Die Schwerkraft von Ideen, 2: Eine Designgeschichte 9783035619645, 9783035619508

Vom Druckknopf bis zur Weltraumsonde: So weit erstreckt sich der Horizont von Produktdesign. Weil Design viel mehr ist a

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German Pages 420 [421] Year 2021

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Die Schwerkraft von Ideen, 2: Eine Designgeschichte
 9783035619645, 9783035619508

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Bauwelt Fundamente 171

Herausgegeben von Elisabeth Blum Jesko Fezer Günther Fischer Angelika Schnell

Claude Lichtenstein Die Schwerkraft von Ideen Eine Designgeschichte Band 2

Bauverlag

Birkhäuser

Gütersloh · Berlin

Basel

Die Reihe Bauwelt Fundamente wurde von Ulrich

Die Schwerkraft von Ideen ist ein zweibändiges Werk.

­Conrads 1963 gegründet und seit Anfang der 1980er-

Der 1. Band ist der 170. Band in der Reihe der Bauwelt

Jahre gemeinsam mit Peter Neitzke herausgegeben.

Fundamente (ISBN 978-3-0356-1949-2).

Verantwortliche Herausgeberin für diesen Band: ­Elisabeth Blum

Dieses Buch ist auch als E-Book (ISBN 978-3-03561964-5) erschienen.

Gestaltung der Reihe seit 2017: Matthias Görlich Der Vertrieb über den Buchhandel erfolgt ausschließlich über den Birkhäuser Verlag. Vordere Umschlagseite: Flaminio Bertoni: Lenkrad des

© 2021 Birkhäuser Verlag GmbH, Basel, Postfach 44,

Citroën DS 19, 1955 (Ausschnitt). Aus André Hermant,

4009 Basel, Schweiz, ein Unternehmen von Walter de

Formes utiles, Paris 1959

Gruyter GmbH, Berlin/Boston;

Hintere Umschlagseite: David Gammon: Plattenspieler

und Bauverlag BV GmbH, Gütersloh, Berlin

„Transcriptors“/Garrard Ltd., UK 1964. Foto Stan Ries/ Museum of Modern Art, New York

Gedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff. TCF ∞

Bibliografische Information der Deutschen National­ bibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese ­Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

Printed in Germany

http://dnb.dnb.de abrufbar. ISBN 978-3-0356-1950-8

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung,

987654321

des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbil-

www.birkhauser.com

dungen und ­Tabellen, der Funksendung, der Mikrover­ filmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur ­auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen ­Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich ver­gütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

Inhalt von Band 2

17 „Easy to look at“

Industrial Design in den USA 1920–1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7



X-17  Styling oder Design? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

18 Gestaltung in den Diktaturen der 1930er-Jahre

Italien – Deutschland – Sowjetunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38



X-18 „Design und Ideologie“ – was heißt vergleichen? . . . . . . . . . . . . . . . . 62

19 Design im Kontext des Zweiten Weltkrieges

Andere Vorstellungen von Notwendigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65



X-19  Lebensmittel, Tötungsmittel – Livingry versus Killingry . . . . . . . . . 86

20 Vom Konstruieren zum Modellieren

Max Bill und „Die gute Form“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90



X-20  Das Problem der Ästhetik (II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

21 „Die Linie der Vernunft“

Die Hochschule für Gestaltung Ulm 1953–1968 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116



X-21  Das Problem der Systemgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138

22 Gestaltung und Parteilinie: ein Spannungsfeld Design in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR 1945–1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 X-22  Wie viel ist „wenig“ Design? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163



23 „Uno stile industriale“

Italien: Epizentrum des Designs 1945–1975 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165



X-23 Zum Unterschied von Originalität und Extravaganz . . . . . . . . . . . . . 192

24 Frankreich: Salon und Atelier Von den „formes utiles“ zu „le design“, 1930–1975 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

X-24  Zwei Arten von Nonchalance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

25 „Britain Can Make it“

Design in Großbritannien 1930–1975 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224



X-25  Common Sense und Eigensinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

26 Nordeuropäische Unbeirrbarkeit

Design in Skandinavien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252



X-26  Über Kontraproduktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276

27 Das spezifische Gewicht von „Wenig“ Gestalterische Praktiken im traditionellen und modernen Japan . . . . . . . 278

X-27  Askese oder Genuss? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

28 Vom „Elektronengehirn“ zum Gehirn-Ersatz?

Digitalisierung und Ephemerisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306



X-28 Künstliche Intelligenz, künstlerische Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . 329

29 Die Erweiterung des Designbegriffs Globalisierung, Grenzen des Wachstums, Alternativen . . . . . . . . . . . . . . . . 333

X-29  Lebensstandard und Lebensqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352

30 Verweigerung und Hedonismus Die Postmoderne im Unterholz der Kulturtechniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357

X-30 „Non-Intentional-Design“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382

31 Ein erster Blick auf das dritte Jahrtausend

(Nach der Postmoderne oder Moderne. Version X?) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384



Epilog: Der Gegenstand als Träger von Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407

Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416

17 „Easy to look at“ Industrial Design in den USA 1920–1945

„Jeder, der die amerikanische Zivilisation im Großen überschaut, muss, glaube ich, vor allem davon überrascht sein, in welch rohem und unfertigen Zustand sich unsere Städte und vor allem unsere ländlichen Bezirke befinden. Unsere Wolkenkratzer, Brücken, Kanäle, unsere Wasserleitungs-­ Anlagen zeugen von einer ungeheuren physischen Energie.“1 Dies sagt Lewis Mumford, der bedeutende Kritiker der technischen Zivilisation, 1925 über die bauliche Umwelt seines Landes. Und er fährt mit einem Gedanken fort, der im Grunde nahtlos an Benjamin Franklin anschließt, der 150 Jahre zuvor die primäre Funktion des Werkzeugs und des Gebrauchs in den Vordergrund gestellt hatte (→ Kap. 5) . Mumford: „Form kann sich nur in einer Zeit des ruhigen Behagens und gesicherten Lebensgenusses entwickeln; niemand wird seine Phantasie anspornen, wie es erforderlich ist, um neue Formen zu schaffen, wenn er sie nicht in dauerhaftem Material herstellen kann, ja selbst das Bedürfnis nach solchen Leistungen wird kaum vorhanden sein, wenn nicht die Sicherheit besteht, sie in Ruhe genießen zu können. Alle diese Voraussetzungen fehlten dem amerikanischen Leben.“2 Daraus ergibt sich für Mumford diese zusammenfassende Charakterisierung der amerikanischen Gebrauchskultur um 1920: „So kommt es, dass alles, was wir als Form in Amerika erreicht haben, nur den Vorzug einer strengen Zweckmäßigkeit besitzt, wie wir es etwa bei den Gasöfen oder Geräteschränken in einer amerikanischen Küche sehen; und wir stehen erst jetzt am Anfang des Problems, eine Form des Ausdrucks zu erschaffen.“3 Die stürmische Besiedlung und Inbesitznahme Nordamerikas gestattete den Pionieren die vormoderne Beschaulichkeit nicht, die Mumford hier als Voraussetzung einer organisch gewachsenen Kultur bezeichnet. Aber wo sonst in der westlichen Welt war diese Voraussetzung noch gegeben? Seit 150 Jahren war die Welt nicht mehr im Schritt, sondern auf Trab. So geht es in diesem Kapitel denn auch um ein anderes Konzept als um die etwas elegische Sehnsucht von Mumford, den Glauben, unter anderem 7

Abb. 1: Anzeige für einen Münzwechsler: „There’s no idea like the high speed change carrier idea!”: Time is money als Chefmaxime der neuzeitlichen Dynamik Nordamerikas, um 1925.

