aufgegriffen wurde. Zum einen ist es romantisch zu nennen, da es, wie Wilhelm Schmid feststellt, »um die ›Seele‹ geht, um ›das Andere‹ im Subjekt, um das innere Erleben und das wahre Selbst, das tief im Inneren verborgen ist« (Schmid 2007: 45). Das »ozeanische Gefühl« und die romantische Ganzheitlichkeit als tiefe Verbundenheit von Mensch und Natur finden hier ihre Synthese. Zum anderen ist es auch revolutionär, da, ähnlich dem Mesmerismus ungefähr 100 Jahre zuvor, die Psychoanalyse die Befreiung von inneren Zensuren und zivilisatorischen Zwängen versprach, die sich der Mensch und eine Gesellschaft aufbürdet. Besonders Freuds Ideen zur sexuellen Befreiung, nach denen er jedem Menschen das Recht nach sexueller Erfüllung zuspricht (Illouz 2009: 91), wurden von Teilen der Lebensreformbewegung zustimmend aufgegriffen. Ergiebiger hierzu sind jedoch die Ansichten des Freudschülers Otto Gross, der mit seinen kreativen psychoanalytischen Beiträgen sowohl beim Bürgertum wie auch beim medizinischen und psychoanalytischen Establishment aneckte, weswegen ihm wohl auch eine breitere Rezeption verwehrt blieb. Zentrale Themen seiner psychoanalytischen Bestrebungen waren die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, die patriarchale Gesellschaft, die sozialen Ungerechtigkeiten sowie gesellschaftliche Probleme der Ausgrenzung (Hurwitz 2001: 148). Er widmete sich in radikal gesellschaftskritischen Tönen unter anderem auch jenen »Degenerierten« und unbrauchbaren Subjekten, die ihr Gefühlsleben nicht unter Kontrolle hatten und den Belastungen des gewöhnlichen Lebens nicht gewachsen waren (an diesen Anforderungen sollte Gross letztendlich selbst scheitern). Anders als Freud ging es Gross nicht um die Beherrschung und Stärkung des Ich, sondern um befreiendes Ausleben der inneren Seelenzustände. Er wollte eine allgemeine Revolution der Gesellschaft, und die Psychoanalyse sollte das Mittel sein, um dieser zu ihrem Siegeszug zu verhelfen. Da sie nämlich gel-
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tende Konventionen – wie Rechtsnormen, bürgerliche Gepflogenheiten, autoritäre und patriarchale Muster – als Ausdruck einer infantilen, masochistischen Anpassungsleistung entlarvt11, setzt sie jene psychischen Energien frei, die zur Ausbildung eines revolutionären Bewusstseins beitragen könnten: Die Psychologie des Unbewussten scheint deshalb berufen, im neuen Unterricht als souveräner Lehrstoff die zentrale Stellung im geisteswissenschaftlichen Unterricht einzunehmen, und zum Substrat der funktionellen Geistesschulung zu werden, als Grundstoff einer Bildung, die als Befähigung zur Teilhaftigkeit an der Kultur zu definieren sein wird. Zugleich bedeutet der Unterricht in der Psychologie des Unbewussten als Übermittlung von Inhalten die Einführung in den Geist der Revolution. (Gross: Von geschlechtlicher Not zur sozialen Katastrophe; zit. nach Sabin 2001: 119)
Die Revolution, die Gross vorschwebte, war nach lebensreformerischen Prinzipien gestaltet. Sie bezog ihre Kraft aus der Ablehnung kapitalistischer und bürgerlicher Verhältnisse und forderte den »neuen Menschen« durch individuelle, innere Erneuerung. Zuallererst muss sich der Mensch selbst befreien, wodurch sich dann eine Reform der Gesellschaft einstellen würde. Einen wichtigen Schritt in diese Richtung sah Gross in der Befreiung der Frau aus bürgerlichen Zwängen, wobei er sich von den Ideen Bachofens fasziniert zeigte. »Die kommende Revolution ist eine Revolution fürs Mutterrecht«
11 Gross sieht in der »Vereinsamung des Kindes« den »eigentlichen Ursprung aller neurotischen Angst«. Als Strategie, diese zu vermeiden, nimmt die infantile Sexualität die Unterwerfung auf sich, um dadurch Kontakt mit der Umgebung zu erlangen. Das Bedürfnis des Kindes nach Liebe und Zuwendung wird also in der elterlichen Erziehung mit masochistischem Zwang zur Unterwerfung vermischt. Als konflikthaft betrachtet Gross nun den Gegensatz zwischen dem Bedürfnis nach Liebe und Zuwendung, das nur über Anpassung zu erlangen ist, und dem Bedürfnis nach »individualitätsgemäßem Sein«, also der Bewahrung der eigenen Persönlichkeit (ebd. 151). Dieser »innere Konflikt des Eigenen und Fremden« mündet letztendlich in eine innere Zerrissenheit, dem Leiden an sich selbst (Gross). Die Gesellschaft mit ihren verknöcherten Institutionen, restriktiven Normen und Anpassungszwängen bringt diese beiden Triebe, die »zunächst harmonisch koordiniert sein müssen« (Gross) in ein Ungleichgewicht, da sie lediglich die infantile Unterwerfung fordert. Eine Heilung von dem krankmachenden Konflikt versprach sich Gross durch »Annullierung der Erziehungsresultate zugunsten einer individuellen Selbstregulierung«. Vor allem wollte er die Menschen zu »Sexualimmoralisten« machen, welche die bürgerlichen Vorstellungen einer patriarchalen Sexualität – und damit einer Quelle der Unterwerfung – unterminieren würden.
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(Gross: Zur Überwindung der kulturellen Krise [1913]; zit. nach: Heuer 2003: 42)12, schrieb er 1913 und trug damit dazu bei, dass Bachofens Theorien in den Feminismusdiskurs der Zeit eingingen. Gross’ Ansichten über die Rolle der Frau wurden besonders von der radikalen Frauenbewegung aufgegriffen. Diese forderten eine Revolution der Geschlechterverhältnisse, wobei sie für die freie Ehe eintraten und sich dabei an dem oben skizzierten frühromantischen Liebesideal orientierten. Gegenseitige Achtung und Gleichberechtigung, im Kontrast zu patriarchaler Dominanz, sollte durch eine Verbindung von erotischer Liebe und Freundschaft gelingen. Getragen waren solche Ideen auch von bekannten intellektuellen Frauen um die Jahrhundertwende in Deutschland wie auch in der Schweiz. Margarethe Hardegger war eine von diesen besonders engagierten Frauen, die sich in den Dienst für die Menschenwürde und die Verbesserung der Lebensumstände der Frauen stellten. Die Ehe wird, gemäß den romantischen Forderungen nach reinen Liebesbeziehungen, als »ein altes, den Nützlichkeitsund Räuberinstinkten des Mannes zuliebe geschaffenes Gewohnheitsrecht« angegriffen. Denn »die heutige Frau braucht keine Ehe mehr. Sie kann für sich selbst sorgen« (Bochsler: Das kämpferische Leben der Margarethe Hardegger; zit. nach Voswinckel 2009: 61). Mit ähnlicher Vehemenz vertritt Ida Hofmann die Frauenemanzipation. Als eine der Gründerinnen des Monte Verità setzte auch sie sich für die freie Ehe ein und versuchte den Frauen Selbstvertrauen einzuflößen: »Empfindet Euren Eigenwert, bleibt nicht Herdengeschöpfe, ein Spielball des Mannes, der Familie, der Mode, der öffentlichen Meinung und so genannten Sittlichkeit, bleibt nicht Puppen, sondern werdet Menschen.« (Hofmann: Beiträge zur Frauenfrage [1915]; zit. nach Schwab 2003: 85)
Hofmanns Aufruf an die Frauen ist mit der Rousseau’schen Losung »Zurück zur Natur« zu vergleichen. Auch Rousseau fordert uns auf, in Übereinstimmung mit unserer inneren Stimme zu leben und uns nicht von Konventionen, Traditionen oder Autoritäten abhängig machen zu lassen (vgl. S. 67). Freiheit durch Selbstbestimmung hatte er für die Frauen jedoch noch nicht im Sinn, die er im Geschlechtsakt als Unterlegene betrachtete und aufgrund ihrer Gebärfähigkeit zu moralischer Sittlichkeit verpflichtet sah. Eine solche Ausdehnung der Selbstbe-
12 Zum Einfluss Johann Jakob Bachofens auf die Gegenkultur der 68er, der über die literarische Rezeption durch Hesse und besonders Walters wirksam wurde vgl. Lubich 1998: 14-29.
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stimmung auf das weibliche Geschlecht passierte, wie wir sahen, punktuell in der Romantik und zog am Beginn des 20. Jahrhunderts weitere Kreise. Neben diesen politisch engagierten Frauen, die auch publizistisch tätig waren, um ihre Forderungen zu verbreiten, gab es auch weniger politisch aktive, die jedoch die kursierenden Ideen zur Ehe- und Liebesreform umstandslos in die Lebenspraxis integrierten. Die bekannteste unter den »erotisch vagabundierenden Frauen« war die schon erwähnte Franziska von Reventlow. Als hervorragende Vertreterin der »matriarchalen Rebellion« praktizierte sie die freie Liebe, das heißt das Ausleben erotischer Gefühle ohne Verbindlichkeiten (worunter nicht wenige ihrer Liebhaber – darunter auch Klages – zu leiden hatten) und forderte das Recht der Frau auf ein undiskriminiertes Sexualleben (Stopczyk 2001: 128).13 Mit diesen emanzipatorischen Forderungen stellten sich die Frauen gegen eine hegemoniale Kultur, in der Vorstellungen wie jene von der »Kapseltheorie« kursierten. Diese von einer überaus erfolgreichen Autorin der Zeit vorgetragene Behauptung geht davon aus, dass »das Weib [...] seelisch und psychologisch eine Kapsel über einer Leere [ist], die erst der Mann kommen muss zu füllen« (Marholm: Das Buch der Frauen [1895]; zit. nach Stopczyk 2001: 130). Da jene Frauen wohl kaum auf eine politische Revolution hoffen konnten, versuchten sie eben das eigene Leben radikal nach ihren Idealen umzugestalten. Für den Reformansatz der Selbstbefreiung, worunter auch die Befreiung der weiblichen Sexualität fällt, lieferte Gross hier viele Impulse. Überhaupt galt Gross als der geniale psychoanalytische Theoretiker der Bohème, da er sich in romantischer Manier für die Freisetzung des Authentizitäts- und Expressivitätsideals einsetzte. Der Begriff Authentizität impliziert, wie Taylor (1995: 79) bemerkt, selbst eine Freiheitsvorstellung. Das eigene ›wahre‹ Selbst wird zur Richtschnur des richtigen Handelns, das man besonders gegen den Druck äußerer Konformitäten durchzusetzen hat. Die Entdeckung dieses Selbst, als echten unverwechselbaren Wesenskern, der sich wie bei einer Zwiebel unter zahlreichen Schichten verbirgt, gehörte ja schon zum Programm der Romantik. Am Beginn des 20. Jahrhunderts setzt nun die Psychoanalyse diese Aufgabe fort. Das authentische Leben sieht Gross in der autoritätsfreien und repressionslosen Gesellschaft verwirklicht, in der die Menschen von allen einengenden und individualitätshemmenden Beziehungen befreit sind (Hurwitz 1979: 114). Kein Wunder, dass solche Ideen bei der Schwabinger Bohème, die den dionysischen Taumel und die radikale Andersartigkeit zelebrierten, auf fruchtbaren Boden fielen.
13 Über die »matriarchale Rebellion«, zu deren wichtigsten Vertretern Gross und Reventlow gehörten, vgl. Faber 2003: 140-155.
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Freud hingegen war das radikale Ansinnen seines Schülers suspekt. Er wollte die Psychoanalyse nicht in den Dienst einer gesellschaftlichen Revolution gestellt wissen, da ihm dadurch der Verbreitungserfolg gefährdet schien: »Wir sind Ärzte und Ärzte wollen wir bleiben!« (ebd. 85). Damit grenzte sich Freud klar von Otto Gross ab. Aber auch das psychoanalytische Programm selbst baute auf gänzlich unterschiedlichen Prämissen auf. Während es Freud darum ging, mit Hilfe der Psychoanalyse das seelische Leid zu beheben, damit die Wirklichkeit ertragen werden kann, wollte Gross »die Menschen glücklich [...] machen und das Leid aus der Welt [...] schaffen« (Von geschlechtlicher Not zur sozialen Katastrophe; zit. nach Sabin 2001: 120). Die Welt verändern, um die Bedingungen für Glück zu gewährleisten – damit lieferte Gross entscheidende Anregungen für das utopische Weltbild einer Lebensreform, die das zwischenmenschliche Zusammenleben auf eine neue Basis zu stellen versuchte. Gross selbst blieb dieses Glück letztlich verwehrt. Sein Leben war geprägt vom Kampf gegen seinen Vater, den berühmten Grazer Kriminalistik-Professor Hans Gross. Zu diesem hatte er zeitlebens eine hasserfüllte Beziehung, aus der er wohl die Kraft zu seinen radikalen Ideen schöpfte. Diese bezog er aber auch aus seiner Kokain- und Morphiumsucht, die ihn letztlich dazu bewog, sich einer Entziehungskur zu unterziehen – jedoch ohne Erfolg. Wegen seines ausschweifenden Lebenswandels, zusammen mit dem Vorwurf, Gross hätte Beihilfe zum Selbstmord geleistet, kam es zum Eklat. Sein Vater ließ ihn in Berlin als gefährlichen Anarchisten verhaften. Er wurde nach Österreich ausgewiesen, als wahnsinnig erklärt, von seinem Vater entmündigt und in die Nervenheilanstalt Tulln bei Wien interniert. Nach einigen Prozessen, die Gross gegen seine Entmündigung anstrengte und die auf ihn zukamen, da sein Vater das Sorgerecht für seinen Enkel beanspruchte (wobei er die Fürsprache von zahlreichen Intellektuellen u.a. auch von Max Weber erhielt), wird er 1920 halb erfroren und verhungert in einem Berliner Lagerhaus aufgefunden. Kurz darauf stirbt er an den Folgen (Green 1996; Hurwitz 1979). Dieser kurze biographische Abriss ist im Kontext der Ausführungen zur Lebensreformbewegung deshalb interessant, da sich hier im mikrosoziologischen Maßstab ein Konfliktfeld eröffnet, dass sich auf gesellschaftlicher Ebene fortsetzt. Es ist dies der von Simmel benannte Konflikt zwischen Leben und Form, der sich hier im Kampf des Sohnes gegen »die Gesetze des Vaters« auftut und sich in der Gesellschaft als jugendliche Revolte gegen die greise bürgerliche Kultur fortsetzt. Obwohl Gross’ Ideen schnell versickerten, lassen sich doch Rezeptionslinien ausmachen, wie beispielsweise zu Wilhelm Reich, der mit seinem Buch Die sexuelle Revolution (1945) die Sexualmoral seiner Zeit und die daraus resultierenden schädlichen Folgen kritisierte. So resümiert Martin Green (1994: 94), dass
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»Wilhelm Reichs Orgasmus- und Charaktertheorie und seine Theorie der Charakteranalyse [...] Ideen dar[stellen], deren Äquivalenten wir bereits bei Otto Gross begegnen [...] In den sechziger Jahren wurden seine Ideen durch Paul Goodman, Norman Mailer und Susan Sontag sozusagen amerikanisiert. In gewisser Hinsicht hat also auch Otto Gross bis in unsere Zeiten überlebt.«
3.3 R ELIGIÖSE , OKKULTE UND SPIRITUELLE I DEEN DER L EBENSREFORM »Unsere Seele, die nach der langen materialistischen Periode erst am Anfang des Erwachens ist, birgt in sich Keime der Verzweiflung, des Nichtglaubens, des Ziel- und Zwecklosen. Der ganze Alpdruck der materialistischen Anschauungen, welche aus dem Leben des Weltalls ein böses zweckloses Spiel gemacht haben, ist noch nicht vorbei.« WASSILY KANDINSKY: DAS GEISTIGE IN DER KUNST
Die romantisch inspirierten, zivilisationskritischen Analysen der Intellektuellen in Deutschland und die Erkenntnisse, welche die Psychoanalyse beizutragen vermochte, lieferten wichtige Ideen, die der Forderung der Lebensreformer nach einer natürlichen, möglichst authentischen und unverfälschten Lebensweise, stärkere Konturen verliehen. Es gibt jedoch auch noch eine andere wichtige Quelle, aus der sich die lebensreformerische Weltanschauung speist: Diese ist in der Religion und Esoterik zu finden. In einer Zeit, für die Max Weber die »Entzauberung der Welt« konstatierte, ließ sich – ähnlich der geschilderten Situation um 1800 – ein Verlust an traditionellen christlichen Glaubensgewissheiten bzw. -praktiken festhalten. Damit verschwand jedoch nicht jede religiöse Bindung spurlos – im Gegenteil: So wie sich die Genese und Attraktion kultureller Bewegungen wie Romantik und Lebensreform aus Phasen der Zäsur im Modernisierungsprozess erschließen lässt, ist gerade auch in diesen Phasen eine Renaissance des Religiösen zu bemerken. Man könnte sagen »Ein neuer Mensch braucht eine neue Religion«; und so setzte auf breiter Front ein Formwandel ein, mit dem das Entstehen vielfältiger religiöser Praktiken außerhalb institutionalisierter Frömmigkeit verbunden war – ein Prozess der bis heute anhält. Ernst Troeltsch (1977: 967), der sich eingehend mit der Frage nach der Religion in der
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modernen Welt auseinander gesetzt hat, zeigt sich hier als scharfer Beobachter der Verflüchtigung traditioneller Kirchlichkeit: »Der radikale Individualismus wird vermutlich bald ein Zwischenakt sein zwischen einer alten und einer neuen Kultur der Gebundenheit. Er ist die Zerlegung eines alten Hauses in seine einzelnen Steine, aus denen dann wieder ein neues aufgebaut wird. Wie das neue Haus aussehen wird und welche Möglichkeiten es der Entfaltung der christlichen Ethik und der christlichen Sozialphilosophie bringen wird, weiß heute noch niemand. Aber sie wird sich mit anderen Bauherrn zu teilen haben und gleich diesen an die Besonderheiten des Bodens und Materials gebunden sein.«
Die Religion in der Moderne ist dadurch charakterisiert, dass der Monopolcharakter der institutionalisierten christlichen Religionen verloren geht, und sich plötzlich viele »Bauherrn« an der Konstruktion des mentalen Gepräges von Menschen beteiligen. Dabei erlangt, wie schon bei der romantischen Religiosität festgestellt wurde, der Typus der Mystik eine immer wichtigere Bedeutung. Ihre undogmatische, synkretistische, unmittelbare und erlebnisorientierte Praxis ist mit Ansprüchen nach individueller Selbstverwirklichung und Authentizität kompatibel. Ähnlich den Trägerschichten der Lebensreform ist die Mystik ein Asyl für die Religiosität wissenschaftlich und höher gebildeter Schichten. Simmel (1999: 201) schließt sich hier Troeltschs Ausführung an, wenn er zum Wandel der religiösen Landschaft schreibt: »Eine Stimmung innerhalb der gegenwärtigen Religiosität fordert, wie mir scheint, die ganz entsprechende Deutung. Ich knüpfe diese an die seit ein oder zwei Jahrzehnten beobachtete Tatsache, daß nicht wenige geistig vorgeschrittene Persönlichkeiten ihre religiösen Bedürfnisse mit der Mystik befriedigen.«
Die Bedeutung der Mystik vor allem für die »gebildeten Verächter der Religion« (Schleiermacher) ist also auf dem Hintergrund einer Schwächung der Tradition zu sehen, die, wie sich Peter Berger ausdrückt, zu einer neuen Hinwendung in Richtung Erfahrung führen muss (Berger: 1980: 47; Taylor: 2002a: 98). Im religiösen Wandel vollzieht sich also ebenso der, von Simmel (1999: 201) besonders für seine Zeit als charakteristisch erachtete Kampf zwischen Leben und Form, der »als Kampf zwischen Individualisierung und Verallgemeinerung ausgefochten wird.« Gerade die Mystik als lebendiger religiöser Impuls wird daher zur »letzte[n] Zuflucht der religiösen Naturen [...], die sich noch nicht von jeder transzendenten Formung lösen können, sondern – sozusagen vorläufig – nur von jeder bestimmten, inhaltlich festgelegten« (ebd. 202).
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Hier werden nun religiöse Praktiken attraktiv, die aus expressivistischen Glaubenssystemen stammen und diesem Bedürfnis nach religiösem »Leben« Rechnung tragen. Der ›Stil des Religiösen‹ war also auch für viele Lebensreformer einer, der »aus keinem Buche gelernt, in keiner Fakultät oder Schule studiert, sondern aus dem Quell des eigenen Lebens geschöpft und aus der Tiefe des eigenen Gemütes geboren ist« (Kalthoff: Die Religion der Moderne [1905]; zit. nach Ulbricht 2001: 189). Außerdem scheint auch der Rückzug aus der Trivialität der Alltagswelt in die Innerlichkeit die Suche nach einem adäquaten religiösen Ausdruck zu fördern, der den Menschen aus der Entfremdung erlösen soll: »[Die Mystik] ist geboren aus einem erwachsenden Widerspruch des Gemüts gegen den Gesamtgeist gerade unserer Zeit, nämlich gegen einen öden Materialismus einerseits, gegen eine einseitige Verstandes- (Intellektualismus) oder Willensreligion andererseits.« (Kippenberg 1998: 30)
Eine Gesellschaft, die der instrumentellen Vernunft anhängt und einem »öden Materialismus« huldigt, gibt demnach den Anlass dazu, sich in jene Sphären zu retten, wo man noch selbstbestimmt und authentisch sein Innerstes zu verwirklichen glaubt. Die Ausführungen des belgischen Schriftstellers Maurice Maeterlinck (1965: 13) in Das Erwachen der Seele geben eine treffende Epochenzeichnung des ausgehenden 19. Jahrhunderts, aus der sich die romantische Geisteshaltung der Lebensreformbewegung und ihre Affinität zu religiösen Praktiken erklärt: »Man könnte sagen, dass wir uns einer geistigen Epoche nähern. Es gibt in der Geschichte eine gewisse Zahl solcher Perioden, in denen die Seele, unbekannten Gesetzen zufolge, gleichsam an der Oberfläche der Menschheit auftaucht und ihr Dasein und ihre Macht unmittelbarer kund gibt. Dies Dasein und diese Macht offenbaren sich auf tausenderlei unerwartete und verschiedene Weisen. Die Menschheit ist, wie es scheint, in diesen Zeitläufen im Begriff gewesen, die lastende Bürde der Materie ein wenig aufzuheben. Es herrscht da eine Art geistige Erleichterung, und die starrsten und unbeugsamsten Naturgesetze geben hier und da nach. Die Menschen sind sich selbst und ihren Brüdern näher; sie sehen einander an und lieben einander viel ernstlicher und inniger. Sie verstehen zarter und tiefer das Kind, das Weib, die Tiere, die Pflanzen und die Dinge.«
Die Lebensreform zeigte sich also mit jenen alternativen Weltbildern kompatibel, welche das Seelische höher betonten als die Wertschätzung für das Materielle. Besonders die Aufnahme okkulter und spiritueller Lehren aus der Theosophie
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war für die Lebensreform eine wichtige Quelle, da sich ihre antimaterialistischen und antimechanischen Konzepte gut ergänzten. Die Theosophie war, wie viele der in Deutschland neu entstehenden religiösen Gemeinschaften, ein angloamerikanischer Import.14 Die Pionierin der theosophischen Bewegung war die charismatische Helena Blavatsky (1831-1891). Sie faszinierte viele Intellektuelle der Zeit, was nicht nur am Inhalt ihres Opus magnum Isis Unveiled (1877) gelegen haben dürfte, sondern auch an ihrem exzentrischen Äußeren: ihr glutäugiger Blick, »ihre massige Figur, ihre tiefen, kummervollen Augen, ihr Kettenrauchen, ihr krauses Haar und ihre Phantasiekleider« (Blom 2009: 238) wirkten auf ihre Zeitgenossen wohl sehr eindrucksvoll. Sie erweiterte den okkulten und spiritistischen Schwerpunkt der Theosophie – der eine seiner Quelle, wie wir sahen, im Mesmerismus und Somnambulismus hat – um das esoterische Wissen ägyptischer, hermetischer und rosenkreuzerischer Traditionen. 1878 gründete sie zusammen mit ihrem Partner Colonel Henry Steel Olcott ihr offizielles Hauptquartier in Bombay, das 1882 nach Madras umsiedelte, wo es sich auch heute noch befindet (Bax 1995: 35f.).15 Mit ihrem Aufenthalt in Indien und ihrer Konversion zum Buddhismus wurde das theosophische Weltbild in synkretistischer Manier sowohl durch buddhistische als auch hinduistische Lehren ergänzt. Besonders die Konzepte der Reinkarnation und des Karmas – das Gesetz von Ursache und Wirkung – ziehen sich seither als wichtige Konstanten durch ihr vielschichtiges Ideengebäude. Die Grundvorstellung der Theosophie beruht dabei, wie jene vieler anderer okkulter und esoterischer Strömungen, auf einer Idee der spirituellen Vervollkommnung. Ziel der Praktiken wie Meditation und Yoga ist es, gleich einer alchemistischen Transmutation das menschliche Wesen zu veredeln16 und es da-
14 In England wucherten esoterische, okkulte und spiritistische Gemeinschaften. So gab es 1914 in Großbritannien 320 spiritistische Gemeinschaften, die sich durch die Krisen des ersten Weltkriegs und die Weltwirtschaftskrise der 30er-Jahre weiteren Zulaufs erfreuen konnten (Nelson: Spiritualism and Society [1961]; zit. nach Webb 2008: 50. 15 Die Geschichte der Theosophischen Gesellschaft begann, wie Olcott schildert, mit einer kleinen Flamme am 17. September 1874 in einem amerikanischen Örtchen namens Chittenden, wo er und Blavatsky spiritistische Phänomene untersuchten: »Es war eine sehr prosaische Begebenheit: Ich sagte: ›Permettez-moi, Madame‹, und gab ihr Feuer für ihre Zigarette; unser Kennenlernen begann im Rauch, aber es rief eine bleibende Flamme hervor« (ebd. 32). 16 Dass dies auch schon ein romantisches Anliegen war, geht aus dem oben erwähnten Märchen Der goldene Topf von E.T.A. Hofmann hervor.
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durch auf eine höhere Stufe der spirituellen Entwicklung zu heben. Der neue Mensch schüttelt die Fessel des Materialismus ab und wendet seine Aufmerksamkeit spirituellen Realitäten zu, wie z.B. der Erkenntnis seines Astralleibs, dem gegenüber der physischen Körperlichkeit eine überzeitliche Existenz zukommt. Letztendlich geht die theosophische Soteriologie davon aus, dass die ganze Menschheit die göttliche Stufe erreichen wird und so in ihrem eigentlichen Ursprung aufgeht (ebd. 33). Bei der Verwirklichung dieses Zieles ist es dem Theosophen völlig freigestellt, welchen Erlösungsweg er beschreitet, da die Theosophen einen gemeinsamen allgemeingültigen Kern hinter allen Religionen und Lebensphilosophien annehmen. Daraus erklärt sich auch der synkretistische Zug der Theosophie. Dieser kann wohl als ein Merkmal herausgehoben werden, das ihre Anziehungskraft ausmachte – war die Einladung zum individuellen Sinnbasteln doch schon in der Authentizitätskultur der Jahrhundertwende populär. Eine derart zur Wahl stehende religiöse Praxis der Zeit, die ein Bestandteil der Lebensreform wurde, war Mazdaznan. Vom zoroastrischen Glauben abgeleitet, stellt sie eine Mischung aus theosophischer Lehre, vegetarischer Ernährung und aus dem Yoga entlehnter Meditations- und Atemübungen dar. Mit dem Ziel individueller Selbstentfaltung und Selbsterlösung entsprach sie den Ansprüchen jener, die auf der Suche nach alternativen Lebensentwürfen einer spirituellreligiösen Orientierung bedurften.17 Die Mazdaznan Bewegung mit ihrer Zentrale in Kalifornien und einigen Ablegern in Deutschland hat sich bis heute erhalten.18 Mit dem lebensreformerischen Anliegen der selbsterlösenden Vervoll-
17 Die verschlungenen Wege moderner Sinnsuche beschreibt Hermann Hesse ([1932] 1982: 16-20) allegorisch mit einer rätselhaften Pilgerfahrt, die von Mitgliedern einer Geheimgesellschaft unternommen wird, deren Begründer keine geringeren als Zoroaster, Lao Tse, Platon, Albert Magnus, Don Quixote, Novalis usw. waren. Die geschilderte romantische Spielschar, die Hesse hier in Die Morgenlandfahrt beschreibt, verachtet eine »von Geld, Zahl und Zeit betörte Welt«, die »das Leben seines Inhaltes entleeren« und wendet sich dem Müßiggang, der Magie, rauschenden Festen und dem »Durcheinanderwerfen von Leben und Dichtung« zu. 18 Mazdaznan bedeutet »Meistergedanke«. Als religiöse Bewegung wurde sie von dem angeblich in Teheran geborenen Otoman Zar-Adusht Ha’nish (1844-1936) ins Leben gerufen. Das erste Mazdaznan-Zentrum wurde 1899 in Chicago gegründet, worauf 1917 jenes in Los Angeles folgte. 1906 erreichte Ha’nishs Auftrag eine Organisation in Deutschland aufzubauen den südkalifornischen Obstbauer David Ammann. Dieser richtete die erste Zarathustra-Gesellschaft in Leipzig ein, der weitere folgten (Linse 2005: 775).
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kommnung durch Weiterentwicklung von Körper und Geist entspricht sie jenen weltanschaulichen Grundlagen, die ab den 1980er Jahren unter dem Begriff »New-Age« firmieren werden. Die religiösen Weltanschauungen, die um das beginnende 20. Jahrhundert in die Lebensreformbewegung integriert wurden, opponierten nicht nur gegen einen übermäßigen Materialismus, sondern auch gegen die dominante Wissenschaftsauffassung. Diese sei, so die stellvertretende Meinung Blavatskys, einfach zu beschränkt, um die eigentliche Realität einer geistigen Welt zu erkennen. Attraktiv waren demnach Deutungen, welche jene, die von den etablierten Wissenschaften vorgeschlagen wurden, unterliefen. Dabei darf man diese Formen neuer Religiosität nicht so verstehen, dass sie die Wissenschaft generell ablehnten, denn dies entsprach durchaus nicht den Bedürfnissen der Zeit. Kritisch beäugt wurde lediglich die postulierte unumstößliche Gültigkeit einer positivistischen Wissenschaftsauffassung. So versuchten sich selbst die skurrilsten Entwürfe, vom Neopaganismus bis hin zum Spiritismus, in ein wissenschaftliches Kleid zu hüllen – wie die ersten deutschen Buddhisten um den Beginn des 20. Jahrhunderts, die mit dem Anspruch auftraten, eine Religion mit rationalen Glaubensinhalten zu sein (Ulbricht 2001: 188). Selbst die Theosophie verstand sich als empirische Wissenschaft, wenngleich als eine, die auf anderen Prämissen aufbaute als die etablierte: »Wie im Laboratorium des Physikers sollte der Geist für den theosophischen ›Geisteswissenschaftler‹ in seinen Manifestationen ›objektiv‹ – ein theosophisches Lieblingsprädikat – greifbar werden. Historisch war dieser Empirieanspruch eine Metamorphose der spiritistischen Verheißung, in Séancen Wesen aus dem ›Geisterland‹ materialisieren zu lassen. Die theosophische ›Geisteswissenschaft‹ folgte der Logik des Experiments, kleidete sich aber in den hermeneutischen Anspruch der Interpretation.« (Zander 2001: 433)
So behauptet Blavatsky in der Abhandlung Isis Unveiled, es gäbe einen Äther, den sie mit dem Astrallicht oder der Weltseele gleichsetzte und diskutiert ihn im Rahmen neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse. Überhaupt zeigt sich Die entschleierte Isis als umfangreiches Kompendium, in dem neue wissenschaftliche Ergebnisse auf ihren Zusammenhang mit magisch-okkultem oder esoterischem Wissen geprüft werden. So sei zwar der Äther im theosophischen Verständnis »die himmlische Jungfrau, die geistige Mutter jeder bestehenden Form des Lebens und jedes Wesens, aus deren Schoß, sobald vom göttlichen Geist ›erbrütet‹, Stoff und Leben, Kraft und Tätigkeit ins Dasein gerufen werden«; auf die aktuelle Physik verweisend bemerkt sie aber auch, dass »Elektrizität, Magnetismus, Wärme, Licht und chemische Vorgänge [...] selbst jetzt noch so wenig verstan-
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den [werden], wo doch beständig neue Tatsachen den Bereich unserer Kenntnis erweitern. Wer weiß, wo die Macht dieses proteusartigen Riesen [d.h. des Äthers] endet?« (Blavatsky: Die entschleierte Isis [1877]; zit. nach Henderson 1995: 16). Auch die florierenden spiritistischen und okkultistischen Vorstellungen lehnten keineswegs eine wissenschaftliche Interpretation übersinnlicher Phänomene ab. Im Gegenteil – sie suchten sogar nach einem geeigneten wissenschaftlichen Interpretationsrahmen. Auf diesem Hintergrund entstanden zahlreiche Gesellschaften und Gruppierungen, die sich der wissenschaftlichen Erforschung des Okkulten widmeten. Besonders Mesmers Fluidum-Theorie und seine Experimente mit dem Somnambulismus kamen in diesen Kreisen wieder in Mode. Hier entwickelte sich München durch das Wirken des Philosophen und Okkultisten Carl du Prel zum Zentrum der deutschen Okkultismusforschung. Seine Auffassung von Wissenschaft und Okkultismus kann als paradigmatisch für die vielfältigen religiösen Strömungen der Zeit gesehen werden: »Der Occultismus ist nur unbekannte Naturwissenschaft. Er wird bewiesen werden durch die Naturwissenschaft der Zukunft« (Prel: Der Spiritismus [1893]; zit. nach Bauer 1995: 60). Du Prel war ein gründlicher Kenner des animalischen Magnetismus. Im Somnambulismus und im Spiritismus sah er »die Erfahrungsgrundlage für die ›transcendental-psychologische Funktion‹ des Menschen und für die Identität der denkenden und organisierenden Seele« (ebd. 72). Er baute 1886 die Münchner Psychologische Gesellschaft auf, in deren Umkreis auch die stark von theosophischen Gedanken beeinflusste Zeitschrift Sphinx gegründet wurde. Mit seiner Annerkennung des Unbewussten, das in Träumen, in somnambulen Zuständen oder beim Hellsehen und in telephatischen Übertragungen zum Vorschein kommt, steht er in der Tradition der romantischen Naturphilosophie. Der Anspruch auf wissenschaftliche Erklärung übernatürlicher Phänomene deckt sich 19 mit dem Mesmers und machte ihn zum Vorläufer der Parapsychologie. Das in seiner Ausstrahlung auf die gesellschaftliche Praxis der Gegenkultur in Deutschland bedeutendste Reformkonzept war die Anthroposophie. Rudolf Steiner, der zunächst ein Mitglied der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft war, bemühte sich um einen umfangreichen ganzheitlichen Blick
19 Du Prel gründete auch die Gesellschaft für Experimentalpsychologie, sowie später die Gesellschaft für wissenschaftliche Psychologie (diese bestand sogar bis 1941, ehe sie dem Verbot durch den Nationalsozialismus zum Opfer viel). Zu ihren Aufgaben gehörte »die Erforschung jener Erscheinungen des menschlichen Seelenlebens [...], die man in der Vergangenheit als ›mystische, magische oder okkulte‹ bezeichnet hatte« (ebd. 73f.).
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auf Mensch und Kosmos, Geist und Materie, sowie auf Kunst, Wissenschaft und Religion. Wiederum erkennen wir ein zentrales romantisches Anliegen, das auch in Steiners Kritik an der Einseitigkeit der Naturwissenschaften zum Ausdruck kommt. Dabei war er seinem Selbstverständnis nach Wissenschaftler und die Anthroposophie ein System wissenschaftlicher Erkenntnis. Steiner zeichnete sich durch jenes Charisma aus, das nach Weber (2002: 654) in Form von als »übernatürlich (im Sinne von: nicht jedermann zugänglich) gedachter Gaben des Körpers und Geistes« in Erscheinung tritt. Er war ein äußerst gewandter Redner und versetzte seine Zeitgenossen mit seinem ungeheurem Wissen in Erstaunen. In theosophischen Kreisen erlangte er schnell durch seine Vortragszyklen zu Nietzsche, Goethes geheime Offenbarungen und über die Mystik des Mittelalters Berühmtheit. In Berlin, München, Helsinki und Prag wurden Steiners Veranstaltungen zum Kulturereignis, dem Franz Kafka, Wassily Kandinsky, Gustav Meyrink, Albert Einstein, Kurt Tucholsky und Rosa Luxemburg beiwohnten (Kugler 2001: 113). Steiners außergewöhnliches Ideengebäude zielte in seinem Kern auf einen Holismus ab, der die Trennung von Esoterischem und Exoterischem aufheben sollte. »Der Laboratoriumstisch wird zum Altar werden müssen« (Steiner: 20 Vortrag [1918]; zit. nach Kugler 1995: 47) , lautete seine Forderung, die auf eine Verbindung zwischen Esoterik und Wissenschaft genauso abzielt, wie ganz allgemein auf eine »Sakramentalisierung des Alltags«. Religion und Kunst haben hier die Aufgabe, dem Menschen die Beseeltheit der Dinge vor Augen zu führen: »Dies sollte unser Ideal sein, Formen zu schaffen, als Ausdruck des inneren Lebens. Denn einer Zeit, die keine Formen schauen und schauend schaffen kann, muss notwendigerweise der Geist zum wesenlosen Abstraktum sich verflüchtigen, und die Wirklichkeit muss sich diesem bloß abstrakten Geist als geistlose Stoffaggregation gegenüberstellen. Sind die Menschen imstande, wirkliche Formen zu verstehen, z.B. die Geburt des Seelischen aus dem Wolkenäther der Sixtinischen Madonna: Dann gibt es bald für sie keine geistlose Materie mehr. – Und weil man größeren Menschenmassen gegenüber Formen vergeistigt doch nur durch das Medium der Religion zeigen kann, so muss die Arbeit nach der Zukunft dahin gehen: Religiösen Geist in sinnlich-schöner Form zu gestalten.« (Steiner: Bilder okkulter Siegel und Säulen [1907]; zit. nach Kugler 1995: 52)
20 Zum Verhältnis zwischen Theosophie/Anthroposophie und der Avantgarde, die ja nach Peter Bürger eine Auflösung von Kunst in die Lebenspraxis anstrebte, vgl. Beyme 2005: 280f.