durch gezielte Entwicklung und Anwendung eines ästhetischen Bewusstseins das Niveau der amerikanischen Zivilisation zu heben. Diese Absicht liegt zwar auf der europäischen Linie etwa des Werkbundes, doch da das amerikanische Ungestüm sich von der europäischen Gangart unterscheidet, fällt die Reaktion in Amerika und seiner großen Volkswirtschaft anders aus als im Europa der kleineren Räume. Im Unterschied zu Europa interessierten sich die amerikanischen Akteure auch nicht primär für die Neuformulierung des Mobiliars, vielmehr für den Teil der Einrichtung, der die häusliche Arbeit bestimmte. Es wäre zu einfach, das Augenmerk dabei nur auf die Ästhetik zu richten – in der verbreiteten Meinung, das amerikanische Design sei vor allem Styling gewesen. Hier soll auch von anderen, weniger äußerlichen Motiven die Rede sein. 1919 kam ein junger Franzose mit dem Schiff in New York an, nachdem er in Paris einige Semester Ingenieurwissenschaften studiert und dann zum Kriegsdienst abkommandiert worden war. Er hieß Raymond Loewy, folgte nach dem Tod seiner Eltern (infolge der Spanischen Grippe) seinen beiden älteren Brüdern nach Amerika und sollte zehn Jahre später zu einem Pionier des neuen Berufes namens Industrial Design werden. Er erinnerte sich später so an seine Ankunft in der Neuen Welt: „Der erste Eindruck war 8

brutal. Das Riesenmaß aller Dinge, ihre Schroffheit, ihre Massigkeit waren erschreckend. Die Lichter blendeten in ungedämpfter Helle, die ­U-Bahnen waren donnernde Kolosse von unheimlicher Kraft, die Straßenbahnen tosende, rasende Ungeheuer aus Gusseisen. Fürchterlich eindrucksvoll war das alles, gigantisch, ruhelos und überdreht. Aus der Nähe schien es disharmonisch und ohne Maß. Aus einer gewissen Entfernung wirkte es schon weniger zerrissen. Aus der Ferne schien es Harmonie und Sinn zu bekommen. Wenn ich dann wieder aus der Nähe beobachtete, spürte ich ­Unbehagen. Unbewusst versuchte ich dem zu entfliehen. Jetzt, nach dreißig Jahren, beginne ich zu verstehen, warum ich damals so oft mit dem Fährboot nach ­Staten Island fuhr oder hinauf auf irgendeinen Wolkenkratzer ‚ausflog‘. Diese Ausflüge glätteten und beruhigten. Beim Betrachten aus der Entfernung begann alles ins Lot zu kommen, zusammenzufließen, und ich fand wieder Ruhe. Die Silhouette von New York war nicht nur großartig, sie war auch ‚richtig‘.“4 Nicht der Anfang – Anfänge Diese Passage in Loewys 1951 veröffentlichten Erinnerungen bestätigt Mumfords Befund. Sie impliziert einleuchtend das ursprüngliche Motiv der Pioniere des neuen Berufes Industrial Design: vereinfachen, vereinheitlichen, glätten, überhaupt: ein Bewusstsein für Form entwickeln. Loewys Pein angesichts der vitalen Ungeformtheit seiner neuen Heimat erscheint nachvollziehbar, erst recht für einen gebürtigen Pariser. Und es trifft zu, dass sein erster Auftrag, das Re-Design eines Kleinoffset-Druckers der britischen Marke Gestetner im Jahr 1929, der ersehnte Auftakt zu seinem eigenen „Kreuzzug“ – wie er dies reichlich pathetisch nennt  – zur Hebung der amerikanischen Formkultur war. Seit seiner Ankunft hatte Loewy zehn Jahre lang als Illustrator für den Verlag Condé Nast (in dem unter anderem die Zeitschrift Vogue erschien) in New York gearbeitet und damit die Welt auf Papier zu verschönern versucht. Nun konnte er endlich in die dritte Dimension vorrücken. Er beschreibt in einem ganzen Kapitel, wie er diesen ersehnten Auftrag in nur drei Tagen zu erfüllen hatte, weil danach Sigmund Gestetners Schiff nach England zurückfuhr.5 Diese Zeit reichte nur für „plastische Chirurgie“, als die Loewy 9

hier sein Re-Design bezeichnet: Im Licht eines Scheinwerfers umkleidete er zu Hause den zerklüfteten Mechanismus der Umdruckmaschine nach und nach mit einer Haut aus Modellierton und gestaltete auch das vormals ungestalte Untergestell kompakt und funktional. Dabei gelang es ihm, dem spröden ­Büroapparat so etwas wie Glamour zu verleihen. Aus einem mechanischen Apparat machte er ein fast skulpturales Objekt mit nun vor Staub geschütztem Inneren (dank dessen die Benutzer sich auch nicht mehr selbst beschmutzten; zudem hielt die Blechverkleidung auch den Geruch nach Öl zurück). Gestetner war von Loewys Vorschlag sofort überzeugt und ließ das überarbeitete Modell in Produktion gehen – als Auftakt zu einer jahrzehntelangen erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen Loewy und Gestetner. Loewy macht in seinem Buch aus diesem Erstauftrag auch die Ursprungs­ legende des neuen Berufes Industrial Design. Da ist Vorsicht geboten. Er war nicht der Erste und Einzige, der damals die Dinge „glätten“ und „beruhigen“ wollte und seit den späten 1920er-Jahren auch die Gelegenheit dazu hatte. Ein Filmtitel von 1945, Easy to Look at, trifft auch auf die Absichten anderer US -Designpioniere zu, der bestehenden Gegenstandswelt das Ungeformte zu

nehmen und sie ästhetisch aufzuwerten. Auch andere Gestalter, die wichtig werden sollten, hatten damals ihre erste Gelegenheit: Norman Bel Geddes für die Automarke Graham-Paige, ­Walter Dorwin Teague für Eastman-Kodak, Henry Dreyfuss für Western Clock (Uhren), Harold van Doren für Toledo (Waagen), John Vassos (Coca-Cola-­ Dispenser), Donald Dohner und andere. Sie brachten seit den späten 1920erJahren Ordnung in die Linien, achteten auf Licht- und Glanzeffekte, auf das Zusammenspiel von Materialien und Farben, auf den Schattenwurf, auf die Wirkung eines Gegenstandes aus unterschiedlicher Distanz und unter verschiedenen Blickwinkeln. Einige besonders Glückliche unter ihnen – Dreyfuss, Loewy, Otto Kuhler, Norman Zapf – wurden vor die Aufgabe gestellt, Dampflokomotiven mit einer neuen, eindrucksvollen und schlüssigen Form zu umkleiden oder Eisenbahnwaggons mit einem freundlichen ­I nterieur auszustatten, mit guten Sitzen, aufeinander abgestimmten Farben in angenehmer Beleuchtung und schalldämpfenden Materialien. Einige legendäre Zugkompositionen trugen mythisch klingende Namen, etwa „20th Century 10

Abb. 2: Dieselelektrischer Zug M-10 000 „City of Salina“, der erste amerika­ nische „Streamliner“, gebaut von Pullman für die Union Pacific Railroad, 1934. Die genieteten Bleche waren braun gespritzt, die helle Fläche gelb, beide ­von­einander getrennt durch eine rote Linie.

Limited“ (Dreyfuss), „Hiawatha“ (Kuhler) oder „Broadway ­Limited“ (Loewy), und hatten ihre unverwechselbare personality. Die Wirkung, die diese Züge auf das Zeitgefühl derer hatten, die darin fuhren, aber auch auf die, an denen sie vorbeipreschten, lässt sich anhand der Wirkung ihrer Fotografien noch heute ermessen. Gerade diese streamliners akzentuierten einen Unterschied zu modernen Gestaltungsauffassungen in Europa. Auch in Europa fuhren Züge, die den technischen Fortschritt verkörperten. Doch ihre nordamerikanischen Entsprechungen dokumentieren einen weiter gefassten Begriff von der Funktion, indem es sich bei ihnen um eine bewusst dramatisierte Funktionalität handelt. Der starke Eindruck auf das Publikum war in seinen Mitteln und Motiven nicht nur ein Resultat, sondern stand bereits am Anfang dem Auftraggeber vor Augen und wurde von den Gestaltern als Auftrag aufgefasst, einen entsprechenden Ausdruck dafür zu finden. Im Fall der Eisenbahn spielte auch die Konkurrenz der Bahngesellschaften, die zwischen denselben Städten verkehrten, eine Rolle im Wetteifern um die Publikumsgunst. Henry Dreyfuss etwa versah die mächtigen Radsätze der „Mercury“-Lokomotive der Bahngesellschaft New York Central (1936) mit einem hellen und phosphoreszierenden Farbanstrich und beleuchtete sie bei Dunkelheit auch 11