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Die Anthroposophie, die ja gleich der Theosophie von einem Weisheitskern hinter allen Religionen ausgeht, soll den Menschen wieder mit dem Geistigen in der Welt vertraut machen. Erst dann kann es vermittels der Kunst – wie sie Steiner im Goetheanumbau in Dornach zum Ausdruck brachte – gelingen, den Menschen wieder mit der Quelle seines Seins in Verbindung zu bringen. Vielleicht hat Steiner, der behauptete, er hätte sein spirituelles Empfindungsvermögen durch die Lektüre Schillers geschult, auch Novalis (2004: 725) gelesen: »Ich weis nicht, warum man immer von einer abgesonderten Menschheit spricht. Gehören Tiere, Pflanzen und Steine, Gestirne und Lüfte nicht auch zur Menschheit und ist sie nicht ein bloßer Nervenknoten, in dem unendlich verschieden laufende Fäden sich kreuzen. [...] Ist sie denn so sehr anders als die übrigen Naturgeschlechter?«
Steiner befasste sich umfassend mit der Entwicklung und den Defiziten des modernen Menschen, weshalb er auch Fragen nach sozialer Gerechtigkeit nicht aussparte. In seinem Aufsatz Die Geisteswissenschaft und die soziale Frage (1905) stellt er fest, dass jeder, der sich (wirtschaftliche) Vorteile auf Kosten anderer zu verschaffen versucht, ein Ausbeuter ist. Zudem ist es ihm ein Anliegen, die im kapitalistischen Wirtschaftssystem geheiligte Verknüpfung von Arbeit und Einkommen aufzulösen – eine Forderung, die aktuell im Rahmen der Grundeinkommensdebatte immer wieder gestellt wird. Auch hier kommt abermals die Religion ins Spiel, denn: »Die soziale Frage wird erst in ihrer vollen Tiefe ergriffen werden, wenn sie als eine sittliche, als eine religiöse Frage erfaßt wird. Aber sie wird keine sittliche, religiöse Frage werden, ehe nicht die sittliche und religiöse Frage eine Angelegenheit der spirituellen Erkenntnis wird.« (Kugler 1997: 11)
Mit derartigen Ideen zu sozialen Problemlagen konnte sich die Theosophische Gesellschaft wenig identifizieren, weshalb sie von Steiner als »weltfremd« bezeichnet wurde. Zusammen mit anderen Unstimmigkeiten – wie der von Steiner abgelehnten Ernennung des Hindujungen Krishnamurti zum »Weltenlehrer« – kam es letztlich zu seinem Ausschluss aus der Theosophischen- und 1912 zur Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft (Zander 2001: 434). War die spirituelle Erkenntnis eine Frage der Selbsterlösung in verschiedensten Stufen der Reinkarnation, so konnte man den Weg zu einem spirituellen Lebensstil nach und nach in verschiedenen Einrichtungen beschreiten, die vor allem nach dem ersten Weltkrieg den Weg in die gesellschaftliche Praxis fanden. Eine adäquate Erziehung wurde von den Waldorfschulen (1919) angeboten,
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ganzheitliche Behandlungen versprach die anthroposophische Medizin, einschließlich der produzierten Arzneimittel (Weleda seit 1920), und eine gesunde Ernährung garantierten die Demeter-Produkte aus biologisch-dynamischer Landwirtschaft (1924) (ebd. 435). Den eigentlichen Siegeszug trat die Anthroposophie nach dem Nationalsozialismus in Deutschland und Österreich an. Während die Theosophie, besonders im deutschsprachigen Raum, nicht im gleichen Ausmaß an die Bedürfnisse der Menschen anknüpfen konnte und somit zu einem Randphänomen wurde, gelang es der Anthroposophie eine Vielfalt an Lebensbereichen abzudecken. Durch ihre außerordentlich gute Organisation waren ihre Ideen nicht nur Wegbereiter für das, ab den 60er-Jahren wachsende alternative und esoterische Milieu, sondern diffundierten letztlich auch in die Alltagskultur. Doch auch trotz der Marginalisierung der Theosophie gelangten viele ihrer Grundüberzeugungen in das Weltbild des New-Age. Beispielsweise ist sie zusammen mit der Anthroposophie als wichtiger Vermittler des Reinkarnationsgedankens zu betrachten, der, aus dem indischen Kontext entlehnt, an westliche Fragestellungen angepasst wurde (Bochinger 1995: 285).21 Die um die Jahrhundertwende auftauchenden alternativen Weltdeutungen werden zusammen mit der Lebensreformbewegung gerne als reaktionär und antimodernistisch interpretiert. Dabei muss jedoch beachtet werden, dass die Eigenwahrnehmung mit dem Signum der Fortschrittsfeindlichkeit nicht d’accord geht. So stellt Barlösius (1997: 19) für die Lebensreformer fest, dass diese ihre Ideen und Vorstellungen gerade deshalb als modern empfunden haben, da sie der Meinung waren, diese würden in die Zukunft weisen. Dasselbe trifft auf die neuen religiösen Bewegungen zu, deren Weltbilder und Praktiken vielfach aus der Lebensreform entnommen wurden. Der neue Mensch zeichnet sich demnach durch ein höheres Bewusstsein aus: Geläutert durch eine natürliche Lebensweise, welche Kontemplation, Naturemphase und Spiritualität als wichtige Güter anerkennt, entkommt er den Fallstricken des ungehemmten zivilisatorischen Fortschritts. Auch sind ihm die Heilserwartungen, die an die Wissenschaft herangetragen werden, suspekt. Hierzu beobachtet Weber (1988b: 597) schon bei der jungen Generation eine tiefe Skepsis: »›Die Wissenschaft als der Weg zur Natur‹ – das würde der Jugend klingen wie eine Blasphemie. Nein, umgekehrt: Erlösung vom Intellektualismus der Wissenschaft, um zur eigenen Natur und damit zur Natur überhaupt zurückzukommen!«
21 Zur Funktion des Reinkarnationskonzepts zur sinnhaften Deutung spiritueller Biographien im New-Age Milieu vgl. Stenger 1993: 195f.; Höllinger/Tripold 2012.
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Was hier zum Ausdruck kommt ist die romantische Hinwendung zur Quelle der Natur. Diese zeigt sich, wie wir sahen, im Aufspüren der schöpferischen Potentiale des Menschen und seinen Bestrebungen nach expressiver Selbstverwirklichung. Neben diesem modernen expressiven Individualisierungskonzept, dass sich auf die innere Natur bezieht, steht der Zugang zur äußeren Natur. Ein solcher sei nach Klages durch die Dominanz der instrumentellen Vernunft und eines hemmungslosen Fortschritts blockiert. Klages’, auf den ersten Blick antimodern erscheinendes Plädoyer für die Natur, liest sich vielmehr als »kritische Auseinandersetzung mit den Kehrseiten der Industrialisierung«, die zum »Kern einer neuen, reflexiven Moderne« (Radkau 2001: 57) gehören. Die Umweltbewegung, die sich in der Lebensreform andeutete, sowie eine ausdifferenzierte religiöse Landschaft, die einen synkretistischen Umgang mit alternativen religiösen Vorstellungen erlaubt, sind Phänomene, die für industriell hochentwickelte Gesellschaften charakteristisch sind. Mit ihren innovativen Lösungsangeboten zu den Spannungen der Moderne, die durchaus auch wissenschaftliche Erkenntnisse und technische Errungenschaften berücksichtigen, können sie wohl kaum als reaktionär begriffen werden. Resümierend kann man mit Hofmannsthal (Gabriele d'Annunzio [1893]; zit. nach: Scheuer 2001: 110) den Zeitgeist festhalten: »Heute scheinen zwei Dinge modern zu sein: die Analyse des Lebens und die Flucht aus dem Leben [...]. Man treibt Anatomie des eigenen Seelenlebens, oder man träumt. Reflexion oder Phantasie, Spiegelbild oder Traumwelt. Modern sind alte Möbel und junge Nervosität. Modern ist das psychologische Graswachsenhören und das Plätschern der reinphantastischen Wunderwelt. Modern ist Paul Bourget und Buddha; das Zuschneiden von Atomen und das Ballspielen mit dem All; modern ist die Zergliederung einer Laune, eines Seufzers, eines Skrupels; und modern ist die instinktmäßige fast somnambule Hingabe an jede Offenbarung des Schönen, an einen Farbenakkord, eine funkelnde Metapher, eine wundervolle Allegorie.«
All diese, als ›modern‹ titulierten Erscheinungen, lassen sich in der Lebensreformbewegung aufspüren. Hier kreisen sie um den »neuen Menschen«, der sich unter Zuhilfenahme von spirituellen oder religiösen Kräften selbst reformiert. Die Konzeption vom neuen Menschen ist jedoch keine Zukunftsmusik, die erst in unbestimmten, noch nicht zu erahnenden Phasen der Menschheitsgeschichte ertönen wird. Die Praxis einer radikalen innerlichen Umkehr aus einem falschen und daher als entfremdet gedeuteten Leben in ein neues sinnerfülltes Dasein ist gegenwärtig zu erreichen. Eine solche Vorstellung ist uns postmodernen Zeitgenossen völlig abhanden gekommen. Um die Wende ins 20. Jahrhundert fanden
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diese lebensreformerischen Ideen jedoch an einem Ort ihren Kulminationspunkt, der als »Monte Verità« geradezu mythische Berühmtheit erlangte. Auf diesem »Berg der Wahrheit« im Schweizer Tessin – unweit von Dornach, wo sich auf einem Hügel das Goetheanum als Sitz der Anthroposophen erhebt – versammelten sich Philosophen, Künstler, Anarchisten, Okkultisten und Spiritisten, Vegetarier und manch anderer Weltverbesserer oder Müßiggänger. Hier versuchte sich das Leben gegen die Form zu behaupten – es war ein romantischer Ort.
3.4 K ULMINATIONSORT M ONTE V ERITÀ »Wir streben nach dem Paradies der Erden; wir wollen die Unnatur verbannen, wollen ein völlig Gott geweihtes Leben führen. [...] Die unmenschlichen Rohheiten, die Entartung der heutigen Gesellschaft sind von uns erkannt und verbannt worden. [...] In der Gemeinschaft, welche wir gründen, soll ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‹ das einzige Gesetz sein.« GUSTO GRÄSER: BRIEF AN SEINE MUTTER (3. JUNI 1898)
Im Jahre 1900 traf sich in München, das zusammen mit dem Stadtteil Schwabingen bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges ein Zentrum der Bohème war22, eine Gruppe von fünf zivilisationsmüden Personen. Da waren Ida Hofmann, Tochter eines Bergbauingenieurs aus Sachsen, die als ausgebildete Pianistin sich weigerte, öffentlich aufzutreten und über der Scheinheiligkeit bürgerlicher Moralvorstellungen sowie den trügerischen Verheißungen des Materialismus gemütskrank wurde. In der Naturheilkundeanstalt in Veldes lernte sie den Sohn einer steinreichen belgischen Industriellenfamilie, Henri Oedenkoven, kennen. Dieser schwelgte in seinen Jugendjahren im gedankenlosen Hedonismus und lebte ein unbeschwertes Dasein. Eine schwere Krankheit wurde jedoch zum
22 Für einen zwar literarischen, aber gar nicht weit von der Realität entfernten Blick auf die Künstlerszene in Schwabingen, siehe den Roman von Franziska von Reventlow (1969): Herrn Dames Aufzeichnungen. Hier wird das Szeneviertel als »Wahnmoching« beschrieben: »[Es] ist eine geistige Bewegung, ein Niveau, eine Richtung, ein Protest, ein neuer Kult oder vielmehr der Versuch, aus uralten Kulten wieder neue religiöse Möglichkeiten zu gewinnen« (ebd. 36).
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Schlüsselerlebnis, das ihn seinen bis dato unhinterfragten Lebensstil überdenken ließ. Schlussendlich kam er zu der Conclusio: Ein solches Leben sei sinnlos, abgeschmackt und leer – überformt von zivilisatorischen Errungenschaften, die ein nur scheinbares Glück versprechen. Doch mit dieser Erkenntnis war weder eine Heilung seiner Krankheit verbunden, noch schien ihm eine Alternative zum Status Quo einzufallen. Dies änderte sich durch die von einem Leipziger Naturheilkundigen herbeigeführte Genesung. Von nun an war klar: eine naturgemäße Lebensführung samt vegetarischer Ernährung ist der Schlüssel zur Heilung individueller und – darin liegt die Brisanz seiner Reformidee – gesellschaftlicher Krankheiten. Solche Ideen führten sogleich zu utopistischen Vorstellungen nach einer Gemeinschaft, die als Vorbild für ein neues Leben – ja gar als Ausgangspunkt für die Umgestaltung der Welt dienen sollte. Dieses Vorhaben zog schnell weitere Freiheitshungrige an, wie den ehemaligen Oberstleutnant der österreichischen Armee Karl Gräser, der sich zum Anarchisten wandelte und Geldbesitz als Sünde brandmarkte, sowie seinen jüngeren, durch sein Äußeres auffallenden Bruder Gusto Gräser. Von ihm zeichnet Ida Hofmann (Monte Verità [1906]; zit. nach Voswinckel 2009: 15) folgendes Bild: »Nicht unkünstlich umhüllt eine lange härene Tunika über Kniehosen die hohe Gestalt eines 22jährigen Burschen. Langes straffes Haar ist durch ein ledernes Diadem von dem sehr regelmäßigen Gesicht zurückgehalten. Bloßfüßig oder mit Sandalen an den Füssen schreitet er dahin, ein Täschchen mit dichterischen Ergüssen umgegürtet, einen Hirtenstab in der Hand. Kinder knien vor ihm nieder, denn sie meinen, der Heiland erschiene ihnen.«
Zu guter Letzt gesellte sich noch Lotte Hattemer zu der illustren Runde – eine exzentrische Bürgermeisterstochter, die aus den beengenden bürgerlichfamiliären Verhältnissen ausbrach, in die Theosophie flüchtete und voll jugendlichem Übermut den Schritt zu einem abenteuerlichen gesellschaftlichen Experiment wagte. Alle zusammen beseelte, wie Ida Hofmann (zit. nach Schwab 2003: 73) retrospektiv bemerkte »ein gleiches Verlangen nach Verlassen der veralteten gesellschaftlichen Ordnung, besser Unordnung zum Zwecke des persönlicheren Lebens und persönlicherer Lebensführung – nach Freiheit.« Aus diesen Darstellungen zur Motivlage der fünf, den Sprung ins Ungewisse zu wagen, ertönt die übliche romantische Kritik gegen die Gesellschaft. Demnach wurde diese nicht zuletzt deshalb als reformbedürftig erachtetet, weil sie empathische Beziehungen und das individuelle Recht auf Selbstverwirklichung verhindere. Darüber hinaus beließ man es aber nicht bei bloßer Kritik. Die Protagonisten waren zutiefst davon überzeugt, an den bestehenden Verhältnissen etwas verändern zu können. Gemäß dem lebensreformerischen Motto ›Gesell-
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schaftsreform beginnt bei der Selbstreform‹ begann man »aus der Welt der Gemeinheit, der Convenienz, der ungesunden Compliciertheit [zu entfliehen] und mitzuhelfen an einer grossen Zukunft und neuen Epoche« (zit. nach Graevenitz 1980: 90). Eine ideologische Communitas sollte entstehen. Für die Realisierung eines solchen Experiments, das auch Hofmanns Ideen zur Frauenemanzipation in Rechnung stellte, kam demgemäß nur ein radikaler Neuanfang in Frage, denn »innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Organisationen, die jede individuelle Regung im Menschen ersticken und seine Kraft und natürlichen Anlagen in den Dienst der Machtbesitzenden zwingen, ist eine freie Entwicklung nach Befreiung strebender Menschen undenkbar. Auf neuem Boden, auf neu zu erwerbenden Grunde soll das Unternehmen entstehen, dessen Gründung ich mir mit allen zu Gebote stehenden Mitteln schon seit mehreren Jahren gesteckt habe.« (Hofmann: Memoiren; zit. nach Landmann 2009: 15f.)
Auch wollte man nicht an bestehende alternative Gemeinschaften anknüpfen, wie beispielweise an die von Karl Wilhelm Diefenbach gegründete Landkommune Humanitas. Diese, sich ganz den Praktiken der Lebensreform verschreibende Gemeinschaft, fand man am Himmelhof bei Wien. Rund 25 Männer und Frauen huldigten dort zusammen mit ihrem charismatischen Führer dem Nudismus, der vegetarischen Ernährung, dem Gemeinbesitz sowie der Naturfrömmigkeit und Spiritualität. Auch Gusto Gräser gehörte zeitweilig dazu, verwarf sich jedoch mit Diefenbach, der zwar ebenso wegen seines Äußeren mit Jesus verglichen wurde, aber als Guru seiner Kommune einen autokratischen Führungsstil pflegte (Müller 2001: 321f.).23 Mann musste also woanders nach dem Paradies suchen. Dieses sollte, was Paradiese so an sich haben, im Süden zu finden sein. Bei ihrer Wanderung – zunächst an den Comer See – musste die Gruppe entlang ihres Weges einiges an Aufsehen erregt haben, galten doch bloße Füße, bestenfalls in Sandalen gesteckt, nackte Waden, luftige Reformkleider und langes, wild wachsendes Haar in der damaligen Gesellschaft nicht gerade als schicklich. Nach längerem Umhersuchen fand die Irrfahrt in Ascona am Lago Maggiore endlich ihr Ende. Der nordische Gegenwind, der ihnen in Form von Misstrauen und Unmut aufgrund ihrer äußeren Erscheinung in den deutschen Landen noch
23 Diefenbachs Kommune war keine lange Lebensdauer beschieden. Besonders das zur Schau stellen von Nacktheit überschritt die Schamgrenzen der Obrigkeit und führte zu mehreren Prozessen. Zu den wichtigsten Schülern Diefenbachs, der selbst Maler war, gehörte Hugo Höppener, der unter dem von seinem Meister erhaltenen Namen Fidus (der Getreue) bekannt wurde.
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entgegenwehte, ließ nach. In Ascona wurde daraus gar eine südliche Brise des Wohlwollens, worauf Oedenkoven begeistert berichtet: »Hier findet man Menschen, auch langhaarige – vegetarische Pensionen usw.« (Hofmann: Monte Verità; zit. nach Voswinckel 2009: 17). Bald darauf wurde auch ein passendes, zwar recht karges und verwildertes, aber fantastisch gelegenes Grundstück auf dem La Monescia gefunden, der, kurzerhand in Monte Verità umbenannt, schnell begann eine geradezu magnetische Anziehungskraft zu entfalten. Man ging sogleich daran, den karstigen Boden mit Gemüse und Obstbäumen zu bepflanzen und Wohnhäuser zu bauen, um den von Oedenkoven und Hofmann angestrebten Sanatoriumsbetrieb zu ermöglichen. Dabei blieben Konflikte nicht aus. Wie bei den meisten Kommunen resultierten die Spannungen aus der Kluft, die zwischen Ansprüchen nach individueller Selbstverwirklichung und dem Aufgeben dieser zugunsten gemeinschaftlicher Anliegen, entstand. Zum Streit kam es immer wieder über die ungleich erbrachte Arbeitsleistung, wobei Gusto Gräser, gemäß seiner müßiggängerischen Natur, am wenigsten Beitrug. Zudem ging es aber um eine Grundsatzdiskussion. Zwar lag dem Kern dieser Auseinandersetzung dasselbe lebensreformerische Anliegen zu Grunde, nämlich den Menschen aus seinen degenerierten Lebensumständen zu führen, jedoch wurde hitzig über den einzuschlagenden Weg disputiert. So war Oedenkovens Vision, wie Ida Hofmann (Memoiren; zit. nach Landmann: 2009: 17f.) berichtet, die Gründung einer Naturheilanstalt: »Sein Gedanke ist, mit Zuhilfenahme von Kapitalien als augenblicklich größtem Machtmittel, dem Kapitalismus mit allen seinen sozialen Folgeübeln entgegenzutreten. Späteren Geschlechtern ist es vorbehalten, denselben gleichzeitig mit Steigerung aller allgemeinen Sittlichkeit ganz zu bekämpfen. Henris vorläufiges Unternehmen gipfelt in der Gründung einer Naturheilanstalt für solche Menschen, die in Befolgung einfacher und natürlicher Lebensweise entweder vorübergehend Erholung oder durch dauernden Aufenthalt Genesung finden und sich in Wort und Tat seinen Ideen, seinem Wirken anschließen wollen. Hieraus erwächst aufgrund der Einnahmen und Anschluss Gleichgesinnter mit eventueller finanzieller Beteiligung eine oder mehrere Ansiedelungen mit allgemeinem Bodenbesitz, jedoch gesondertem persönlichem Eigentumsrecht, welches durch das individuelle Bedürfnis danach und durch die möglichst selbständige Herstellung der Lebensmittel und Gebrauchsartikel jedes Einzelnen begründet ist. Späthin folgen die Anlagen von Mühlen, Weberein, Fabriken aller Art auf hygienischer Grundlage zur Betätigung der individuellen Fähigkeiten und Wünsche, nicht jedoch zur bloßen Kapitalsanhäufung oder zur Entfaltung von Luxus; [...]. Häuslichen und körperlichen Bedürfnissen soll mit Meidung jedes Luxus in dem Maße Rechnung getragen werden, als jeder Einzelne sich den ihm wünschenswerten Komfort durch eigene Hände Arbeit schaffen mag. Die Ausbeutung des Unbemittelten
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von seitens des Bemittelten zur Befriedung seiner übertriebenen, ungesunden und luxuriösen Ansprüche fällt hierdurch von selbst weg.«
Der Kern dieser einfachen und natürlichen Lebensweise war der »Vegetabilismus« – ein Verzicht auf jegliche Produkte, die auch nur annähernd mit Tierischem in Kontakt gekommenen waren.24 Hermann Hesse (1980: 144), karikiert in der Erzählung Doktor Knölges Ende (1910) eine sektiererische Vegetariergruppe. Für Hesse dürften hier wohl die ›Vegetabilisten‹ auf dem Monte Verità, wo er sich 1907 einer Alkoholentziehungskur unterzog, Pate gestanden haben. Doktor Knölge, ein gutmütiger Gemischtkostler, gerät in eine seltsame Kolonie in Kleinasien. Hier legt er sich mit einem Vegetabilisten (im Roman »Frugivoren« genannt) an, dessen »Daumen und großen Zehen [...] in einer wunderbaren Rückbildung begriffen [waren] und sein ganzes Wesen und Leben stellte die beharrlichste und gelungenste Rückkehr zur Natur vor, die man sich denken konnte.« Da dieses Wesen gänzlich eins mit der Natur zu sein scheint, wurden ihm göttliche Ehren zu Teil. Letztendlich wird der Doktor vom »Bruder Jonas« oder »Gorilla« genannten Ernährungsfundamentalisten wegen seines inkonsequenten Vegetarismus, der nicht auf strikter Ablehnung von Milch, Brot oder Reis basiert, erdrosselt. Oedenkoven und Hofmann selbst wehrten sich stets gegen eine Bezeichnung als ›Naturmenschen‹. Für Menschen, die »im Sinne des Fortschritts voranstreben«, sei eine solche »entschieden unrichtig« (zit. nach Schwab 2003: 76). Zudem bauten sie in ihrer Vision auf Errungenschaften modernster Technik, welche die Mühsal der Arbeit erträglich machen sollte:
24 Eine solche vegane Ernährungsweise wurde durch den Verzicht auf allerlei Genussmittel wie Alkohol, Tee, Kaffee, Kochsalz, Tabak usw. vervollständigt. Rohe Früchte und Gemüsesorten würden den Menschen mit genügend Mineralstoffen und Vitaminen versorgen, sodass letztlich sogar das Trinken als überflüssig betrachtet wurde. Durch eine solche »energetische Ernährung« – ein Begriff den Bircher-Brenner prägte – ließe sich nicht nur die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit steigern, sondern eben auch die moralische Gesundung einer Gesellschaft. Mit ihrem Anliegen, die Fleischfresser zu bekehren, traten Oedenkoven und Hofmann mit missionarischem Eifer auf, der geradezu sektiererische Züge trug. Dabei bedienten sie sich auch der Argumente, die aktuell im Zusammenhang mit dem Verzicht auf Fleisch und dem individuellen ›ökologischen Fußabdruck‹ vorgetragen werden –, ist der Fleischkonsum doch mit einem ungleich höheren Energieaufwand verbunden. Zur Zusammenfassung des Vegetarismus als Erlösungslehre vgl. Schwab 2003: 78-83.
246 | D IE K ONTINUITÄT ROMANTISCHER I DEEN »Da Oedenkoven das Leben nicht reduzieren, sondern veredeln wollte, war es einer seiner Hauptpunkte, alle Errungenschaften der Technik an dem Werk mithelfen zu lassen. Eine grandiose Ablösung der Zivilisation durch wahre Kultur schwebte ihm vor. Wasser- und Elektrizitätsanlagen waren geplant, und tatsächlich waren die Siedler die ersten im Ort, die elektrisches Licht anlegen liessen.« (Landmann 2009: 55)
Die herausragende Technik zur Veredelung der menschlichen Lebensweise wurde jedoch – trotz allerlei Verunglimpfungen – der Vegetabilismus. An eine solche Ernährungsweise knüpften sich allerlei Heilserwartungen, die an die asketische Lehre der stufenweisen Selbstvervollkommnung von Leo Tolstoi anknüpften. Tolstoi galt aus zweierlei Gründen als Vorbild für die Lebensreformer: Zum einen wegen des Bruchs mit seinem Leben in der russischen Oberschicht, das er als erstarrt in Konventionalitäten, Künstlichkeiten und instrumentellen Orientierungen entlarvte. Tolstois biographischer Umorientierungsprozess wurde durch eine tiefe Krise des Zivilisationsüberdrusses ausgelöst. Nach und nach stabilisierte sich jedoch seine heterogene Persönlichkeit, die letztendlich ihr Gleichgewicht in einer Besinnung auf eine natürliche Lebensweise und Spiritualität fand. Einen solchen heilsamen Wandlungsprozess erfuhren auch zahlreiche Lebensreformer und – wie wir sahen – besonders die Gründer des Monte Verità. Tolstoi erfüllte hier also nicht nur insofern eine Vorbildfunktion, als sein Lebenswandel paradigmatisch für die Anliegen der Lebensreform gelten konnte, sondern auch weil er die Konsequenz hatte, sein Leben tatsächlich zu ändern. William James (2003: 206), der Tolstois Bekehrung zur natürlichen Lebensweise als Beispiel der Transformation eines gespaltenen Selbst in die Vereinigung des Selbst auf eine höhere Einheit betrachtet, meint dazu: »Und obwohl die meisten von uns nicht in der Lage sind, es Tolstoi nachzutun, weil wir wahrscheinlich nicht genug ursprüngliche menschliche Lebenskraft in den Knochen haben, dürften doch die meisten von uns spüren, dass es gar nicht schlecht wäre, wenn wir es könnten.«
Außerdem galt Tolstois Leben in radikaler Askese als beispielhaft. Als Rousseau des 19. Jahrhunderts stilisiert, lehrte er die Enthaltsamkeit als erste Stufe zu einem guten Leben. Seine radikale Abstinenz und sein Fleischverzicht sollten auf »eine evolutionäre Veränderung der Lebensumstände« abzielen (Hanke 2001: 27). Bei Oedenkoven und Hofmann fließen Tolstois Ideen über asketische Praktiken in ihr revolutionäres Ernährungskonzept ein. Dieses blieb aber gerade nicht nur auf den Bereich der gesunden Ernährung beschränkt. Menschen, die sich lediglich aus Gründen des individuellen Wohlbefindens auf fleischlose Kost be-
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schränkten, wurden verächtlich als »Magenvegetarier« bezeichnet. Der »neue Mensch« lässt sich hingegen als »ethischer Vegetarier« bezeichnen. Die mit einer solchen Werthaltung – der Abkehr vom Fleischkonsum und der Achtung alles Lebendigen – verknüpfte Idee, lag im festen Glauben an eine zu verwirklichende moralisch vollkommene Gesellschaft, die von den drückenden Problemen der Zeit befreit sei. Diese Heilserwartung kommt in der Formel: »Vegetabilismus (auf Deutsch Pflanzenkost) heisst das erlösende Wort der Gegenwart« deutlich zum Ausdruck (Hofmann: Vegetabilismus! Vegetarismus! [1905]; zit. nach Schwab 2003: 78). Solche Utopien waren für die an kommunistischen Idealen geschulten Gräser-Brüder geradezu paradox. Sie verfolgten nämlich ganz andere. Die von Oedenkoven gerechtfertigte »Zuhilfenahme von Kapitalien«, auf dass sich allerlei technische Errungenschaften installieren ließen, und eine Verschiebung der Bekämpfung des Kapitalismus auf irgendwelche »späteren Geschlechter«, stieß vor allem Karl Gräser sauer auf. Seine Vision war eine kommunistische Siedlung ohne Privateigentum nach dem Vorbild des französischen Sozialisten Charles Fourier. Fourier zeichnete eine Gesellschaft, die aus utopischen Gemeinschaften – Phalanstère genannt – besteht, und die jeweils genau 1620 Menschen beinhalten sollen. Diese Einheit gewähre die größtmögliche soziale Sicherheit und individuelle Freiheit für beiderlei Geschlechter. Gräser war von dieser Idee derart fasziniert, dass er für den Monte Verità eine solche Phalanstère im Auge hatte (Schwab 2003: 93). Völlig autark und frei von der Geldwirtschaft sowie von technischen Errungenschaften sollte sie eine Insel der Seeligen inmitten des verderblichen kapitalistischen Wirtschaftssystems sein. Damit tat sich jedoch der unüberbrückbare Konflikt auf, der zur Spaltung der Gruppe führen und der Naturheilanstalt auf genossenschaftlicher Basis ein Ende bereiten sollte. Betrachtete Gräser die Einführung modernster technischer Hilfsmittel, um die Last der Arbeit zu vermindern als unnatürlich, so konnte Hofmann die Verwendung von Zugtieren aufgrund seines radikalen Vegetarismus ethisch nicht vertreten – hier25 zu zählte sogar Gräsers Esel. Letztendlich entschied das Geld. Oedenkoven, der aufgrund seines wohlhabenden familiären Hintergrunds am meisten zum Kauf des Landes beigesteuert hatte, zahlte Gräser seinen ursprünglich einge-
25 Zu den Mitarbeitern, welche den Berg besuchten – dort mitarbeiteten oder auch nur aus Neugierde das Siedlungsprojekt bestaunten – zählte auch der Diefenbach Schüler Fidus. Er kam in Begleitung seines spiritistischen Mediums angereist. Dieses wurde »Kaffeehausmedium« genannt, da es, sehr zum Entsetzten der Diätvorschriften von Hofmann und Oedenkoven, ausschließlich Kaffee zu sich nahm. Das Medium diente Fidus als Modell für seine bekannten Lichtgestalten (Landmann 2009: 43).
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brachten Anteil zurück. So verließen die Gräser Brüder den Berg, Karl, um in der Nähe mit Ida Hofmanns Schwester Jenny in asketischer Bedürfnislosigkeit zu leben und Gusto, um sich nach längerer Wanderschaft in einer Felsenhöhle nordwestlich von Ascona als Einsiedler einzurichten. Dort wird er Hermann Hesse im TAO unterrichten, der ihn als Guru verehrend, in Demian literarisch verewigte (Müller 2001: 323). Abbildung 4: Gusto Gräser: Der Liebe Macht (1898/99).
Gräser überarbeitete das Gemälde in den Jahren 1915/16 vermutlich gemäß seinen Erfahrungen am Monte Verità. Auf der einen Seite zeigt sich die moderne Industriewelt als romantische Apokalypse. Kontrastiert wird diese mit einem paradiesischen Leben im Einklang mit der Natur – eine Welt, wie sie sein könnte. Damit spiegelt das Ideengemälde nicht nur die Weltanschauung des Künstlers wieder, sondern die Überzeugungen der Lebensreform.
Nun, da die Richtung für den Monte Verità feststand, wurde 1902 der kommerzielle Sanatoriumsbetrieb eröffnet. Man sah den Erfolg eines solchen Projekts am gesichertsten, wenn es innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung verblieb. Das tat den Ansprüchen der Betreiber jedoch keinen Abbruch, das Unternehmen als ein revolutionäres zu betrachten: »Der Monte Verità ist keine Naturheilanstalt im gewöhnlichen Sinne, sondern vielmehr eine Schule für höheres Leben, eine Stätte für Entwicklung und Sammlung erweiterter Erkenntnisse und erweiterten Bewusstseins, befruchtet vom Sonnenstrahl des Allwillens, der sich in uns offenbart – vielleicht ein Hort für spätere Zeiten, wenn der Kontrast zwischen Idealismus und Materialismus, zwischen Freund und Feind, zwischen gesundem und kränklichem Leben, zwischen Lüge und Wahrheit oder Gut und Böse zu groß geworden
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ist, und der Kampf ums Dasein entweder Untergang oder Rettung erheischt.« (Hofmann [1905]; zit. nach Landmann 2009: 40)
Die Heilung von Krankheiten im umfassenden Sinne wurde also angestrebt. Die Praktiken, deren man sich dabei bediente, waren, wie schon erwähnt, hauptsächlich diätetischer Natur.26 Daneben gehörten aber auch Luftbäder zum Alltag, so hieß der für die bürgerliche Moral anrüchig wirkende nackte Aufenthalt im Freien. Im Mittelpunkt der Bestrebungen stand die Befreiung des Körpers aus den ausbeuterischen Lebens- und Arbeitsverhältnissen. Dabei orientierte man sich am lebensreformerischen Konzept einer körperorientierten Ganzheitlichkeit. Bevor der Mensch überhaupt für seelische Belange aufnahmefähig sei, müsse zunächst der Körper ›schön‹ – das heißt kräftig und widerstandsfähig gemacht werden. Hier wird der Körper als semantischer Träger von Gesundheit, Individualität und Authentizität ›auratisiert‹ und somit zur Projektionsfläche gesellschaftlicher Utopien. So wie man davon überzeugt war, dass sich die Gesellschaft nach reformerischen Gesichtspunkten verändern ließe, so könne man auch den Körper dementsprechend gestallten. Körperkultur wird in diesem Sinne verstanden als »eine vernünftige Ernährung, Betätigung und Ausbildung des Körpers, der Sinne und des Geistes, mit einem Worte des ganzen Menschen zu Gesundheit, Kraft, Schönheit, Leistungs- und Widerstandsfähigkeit gegen die Elemente Krankheit und die Schädlichkeit der Kultur« (Siebert: Nach welchem System soll ich trainieren? [1910]; zit. nach: Wedemeyer 2001: 400). Ein derart verstandenes Körperkonzept verortet sich im Bereich der Natur, dass im Spannungsverhältnis zu (z.B. futuristischen) Auffassungen steht, die den Körper an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine situieren (Klein 2005: 74). Das ›natürliche Körperkonzept‹ geht dabei Allianzen mit jenen Praktiken ein, die den Körper sinnlich aufwerten – wie z.B. im schon erwähnten und auch auf dem Monte Verità praktizierten Mazdaznan bzw. bei anderen aus dem Osten übernommenen und adaptierten spirituellen Systemen, oder dem Ausdruckstanz. Auch hier war der Monte Verità progressiv, kann er doch als Wiege des modernen Ausdruckstanzes27 gesehen werden. Dies ist vor allem der Einrichtung der »Sommerschule für Bewegungskunst« zu verdanken, die Rudolf Laban und seine berühmte Schülerin, Mary Wigman, von 1913 bis 1919 initiierten. Diese
26 Einer solchen Kur unterzog sich auch der völlig überarbeitete Max Weber im Jahr 1913: »Morgends und abends der Vegetarierfraß: Haferbiscuits und Feigen«; dann fasten: »ich [...] trinke nur Wasser, esse nichts.« (Whimster 2001: 46f.) 27 Eine gute Darstellung zur Entwicklung des Ausdruckstanzes und zu seinem Verhältnis zur Avantgarde findet sich bei Wohler 2009: 67-88.
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war ganzheitlich ausgerichtet, da sie körperliche Arbeit, Bewegungsstudien und intellektuelle Betätigungen zusammenfasste. Im Tanz verband sich Sinnlichkeit, Expressivität, Rhythmus und Ekstase bis zur Bewusstlosigkeit. Wilde Verrenkungen und Sprünge, das Auftreten, entweder in exotischen bzw. mystischen Kostümen, oder gar nackt im Freien kann – gleich der Entdeckung der abstrakten Malerei – als Kampf des Lebens gegen die Form gedeutet werden. Höhepunkt in der Sommerschule waren die einstudierten Tanzdramen, wobei eines mit dem Titel Istars Höllenfahrt besonders herausragte. Das Thema war paradigmatisch für die Lebensreform: Die Menschen befreien sich selbst durch Abkehr von der Zivilisation, wobei im so genannten Tanz der »siegenden Sonne« symbolisch die utopische Hoffnung nach Höherentwicklung zum Ausdruck gebracht wird (Schwab 2003: 192f.). Laban (Ein Leben für den Tanz [1935]; zit. nach Voswinckel 2009: 100) meinte dazu später: »Dieses ›Tendenzstück‹ ist ein Schulbeispiel dafür, wie ich durch die Macht der tänzerisch ausgedrückten Gedanken meine Gruppe zum Verzicht auf alle zivilisatorischen Reizungen zu bewegen suchte.«
Auf dem Berg der Wahrheit gab es aber nicht nur dionysische Tänzer, welche die Fesseln der Zivilisation sprengen wollten. Neben den normalen Kurgästen, die sich Erleichterung von psychischen oder körperlichen Schmerzen erhofften, fanden sich allerlei illustre Menschen mit den unterschiedlichsten Weltanschauungen ein. So gab es neben fanatischen Vegetariern und Anarchisten auch Theosophen und Anthroposophen. Hermann Hesse schildert in der Erzählung Der Weltverbesserer (1906) ein gesellschaftliches Klima, wie er es wohl auf dem Monte Verità vorgefunden haben dürfte. Der Protagonist versucht, sich in einer naturnahen Lebensweise zu üben und kommt so in den Kontakt mit allerlei Sonderlingen, die sich am Monte Verità zuhauf tummelten. Diese lehren ihn einen anderen Blick auf die Welt: »Die Welt, wie er sie jetzt sah und nicht anders sehen konnte, bestand aus dem kleinen Kreis primitiver Tätigkeiten, denen er oblag, darüber hinaus war nichts vorhanden als auf der einen Seite eine verderbte und daher von ihm verlassene Kultur, auf der anderen eine über die Welt verteilte kleine Gemeinde von Zukünftigen, welcher er sich zurechnen musste und zu der auch seine Gäste zählten [...]. Geheime Kräfte hatten sich mit ihnen verbündet, vom Fasten und den Mysterien der Ägypter und Inder bis zu den Phantasien
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der langhaarigen Obstesser und den Heiligungswundern der Magnetiseure und Gesundbeter.« (Hesse 2006: 89f.)28
Nach seinem eremitischen Selbsterfahrungstrip kehrt der Weltverbesserer jedoch – gleich wie Hesse nach seinem Besuch bei Gräser – wieder in die bürgerliche Welt zurück. Die Schilderung Hesses verweist auf ein zentrales Motiv, das die Gäste auf den Monte Verità lockte. Eine internationale mobile Elite, für welche – wie wir anhand von Simmels Analyse zum Konflikt der modernen Kultur gesehen haben – Entfremdungserfahrungen besonders virulent wurden, war auf der Suche nach Sinn. Diesen hofften sie in den nun vermehrt kursierenden Weltanschauungsangeboten zu finden. Die Lebensreformbewegung erweiterte die Grenzen der bis dahin feststehenden Daseinsentwürfe und bot neue Möglichkeiten zur Selbstentfaltung. Man konnte nun aus einer ganzen Reihe von ›alternativen‹ Lebensstilen wählen. Waren zwar schon die frühen Romantiker mit sinnbastlerischen Kompetenzen ausgestattet, so sind diese um die nächste Jahrhundertwende auf breiterer Basis gefragt. Besonders der Monte Verità schien ein Bazar zur sein, der unterschiedlichste Deutungsmöglichkeiten bereithielt, die je nach individueller Neigung, dem Leben einen Sinn abringen sollen. Neben den schon erwähnten Ansichten zur vegetarischen Ernährung, zur Frauenemanzipation und zum entfesselten Körper (z.B. in der Praxis des Ausdruckstanzes oder im Nudismus) kursierten anarchistische, lebensphilosophische, spiritistische-okkulte und spirituelle Ideen. Letztere drückten sich auf dem Monte Verità in Form von theosophischen und anthroposophischen Inhalten aus. Vor allem Hofmann stand in direkter Verbindung zum theosophischen Netzwerk. Hier fand sie eine spirituelle Begründung des Vegetarismus, der gemäß der theosophischen Vorstellung von der evolutionären Höherentwicklung der Menschheit weit mehr war als bloß gesunde Ernährung. Allgemein erfreute sich das nach authentischem Sinn suchende Publikum theosophischer und anthroposophischer Lehren – zum einen wegen ihres undogmatischen Charakters, und zum anderen, weil diese das Individuum ins Zentrum ihrer Lehren rückten. Das Ziel, den eigenen divinatorischen Wesenskern zu entwickeln, entsprach dem Drang der Bohème nach individuellem Ausdruck und einer authentischen Lebensweise. Der Höhepunkt, den der theosophisch-okkulte Einfluss auf dem Monte Verità erreichte, war gleichzeitig schon 28 Überhaupt lassen sich in Hesses Werk vielfach Motive aus der Ideenwelt der romantischen Lebensreformbewegung erkennen. So z.B. im Roman Peter Camenzind (1904). Hier wendet sich der Protagonist von der Großstadt und der Fortschritt verheißenden Moderne ab und der Schönheit der Natur wie auch seinem Inneren zu.
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der Niedergang des gemeinschaftlichen Projekts. 1917 sah Oedenkoven sein Experiment, eine subversive Zelle für eine kommende neue Gesellschaftsordnung zu schaffen, als gescheitert. Im selben Jahr stieß Theodor Reuß zu der Gemeinschaft, den Hofmann in ihrem gemeinsamen spiritistischen Umfeld kennenlernte. Er war Führer eines irregulären Freimaurerordens namens Ordo Templi Orientis – kurz O.T.O. Sinn und Zweck des Ordens waren nicht ganz klar, wurden dessen esoterische Inhalte doch nur den Initiierten preisgegeben – und das auch nur Stufe für Stufe (es gab 94 Einweihungsstufen). Als gesichert gilt, dass sich Reuß tantrischer Praktiken bediente, um die Gotteskraft im Menschen zu stärken29: »Im Verlaufe der ziemlich umstaendlichen Uebung konzentriert der Uebende seine Gedanken, dass er die Reproduktions-Energie aus dem Organ heraufzieht zum Solar-Plexus (Sonnengeflecht), wo er ›will‹, dass es aufgespeichert werde zu Transmutationszwecken. Damit wird ein genau geregeltes Atmen verbunden. Daran schliesst sich der Aktus der Transmutation der Energie, und schließlich tritt die Grosse Vereinigung ein, wo der Uebende zum Seher wird – bei vollem Bewusstsein – und das Gesehene erlebt. Dies ist die weisse Sexual-Magie!« (Reuss; zit. nach Voswinckel 2009: 124)
Seine Aktivitäten gipfelten im von Laban und seiner Tanztruppe zur Aufführung gebrachten Sang an die Sonne, woran sich dann die »dunklen Zeremonien der Loge« (Landmann 2009: 172), anschlossen. Am Ende entfernte ihn dann jedoch Oedenkoven vom Berg der Wahrheit, da Reuß bei ihm wegen seiner magnetischen Anziehungskraft auf das weibliche Geschlecht in Ungnade fiel. Neben theosophischen und okkultistischen Strömungen waren auch fernöstliche, spirituelle Konzepte von Bedeutung. Hier faszinierten die hinduistischen und buddhistischen Traditionen die Bewohner, was sich auch in der schon beschriebenen Mazdaznan Praxis zeigt. Ende der 30er-Jahre berichtete die Neuen Züricher Zeitung (zit. nach ebd. 174f.) retrospektiv von dem bunten Treiben: »Von beinahe allen Kulturerzeugnissen hatte sich der ehemalige österreichische Offizier zu trennen vermocht, aber sein Konversationslexikon gab er nicht her. Auf dem Monte Verità besaßen die Naturmenschen Mut genug, solche Widersprüche mit einem Lächeln abzutun. Wer bei Gräser nicht fand was er suchte, ging einige Häuser weiter zu den Theosophen, die in allen Reinkarnationen Bescheid wussten und am Abend mit Gewehren auf Fledermausvampyre schossen. Okkultisten, Spiritisten, Edelanarchisten, Mystiker, Maler
29 Später sollte Aleister Crowley Großmeister der Leitung des Ordens werden. Ähnlich wie bei Reuß sollten während sexualmagischer Praktiken kosmische Energien freigesetzt werden (Türk 2005: 942).
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und Tänzerinnen beherbergte der Wahrheitsberg zu jener Zeit eine Menge. Mehr oder weniger aufrichtige Vegetarier waren sie alle. Zwischen russischen Fürsten, österreichischen Großherzögen, deutschen Adeligen, Ärzten und Naturheilkundigen, fahrendem Volk und Abenteurern mit dunkler Vergangenheit wurden keine Unterschiede gemacht. Der Bewohner und Gast des Monte Verità hatte als solcher Anspruch auf seine Eigenheit. Später, als der Niedergang bereits unaufhaltbar war, hatte sich auf dem Monte Verità ein moderner Cagliostro eingenistet, der für Geld und gute Worte freimaurerische Würden bis zum 94. Grad verlieh. Der Götterdämmerung folgte der Zusammenbruch.«
1920 verkauften Oedenkoven und Hofmann den Berg, um mit den gesammelten Erfahrungen in Brasilien ihre Träume nach einer gesellschaftsverändernden, vegetarischen Kolonie zu verwirklichen. Der Besitz ging auf den Bankier und Kunstsammler Eduart von der Heyd über, der ein Hotel im Bauhausstil errichten ließ. 1933 fand die erste Eranos-Tagung unter der Leitung der theosophisch inspirierten Olga Fröbe-Kapteyn, mit dem Titel »Yoga und Meditation im Osten und Westen«, statt.30 Seither bemüht sich die Eranos-Gesellschaft um eine Vermittlung zwischen westlicher und östlicher Philosophie und knüpfte damit an den spirituellen Geist am Monte Verità an. Das Projekt am Monte Verità kann als Paradebeispiel einer »ideologischen Communitas« (Turner) betrachtet werden. Der großangelegte Gegenentwurf zu den bestehenden Strukturen regte die Mitglieder zum Experimentieren mit neuen Lebensweisen an. Dabei ging das Individuum jedoch keineswegs in der Gemeinschaft auf, sondern die Communitas fungierte als Ort, an dem man sich in der Idee der Selbstverwirklichung üben konnte. Für den Zusammenhalt der verschiedenen individualistischen Bestrebungen am Monte Verità war ein kollektiv getragenes Elitenbewusstsein verantwortlich. Dies basierte auf dem Selbstverständnis als avantgardistische Keimzelle zu den Protagonisten einer neuen Lebensweise zu gehören. Die gleiche Ideologie wird uns später bei den Hippies der counter culture wieder begegnen, die ihr Leben in Kommunen zu organisieren suchten. So unterschiedlich all die verschiedenen Weltanschauungsangebote am Monte Verità im einzelnen auch sein mochten, ihnen allen sind die Grundprinzipien der Lebensreform gemein: Verachtung des Materialismus, Kritik am ungehemmten Fortschritt, Ausbruch aus den bis dato unhinterfragten normativen Standards und der Versuch, Gegenentwürfe nach ganzheitlichen Prämissen aufzustellen.
30 Hier fanden sich prominente Besucher wie C.G. Jung oder Martin Buber ein. Später sollte der Religionswissenschaftler Mircea Eliade ein steter Gast bei den Tagungen sein. Für eine Übersicht vgl. Landmann 2009: 271f.
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Mit ihren utopischen Vorstellungen boten sie eine innerweltliche Erlösungslehre, welche zu bestimmten Praktiken anleitet, die auf eine umfassende Transformation von Gesellschaft und Kultur ausgerichtet sind. Gerade der Glaube an die Utopie, dass man nach dem Rilke’schen Motto »Du musst dein Leben ändern« auch tatsächlich die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse verbessern könne, war ein Kennzeichen der vielen Teilbewegungen, die unter dem Mantel der Lebensreform zusammengefasst werden. Marianne Weber (1926: 373) meint zu diesem Phänomen der Jugendbewegung als Träger des modernen Individualismus: »Neben die festgefügten Gehäuse der älteren Generation stellen junge Leute einen andern Lebensstil jenseits der Konvention. Gesellschaftliche Freiheit beginnt sich zu entwickeln, wie sie bisher nur in Münchner Künstlerkreisen zuhause war. Neue Typen, in ihren geistigen Impulsen mit den Romantikern verwandt, stellen einmal wieder »bürgerliche« Denkund Lebensordnungen in Frage. Sie kämpfen im Namen persönlicher Freiheit um alte und neue Ideale der Lebensgestaltung. Die Geltung allgemeinverbindlicher Normen des Handelns wird bezweifelt, man sucht entweder ein »individuelles Gesetz« oder verneint jedes »Gesetz«, um über dem sich immer verändernden Strom des Lebens nur das Gefühl walten zu lassen.«
Eine solche romantische Revolte wird erst nach dem zweiten Weltkrieg wieder aufbrechen – zunächst in den USA. Hier spiegelt sich der Monte Verità in der Bucht von San Francisco, wo es erneut zum Experiment mit den Geschlechterbeziehungen, zu alternativen Wohn- und Lebensstilen, wie auch zum Aufeinandertreffen von Intellektuellen und Aussteigern kommt (Gilcher-Holthey 2008a: 53).
4. Die counter culture »When did America go wrong« is a question easily answered. It was never right. And I say this having deeply, the dream of what this could have been. Could still be, if people would only get out of our way. Out of their way.« LEW WELCH: GREED, SAN FRANCISCO ORACLE
Die USA, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten – des prosperierenden Wohlstandes auf der Basis eines kontinuierlichen wirtschaftlichen Wachstums und sozialen Fortschritts. Dieses Bild etablierte sich gegen Ende der Dreißigerjahre in einer ganzen Generation von Amerikanern. Am Beginn der Sechzigerjahre machten sich jedoch Zweifel an solchen Fortschrittshoffnungen breit. Die im Zuge des New Deal durchgeführten Wirtschafts- und Sozialreformen brachten gleichzeitig eine umfassende Bürokratisierung mit sich, »deren Kontrolle und Führsorge in weiten Bereichen des Alltagslebens fühlbar wurden« (Heideking/Nünning 1998: 29). Zudem konnte selbst die durch das gleißende Licht der Werbung angepriesene und auratisierte Warenfülle die Folgeerscheinungen nur mehr schwer kaschieren: »Umweltschäden durch Wasser- und Luftverschmutzung, Schäden an der Gesundheit, Raubbau an natürlichen Ressourcen, überhaupt die Zerstörung des menschlichen Lebensmilieus« (Altvater: Die Weltwährungskrise [1969]; zit. nach Hecken 2008: 41). »Among this dark Satanic Mills« (Blake 2000: 202) ist die neue Generation der Nach-50iger eingespannt, die durch eine »enorme historische Kluft« (Hobsbawm 2009: 412)1 von der vor 1925 geborenen Generation getrennt war. Paul Goodman, auf dessen Leistungen
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Die Jugendkultur sieht Hobsbawm als »Matrix der kulturellen Revolution, [die] im weiten Sinn einer Revolution der Verhaltensweisen und Gewohnheiten, der Freizeitgestaltung und der kommerziellen Kunst« gleichkommt (ebd. 414).
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als zentralem Ideengeber für die counter culture wir noch zu sprechen kommen, fasst das sich ausbreitende Gefühl des zunehmenden Unbehagens an der Kultur seiner Zeit treffend zusammen: »Die Kritiker beweisen ziemlich eindeutig, dass wir unser Geld für blöden Mist verschwenden, unsere Freizeitgestaltung keinen Erholungswert hat, unsere Arbeitsbedingungen unmenschlich sind und unsere schöne amerikanische Klassenlosigkeit zu starrer Bürokratie degeneriert. Unsere Massenkultur verdient mehr als Verachtung, unser Wohlstand produziert Unsicherheit; unser Distributionssystem beruht auf Betrug und unser Produktionssystem entmutigt Initiative und sabotiert Kreativität.« (Goodman/Goodmann [1947] 1994: 4)
Vor dem Hintergrund dieser Umstände, sowie der Zwänge des Kalten Krieges, des Vietnamkonflikts und einer repressiven bürgerlichen Kultur, formierte sich ab den Sechzigerjahren eine Jugendkultur, die gegen den Modernisierungsoptimismus opponierte und nach Alternativen suchte. Für die Bezeichnung dieses Phänomens in Bezug auf seine zeitliche Ausdehnung hat sich in den USA der Begriff »the sixities« als Sammelbegriff für die unterschiedlichen subkulturellen Strömungen und Protestbewegungen eingebürgert. Hinsichtlich des opponierenden Charakters der Jugendkultur spricht man auch von counter culture. Diese ist nach Theodor Roszak (1971: 76) eine Kultur, »die von den wichtigsten Grundsätzen unserer Gesellschaft so stark abweicht, dass sie von vielen gar nicht als Kultur, sondern als barbarische Strömung empfunden wird.« Auch Milton Yinger (1984: 3) betont ihren antihegemonialen Charakter, wenn er die Gegenkultur als »a set of norms and values of a group that sharply condradict the dominant norms and values of the society of which that group is a part« definiert. Ähnlich wie die Lebensreformbewegung ist auch die counter culture als keine einheitliche Bewegung zu betrachten. Sie ist vielmehr durch ein »doppeltes Selbstverständnis« geprägt: Das erste Selbstverständnis lässt sich mit Todd Giltin (2008: 75f.) in der Zeitspanne von 1960 bis 1967 lokalisieren und umfasst im wesentlichen den eher nüchternen politischen Aktivismus der studentischen Neuen Linken. Roszak (1971: 54) verweist für die Bildung dieser Bewegung auf die Rolle der Universitäten als Ideenräume: »So wie die lichtlosen mörderischen Fabriken zu beginn der Industrialisierung die Arbeiter zusammenzogen und dadurch zur Entstehung des proletarischen Klassenbewusstseins beitrugen, so haben die Universitäten, an denen zum Teil bis zu 30 000 Studenten studierten, als Kristallisatoren für die Gruppenidentität der Jugend gedient.«
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Wurde das erste Selbstverständnis von der gebildeten Oberschicht getragen, so sind es ab Mitte der Sechziger hauptsächlich Kinder aus der Arbeiterklasse, die das zweite Selbstverständnis zum Ausdruck brachten (Gitlin 2008: 79). Hier haben wir es mit dem Lebensstil der Hippies zu tun, die sich entweder in diversen Landkommunen oder in städtischen Communitasformen der Stadtteile von Haight-Ashbury in San Francisco bzw. der Lower East Side in New York niederließen. Allan Watts (2007: 293) erinnert sich in seiner Autobiographie an die Stimmung in diesen Kreisen: »Something else was on the way, in religion, in music, in ethics and sexuality, in our attitudes to nature, and in our whole style of life. [...] For there was an energy in the air that cannot entirely be attributed to the revelations of LSD, an energy which manifested itself on the surface as color and imagination in clothing, in a rebirth of poetry, in the rhythms of rock-and-roll and in fascination for Hindu music, in social gatherings where people were not longer afraid to touch one another and show affection [...].«
Besonders die Bay Area von San Francisco kann – ähnlich dem Monte Verità – als Kulminationsort der Erprobung neuer Lebensstile von Aussteigern, Anarchisten, Künstlern und Intellektuellen betrachtet werden. Allein die lebendige Musikszene, zu deren wichtigsten Vertretern die Grateful Dead (mit dem charismatischen Leadsänger Jerry Garcia), Jefferson Airplane, Mother Earth und Big Brother and the Holding Company, featuring Janis Joplin gehörten, wirkte stilprägend auf viele nachfolgende Bands. Der Boden für gegenkulturelle Aktivitäten wurde hier schon in der Nachkriegszeit durch die San Francisco Renaissance bereitet. Dieser Begriff etablierte sich für eine Reihe von poetisch-avantgardistischen und intellektuellen Aktivitäten in der Bay Area.2 Eine bedeutende Institution, mit der die San Francisco Renaissance immer wieder in Verbindung gebracht wird, ist die Academy of Asian Studies – eine Art Vorläufer des Esalen Institute, an der unter anderem Alan Watts unterrichtete. Er beschreibt die Akademie als »a transitional institution emerging from the failure of universities and churches to satisfy important spiritual needs« (Watts 2007: 258). Dies gibt uns schon einen ersten Hinweis auf die zentrale Stellung von östlicher Philosophie und spirituellen Praktiken in der counter culture. Ausgehend von der San Francisco Renaissance und den Ereignissen der sechziger Jahre schwappte »a huge tide of spiritual energy in the form of poetry, music, philosophy, painting, relig-
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Über die San Francisco Renaissance und die zahlreichen künstlerischen Aktivitäten und Gruppierungen – zu denen auch ein Zirkel gehörte, der sich ganz am GeorgeKreis orientierte vgl. Watson 1997: 195-204.
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ion, communications techniques in radio, television, and cinema, dancing, theater, and general life-style [...] out of this city and its environs to effect America and the whole world« (Watts 2007: 232). Eingeleitet wurde diese erste Phase, die bis ins Jahr 1960 reichte, durch ein literarisches Ereignis: Am 7. Oktober 1955 fand das »Six Gallery reading« statt, wodurch eine neue literarische Bohème, die als wichtigster Vorreiter für die counter culture der Sechziger gilt, schlagartig im Rampenlicht der Öffentlichkeit stand: die Beat-Generation.
4.1 V ORSPIEL : D IE B EAT -G ENERATION »Nehmen sie ihre Röcke hoch, meine Damen - Jetzt geht es durch die Hölle!« ALLAN GINSBERG: HOWL
Die drei herausragenden Figuren der Beatnix – Jack Kerouac, Allen Ginsberg und William Burroughs – waren für die folgende Subkultur nicht nur wichtige Ideengeber, hier sind auch schon die wichtigsten Praktiken angelegt, die von der späteren Hippiebewegung aufgegriffen wurden. Zu diesen gehören die Geringschätzung materieller Werte und die Verachtung »falscher Bedürfnisse«, die Vorliebe für Spontaneität, Improvisation und die Ablehnung eines auf Sicherheiten bedachten bürgerlichen Lebensstils, das freie Ausleben tabuisierter Sexualität, die Erweiterung des Bewusstseins und die romantische Wende nach innen mittels psychedelischer Drogen und fernöstlicher Meditationspraktiken sowie das Zusammenleben in Kommunen, die nach der Leitidee der individuellen und künstlerischen Selbstverwirklichung organisiert waren (Kraushaar 2008: 108). Die Überzeugungen der Beat-Generation, von denen hier schon einige angedeutet wurden, erschließen sich uns, wenn wir den Begriff selbst in den Blick fassen. Das Wort ›beat‹ stammt ursprünglich aus dem Jargon des fahrenden Volkes – also der Schauspieler und Zirkusleute – und spiegelte deren bescheidene Verhältnisse wider. Bei Burroughs, Ginsberg und Kerouac ist es zum einen negativ konnotiert, wenn sie damit »geschlagen«, »fertig« assoziieren und sich selbst als »eine geschlagenen Generation« betrachten. Zum anderen steht es insofern mit seinem originären Kontext in Verbindung, als es eine bescheidene psychische Verfasstheit meint – »ein Gefühl, auf das Grundgestein des Bewusstseins reduziert zu sein« (Watson 1997: 3). Für Ginsberg ist das charakteristische am »Beatsein« demnach »auf eine gewisse Nacktheit zurückgeworfen zu werden, in der sich die Welt auf visionäre Art sehen lässt, was dem klassischen Verständnis dessen entspricht, was sich in der finsteren Nacht der Seele abspielt«
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(ebd. 3f.). Damit zeigt sich die für die Beatnix typische Gier nach Grenzerfahrungen und eine damit verbundene, in der Tradition der Romantik stehende, Wahl des Gottes Dionysos als Kennzeichen und Symbol ihres Lebensstils. Das Ursprüngliche und Authentische suchten sie im vorindustriellen Geist Amerikas, dem Kerouac in seinem autobiographischen Roman On the Road auf der Spur ist. Hier beschreibt er in metaphorischen Bildern den »starken, üppigen Duft« des Mississippi, der »wie der rohe Körper Amerikas« (Kerouac [1957] 2002: 21) riechend, die Zivilisationskrusten des Landes abschwemmt. Doch der Fluss wird immer häufiger von Drahtzäunen abgesperrt, was als allegorische Anspielung auf die gegenwärtige Entfremdung und Isolierung der Menschen zu Verstehen ist: »Wenn man die Menschen von ihren Flüssen trennt, was bleibt dann übrig? ›Bürokratie!‹« (ebd. 182). Während der Arbeiten an seinem berühmten Roman entdeckte Kerouac eine an der surrealistischen écriture automatique orientierte Methode, die er als »wilde Form« bezeichnete. Sie ermöglichte ihm den direkten »Abstieg in den Malstrom des Bewusstseins« (Watson 1997: 143). Diese, mit einer Wende nach innen verbundene Praxis, steuerte alles künstlerische Schaffen und so erteilte Kerouac jedem, der sich mit moderner Prosa beschäftigte den Ratschlag: »Komponiere wild, undiszipliniert, rein! Schreib, was aus den Tiefen deines Inneren aufsteigt! Je verrückter desto besser!« (Anonym 1961: 61). Spontaneität und eine damit verbundene Praxis des Aufbrechens gewohnter linearer Erzählformen wurde auch von den anderen Protagonisten der Beat Generation gepflegt. Wie Kerouac nahm William Burroughs mit seinen »Cut-ups« Anleihen bei den Surrealisten. Diese nutzten mittels der spielerischen Methode des cadavre exquise das Unterbewusste als Quelle bei der Gestaltung von Bildcollagen. Burroughs bediente sich nun dieser Collagetechnik und übertrug sie auf seinen literarischen Schaffensprozess, den er folgendermaßen schilderte: »Seiten mit Texten werden ausgeschnitten und neu zusammengefügt, um neue Kombinationen von Wörtern und Bildern zu ergeben; das heißt, die Seite wird mit der Schere zerschnitten, für gewöhnlich in vier Teile, und dann in eine neue Ordnung gebracht [...] Ich nehme eine Textseite her, meine eigene oder von jemand anderem [...] und füge die Zeilen aneinander. Der zusammengesetzte Text wird dann von rechts nach links gelesen, halb der eine Text und halb der andere. Bei vielleicht einem von zehn funktioniert das, und den benutze ich dann.« (Zit. nach Watson 1997: 285)
So ist sein Werk eine Reihe von unsystematischen Entwürfen und Fragmenten, die jede klassische Erzählweise unterlaufen. Als sein berühmtestes Werk Naked Lunch nach einer langen Suche nach einem Verleger endlich gedruckt wurde, und die Druckfahnen völlig durcheinander aus der Produktion kamen, erklärte
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Burroughs jede Anordnung der Sequenzen für gleichermaßen bedeutend (ebd. 287f.). Die Abneigung gegen das geplante, rationale und eindimensionale Beschreiben, das schon die Romantiker an der Aufklärungsdichtung bemängelten, erfasste auch Allen Ginsberg. Als er sich eines Nachmittags an eine alte Büroschreibmaschine setzte und darauf herumtippte, ohne eigentliche etwas bestimmtes schreiben zu wollen, entstanden in einem spontanen Akt die ersten sieben Seiten des wohl berühmtesten Gedichtes der Beat Generation – Howl (1955). Die nächsten Teile des Gedichtes entstanden unter dem Einfluss von Peyote. Der psychedelische Trip ließ ihn auf den Fassaden des luxuriösen St. Francis Hotels einen rot glühenden rauchenden Totenschädel sehen, was er als Symbol der materialistischen Plagen eines kapitalistischen »Molochs« betrachtete (ebd. 186ff.). Hier kommt am deutlichsten der Vitalismus und die Opposition zum American Way of Life zum Ausdruck: »Moloch, dessen Hirn eine reine Maschine ist! Moloch, in dessen Adern Geld fließt! (Ginsberg 1999: 27). Die erste Lesung von Howl in der Six Gallery in San Francisco und die darauf folgende in Berkeley markierten den Beginn der Popularität der Beatniks und eines sich über Literatur, Kleidung und Habitus ausbreitenden Beat-Lebensstils. Diese kurze Charakterisierung der Beat-Generation ist hier auch deshalb von Bedeutung, da hier eine Reihe von Ideen auszumachen sind, die von der Romantik ausstrahlen und über die historischen Avantgardebewegungen weitervermittelt wurden. Als Bindeglied spielt hier besonders der Surrealismus eine gewichtige Rolle, wie wir am Beispiel der Praktiken zur Psychologie des Unbewussten sahen, von denen sich die Beatnix fasziniert zeigten. Aber auch bezüglich des Kampfes gegen die kapitalistische Herrschaft und ihre politischen Institutionen, sowie gegen eine kleinbürgerliche Moral, der sie eine Haltung der kindlichen Spontaneität und der freien Sexualität entgegensetzten (Moebius 2006: 243ff.), ist eine Kontinuität von den Surreali3 sten zur counter culture auszumachen. Weitaus größere Kreise als die existenzialistisch anmutenden Beatniks schlug dann jedoch die Hippie-Bewegung. Hier wurde Ginsberg zur wichtigsten Verbindungsfigur zwischen »Beat« und »Hip« und damit zu einem der Bedeutendsten »movement intellectuals« der neuen Jugendkultur. Seine spirituelle Suche nach Grenzerlebnissen ließ ihn sowohl mit Drogen als auch mit fernöstlichen Vergeistigungswegen experimentieren. In Peru lernte er die durch Ayahuasca Rituale hervorgerufenen halluzionatorischen Zustände kennen, die ihn an die
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Eine Rekonstruktion romantischer Ideen über die historischen Avantgardebewegungen kann hier nicht geleistet werden. Zu den wichtigsten (romantischen) Überzeugungen des Surrealismus vgl. etwa Nadeau 2002.
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Grenzen zum Schattenreich des Todes brachten. Aus diesen bedrohlichen Erfahrungen gewann er die Erkenntnis: »Erweitere den Bereich des Bewusstseins, bis er so weit ist, dass er seinen eigenen Tod einschließt. Das ist der Zweck des Lebens« (Watson 1997: 305). 1959 sammelte Ginsberg seine ersten Erfahrungen mit LSD im Rahmen der von Gregory Bateson geleiteten Experimente am Mental Research Institute in Palo Alto. Diese sollte er ein Jahr darauf mit psilocybinhaltigen Pilzen unter der Leitung von Timothy Leary an der Harvard University vertiefen: »Unter dem Einfluss von 36 Milligramm Psilocybin und Wagners Götterdämmerung kam Ginsberg sich vor wie der Messias, vom Schicksal ausersehen, eine Revolution anzuführen« (ebd. 306). Bevor er als Ahnherr der Hippie Generation tatsächlich maßgeblich an der Revolution beteiligt war, zog es ihn nach Indien, wo er einen der führenden Meditationsmeister Tibets Dudjom Rinpoche kennenlernte. Danach bereiste er Japan und machte sich die schlichten Denkwege des Taoismus zueigen. In den Sechzigerjahren als »Uncle Sam des Undergrounds« stilisiert, war Ginsberg bei den meisten gegenkulturellen Aktionen und Zusammenkünften dabei. Als einige der wichtigsten Ideen, welche die Beats an die folgende Generation weitergaben, nannte Ginsberg die Idee der spirituellen und sexuellen Befreiung – was den Gebrauch von Drogen und fernöstlichen Meditationsformen inkludiert – des Non-Theismus, des Respekts für alle Lebewesen, der Würdigung individueller Eigenheiten entgegen staatlichen Reglementierungen sowie eines ökologischen Bewusstseins (ebd. 309f.). Mit dieser ersten skizzierten Darstellung der unmittelbaren Vorläufer der counter culture der Sechzigerjahre wird deutlich, dass wir es hier mit romantischen Kontinuitäten zu tun haben: Zum einen sind für beide Bewegungen die Attribute phantastisch, metaphysisch, sinnlich, überschwänglich, abgründig, irrational, spontan und schöpferisch konstitutiv. Diese verweisen auf ein gemeinsames Anliegen, das jedoch mittels zum Teil unterschiedlicher sozialer Praktiken (wie jene des Drogenkonsums) verwirklicht und ausgedrückt wird. Damit treten zum anderen die beiden elementaren Ideen der authentischen, individuellen Selbstverwirklichung und des holistischen Pathos deutlich hervor, welche insgesamt für die counter culture eine bedeutende Rolle spielen.4
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Das Phänomen der counter culture wurde schon früh mit der Romantik in Verbindung gebracht. So wurde es von Leo Löwenthal als »romantischer Rückfall« interpretiert (Der romantische Rückfall: Wege und Irrwege einer rückwärts gewendeten Revolution) und Kraushaar (2008) stellt eine »romantische Revolte« fest.
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Wie wir am Beispiel der San Francisco Renaissance und der darin maßgeblich involvierten Beat-Generation sehen, laufen die verschiedenen gegenkulturellen Fäden in der Bay Area von San Francisco zusammen. Seit der Nachkriegszeit wuchs hier stetig ein gegenkulturelles Klima, das sich in den Sechzigerjahren zu einem explosiven Ideenkonglomerat verdichtete. Kraushaar (2008: 11f.) fasst die Ereignisse für diese Zeit in fünf Ereignissträngen zusammen: 1. An der Universität Berkeley entwickelte sich im Herbst 1964 das Free Speech Movement, woraus sich die Studentenrevolte entwickelte. 2. Im Stadtteil Haight-Ashbury gab es ab dem Sommer 1965 die Hippiebewegung, die der counter culture ihr eindrucksvollstes Gesicht gegeben hat. 3. Im Vorort Oakland formierte sich 1966 die Black-Power-Bewegung, die drei Jahre später vom FBI gewaltsam zerschlagen wurde. 4. Auf der in der Bucht gelegenen Insel Alcatraz kam es 1969 zur Indianerbewegung, die mit einer Besetzungsaktion das Eiland zurückforderte. 5. Im gleichen Jahr nahm die Schwulenbewegung ihren Anfang. Im Rahmen dieser Arbeit lässt sich nicht auf alle Ereignisse, die in der counter culture stattgefunden haben, eingehen. Ich beschränke mich bei der folgenden Darstellung deshalb auf die gesellschaftskritischen Ideen der Bewegung – die sowohl bei den studentischen Neuen Linken, wie bei der Hippiebewegung ähnlich gelagert sind – sowie auf die wichtigsten sozialen Praktiken, in denen die gegenkulturellen Ideen zum Ausdruck gebracht wurden. Für die Formulierung dieser Ideen und der (popularisierenden) Artikulation des Wissens, das den Praktiken eingeschriebenen ist, sind vor allem »Bewegungsintellektuelle« ausschlaggebend. Wie in den methodologischen Überlegungen zu dieser Arbeit erwähnt, haben diese einen besonderen Einfluss auf die Herausbildung einer kollektiven Bewegungsidentität. Eyerman und Jamison (1996) haben hier auf die zentrale Rolle von »movement intellectuals« in Bezug auf die »cognitive praxis« und die sich daraus konstituierende kognitive Identität von sozialen Bewegungen hingewiesen: »By using the term ›cognitive praxis‹, we want to emphasize the creative role of consciousness and cognition in all human action, individual and collective. What we call the dimensions of cognitive praxis are the relations to knowledge that characterize particular social movements, the concepts, ideas, and intellectual activities that give them their cognitive identity« (ebd. 3).
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Die Bewegungsintellektuellen formen somit das spezifische Anliegen von sozialen Bewegungen, das von diesen wiederum in den alternativen sozialen Praktiken (z.B. Protestaktionen) artikuliert wird.5 Auf diese Weise gewinnen die Bewegungen an theoretischen Positionen und damit auch an Konturen, was sich in den Frontstellungen zwischen hegemonialer (bürgerlicher) und antihegemonialer (Studenten-/Hippie-) Kultur zeigt. Da sich im Vergleich zu den anderen hier behandelten kulturellen Bewegungen für die counter culture am deutlichsten solche »movement intellectuals« angeben lassen werden in den folgenden Kapiteln die zentralen Überzeugungen und Praktiken entlang dieser »Ideengeber« veranschaulicht.
4.2 D AS Ü BERZEUGUNGSNETZ UND DIE P RAKTIKEN DER COUNTER CULTURE 4.2.1 Port Huron Statement und der Protest der Neuen Linken »Wir sind Menschen dieser Generation, aufgewachsen in zumeist bescheidenem Komfort, zur Zeit untergebracht in Universitäten, erfüllt vom Unbehagen an der Welt, die einmal unsere sein wird« (Port Huron Statement [1962]; zit. nach Gilcher-Holtey 2008a: 18). So beginnt das Manifest der amerikanischen »New Left«, das im Sommer 1962 in Port Huron von dem Aktivisten Tom Hayden als Arbeitspapier vorgelegt und nach eingehender Diskussion von Delegierten der neunundfünfzig Studentengruppen angenommen wurde. Das artikulierte Unbehagen bezieht sich auf ein universelles Gefühl aufgestauter Entfremdung. Eine wichtige Dimension dieser Entfremdung ist die diagnostizierte kollektive Isolation und die Vereinsamung der amerikanischen Gesellschaft. »Wir wehren uns gegen die Entpersonalisierung, die den Menschen auf den Zustand von Dingen reduziert. Wenn wir aus den Brutalitäten des 20. Jh. irgendeine Lehre ziehen können, so die, dass Mittel und Zwecke in inniger Beziehung zueinander stehen, dass verschwommene Hinweise auf die ›Nachwelt‹ die Verstümmelungen der Gegenwart nicht rechtfertigen können [...]. Einsamkeit, Entfremdung, Isolierung sind Ausdruck der großen
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Das die von den Bewegungen aufgegriffenen Ideen keineswegs mit den Intentionen der ursprünglichen Ideengeber übereinstimmen müssen, zeigte uns schon die Rezeption von Mesmers wissenschaftlich gedachter Fluidumtheorie und ihrer Rezeption in spiritistischen/okkulten Zirkeln.
264 | D IE K ONTINUITÄT ROMANTISCHER I DEEN Kluft zwischen den Menschen in unserer Zeit.« (Port Huron Statement; zit. nach Roszak 1971: 96)
Durch diesen Leidensdruck der »einsamen Masse« (Riesman 1956), so hoffte die Neue Linke, würden die Menschen aus ihrer Apathie erwachen und beginnen, die bestehenden gesellschaftlichen Einrichtungen zu verändern. Denn für die Entfernung des Einzelnen von seinen Mitmenschen und den daraus resultierenden rücksichtslosen Egoismus sind diese Institutionen verantwortlich. Bürokratisierung und die vernebelnden Wirkungen der Überflussgesellschaft, deren Herold die konsumstimulierende Werbung ist, verfestigen jedoch die allgemeine politische Apathie. Um dieser Konservierung entgegenzuwirken, zielten die Forderungen der Neuen Linken auf eine Transformation der Gesellschaft ab, die sich jedoch nicht durch einen politischen Machtwechsel ereignen sollte, sondern indem neue mentale Strukturen geschaffen werden. Ein Schlüssel auf dem Weg dazu liegt in der Forderung von demokratischen Strukturen. Solche verdienen den Namen ›demokratisch‹ jedoch nur, wenn sie dem Einzelnen tatsächlich die Möglichkeit der Mitentscheidung und der Artikulation seiner individuellen Problemlagen bieten. Für das theoretische Fundament der beginnenden Rebellion gegen die große Apathie und das Eintreten für freie Meinungsäußerung bei gleichzeitiger Entwicklung neuer sozialer Aktionsformen sorgten besonders John Dewey und sein Schüler C. Wright Mills. Wirkten sich deren Schriften direkt auf das Port Huron Statement aus, so sollten später die Analysen von Herbert Marcuse die Kritik der Neuen Linken bereichern. Ein Grundansinnen des Port Huron Statements liegt in der Mitbestimmung in allen Bereichen des menschlichen Handelns und der Prozesse der Entscheidungsfindung. Diese Form der »participatory democracy« fand ihren größten intellektuellen Vordenker in dem pragmatistischen Philosophen John Dewey (1859-1952). Dewey galt zu seiner Zeit als ein Intellektueller, der sich lebhaft am öffentlichen Diskurs beteiligte, wobei sein Engagement in der Gewerkschaftsbewegung und in der Gründung einer neuen linken Partei in den dreißiger Jahren lag (Flacks 2008: 213). Seine Arbeiten zur Demokratie sind vor dem Hintergrund eines als in Verarmung begriffenen öffentlichen Lebens zu sehen. Der demokratische Geist sollte nach Dewey alle Bereiche des Lebens durchwirken: »Jeder, der von den Entscheidungen einer gesellschaftlichen Institution betroffen wird, muss die Möglichkeit haben, an dieser Entscheidungsfindung teilzunehmen« (ebd. 214). Entwicklung – gesellschaftliche wie auch individuelle – ist an diese Bedingungen der Möglichkeit zur Selbstbestimmung geknüpft. Damit diese gewährleistet ist, bedarf es eines für Entscheidungen notwendigen Wissens, das über die verschiedenen Bildungsinstitutionen bereitgestellt wird. Für das
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Funktionieren einer partizipatorischen Demokratie ist es konstitutiv, dass man jedem Menschen einen freien Zugang zu Wissen und Bildung garantiert. Im Port Huron Statement findet sich die bedeutende Rolle des Wissenserwerbs wieder, wenngleich das Studium von instrumentellen Erwägungen befreit sein müsse. Dieses sollte nicht deshalb ausgeübt werden, weil man sich davon viel Geld und Status erwarte, sondern wegen des ihm eigentlich inhärenten bildenden und schöpferischen Charakters. Der Drang nach Entscheidungsfreiheit würde nach Dewey jedoch von den sozialen Ungerechtigkeiten des Kapitalismus eingeschränkt und von den Auswüchsen bürokratischer Strukturen – zu denen eine das Wissen monopolisierende Expertokratie gehört – abgewürgt (ebd.). Diese Entwicklung verdammt den Menschen jedoch nicht unausweichlich in das Weber’sche stahlharte Gehäuse der Hörigkeit. »[I]n einer Gesellschaft, die besser organisiert wäre als die, in der wir leben, wären alle Formen des Schaffens von einem unendlich größeren Glücksgefühl begleitet, als es heute der Fall ist. Wir leben in einer Welt mit einem ungeheuren Maß an Organisation, doch es ist eine äußerliche Organisation, nicht eine, in der die wachsende Erfahrung auf ein erfülltes Ende hin geordnet wird und die darüber hinaus das Lebewesen in seiner Gesamtheit umfasst.« (Dewey: Kunst als Erfahrung [1980]; zit. nach Joas 1996: 206)
Hier zeigen sich deutliche Bezüge zur romantischen Tradition der Gesellschaftskritik. Romantisch ist auch Deweys Plädoyer, den Menschen sinnhaftes und damit identitätsstiftendes Handeln zu ermöglichen. War Dewey in Bezug auf seine Vorstellungen zur umfassenden Mitbestimmung und zur Wiedergewinnung von sinnvollem Handeln ein zentraler Ideegeber für die Neue Linke, so wird C. Wright Mills gemeinhin als ihr »Godfather« bezeichnet. Seine pessimistische Zeitdiagnose, die sich im Port Huron Statement widerspiegelt, beruht auf der Auffassung, dass das Leben der Menschen von sozialen Kräften überformt wird, die diese nicht selbst gestaltet haben. Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen: Für die Mehrheit der Menschen liegt hier die tragische Ursache ihres Daseins begründet, da sie sich aus dieser Form der Entfremdung nicht befreien können. Die westlichen Gesellschaften sind deshalb durch »the frequent absence of engaging legitimation and the prevalence of mass apathy« (Mills 2000: 41) charakterisiert. Auf der anderen Seite kreiert sich daraus jedoch auch das Potential, die Lebensumstände durch koordinierte Handlungen grundlegend zu verbessern. Ziel sei es, die kollektive Apathie durch das Sichtbarmachen von gesellschaftlichen Alternativen zu überwinden, als auch den unerschütterlichen Glauben an den stetig wachsenden Wohlstand als Garant für
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die Lösung jeglicher sozialer Problemlagen zu demystifizieren. Doch wenn das Gros der Menschheit in apathischen Strukturen steckt, wer soll diese Ziele dann verwirklichen? Mills wandte sich gegen die, von ihm als unzeitgemäß erklärte marxistische Position, wonach allein die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt zu betrachten sei. Die Rolle der Arbeiter würde heute die junge Intelligenz, bestehend aus Studenten und Kulturschaffenden, übernehmen. Deshalb hielt er es für notwendig, den Protest der Jugendlichen in eine klare analytische Form zu bringen und mit ihnen zusammen eine adäquate Theorie des sozialen Wandels zu entwickeln (Schmidtke 2003: 36f.). Mills starb 1960, zwei Jahre vor der Veröffentlichung des Port Huron Statements – gab jedoch der Neuen Linken nicht nur ihre zentralen Ideen, sondern legitimierte auch ihr Selbstverständnis als intellektuelle Avantgarde, die von den Universitäten aus den sozialen Wandel einleiten sollten. Dieser Wandel, so die Überzeugung der Neuen Linken, sollte sich im Bewusstsein der Menschen vollziehen. Ihre gewohnten Denk- und Handlungsroutinen sollten ausgehebelt werden, um sie aus der Erstarrung zu befreien. Das Mittel für das kollektive Aufrütteln sahen die Studenten in der Aktion. In den Aktionen erlebten sie sich nicht nur als befreit aus den Fängen der Entfremdung, die Praktiken des expressiven Protestes waren das Ziel selbst, indem sie dieses vorwegnahmen, an die Stelle einer verwalteten Welt eine andere zu setzen (Hecken 2008: 19): »In der Revolution befreit der Mensch sich selber und wird unabhängig, indem er seine Identität erschafft und entdeckt« (Rubin, Sprecher der Youth International Party; zit. nach Schmidtke 2003: 105). Eine dieser neuen Protestformen war das Sit-in. Diese direkte Aktion sollte über gewaltlose Regelverletzungen auf Missstände aufmerksam machen und dadurch bewusstseinsverändernd wirken. So beteiligten sich 1960 über 70 000 Menschen in 150 amerikanischen Städten an Sitzstreiks in Restaurants, öffentlichen Toiletten, Bussen oder öffentlichen Institutionen, um auf die diskriminierende Rassentrennung hinzuweisen (Schmidtke 2003: 59f.). Der Vorteil der Sitins bestand darin, dass auch eine kleine Gruppe von Aktivisten spontan ihren Unwillen gegen bestehende Ungerechtigkeiten zum Ausdruck bringen konnte. Dies taten im Jahr 1964 Studenten an der Universität Berkeley infolge eines, von der Polizei unterstützten, Verbots des Rektorats, auf dem Campus für politische Ziele zu werben. Daraufhin entzündete sich das Free Speech Movement, das sich schnell auch auf andere Universitäten ausbreitete.6 Die Forderungen der im Rahmen der Free Speech Movement protestierenden Studenten beschränkten
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Für eine detaillierte Schilderung der Geschehnisse ab September 1964 in Berkeley vgl. Gosse 2005: 71f.