Abb. 3: Henry Dreyfuss: Dampfbetriebene Komposition „Mercury“ der New York Central Railroad, unter anderem Strecke Cleveland – Detroit, 1936. Ein Beispiel für „bathtub shrouding“: nachträgliche Einkleidung eines bestehenden Mechanismus. Beleuchtete Radsätze als inszenatorischer Kniff.

während der Fahrt mit Scheinwerfern, was auf die Außenstehenden einen unvergesslichen Eindruck gemacht haben muss. Anblicke wie diese müssen in der tiefen Provinz wie ein Strudel suggestiver Modernität empfunden worden sein. Szenografisches Denken mit dem Ziel der unwiderstehlichen Effekte gehörte schon damals zum Repertoire der US -Designer. Gestalter wie Bel Geddes und Dreyfuss kamen vom Bühnenbild des Theaters her, Teague von der Werbung (er war Illustrator), Loewy von der Illustration für Vogue, auch eine Gestalterin wie Helen Dryden machte den Schritt von der sehr erfolgreichen Illustratorin (Vogue, Vanity Fair) zur Pionier-Industrie­designerin: Sie gestaltete vor dem Krieg das Interieur verschiedener Modelle der Automarke ­Studebaker. Der Weg eines elektrischen Kochherdes von 1913 zu seinem Nachfolger des Jahres 1941 macht deutlich, wie lang der Weg vom zwar gebrauchsfunk12

Abb. 4: Henry Dreyfuss: Aufenthaltswagen des Zugs „20th Century Limited“ der New York ­Central Railroad, Strecke New York – Chicago, 1938. Glatte, schallschluckende Oberflächen für aufgeräumte Behaglichkeit: Vorbild und Transportmittel auch für die Idee von Modernität.

tionalen, äußerlich aber reizlosen Herd zum Hausfrauentraum eine Generation später war. Was zuvor aus genieteten Gusseisenplatten bestanden hatte, war 30 Jahre später ohne sichtbare Verbindungsstellen aus hell glänzenden emaillierten Blechen gefügt und besaß einen raffinierten Innenausbau mit Inox-Elementen, Beleuchtung, Geräteschublade, teleskopartig ausziehbaren Geschirrtuchhaltern und einer Schaltuhr. Die Werbung dafür  – mit Airbrush-Effekten  – macht aus einem Kochherd fast ein magisches, wie aus einer besseren Welt herabgestiegenes Objekt. Die Erklärung für diese zeittypische Art von Abbildung muss in den Versandhauskatalogen liegen, die im weiträumigen Hinterland den Gang zum Geschäft oder den Blick ins Schaufenster zu ersetzen hatten und in denen ein Produkt sich über seine Abbildung mitteilen musste. Die schwedischstämmige Gestalterin Ann Swainson wurde 1931 Leiterin des Bureau of Design beim Versandhaus Montgomery Ward in Chicago, wo sie als Erste den Schritt von Strichzeichnungen zu Fotografien veranlasste (und zudem die Abbildung 13

Abb. 5: Anzeige für Gasherd in einem Versandhauskatalog, 1941. Schimmernde Inox-Oberflächen, Innenbeleuchtung, ausgeklügeltes Zubehör, grafische Airbrush-Effekte: ein greifbar naher, käuflicher Hausfrauentraum.

von Kleidungsstücken nicht mehr flachliegend auf einem Tisch, sondern realistisch an Foto­modellen). Der neue Beruf wird sichtbar Die hochstehende US -Zeitschrift Fortune widmete dem neuen Beruf Industrial Design im Februar 1934 einen eminent sachkundigen, nicht gezeichneten Artikel und stellte zehn ausgewählte Designer vor, nicht ohne zu erwähnen, dass es sich bei ihnen um eine Auswahl handle. Viel später erst wurde bekannt, dass der Autor des Artikels der junge George Nelson war, nach dem Krieg design director des Möbelproduzenten Herman Miller.6 Der Beitrag wies darauf hin, dass es beim Industrial Design um etwas fundamental anderes geht als bei den bisherigen kunstgewerblichen Bemühungen um das gute Aussehen eines Gegenstandes in den art industries. Der Unterschied liege in den größeren Stückzahlen, den höheren Investitionskosten und in der verschärften Konkurrenz. Bisher hätten sich Textilien und Möbel eigentlich von selbst verkauft, doch nun sei die Reihe an Waschmaschinen, Heizkörpern, Schalttafeln und Lokomotiven. Der Unterschied zu diesen technischen Geräten liege ebenso darin, dass auch in den USA zumindest Möbel meist noch aus gewerblicher und nicht aus industrieller Produktion stammten. Wer soll sie entwerfen? Die bisherigen Konstrukteure seien dafür nicht mehr kompetent 14

genug. Deshalb hätten sich insbesondere die Werbe-Abteilungen nach Hilfe von außen umgesehen und sie in reaktionsschnellen Gestaltern gefunden, die zu den Pionieren des Berufes wurden.7 Die Publikation war für die zehn Gewürdigten folgenreich (und für die anderen, Ungenannten, mit umgekehrtem Vorzeichen wohl auch). Ihr gemeinsames Merkmal war, dass sie als Gestalter über ein ausgeprägtes technisches Flair verfügten. Teague, mit Geburtsjahr 1883 der älteste unter ihnen, hatte zuerst als Buchillustrator gearbeitet und machte sich 1926 als Werbeberater selbstständig. Bereits ein Jahr später erscheint in seinem Briefkopf Industrial Design als Arbeitsbereich, als seine jahrzehntelange Zusammenarbeit mit Eastman-Kodak begonnen hatte. Norman Bel Geddes (*1893) war ein sehr erfolgreicher Bühnenbildner in New York – stark beeinflusst von ­Adolphe Appia –, von ihm stammten unter anderem spektakuläre Arbeiten für Max Reinhardt, und er konnte auf seinem Weg in die Alltagskultur auch aufsehenerregende Schaufenster für das Warenhaus Franklin Simon schaffen. Seine Abb. 6: H. Dreyfuss: „How the Designer Works“: Konferenz mit Führungskräften bei der Planung eines neuen ­ rodukts, der Designer P als Koordinator aller ­Ansprüche und als Problem­löser. (Dreyfuss, Designing for People)

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Schaufenstergestaltung war die Antithese zum bisherigen Naturalismus, bei dem die Produkte das Milieu ihres Gebrauches vorwegnahmen (z. B. Schuhe ausgestellt wie im Schuhgestell zu Hause), vielmehr verhalf er ihnen Nachdruck durch Vereinfachung, Stilisierung und gekonnte Beleuchtung. Bel Geddes leistete überhaupt Wegweisendes für den neuen Beruf: Er publizierte bereits 1932 das Buch Horizons, das mit aufregenden, suggestiven und zugleich konzeptionell, technisch und gesellschaftlich fundierten Renderings und Modellaufnahmen von Automobilen, Innenräumen, von seinen Zukunftsvisionen der Eisenbahn, des Flugzeugs und Transatlantikdampfers das amerikanische Gegenstück zu Le Corbusiers Vers une Architecture war, das er mit Sicherheit aufmerksam studiert hatte. Seinen ersten Auftrag als Designer holte er sich 1928 von der Automarke Graham-Paige.8 Bel Geddes war nicht der kommerziell Erfolgreichste, aber der Visionärste und Grundsätzlichste unter den Pionieren, mit jener planmäßig agierenden Fantasie ausgestattet, um die Amerika in der alten Welt bewundert wurde. Auch Bel Geddes’ früherer Assistent, der junge Henry Dreyfuss (*1904), reihte sich in die erste Reihe der Designpioniere ein. Sein oben erwähntes Beispiel der beleuchteten Lokomotiven-Räder kommt direkt aus der Welt der theatralischen Inszenierung. Es ist kein Zufall, dass mit Bel Geddes und Dreyfuss zwei Exponenten des Theaters mit so effektvollen Designs die Akzente setzten. Das amerikanische Industrial Design setzte sich intensiv und systematisch mit der Frage auseinander, wie ein Produkt ins richtige Licht zu stellen ist. Von bloßer Effekthascherei unterscheidet die bedeutenden Beispiele, dass es den ernsthaften Designern stets um die Angemessenheit von Mitteln und Zwecken ging und um mehr als die Erscheinung, nämlich immer auch um das Produkt als eine Ganzheit. … und macht sichtbar Als Norman Bel Geddes 1934 für die Firma Electrolux einen neuen Schlittenstaubsauger entwarf, kommentierte er die Fotografie des Mock-up (= natur­ getreues Modell im Maßstab 1:1) mit diesen Worten: „Anstatt dass die Lüftungsschlitze nur als ein mechanisches Element der Maschine verstanden wurden, sind sie hier vergrößert und betont worden, um dem Design mehr Interesse zu verleihen. (The louvres instead of being a mechanical element 16