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sich nicht nur auf die Redefreiheit. Vor allem die im Port Huron Statement verlangte »participatory democracy« war Thema, sowie die Beseitigung oder Umstrukturierung aller Einrichtungen, welche diese verhindern. Dazu gehörten nach Meinung der Neuen Linken auch die Erziehungs- und Ausbildungspraktiken an den Universitäten. Der Philosophiestudent Mario Savio, der zur Führungsfigur der Free Speech Movement wurde, artikulierte den Ekel an den bestehenden Verhältnissen: »There is a time when the operation of the machine becomes so odious, makes you so sick at heart, that you can’t take part; you can’t even passively take part, and you’ve got to put your bodies upon the gears and upon the wheels, upon the levers, upon all the apparatus, and you’ve got to make it stop. And you’ve got to indicate to the people who run it, to the people who own it, that unless you’re free, the machine will be prevented from working at all!« (Savio, Berkeley Free Speech Movement leader, outside Sproul Hall before the sit-in begins, [Dez. 1964]; zit. nach Gosse 2005: 63)
Eine Maschine, im Sinne eines schwerfälligen bürokratischen Molochs, ist vor allem die Universität. Sie wird von den Neuen Linken als »Zulieferer für die Bedürfnisse der Verwaltung und der amerikanischen, hochtechnologischen Produktion und ›Kriegsmaschinerie‹« (Hecken 2008:18f.) demaskiert. Hierzu bemerkt ein anderer wichtiger Ideengeber der Neuen Linken, Herbert Marcuse, die Dominanz einer »instrumentalistischen Intelligenz«. Deren Mentalität veranschaulicht er anhand eines Interviews mit einem Ingenieur an einem amerikanischen Think Tank: »Es gibt eine riesige Menge von Verkaufsträgern bei diesem Job [...]. Meine wahre Liebe gehört Kleinmessstrukturen [...], aber ich bin ebenso bereit, an Kleinkostenstrukturen zu arbeiten, oder daran, wie man die Russen besser tötet; denn die Organisation überlebt, indem sie Forschung betreibt, die sich verkaufen lässt.« (Marcuse 2008: 85)
Marcuse schließt mit der Frage: »Sind das potenzielle Revolutionäre?« Offensichtlich nicht, und Marcuse hat hier auch ganz andere Subjekte im Sinn, die für eine Umgestaltung der Welt in Frage kommen könnten.
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4.2.2 Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch und die neue Sensibilität »Eine komfortable, reibungslose, vernünftige, demokratische Unfreiheit herrscht in der fortgeschrittenen industriellen Zivilisation, ein Zeichen des technischen Fortschritts.« HERBERT MARCUSE: DER EINDIMENSIONALE MENSCH
Im gleichen Jahr, in dem Mario Savio am Campus in Berkeley seine aufrüttelnde Rede gegen die abstumpfenden Wirkungen der Technokratie hält, erscheint Herbert Marcuses Studie über den Eindimensionalen Menschen, die schnell zum Klassiker der Neuen Linken und der counter culture insgesamt avancierte. Marcuse nahm in seinen Jugendjahren an den romantischen Fahrten und Wanderungen der Jugendbewegung seiner Zeit teil (Hecken 2008: 21). Auch später, in seinem philosophischen Denken und seiner Gesellschaftskritik, erklingen immer wieder romantische Untertöne. Aus diesem Grund ist es auch nicht verwunderlich, wenn der 1934 nach Amerika immigrierte und dort an der Universität von San Diego in Kalifornien tätige Professor für Politologie die amerikanische Gegenkultur mit großem Interesse verfolgte. Sahen die Neuen Linken das Leiden der Menschen an den sozialen Pathologien als Anstoß für emanzipatorische Interventionen, so gehen sie damit mit den Auffassungen der Kritischen Theorie konform, die mit einem Rekurs auf die Psychoanalyse Freuds zu der Überzeugung gelangt, »dass dieses subjektiv erlebte oder objektiv zuschreibbare Leiden bei den Gesellschaftsmitgliedern zu demselben Wunsch nach Heilung, nach Befreiung von den sozialen Übeln führt, den der Analytiker seinen Patienten unterstellen muss.« (Honneth 2007: 54)
Vor allem Marcuse setzt bei seinen Analysen auf eine kreative Kombination aus Marx und Freud, die bei den Studenten insofern auf großen Anklang stieß, da sie ein Verständnis des Zusammenhangs zwischen dem spannungsreichen individuellen Erleben und den gesellschaftlichen Brüchen ermöglichten. Bezüglich der Einschätzung der revolutionären Kraft des Leidens ist er jedoch vorsichtiger. Es liegt in der Natur des Kapitalismus, dass er im Prozess ständiger Anpassung die Mechanismen der Ausbeutung verbessert. Diese Ausbeutung nimmt nun in fortgeschrittenen Industriegesellschaften eine Form an, in der die größte Unfreiheit und Entfremdung als wunderbare Freiheit gefeiert wird. Ein derart perfides tota-
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litäres Herrschaftssystem, welches das Leid in scheinbares Glück verwandelt, ist nur durch die Verankerung »falscher Bedürfnisse« in der Triebstruktur des Menschen möglich. Zu diesen zählt Marcuse (2005: 25) »[d]ie meisten der herrschenden Bedürfnisse, sich im Einklang mit der Reklame zu entspannen, zu vergnügen, zu benehmen und zu konsumieren, zu hassen und zu lieben, was andere hassen und lieben.« Das fatale an diesen Bedürfnissen ist nicht nur, dass sie »harte Arbeit, Aggressivität, Elend und Ungerechtigkeit verewigen«, sondern, dass deren Befriedigung »für das Individuum höchst erfreulich« ist: »Das Ergebnis ist dann Euphorie im Unglück« (ebd.). Marcuse hält sich bei der Bestimmung »wahrer Bedürfnissen« zurück. Wie auch alle sozialutopistischen Gemeinschaftskonzepte bestrebt sind, die unmittelbaren Bedürfnisse an Nahrung, Kleidung und Wohnen zu befriedigen (Buber 1950: 104f.), so räumt auch Marcuse diesen eine Vorrangstellung ein. Letztendlich sieht er jedoch jedes Individuum selbst in die Pflicht genommen, die Frage nach der Notwendigkeit zu stellen. Unter den gegebenen Verhältnissen scheint eine authentische Antwort jedoch kaum möglich: »Je rationaler, produktiver, technischer und totaler die repressive Verwaltung der Gesellschaft wird, desto unvorstellbarer sind die Mittel und Wege, vermöge derer die verwalteten Individuen ihre Knechtschaft brechen und ihrer Befreiung selbst in die Hand nehmen.« (Marcuse 2005: 26f.)
Unter diesen Bedingungen wird sogar der Begriff der Entfremdung fragwürdig. Die Menschen fühlen sich nicht mehr als entfremdet, da sie sich in der ›Multioptionsgesellschaft‹ in Freiheit wähnen. Die freie Wahl von Gütern- und Dienstleistungen suggeriert die totale Autonomie. Mit dem Erwerb von Gütern der Konsumindustrie geht jedoch nicht nur eine äußere Ausstattung einher, sondern zugleich auch eine Innenausstattung, denn »die Menschen erkennen sich in ihren Waren wieder; sie finden ihre Seele in ihrem Auto, ihrem Hi-Fi-Empfänger, ihrem Küchengerät« (ebd. 29).7 Die Gesellschaft erzwingt demnach die Übernahme ihrer repressiven Werte in den individuellen Wertehorizont, ohne dass dies jedoch als Zwang wahrgenommen wird. Diese Form der Herrschaft begründet das eindimensionale Denken und Handeln. Ein Charakteristikum der Eindimensionalität liegt in der Eliminierung der »Introjektion«. Damit ist, ganz im romantischen Sinne, der Zugang zu einer in-
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John Rosenbaum ([1972]; zit. nach Zepf 2002: 161) stößt in dieselbe Richtung, wenn er meint »our fragile sense of self needs support, and this we get by having and possessing things because, to a large degree, we are what we have and possess.«
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neren Sphäre gemeint, die von allen gesellschaftlichen Anforderungen und Zwängen frei gehalten ist. Da diese Sphäre einen antagonistischen Charakter gegenüber dem Außen der Gesellschaft aufweist, ist hier auch die »Macht des negativen Denkens« beheimatet. Diese Macht der Kritik schwindet jedoch zusehends. Sie wird umso hohler und stumpfer, je weniger die Menschen das Herrschaftssystem ablehnen können – und das fällt ihnen immer schwerer, da die repressiven Triebbedürfnisse und Werte als ihre eigenen erscheinen (Marcuse 2008: 34). Diese von Marcuse analysierte tiefgreifende Misere des modernen Menschen, bringt er mit dem affirmativen Charakter der Gesellschaft und der damit zusammenhängenden »repressiven Entsublimierung« in Verbindung. Jene von Marcuse beschriebene, als Freiheit getarnte Herrschaft, errichtet eine technologische Gesellschaft durch Entsublimierung. Dies veranschaulicht er am Beispiel der Kunst und der Verdinglichung der Sexualität. Die Kunst, sofern sie dem von Marcuse bezeichneten »höheren Reich« angehört, birgt eine Vielzahl an oppositionellen und transzendierenden Elementen in sich. Diese zeigen sich beispielsweise darin, dass ihre Helden als zweifelhafte Charaktere dargestellt werden. Es sind Rollen wie »der Künstler, die Prostituierte, die Ehebrecherin, de[r] große Verbrecher und Geächtete, de[r] Räuber, de[r] rebellische Dichter, de[r] Schelm, d[ie] Narren – jene, die sich ihren Lebensunterhalt nicht verdienen, zumindest nicht auf ordentliche und normale Weise« (Marcuse 2005: 78). Diese Helden verweisen, indem sie gegen die Gesetze der Gesellschaft revoltieren, diese unterwandern oder ablehnen, auf eine andere Lebensweise – eine Alternative zu den bestehenden Verhältnissen. Ein Merkmal dieser Kunst ist somit, dass sie die Entfremdung zu ihrem Gegenstand macht. Vom Standpunkt einer hegemonialen Kultur erscheinen die dubiosen Helden dieser Kunst als Verrückte und die Kunst selbst wird – so Marcuse – als »romantisch« diffamiert. Dabei bemerkt er, dass »[d]ie traditionellen Bilder künstlerischer Entfremdung [...] in der Tat insofern romantisch [sind], als sie mit der sich entwickelnden Gesellschaft ästhetisch unvereinbar sind« (ebd. 80). Aus der Unvereinbarkeit speist sich ihre subversive Kraft, welche sich im Prozess der Sublimierung formiert. Die Verwehrung von Bedürfnissen schafft eine Fülle von Bilderwelten, die in Opposition zur Realität stehen. In der modernen technokratischen Gesellschaft lösen sich diese durch Sublimierung zustande gekommenen Bilder sukzessive auf: Der ›Moloch‹ verleibt sie sich ein, sie werden entsublimiert, das heißt »vermittelter Genuss wird durch unmittelbaren ersetzt« (ebd. 91). Damit ist der emanzipatorische Gehalt der Kunst durch die Absorptionskräfte einer affirmativen Gesellschaft verschwunden:
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»Die Werke der Entfremdung werden selbst dieser Gesellschaft einverleibt und zirkulieren als wesentlicher Bestandteil der Ausstattung, die den herrschenden Zustand ausschmückt und psychoanalysiert. Sie werden so zu Reklameartikel – sie lassen sich verkaufen, sie trösten oder erregen.« (Ebd. 84)
Die repressive Entsublimierung vollzieht sich auch im Bereich der Erotik. Indem sich die Spannung zwischen dem Ersehnten und Erlaubten nivelliert, ist keine Sublimation der Triebenergie mehr notwendig. Gleichzeitig versiegen auch jene Quellen menschlicher Erfahrungsweisen, aus denen der Mensch Lust empfangen könnte. Marcuse erläutert dies am Beispiel von romantisch-sinnlichen und modern-technologischen Gegensätzen, zwischen »dem modernen Reisenden und dem wandernden Dichter oder Handwerker, zwischen Fließband und Kunsthandwerk, Stadt und Land, Brot, das in der Fabrik produziert wurde, und dem selbstgebackenen Laib, dem Segelboot und dem Außenbordmotor usw. Sicher war die romantische, vortechnische Welt durchdrungen von Elend, harter Arbeit und Schmutz, die wiederum den Hintergrund alles Vergnügens und aller Freude abgaben. Und doch gab es eine ›Landschaft‹, ein Medium lustbetonter Erfahrung, das nicht mehr existiert.« (Ebd. 92)
Es verschwinden auch die Orte, die dazu bestimmt sind »eine andere Dimension der Wirklichkeit zu schaffen und zu beschwören« (ebd. 83). Sie werden mit Marc Augé (2010) zu Nicht-Orten (bzw. Nicht-Gegenständen), die keine Identität besitzen und lediglich die gesellschaftliche Entfremdung durch instrumentelle Vernunft und Atomismus reflektieren. Solche Nicht-Orte bezeichnet Augé als das konstitutive Merkmal einer »Übermoderne«. Diese vermag keine positive, authentische Identifikation mehr zwischen Individuen und den Orten bzw. Objekten herzustellen. Die Übermoderne bringt demnach eine Welt hervor, »die Geburt und Tod ins Krankenhaus verbannt, eine Welt in der die Anzahl der Transiträume und provisorischen Beschäftigungen unter luxuriösen oder widerwärtigen Bedingungen unablässig wächst (die Hotelketten und Durchgangswohnheime, die Feriendörfer, die Slums, die zum Abbruch oder Verfall bestimmt sind), eine Welt, in der sich ein enges Netz von Verkehrsmitteln entwickelt, die gleichfalls bewegliche Behausungen sind, wo der mit weiten Strecken, automatischen Verteilern und Kreditkarten Vertraute an die Gesten des stummen Verkehrs anknüpft, eine Welt, die solcherart der einsamen Individualität, der Durchreise, dem Provisorischen und Ephemeren überantwortet ist.« (Ebd. 83)
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Unter diesen Verhältnissen schwinden dann auch drastisch die Chancen auf gelungene Selbstverwirklichung. In diesem Zusammenhang weist Marcuse (2008: 36), René Dubos zitierend, darauf hin, dass sich die »humanen Qualitäten des Lebens« nur in einer Umwelt erhalten können, »in der es möglich ist, sein Verlangen nach Ruhe, Zurückgezogenheit, Unabhängigkeit, Initiative und nach etwas offenem Raum zu befriedigen.« Mit der Verflüchtigung solcher Orte und Gegenstände, die als Quelle lustbetonter Erfahrungen dienten, konzentriert sich die Libido allein auf die sexuelle Erfahrung, die unter modernen Bedingungen liberalisiert wird. Dabei wird die Sexualität jedoch nicht nur durch die Werbung instrumentalisiert. Im Zuge ihrer gesellschaftlich vorangetriebenen Liberalisierung tritt sie als ein Reich der Freiheit auf – ein scheinheiliges, wie Marcuse (2005: 94f.) einräumt –, tragen die gewährten Freizügigkeiten doch lediglich dazu bei, die Menschen im Status eines »glücklichen Bewusstseins« zu halten. Analog zum Schicksal der Kunst, bringt somit auch die Entsublimierung in der Sphäre der Sexualität Unterwerfung und damit eine Verhinderung des Protestes hervor. »Die Menschen treten in dieses Stadium als langjährig präparierte Empfänger ein; der entscheidende Unterschied besteht in der Einebnung des Gegensatzes (oder Konfliktes) zwischen dem Gegebenen und dem Möglichen, zwischen den befriedigten und den nicht befriedigten Bedürfnissen.« (Ebd. 28)
Das glückliche Bewusstsein, die libidinöse Bindung an falsche Bedürfnisse und die daraus folgende Eindimensionalität, gewinnt für Marcuse deshalb seine Unentrinnbarkeit, da sie dem Menschen zur zweiten Natur geworden ist. Sie ist derart tief in seinen Triebstrukturen verankert, dass sie sich jeder Veränderung widersetzt (Marcuse 2007: 26f.). Die Menschen müssten ihre eigenen Bedürfnisse negieren und damit ihre moralische Landkarte umschreiben. Stattdessen haften sie sich an alles, was das trügerische und oft genug fragile glückliche Bewusstsein stabilisiert. Das Ende dieses circulus virtuosus fasst Marcuse (2005: 30) mit dem Begriff »Mimesis«, womit er »eine unmittelbare Identifikation des Individuums mit seiner Gesellschaft und dadurch mit der Gesellschaft als einem Ganzen« meint. Mit dieser düsteren Analyse scheinen die repressiven westlichen Industriegesellschaften auf dem besten Weg in Aldous Huxleys Schöne neue Welt ([1932] 2008). Dort sind alle Menschen glücklich, sie »erfreuen sich ihrer sexuellen Triebe, sind immer beschäftigt, das Vergnügen lässt ihnen keine Muße, keinen freien Augenblick um sich hinzusetzen und nachzudenken. Und selbst wenn sich durch einen unglückseligen Zufall ein Loch in der ununterbrochenen Folge ihres Zeitvertreibs auftut, ist immer Soma zur Hand, das köstliche Soma!«
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(ebd. 68)8 In dieser Version einer romantischen Apokalypse werden dann auch »alle Wildheit und Phantasie der Natur verschwunden sein« (Marcuse 2007: 35). Doch so ganz aussichtslos ist die Lage in den westlichen Industrienationen noch nicht. Marcuse hebt sich von seinen Kollegen der Frankfurter Schule, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, insofern ab, als er nicht nur die Lebenswelt als Ort totaler Entfremdung analysiert, sondern auch auf die Kräfte der Befreiung hinweist. Adorno begnügte sich mit der Theorie und Praxis war für ihn nur aus dem Grund relevant, als diese selbst eine Form des Denkens, im Sinne eines Tuns war. Mit der Praxis der Gegenkultur konnte er nichts anfangen, da ihm »jedes Gespür für die innovative Kraft von Werten und jedes Sensorium für die Widerständigkeit subkultureller Deutungsmuster fehlte« (Honneth 2007: 70f.). »Ich habe mich erst neuerdings von der Praxis abgewandt, mein Denken stand seit jeher in einem sehr indirekten Verhältnis zu Praxis. Es hat vielleicht praktische Wirkungen dadurch gehabt, dass manche Motive in das Bewusstsein übergegangen sind, aber ich habe niemals irgendetwas gesagt, was unmittelbar auf praktische Aktionen abgezielt hätte.« (Adorno: Keine Angst vor dem Elfenbeinturm [1969]; zit. nach Gilcher-Holtey 2008b: 235)
Marcuse entsprach hier schon weit mehr den Forderungen der Studentenbewegung – eine Theorie müsse auch praktisch werden – da er eine Anleitung zur Lösung der gesellschaftlichen Misere gab. Eine Veränderung der bestehenden Gesellschaft würde nach Marcuse unweigerlich scheitern, wenn man nur bei den ökonomischen und politischen Verhältnissen ansetzt. Die Revolution kann nur dann wirklich erfolgreich sein, wenn sie jene »zweite Natur« durchbricht, welche die »freiwillige Knechtschaft« des Menschen konserviert – oder in Schillers (2000: 22) Worten: wo »man sich auch in sich selbst einen Herrn gegeben hat.« Ein Mittel dafür sieht er in der »neuen Sensibilität« und der daraus folgenden »großen Weigerung«.
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Mit dem oben zitierten Bild des Menschen als »langjährig präparierter Empfänger« und der eingeräumten Möglichkeit eines »durch Selektion [entstehenden] Menschengeschlechts [...], das genetisch dazu eingerichtet ist, wie selbstverständlich eine reglementierte und beschirmte Lebensweise in einer überquellenden und verderbten Welt zu akzeptieren«, ist Marcuse (2008: 35) gar nicht so weit von der Praxis des »prädestinieren« von Embryos in Huxelys Welt entfernt.
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Eine neue Sensibilität basiert auf völlig neuen Wahrnehmungsweisen, welche die alten, zur zweiten Natur gehörenden, ersetzen sollen. Dieser revidierte Blick auf die Welt würde zu einem neuen Bewusstsein führen, wodurch – ganz nach dem Konzept einer »progressiven Universalpoesie« – »der Gegensatz zwischen Einbildungskraft und Vernunft, höheren und niederen Vermögen, poetischem und wissenschaftlichem Denken [...] ungültig [würde]« (Marcuse 2008: 44). Die neue Sensibilität hat vor allem eine ästhetische Dimension, welche »die Qualität eines schöpferischen Prozesses in einer Welt der Freiheit kennzeichnet« (ebd. 44). Wie schon bei den Romantikern als auch bei Simmel und Weber ist für Marcuse die Kunst deshalb von Bedeutung, da sie von der Herrschaft des Realitätsprinzips befreit ist. Innerhalb ihrer Grenzen liegt das Reich der Phantasie und des Spiels – Formen des Denkens und Handelns, die den repressiven Strukturen nicht unterworfen sind. Doch diese befreiende Wirkung des Ästhetischen bleibt letztlich folgenlos, wenn sie nicht vom politischen Protest erfasst wird und damit die Grenzen zwischen dem Reich der Freiheit und dem der Notwendigkeit gesprengt würden. Hier bezieht sich Marcuse auf die Kritik der historischen Avantgardebewegungen, welche die Ästhetik – die Kunst, wie auch die Sinne betreffend – nicht auf eine von der Lebenswelt abgeschlossene Enklave reduziert sahen. Als solche hätte sie nämlich lediglich eine kathartische und harmonisierende Funktion, wobei die repressive Gesellschaft unangetastet bliebe. Reicht der politische Protest nun jedoch auch in die Sphäre des Ästhetischen und führt damit zu seiner ›Entgrenzung‹, so kann diese zu einer Quelle »humaner Sittlichkeit« werden, »die gegen das Diktat repressiver Vernunft aufbegehrt und dadurch die sinnliche Gewalt der Imagination beschwört« (ebd. 52). Ein solches Aufbegehren sieht Marcuse bei den »heutigen Rebellen gegen die etablierte Kultur«, da sie »gegen das Schöne in dieser Kultur, gegen seine allzu sublimierten, von der Wirklichkeit abgetrennten, ordentlichen und harmonisierenden Formen« (ebd. 73) rebellieren. In diesen Rebellen sah er auch die Träger der neuen Revolution. Ähnlich wie Mills verneinte Marcuse die Marx’sche Annahme, dass die Arbeiterklasse einen Umsturz der bestehenden Verhältnisse herbeiführen kann – noch vermögen dies jene zu leisten, welche in der Gesellschaft etabliert sind. Doch die darunter liegende Schicht der Ausgestoßenen und Marginalisierten – von Arbeitslosen und Verfolgten bis über Hippies und Gammler – birgt insofern ein revolutionäres Potential, da sie vom System noch nicht vereinnahmt wurden. Ihre zweite Natur ist ihnen noch nicht zum »stahlharten Gehäuse« geworden und so sind sie auch in der Lage, das Leid der Entfremdung zu verspüren. Hier kann das Leid nun zu einer wirksamen Kraft werden, welche sich in aufrüttelnde Protestformen ergießt.
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Ein Beispiel dafür sieht Marcuse in surrealistischen Protest- und Verweigerungsformen der counter culture. So etwa in der Praxis, bei Demonstrationen der Polizei Blumen zu überreichen oder diese in ihre Gewährläufe zu stecken. Auch der subversive Sprachgebrauch der Hippies ist hier von Bedeutung, da sie die Ausdrücke aus ihrem alltäglichen Sprachgebrauch reißen und nun zur Bezeichnung von Tätigkeiten oder Objekten gebrauchen, die von der hegemonialen Kultur tabuisiert sind (»grass« oder »pot« sind Synonyme für Marihuana, »acid« für LSD, »trip« bezeichnet die Zeit, während der man sich auf psychedelische Reisen begibt, »cop« meint die Übergabe von Heroin usw.)9. Ergänzend ist hier anzumerken, dass solche, durch kreative Umdeutung gebildeten sprachlichen Codes, für eine Subkultur vor allem die Funktion haben, ihre kollektive Identität zum Ausdruck zu bringen. Dies geschieht, indem sie ihre Sprache und die damit verbundenen Werthaltungen einer hegemonialen Gesellschaft entgegensetzen. Für Marcuse (2008: 61) haben solche Praktiken einen subversiven Charakter, da sie zur Befreiung »der gewöhnlichen und geregelten Arten des Wahrnehmens« anleiten. Diese sind Teil der von ihm propagierten zentralen bewusstseinstransformierenden Praxis, die er in der »großen Weigerung« sieht – eine Weigerung »sich leistungsfähig und ›normal‹ in einer Gesellschaft zu verhalten« (ebd. 94), sich dem Existenzkampf zu unterwerfen und an den »falschen Bedürfnissen« der Konsumindustrie zu partizipieren. Daran knüpft sich auch Marcuses romantische Forderung: »Die neue Sensibilität ist eben deswegen Praxis geworden; sie entsteht gegen Gewalt und Ausbeutung, in einem Kampf für wesentlich neue Weisen und Formen des Lebens; sie impliziert die Negation des gesamten Establishments, seiner Moral, seiner Kultur; die Behauptung des Rechts, eine Gesellschaft zu errichten, in der die Abschaffung von Armut und Elend Wirklichkeit wird und das Sinnliche, das Spielerische, die Muße Existenzformen und damit zur Form der Gesellschaft selbst werden.« (Ebd. 45f.)
Die totale Weigerung und der damit verbundene Anspruch einer Veränderung des Bewusstseins, um zur »wahren Natur« des Menschseins zu gelangen und der neuen Sensibilität zu ihrem Recht zu verhelfen, war das gemeinsame Anliegen der verschiedenen Strömungen der counter culture. Die studentische Neue Linke, welche aus Marcuses Theorie, als auch aus den vorgeschlagenen praktischen Lösungsmöglichkeiten wichtige Ideen schöpfte, wollte das Ziel der Bewusstseinsveränderung bevorzugt über Sit-ins und Aktionen erreichen. Hier war nicht
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Zum Slang der Beatnix, der größtenteils von den Hippies übernommen wurde, vgl. die verstreuten Marginalien in Watson 1997.
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nur der Zustand der Entfremdung aufgehoben, die Aktivisten sahen sich auch im Besitz eines »wahren Bewusstseins« und damit als Avantgarde einer partizipatorischen Demokratie. Die Feststellung Marcuses (2005: 24), »politische Freiheit würde die Befreiung der Individuen von der Politik bedeuten, über die sie keine wirksame Kontrolle ausüben«, bringt das Bestreben der Studenten auf den Punkt – nur dass nach ihrem Selbstverständnis die Utopie einer politischen Freiheit, von der Marcuse noch im Konjunktiv spricht, bereits in ihrem Handeln realisiert wird. Die Hippies dagegen setzten auf andere Praktiken, um die Idee der Bewusstseinstransformation wirksam werden zu lassen. Zu diesen zählen das Leben in Kommunen, Praktiken enthemmter Sexualität und des Drogenkonsums, spirituelle und therapeutische Praktiken sowie Formen ekstatischer Musik. In solchen Praktiken lässt sich nicht nur die Idee des holistischen Pathos wiederfinden, sondern sie dienten der counter culture auch als Übungsfelder – als »Anthropotechniken« im Sinne Sloterdijks (1999; 2009). Hier konnten sich die Übenden als authentische Wesen fühlen und ihre einzigartige Individualität entwickeln bzw. zum Ausdruck bringen. Stärkte Mills das Selbstbewusstsein der studentischen Neuen Linken als revolutionäre Kraft, so festigte Marcuse die kollektive Identität der jungen Aussteiger (drop-outs). »Da komme ich wieder zurück auf die Beatnik- und Hippie-Bewegung. Was wir hier haben, ist doch immerhin ein interessantes Phänomen, nämlich einfach die Weigerung, an den Segnungen der ›Gesellschaft im Überfluss‹ teilzunehmen. Das ist auch schon eine der qualitativen Veränderungen des Bedürfnisses.« (Marcuse: Das Ende der Utopie [1967]; zit. nach Milich 2000: 53)
Damit sah sich auch die Hippiebewegung als Speerspitze einer neuen gesellschaftlichen Ordnung, die im Kontrast zur dominierenden naturalistischen Auffassung der hegemonialen Gesellschaft steht. Deutlich wird diese Auffassung einer Vorwegnahme der Utopie durch das Handeln in sozialen Praktiken, in einem Artikel der wohl bedeutendsten Untergrundzeitschrift der Zeit – dem San Francisco Oracle: »We can only live these changes: we cannot think our way to humanity. Every one of us, and every group with which we live and work, must become the model of the era which we desire to create. The many models which will develop should give each one of us an environment in which we can celebrate our potential: and discover the way into a more human world.[...] The call is to live the future: [...] make our life today the shape of tomorrow’s future.« (Anonym 1967a: 2)
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Die Hippie-Gegenkultur nimmt bei ihrem Versuch, die Beschränkungen des konventionellen Bewusstseins zu sprengen, bei vielfältigen Ideenquellen Anleihen. Die wichtigsten, wie die Psychologie der sexuellen Befreiung von Wilhelm Reich, die Gestalttherapie und die Entwürfe zu alternativen Gemeinschaftsformen und Gegeninstitutionen von Paul Goodman, die Drogenlehre von Timothy Leary, sowie die Vermittlung zwischen Psychologie und östlichen Befreiungswegen durch Alan Watts, sollen im Folgenden das Bild vom Überzeugungsnetz der counter culture vervollständigen. 4.2.3 Wilhelm Reich: Ideen zur sexuellen und energetischen Revolution »Dass die Menschen als einzige Spezies das Naturgesetz der Sexualität nicht erfüllen, ist die unmittelbare Ursache einer Reihe vernichtender Seuchen. Die äußere gesellschaftliche Lebensverneinung hat Massensterben zur Folge, in Gestalt der Kriege ebenso wohl wie infolge seelischer und körperlicher Störungen der Lebensfunktion.« WILHELM REICH: DIE FUNKTION DES ORGASMUS
Wilhelm Reich trat im Alter von 22 Jahren als Medizinstudent der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung bei. Von da an begann sein kometenhafter Aufstieg im Fahrwasser der Freud’schen Psychoanalyse. Doch ebenso schnell sollte es zum Bruch mit Freud kommen. Ein Grund lag in der Weigerung Freuds, einer Verbindung zwischen radikaler Gesellschaftskritik und Psychoanalyse zuzustimmen. Diese ablehnende Haltung ist auf den Versuch zurückzuführen, die Psychoanalyse auf neutralem Boden zu errichten, um sie gegen jegliche politischen Instrumentalisierungen zu immunisieren. Somit entzog er all jenen die Gunst, die sich nicht am Gebot der ›Reinheit der Lehre‹ orientierten.10 Zu diesen Verstoßenen gehörten – neben dem schon erwähnten Otto Gross – auch Wilhelm Reich, der zunächst noch als Abtrünniger geduldet, spätestens seit seinen Arbei-
10 Für einen gerafften Abriss zu Reichs psychoanalytischer Karriere vgl. Fallend 2008: 48f.
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ten zur Orgontheorie jedoch von der wissenschaftlichen Gemeinschaft geächtet wurde. Reich erachtete gut zwanzig Jahre vor der Frankfurter Schule eine Kombination aus Freud und Marx – aus Psychoanalyse und Soziologie – als außerordentlich wichtig. Diese Verbindung von der Psychologie des Unbewussten und der Theorie kapitalistischer Entwicklung wurde zu seinem zentralen Thema, dessen Wert er so definierte: »Die Psychoanalyse kann aus sich heraus keine Weltanschauung entwickeln, kann also auch keine Weltanschauung ersetzen; aber sie bringt eine Umwertung der Werte mit sich, sie zerstört in ihrer praktischen Anwendung beim einzelnen die Religion, die bürgerlichen Sexualideologien und befreit die Sexualität. Das ist aber gerade die ideologische Funktion des Marxismus. Dieser stürzt die alten Werte durch die ökonomische Revolution und die materialistische Weltanschauung; die Psychoanalyse tut das gleiche, oder sie könnte das gleiche tun, psychologisch. Aber da sie in der bürgerlichen Gesellschaft gesellschaftlich wirkungslos bleibt, kann sie diese Wirkung erst nach vollzogener sozialer Revolution erzielen.« (Reich: Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse [1929]; zit. nach Johach 2009: 185)
Die Auswirkungen dieser Synthese lassen sich besonders in seiner Sexualtheorie nachweisen. In den Jahren 1920er- und 30er-Jahren propagierte Reich die sexualpolitische Bewegung. Dabei setzte er sich für das Recht auf Abtreibung sowie für die Aufhebung von Sanktionen gegen Homosexuelle ein und leistete mit zahlreichen Vorträgen und den Schriften Die Funktion des Orgasmus (1927) und Sexualerregung und Sexualbefriedigung (1929) Aufklärungsarbeit unter Jugendlichen. Neben praktischen Ratschlägen zur Sexualnot und Empfängnisverhütung war ihm vor allem daran gelegen, jene hemmenden Kräfte aufzudecken, die zur Deformation der Sexualität und schließlich zur Neurose führen (Falland 2008: 50). Diese lokalisierte er in der bürgerlichen Sexualmoral. Reich (Die Funktion des Orgasmus [1927]; zit. nach Johach 2009: 172) sah in ihr eine pathologische Überformung der eigentlichen Natur des Menschen, welche »in die natürlichen Geschlechtsbeziehungen jenen verderblichen Hauch von Niedrigkeit hineinträgt durch die Erklärung, der Geschlechtsakt sei etwas Schmutziges und Tierisches.« Entwicklungsgeschichtlich lokalisiert er die Abspaltung von der Natur und den Beginn der Sexualrepression im Übergang von frühen matriarchalisch organisierten Gesellschaften zu den patriarchalischen Klassengesellschaften mit ihren sexualfeindlichen Institutionen des Privateigentums, der Familie und des Staates (Dahmer 2008: 126f.). Als Beleg für diese Theorie galten ihm die Studien des mit ihm befreundeten Ethnologen Bronislaw Malinowski über das Sexual- und
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Wirtschaftsleben der Trobriander. Daraus schloss Reich (Der Einbruch der Sexualmoral [1935]; zit. nach Johler 2008: 164): »Die naturwüchsige Gesellschaft kannte noch keine Sexualunterdrückung«, weswegen er es sich zur Aufgabe machte, die Sexualität von ihrem kulturellen Überbau zu befreien. Hier erschallt der romantische Ruf »Zurück zur Natur«, denn »[d]ie seitherige Gesellschaft ist demnach eine Krankheitsgeschichte, eine Historie zunehmender Dekadenz, deren späteste Symptome Krebs und Faschismus sind. Nur wenn die Menschen ihr Leben wieder naturgemäß einrichten, sich dem Viertakt der ›Lebensformel‹ (Spannung – Ladung – Entladung – Entspannung) ungehemmt und reflexionslos überlassen und ihre sozialen Einrichtungen bedürfniskonform reorganisieren, werden die Plagen, die gegenwärtig über sie gekommen sind, schwinden.« (Dahmer 2008: 127f.)