Abb. 7: Norman Bel Geddes: naturalistisches Modell („Mock-up“) zu einem Electrolux-Schlittenstaubsauger, 1934. Verbindung aus Funktionalität und ­Ausdrucksstärke, doch nicht in Produktion gegangen. (Bel Geddes Collection, Austin/Texas)

of the machine have been enlarged and capitalized to add interest to the design.)“9 Das ist eine bezeichnende Formulierung. Sie besagt, dass hinter ­Loewys obiger Aussage zum „Glätten“ und „Beruhigen“ der Form noch mehr steht. Was? Es ist das Gefühl der fähigen Designer für das gewisse Etwas, für ein Faszinosum mit seiner angenehmen Unruhe, die man als Betrachter verspürt. Die frühere äußerliche Unruhe der Formen wird eliminiert, jedoch ersetzt durch eine Qualität, die im Betrachter beim Anblick des Gegenstandes eine subkutane emotionale Erregung hervorruft. An die Stelle von Rohheit tritt Raffinesse. Professionelles Industrial Design war also nicht der Einfall von Einzelnen, vielmehr die logische Folge aus der wirtschaftlichen Entwicklung. Deren Dynamik hatte sich in den Zwanzigerjahren verlangsamt und war 1929 mit der Wirtschaftskrise zum Stillstand gekommen. Nach der folgenreichen Exposition internationale des arts décoratifs et industriels modernes in Paris 17

Abb. 8: Überlandbus der Greyhound-Company, ­herkömmliche Gestaltungspraxis, um 1930. Alle Elemente sind noch additiv und als Einzelteile behandelt.

1925 erschienen amerikanische Produkte plötzlich ungestaltet und glanzlos. Deswegen trat um die Mitte der 1920er-Jahre das neuartige und komplexe Kriterium des einnehmenden Warenreizes auf den Plan. Er versprach für den Publikumserfolg entscheidend zu sein. Dies war die Geburtsstunde des neuen Berufes. In Kapitel 12 haben wir gesehen, dass Henry Ford die Entwicklung lange zu leugnen suchte und schließlich doch, mit dem Modell A, darauf einzugehen gezwungen war. Die Symptomatik für professionelles Industrial Design war nun, 1930, wesentlich durch die wirtschaftliche Notwendigkeit gegeben. Zahlreiche Hersteller von Kühlschränken, Kochherden, Radio­empfängern oder Küchenmaschinen kämpften um Marktanteile; in Zeiten der Krise schrumpfte der Markt, gleichzeitig war ein starker Konzentrationsprozess im Gang. Die Hersteller hatten sich bereits seit Jahren mit dem Anspruch konfrontiert gesehen, sich zu professionalisieren. Dabei kam unter anderem der äußeren Attraktivität eine wachsende Bedeutung zu. Das Prädikat appearance counts (das Aussehen macht’s aus) wurde zum amerikanischen Slogan. Inspiration holten sich die amerikanischen Gestalter unübersehbar von der erwähnten Pariser Ausstellung, auf die die populäre Bezeichnung Art déco zurückgeht. Sie wurden deswegen immer wieder kritisiert, da der Stil von 18

Abb. 9: Raymond Loewy Ass.: Der neue GreyhoundBus von 1939 dokumentiert den Wunsch nach formaler Vereinheitlichung; mit dem Motor im Heck war er auch eine Neukonstruktion.

1925 von europäisch-avantgardistischer Seite als oberflächlich und auf unangenehme Weise mondän bezeichnet wurde.10 Diese Kritik ist nicht immer unberechtigt, doch anderseits hat dieser Stil auch ungemein raffinierte und gekonnte Arbeiten hervorgebracht. Etwas Parfümiertes mag dem Art déco eigen sein, aber es gibt schließlich ordinäre und raffinierte Parfums. Im US -­Design lassen sich – wie immer – Beispiele für beide Kategorien von Gegenständen finden, Glanzstücke und Schund. Raymond Loewy verlachte die unmotivierten Art-déco-Versatzstücke als „Schmaltz“ und „Borax de Luxe“. Ganz frei ­davon waren auch seine Arbeiten nicht immer. An Loewys Greyhound-Bus von 1939 überzeugt die seitliche Bemalung am wenigsten. Wichtiger aber ist die Sicherheit, mit der Loewy aus Einzelteilen, die beim alten GreyhoundÜberlandbus ein additives Konglomerat gebildet hatten (Lampen, Positionslichter, Horn, Nebelleuchten, Stoßstangen, Windschutzscheibe, Außenspiegel) ein weitgehend harmonisches Ganzes zu bilden vermochte. Die aufregende Formensprache verband sich seit 1934 mit Franklin D. Roosevelts Politik des New Deal, dem umfassenden Entwicklungsprogramm zugunsten von Beschäftigung und Infrastruktur, und sie verlieh ihm einen entschiedenen Ausdruck. Sie stand in ihrem Ursprung in innerem Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Depression, gegen die sie mit Erfolg zu 19

mobilisieren versuchte, aus der sie den Ausweg wies und den Menschen neuen Mut gab. Dazu trugen sowohl Investitionsgüter (wie öffentliche Transportmittel oder Arbeitsmaschinen) als auch Konsumgüter (wie Haushaltsapparate oder Autos) bei. Ebenfalls seit 1934 wurde durch Donald Dohner auch der erste Ausbildungsgang in Industrial Design, am Carnegie Institute of Technology in Pittsburgh, aufgebaut. Wie bereits festgestellt: Der neue Warenreiz beschränkte sich nicht auf die formale Erscheinung eines Produktes. Vielmehr war dessen gesamte Wirkung von ihm bestimmt: Funktionalität, Materialität, Ausdruck, Farbgestaltung, Wertigkeit, Bedienungskomfort, Geräuscharmut, vereinfachte Reinigung und in vielen Fällen auch eine verbesserte Reparaturfreundlichkeit. Elektrische Rührwerke gab es in den USA schon um 1920 zu kaufen, doch hatten sie damals den Charakter eines mechanischen Werkzeugs. Rund 15 Jahre später war aus der einschüchternden Maschine ein vertrauenswürdiges Gerät geworden

(→ Abb. 11) .

Mag auch der Begriff „Image“ aus einer späteren Entwick-

lungsphase der wirtschaftlichen Entwicklung und der Werbung stammen, haben die ­US -Designer seit 1930 doch praktisch im Bewusstsein dieses Kriteriums gearbeitet. Alle diese Faktoren bestimmten das appealing oder den ­appeal, die Art und Weise, wie das Produkt an den Kunden, den Benutzer oder die Eigentümerin „appelliert“, wie es sie anruft und was es hervorruft. Abb. 10: Viermotoriges ­Passagierflugzeug DC-4. Doppelseite aus Life, 1941. W. D. Teague schreibt dazu, dies sei „mit der betonten Repetition charakteristischer Linien und Formen der Inbegriff erfolgreicher Gestaltungsbemühungen“. (Foto Margaret BourkeWhite)

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Produktivitätsfortschritt durch Design Und wie bereits angedeutet, gab es jenseits der formalen Erscheinung eine zweite, dem Publikum weitgehend unsichtbare Ebene: die Herstellungskosten mit Fragen wie: Aus wie vielen Teilen besteht ein Produkt? Wie wird es gemacht? Wie erfolgt der Zusammenbau? Wie lässt es sich warten oder reparieren? Die Produktivität zu steigern – also die Produktionskosten zu senken – war überlebenswichtig. Fast nebenbei erwähnt Loewy bereits im Zusammenhang mit dem Gestetner-Drucker einen grundlegend wichtigen Punkt: Weil die mechanischen Teile wegen der Verkleidung nicht mehr sichtbar waren, brauchten sie nicht mehr vernickelt und poliert zu werden, sondern waren nur gestanzt. Damit entfiel der kostspielige Arbeitsgang der Oberflächenveredelung. Dem Publikum wurde dies nicht bewusst, es nahm nur die aufregendere Form wahr. Doch ohne ein Bewusstsein vom Beitrag der Designer zur Vereinfachung der Produktion ist ihr Beruf nicht verstanden. Die Kunst bestand darin, ein Produkt zugleich hochwertiger erscheinen zu lassen und die Herstellung zu vereinfachen. Wer darin unvermeidlich das Gesetz der Schundproduktion zu erkennen glaubt, tut den fähigen Designern unrecht, die das eine Ziel mit dem anderen zu vereinbaren wussten und sich der unseriösen Konkurrenz – die sich aufs bloße Styling beschränkte – zu erwehren hatten.11 Fortune schrieb 1934 die Sätze: „Wären die Designer zur Hauptsache [nur] die dekorativen Künstler, als die sie die Unternehmen zu holen pflegen, würden sie allein ihrer künstlerischen Fähigkeiten wegen gewürdigt oder wegen ihrer Fähigkeit, populäre Stile aufzugreifen. Doch die Kostenstruktur und die Frage des Gebrauchszwecks des Produkts fügen der ursprünglichen Vorstellung von der Gestaltung der Oberfläche zwei Dimensionen hinzu.“ Der Autor illustriert dies mit Harold Dohner, der den Hersteller Westinghouse durch den Entwurf eines Staubsaugers mit Kunststoffgehäuse – statt wie die Konkurrenz aus Metall – vom bisherigen Lieferanten nur von Staubsaugermotoren zu einem Hersteller ganzer Geräte machte und ihn damit in eine andere Klasse von Profitabilität verschob. Der Westinghouse-Staubsauger war dadurch nicht nur schöner als die Konkurrenzprodukte, sondern auch leichter, leiser und saugkräftiger und wurde damit erfolgreich.12 21

Abb. 11: Die Rolle des Industriedesigns: „Gilbert“Küchengerät vor (ca. 1925) und nach dem Re-Design, um 1935. Aus der Maschine ist bei verringerten Produktionskosten ein attraktives Gerät geworden.

Henry Dreyfuss charakterisierte in seinem Buch Designing for People (1955) die Funktion des Designers in einer hübschen Zeichnung: Wir sehen einen Konferenztisch, an dem die ganze Leitungscrew eines Unternehmens versammelt ist: Direktor, Chef der Konstruktionsabteilung, Herstellungsleitung, Werbeleitung, Verkaufschef und ihnen gegenüber der Designer, der mit zwei Köpfen sieht, hört und aufnimmt und beidhändig notiert, was ihn aus allen Richtungen an Ansprüchen erreicht: Er nimmt gleichsam die Bestellung auf, und es wird klar, dass es an ihm ist, alle Anforderungen zu koordinieren, zu synchronisieren und zu synthetisieren.13 (→ Abb. 6, S. 15) Damit wird der enge Zusammenhang zwischen dem Entwurf eines neuen Produktes, seiner Funktionsweise und den herstellungstechnischen Gegebenheiten angesprochen ebenso wie das gesellschaftliche Milieu, in dem das Produkt seinen Platz finden soll. Der Designer ist der kreative Kopf dabei. Ein anschauliches Beispiel für seine Funktion ist der Vergleich des alten mit dem damals neuen Modell einer Küchenmaschine. Harold van Doren 22

Abb. 12: Walter Dorwin Teague: Fotoapparat „Baby Brownie“ mit Bakelitgehäuse, 1935. Sinnreiche Konstruktion mit minimierter Anzahl von Einzelteilen, Verkaufspreis 1 Dollar.

(vermutlich der Entwerfer des Letzteren) schreibt in der Bildlegende in bezeichnendem Yankee-Telegrammstil: „Neues Gehäuse aus nur noch vier Teilen: Motorgehäuse aus Kunststoff, Fuß Eisenguss verchromt. Gewicht 32% geringer, Werkzeugkosten 8% höher, jedoch Montage 15% Ersparnis. Verkäufe erstes Jahr 31% höher, gleicher Ladenpreis.“14 Einfachere Herstellung und Montage, größere Attraktivität dank gefälligerer Form und gesteigerter Bedienungsfreundlichkeit sowie größerer Publikumserfolg führen zu gesteigertem Profit: eine rasch aufgestellte Rechnung. Auch die Billigkamera „Baby Brownie“ für Kodak von Teague (1935) kann hier erwähnt werden: Sie kostete einen Dollar, bestand aus zwei lichtdicht ineinandergeschobenen Gehäuseteilen aus Bakelit und wies eine starre Linse aus Kunststoff auf. Formgebung und Konstruktion waren bei ihr unlösbar miteinander verbunden.

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Aus Maschinen werden Geräte Vergleichbare Beispiele für diesen Zusammenhang gäbe es unzählige. Zu den anschaulichsten Fällen zählt der mechanische Kühlschrank. Um 1920 – als er in Europa praktisch noch unbekannt war – begann er sich in den US -amerikanischen Haushalten zu verbreiten, zunächst als technisch aussehendes Gebilde mit dem lärmigen außen liegenden Kompressor auf der Oberseite und mit einem innen liegenden Tragrahmen (bisweilen noch aus Holz), der mit flachen Blechen beplankt war. Im Lauf von zwei Jahrzehnten veränderte sich seine Bauweise ebenso wie seine Anmutung. Die Isolationen wurden verbessert, das Geräusch reduziert, und analog zur Blechverformung in der Autoindustrie verringerte sich die Anzahl der Einzelteile und deren Form: Sie wurden zu dreidimensional verformten Elementen, wodurch das Tragskelett überflüssig wurde. Bei dieser fertigungstechnischen Professionalisierung im Zug eines heftigen Konzentrationsprozesses blieb ein Teil der Kühlschrank-Hersteller auf der Strecke. Dabei wandelte sich der Kühlschrank zum komfortabel ausgestatteten Gerät: mit Eiswürfelfach, Innenbeleuchtung, Frischhaltebehältern für Gemüse, anmutigen Materialwirkungen (z. B. ­gestanzte Aluminium-Tragroste bei Loewy) und einer Türauskleidung für Getränke, Käse und Butter und mit einer äußeren Erscheinung, die ihn appealing machte. Der erste Kühlschrank mit nach innen verlegtem Kompressor war 1935 das von Loewy gestaltete Modell „Coldspot“ des Versandhausriesen S ­ ears Roebuck.15 Ein Schlüsselbegriff bei diesem Prozess der Neumodellierung von Produkten aller Art ist die schon erwähnte „Benutzerfreundlichkeit“ durch gesteigerten Bedienungskomfort, die consumer’s convenience. Dieses Kriterium ergriff das gesamte amerikanische Konsumverhalten und reichte von verbraucherfreundlichen Lebensmittelverpackungen über die erwähnten Ausstattungsmerkmale bei Kühlschränken zu analogen Annehmlichkeiten wie Kochherden mit timer oder Toastern mit Thermostat und dem Dampfbügeleisen. Bei Autos wurde die automatische Gangschaltung etwa 1939 eingeführt, zunächst eine sensationelle Neuerung, die innerhalb weniger Jahre zum Standard wurde: nur noch Gas geben, lenken und bremsen, nicht mehr kuppeln und schalten. „For years it has been coming – now it’s here!“ schrieb 24

Abb. 13: Anzeige in Fortune für den neuen Jahrgang 1939 von Oldsmobile: das automatische Getriebe als groß angekündigte Ver­ heißung von gesteigertem Bedienungskomfort.