In beinahe allen Aufsätzen, die Reich 1945 unter dem Titel The Sexual Revolution neu auflegte, wird ein verloren gegangenes holistisches Pathos beklagt, wonach Menschen von Natur aus Ganzheiten darstellen, nun jedoch Repressionen von außen unterworfen sind, die ihren Charakter fragmentieren und eine Selbstregulierung verunmöglichen. Resultat dieser Entwicklung ist der Schwund der »orgastischen Potenz« – die Fähigkeit sich der Bewusstseinsverdunkelung im Liebesspiel anzuvertrauen, wodurch eine heilende Regression in den Zustand einer als ursprünglich erlebten Natur möglich wird. Darin ist nach Reich nun auch die alleinige Ursache aller individuellen, sowie auch kollektiven Neurosen (wie z.B. der Faschismus) zu sehen. Eine faschistische oder kapitalistische Gesellschaft vermag es demnach, den Sexualtrieb für ihre Machterhaltung zu instrumentalisieren, indem sie diesen umleitet. »Die Sexualverdrängung stärkt die politische Reaktion nicht nur durch den politischen Vorgang, der die Massenindividuen passiv und unpolitisch macht; sie schafft in der Struktur des Menschen eine sekundäre Kraft, ein künstliches Interesse, das die autoritäre Ordnung auch aktiv unterstützt.« (Reich: Die Massenpsychologie des Faschismus [1933]; zit. nach Pfaller 2008a: 134)
Die Sexualität muss aus der Affektorganisation einer repressiven Gesellschaft befreit werden, um zu verhindern, dass sich Individuen libidinös an ein bestehendes Herrschaftssystem binden. Das fatale an dieser Bindung ist nämlich, dass jene Verhältnisse bejaht werden, die eigentlich unterdrückend und ihrem Wesen nach pathologisch sind: »Die Sexualhemmung verändert den wirtschaftlich unterdrückten Menschen strukturell derart, dass er gegen sein materielles Interesse handelt, fühlt und denkt« (ebd.). Wie auch Marcuse mit dem Begriff des »glück-
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lichen Bewusstseins«11 aufzeigt, begreift Reich die Knechtschaft als etwas Freiwilliges, zu dem die Individuen selbst aktiv beitragen. Robert Pfaller (2002) bezeichnet diesen Umstand mit dem von Spinoza entlehnten Begriff der »trübsinnigen Leidenschaften«12. Ihren Ausdruck finden die dadurch entstehenden Neurosen in den »Charakterpanzerungen«. Reichs Charakteranalyse (1933) war hier für die Entwicklung alternativer Formen der Psychoanalyse und der Körpertherapie bahnbrechend. Demnach zeigt er, wie sich charakterliche Abwehrhaltungen (z.B. unnatürliche Freundlichkeit, rigides Auftreten oder chronische Melancholie), die aus einem Affektstau resultieren, in der Körperhaltung spiegeln. Reich, der seelische Zustände und körperlichen Ausdruck als Einheit betrachtete, klassifizierte beispielsweise muskuläre Verspannungen nicht als ein rein physiologisches Symptom, sondern als Hinweis für eine Neurose. Der natürliche Triebimpuls wird durch zivilisatorische Überformungen gehemmt, welche den Menschen dazu anleiten, »Luft anzuhalten, statt zu schreien, oder Muskel anzuspannen, statt zu reagieren« (Johler 2008: 164). Damit staut er sich im Menschen immer mehr auf und formiert sich zum psychischen Charakterpanzer, der, gemäß Reichs holistischer Betrachtungsweise, wiederum seine Entsprechung im muskulären Panzer hat. Was letztendlich doch durch die Panzerung hindurch dringt, ist eine Deformierung des ursprünglichen Triebs, wie er in den oben genannten Abwehrhaltungen in Erscheinung tritt. Der Aufbau einer Charakterpanzerung ist die wirksamste Form der Herrschaft, weil er die Individuen dazu veranlasst, die gesellschaftlich nicht geduldeten Triebimpulse selbst abzulehnen. Damit erreicht eine repressive hegemoniale Kultur, wie im Anschluss an Reich, Herbert Marcuse
11 Marcuse und Reich sind der Meinung, dass der Abbau von sexuellen Restriktionen einen gesünderen Menschen hervorbringen würde, der seine Energien für kreative Praktiken gebrauchen würde. Fokussiert Reich hier jedoch auf sexuelle Aktivitäten und die heilende Funktion des Orgasmus, so spricht sich Marcuse gegen eine Reduktion auf die Sexualität aus. Wie oben dargestellt kann sich der Eros auf vielfältige Weise ausdrücken. Ein befreiter Eros würde die Lebenswelt libidinös aufladen, so dass der Mensch sie wieder als Lustquelle entdecken könne. 12 Affekte wie Ekel, Angst, Schuld, Aggression, Neid, Eifersucht usw. können als ins Negative verkehrte Lust betrachtet werden. Pfaller weist hier u.a. auf die Strategie von rechten Parteien hin, die eine Meisterschaft im Umgang mit trübsinnigen Leidenschaften erlangt haben. Die genannten Affekte machen sie sich gezielt zu Nutze, und ermöglichen somit einen Gewinn an »unlustvoll erfahrener Lust«. Durch diese Umcodierung wird Unterdrückung nicht nur hingenommen, sondern geradezu begehrt (ebd. 228ff.).
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und neuerdings Robert Pfaller (2002, 2008b) gezeigt haben, die totale soziale Anpassung, welche die Bejahung der gesellschaftlichen Ansprüche (selbst wenn diese dem Menschen schaden) und die Angst vor Selbstbestimmung erzwingt. Ein von solchen gesellschaftlichen (dass heißt neurotischen) Überformungen freier (also »natürlicher«) Menschentypus zeichnet sich nach Reich durch seinen »genitalen Charakter« aus: »Wie der genitale Charakter in keiner Weise steif und krampfhaft ist, so auch nicht in den Formen seiner Sexualität. Da er befriedigbar ist, ist er zu Monogamie auch ohne Zwang oder Verdrängung fähig, aber er ist bei rationaler Begründung auch schadlos fähig zum Wechsel des Objekts [also des Partners bzw. der Partnerin] oder zur Polygamie. Er klebt nicht an seinem Sexualobjekt aus Schuldgefühl oder moralischen Rücksichten, sondern er hält es aus seinem gesunden Verlangen nach Lust fest: weil es ihn befriedigt. [...] Neurotische Schuldgefühle sind kaum vorhanden. Seine Sozialität beruht nicht auf verdrängter, sondern sublimierter Aggression und auf seiner Eingeordnetheit in die Realität. Das bedeutet aber nicht, dass er sich der Realität immer beugt; im Gegenteil, gerade der genitale Charakter vermag infolge seiner der heutigen gesellschaftlichen Situation widersprechenden Struktur – ist doch unsre Kultur durchaus moralisch-antisexuell – sie zu kritisieren und zu verändern; seine geringe Lebensängstlichkeit bewahrt ihn vor Konzessionen an die Umwelt, die seiner Überzeugung widersprechen.« (Reich: Charakteranalyse [1933]; zit. nach Johach 2009: 175f.)
Um den »genitalen Charakter« der Menschen zu stärken und dadurch den Konflikt zwischen den menschlichen Bedürfnissen und den hemmenden Einflüssen aufzulösen, entwickelte Reich die »Vegetotherapie«, die er als »sexualökonomische Heilungstechnik« verstand. Die dahinterstehende Grundannahme basiert auf einem Wechselspiel von Spannung und Entladung. Wenn Energie nämlich nicht wieder vollständig entladen wird, fungiert sie als Reservoir, welche neurotische Symptome vorantreibt. Die Schwere der Neurose steht dabei im direkten Verhältnis zur Summe der nicht entladenen Libido. Reich nannte diese durch zahlreiche Behandlungen seiner Patienten gewonnene Erkenntnis »Sexualökonomie« (Strick 2008: 85). Die Behandlungstechniken beinhalteten Massagen und Atemübungen, sowie diverse Ausdrucksbewegungen wie Schreien, Schlagen oder Grimassen schneiden, die zur emotionalen Entladung führen sollten. Mit der Wiederherstellung der Lebendigkeit garantierenden »orgastischen Potenz« versuchte Reich die Charakterpanzerungen aufzulösen. Dabei stellte er sich die Frage, worin diese Lebensenergie nun genau bestand und wie sie sich zur Heilung verwenden ließe. Die Antwort sollte aus einer Reihe von Forschungen resultieren, bei denen er eine Energieform entdeckte, welche dazu in der Lage war,
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Organisches aufzuladen. Reich nannte sie »Orgon«-Energie, die ihm als universelle Lebensenergie galt, da sie nicht nur im Menschen fließt, sondern auch den Kosmos ausfüllt (ebd. 95).13 Damit erweist sich Reichs energetisches Konzept als Nachfolger von Mesmers Fluidumtheorie. Reich versuchte die Orgonenergie in eigens dafür konstruierten Akkumulatoren zu sammeln, die damit nach dem gleichen Prinzip funktionierten, wie das von Mesmer konstruierte Baquet. Dieses stellte ein mit Wasser gefülltes Gefäß dar, das mit herausstehenden eisernen Stangen versehen war. Im Gefäß konzentrierte sich das Fluidum, das durch die Stangen auf die Kranken abgegeben wurde. Damit basiert Mesmers Installation auf dem Grundsatz eines Orgonakkumulators, wonach »organische Stoffe jeder Art [...] das Orgon an[ziehen]« und »metallische Stoffe, im besonderen Eisen« es rasch wieder abstrahlen (Reich [1948] 1974: 134). Reich war davon überzeugt, dass die durch solche Geräte akkumulierte Orgonenergie sich zur umfassenden Heilung von Krankheiten – allen voran Krebs – eignen würde. So wie Mesmer davon ausging, dass blockiertes Fluidum für Krankheiten im Menschen, bzw. für gesellschaftliche Pathologien verantwortlich sei, beschrieb Reich die »erstarrte Orgonenergie« (Johler 2008: 173) als Panzerungen im Körper. Alle Übel der Welt, von psychischen Deformationen bis zur Zerstörung der Umwelt, Krieg und materielles Elend sind demnach auf Hemmnisse im Orgonfluss zurückzuführen (Sawicki 2011: 268). Auch in Bezug zu ihrem Selbstverständnis als Wissenschaftler gibt es zwischen den beiden Persönlichkeiten Parallelen. Wie wir sahen war Mesmer mit seiner Fluidumtheorie vergeblich um die Annerkennung der etablierten Ärzteschaft bemüht und auch Reichs Bestrebungen, von der Mainstream-Biologie ernst genommen zu werden, verliefen erfolglos. 1957 wurde er von der Food and Drug Administration wegen Quacksalberei als Scharlatan angeklagt und verhaftet. Zusammen mit allen auffindbaren Orgonakkumulatoren wurden seine späten Schriften tonnenweise in der Müllverbrennung vernichtet – bevor sie in den Sechzigerjahren als Raubdrucke in der Jugendkultur zirkulierten. Von den etablierten Wissenschaften verschmäht, wanderten Reichs Theorien ins alternative psychotherapeutische Milieu. Dort wurden sie beispielweise von seinen Schülern Alexander Lowen und Fritz Perls zur Bioenergetik und Gestalttherapie weiterentwickelt (Johler 2008: 165).
13 Bei Experimenten mit ausgeglühtem Meersand entdeckte Reich blaue Lichtentwicklungen. Diese Strahlungsphänomene deutete er als eine universale Energieform, die er Orgon nannte (Sawicki 2011: 253). Reichs holistische Annahmen waren vermutlich durch seine frühen Kontakte zu Theosophen und Anthroposophen in Wien beeinflusst (ebd. 264).
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Auch die counter culture war von Reichs Ideen inspiriert. Dabei fühlte sich die Beat-Generation vornehmlich von Reichs alternativen Therapieformen angezogen. So ließ sich Allan Ginsberg, dem Vorschlag Alexander Lowens folgend, von Reich behandeln – auch wenn die Analysesitzungen nur kurze Zeit währten, da Ginsberg sich weigerte seinen Marihuanakonsum einzustellen (Ginsberg/Morgan 2008: 16ff.). William Burroughs war fasziniert von Reichs Analysen zur orgastischen Potenz und die Orgonakkumulatoren beeindruckten ihn derart, dass er sich gleich selbst mehrere baute (Morgan 1988: 140ff.). Der Feldzug der Food and Drug Administration galt ihm dabei als Beweis für die Bedeutsamkeit von Reichs Arbeiten. Schließlich geriet auch Kerouac in den Bann des von Reich beschworenen holistischen Pathos. Dies kommt unter anderem in einer Passage in On the Road zum Ausdruck, wo der Erzähler (Kerouac) auf den exzentrischen Old Bull (Burroughs) trifft: »Sag mal, wollt ihr Typen nicht mal meinen Orgon-Akkumulator ausprobieren? Das bringt Saft in die Knochen. Ich rase jedesmal mit neunzig Sachen ins nächste Hurenhaus, harr-harr-harr.« [...] Der Orgon-Akkumulator ist ein gewöhnlicher Kasten, groß genug, dass man auf einem Stuhl darin Sitzen kann: eine Schicht Holz, eine Schicht Blech und wieder eine Schicht Holz sammeln Orgonen aus der Atmosphäre und halten sie lang genug fest, damit der menschliche Körper mehr als die übliche Dosis absorbieren kann. Laut Reich sind Orgonen vibrierende atmosphärische Atome des Lebensprinzips. Die Leute kriegen Krebs, weil ihnen die Orgonen ausgehen. Old Bull glaubte, sein OrgonAkkumulator ließe sich verbessern, wenn das dafür verwendete Holz möglichst organisch sei, darum befestigte er büschelweise Mangrovenblätter und –zweige an seinem mystischen Häuschen. Dort stand es, auf einem heißen flachen Hof, ein verwitterter Apparat, überladen mit allerlei schmückendem Wahnsinnskrempel. Old Bull zog sich aus und setzte sich hinein und hielt seine Nabelschau.« (Kerouac 2002: 186)
Reich galt der counter culture als Herold der sexuellen Befreiung. Zum einen stimmten Reichs Diagnosen zum Charakterpanzer mit dem Lebensgefühl der Jugendlichen angesichts rigider bürgerlicher Moralvorschriften überein, und zum anderen leiteten sie zu einer als revolutionär erachteten Praxis an, welche in einer entsinnlichten Welt als ›hip‹ galt: der freien Liebe, die gegen die Charakterpanzerungen ins Feld geführt wurde. Das erstrebte Ziel ist ein neuer Menschentypus, der dem »genitalen Charakter« entspricht. Dieser hat ein ungezwungenes Verhältnis zu Sexualität, die er ohne moralische Hemmschuhe zum Zweck der individuellen Selbstentfaltung ausübt. Neurotische Schuldgefühle sind weitgehend überwunden, weshalb er, die Entfremdung durchschauend, gesellschaftliche Strukturen auch »zu kritisieren und zu verändern« (Reich) vermag. Damit
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reiht sich die Sexualität als Quelle der Befreiung in eine Reihe von gegenkulturellen Praktiken, die allesamt von der Forderung nach mehr Erfahrung getragen sind; denn mit der Ausdehnung von Erfahrungsspielräumen ist der eindimensionale Mensch überwunden und der Neue auf den Weg gebracht.14 Das gleiche gilt für Reichs Körpertherapie, welche mit ihrem Versprechen eines Wiedererwecken des Unbewussten und der Herstellung einer ungepanzerten Lebendigkeit das Interesse der counter culture an holistischen Ideen reflektiert.15 Als erster unter den New Yorker Intellektuellen wurde Reich von einem Schriftsteller und avantgardistischen Sozialphilosophen verteidigt, der durch sein umfangreiches und vielseitiges Wirken maßgeblich das Ideenkonglomerat der counter culture beeinflusste. 4.2.4 Paul Goodman: Ideen zur Selbstverwirklichung und Selbstorganisation »For green grass and clean rivers, children with bright eyes and good colour whatever the colour, people safe from being pushed around so they can be themselves – for a few things like these, I find I am pretty ready to think away all other political, economic, and technological advantages.« PAUL GOODMAN: NEW REFORMATION
Die vielseitigen Begabungen Paul Goodmans erstreckten sich auf so unterschiedliche Felder wie Stadtplanung, Psychotherapie, Soziologie, politische Theorie und Schriftstellerei. Dabei können wir ihn – neben Reich und Marcuse – als dritten markanten Denker betrachten, dessen grundlegendes Interesse der Verknüpfung von Sozialkritik und Psychoanalyse galt. Diese Kombination spiegelt sich nicht nur im literarischen Schaffen Goodmans wider, sondern auch in seinem Beitrag zur Gestaltpsychologie. Als Ende der 40er Jahre die aus Deutschland emigrierten Psychoanalytiker Fritz und Laura Perls ihn um die Mitarbeit bei ihrem gemeinsames Buch Gestalt Therapie (1951) baten, verwob er darin seine
14 Zum Pathos des neuen Menschen in der Gegenkultur der 60er-Jahre vgl. Küenzlen 1997: 174-200. 15 Letztlich wird Reich im Bob Dylans Song Joey verewigt. Hier lässt Dylan seinem Balladenhelden im Gefängnis Reich und Nietzsche lesen: »He did ten years in Attica, reading Nietzche and Wilhelm Reich.«
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gesellschaftskritischen Ideen. Die Gestaltpsychologie war für ihn hauptsächlich ein Instrument, um gesellschaftliche Missstände aufzuspüren und analysieren zu können (Blankertz 1988: xxviiff). Fristete Goodman trotz umfangreichster publizistischer Tätigkeiten weitestgehend ein von der Öffentlichkeit unbemerktes Schattendasein, so änderte sich dies abrupt in den Sechzigerjahren. Vor allem zwei Veröffentlichungen haben Goodman über Nacht zum Helden der counter culture gemacht. Mit Growing Up Absurd ([1960]; zit. nach Blankertz 1988: 15) lieferte er eine soziologische Analyse der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse, welche den spontanen Rebellionen seiner »verrückten jungen Verbündeten« neue Impulse und eine theoretische Fundierung gab. Wurde dieses Buch zum Bestseller, so avancierte die Schrift Drawing the Line (1962) zum Manifest der Gegenkultur. Noch bevor Marcuse die in der Gegenkultur beheimateten Randgruppen als mögliche Träger gesellschaftlicher Veränderungen ins Auge fasste, rief Goodman dazu auf, sich der Integration in die bestehende Gesellschaft zu verweigern. In diesen Schriften, aber auch in der großen Zahl an Zeitschriftenaufsätzen, Rundfunkbeiträgen und Vorträgen kommt sein grundlegendes Anliegen zum Ausdruck: den Widerstand gegen die Fremdbestimmung der Bürger und gegen ein zentralistisches System, das den (Vietnam) Krieg unterstützt, zu beleben. Damit ist es auch nicht verwunderlich, dass seine Appelle für den sofortigen Aufbau einer besseren Welt in der counter culture auf begeisterte Resonanzen stießen. Ausschlaggebend für Goodmans Popularität war vermutlich auch, dass er sich nicht nur auf tiefgründige Analysen aus der distanzierten Beobachterperspektive beschränkte, sondern seine Standpunkte auch aktiv vertrat, indem er an zahleichen Protestkampagnen der counter culture – wie beispielsweise am Free Speech Movement – teilnahm (Blankertz 1988: 15f.). Goodmans Sozialkritik lässt sich mit den Begriffen Zentralisierung, Organisierung und Verplanung verdeutlichen. Damit benennt er jene dominanten sozialen Kräfte, die für ihn den Grund am Unbehagen in der Moderne darstellen. Seine Diagnose ist an die Beobachtung geknüpft, dass die Menschen offenbar das Gefühl haben, an den bestehenden Verhältnissen nichts ändern zu können. Dieser, auch von anderen Gesellschaftskritikern bemerkte Zustand der kollektiven Apathie, ist für Goodman ein Beleg, dass die Individuen nicht mehr ausreichend an den gesellschaftlichen Institutionen partizipieren können. Sie sind ihrem Einfluss entronnen, haben sich verselbständigt und entfernen sich immer weiter von ihrer eigentlichen Aufgabe – der Sicherung des Allgemeinwohls. Da die Institutionen damit nur mehr partikuläre Interessen verfolgen, bieten sie keine Identifikationsmöglichkeiten mehr – ihr Schicksal ist es, in Anlehnung an Augé (2010), zu »Nicht-Institutionen« zu degenerieren. Ihre Entsprechung finden die »NichtInstitutionen« im »Nicht-Ort« der modernen Stadt, die Ginsberg (1999: 27f.) in
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Howl mit einem bedrohlich wirkenden »Moloch« verglich. In Communitas (1947) übt Goodman scharfe Kritik an modernen Formen der Organisation des menschlichen Zusammenlebens. Folglich sind ihm die gegenwärtige Stadt- und Regionalplanung Ausdruck jener Strukturen, in denen »wir das bezeichnete [das heißt zur Anomie und Entfremdung verdammte] unbefriedigende Leben fristen.« Gleichzeitig gibt er einen Ausblick auf sein alternatives Programm: »Wir werden nicht nur die alberne Form und übertriebene Leistung unserer Autos kritisieren, sondern auch das Auto selbst, und nicht nur das Auto, sondern die Fabriken, in denen Autos hergestellt werden, die Strassen, auf denen Autos fahren, und die Lebensart, die Autos notwenig machen.« (Goodman/Goodman 1994: 4)
Doch die Stadt als bürokratisches, vollkommen verplantes Flickwerk macht eine positive Identifikation unmöglich. Eine von Menschen geschaffene physische Umwelt in Form von Institutionen oder Städten, drückt demnach nicht mehr die natürlichen Bedürfnisse und Wertvorstellungen der Menschen aus. Diese Kluft zwischen Individuum und Gesellschaft (bzw. von der modernen Gesellschaft geschaffenen Organisationsformen) bezeichnet Goodman als Entfremdung. Darin liegt nun auch die Crux des modernen Menschen, der damit verlernt hat, selbstverantwortlich zu denken und zu handeln (Blankertz 1988: 67f.). Besonders die Entwicklung der Demokratie nimmt auf diese Weise immer pathologischere Formen an. Goodman ist deshalb darum bemüht, ein adäquates Verständnis von Demokratie zu gewinnen, da er ihre gegenwärtige Ausformung für Konformität und Entfremdung verantwortlich macht. In The Devolution of Democracy (1962) lokalisiert er fünf Stadien des Verfalls der amerikanischen Demokratie, in deren Verlauf sich sukzessive eine »mechanische Demokratie« herausbildet. Nur der Form nach existiert hier noch die Demokratie, da die politischen Eliten durch ordentlich abgehaltene Wahlen gewählt werden. Jedoch versiegen kontinuierlich die individuellen Entscheidungsspielräume. Immer mehr Funktionen, die ehemals eine Gemeinschaft erfüllte, werden nun der staatlichen Administration einverleibt. Rein instrumentelle Ziele, wie der Ausbau der Überwachungsfunktionen und der Wohlstandssicherung des Staates, werden ideologisch verklärt und damit als notwendige erstrebenswerte Ziele deklariert. Individualität und Selbstbestimmung werden unter diesen Vorzeichen zu schwer erreichbaren Gütern, denn in dieser Scheindemokratie erlebt sich das Individuum vermeintlich als frei. Mit der Freiheit ist es jedoch nicht weit her, basiert sie doch, wie wir schon bei Marcuse gesehen haben, auf einer Verwirklichung von Wünschen im Rahmen des vom System geduldeten. Durch diesen geschickten Kniff vermag es die Demokratie Massenloyalität herzustellen. Das Aufdecken
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von verborgenen Herrschaftsmechanismen scheint ein durchgängiges Thema all jener Intellektuellen gewesen zu sein, die von linken politischen Theorien und der Psychoanalyse gleichermaßen beeinflusst waren. Dementsprechend ist nach Goodmans Demokratiekritik die letzte Konsequenz eine totale Verstaatlichung des Lebens unter dem Deckmantel demokratischer Entscheidungsfreiheit (ebd. 70-77). Auch hier klingen die uns schon bekannten apokalyptischen Töne der romantisch inspirierten Gesellschaftskritik an. Doch Goodman war weit davon entfernt, ein Kulturpessimist zu sein. Seiner Meinung nach ist das System, das Individualisierung verhindert16, keineswegs unverwundbar. Das zeigt sich an einer Vielzahl von nicht bewältigten Problemlagen wie der Kriegsgefahr, der Massenverelendung, ökologischen Katastrophen, den daraus resultierenden psychischen Erkrankungen usw. (ebd. 76f.). Gerade die spontanen Aktionen der counter culture, die allesamt von der Idee der Leistungsverweigerung getragen sind, bringen das System ins Wanken. Goodman sieht darin aber auch ein Zeichen dafür, dass sich Menschen nicht so einfach in eine schöne neue Welt eingliedern lassen, wie es eine auf Instrumentalität ausgerichtete Gesellschaftsordnung für ein reibungsloses Funktionieren der Gesellschaftsmaschine gerne hätte. Auf dieser Suche nach dem archimedischen Punkt, an dem sich der Hebel für Veränderungen ansetzen ließe, kommt er zu der grundlegende Frage: Wie lässt sich unter den gegebenen entindividualisierenden Bedingungen eine wahre Demokratie verwirklichen und damit die Einflussnahme der Menschen auf die Gestaltung ihres Lebens erhöhen? Goodmans Antwort: Den wirksamsten Schutz gegen die Verplanung und die Eingliederung des Menschen in die anonyme, fremdgesteuerte Herde ist »selbst die Initiative zu vernünftigen Veränderungen ergreifen zu können.« Damit ist auch der erste und wichtigste Schritt in Richtung einer Rehabilitierung der Handlungsfähigkeit getan; »denn eigene Entscheidungen innerhalb seiner Gemeinschaft zu fällen, anstatt sich bevormunden zu lassen, macht das dem Menschen würdige Handeln aus« (Goodman/Goodman 1994: 12). Ein solches menschenwürdiges Handeln beinhaltet die eigentlichen demokratischen und revolutionären Handlungen, die darin liegen, das konformistische Massenbewusstsein zu zerstören. Hiermit ist das Fundament von Goodmans gesellschaftspolitischen Anliegen benannt: die Konformität mit der Mehrheit und die darauf
16 Mit der These, dass die Mehrheit der Menschen keinen Einfluss auf ihre eigenen Angelegenheiten hätten, widerspricht Goodman der dominierenden Meinung der Zeitdiagnostiker, unsere Gesellschaft sei durch ein hohes Ausmaß an Individualismus und Eigenverantwortung gekennzeichnet, welche den Menschen vor ständige Überforderungen stelle.
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basierenden zentralistischen Strukturen aufzulösen, zugunsten der Stärkung der Selbstorganisation in kleinen regionalen zweck- und interessensgebundenen Einheiten. In diesem Sinne ist auch der folgende Appell zu verstehen: »Schon oberflächlich gesehen gibt es also Grund, die Dinge kurz und klein zu schlagen, nicht diesen oder jenen Teil des Systems (z.B. die herrschende Klasse), sondern das Ganze en bloc, denn es verspricht nichts mehr, es hat sich in seiner bestehenden Form als unassimilierbar erwiesen.« (Perls/Hefferline/Goodman: Gestalt-Therapie [1981]; zit. nach Johach 2009: 250)
Goodman fordert in seinen Schriften immer wieder zum Experiment mit gesellschaftlichen Alternativen und zum Austritt aus der bestehenden Ordnung auf. Der Prozess läuft jedoch nicht ohne Konflikte und Spannungen ab. Beeinflusst von Deweys Pragmatismus, betrachtet er diese jedoch vorwiegend als heilsam, da sie zum kreativen Experimentieren anregen und die Abhängigkeit des Menschen von den verhärteten repressiven Strukturen der Gesellschaft manifest werden lassen (Blankertz 1988: 91). Ein Hilfsmittel, um das eigene Leben kreativ zu bewältigen und die inneren wie äußeren Verhältnisse neu zu ordnen, liegt in der schon erwähnten Gestalttherapie. Mit dieser psychotherapeutischen Praxis sollen die Erfahrungsspielräume des Menschen auf körperliche, psychische und soziale Dimensionen ausgedehnt werden. Die Idee einer holistischen Verknüpfung dieser drei Ebenen ist hier von zentraler Bedeutung, da ein Verlust des Glaubens an die natürlichen Prozesse des Körpers mit psychischer Anpassung einher geht, die wiederum den Glauben an die menschliche Fähigkeit zu sozialem Wandel schwächt. Die »metaphysische Wurzel« dieser Problematik liegt nun gerade im Schwund des holistischen Pathos begründet, um dessen Rehabilitierung sich die Gestalttherapie bemüht. Neurosen entstehen folglich durch eine Zersplitterung des Subjekt-Objekt Gewebes, denn mit der Abspaltung des Bewusstseins aus dem nahtlosen Ganzen, tritt es uns als etwas Fremdes, Unverständliches und damit Bedrohliches gegenüber. »[W]ir glauben, dass dies [die der Praxis zugrunde liegende Ganzheitlichkeit; Anmerkung T.T.] die ursprüngliche, unverkümmerte, natürliche Auffassung des Lebens ist, das heißt des menschlichen Denkens, Handelns und Fühlens. Der gewöhnliche Mensch, der in einer Atmosphäre voller Spannungen aufgewachsen ist, hat seine Ganzheit, seine Integrität verloren. Um wieder ein Ganzes zu werden, muss er den Dualismus in seiner Person heilen, in seinem Denken und in seiner Sprache. Er ist gewohnt, Kontraste – kindlich und reif, Leib und Seele, Organismus und Umwelt, Selbst und Realität – so zu denken, als ob sie aus gegensätzlichen Einheiten bestünden. Die ganzheitliche Auffassung, die eine solche
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dualistische Betrachtungsweise auflösen kann, liegt vergraben, aber sie ist nicht vernichtet, und [...] sie [kann] mit ungeschmälertem Vorteil wiedergewonnen werden.« (Perls/Hefferline/Goodman 2007: 12)
Der Kern der Argumentation ist uns schon in der romantischen Naturphilosophie begegnet und auch die Wege zur Heilung sind mit den mesmeristischen Praktiken verwandt. So setzt die Gestalttherapie auf körperliche Aktivierung, »die darauf aus ist die eingefrorenen Energien [oder stagniertes Fluidum; Anmerkung T.T.] aufzuspüren und aufzutauen« (Roszak 1971: 272). Dies passiert unter anderem auf der explosionsartigen Äußerung von Emotionen, deren Verdrängung in ein Korsett von Selbstzwängen (Elias) nicht nur psychische Krankheiten provoziert, sondern auch körperliche Fehlbildungen und Unannehmlichkeiten wie Kurzsichtigkeit oder Zahnschmerzen hervorruft.17 Romantisch ist auch die Idee der Wiedergewinnung der »ganzheitlichen Auffassung« durch die Aneignung ursprünglicher Sinnesempfindungen des Kindes: »Die kindlichen Gefühle sind von Bedeutung nicht als etwas Vergangenes, dessen man sich entledigen müsste, sondern als einige der schönsten Kräfte des Erwachsenen, die wiederhergestellt werden müssen: Spontaneität, Phantasie, Unmittelbarkeit im Gewahrsein und im Zugriff auf die Umwelt.« (Perls/Hefferline/Goodman: Gestalt-Therapie [1951]; zit. nach Polster 2002: 71)
Die kindliche Wahrnehmungsweise als Quelle der Kreativität und die Gestaltung des Lebens als Experiment werden somit zu den wichtigsten Voraussetzungen für Selbstverwirklichung und Selbstorganisation. Das sind auch die Stichworte der counter culture, wo Goodmans Ideen auf fruchtbaren Boden fielen. Ihre Verwirklichung fanden sie im Aufbau von Gegeninstitutionen sowie in der Gründung von Stadt- und Landkommunen. Zwei Jahre vor der Proklamation des Port Huron Statements übte Goodman in Growing Up Absurd massive Kritik am amerikanischen Bildungssystem. Die Konsequenz, die er aus seinen geschilderten Analysen zu den bestehenden Institutionen zog, lag in der Aufforderung an die Studenten, von den Bildungsinstitutionen abzuwandern. Parallel dazu sollten sie sich ihre eigenen Bildungseinrichtungen schaffen, die auf dem Prinzip der Selbstorganisation beruhen. Nach dem Motto »weniger Hierarchie mehr Demokratie«, entstanden in den sechziger Jah-
17 Für einen Überblich zu den wichtigsten Grundannahmen der unter dem Einfluss von Goodman begründeten Gestalttherapie vgl. ebd. 270-285.
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ren eine Vielzahl an »Free Universities«, deren Zahl bis 1970 auf etwa 300 bis 500 Einrichtungen anwuchs (Schmidtke 2003: 225). Eine der wichtigsten Gegenuniversitäten war die Free University of Berkeley, die direkt im Anschluss an das Free Speech Movement gegründet wurde. Gleich in der Nähe des Campus der Berkeley Universität mieteten die Studenten ein paar Räumlichkeiten und starteten ihr Vorhaben – »we acted out a precise miniature image of the scope in which we would engage our freedom – an image of a whole society, newly recreated, many-dimensioned and united in cooperation and purpose« (Rossmann: Looking Back at the Free Speech Movement; zit. nach ebd. 229). Zu Beginn umfasste das Programm etwa 20 Kurse, weitete sich bis 1969 jedoch auf 119 Kurse aus, wovon der Großteil politischer Bildung vorbehalten war (Schmidtke 2003: 229f.) Im Anschluss an die Gegenuniversitäten formierten sich eine Reihe von Gruppierungen, die sich dem Grundsatz der Selbstorganisation verpflichtet sahen. So wurden Theatergruppen gegründet, die ihre Aufführungen als GuerillaTheater bezeichneten. Wie alle Aktionen der counter culture, so setzten auch diese auf die Mobilisierung der individuellen Befreiung: »Everything depends on you and your working relationship with other people. [...] The whole process of creating a play should revolutionize YOU« (Hilderley: Off Theatre [1968]; zit. nach ebd. 101f.). Die berühmteste Untergrundorganisation lässt sich jedoch in HaightAshbury, der Hochburg der Hippies, finden. Besonders in der Bay Area in San Francisco gab es durch die dort ansäßigen Künstlermilieus eine lange Tradition hinsichtlich der Bestrebungen nach Autonomie und Selbstorganisation, die ihre Kontinuität in den »Diggers« finden sollte. Der Name stammt von einer altruistischen Sekte, die im England des 17. Jahrhunderts entstanden war und die sich vorwiegend dadurch auszeichnete, dass sie Brachland urbar machte, um es Bedürftigen zur Verfügung zu stellen (Kraushaar 2008: 23). Die Diggers waren also inspiriert von den reformerischen Bestrebungen ihrer Namensvetter, als auch von früheren Projekten in der Bay Area. Die Idee war der Aufbau einer Free City, die sich aus einer Reihe von freien Institutionen zusammensetzte. Dazu gehörten 1968 in San Francisco ein Supermarkt, eine Autowerkstatt, eine Bank, eine Rechtsberatung, Herbergen, eine Klinik, Ateliers und Arbeitsräume, Schulen, eine Schmiede, ein Computerladen, eine Radio- und Fernsehstation sowie eine Zeitungsredaktion (welche die berühmte Untergrundzeitschrift San Francisco Oracle herausgab). Außerdem gründeten die Diggers Farmen oder versuchten über Kontakte zu landwirtschaftlichen Betrieben den Nahrungsmittelbedarf einer stetig wachsenden Zahl von Aussteigern in Haight-Ashbury zu gewährleisten
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(Schmidtke 2003: 109f.).18 Da die Diggers Kommerz und Geldwirtschaft strikt ablehnten, gab es in den Free Stores alles umsonst. Die Free City ist damit die prototypische Verwirklichung der sozialen Utopie in der Gegenwart bzw. »die Übersetzung des Potenziellen ins Aktuelle« (Marcuse 2008: 117). Entfremdete Arbeit, repressive Institutionen und kommerzielle Einrichtungen werden durch Bedingungen abgelöst, die ein autonomes Leben gewährleisten und Selbstverwirklichung und Authentizität, als zentrale Werte der counter culture, fördern. Dabei verfolgt man die Strategie des »intrinsic approach: change the lives and their quality, and the structure around and above them can be changed.« (Brief von Michael Rossman an Harold Taylor; zit. nach Schmidtke 2003: 64). Um die Menschen von den Werten der counter culture zu überzeugen setzte man nicht so sehr auf das Schwingen von Reden, auf Diskussionen oder auf die Empfehlung von einschlägiger Lektüre. Die Ideen sollten direkt über soziale Praktiken in das Bewusstsein dringen und es auf diese Weise verändern. Bei den Diggers gehörten dazu beispielsweise Praktiken des Einkaufens, welche bedürfnisadäquat sein sollten, um den Menschen ein Gespür für die »wahren Bedürfnisse« zu vermitteln. Zudem ging es darum, die Vorteile der Tauschwirtschaft hervorzuheben und die örtlichen Strukturen zu stärken, damit sich das kapitalistische System ausdünnt. Sowohl die Bestrebungen der Diggers als auch die Etablierung der unterschiedlichen Gegeninstitutionen waren jedoch letztlich gescheitert. Sie währten nur kurze Zeit und nach und nach gerieten auch diese in den Sog des kapitalistischen Systems. Mit dem Zustrom von Jugendlichen kamen auch immer mehr Händler in den Stadtteil, was zur Folge hatte, dass sie die Organisation unterliefen und die Kommerzialisierung der counter culture forcierten (Schmidtke 2003: 110f.). Andere Bestrebungen das Leben in die eigene Hand zu nehmen – welche zum Teil parallel mit den Plänen der Gegeninstitutionen liefen – waren vom Experimentieren mit alternativen Formen des Zusammenlebens getragen. Die Forderung nach Räumen als sinnstiftende Orte, die im Sinne Augés ein »Identifikationsangebot« machen, ließ zahlreiche Kommunen entstehen. Auch hierbei standen die Bohème-Milieus der Beatgeneration Pate, wo sich individuelle und künstlerische Selbstverwirklichung gemäß der romantischen Elementaridee entfalten konnte. Diese alternativen Wohngemeinschaften, die zum Teil über die Zeit der counter culture hinausreichten, umfassten rund 2 000 Landkommunen und 5000 städtische Kommunen, in denen bis 1979 etwa eine halbe Million
18 Nach 1967 gründeten die Diggers unter anderen auch Gegeninstitutionen in New York, Los Angeles, Boston, Toronto (ebd. 111).