die Werbung zum Oldsmobile des Jahrgangs 1939. Die Anzeige in der Illustrierten macht klar, wie tiefgreifend sich in jenem Jahrzehnt die Gesamtarchitektur eines amerikanischen Autos verändert hatte: von der zerklüfteten Box zum Rundling. Consumer’s convenience war die systematisierte Bemühung, es dem Benutzer so leicht wie möglich zu machen, was hieß, ihm so viel Arbeit wie möglich abzunehmen. Die Firma Eastman-Kodak popularisierte das Fotografieren mit dem Slogan: „You press the button – we do the rest“ – die Entwicklung der Bilder besorgte Kodak. Auch bei Waschmaschinen lässt sich das Entwicklungsgesetz klar nachweisen: Musste 1940 die nasse Wäsche noch manuell ausgewrungen werden – mit der oben an der Maschine befestigten kurbelbetriebenen Mangel –, traten um 1946 die ersten Waschautomaten auf den Plan, deren Wäschetrommel auch als Schleuder fungieren konnte und deren wählbare Waschprogramme, durch Lochkarten gesteuert, die „amerikanische Hausfrau“ spürbar entlasteten. All dies griff direkt in die technische Konfiguration eines Gegenstandes ein und erforderte die enge 25

Arbeitsbeziehung zwischen den Konstrukteuren und dem Design-Office. Es wäre interessant zu wissen, wie häufig die Impulse zu solchen Neuerungen von den Designern kamen; vermutlich nicht selten, da sie sich mehr als die Ingenieure in die Situation der Benutzer zu versetzen gewohnt waren. Automatisierung war das Zauberwort, das in Amerika die Runde machte, Jahrzehnte bevor Europa folgte. In seinen frühen Kurzfilmen, kurz nach dem Krieg, gab der Komiker Jacques Tati seinen hinreißenden Kommentar dazu ab, etwa wenn er dem französischen Pöstler auf dem klapprigen Velo den amerikanischen Schnellkurier mit Flugzeugantrieb gegenüberstellte. Es verwundert nicht, dass die vereinfachte Bewältigung der Hausarbeit eine zentrale Triebkraft beim ganzen hier dargestellten Prozess war. Ebenso ­wenig verwundert, dass dieser Prozess sehr stark von den Anschaffungsträumen der „Hausfrau“ und deren wunschgemäßer Erfüllung durch den „Ehemann“ bestimmt war. Henry Dreyfuss pflegte zu behaupten, das Industrial

Abb. 14: Harold van Doren: Waschmaschine „Maytag“ für das Versandhaus Sears Roebuck, 1940. Nach dem Waschen folgte das manuelle Auswringen mit der Mangel.

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Abb. 15: Waschautomat Apex: Waschen und Schwingen in derselben Trommel, kein manuelles Auswringen mehr, dafür mehrere wählbare Waschprogramme: consumer’s convenience. 1946.

Design sei durch die Hintertür in die Häuser und Wohnungen der Amerikaner gekommen – via Küche und Bad.16 Schon damals wurde in den USA festgestellt, dass bei Kaufentscheidungen mehrheitlich das Wort der Frauen den Ausschlag gab. Die Gründe dazu liegen im tradierten Selbstverständnis der weißen Amerikaner: Giedion hat 1948 den wohl wichtigsten Grund im starken Einfluss der puritanischen Weltsicht des Quäkertums erkannt.17 Entsprechend dieser Auffassung ist die Rolle der Frau als Hausfrau und Mutter gottgegeben und -gewollt, der Hausfrauen­beruf also die weibliche Entsprechung zum Männerberuf als Ernährer der Familie. Der gut eingerichtete Haushalt ist gleichbedeutend mit dem gut ausgestatteten Arbeitsplatz des Mannes. Dies kommt implizit bereits im Buch The American Woman’s Home der Schwestern Harriet und Catharine Beecher zum Ausdruck, die 1875 darunter ein christlich geführtes Haus verstanden (→ Kap. 5) . Aus dieser stark religiös grundierten Maxime des amerikanischen Nordostens – der von oben auferlegten Verpflichtung zur heimischen Tüchtigkeit – entwickelte sich im Lauf der folgenden Jahrzehnte ein Denken und Handeln, in denen die weibliche Bestimmung als Hausfrau und Mutter eine zunehmende technische Unterstützung erfuhr. 27

Gut 40 Jahre nach den Beecher-Schwestern hatte sich deren fromme Weltsicht in eine damit verwandte säkularisierte Variante gewendet. Auch hier war es eine Frau, die Journalistin Christine Frederick, die als Anwältin der Frauen die Parole der Zeit ausgab: „Wissenschaftliche Haushaltführung“ (Scientific Management of the Home). Sie schrieb 1912: „Das Wohnproblem der wohlhabenden Frau ist gelöst: mit genügend Geld lassen sich alle Geräte und Dienstleistungen kaufen. Das Wohnproblem für die Armen ist auch recht einfach: arme Frauen gehören meist selber dem Stand der Dienstboten an. Ihre Arbeit im eigenen Haushalt ist elementar einfach und unterliegt nicht dem Zwang, mit dem Heim einen guten Eindruck auf die Umgebung zu machen. Das eigentliche Problem hat die Frau des Mittelstandes, Frauen mit beschränkten Geldmitteln, denen die Gesellschaft so viel abverlangt: die Ehefrauen von einfachen Büro- und Bankangestellten, Schuhverkäufern, von Lehrern, von jungen Männern überhaupt, die im Erwerbsleben ihren Weg suchen müssen.“18 Diese Sätze stammen aus Christine Fredericks vielbeachteter Artikelserie im Ladies Home Journal, woraus sie wenig später das Buch Household Engineering. Scientific Management of the Home machte. Christine Frederick hatte mittäglichen Tischgesprächen ihres Mannes mit Geschäftspartnern zugehört, in denen von „wissenschaftlicher Betriebsführung“ die Rede war, also von Frederick W. Taylor, und hatte das Potenzial dieses Themas zur Erleichterung und Verbesserung hausfraulicher Tüchtigkeit erkannt. Die Rollenzuteilungen der Geschlechter sind bei Frederick noch dieselben, nur die Begründungen haben eine andere Färbung erhalten. Wie in mythischen Zeitaltern ist noch in der Moderne der amerikanische Mann der „Jäger“, die Frau die „Hüterin des Herdfeuers“.19 Auch in der Frage der Beschäftigung von Dienstboten ist diese Bewegung von der früheren Ethik des 19. Jahrhunderts zur Ökonomie im 20. Jahrhundert zu erkennen: das Abrücken vom politischen Abolitionismus in den Nordstaaten des 19. Jahrhunderts, der die Sklaverei aus grundsätzlichen ethischen Gründen verurteilte, über die als moralisch immerhin als fragwürdig beurteilte Beschäftigung von Dienstboten bis zur praktisch-faktischen wirtschaftlichen Unmöglichkeit, solche zu halten. Der „dienstbotenlose Haushalt“ wurde zum Referenzmodell, und er sollte nicht weniger gut geführt 28

sein wie das Haus einer wohlhabenden Familie mit Köchin, Dienstmädchen und einer nanny. Christine Frederick argumentierte vor dem Ersten Weltkrieg noch auf einer ausschließlich funktionellen Ebene; ihr ging es nicht um die Ästhetik oder den Appeal von Gebrauchsgegenständen. Die verschiedenen Bereiche einer Küche sollten räumlich geschickt, also entsprechend den Abläufen, organisiert sein; die Arbeiten womöglich sitzend zu verrichten, alles in Reichweite zu haben und dabei von intelligenten Lösungen zu profitieren, etwa einer runden Öffnung in der Arbeitsfläche, durch die sich Küchenabfälle in den dar­u nter platzierten Eimer werfen lassen, oder von der Erprobung eines mechanischen, für Hotels entwickelten Geschirrspülers. Das war ganz praktisch gedacht und frei von jeder ästhetischen Intention. Die gedankliche Spur Christine Fredericks kommt vom Entwicklungsthema der Mechanisierung her und wird im Lauf der 1920er-Jahre von der europäischen Avantgarde rund um das Neue Wohnen aufgegriffen (→ Kap. 16), während sie in den Vereinigten Staaten die hier dargestellte Drehung in die Warenästhetik erfuhr. Wachsender Gerätepark Als Ende 1941 die Vereinigten Staaten in den Krieg eintraten, bildete die Illustrierte Life auf einer Doppelseite eine amerikanische Küche des gehobenen Mittelstands ab und zählte auf, für welche Teile davon wegen der befürchteten Kriegsbewirtschaftung von Materialien mit einer Verknappung des Konsumgüterangebots zu rechnen sei (→ Kap. 19, Abb. 29) . Dieser Effekt trat dann nicht so deutlich ein. Mit der hier vorgeführten Parade von Geräten konnte es damals kein anderes Land der Welt aufnehmen: Kühlschrank, Grill, Waschmaschine für Textilien, Elektro- beziehungsweise Gasherd (oder Kombinationen von beiden), Toaster, Rührwerk, Cocktail-Shaker, Bügeleisen, Staubsauger, Radio, verchromte Schüsseln, Feuerlöscher, elektrische Küchenuhr, Mischbatterie … In der Alten Welt waren die meisten dieser Dinge noch gar nicht im Handel, geschweige denn Standard. Der elektrische Kühlschrank trat in Europa erst nach 1945 auf den Plan. Was damals an amerikanischem Design den Weg in die Welt hinaus fand, waren noch nicht in sehr großer Zahl die Produkte selbst, und vielleicht nicht 29

Abb. 16: Henry Dreyfuss: Telefonapparat der Firma Bell, erstes Modell 1937. ­Ergonomische Retuschen bei der hier abgebildeten zweiten Serie (1949), ein Standardmodell auf Jahrzehnte hinaus und für ­hunderte Millionen Stück. (Dreyfuss, Designing for People)

einmal die Bilder von ihnen. Amerikanische Staubsauger, Radioapparate oder Kühlschränke waren in Europa noch nicht auf dem Markt, im Unterschied zu amerikanischen Autos der großen Konzerne GM , Ford und Chrysler sowie der Marke Packard. Verglichen mit den europäischen Fabrikaten waren sie viel größer, schwerer und stärker motorisiert. Als in den 1940er-Jahren Sigfried Giedion in den USA an seiner groß angelegten Studie Mechanization Takes Command (erschienen 1948, deutsch erst 1982) arbeitete, gab er darin auch eine kritische Würdigung des Industrial Design.20 Er beschrieb darin den Designer im Grunde als einen mephistophelischen Verführer und als Antagonisten des Konstrukteurs, der allzu oft den Produzenten vom rechten Weg der sinnreichen funktionalen Gestaltung abbringt, der die Produkte unnötigerweise stromlinienförmig stylt, dabei ihr Volumen unnötig aufbläht und durch all das den Publikumsgeschmack zersetzt

(→ Kap. 20) .

Sein Urteil über den Designer lautet ausgesprochen ungüns-

tig, auch wegen dessen Hang zur Gestaltungssprache des Art déco, das er als „­u nfruchtbares Stilgemisch“ und als Rückfall in die Ideenlosigkeit des 19. Jahrhunderts bezeichnet. Hier fehlt der Raum für eine detaillierte Auseinandersetzung mit diesem Urteil. Man nehme jedoch die Bücher von Bel Geddes, Dreyfuss, Loewy, Teague zur Hand, lese darin und betrachte die 30

Abb. 17: Norman Bel ­Geddes: Entwurf eines kompakten Radioempfängers der Marke Federal, um 1946. Zukunftsweisend, souverän gestaltet, doch wohl zu schlicht. Nicht in Produktion gegangen.

abgebildeten Arbeiten und visuellen Diskurse, und man wird Giedions Verdikt in dieser Schärfe nicht bestätigt finden. Auch jeder der ernst zunehmenden amerikanischen Designer störte sich an dem, was Giedion kritisiert; Loewy packte seine Kritik in freche Karikaturen. Um bleibenden Schaden von ihrer Profession abzuwenden und sich gegenüber der unseriösen Konkurrenz abzugrenzen, gründeten sie 1944 die Society of Industrial Designers SID.21 Es stimmt, dass US -Kühlschränke größer waren und sind als die euro-

päischen, aber „aufgebläht“ waren sie ebenso wenig wie Waschmaschinen, Personenwaagen, Bügel­eisen, Schreibmaschinen oder Telefonapparate. Bel Geddes’ Entwürfe für Radioempfänger der Marke Federal aus den Vierzigerjahren sind ein ganzes Jahrzehnt früher entstanden als die wegweisenden Modelle von Hans Gugelot für Braun (→ Abb. 15, 16) . Sie blieben allerdings leider Vorschläge, was das Zeichen dafür ist, dass die amerikanischen Designer sich in der US -Wirtschaft der Großproduzenten mit Widerständen konfrontiert sahen, über die risikofreudige Produzenten sich im kleinräumigeren europäischen Wirtschaftsgefüge leichter hinwegsetzen konnten, als es in der schon damals enormen Trägheitsmasse der US -Wirtschaft ratsam schien.

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Anmerkungen

noch kaum hinterfragt – auch nicht im Neuen Frankfurt mit der Frankfurter Küche. 20 S. Giedion: „Stromlinienform und Vollmechanisierung“. In: vgl. Anm. 10, S. 655–659

1

Vgl. Lewis Mumford: „Die Form in der amerikani-

21 Die Gründung der SID war ein Zusammenschluss

schen Zivilisation“. In: Die Form, 1. Jg., 1925,

von 15 Designern von der US-Ostküste. 1955 Er-

S. 26–29

weiterung als American Society of Industrial Design

2 Ebd.

ASID, 1965 Umbenennung in Industrial Designers

3 Ebd.

Society of America ICSA.

4

Raymond Loewy: Hässlichkeit verkauft sich schlecht, Düsseldorf 1953, S. 19 (Amer. Originalausgabe: Never Leave Well Enough Alone. New York 1951)

5

Raymond Loewy, Kapitel „Der Vervielfältigungs-­ Engel“. In: wie Anm. 4, S. 73 ff.

6

Carroll Gantz: Founders of American Industrial ­Design. Jefferson, North Carolina 2014, S. 140

7

N.N. [George Nelson]: „Both Fish and Fowl“. In: Fortune Nr. 2/1934, S. 40

8

Bel Geddes’ Entwurf des Car Nr. 1 war nur ein ver-

9

Norman Bel Geddes, „Report on Vacuum Cleaner“

kleinertes Modell und ging nicht in Produktion. (unveröffentlichtes Typoskript, 1934). Auch dieser Entwurf ging nicht in Produktion. 10 Sigfried Giedion: „Stromlinienform und Vollmechanisierung“. In: Ders.: Die Herrschaft der Mechanisierung. Frankfurt a. M. 1982 (Mechanization Takes Command, 1948), Teil VI: „Die Mechanisierung des Haushalts“, S. 655–659 11 Vgl. das kritische Kapitel 10 bei Loewy: „The ‚me too’ Boys“ („Die Mitläufer“). In: Wie Anm. 4, S. 107–113 12 Wie Anm. 7, S. 88 13 Henry Dreyfuss: „How the Designer Works“. In: Ders.: Designing for People, New York 1955, S. 44–63, hier S. 54 14 Harold van Doren: Industrial Design. 1. Auflage 1940, New York/London, Taf. 30 15 Harold Van Doren: „How Mass Production Deter­ mines Contours“. In: Industrial Design, 2. Auflage 1954, New York/London/Toronto, S. 196–199 16 Russell Flinchum (Hrsg.): Henry Dreyfuss. Industrial Designer. The Man in the Brown Suit. New York 1997, S. 129 17 Wie Anm. 10, S. 557–572 ff. 18 Christine Frederick: „The New Housekeeping“. In: Ladies’ Home Journal, 1912 19 Auch in Europa und überhaupt in den meisten Ländern der Welt war diese klassische Rollenzuteilung

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X-17  Styling oder Design?