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Menschen gelebt haben (ebd. 294). Die Popularisierung des Phänomens zeigt sich auch aus dem Umstand, dass das Magazin Newsweek das Jahr 1969 zu »The Year of the Commune« ausrief (Marwick 1998: 484). Die Kommunen waren nicht primär politisch ausgerichtet, wie ihre anarchistischen und sozialistischen Vorläufer, jedoch wurde bereits ihre Existenz politisch gedeutet. Damit folgen sie der universellen Aufgabe, der sich auch alle Gegeninstitutionen anschlossen: »to create a new society in microcosm, to plant the germ cells of new organism« (Melvill: Communes in the Counterculture [1972]; zit. nach Schmidtke 2003: 113f.). Zu der neuen Gesellschaft gehörte auch der Ausbruch aus der als pathologisch diagnostizierten Kleinfamilie, mit ihrer Konzentration auf Vater-Mutter-Kind Beziehungen. Hier war also der Ort, an dem Reichs Ideen von der sexuellen Befreiung in die Praxis überführt wurden, mit dem Ziel, die »orgastische Potenz« des neuen Menschen zu stärken. Auch Goodman war diesbezüglich von Reichs Ideen überzeugt, denn »[o]rgastically potent people will not tolerate authority or present-day industrial forms, but will instinctually create new forms.« (zit. nach Blankertz 1988: 42). Mit der Ablehnung der industrialisierten Welt und der Rückkehr zu einer naturgemäßen Lebensführung zeigen sich deutliche Parallelen zu den Anliegen der Lebensreform. Vor allem in den Landkommunen lag der Fokus auf »Natürlichkeit«, sowohl im Anbau und Konsum von Nahrungsmitteln, als auch im Umgang mit dem Körper. Arthur Marwick gibt, in Anlehnung an soziologische Untersuchungen, ein gutes Bild von Landkommunen im Jahr 68: »From the communal bathrooms and toilets to the communal bath house or sauna, from the occasional open farters and belchers to the ever-present naked children, from work-aday hot-weather gardening in the nude to the idyllic frolic of nude swimming, from long hugs and friendship kisses to mutual massages, one finds acceptance, sometimes halting, sometimes aggressive, of bodily exhibition, bodily functions and bodily pleasures, and all this in the name of greater naturalness.« (Marwick 1998: 485)
Der große Andrang in den Kommunen basiert somit zum Teil auf dem Wunsch der Jugendlichen nach einer natürlichen, das heißt authentischen Lebensweise. Diese wird dem Individuum durch die Bande der als mechanisch empfundenen Gesellschaftsordnung verwehrt. »Und darüber« meint Martin Buber (1950: 239) »geht das kostbarste Gut, das Leben zwischen Mensch und Mensch, verloren; die autonomen Zusammenhänge werden bedeutungslos, die persönlichen Beziehungen verdorren, der Geist selber verdingt sich als Funktionär.« Die Folge ist, dass »[d]ie menschliche Person [...] aus dem lebendigen Glied eines Gemeinschaftskörpers [gerissen] zum Zahnrad der ›Kollektiv‹-Maschine [wird].«
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An das diagnostizierte Verdorren menschlicher Beziehungen knüpft sich das zweite Motiv – die tief in uns verwurzelte Suche nach Gemeinschaft. Die counter culture hat hier einige Wege neu angelegt bzw. wiedergefunden, von denen Lebensweisen in Kommunen wohl die nachhaltigste Faszination ausgeübt haben, welche bis in die Gegenwart ausstrahlt. Zudem entsprechen diese alternativen Gemeinschaften auch der von Goodman postulierten Forderung, das Leben als Experiment zu führen. Ein derartiges Zusammenleben fordert nämlich die kreative Bewältigung der Spannungen, die sich aus dem Gemeinschaftssinn und dem Streben nach Individualismus ergeben. Für die Jugendlichen der Gegenkultur scheint zwischen diesen zwei Polen eine gar nicht so große Kluft zu liegen. »Sowohl der Gemeinschaftstrieb als auch der Individualismus beschließen in sich eine eigentümlich moderne Vorstellung von Identität, die nicht vorgegeben ist, sondern von dem einzelnen schrittweise erworben wird, wobei verschiedene Gemeinschaften (natürlich meistens Gemeinschaften von Gleichen) Gelegenheit bieten, diese Identität zu erwerben.« (Berger 1971: 41)
Aus diesem Grund bezeichnet Peter Berger solche Gemeinschaften treffend als »Identitätswerkstätten«. Hier kann das Individuum seine Individualität einwickeln, sich in Originalität üben und sich damit als authentisches Wesen fühlen. Mit dem Aufbau von Freien Universitäten, den Initiativen der Diggers (und anderen) zur Einrichtung von Gegeninstitutionen, und mit der Gründung experimenteller Formen des Zusammenlebens greift die counter culture die Forderung Goodmans auf, dass die Kräfte zu gesellschaftlichen Veränderungen nur von ›unten‹ kommen können: »The traditional American sentiment is that a decent society cannot be built by dominant official policy anyway, but only by grass-roots resistance, community cooperation, individual enterprise, and citizenly vigilance to protect liberty.« (Goodman: Like a Conquered Province [1968]; zit. nach Blankertz 1988: 84)
Auch ein anderer Vertreter der counter culture, der auf ihre kognitive Identität einen maßgeblichen Einfluss hatte, beschwor die Kräfte von unten – nach seiner Auffassung sollten sie jedoch aus dem Unterbewusstsein kommen, zu dem man wesentlich über Praktiken des Drogenkonsums Zugang gewinnt.
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4.2.5 Timothy Leary: Ideen zur psychedelischen Revolution »The aims and goals of our religion are completely orthodox, which are to find God and the Divinity within. The one thing that is controversial about our new religion is the sacraments which we use. The keys to inner discovery for us are the psychedelic drugs: marijuana, LSD, peyote.« TIMOTHY LEARY: DR. LEARY & THE LOVE BOOK, SAN FRANCISCO ORACLE
Eine der bedeutsamsten Praktiken der counter culture ist der Gebrauch von psychedelischen Drogen. Sie galten als Vehikel, um die »Charakterpanzerungen« (Reich) zu durchbrechen und die individuelle Grundlage für einen neuen Menschen bzw. eine neue Gesellschaft zu schaffen. Der mit revolutionären Anliegen aufgeladen Drogenkonsum reiht sich somit in einen Komplex von gegenkulturellen Praktiken, die von dem Grundsatz getragen werden: »Verändere die vorherrschende Form des Bewusstseins und Du veränderst die Welt!« Einen starken Einfluss auf den Drogengebrauch übte Aldous Huxleys The Doors of Perception (1954) aus, das in den Sechzigerjahren zum Kultbuch avancierte. Darin schildert Huxley seine auf Meskalin-Experimenten basierenden visionären Erlebnisse. Den Wert von psychedelischen Drogen erkennt er darin, dass potentiell jedem Menschen die Gabe der spontanen visionären Schau zu Teil wird, die sonst nur religiös musikalischen, wie Mystikern oder großen Künstlern vorbehalten ist. »Oder wie können wir, wenn wir nicht eben ein Visionär, ein Medium oder ein musikalisches Genie sind, je in die Welten gelangen, in denen Blake, Swedenborg, Johann Sebastian Bach sich bewegten?« (Huxley 2010: 12)
Imgrunde meint Huxley, »verfügt jeder von uns über das größtmögliche Bewusstsein.« Der Zugang zu diesem bleibt dem im Alltagsleben verhafteten Menschen jedoch üblicherweise verwehrt. Dies ist den gesellschaftlich installierten Filtersysteme geschuldet, deren Aufgabe es ist »uns davor zu schützen, von der Menge größtenteils unnützen und belanglosen Wissens überwältigt und verwirrt zu werden, und sie erfüllen diese Aufgabe, indem sie den größten Teil der Informationen, die wir in jedem Augenblick aufnehmen oder an die wir uns erin-
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nern würden, ausschließen und nur die sehr kleine und sorgfältig getroffene Auswahl übriglassen, die wahrscheinlich von praktischem Nutzen ist.« (Ebd. 19)
Was nach der Filtrierung übrig bleibt, ist lediglich ein »spärliches Rinnsal von Bewusstsein« (ebd. 19f.). Psychedelische Substanzen sind nach Huxley nun dazu in der Lage, die verschiedenen Filtersysteme, die sich im Gehirn des Menschen aufgebaut haben und Information lediglich nach ihrer Nützlichkeit selektieren, auszuschalten. Sie lassen uns das holistische Pathos erfahren und öffnen uns für andere Realitäten, welche üblicherweise dem »Reduktionsfilter« zum Opfer fallen. Huxley weist darauf hin, dass man die Wahrnehmungsweise in Analogie zu jener der Kindheit betrachten kann, wo keine Begrifflichkeiten und Klassifikationen die Einheit filetieren (ebd. 21). Sie haben einen »enthüllenden« Charakter und weiten auf diese Weise die Erfahrungsräume des Menschen aus. Huxleys Wirkung auf die counter culture war eine indirekte, da seine Ideen zu den psychedelischen Substanzen nur über seine Schriften vermittelt wurden. Sein Tod im Jahr 1963 verhinderte, dass er zu einer ihrer Bewegungsintellektuellen avancierte.19 Diese Rolle spielte eine andere schillernde Figur, die in engem Austausch mit Huxley stand – Timothy Leary. Im Jahr 1960 fuhr ein junger Dozent für klinische Psychologie an der renommierten Harvard University nach Mexico, wo er von einem Medizinmann »heilige Pilze« kaufte. Der Konsum dieser Pilze rief eine heftige mystische Ekstase hervor, die er als das tiefste religiöse Erlebnis seines Lebens bezeichnete (Hofmann 2010: 80). Damit begann nicht nur Timothy Learys Drogenkarriere, sondern auch sein Aufstieg zum Hohepriester der Rauschmittel und zum Heiland der psychedelischen Bewegung. Sein wissenschaftliches Interesse galt von da an ausschließlich der Erforschung psychedelischer Drogen. Zusammen mit seinem Kollegen Richard Alpert startete er mehrere Versuchsreihen, in denen er mit wissenschaftlicher Methodik die Wirkung von LSD und Psilocybin auf seine Probanten untersuchte. Neben der Steigerung der Kreativität berichteten die Versuchspersonen von »intense and life-changing religious experiences« (Leary 1968e: 17). Ein an den Experimenten teilnehmender Allan Ginsberg meinte dazu
19 Huxley war nicht nur ein charismatischer Redner, auch aus seinem thematischen Spektrum hätten sich für Gegenkultur vielfache Anknüpfungspunkte ergeben. Alan Watts (2007: 299) erinnert sich in seiner Autobiographie: »No one could resist listening to Aldous Huxley, even if only to the elegance of his voice and his use of language, with that recurrent phrase »realy most extraordinary« spoken with cultivated and scholarly detachment apropos of some curious phenomenon of hypnosis, art history, neurology, optics, or exotic religion.«
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begeistert: »Diese Droge scheint automatisch ein mystisches Erlebnis zu produzieren. Die Wissenschaft wird wirklich hip« (Miles: Ginsberg [1989]; zit. nach Kraushaar 2008: 15). Abbildung 5: Alice in Wonderland Da sich die Drogenexperimente (1967), Art: Owen unter den Studenten enormer Beliebtheit erfreuten und die Testserien immer mehr den Charakter von LSD-Partys annahmen, zog die Universitätsleitung die Notbremse. »LSD als Fahrkarte für eine abenteuerliche Reise in neue Welten des seelischen und körperlichen Erlebens« (Hofmann 2010: 81) hätte nichts mehr mit wissenschaftlichen Untersuchungen zu tun, weswegen Leary von der Universität entlassen wurde. Auf der Suche nach neuen Wegen, seine Studien weiterzuführen, gründete Leary die International Foundation for Internal Freedom (1963) und baute in Zihuatanejo (Mexico) ein Forschungszentrum auf. Dieses bestand jedoch nur kurDas Thema Drogen ist ein dominantes für die ze Zeit, da der mexikanischen Recounter culture. Das spiegelt sich auch im San gierung Learys Aktivitäten zu abFrancisco Oracle wieder – hier anhand der sonderlich erschienen und er darfiktiven Ikone der psychedelischen Bewegung aufhin des Landes verwiesen wurde. nach der Romanvorlage von Lewis Carroll Die massive Ablehnung des Establishments sowie sein zweimaliger Verstoß gegen das Rauschmittelgesetz20 ließen ihn endgültig zur Ikone und zum Martyrer der psychedelischen Bewegung werden. Diesem populären Höhenflug verdankt Leary auch, dass ein junger Mil-
20 Leary wurde zu 30 000 Dollar und 30 Jahren Gefängnis verurteilt. 1970 gelang ihm jedoch die Flucht aus dem kalifornischen Gefängnis, worauf er sich nach Algerien und danach in die Schweiz absetzte. Seine Flucht fand in Afghanistan ihr Ende, wo er von den Behörden festgenommen und an die USA ausgeliefert wurde. Bis 1976 blieb er inhaftiert. 1996 starb Leary im Alter von 75 Jahren – seine Asche wurde zusammen mit der von Gene Roddenberry (dem Erfinder von Star Trek), der eines Weltraumphysikers und eines Raketenentwicklers in den Weltraum geschossen.
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lionär namens William Hitchcock auf ihn aufmerksam wurde, der an die Bedeutung seiner Arbeiten glaubte. Mit seiner Hilfe wurde ein Landsitz in Millbrook, nahe New York, zu Learys Hauptquartier und zum Heiligtum psychedelischer Pilger aus der ganzen Welt.21 Leary betrachtete Drogen als Forschungsgeräte, die in ihrer Funktionsweise mit einem Mikroskop zu vergleichen sind. Die Introspektion verstärkt sich durch die Linse eines LSD-Trips und erlaubt damit einen einfachen Zugriff auf sedimentierte Bewusstseinsschichten. Psychedelische Drogen dienten Leary damit, ähnlich wie Huxley, als Mittel, um die tief im Unterbewusstsein verankerten Strukturen der hegemonialen bürgerlichen Welt aufzubrechen. Mit dem Drogenkonsum geht somit ein sozialkritischer Impetus einher, der sich im Ausstieg aus einem bürgerlich geordneten Lebenszusammenhang, und einer damit in Verbindung gebrachten entfesselten Konsumwelt, äußert. Im Playboy-Interview aus dem Jahr 1966 bringt Leary sein an den Drogengebrauch geknüpftes gesellschaftspolitisches Anliegen anhand eines Slogans auf den Punkt, der zum Glaubenssatz der counter culture avancierte: »Turn on, tune in, drop out.« »›Turn on‹ means to contact the ancient energies and wisdoms that are built into your nervous system. They provide unspeakable pleasure and revelation. ›Turn in‹ means to harness and communicate these new perspectives in a harmonious dance with the external world. ›Drop out‹ means to detach yourself from the tribal game. Current models of social adjustment-mechanized, computerized, socialized, intellectualized, televised, Sanforizedmake no sense to the new LSD generation, who see clearly that American society is becoming an air-conditioned anthill.« (Leary 1968b: 141)
Mit der Aufforderung, sich aus dem »Stammesspiel« zurückzuziehen und damit die Anforderungen der Gesellschaft zurückzuweisen, werden erneut die revolutionären Kräfte der schon von Marcuse und Goodman formulierten Weigerung beschworen. Hier kommt erneut der »enthüllende« Charakter von Drogen zum
21 Ein biographischer Abriss über Learys akademisches Wirken und die folgenden Stationen ist einem Playboy-Interview aus dem Jahr 1966 vorangestellt vgl. Leary 1968b: 118-122. Politics of Ecstasy ist in Deutschland seit 1981 indiziert. Begründet wird dies unter anderem damit, das Buch rufe »auf 220 Seiten zum Gebrauch von LSD auf und verherrliche gleichzeitig die Droge.« Damit übt es einen schlechten Einfluss auf Jugendliche aus, deren Wachstum »zu autonomen, sozialethisch verantwortungsbewussten Persönlichkeiten« verhindert wird. Vgl. Schäfer: Drogenbuch auf dem Index. Legalisiert Leary! http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,419282,00.html vom 01.06.2006 (Zugriff am 06.04.11).
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Ausdruck, den die counter culture in ihr Überzeugungsnetz integriert; denn mittels Psychedelika vermag die LSD-Generation ganz deutlich hinter den illusionären Schleier der amerikanischen Gesellschaft zu blicken. Was sie dort sieht, ist ein »klimaanlagengekühlter Ameisenhaufen«. Wie oben geschildert wurde, liegt eine Überzeugung der counter culture darin, dass sie durch diverse Praktiken die Utopie in der Gegenwart realisieren wollte. Leary knüpft an diese Idee an, indem er den Drogengebrauch an utopistische Heilserwartung knüpft: »The LSD experience does not lead to passivity and withdrawal; it spurs a driving hunger to communicate in new forms, in better ways, to express a more harmonious message, to live a better life.« (Ebd.)
Doch bevor es zum »Drop out«, also zum Ausstieg aus dem bürgerlichen Leben kommt, ist es essentiell, sich mit den universellen Energien zu verbinden. Nach Leary ist der Gebrauch von Psychedelika dafür der geeigneteste Weg, denn »[y]ou can’t jump from being a robot to become a follower of yogic method without being turned on first« (Anonym 1967b: 12) Der Drogengebrauch, wie auch die Droge an sich, wird von ihm religiös auratisiert. Die religiöse Metaphorik durchzieht die meisten seiner Schriften und zeigt sich in Formulierungen wie: »Bread, Wine & Lsd« (ebd.), »Today the sacrament is LSD« (Leary 1968c: 225), »LSD is Western Yoga« (Leary 1968b: 135) oder »LSD turns you on on God« (Leary 1968a: 82). Mit der Feststellung, dass LSD ein Vehikel zu Gott sei, ist jedoch nicht ein anthropomorphes Gottesbild gemeint, sondern die spirituelle Essenz, die allen Religionen zugrunde liegt. Die Erfahrung dieser Essenz ist charakterisiert als »a possession of the spirit of wholeness« (ebd. 81). Auch William James (2003: 390f.) betont den Zusammenhang von drogeninduzierten religiösen Erfahrungen mit dem Gefühl des holistischen Pathos: »[...] ich kenne mehr als eine Person, die davon überzeugt ist, dass wir im Lachgasrausch eine echte metaphysische Offenbarung empfangen. [...] Wenn ich auf meine eigenen Erfahrungen zurückblicke, laufen sie alle zu einer Einsicht zusammen, der ich eine gewisse metaphysische Bedeutung nicht absprechen kann. Ihre gleichbleibende Grundstimmung ist Versöhnung. Es ist, als wenn die Gegensätze der Welt, die Widersprüchlichkeiten und Konflikte, die die Ursache unserer ganzen Schwierigkeiten und Sorgen sind, zu einer Einheit verschmelzen. Sie gehören nicht nur, wie verschiedene Spezies, zu ein und derselben Gattung, vielmehr bildet eine Spezies, die vornehmere und bessere, selbst die Gattung und hebt damit ihre Gegensätze in sich selbst auf.«
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Für Leary bieten Psychedelika überhaupt die einzige Möglichkeit, dem Leben eine spirituelle Dimension zu verleihen. Durch LSD ange»turnt« ist man somit erst in der Lage, den schier unendlichen menschlichen Möglichkeitsraum zu entdecken, wodurch man zwangsläufig mit den wirklich wichtigen Fragen des Lebens konfrontiert wird. Antworten darauf lassen sich nach Learys Lehre natürlich wiederum nur auf der Basis von LSD-Erfahrungen finden.22 Diese einzig authentischen Erfahrungen werden mit den Codes »Fake«, »Unnatural«, »Automatic« kontrastiert, die eine hegemoniale Gesellschaft charakterisieren (Leary 1968c: 226f.). Learys Ideen zur psychedelischen Revolution münden letztlich im Aufruf seine eigene Religion zu gründen. »The instruments of systematic religion are chemicals. Drugs. Dope. If you are serious about your religion, if you really wish to commit yourself to the spiritual quest, you must learn how to use psychochemicals. Drugs are the religion of the twenty-first century. Pursuing the religious life today without using psychedelic drugs is like studying astronomy with the naked eye because that’s how they did it in the first century A.D., and besides, telescopes are unnatural.« (Leary 1968e: 44)
Der »Drogenpapst« der counter culture pries LSD als Allheilmittel. Als »spiritual equivalent of the hydrogen bomb« (Leary 1968b: 44) hatte es nicht nur die Kraft, die Pforten zur Reise ins Innere zu sprengen, um auf diesen Weg die eigene Göttlichkeit zu erfahren; besonders das eigene Leben – und damit die Gesellschaft en bloc – würde sich nach den geschauten Visionen verändern. Learys Predigt über die Transformationskräfte von Psychedelika zeigt besonders da seine skurrilen Seiten, wo er in visionärer Absicht ihren unaufhaltsamen Verbreitungserfolg schildert. Nicht nur dass Anwälte mit einem großen Grinsen durch die Stadt laufen und in allen Gerichten Marihuana geraucht wird, spätestens in 20 Jahren gäbe es auch gänzlich neue Institutionen, die auf den bewusstseinserweiterten Erfahrungen aufbauen (Leary 1968d: 69). Letztlich spiegelt sich in diesen – offensichtlich nicht eingetretenen – Prophezeiungen jedoch der gegenkulturelle Glaube an die Utopie wieder:
22 Zu den sieben wichtigsten spirituellen Fragen, die man ausschließlich aufgrund von psychedelischen Erfahrungen beantworten kann, gehören nach Leary: »The Ultimate Power Question«, »The Life Question«, »The Human Being Question«, »The Ego Question«, »The Emotional Question«, »The Ultimate Escape Question« (Leary 1968e: 19f.).
300 | D IE K ONTINUITÄT ROMANTISCHER I DEEN »[B]e prepared for a complete change of American urban technology. Grass will grow in Times Square within ten years. The great soil-murdering lethal skyscrapers will come down. Didn’t you know they were stage sets? Didn’t you know they had to come down? The transition will come either violently (by war) or gently, aesthetically, through a psychedelic drop-out process.« (Leary 1968: 236)
Zeichnete Leary eine zu erwartende Drogenkultur, die mit den Attributen authentisch und antimateriell versehen, die totale Freiheit versprach, so meinte Huxley, dass Drogen nicht per se als Mittel zur Befreiung angesehen werden können. Die Menschen in der schönen neuen Welt werden mittels Soma sediert – eine perfekte Droge, die keinerlei Nebenwirkungen verursacht und jeden Konsumenten sofort den Urlaub in paradiesische Gefilde antreten lässt. Auch Marcuse (2008: 61f.) begrüßt prinzipiell das »›psychedelische‹ Suchen«, das zur Revolution der Wahrnehmungsweisen beitragen kann und damit aus der Eindimensionalität leitet. Der Drogengebrauch sei jedoch eine verfehlte Praxis, wenn man sich, wie im Somarausch, lediglich in »seine künstlichen Paradiese innerhalb der Gesellschaft« zurückzieht. Die Hippies zeigten sich von solchen Warnungen wenig beeindruckt. So wurde die Zentrale der counter culture in Haight-Ashbury, wo auf dem Höhepunkt der Bewegung 100 000 Hippies lebten, zum Drogenumschlagplatz schlechthin für die gesamte Bay Area. Zum Ruf des Stadtteils als ›Hashbury‹ trugen auch die ekstatischen Veranstaltungen von Ken Kesey bei. Der mit One Flew Over the Cuckoo’s Nest (1992) über Nacht berühmt gewordene Schriftsteller verkaufte seine Filmrechte gewinnbringend und setzte sich für eine Gruppe kreativer Leute ein, die er Die Neon-Revolution nannte. Aus diesem Konglomerat bildete sich dann die Merry Pranksters. Dabei handelte es sich um eine Guerilla-Theatergruppe, die überall in der San Francisco Bay Area Happenings unter dem Motto ›Can You Pass the Acid Test?‹ veranstaltete. Die Sinne durch LSD aufs äußerste geschärft, wurden die Teilnehmer von einer aufwendig konstruierten Lichtshow und den treibenden Rockrhythmen von Keseys Hausband, den Gradeful Dead, zur kollektiven Ekstase gepeitscht (Lattin 2010: 8).23 Im Januar 1966 wurden die ›Acid-Tests‹ zum ›Trips-Festival‹, das unterschiedliche Musik-
23 Die Merry Pranksters wurden vor allem auch dadurch bekannt, dass sie einen alten Schulbus mit Mandalas und Leuchtfarben schmückten (am Heck stand: »Achtung: Irre an Bord«) und zusammen mit Ken Kesey durch Amerika fuhren, um die LSDBotschaft zu verbreiten (Watson 1997: 295).
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bands, poetische Lesungen, Multimediapräsentationen und die Kraft der Phantasie von 10 000 teilweise verkleideten Teilnehmern umfasste.24 Das dionysische Treiben war den Verwaltern des Establishments natürlich ein Dorn im Auge, weshalb LSD noch im selben Jahr in Amerika verboten wurde. Auf die politische Repression antworteten Tausende von Jugendlichen mit der Proklamation einer Declaration of Independence: »When in the flow of human events it becomes necessary for the people to cease to recognize the obsolete social patterns which have isolated man from his consciousness and to create with the youthful energies of the world revolutionary communities of harmonious relations to which the two-billion-year-old life process entitles them, a decent respect to the options of mankind should declare the causes which impel them to this creation. We hold these experiences to be self-evident, that all is equal, that the creation endows us with certain inalienable rights, that among these are: the freedom of body, the pursuit of joy, and the expansion of consciousness, and to secure these rights, we citizens of the Earth declare our love and compassion for all conflicting hate-carrying men and women of the world. We declare the identity of flesh and consciousness; all reasons and law must respect and protect this holy identity.« (Farrell 1997: 211)
Daran schlossen sich eine Reihe von Protestkundgebungen an, bei denen die Demonstranten Auge in Auge mit der Polizei LSD schluckten. In der Zeit nach dem Verbotsgesetz erfuhren die Hippies häufige Diskriminierungen durch Drogenrazzien, was die Fronten zwischen dem Establishment und der counter culture zusätzlich verhärtete (ebd. 212). Viele schlossen sich jetzt erst recht der psychedelischen Bewegung an und lebten nach Learys Credo – »Turn on, Tune in, Drop out.« Der Ausstieg aus der »fake« Gesellschaft und die damit einhergehende ReIndividualisierung, ist für die counter culture auch mit einem Ausstieg aus den entfremdeten Arbeitsverhältnissen verbunden. Würde keiner mehr inhumane Formen der Arbeit verrichten, dann offenbaren sich nach Leary die positiven Seiten der technischen Entwicklung, die auch Marcuse erkennt: »When all of the heavy work and mental drudgery is taken over by machines, what are we going to do with ourselves – built even bigger machines?« Marcuse (2008: 134) gab darauf die Antwort: »Zum ersten Mal in unserem Leben werden wir frei sein,
24 Ein Teilnehmer schreibt dazu: »In my mind the Trips Festival was the first public event to celebrate a head culture. It was a beautiful celebration, on which instilled in me anticipation of a glorious mass psychodelic experience. I love Kesey for having the conviction and vision to put LSD in the Kool-Aid« (Thelin 1966: 5).
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darüber nachzudenken, was wir tun werden.« Leary (1968b: 159) meint dazu: »The obvious and only answer to this particular dilemma is that man is going to have to explore the infinity of inner space, to discover the terror and adventure and ecstasy that lie within.« Die befreiende Entdeckungsreise nach innen kann, gemäß der Lehre, nur nach dem psychedelischen Drogenkonsum angetreten werden, weshalb auch die flächendeckende Verbreitung der Substanzen angestrebt wurde. Huxley zeigte sich hier differenzierter und weniger rigoros. Für ihn war Bewusstseinserweiterung neben dem Konsum von chemischen Substanzen auch auf anderen Wegen, wie durch Hypnose, Autosuggestion oder regelmäßiges Meditieren zu erreichen. Auch Ginsberg, der auf seinen Reisen gen Osten mit einer reichhaltigen spirituellen Landschaft Bekanntschaft schloss, rückte von den Behauptungen Learys ab, psychedelischen Drogen seien das einzige Mittel zur Befeiung: »Bloß Acid nehmen hat nichts mit Yoga zu tun. Yoga ist, durch Acid durchzukommen, wissen, was man damit macht. Yoga heißt wissen, wie man high sauber bleibt.« (Kramer: Allan Ginsberg in America [1997]; zit. nach Watson 1997: 306)
Für die Vermittlung fernöstlicher mystisch-spiritueller Praktiken zur Bewusstseinserweiterung war ein anderer Intellektueller der counter culture verantwortlich. 4.2.6 Alan Watts und das Esalen Institute: Ideen zur spirituellen Revolution »The mercy of the west has been social revolution; the mercy of the east has been individual insight into the basic self/void. We need both.« GARRY SNYDER: BUDDHISM & THE COMING REVOLUTION, SAN FRANCISCO ORACLE.
Verschafft man sich einen Überblick über das Themenspektrum einer der wichtigsten Untergrundzeitschriften – dem schon erwähnten San Francisco Oracle – so bekommt man einen guten Einblick in die dominierenden Anliegen der counter culture. Neben eindrucksvollen Graphiken und poetischen Werken, finden sich meist Artikel, die sich um festgestellte gesellschaftliche Problemlagen und Spannungen ranken, zu deren Auflösung bewusstseinserweiternde Praktiken
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empfohlen werden. So gibt beispielsweise Timothy Leary praktische Anweisungen, wie man sich am besten auf einen LSD-Trip vorbereiten soll, es findet sich eine »Checklist for Inner Space Astronauts« 25, und in fast jeder Ausgabe wird die gesellschaftspolitische Relevanz von psychedelischen Drogen besprochen. Gleichermaßen populär wie die psychedelische Bewusstseinserweitung war jene, die man auf spirituellem Weg erreichen konnte. Die Vorliebe der counter culture für Mystik und Esoterik spiegelt sich in den Traktaten zur fernöstlichen Philosophie sowie in den Erläuterungen zu spirituellen Praktiken, wie Meditationstechniken und Yogaübungen wieder. Die Jugendlichen der counter culture hatten das Gefühl, sie seien von einer ausgedörrten spirituellen Landschaft umgeben. Pflegten die Romantiker und die unterschiedlichen Vertreter mystischer Strömungen noch die Wege nach Innen, so verkümmerte mit ihrem Verschwinden auch ein reichhaltiges Vokabular, das zur Beschreibung innerer Vorgänge diente. Der Mangel an Spiritualität findet seine Entsprechung in kläglichen Ausdrucksmöglichkeiten über die nichtintellektuellen Bereiche des Lebens. So meint der Psychiater Ronald D. Laing (1981), dass wir zwar erstaunliche Leistungen im Erforschen des äußeren Raumes vorzuweisen hätten, welche beispielsweise im Besteigen der höchsten Gipfel der Welt oder in der Raumfahrt bestünden, den ›inneren Raum‹ jedoch sträflich vernachlässigen würden. Die bedeutsamste Aufgabe der Zeit sei demnach »den inneren Raum und die innere Zeit des Bewusstseins zu erforschen« (ebd. 115).26 Diese Forderung entspricht dem Anliegen der counter culture, die verloren gegangenen Bereiche wieder zu entdecken. Vor diesem Hintergrund verwundert es auch nicht, dass sich die Jugendlichen von fernöstlichen philosophi-
25 Die Checklist ist als eine Gebrauchsanweisung für all jenen zu verstehen, die sich mit ihrem LSD-Schiff in noch unerforschte Realitäten der Hinterwelt (Weber) begeben. Zu den Notfällen, die passieren können, merkt der Artikel an: »Inner space has not been fully explored and there might arise emergencies which, because of the unfamiliarity of the zone, may be frightening. Keep in mind that you will always land. These frightening zones may be new to you, but men have tracelled through them for centuries and have come out für the better on the other side. If a zone is frightening, or more than your ship can handle, move to annother location, eat some of your provisions, change the music, or notify your ground crew of the place you find yourself in.« (Anonym 1966: 12) 26 Durch den Verlust eines adäquaten Erfahrungswissens ist es auch kein Wunder, dass die Erforschung der inneren Bereiche auch erhebliche Gefahren bergen kann. Dies betrifft nicht nur drogeninduzierte Erfahrungen, sondern auch psychische Krankheiten, die sich infolge spiritueller Übungen einstellen können (Scharfetter 1999).
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schen Traditionen und Vergeistigungswegen angezogen fühlten, die sowohl treffende Metaphern und ein buntes Vokabular für die Beschreibung der Erfahrungen jenseits der »Pforten« bereithalten, als auch eine Reihe von Praktiken anbieten, um sich diese Bereiche zu erschließen. Mit der Hinwendung zu Drogenexperimenten und zu spirituellen Methoden sahen sich die Jugendlichen als Avantgarde der Bewusstseinserweiterung – als »Kosmonauten des Inneren«, wie sie Leslie Fiedler bezeichnete. »Die neue Welt« konstituiert sich demnach »durch die Eroberung des inneren Raums: durch ein Abenteuer des Geistes, eine Erweiterung der psychischen Möglichkeiten des Menschen« (H. Hoffmann 1972: 56). Waren Aldous Huxleys Schriften wegweisend für die psychedelische Bewegung, so zog die counter culture aus Hermann Hesses Werk wichtige Anregungen zur spirituellen Revolution. Die Verbreitung der Leserschaft unter den amerikanischen Jugendlichen war dabei maßgeblich Learys Hesse-Rezeption geschuldet. In seinem Aufsatz Poet of the Interior Journey (1968f: 179) begibt er sich auf die Suche nach Drogenerfahrungen in Hesses Werk und interpretiert dabei Govindas Erleuchtungserfahrung, auf den letzten Seiten von Siddharta, als »classic LSD sequence.« Mit einem stetigen Anwachsen der Verkaufszahlen – 27 allein Im Jahr 1967 wurden 100 000 Exemplare von Siddharta verkauft – näherte sich auch die Hippie-Bewegung ihrem Höhepunkt. Die Attraktion, die von seinen Schriften ausgeht, liegt zum einen darin begründet, dass Hesses Helden häufig Außenseiter oder gesellschaftlich Marginalisierte sind. Besonders der Steppenwolf hatte für die Jugendlichen somit einen hohen Identifikationswert. Zum anderen zeichnet Hesse in seinen Erzählungen das, schon in der Romantik beschworene, Bild des Ostens als Projektionsraum für nicht eingelöste Phantasien. Das holistische Pathos – umgesetzt in den spirituellen Praktiken – und die Idee der Selbstverwirklichung – die in den östlichen Philosophien angelegt ist – faszinierten Hesse und wurden von ihm literarisch verarbeitete. In Demian heißt es dazu: »Das Leben jedes Menschen ist ein Weg zu sich selbst hin, der Versuch eines Weges, die Andeutung eines Pfades. Kein Mensch ist jemals ganz und gar er selbst gewesen; jeder strebt dennoch, es zu werden. [...] Wir können einander verstehen, aber deuten kann jeder nur sich selbst.« (Hesse 2004: 8)
Zusammen mit der undogmatischen Haltung, die Hesse mit der indischen Religion assoziierte, begeisterten diese Ideen tausende seiner Leser und stimulierten
27 Siddharta rangierte damit unter den 10 meistgekauften Taschenbüchern. Zur HesseRezeption in den Vereinigten Staaten vgl. Mayer 1977: 88f.
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die Neugier nach dem östlichen Erfahrungsraum. Hatte Hesse lediglich einen indirekten, da nach und nach über seine Schriften vermittelten, Einfluss auf die counter culture, so war ein anderer Intellektueller, der Ost und West verbinden wollte, direkt in die Bewegung involviert – Alan Watts. Watts Betrachtungsweise östlicher Religionen war für die counter culture von exemplarischer Bedeutung. Seine Ideen sickerten nicht nur über die vielfältigen Schriften zur asiatischen Philosophie in die Jugendkultur, auch mit seinen Artikeln im San Francisco Oracle, der Gestaltung einer TV-Serie mit dem Titel »Eastern Wisdom and Modern Life«, und durch die Mitbegründung des EsalenInstituts hatte Watts maßgeblichen Anteil am Verbreitungserfolg östlicher Vergeistigungswege. Watts (2007: xiiif.) beschrieb sich selbst als Hedonisten und Bohèmeien, ausgestattet mit einem »contemplative character, an intellectual, a Brahmin, a mystic, and also somewhat of a disreputable epicurean who has had three wives, seven children, and five grandchildren.« In England geboren und aufgewachsen, kam er schon früh mit buddhistischen Ideen in Kontakt kam. Als Fünfzehnjähriger wurde er Mitglied der Buddhist Lodge, wo er auf seinen langjähriger Mentor, den Theosophen und Blavatsky Schüler Christmas Humphrey traf, der die Loge zusammen mit seiner Frau Aileen leitete. Auch wenn Watts nicht alle Ansichten von Blavatskys, als »metaphysical and occult science fiction« bezeichnetes Lehrgebäude, teilte, so würdigte er vor allem ihre Leistung, die Upanishaden, die Yoga-Sutren, die Bahagavad-Gita und den buddhistischen Pali-Kanon einer großen Zahl von britischen Aristokraten näher gebracht zu haben (ebd. 74). Sowohl die Kontakte seines Lehrers als auch die Mitarbeit am World Congress of Faiths (1936) ermöglichten es ihm, mit wichtigen Persönlichkeiten wie D.T. Suzuki, Alice Bailey, Jiddu Krishnamurti und vielen anderen Vertretern islamischer, hinduistischer und buddhistischer Lehren in Kontakt zu kommen, die sein eigenes Denken maßgeblich beeinflusst haben (ebd. 75f.). Als Watts in die Vereinigten Saaten übersiedelte, hatte er mit gerade einmal 24 Jahren bereits fünf Bücher veröffentlicht, die sich zum Großteil dem ZenBuddhismus widmeten. Auf der Suche nach einem adäquaten Beruf, der seinen undogmatischen religiösen Neigungen entsprechen sollte, ließ er sich im Rahmen der Episcopal Church in Chicago zum Priester ausbilden. Über diese episodische Rolle als Seelsorger schreibt Watts: »I did not then realize that within ten to fifteen years from this time (1940-1941) the minstrel role would – at least to the intelligent young – seem ineffectual and obsolete, and even out of the stream of Western culture. I could not foresee that by the mid-1950s the intellectual community would see nothing especially crackpot in one‹s being a Buddhist; that Indian, Chinese, and especially Japanese influences would be streaming into America;
306 | D IE K ONTINUITÄT ROMANTISCHER I DEEN that theologians would be discussing the death of God and the possibilities of ›religionless‹ Christianity; or – to go further – that eminent scientists would be questioning both the fundamental premises and the practical applications of science, and pointing out the catastrophic consequences of Western project for the conquest of nature, and that, therefore, a basic revision of our idea of the universe as a created artefact or mechanism would be in order. But back then I thought I was going into something as perennially useful as if I were to become a doctor [...]« (Ebd. 147f.)28
Die moralischen Positionen der Kirche zu Sexualität und Heirat entsprachen jedoch nicht seinen Überzeugungen. Die Unterdrückung der Sexualität und die Reduktion der Ehe auf lediglich politische bzw. soziale Funktionen (anstatt sie auf eine spirituelle Basis zu setzten) führten 1950 zur Amtsniederlegung und zum Austritt aus der Kirche (ebd. 197f.). Seine Betätigung als spiritueller Vermittler fand jedoch in der Lehrtätigkeit der schon erwähnten American Academy of Asian Studies ihre Kontinuität. Im Rahmen der Akademie konnte Watts seinen Neigungen nachgehen, die jedoch nicht so sehr in der Vermittlung der asiatischen Kultur oder in der theoretischen Erörterung der östlichen Philosophie lag. Er war davon überzeugt, dass nur durch das Üben von Praktiken aus dem hinduistischen, buddhistischen oder taoistischen Kontext, das egozentrische Bewusstsein überwunden werden kann. Aufgrund des Vorrangs der Erfahrung vor der Theorie, achtete Watts auch nicht auf die von Traditionalisten gepflegte Reinheit der Lehre. Er scheute somit nicht davor zurück, sich aus vielerlei Traditionen inspirieren zu lassen und diese zu einem »interessanten Rührei« (F. Schlegel) zu mixen: »I am not interested in Buddhism or Taoism as particular entities or subjects to be studied and defined in such a way that one must avoid ›mixing up‹ one’s thinking about Buddhism with interests in quantum theory, psychoanalysis, Gestalt psychology, semantics, and aesthetics, or in Eckhart, Goethe, Whitehead, Jung, or Krishnamurti.« (Ebd. 259)
28 Das diese Wahl eher aus pragmatischen Erwägungen getroffen wurde, kommt in der folgenden Passage seiner Autobiographie zum Ausdruck: I did not consider myself as being converted to Christianity in the sense that I was abandoning Buddhism and Taoism. To tell the truth, I never warmed up to the personality of Jesus as it comes down to us through history and tradition, art and doctrine, and the Gospels never appealed to me so deeply as the Tao Te Ching or the Chung-tzu book. It was simply that the Anglican Communion seemed to bet he most appropriate context for doing what was in me to do, in Western society (ebd. 152).
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Mit dieser Auffassung schloss er sich dem Anliegen des Instituts an, die praktische Transformation des menschlichen Bewusstseins zu verfolgen. Der anzustrebende Wandel sollte zu einem »organischen« Bewusstsein führen und damit auch zu organischen Institutionen als Alternative zur instrumentellen Denkweise und zur Vorstellung der Natur als mechanische Prozess (ebd. 305f.). Mit dem Blick auf den Westen meint er: »Ein Komplex von Gesellschaften, die über riesige materielle Reichtümer verfügen und darauf erpicht sind, sich gegenseitig zu zerstören, ist alles andere als eine Vorbedingung für eine soziale Gesundheit.« (Watts [1961] (1980): 16)
Die soziale Pathologie, als Ausdruck des Unbehagens an der Kultur, ist den westlichen Denkstrukturen geschuldet, die uns als »isolierte Inseln des Bewusstseins« (ebd. 25) erscheinen lassen. Den Wert der östlichen Überzeugungen sieht Watts nun gerade darin, dass hier die Trennung zwischen Geist und Materie, Seele und Leib nicht in diesem Sinne vollzogen worden ist.29 Aus diesem Grund lässt sich hier auch das in der frühen Kindheit verspürte »ozeanische Gefühl« wiederentdecken. Nur in der Aneignung einer solchen holistischen Betrachtungsweise ist die Konfusion des dualistischen Denkens zu überwinden: »There is no solution except to regain the baby’s vision and so to realize that the confusions are not really serious, but only games whereby adults pass the time and pretend to be important. Seen thus, the world becomes immeasurably rich in colour and detail because we no longer ignore aspects of life which adults pass over and screen out in their haste after serious matters.« (Watts 2007: 307)
Ein Eindruck vom ozeanischen Gefühl lässt sich auch über Drogenerlebnisse gewinnen. Nachdem Watts einige Male mit LSD experimentierte beschrieb er seine Erfahrungen in dem Buch The Joyous Cosmology: Adventures in the Chemistry of Consciousness (1962): »Slowly it becomes clear, that one of the greatest of all superstitions is the seperation of mind from the body« (zit. nach Kripal 2007: 123). Entgegen den Ansichten seines Freundes Timothy Leary ist er jedoch der Meinung »when one has recived the message, one hangs up the
29 Als Beispiel führt er in einem Artikel des Oracles an: »The Chinese, in particular, have never made a hard-and-fast distinction between the spiritual and the material, the mental and the physical, for they regard nature as a spontaneous, self-regulating organism which is an intelligent pattern or process rather than an artifact, or mechanism.« (Watts 1967: 19).
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phone«. Dementsprechend verweist er auch auf den Umstand, dass »very many of those who had constructive experiences with LSD, or other psychodelics, have turned from frugs to spiritual disciplines – abandoning their water-wings and learning to swim« (Watts 2007: 327). Die östlichen Befreiungstechniken vermitteln uns nach Watts nun nicht nur ein Gefühl vom holistischen Pathos, sie lassen uns auch die Illusion (Maya) erkennen, der man gewöhnlich aufsitzt. Diese liegt darin, die sozialen Konventionen und Institutionen als Realität hinzunehmen. Watts Version des »Drop-out« besteht nun darin, das gesellschaftliche Spiel nicht ernst zu nehmen und es als kontingent30 zu durchschauen: »Wenn nämlich jemand sich selbst nicht mit der Definition verwechselt, die andere ihm gegeben haben, ist er mit einem Mal universell und einzigartig, universell kraft der untrennbaren Verbundenheit seines Organismus mit dem Kosmos, einzigartig, weil er gerade dieser Organismus ist und nicht irgendein Stereotyp einer Rolle, einer Klasse oder Identität, die er der sozialen Kommunikation zuliebe angenommen hat.« (Watts 1981: 21)
In Praktiken der östlichen Befreiungswege mit ihrer Funktion die »untrennbare Verbundenheit« zu erkennen und den Kontakt zur inneren Stimme der Natur nicht zu verlieren, sind die Elementarideen des »holistischen Pathos« und des »authentischen Selbst« miteinander verknüpft. Was die counter culture an Watts Ideen anziehend fand, war einerseits seine Vorliebe für die aus der Praxis gewonnene Erfahrung.31 Auf der Suche nach Praktiken, die ein intensives Erleben ermöglichen, wies Watts den Jugendlichen den Weg nach Osten. Wie wir sahen galt der mythologisch aufgeladene Osten seit der Romantik als Fluchtpunkt für die unterdrückte Phantasie und eine verkümmerte Sinnlichkeit. So ist wohl für alle drei gegenkulturellen Bewegungen die von Sloterdijk (1999: 164) formulierte Bemerkung zutreffend, die er einer
30 Unter »kontingent« verstehe ich hier eine Auffassung, wonach etwas Gegebenes nicht notwendig so sein muss, wie es sich darstellt, sondern auch anders sein könnte. In diesem Sinne kann man es als Spezifikum der hier angeführten kulturellen Bewegungen betrachten, dass sie die gesellschaftlichen Verhältnisse als kontingent begreifen. 31 Watts (2007: 115) weist darauf hin, dass D.T. Suzuki dem traditionellen Zen, wie es in Japan praktiziert wurde, äußerts kritisch gegenüberstand. Dementsprechend meint er zur Bevorzugung der Praxis: »I prefer the more active Zen of walking meditation, archery, t’ai-chi exercises, mantra-chanting, practicing Chinese calligraphy, tea ceremony, swimming, and cooking. Too much za-zen is apt to turn one into a stone Buddha.«
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Figur im Zauberbaum in den Mund legt: »Zwischen den Schenkeln der Frauen liegt Indien. In dieses Morgenland der Seele pilgern wir mit großer Müdigkeit im Herzen, um neu geboren zu werden.« In den Sechzigerjahren brachen nun jedoch erstmals Scharen von Jugendlichen auf, um diese fernen Länder auch außerhalb der Imagination zu bereisen. Roszak (1971: 61) bemerkt dazu, dass »[d]ie europäischen Einwanderungsbehörden [...] einen konstanten Strom von ungefähr 10 000 malerischen »Blumenkindern« (überwiegend aus Amerika, England, Deutschland und Skandinavien) pro Jahr [verzeichnen], die in den nahen Osten oder nach Indien ziehen.« Dort fanden sie einen reichhaltigen spirituellen Fundus, auf dessen Basis sie sich in einem spontanen, lebendigen und natürlichen Ausdruck üben konnten. Andererseits trug auch Watts Vermittlung zwischen östlicher Spiritualität und westlicher Psychoanalyse zu seiner Popularität bei. Zur Psychoanalyse schreibt Watts (2007: 310): »It has seemed to me a possible aperature through which Western people might catch a glimpse of something beyond the iron firmament of their mechanized world.« Analog zu den östlichen Praktiken betrachtete er sie als Mittel, um sowohl das Empfinden der eigenen Existenz als »desengagiertes Subjekt« (Taylor), als auch unsere Beziehung zur Gesellschaft und zur Natur zu verändern. Damit hebt Watts (1981: 26) zwei gemeinsame Interessen der Psychotherapie und der östlichen Befreiungswege hervor: »erstens die Veränderung des Bewusstseins, des inneren Empfindens der eignen Existenz; zweitens die Lösung des einzelnen von Formen der Konditionierung, die ihm durch soziale Institutionen auferlegt wurden.« Mit seinen Bestrebungen, vor allem die Erfahrungen des Zen-Buddhismus und des Taoismus in die Sprache westlicher Psychologie zu übersetzen, prägte er auch maßgeblich das Esalen Institut in Big Sur. Das Esalen Institut wurde zu Begin der Sechzigerjahre von Michael Murphy und Richard Price gegründet. In diese Zeit fiel ebenso die Veröffentlichung von Aldous Huxleys Buch Island (1962), das eine positive Gegenwelt zur dreißig Jahre zuvor erschienen Brave New World schildert. Das Eiland diente Huxley als Blaupause für eine anzustrebende Gesellschaft. Hier leben die Menschen in sexueller Freizügigkeit und in Harmonie mit der Natur, zum Zweck der spirituellen Entwicklung nehmen sie bewusstseinserweiternde Drogen (»Moksha«; Sanskrit für Erlösung, Befreiung) und praktizieren Buddhismus, Krankheiten werden mit-
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tels mesmeristischer Praktiken kuriert32, ferner ist das Leben in einer genossenschaftlichen Communitas organisiert. Huxley sah in den Fünfzigerjahren schon die Anzeichen einer Auflehnung gegen die bestehenden Verhältnisse und ahnte vermutlich das Anbrechen einer Gegenkultur. Vor diesem HinterAbbildung 6: The Houseboat Summit, grund der Krise und dem BeCover von Mark DeVries. wusstsein, dass die gesellschaftliche Entwicklung auch in andere Bahnen gelenkt werden könne, ist die Entstehung des Romans zu verstehen. Die counter culture griff seine Vorstellungen auf, wobei sich ein schlichtes Bewusstsein von gesellschaftlicher Veränderung zur Gewissheit wandelte. Aus Esalen, dass im Selbstverständnis der Protagonisten die Verwirklichung von Huxleys positiver postmaterialistischer Utopie war, sollten dabei wichtige Impulse des Wandels ausgehen. Um was es sich bei dem Institut genau handelte, lässt sich am besten durch einen Blick auf die Abgebildet sind die Helden der HippieGegenkultur, die auch alle am Esalen Institut frühen Broschüren ergründen, in involviert waren. Von links nach rechts: Timo- denen das Seminarangebot skizthy Leary, Allen Ginsberg, Gary Snyder ziert wurde. Die ersten beiden (Buddhist und Dichter) und Alan Watts. wurden im Jahr 1962 gedruckt und waren mit dem Titel »the human potentiality« überschrieben. Eine Lotusblume, als hinduistisches und buddhistisches Symbol reiner Erleuchtung, fungierte als Logo, und auf der rechten Seite wurde der Text von einem in Meditation versunkenen, lächelnden Buddha begrenzt. Zu den Inhalten gibt die Broschü-
32 In Huxleys ([1962] 2000: 157) Rezeption des thierischen Magnetismus lässt er den in westlichen Naturwissenschaften geschulten Arzt Dr. Andrew am Raja von Pala eine Tumoroperation unter Hypnose vornehmen. Obwohl er von der Wirkung magnetischer Streichbewegungen nicht überzeugt ist, zeigen sie sich höchst effektiv. Als Wunderheiler zum ersten Ratgeber avanciert unterwies er »Gruppen von Geburtshelferinnen und Ärzten, Lehrern, Müttern und Kranken in seiner neuentdeckten Kunst.«
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re folgende Auskunft: »A seminar series exploring recent developments in psychology, psychical research and work with the ›mind-opening‹ drugs« (Kripal 2007: 100). Das deklarierte Ziel ist, eine neue Auffassung vom Menschen zu bekommen, »oriented toward health, growth and exploration of our psychic potentialities« (ebd. 100f.). Schon aus dieser ersten Charakterisierung wird klar, dass es sich bei dem Institut um einen Ort handelt, an dem die verschiedenen Ideen der Hippiekultur zusammenliefen. Die Seminare spiegeln die ganze Palette gegenkultureller Praktiken wieder – drogeninduzierter Mystizismus, Schamanismus, östliche Befreiungswege und eine ganze Reihe von anderen unkonventionellen Therapie- und Selbsterfahrungsmethoden. Zu letzteren gehörte auch Fritz Perls Gestalttherapie, die aus seinen Erfahrungen mit Reich’scher Psychoanalyse, Existenzphilosophie und Zen-Buddhismus erwuchs. Aus der Zeit am Esalen Institute stammt sein berühmtes »Gestaltgebet«: »Ich tu, was ich tu; und du tust, was du tust. Ich bin nicht auf dieser Welt, um nach deinen Erwartungen zu leben. Und du bist nicht auf dieser Welt, um nach den meinen zu leben. Du bist du, und ich bin ich. Und wenn wir uns zufällig finden – wunderbar. Wenn nicht, kann man auch nichts machen.« (Perls: Gestalt-Therapie in Aktion [1974]; zit. nach Johach 2009: 254)
Das Gebet hatte wohl eine Stärkung des Individuums, im Sinne der hier verfolgten Idee der Entwicklung eines ›authentischen Selbst‹, bezweckt. Dabei ist es jedoch nicht verwunderlich, dass ihm diese Zeilen häufig als Aufforderung zum narzisstischen Ego-Trip ausgelegt wurden, weshalb er sie kurz vor seinem Tod abänderte (Johach 2009: 254f.). Bei der Gestaltung des Programms in Esalen legte man großen Wert auf experimentell angelegte Seminare, deren Zahl gegen Ende der Sechzigerjahre auf fast 90 Prozent des Gesamtangebots anwuchs. Beispielhaft ist die folgende Beschreibung, welche den Ansatz des Instituts verdeutlicht: »A comparative study of some of the mystical traditions within the great world religions, combining discussion with practice of meditation exercises derived from these traditions. The seminar will explore the possibility of applying these ancient ideas and exercises to our present religious life, in ways appropriate to our individual temperaments, capacities, and circumstances. Special attention will be given to the Upanishads, the Tantras, the Christian contemplative life [...], Hasidism, and the lives and teachings of Ramana Maharishi and Sri Aurobindo.« (Kripal 2007: 105)
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Das Selbstverständnis der Gründer entspricht der, überall in der counter culture kursierenden Überzeugung, dass man in einer Zeit des großen Umbruchs lebe. In dieser »liminalen Phase« lösen sich die Grenzen zwischen »pathologisch« und »normal« zunehmend auf. Bei Price’s kommt diese Auffassung so zu Ausdruck: »In every society the individual is taught to perceive the world (including himself) in ways which are asserted to be objectively correct. Individuals who indicate that they do not perceive the world in these ways are likely to labelled ›irrational‹. Western civilization is now in the process of rapid change in which different ways of perceiving the world are in strong competition, with great dangers to individual freedoms. A somewhat comparable period in history is the period 1200-1700. The field of mental health is one of the important areas in which ideological conflict occurs.« (Ebd. 101f.)
Doch in Zeiten des Konfliktes bietet sich auch die Möglichkeit, dass sich eine andere Wahrnehmungsweise durchsetzt. In diesem Sinne wurde das Esalen Institute als eine Einrichtung betrachtete, die nicht so sehr als Diagnosezentrum für die gesellschaftlichen Pathologien fungierte, sondern als Vermittlungszentrale diverser bewusstseinsverändernder Praktiken: »We must not merely analyze maladies; we must show people the way towards their own true selves so that, filled with the joy of learning, loving and being, they will study hatred and war no more« (Leonard/Murphy 1968: 6). Diese Bestrebungen fanden ihren Ausdruck im Human Potential Movement, dem sich auch die Gestalttherapie von Fritz Perls anschloss. Das Konzept basierte auf den von Carl Rogers und William C. Schulze begründeten Encounter Groups, in denen Menschen, ohne gesellschaftliche Masken, ihre wahren Gefühle zeigen konnten, um sich damit ganz der Persönlichkeitsentwicklung zu widmen. Auch hier wird wiederum die Gruppe als Keimzelle für den neuen Menschen betrachtet, der sich aus den Fesseln der Entfremdung befreit hat: »We envisage no mass movement, for we do not see people in the mass; we look instead to revolution through constant interplay between individual and group, each changing the other. The revolution has begun. Human life will be transformed. [...] We live in groups, in communes, and the group is the basic unit in the Esalen dynamic. This stuff has been used to straighten out straights – pass it on to heads to grow taller with, and it could be dynamite.« (Ebd.)
Die Anregung zur Bildung von Encountergruppen ging dabei nicht nur von Esalen aus. Auch im Rahmen der Gegenuniversitäten wurden Encountertechniken – wie Gestalttherapie, Psychodrama und Traumdeutung – vermittelt. Quantitativ
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machten diese ungefähr zehn Prozent des Kursangebotes an den Universitäten aus. Da sich etwas 100 000 Menschen in Gegenuniversitäten engagierten, ist der Anteil derer, die sich in Encountertechniken übten, auf ungefähr 10 000 zu schätzen (Schmidtke 2003: 112). In den Ansichten von Watts, dem Seminarangebot des Esalen Institutes als auch im Konzept von Perls’ Gestalttherapie, zeigt sich die Prämierung der Erfahrung. Damit legitimiert sich ein Vermengen von spirituellen, religiösen und magischen Ideen aus den unterschiedlichsten traditionellen Beständen mit modernen psychotherapeutischen Ansätzen. Geradezu paradigmatisch findet sich diese Überzeugung im Synkretismus der counter culture. So ist die Beschreibung eines Kursprogramms an einer Gegenuniversität mit dem Titel »Von den Comic-Heften zum Shiva-Tanz: Amnesie und die Psychologie der Selbsterfahrung« versehen. Was einen dabei erwartet entspricht dem erwähnten Hunger nach Erfahrung in Formen der Selbsttranszendenz: »Eine nichtfestgelegte Folge offenbleibender Situationen. Schwingungsabfolgen von größter Bedeutung. Erforschung innerer Bereiche, Demontage des menschlichen Roboters, Bedeutung von Psycho-Drogen und Transformation des westeuropäischen Menschen. Quellenmaterial: Artaud, Zimmer, Gurdjieff, W. Reich, K. Marx, gnostische, Sufi- und tantrische Texte, autobiographische Berichte von Wahnsinn und ekstatischen Bewusstseinszuständen – Pop Art und Prosa des 20. Jahrhunderts.« (Roszak 1971: 80f.)
Das holistische Pathos und die Idee eines ›authentischen Selbst‹ sind vor allem in den kulturellen Bewegungen der Romantik und der Lebensreform über vornehmlich spirituelle Praktiken miteinander verbunden. Mit der counter culture kann eine neue synkretistische Wiederbelebung des Religiösen konstatiert werden, wodurch beide Ideen erstmals eine größere Breitenwirksamkeit erfahren. 4.2.7 Death of the Hippie Am 14. Januar 1967 fand eines der bedeutendsten Happenings der counter culture statt, welches den Beginn des legendären Summer of Love markierte – das Human Be-In. Den genauen Zeitpunkt für die große Zusammenkunft bestimmten zwei Astrologen, die den Tag als besonders stimulierend für die Verständigung der Menschen bewerteten. Also versammelten sich 25 000 Menschen im Golden Gate Park (Kraushaar 2008: 25), die dem Ruf nach »a Gathering of the Tribes« gefolgt waren. Die Identifizierung der verschiedenen, unter dem Begriff counter culture firmierenden Subkulturen mit wilden Indianerstämmen, entspricht dem schon erwähnten antizivilisatorischen Impuls der Jugendkultur. Die Indianer wurde jedoch nicht nur zum Symbol für den Widerstand gegen eine hegemoniale
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Kultur, sondern auch zum Vorbild für ein Gemeinschaftsleben, das mit seiner spirituellen Ausrichtung in Einklang mit der Natur steht (Hieber 2009: 130).33 Eine zwei Tage zuvor abgehaltene Pressekonferenz, bei der »Space Cakes« an alle Journalisten verteilt wurden, gibt einen Ausblick auf das Festival: »Die politischen Aktivisten aus Berkeley und die Generation der Liebe aus HaightAshbury werden sich mit den Angehörigen der neuen Nation zusammenschließen, die aus allen Teilen unseres Landes anreisen werden. All die Mitglieder der verschiedenen Stämme der Jugend (der neu entstandenen Seele der Nation) werden beraten, feiern und das Zeitalter der Befreiung, der Liebe, des Friedens, des Mitgefühls und der Einheit der Menschheit verkünden. Die Nacht, in der Amerika die Adlerbrust schwellen musste, um seine Angst zu vergessen, ist vorbei. Werft eure Ängste über Bord und vertraut euch der Zukunft an.« (Anthony: Sommer der Liebe [1982]; zit. nach Kraushaar 2008: 25f.)
Eine wichtige Rolle bei den Festen der counter culture spielte die Musik. Der psychedelische und experimentelle Sound von Bands wie Grateful Dead und Jefferson Airplane aus der Bay Area oder der englischen Rockband Pink Floyd war nicht nur für die Entwicklung der Musikszenen von großer Bedeutung; wie alle der oben geschilderten Praktiken der Hippiekultur, so zielten auch diese auf eine ganzheitliche Wahrnehmungsweise ab. In der durch Drogen und progressive Rockmusik stimulierten kollektiven Ekstase entstehen starke und bewegende Gefühle. Das einzelne isolierte Bewusstsein verschmilzt mit etwas Größerem, von dessen Kraft man überwältigt wird. Der von Durkheim verwendete Begriff der »Efferveszenz« verweist auf solche, den Alltag übersteigende und neue
33 Auch das San Francisco Oracle widmet in romantischer Manier eine Ausgabe (The American Indian) dem Thema der indianischen Lebensweise. Diese wird in allen Belangen als naturgemäß und ganzheitlich identifiziert. Damit diente sie als Projektionsfläche eines besseren Lebens, das den gegenwärtigen Verhältnissen entgegengestellt wurde. Zu den bewusstseinsverändernden Praktiken gehörte nach dieser Auffassung, dass man den Indianer im Menschen weckt: »We came from nature and we can return to nature. WE ARE INDIAN!« Der Indianer wird, so wie das Kind, aber auch zum Ausdruck einer verschütteten ganzheitlichen Geisteshaltung: You seek the child within you, not for childishness, but rather for the wholeness of personality that exists, before the harried and split self of what we call maturity. Nature people have this wholeness, and the wisdom that can only come from this self possession. You listen to be enlightened by the child’s clear voice. This child within you IS the hunger for the Indian« (Collier 1967: 21).
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Wirklichkeitsbereiche erschließende Erfahrungen.34 Damit löst sich das Bewusstsein von seinen gewohnten Denkmustern. Diesen Anspruch, den die counter culture mit der Musik verknüpfte, trug – wie wir gesehen haben – auch Herbert Marcuse an die gesamte Kunst heran. Auch am Human Be-In durfte Musik also nicht fehlen, die von den Bands der Bay Area beigesteuert wurde. Dazu wurden die Massen von den Diggers mit freiem Essen versorgt, die Hell’s Angels sorgten für die Sicherheit, ein ganz in weißen Gewändern gehüllter Leary predigte »the only way out is In«, und die beiden Beatpoeten Ginsberg und Snyder intonierte das Hare Krishna Mantra für eine bessere Zukunft, die jetzt begonnen hat. Als der Tag vorüberging und sich kollektive Eintracht ausgebreitet hatte tönten die letzten Worte, gesprochen von Ginsberg, aus den Lautsprechern: »Now that you have looked up at the sun, look down at the feet and practice a little Kitchen Yoga after this first American Mehla. Please pick up any refuse you might see about you. Shanti« (Levine 1967: 24). So wurde der Summer of Love eröffnet und die Hippiekultur erreichte ihren Zenit. Gab es zu Beginn der sechziger Jahre lediglich ein paar Tausend avantgardistische Aktivisten, so wuchs die Hippiekultur bis Ende der 1968er auf ungefähr 200 000 Jugendliche und 300 000 Sympathisanten an. 1970 stieg die Zahl dann noch einmal auf beachtliche drei Millionen (Schmidtke 2003: 104). Die folgende romantische Schilderung von Allen Ginsberg lässt die weltanschaulichen Aspekte der romantischen Bewegung noch einmal Revue passieren:
34 Über das Verhältnis von kollektiver Efferveszenz und der Entstehung des religiösen Gefühls meint Durkheim (1981: 565): »In der Tat haben wir gesehen, dass das kollektive Leben, wenn es einen bestimmten Intensitätsgrad erreicht hat, das religiöse Leben erweckt, weil es einen Gärungszustand erregt, der die Beziehungen der physischen Tätigkeit verändert. Die Vitalenergien sind überreizt, die Leidenschaften lebendiger, die Eindrücke stärker. Manche entstehen überhaupt nur in diesem Augenblick. Der Mensch erkennt sich nicht wieder; er glaubt, verwandelt zu sein und folglich verwandelt er sein Milieu, das ihn umgibt. Um sich über diese außergewöhnlichen Eindrücke Rechenschaft zu geben, die er empfindet, verleiht er den Dingen, mit denen er in engster Beziehung steht, Eigenschaften, die sie nicht haben, Ausnahmekräfte, Tugenden, die die Gegenstände der täglichen Erfahrung nicht besitzen.« Durch diese Charakterisierung wird klar, warum manche Religionssoziologen für die Moderne eine Vervielfältigung des Religiösen feststellen. Diese intensiven Augenblicke verwandeln profane in sakrale Bereiche. Demnach ergibt sich die von Sloterdijk (2009: 147) benannte Formel: »Religiös ist, was den Ausnahmezustand herbeiführt.«
316 | D IE K ONTINUITÄT ROMANTISCHER I DEEN »The most sensitive and among the ›best minds‹ do drop out. They wander over the body of the nation looking into the faces of their elders, they wear long Adamic hair and form Keristan communities in the slums, they pilgrimage to Big Sur and live naked in forests seeking natural vision and meditation,
Abbildung 7: The Human Be-in. Cover: Michael Brown, Stanley Mouse.
they dwell in the Lower East Side as if it were an hermetic forest. And they assemble thousands together as they have done this year in Golden Gate Park in San Francisco or Tompinks Park in New York to manifest their peaceableness in demonstrations of Fantasy that transcend protest against – or for – the hostilities of Vietnam. Young men and women in speckled clothes, minstrels’ garb, jesters’ robes, carrying balloons, signs ›President Johnson we are praying for you‹, gathered chanting Hindu and Buddhist mantras to calm down citizens who are otherwise entrapped in a planetary barroom brawl.« (Ginsberg: Renaissance or Die [1968]; zit. nach Hecken: 2008: 111)
Zu den identitätsstiftenden Besonderheiten gehörte der schon angesprochene Drogengebrauch, die spirituelle Lebensausrichtung und die Vorliebe für experimentelle Musik, aber auch das Tragen von bunten Kleidern und langen Haaren –»the freak flag« genannt – waren stilistische Mittel, welche die Kodes der gegenkulturellen Bewegung nach Außen sichtbar machten. Damit sollten die Werte der Jugendkultur zum Ausdruck gebracht und mit denen der hegemonialen Kultur kontrastiert werden. Aus den poetischen Bildern, die Ginsberg zeichnet, zeigt sich, dass die counter culture auf eine gelebte – das heißt selbst aktiv gestaltete – Kultur baut, die als komplexes Wechselspiel zwischen Ideen und Praktiken zu betrachten ist. Die Grenzen zwischen dem Erträumten und dem Realen werden in den Praktiken durchlässig: »Die Welt wird Traum, der Traum wird Welt« (Novalis 1977: 318).
Die »Häuptlinge « der counter culture versammeln sich zum Gathering of the Tribes. Das Plakat bringt zum einen das Wilde und Unzivilisierte zum Ausdruck. Zum anderen symbolisiert das dritte Auge Weisheit und Erkenntnis (das Moksha-Ideal). Die spirituellen Praktiken der Gegenkultur zielen auf seine Öffnung ab.
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Doch von einer aus dem Traum geholten Utopie müssen die, mit einem »falschen Bewusstsein« Verblendeten erst überzeugt werden. Auch hier setzte man auf Erfahrung. Hatten frühere Bewegungen in finsterer und aggressiver Manier ihre Anliegen mit kämpferischen Parolen kundgetan, so wandelte sich nun die Demonstrationspraxis nach den Vorschlägen Ginsbergs. Als Grundlage diente das Zen-Prinzip, wonach es dem Gegner keine Angriffsfläche zu bieten gilt, um ihn in dem Augenblick der Lockerung seiner Abwehrhaltung auf die eigene Seite zu ziehen. Dies passiert mittels »Tanz und Gesang, mit Luftballons, Blumen; Bonbons und Küssen, Brot und Wein für jeden, dem der Zug begegnet, auch für die ›Bullen‹ und die ›Hells Angels‹ der Nachbarschaft. Die Atmosphäre sollte Ausdruck der Freude und der Zuversicht sein, geprägt von der Absicht, die gewöhnlich passiven Zuschauer zur Teilnahme zu bewegen oder zu verführen – oder doch wenigstens ihre schlimmsten Bendenken und Feindseligkeiten zu überwinden.« (Roszak 1971: 219)
Diese Protestformen sollten besser dazu geeignet sein, Menschen von höheren Werten des guten Lebens, anstatt von den instrumentellen Werten einer kapitalistischen Ordnung zu überzeugen. Dabei galt die Maxime »Act if the Revolution had already come« (Schmidtke 2003: 103). Im Mittelpunkt des Summer of Love stand, wie auch bei vielen gegenkulturellen Ereignissen zuvor, der Stadtteil Haight-Ashbury. Dabei wurde die kommunitaristische Organisation, wie sie beispielhaft von den Diggers aufgebaut wurde, auf eine harte Probe gestellt, den binnen kürzester Zeit wuchs das Zentrum der counter culture auf über 75 000 Menschen an (ebd. 104). Gemäß den ethischen Grundsätzen der Gegenkulturkultur, dass jeder Hippie ein Mitglied einer großen Familie bzw. eines Stammes sei, wurden für die Jugendlichen Essen, Drogen und Schlafplätze bereitgestellt. Zur Popularität der gegenkulturellen Enklave in San Francisco trugen maßgeblich die Medien bei. Die Presse stürzte sich auf den schillernden und exotisch anmutenden Lebensstil der counter culture. Als Time eine Cover-Story über die Hippies plante, schrieben sie über das gegenkulturelle Milieu in Haight-Ashbury als eine »controversial, cloudcuckooland miniculture«. Dieser und ähnlich geartete Artikel hatten zur Folge, dass es tausende Neugierige nach San Francisco zog, die sich am dionysischen Treiben beteiligen, oder dieses zumindest aus nächster Nähe beobachten wollten. Im Laufe des Jahres 1967 wurde Haight derart populär, dass der Stadtteil seine Selbstversorgung nicht mehr aufrecht erhalten konnte. Durch die Massen wurden Drogendealer genauso angelockt, wie jene, die aus der Vermarktung von HippieAccessoires Profit schlagen wollten (Farrell 1997: 220f.). Die, vor allem von den
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Diggers in eine organisierte Praxis übersetzten, ethischen Maximen der Hippies, wurden damit unterlaufen und die bekämpften Werte einer kapitalistischen Kultur sickerten in das gegenkulturelle Milieu. Die Entdeckung der Jugend als potente Konsumenten hatte weitreichende Auswirkungen auf die neue Konsumkultur. Mit den sich als expressivistisch definierenden Jugendkulturen etablierte sich ein Markt, der die Bedürfnisse nach authentischen Konsumgütern (Kleidung, Schallplatten usw.) befriedigte. Gleichzeitig entwickelte sich eine expressive Werbung, welche das Bedürfnis nach Akzentuierung der eigenen Persönlichkeit stimulierte. Breitere Bevölkerungsschichten wurden auf diese Weise mit der Idee der Selbstverwirklichung konfrontiert, die sich über die Präsentation von Waren ausdrückt. Als Konsequenz aus der kommerziellen und massenmedialen Ausschlachtung der Gegenkultur wurde in Haight-Ashbury die Flower-Power-Bewegung symbolisch zu Grabe getragen. Am 6. Oktober 1967 riefen die Diggers zum »Death of Hippie, devoted son of Mass Media«. Das Abbild eines überdimensionierten Hippies wurde in einem Sarg symbolisch zu Grabe getragen. Die Prozession zog feierlich zum Buena Vista Park, wo Hippie samt Sarg verbrannt wurden. Dieser Protestakt markierte gleichzeitig das Ende der counter culture in San Francisco. In den folgenden Jahren blieben die Massen aus und die wichtigsten Bewegungsintellektuellen verließen die Stadt. Was danach folgte, war nicht mehr mit den vielseitigen gegenkulturellen Bestrebungen, wie sie in HaightAshbury zusammenliefen, vergleichbar. So war das 400 000 Besucher umfassende Woodstock Festival, welches sich im kollektiven Gedächtnis als das symbolische Ereignis der counter culture festgesetzt hat, nur mehr ein letztes Aufglühen einer absterbenden Bewegung. Die kulturelle Bewegung hatte ihre subversive Kraft eingebüsst, und die Oppositionellen wurden – wie Marcuse (2005: 85) anhand des affirmativen Charakters der kapitalistischen Gesellschaft vorhersah – selbst »zu Zahnrädern einer Kulturmaschine«.
Epilog »Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unseres Schicksals leichtem Wagen durch und uns bleibt nichts, als mutig gefaßt, die Zügel festzuhalten und bald rechts, bald links vom Steine hier vom Sturze dort die Räder abzulenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kommt.« JOHANN WOLFGANG V. GOETHE: EGMONT
Am Ende der Geschichte ist die Kraft des utopischen Denkens versiegt. Die hier thematisierten gegenkulturellen Bewegungen trieb diese Kraft noch voran, um eine bessere Welt in der schlechten zu erreichten. Sie glaubten an die Zukunft ihrer Lebensentwürfe und daran, dass die ›Arbeit an sich selbst‹ die Utopie verwirklicht. Selbstverbesserung und Weltverbesserung, die Sloterdijk (2009: 23) auseinander dividiert, sind in den gegenkulturellen Bestrebungen versöhnt. Eine der grundlegenden Stützen ihres Überzeugungsnetzes basiert auf der Formel: ›Du musst dein Leben ändern, dann wird sich das Leben verändern.‹ Auf die Frage, mit welchen Mitteln das individuelle Leben zu ändern sei, geben die Bewegungen unterschiedliche Antworten, wobei sich die Optionen stetig vermehren. Die Romantik hielt dafür ›Rückzugspraktiken‹ bereit, wie jene der Naturemphase, der empfindsamen Liebe, des religiös aufgeladenen künstlerischen Ausdrucks und den Mesmerismus als Königsweg in außeralltägliche Sphären. Der Lebensreformer konnte sich im Vegetarismus, im Anarchismus, im Nudismus, in verschiedenen (fernöstlichen) Körperpraktiken oder in der Theosophie bzw. Anthroposophie üben. Für den Jugendlichen der Gegenkultur potenzierten sich noch einmal die Wahlmöglichkeiten, wobei politische, sexuelle, psychedelische oder eine ganze Reihe von spirituellen Praktiken zur Verfügung standen.
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Nicht selten probierte man gleich alles auf einmal, wenn es darum ging, sein Leben zu ändern. Damit erschien die bessere Zukunft schon als Silberstreif am Horizont – bereit, alle Heilserwartungen zu erfüllen. Bruce Springsteen formuliert Jahre nach dem letzten großen romantischen Aufbruch in der Zeitschrift Rolling Stone das utopische Stimmungsbild: »In den Sixties war es relativ leicht, moralische Trennlinien zu ziehen. ›Hey, das ist falsch, das ist richtig – ich stehe hier!‹ Diese Idee spaltete fast jeden Haushalt im Land. Und die Leute erwarteten die Revolution. Ich glaube, manche erwarteten, sie würde passieren in einem explosiven Ausbruch von einer Art radikaler, fröhlicher Energie, und dass all die Scheiße und all die Nixons davon geschwemmt würden, und, Mann, wir würden nochmals von Anfang neu beginnen und diesmal alles richtig machen.« (Schäfer: 1968 oder Die Utopie der Rockmusik [1988]; zit. nach Tanner 2008: 284)
Und heute? Die moralischen Unterschiede haben sich nivelliert, die Trennlinien sind verblasst und ein Zustand »maximaler Homogenität« (Taylor 2009: 516) ist erreicht – ›anything goes‹. Einen »explosiven Ausbruch« erwartet man sich gegenwärtig eher von Vulkanen oder Atommeilern, die als Herolde der neuen Göttin des Jahrhunderts – der »Großen Katastrophe«, das Ungeheure verbreiten (Sloterdijk 2009: 701)1 – als von revolutionären Energien.2 So schauen die einen
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Nach Rudolf Otto (1991: 42) ist das Religiöse (er nennt es das »Heilige«) als »Fascinosum« und als »Tremendum« bestimmt. Mit diesen zwei Qualitäten ist die Große Katastrophe im Übermaß gesegnet. Davon können wir uns anhand der in immer kürzeren Perioden stattfindenden medialen Berichterstattung überzeugen. Was uns sowohl im Bann hält als auch Schrecken verursacht, eignet sich perfekt zur Inszenierung. So wundert es auch nicht, dass die Unterhaltungsindustrie seit jeher die neue Göttin gewinnbringend auf die Leinwand gebracht hat.
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Damit ist nicht gemeint, dass es keine revolutionären Energien mehr gäbe, lediglich die Formen ihrer Artikulation haben sich fragmentiert und kommen im Zeitalter des Internets ganz ohne Manifeste oder programmatische Verordnungen aus. Jean Ziegler schreibt: »Wo ist Hoffnung? Ganz neue soziale Bewegungen kommen, eine mächtige Zivilgesellschaft entsteht. Widerstandsfronten brechen auf [...]. Ihre Methoden des Kampfes sind überall verschieden, die Motivation aber dieselbe: der moralische Imperativ. [...] Über 100 000 Menschen aus fünf Kontinenten, Abgesandte von über 8000 Bauernsyndikaten, Industriegewerkschaften, Frauenbewegungen und Nichtregierungsorganisationen, die für Menschenrechte und Umweltschutz, gegen Folter und Hunger kämpfen, fanden sich im vergangenen Januar zum Weltsozialforum in Bombay zusammen. Ohne Hierarchien, ohne Zentralkomitee, ohne ein ausgeklügeltes Pro-
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mit manischem Blick in die Zukunft, um im kapitalistischen Wettlauf und unter Einsatz aller Mittel als erster durchs Ziel zu stürmen, während die anderen eher trüben Auges nach vorne blicken. Jene weitaus größere Zahl von Unglücklichen – für Fortunas Segen unerreichbar – stolpert müde und träge durch das Elend der Welt. Nach den Sechzigerjahren zeigt sich die Utopie noch einmal in einer Bewegung, die den Millenarismus beschwört. Die New-Age-Bewegung, deren Wurzelstränge bis in die romantische Naturphilosophie reichen, erlebt ihre Vorgeschichte mit der Formierung der Theosophischen Gesellschaft, und ihre Inkubationsphase in der counter culture. Hier können sowohl das erwähnte Esalen Institute als auch sein europäisches Pendant, die schottische Findhorn Kommune (1962) als wichtige Impulsgeber betrachtet werden. Für die Popularisierung des Phänomens war vor allem das Musical Hair verantwortlich, das 1968 erstmals am Broadway uraufgeführt wurde. In der New-Age-Bewegung lassen sich die zwei hier verfolgten romantischen Elementarideen wiederfinden, wovon die folgenden Zeilen aus dem Musical künden: »Ich schwebe, ich treibe im Raum. Die Seele sieht Gott nun, und das ist kein Traum. Treiben, Schweben! Endlich Leben. Hier kannst du dein wahres Ich erkennen, wo uns Dimensionen nicht mehr trennen. Mein Geist wird so klar wie ein Kristall.« (zit. nach H. Hoffmann 1972: 51)
Nachdem die Hippie-Bewegung zu Grabe getragen wurde, ging ein Teil des Überschusses an revolutionären Energien und eschatologischen Hoffnungen auf die New-Age-Bewegung über. Der eigentliche Durchbruch wurde mit einer breiten Rezeption von Büchern wie New Age – die Geburt eines neuen Zeitalters (1971) von David Spangler, Die sanfte Verschwörung (1980) von Marilyn
gramm. Als Bruderschaft der Nacht, als lebendige Figur der Solidarität. Wir wissen genau, was wir nicht wollen. Die Welt aber, die aus unserem Widerstand entsteht, gehört zum Mysterium der befreiten Freiheit im Menschen.« (Ziegler: Gier gegen Vernunft [2004]; zit. nach Sloterdijk 2009: 636)
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Ferguson sowie Das Tao der Physik (1975) und Wendezeit (1982) von Fritjof Capra erreicht, die schließlich zu ›New-Age-Bibeln‹ avancierten.3 Die Grundüberzeugung des New-Age kommt im Titellied The Age of Aquarius des Musicals Hair zum Ausdruck. Sie bezieht sich auf astrologische Berechnungen, wonach alle 2000 Jahre ein neues Tierkreiszeichen das jeweilige Zeitalter bestimmt. Gegenwärtig befinden wir uns im Übergang vom kriegerischen Fischezeitalter zum Wassermannzeitalter, welches mit hoffnungsvoller Zuversicht erwartet wird. Mit diesem Übergang, so meinen Anhänger des NewAge, komme es zu einer dramatischen Veränderung der Gesellschaft. Dieser Wandel, der sich ebenso zuallererst im individuellen Bewusstsein abspielen sollte, verkleidet sich nun als »sanfte Verschwörung im Zeitalter des Wasser manns«: »Sie richtet ihr Augenmerk auf den Umschwung des Bewusstseins, wie er bei einer entscheidenden Anzahl von Individuen stattfindet, die ausreicht, um eine Erneuerung der Gesellschaft hervorzubringen.« (Fergerson: Die sanfte Verschwörung [1982]; zit. nach Stenger 1993: 13)
Die utopische Überzeugung gründet auf der Verkündung eines ›neuen Bewusstseins‹, einer ›neuen Sicht der Wirklichkeit‹, eines ›neuen Denkens‹ und schließlich einer ›neuen Gesellschaft‹, in der die romantischen Ideale der Selbstverwirklichung und der Ganzheitlichkeit endlich ihre Verwirklichung finden. Fritjof Capra (1982: 11) meint dazu: »Dieses neue Weltbild umfasst das in Entstehung begriffene Systemverständnis von Leben, Geist, Bewusstsein und Evolution, die entsprechende ganzheitliche Auffassung von Gesundheit und Heilen, die Integration der abendländischen und der östlichen Auffassung von Psychologie und Psychotherapie, einen neuen Rahmen für Wirtschaftswissenschaft und Technologie sowie eine ökologische und feministische Perspektive, die ihrem tiefsten Wesen nach spiritueller Natur ist und die tiefgreifenden Veränderungen unserer gesellschaftlichen und politischen Strukturen hervorrufen wird.«
In den esoterischen, magisch-okkulten und psychotherapeutischen Praktiken des New-Age4 ist die Kontinuität der romantischen Elementarideen gewahrt. Sie
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Für eine umfangreiche Rekonstruktion der historischen Wurzeln und der Popularisie-
4
Zu den empirischen Ausprägungen des New-Age-Phänomens vgl. Stenger (1993:
rung des New-Age-Phänomens vgl. Bochinger 1994. 25f); Für einen Überblick zu den wichtigsten weltanschaulichen Überzeugungen der
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weisen in die Sphären jenseits des Alltagsbewusstseins, in eine »Hinterwelt« (Weber), und die dort gemachten Erfahrungen des Bei-Sich-Seins werden häufig als heilend empfunden. Daneben eröffnen sich auch Ich-stärkende Perspektiven. So würden auf die Frage, wie es zur »armselige[n] Einförmigkeit« der bürgerlichen Welt und den damit verbundenen gesellschaftlichen Pathologien kommt, sowohl ein New-Age Aktivist, ein Hippie als auch ein Lebensrefomer mit der romantischen Antwort übereinstimmen: »Weil es euch an dem Grundgefühl der unendlichen und lebendigen Natur fehlt, deren Symbol Mannigfaltigkeit und Individualität ist« (Schleiermacher 1958: 30). Mittlerweile ist der Begriff »New-Age« aus der Mode gekommen. Zum einen wird die Utopie des Wassermann-Zeitalters nur mehr von wenigen propagiert, womit auch die Selbstbezeichnung als Angehöriger eines »Neuen Zeitalters« seinen Sinn verliert; zum anderen sind die Grenzen zu traditionellen Bereichen der Medizin oder der Psychologie fluide geworden. Heute existieren mannigfache Praktiken, die zur Entwicklung eines authentischen Selbst anleiten und ein Ganzheitsgefühl vermitteln. Es ist nicht zuletzt deshalb aussichtslos, sich einen vollständigen Überblick zu verschaffen, da es zu ständigen Neukompositionen mannigfacher Wissensbestände unter möglichst plakativen Etiketten kommt. Wer Yoga übt, wird längst nicht mehrt als Freak bezeichnet; auch nicht wenn so obskur klingende Praktiken wie »Power Yoga«, »Intensive Yoga«, »Lach Yoga«, »Luna Yoga« usw. am Exerzitienkalender stehen. Wie Sloterdijk (2009) treffend bemerkt, haben wir es hier mit einer Reihe von »Anthropotechniken« zu tun, die sich seit dem Beginn der Moderne aus unterschiedlichen säkularisierten Praktiken der Askese (vom griechisch Verb askein, das so viel heißt wie: sich befleißigen, sich in etwas Üben) zusammensetzen. Physiotechniken, Psychotechniken, Diätologien, »mithin all der Formen selbstbezüglichen Übens und Arbeitens an der eigenen vitalen Form« (ebd. 59; 1999), eröffnen das weite Feld der Anthropotechniken. Am »Planet der Übenden« versucht man angestrengt seinem Leben im Streben nach Höherem Form und Inhalt zu verleihen (Sloterdijk 2009: 61f.). Im Zeitalter der entspiritualisierten Askese geht es darum, das Subjekt fit zu machen – bzw. zu halten. Das Wort Fitness steht dabei paradigmatisch für zentrale Werte der postmodernen Gesellschaft, wie Leistungsfähigkeit, Gesundheit, Vitalität und eines schön gestalteten Körpers. Dafür werden passende Lebensberatungen und Praktiken bereitgehalten, die nicht nur Fitness garantieren, sondern auch ein Pathos der Bejahung der Existenz – wie trist auch immer sie sich geben mag – erzeugen. Trägheit soll nach diesen Hygienevor-
Esoterik, der Magie, des Okkultismus und der Psychotherapien, die alle unter dem breiten Dach des New-Age zu finden sind, vgl. Knoblauch (2009: 102-108).
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schriften nicht aufkommen, denn schon die christlichen Mönche erkannten in ihr die Mutter der Verzweiflung – »begleitet von ihren übrigen unattraktiven Töchtern: Abschweifung, Verbositas, ziellose Neugier, Unbändigkeit und Wankelmut« (ebd. 504). In diesem Sinne ist die einzige noch zu erkennende Utopie, die sich in den ganzheitlichen Praktiken konserviert hat, jene, einen gesunden Körper und ein starkes Ich zu formen. Dabei muss jedoch eingeräumt werden, dass damit der Weg in den Narzissmus und in die Oberflächlichkeit keineswegs vorgezeichnet ist – auch wenn all die Zeitdiagnosen, die im Gefolge von Christopher Laschs (1980) berühmter Studie entstanden und noch immer entstehen, ein solches Szenario nahelegen. Neben den instrumentellen Beweggründen im Zeichen des Fitness-Ethos, existieren auch höhere Formen der Arbeit an seinem Selbst. Wer diese bevorzugt und dabei die Entwicklung der eigenen Authentizität im Auge hat, ist gewiss nicht einem geschickt aufgezogenen »Bluff« der Konsumgüteroder Dienstleistungsindustrie aufgesessen, die hinter der Fassade eigentlich nur die marktkonforme Präparierung des Selbst bezweckt (Prisching 2009: 141f.). Solche, das moderne Authentizitätsideal verunglimpfenden Darstellungen, gründen sich durchaus auf scharfe Beobachtungen aktueller Phänomene – bedauerlicherweise jedoch nur auf solche, die sich auf der einen Seite der Medaille abspielen. Taylor (1995: 105) appelliert deshalb, derartige Extrempositionen zu vermeiden, denn »die pauschale Verurteilung der Authentizitätsethik [ist] ein nicht minder tiefgreifender Irrtum [...] als die unbefangene globale Billigung aller ihrer heutigen Erscheinungsformen.« Neben der Diffusion der romantischen Ideen in die New-Age-Bewegung und von dort in diverse, als »spirituell« oder »holistisch« bezeichnete Milieus, ist ihre allgemeine Verbreitung auffällig. Mag die Gegenkultur der Sechzigerjahre mit ihren politischen Zielen gescheitert sein, so hat sie dennoch eine Revolution bewirkt – wenngleich diese nicht ihrer eigentlichen Intention entsprach. Durch die Kulturrevolution erfuhr die Idee des expressiven Individualismus einen nie dagewesenen Auftrieb, was einen sprunghaften Anstieg von möglichen Lebenswegen zur Folge hatte, die nun auch eine tatsächlich wählbare Option darstellten.5
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Taylor (2009: 515f.) weist darauf hin, dass auch frühere Zeiten mit dem Phänomen der Pluralisierung Bekanntschaft machten. Im religiösen Bereich trafen beispielsweise auch in vormodernen Zusammenhängen oft viele verschiedene Bekenntnisse in ein und derselben Gesellschaft zusammen. Die Wirkung der Pluralisierung wird hier jedoch neutralisiert, da das Andere nicht wirklich eine wählbare Option darstellt. Es ist zu verschiedenartig und fremd, um in den eigenen Lebensentwurf integriert zu werden.
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Die Ansprüche auf individuelle Selbstverwirklichung haben sich damit, ausgehend von kleinen elitären Zirkeln, in die Masse zerstreut. Seitdem perforiert das Ideal die westlichen Gesellschaften, wobei es gegenwärtig wohl auf seinen Höhepunkt zusteuert. Hier ist es, wie Axel Honneth (2010: 208) meint, »inzwischen [...] zu einem institutionalisierten Erwartungsmuster der sozialen Reproduktion geworden« und hat dabei seine »innere Zweckbestimmung« – wie sie in den romantischen Bewegungen noch zu finden war – verloren. Derart trivialisiert ist die romantische Idee vom authentischen Individuum »zur Legitimationsgrundlage des Systems« verkommen. Nirgends zeigt sich dieser Umstand so eindrucksvoll wie im Bereich moderner Arbeitsverhältnisse. Hier haben die protestantischen Tugenden der Pflichterfüllung ausgedient. Die asketischen Ideale einer rationalen Betriebsführung liefen darauf hinaus, den Erwerb von Geld als Selbstzweck zu betreiben und die Erschließung neuer Kapitalquellen durch Investition zur Berufspflicht zu erheben. Diese Ethik – »der Erwerb von Geld und immer mehr Geld, unter strengster Vermeidung alles unbefangenen Genießens, so gänzlich aller eudämonistischen oder gar hedonistischen Gesichtspunkte entkleidet« (Weber 1988a: 35) – bietet dem »neuen Geist des Kapitalismus« (Boltanski/Chiapello 2006: 205) keine Rechtfertigungsgrundlage mehr. Es sind vielmehr die romantischen Ideale der expressiven Selbstverwirklichung und der schöpferischen Lebensgestaltung, welche aus der Sphäre der Kunst und Kultur in die Arbeitswelt getragen wurden. Dem sich neu formierenden Regime der »projektbasierten Polis« dienen sie als Stützpfeiler des aktualisierten kapitalistischen Überzeugungsnetzes. Großartig überzeugt werden braucht dabei freilich niemand, sind doch Bedürfnisse nach Selbstentfaltung, Autonomie, Ästhetizismus, Reflexivität, an die der neue Kapitalismus andockt und als intrinsische Anreize präsentiert, weit verbreitet. So treibt eine »romantische Arbeitsethik« (Sasse 2006) seltsame Blüten, die sich in Form von »Arbeitskraftunternehmern« (Voß/Pongratz 1998), »unternehmerischer Selbste« (Bröckling 2007) oder »unternehmerischer Kreativsubjekte« (Reckwitz 2006: 500-527) über die »schöne neue Arbeitswelt« (Beck 2007) verteilen. All diesen Typen ist eines gemein – ihre Arbeit macht Spaß. Damit ist auch die Ford’sche Losung »When the work is done, then the play can come, but not before« (Heindl 2008: 141) ein Relikt tayloristischer Arbeitsorganisation, die sich als unproduktiv erwiesen hat. Unter der Ausdehnung der Spielsphäre verflüssigen sich die Grenzen zwischen Privat- und Berufsleben. Der Präsident einer großen amerikanischen Werbefirma formuliert diesen Umstand in einem Interview so:
326 | D IE K ONTINUITÄT ROMANTISCHER I DEEN »An kaum einem Wochenende werden Sie hier in der Agentur niemanden finden, der arbeitet. [...] Manchmal werde ich gefragt, was ich den Leuten sage, damit sie am Samstag oder Sonntag arbeiten. Wir sagen ihnen gar nichts. Doch unsere Kreativen wissen, was wir von ihnen erwarten. Sie wissen, dass hier in diesem großen Sandkasten ihre große Chance auf sie wartet. Er ist so gestaltet worden, dass er stimulierend wirkt, ein Spaß-Ort, ein interaktiver Ort, ein Ort sozialer Kontakte.« (Brooks 2002: 155)
Was es sich anzueignen gilt, ist eine »spielerische Aktivität« (Boltanski/Chiapello 2006: 209f.) – eine Attitüde, die signalisiert: »Ich kann etwas in Angriff nehmen«, »Ich kann etwas verändern«, »Ich kann mich verändern!« Damit ist das nötige Serum gefunden, das Müßiggang und Trägheitsmomente im Keim erstickt. Das Impfprogramm sieht ein ideologisches Amphetamin vor, das den »zum endlosen Kreisgang verurteilte[n] ›Haufen der Unmüden‹« (Handke 2000: 33) die Umtriebigkeit zur zweiten Natur werden lässt. Die neuen putzmunteren Flexibilitätsvirtuosen sind ständig unterwegs um »das Leben zu packen«. Erschöpft sich das Selbst dann doch und wird das Leiden an allzu oberflächlichen Beziehungen virulent, sagt eine innere Stimme: »So darf das nicht weitergehen – all dieser Wahnsinn und das Herumjagen. Wir müssen irgendwo zur Ruhe kommen, einen Platz finden« (Kerouac 2002: 143). Doch da ist es schon wieder in Bewegung und jagt nach neuen Projekten, die es zu planen und abzuschließen gilt, durch sein pflegebedürftiges Netzwerk. Mit den skizzierten Bedingungen wird klar, was es bedeutet, ein moderner »Anthropotechniker« zu sein. Heerscharen von Aktiven folgen dem universalen »Imperativ des menschlichen In-Form-Kommens« (Sloterdijk 2009: 528) und werden zu Trainern ihres Selbst. Unter dem Signum der »Vertikalspannung« gilt es seine Talente zu betreuen, diese und jene auszubauen und sich dabei den geeigneten Praktiken zu bedienen (ebd. 515). Bei dieser Selbstoptimierung helfen diverse Ratgeber, die möglichst effiziente »Bauanleitungen für die Ich-AG« (Bröckling 2007: 65) präsentieren. Im modernen Arbeitssubjekt formieren sich die Gegensätze, die es zu harmonisieren gilt. Zum einen haben wir es mit dem geschilderten Ideal des authentischen Selbst zu tun, das es immer wieder neu zu entdecken gilt. Zum anderen gilt es jedoch auch, eine antiromantische, desengagierte Haltung zu kultivieren. Diese kommt in einer verinnerlichten Einstellung zum Ausdruck, wonach man seine Emotionalität in die Schranken verweist, um nicht von der größten Angst befallen zu werden, die den modernen Menschen umtreibt – jene die Kontrolle zu verlieren. Die von Psychologen ersonnene Prägung auf emotionale Selbstkontrolle bezweckt einerseits die Selbstbeherrschung und Distanz gegenüber anderen, um »sich für andere unangreifbar zu machen«. Andererseits vermag sie »zugunsten langfristiger pragmatischer Ziele eine un-
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mittelbare Verstrickung des Selbst auszuklammern«. Dabei »steht emotionale Selbstkontrolle auch für die Fähigkeit, Netzwerke zu bauen und Vernunft an oberste Stelle zu setzten« (Illouz 2009: 176f.) Damit ist der Auftrag des modernen Subjekts benannt: Als Spielleiter seines Lebens muss er das Drehbuch der eigenen Existenz auf der Bühne inszenieren und dabei den Zuschauer wie auch den Schauspieler gleichermaßen spielen. Das Stück ist größtenteils improvisiert – ein Handlungsfaden oftmals nur schwer erkennbar – und »aus der Rolle fallen« wird vom Publikum nur in kontrollierten Dosierungen goutiert.6 In diesem Drama ist »jeder Mensch ein Künstler« – eine Aussage von Joseph Beuys, die sich schon bei Herder finden lässt, der den Geniebegriff auf die ganze Menschheit ausdehnte: »Jeder Mensch von edlen, lebendigen Kräften ist Genie auf seiner Stelle« (Herder [1714/75]: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele; zit. nach Joas 1996: 122). Gerade der gegenwärtig inflationär anzutreffende Künstler verinnerlicht somit den poetischen Drang des Strebens nach Höherem, und hierbei ist Üben angesagt. Deshalb steht die Performance der Modernen für Sloterdijk (2009: 527) auch unter dem Signum des Exerzitiums: »Sie stehen ständig vor der Aufgabe, sich einem Leistungsorden einzufügen, der ihnen seine Regeln aufprägt, mit der bemerkenswerten Nuance, dass sie dem Orden nicht aus freien Stücken beitreten, sondern in ihn hineingeboren werden. Ob sie wollen oder nicht, ihre Existenz ist von vornherein in allgegenwärtige disziplinäre Milieus eingebettet – dagegen kommen Aussteigerbewegungen, Faulheitsromantiken und Große Weigerung nicht auf. Wie um zu beweisen, dass es ihm mit seinem Leistungsimperativ ernst ist, kennt auch der Leistungsorden, der sich im Gewand der bürgerlichen »Gesellschaft« verbirgt, so etwas wie Konfirmationen für den Elan der Jungen: Zertifikate, Examen, Promotionen, Prämien.«
Der Anspruch auf Selbstverwirklichung durchzieht alle Bereiche – jenen der Arbeit ebenso wie jenen des Privatlebens (sofern beide nicht schon zu eineiigen Zwillingen geworden sind). Hier taucht er in der Liebe auf, von der man sich heute alles erhofft, aber auch in der Freizeitgestaltung. Bei Individualreisen er-
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Zu den gesellschaftlich einengenden Anforderungen bemerkt Thoreau (1996: 29) in romantischer Manier: »Wir mögen denken, dass wir ein gänzlich freies Leben führen wie der erste Mensch, aber das ist niemals der Fall, denn wir sind verstrickt in ein unsichtbares Netz von Erwartungen und Rollen. Wir schreiten lediglich von einer solchen Mutmaßung zur anderen fort, und nur selten nehmen wir dazwischen wahr, dass dies kein Fortschritt ist.«
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wartet man sich die Authentizität des Fremden, nur um festzustellen, dass der »Lonely Planet« schon mit tausenden Rucksäcken verstellt ist. Auch das Kaufen ist zu einer beliebten Freizeitbetätigung geworden, bei der die Einkaufstempel auf der Suche nach Identitätsaccessoires in gesteigerten Rauschzuständen durchwandert werden. Bei all der Konformität, die, so möchte man meinen, das Streben nach Einzigartigkeit im Keim ersticken, kann dennoch ein Gefühl der freien Wahl und der Selbstbestimmung aufkommen. Dies passiert »nicht nur deshalb, weil die Konsumräume mit ihren vielfältigen Optionen die Wahlfreiheit zelebrieren, sondern auch, weil man dadurch, dass man sich für eine der angebotenen Stilrichtungen entscheidet, das Gefühl bekommen kann, aus einem stärker einengenden Raum der Familie oder der Tradition auszubrechen« (Taylor 2009: 805). Trotz aller scheinbar erfüllter Selbstverwirklichungsansprüche ist ein schwellendes Unbehagen in der Moderne nicht zu leugnen. Es gehört zu den Paradoxien der Moderne, dass ein Gutteil des Unbehagens aus dem Fehlen von traditionellen Banden rührt, gegen die man fortwährend ins Feld zieht. Die Auswirkungen haben schon Marx und Engels ([1848] 1997: 23) festgestellt: »Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.« Eine Nüchternheit waltet vor allem in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Anscheinend gelingt es nur den kurzlebigen Communitasformen, die romantischen Werte der ganzheitlichen Selbstentfaltung und der Sinnlichkeit mit dem sozialen Gemeinschaftssinn unter einen Hut zu bringen. Im Übrigen werden Kunst und Leben versöhnt und in einem Lebensstil auf die Spitze getrieben, dessen schlichter Inhalt der fortwährende »Tanz um das goldene Selbst« (Remele 2001) bedeutet. In der »organisierten Moderne« konnte Alasdair MacIntyre (Der Verlust der Tugend [1987]; zit. nach Rosa 1998: 385) noch die »Charaktere« des »Managers« von jenem des »Ästheten« unterscheiden. Während ersterer, im Sinne Charles Taylors, dem Ideal der desengagierten, instrumentellen Vernunft folgt, repräsentiert letzterer den romantischen Expressivismus. Im Zeichen der Postmoderne ist eine solche Differenzierung nicht mehr ohne weiteres zutreffend. Zunehmend lässt sich eine Verschmelzung beider Charaktere zum »Managerästheten« beobachten. Eine plakative Variante dieser Kombination ist ein Lebensstil, der seine Verkörperung in dem von David Brooks festgestellten Typus des »Bobos« (eine Wortschöpfung aus bourgeois und bohemian) findet. Die Bobos sind die neue Elite des Informationszeitalters.
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Sie haben sich einer »Ich bin ich«7 Mentalität verschrieben, die jedoch nichts mit Raffgier und primitiver Selbstsucht zu tun hat: »Wir stehen vor einer höheren Form von Selbstsucht. Es geht darum, das meiste aus sich herauszuholen. Man strebt eine Arbeit an, die spirituelle und intellektuelle Befriedigung verspricht, verschiedenartige Erfahrungen bieten kann, nützlich für die Gesellschaft, emotional bereichernd und gut für das Selbstwertgefühl ist, die eine permanente Herausforderung darstellt und den Beschäftigten auf ewige Zeit erfreut. Bei dieser Art von Selbstsucht geht es um das Lernen. Es geht darum, möglichst in einem Unternehmen zu arbeiten, das so cool ist wie man selber.« (Brooks 2002: 153)
Die Bobos haben sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen arrangiert. Die modernen Übungsreihen ermöglichen ihnen ein saturiertes Selbst, wodurch sie ihr Dasein als stimulierendes Privileg erfahren. Sie haben das TINA-Prinzip (»There Is No Alternative«) verinnerlicht – die Direktive Margaret Thatchers in Bezug auf die unbestreitbare Geltung liberal-kapitalistischer Ordnungsmodelle (Jameson: The Cultural Turn [1998]; zit. nach Rosa 2009: 101). Darum ist es auch nicht erstaunlich, dass sich hier das Ideal der Selbstverwirklichung gänzlich von Bestrebungen zur Emanzipation abgekoppelt hat. War die counter culture noch von dem Drang beseelt, sich von allerlei emanzipieren zu müssen – von der Elterngeneration, von rigiden bürgerlichen Verhältnissen, von der Form im Allgemeinen –, so kommt der Bobo’sche Drang zur Selbstverwirklichung gänzlich ohne die Fähigkeit, Kritik zu üben aus. Der Bobo ist der Prototyp des »neuen Menschen«. Sein Lebensstil trägt zur »›Monadisierung‹ des Menschen, zur tendenziellen Auflösung der Bindungen und der Solidaritätsbeziehungen« (Duerr 2002: 8) bei. Damit spürt er als Angehöriger einer Avantgarde der »einsamen Masse« (Riesman) deutlich die Paradoxien der Moderne, die ihm mehr als nur ein vorübergehendes Unbehagen verursachen. Charles Taylor (1996: 721) verweist hier auf die zentrale Konfliktlinie, die für uns zu unaufhebbaren Spannungen führt und die moderne Gesellschaftskritik nährt: »Der romantische Expressivismus entsteht aus dem Protest gegen das Aufklärungsideal der desengagierten instrumentellen Vernunft und die daraus hervorgehenden Formen des sittlichen und gesellschaftlichen Lebens: gegen eindimensionalen Hedonismus und Atomismus. Dieser Protest wird während des ganzen neunzehnten Jahrhunderts in verschie-
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»Ich bin ich – und nichts anderes« als Essenz des romantischen Individualismus vgl. Hennig 1989: 11.
330 | D IE K ONTINUITÄT ROMANTISCHER I DEEN denen Formen fortgesetzt und gewinnt immer mehr an Bedeutung, indes die Gesellschaft durch den kapitalistischen Industrialismus immer stärker in atomistischer und instrumenteller Richtung umgemodelt wird. Der Vorwurf gegen diese Daseinsweise besagt, dass sie das menschliche Leben fragmentiert: Sie teilt es in unverbundene Einzelbereiche wie Vernunft und Gefühl; sie scheidet uns von der Natur; und sie trennt uns voneinander. [...] Überdies wird diese Daseinsweise beschuldigt, sie vermindere oder verhindere die Sinngebung. Das Leben werde eindimensional als Streben nach homogener Lust gesehen, ohne dass eine mit höherer Bedeutung ausgestattete Zielsetzung hervorsteche.«
Hier offenbart sich die Wurzel des Unbehagens an der Moderne, die den meisten Menschen eingepflanzt ist: Zum einen erfüllt die kapitalistische Wachstums- und Konsumgesellschaft weitgehend unsere Bedürfnisse nach Freiheit, Effizienz, Rationalismus und Autonomie. Die Bedürfnisse entsprechen zwar unseren Wünschen, stellen jedoch keine eigentliche Wahl dar. Sie formulieren sich als Zwang zur permanenten Effizienzsteigerung, zu ausuferndem Wachstum und zur grenzenlosen Flexibilität und Mobilität. Damit erschwert sie jedoch zum anderen genau deshalb die Möglichkeit, ein authentisches, ›gutes Leben‹ gemäß romantisch-expressivistischen Idealvorstellungen zu führen (Rosa 1998: 373). Gerade aber wo alles »Ständische und Stehende verdampft« und das Leben als banal, beliebig und fad erscheint, haben Menschen zeitweilig das Bedürfnis, ihr Leben bewusst zu gestalten. Hier erweist sich, wie Wilhelm Schmid (2007: 26) feststellt, der romantische Impuls als existenziell, »um die immer neue Frage nach dem wahren Leben zum kritischen Korrektiv gegenüber dem wirklichen Leben zu machen.« Das uns hie und da beschleichende Gefühl, dass es so nicht weitergehen könne, mündet in letzter Konsequenz in der von Sloterdijk benutzen Formel »du musst dein Lebens ändern«. Letztlich grundiert die Forderung auch die Überzeugungen der Gegenkultur, deren Praktiken Ideen wie Selbstorganisation, Selbstverantwortung und eben auch Selbstverwirklichung beinhalteten. Was den Modernen droht, ist die sakrale Überhöhung des Authentizitätsideals und ein damit verbundenes Abgleiten in die Gefilde der Trivialität. Doch wenn, wie Taylor (1995: 104) anmerkt, »Authentizität soviel heißt wie Treue zu sich selbst und Wiedergewinnung des eigenen ›Gefühls des Daseins‹, dann können wir sie zur Gänze vielleicht nur in dem Fall erreichen, in dem wir erkennen, dass wir durch dieses Gefühl mit einem umfassenderen Ganzen in Verbindung gebrachte werden.« Die Romantiker pflegten in diesem Sinne das Gefühl des holistischen Pathos durch die Zugehörigkeit zur Natur. Diese Verbindung mit etwas Größerem bedeutet eine Horizonterweiterung auf das Andere hin. Sie räumt den Blick frei, der von der Konzentration auf das Selbst verstellt ist, wodurch sich Fernsicht gewinnen lässt. Damit ist sowohl eine nachhaltige Denkweise gemeint,
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als auch eine gesteigerte Sensibilität und Empathie in Bezug auf Mensch und Natur. Hierbei kann eine Ausrichtung auf eine spirituelle Dimension, die das »Gefühl des Daseins« nährt, helfen – doch in der Moderne fällt die Suche danach in die Eigenregie des Individuums. Der Grund liegt in den umfassenden Entzauberungsprozessen, die sich seit ungefähr 200 Jahren radikalisiert haben. Allan Ginsberg (1999: 28) schilderte sie etwas unkonventionell in seinem berühmten Geheul: »Visionen! Vorahnungen! Halluzinationen! Wunder! Ekstasen! alles den amerikanischen Bach runter! Träume! Anbetungen! Illuminationen! Religionen! die ganze Schiffsladung gefühlvoller Scheiße!«
In diesem Sinne gilt es also, einiges an Romantik in unsere nüchterne und unfantastische Welt zu retten – eine Welt, in der wir durch die dominierende Haltung des Desengagements die Verbindungen zu unserer inneren Natur, mit allen Empfindungen und Regungen, verloren haben. Dieser Innenwelt scheinen wir bereits soweit entfremdet, dass – wie Ronald Laing (1981: 177) pointiert anmerkt – »viele Leute behaupten, sie existiere gar nicht und wenn sie existiere, mache es auch nichts.« Dieses Abgeschnittensein von der »inneren Stimme« (Taylor) korespondiert mit dem Verstummen der Welt, in die wir gestellt sind. Das von Taylor (2009: 508f.) benannte »abgepufferte Selbst« hält sich die Welt auf Distanz. Es hat sich eingeschlossen in eine kalte fensterlose Zelle, die gegen alles Metaphysische und »Höhere« abgedichtet ist, sodass es unmöglich von der ganzen »Schiffsladung gefühlvoller Scheiße« (Ginsberg) affiziert werden kann. In diesem Zustand des ›spirituellen Prekariats‹ stellt man sich ab und an mit der Sängerin Peggy Lee die Frage: »Ist that all there is?« Das Dasein auf der von Taylor (ebd. 527) plakativ so bezeichneten »Peggy-Lee-Achse« ist somit tendenziell oberflächlich, langweilig und trivial. „[D]as Gefühl der Leere, der fehlenden Resonanz, kann sich [auf folgendem] Wege einstellen. Es kann aus dem Empfinden hervorgehen, der Alltag entbehre jedes tieferen Widerhalls, er sei nüchtern und flach; die Dinge der Umgebung seien leblos, hässlich und ohne Inhalt; die Art, in der wir sie für unser Leben ordnen, gestalten und strukturieren, sei ohne Bedeutung, Schönheit, Tiefe und Sinn. Angesichts dieser Welt ohne Sinn kann sich ein gewisser Ekel einstellen.“ ( E bd. 523)
Gerade diese Suche nach Resonanzerfahrungen war es, was die hier besprochenen gegenkulturellen Bewegungen – allen voran die romantische – angetrieben
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hat: »Und die Welt hebt an zu singen/Triffst du nur das Zauberwort.« (Eichendorff 1970: 47)8 Gegenwärtig dominieren jedoch eher die trivialisierten Formen der Romantik. Die Sakralisierung von Intimbeziehungen ist das Thema von abertausenden Inszenierungen auf der Leinwand oder auf der Bühne – uneingelöste (oder unlösbare) Sehnsüchte und Phantasien werden nicht nur durch Traumfabriken stimuliert, sondern auch von den nicht minder pompös arrangierten »Traumhochzeiten« der Prinzessinnen und Prinzen dieser Welt. Hier – auf dem schmachtenden Feld der romantischen Liebe – stoßen wir noch auf Residuen utopischer Hoffnungen, die sich aus Sehnsüchten nach emotionalen Überschreitungen der instrumentellen Anschauungen speisen. Auch das ist ein Standpunkt, den wir aus der Romantik beerben – jedoch erschien den Romantikern die Liebe nicht der einzige Weg zum Heil. Wiederum geht es um eine Horizonterweiterung, bei der sich der Eros nicht allein auf Liebesbeziehungen beschränkt, sondern auf die Lebenswelt insgesamt ausdehnt. Nur ein befreiter Eros kann zur Vervielfältigung von Lustquellen beitragen und damit auch die »Nicht-Orte« der »Übermoderne« (Augé) in identitätsstiftende Orte konvertieren. Ein anderer romantischer Impuls, der sich in der Gegenwart als hilfreich erweisen kann, ist die Kultivierung passiv-spontaner Qualitäten. Zur Passivität gehört ein zeitweiliges Sich-Treiben-Lassen, an das sich eine Reihe von Varianten knüpft: Ein Sich-Erregen-Lassen, Sich-Erbauen-Lassen, Sich-Heilen-Lassen, Sich-Inspirieren-Lassen usw. (Sloterdijk: 2009: 591). Sich-Heilen-Lassen funktioniert, wie wir am Beispiel des animalischen Magnetismus sahen, besonders eindrucksvoll in Zuständen »suspendierter Animation« (ebd.) und SichInspirieren-Lassen, meint eine Haltung der Offenheit gegenüber dem anderen der Vernunft einzuüben. Passivitätskompetenz ist gleichbedeutend mit Gelas-
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Hartmut Rosa (2011) hat in seiner Rückschau auf das Werk von Charles Taylor überzeugend dargelegt, dass ein zentraler Fokus seiner Schriften auf dem Verlust von, oder der Suche nach »Resonanz« liegt. So ruft das postmoderne Subjekt herabgedrückt zum »punktförmigen Selbst« »Is There Anybody Out There?« durch eine undurchdringliche Wand, von der es aufgrund seiner desengagierten Vernunft und einer atomistisch-instrumentellen Gesellschaftsordnung getrennt ist. Vor diesem Hintergrund des unhintergehbaren Bedürfnisses nach Resonanzerfahrungen haben sich in der Postmoderne einige Praktiken etabliert, welche zumindest ein kurzes Gefühl des Widerhalls ermöglichen. Ein Beispiel ist die Präsenz im virtuellen Raum, wo man sich durch das immerwährende Posten von Einträgen und Kommentaren, sowie durch die beständige Erweiterung seines Netzwerkes auf Facebook und anderen Plattformen, kontinuierlich Resonanzerfahrungen in homöopathischen Dosierungen sichert.
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senheit – ein Zustand, den die Romantiker empfahlen, »damit der vom eigenen Tunkönnen benommene Mensch der Moderne sich erneut der Behandlung durch das Sein selbst aussetzt« (ebd. 594). Den modernen Disziplinierungsimpetus untergrabend, bezeichnet Friedrich Schlegel provokativ »Fleiß und Nutzen« als »Todesengel«, wobei er festhält: »Nur mit Gelassenheit und Sanftmut, in der heiligen Stille der echten Passivität kann man sich an sein ganzes Ich erinnern, und die Welt und das Leben anschauen.« (Schlegel 1962: 26f.)
In diesem Sinne zeigten sich die Romantiker als äußerst »musikalisch« im Umgang mit Behandlungsmethoden zur Steigerung der Passivkompetenz. Sie empfahlen dem »desengagierten Subjekt« (Taylor) die Impfung mit dem Geheimnisvollen, Fantastischen, Sinnlichen – schlicht: mit dem Unendlichen: »Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren Sind Schlüssel aller Kreaturen Wenn die so singen, oder küssen, Mehr als die Tiefgelehrten wissen, Wenn sich die Welt ins freye Leben Und in die Welt wird zurück begeben, Wenn dann sich wieder Licht und Schatten Zu ächter Klarheit wieder gatten, Und man in Mährchen und Gedichten Erkennt die wahren Weltgeschichten, Dann fliegt vor Einem geheimen Wort Das ganze verkehrte Wesen fort.« (Novalis 1977: 360)
»Das ganze verkehrte Wesen« reflektiert seine eigene Existenz allein auf der Basis von naturalistischen – d.h. rationalen und mechanistischen – Begriffen. Das Subjekt ist hier vollständig losgelöst von seiner Umwelt und es droht die unheilbare Entseelung. Gerade dagegen wurde der romantische Impfstoff entwickelt, der als »geheimes Wort« seine Wirkung entfaltet. Die Vielzahl der angeführten Zitate und Hinweise zur Literatur der Romantik, wie auch die Schilderungen der gelebten Entwürfe in den übrigen hier vorgestellten gegenkulturellen Bewegungen, sollten klar gemacht haben, dass hier Möglichkeiten des Andersseins vorgeschlagen werden. Die Auseinandersetzung damit leitet uns dazu an, reflexiv den Blick auf unser Leben zu richten. Dabei
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werden wir zu stark wertenden Akteuren, die im Gegensatz zu oberflächlichen Charakteren mit »verkehrtem Wesen« in der Lage sind, starke Wertungen (im Sinnen von wahr-falsch, tief-trivial, heilig-profan, gut-schlecht, edel-gemein) zu artikulieren und zu begründen. Eine solche Artikulation führt zwangsläufig zu der Frage, welches Leben wir führen wollen (Taylor: 1992a: 24f.).9 Der romantische Wertehorizont offeriert hier die Lust an der Mannigfaltigkeit, an der Balance, am Natürlichen und an der Geselligkeit. Wie wir sahen, bestand das eigentliche Ziel des romantischen Strebens in der Rückkehr aus den Fängen der gesellschaftlichen Isolierung und metaphysischen Verarmung zur Selbstermächtigung und zu einem ganzheitlichen Mensch-Sein. Sich mit solchen Fragen nach der Qualität des Lebens auseinander zu setzen, eröffnet einen wichtigen Impuls, wenn es darum geht, sein Leben zu ändern.
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Hartmut Rosa (1998: 397) weist hier im Anschluss an Taylor darauf hin, dass nicht ein fundamentaler Zweifel an Traditionen oder Ideologien die moralische Orientierung brüchig werden lässt, sondern erst, »wenn mir alle potentiellen Kandidaten für starke Wertungen als narratives Konstrukt und soziale Willkür erscheinen« bricht der moralische Raum in sich zusammen.
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Abbildungen
Abbildung 1: Caspar David Friedrich: Wanderer über dem Nebelmeer (1818) aus Buchholz, Kai/Latocha, Rita u.a. (Hg.) (2001): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900 (Bd. II), Darmstadt: Häusser, S. 202. Abbildung 2: Baquet aus Danton, Robert: Der Mesmerismus und das Ende der Aufklärung in Frankreich, Frankfurt am Main: Ullstein S. 15. Abbildung 3: Fidus: Lichtgebet (1922) aus Buchholz, Kai; Latocha/Rita u.a. (Hg.) (2001): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900 (Bd. II), Darmstadt: Häusser, S. 203. Abbildung 4: Gusto Gräser: Der Liebe Macht (1898/99) aus Buchholz, Kai/Latocha, Rita u.a. (Hg.) (2001): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900 (Bd. II), Darmstadt: Häusser S. 16. Abbildung 5 Alice in Wonderland, Art: Owen. (August, 1967) aus San Francisco Oracle (No. 9) The Houseboat Summit. S. 12. Abbildung 6: The Houseboat Summit, Cover von DeVries, Mark (April, 1967) aus San Francisco Oracle (No. 7) The Houseboat Summit. S. 1. Abbildung 7: The Human Be-in, Cover: Brown, Michael/ Mouse, Stanley (Januar, 1967) aus San Francisco Oracle (No. 5) The Human Be-In. S. 1.
Kulturen der Gesellschaft Stefan Bauernschmidt Fahrzeuge auf Zelluloid Fernsehwerbung für Automobile in der Bundesrepublik des Wirtschaftswunders. Ein kultursoziologischer Versuch 2011, 270 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1706-1
Franz Höllinger, Thomas Tripold Ganzheitliches Leben Das holistische Milieu zwischen neuer Spiritualität und postmoderner Wellness-Kultur Januar 2012, 302 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1895-2
Thomas Lenz Konsum und Modernisierung Die Debatte um das Warenhaus als Diskurs um die Moderne 2011, 224 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1382-7
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