„Ich liebe die Geschichte von dem Pfadfinder, der seinem Lehrer von der guten Tat des Tages erzählt: ‚Und was hast du getan, Ray?‘ – ‚Walter, Henry und ich haben einer Dame über die Straße geholfen.‘ – ‚Sehr schön. Aber warum musstet ihr das zu dritt tun?‘ – ‚Weil die alte Dame gar nicht über die Straße wollte.‘“ Dieser Scherz, erzählt 1951 von Raymond Loewy am Schluss seines prominenten Buches, ist wie ein Geständnis ohne schlechtes Gewissen.* „Ray“ re-personifiziert hier neben sich selbst die Berufskollegen Walter Dorwin Teague und Henry Dreyfuss als Bengel-Trio und kokettiert dabei mit dem Bild vom Industriedesigner als Manipulator, der im Publikum Bedürfnisse weckt, die vorher nicht nur nicht geschlafen hatten, sondern nicht einmal vorhanden gewesen waren. (Die Bezeichnung für „Pfadfinder“ im Englischen und Französischen, „pioneer“/„pionnier“, schlägt den Bogen zum Design-Pionier.) Stimmt die Charaktermaske des Verführers also doch, die Sig fried Giedion vom amerikanischen Industrial Designer gezeichnet hat? Wer wollte bestreiten, dass von Gegenständen ein starker Reiz auf das Habenwollen ausgehen kann, wie dies schon das Kleinkind erfährt? Und dass hierin eine der primären Triebfedern der Wirtschaft – die siamesischen Zwillinge Kaufen und Verkaufen – liegt? Loewy selbst legte großen Wert auf die Analyse kaufpsychologischer Vorgänge. Doch Giedions Unterscheidung geht von einer scharfen Trennung zwischen Styling und Design voraus, wobei jenes unethisch ist und Letzteres seine unverbrüchliche Integrität wahrt. Dies führt leicht dazu, alles, was dem Kritiker passt, als Design gelten zu lassen und alles andere als bloßes Styling abzutun. Der fast reflexhaften Verknüpfung von „Amerika“ mit „Styling“ begegnen wir häufig. Dabei geht vergessen, dass die bedeutenden US -Gestalter, auch die kommerziell erfolgreichen, diese scheinbare Dichotomie zu unterlaufen wussten, wenn auch nicht in jedem Fall mit kommerziellem Erfolg. Design wäre nach dieser scharfen Trennung alles, was mit Kunstsinn entworfen, Styling alles andere – also das meiste –, was spekulativ auf vordergründige Effekte hin angelegt ist. Als Erstes kommen einem zu diesem anderen 33

natürlich die Autos aus Detroit in den Sinn, bei denen wenige Jahre nach ­Loewys Scherz sich die Blechpartien zu neuen Höhen aufschwangen – die Heckflossen, die Fischmäuler –, sodass sogar viele Amerikaner lachen mussten: der Inbegriff von Styling. Doch diese Unterscheidung lässt an Roland Barthes’ schöne Formulierung denken, wonach „der Geschmack als gemeinsamer Diener der Moral und der Ästhetik […] eine bequeme Drehtür zwischen dem Schönen und dem Guten bildet, die diskret als simples Maß einander gleichgestellt werden“.** Otl Aicher, von dem wir substanzielle Texte zu visueller Kommunikation und Gestaltung haben, war unerbittlich in seinem Urteil, das nicht auf Geschmack, sondern auf Argumentation gebaut war. In einer kurzen Würdigung von Charles Eames stellt er dessen Möbelentwürfen aus den 1940er- und 1950er-Jahren jene von Gerrit Rietveld von 1920 gegenüber und ordnet Eames unvergleichlich höher ein. („Material war für ihn [Eames] zur Verformung da, nicht zum Absägen, und Zentralthema seiner Technik war die Verbindung.“)*** Doch Aicher argumentiert hier absolut und nicht historisch, auf nachweisbare Praktikabilität hin und nicht auf die Berechtigung geistigkünstlerischer Spekulation in Umbruchzeiten, wie es bei Rietveld der Fall war, und dabei spielt vielleicht nicht einmal eine Rolle, dass Rietveld als ein wichtiger Exponent von De Stijl idealisierende Formstudien anstellte, bei denen die geometrische Stilistik bereits dem Namen nach Programm war. Rietvelds Erwartung war bestimmt nicht, dereinst mit seinen Formstudien Sitzbereiche in Flughäfen auszustatten, wie das Eames-Studio es später konnte. In welchem Bereich die Exploration neuer Formen stattfindet, spielt eben auch eine Rolle. Zudem: Trifft der Befund des Stylings nicht auch auf den geradezu populär gewordenen „Eiffelturm“-Fuß aus triangulierten Metallstäben unter Eames’ Kunststoff-Schalenstuhl zu, an dem man sich so leicht die Knöchel stößt, wenn man Platz nimmt? Auch er ist ein stilistischer Anteil des Objekts. Design und Styling lassen sich nicht auf einen kategorialen Gegensatz reduzieren. Wenn wir von diesem trennscharfen Entwederoder absehen, darf natürlich davon die Rede sein, dass der seit vielen Jahren unveränderte Lieferwagen der US -Post einen viel höheren Grad an primärer Funktionalität aufweist als eine

Studebaker-Limousine aus dem Studio Loewy. Diese hatte einem namhaften Teil des Publikums zu gefallen; der Postwagen musste niemandem gefallen 34

und hat gerade deswegen eine überzeugende Qualität. Doch wenn das Gefallenmüssen beziehungsweise -Nichtmüssen das Unterscheidungsmerkmal ­zwischen Design und Styling sein sollte, wären wir bei Kleists berühmter Überlegung „Über das Marionettentheater“: Wahre menschliche Grazie kann nur haben, wer sich seiner Wirkung selbst nicht bewusst ist – wer frei von Eitelkeit ist. Vermenschlichen wir aber nicht das Design, wenn wir einem Gegenstand Eitelkeit oder die Freiheit davon attestieren? Nein. Gibt es das eitle und das uneitle Essbesteck? Ja. Besteht ein Wesensunterschied zwischen Ästhetik und Ästhetisierung? Ja. Der Unterschied: Durch Ästhetik zeichnet sich ein Gegenstand aus (oder auch nicht), Ästhetisierung hingegen bietet er auf, wenn es ihm an eigener Ästhetik mangelt. Das ist nicht objektiv beweisbar, aber ein Vorschlag, wie wir über Gegenstände sprechen könnten. Der tropfenförmig gestaltete Außenbordmotor amerikanischer Provenienz steht näher dem Pol des Stylings, Dreyfuss’ Tischtelefon (1937/1949) oder ­Loewys Singer-Staubsauger (1949) eher dem des Designs. Fast jedes „Design“ ist mit Elementen von „Styling“ versetzt, wie auch in den kommenden Kapiteln zu überprüfen ist. Die Umkehrung, „Styling“ nur mit Spurenelementen von „Design“, ist weitaus fragwürdiger. Überhaupt nicht gefällig sein müssten Werkzeuge, Landwirtschaftsmaschinen, Baumaschinen, Melkpumpen – könnte man denken, aber daraus zu folgern, dass nur Konsumgüter zu gefallen haben und Investitionsgüter nicht, wäre irrig. Auch Investitionsgüter waren Gegenstände, die von den US -Designern (und von allen anderen auch) so gestaltet wurden, dass sie einwandfrei funktionierten und ihre Funktionalität auf gewinnende Weise repräsentierten. Dieser Zusammenhang war mehr als eine Geschmacksfrage, sondern der Entwurfsaufgabe immanent. Loewys Milchzentrifuge war sicher zu bedienen, wegen ihrer Glattflächigkeit gut zu reinigen und brachte diese Gebrauchseigenschaften auch formalästhetisch zum Ausdruck, sodass das Äußere eine hohe funktionale Kompetenz vermittelte. Die „Warenästhetik“ gilt bei manchen als Schmuddelkind des Kapitalismus, also die Praxis, dem Gegenstand einen Zusatzwert über seinen Gebrauchscharakter hinaus mitzugeben.**** Doch wer wollte behaupten, dass die Warenproduktion in sozialistischen Ländern nicht auch von der Bemühung zeugt, ein 35

Surplus an formaler Anmutung zu erreichen und den Tauschwert zu kräftigen? Havannas Nostalgietaxis amerikanischer Provenienz sind der Beweis dafür, dass ihr Gebrauchswert sich unbemerkt mit der Zeit in einen touristischen Tauschwert verwandelt hat, oder genauer: Die beiden haben sich zu einer spezifischen Einheit amalgamiert, und gerade die Tatsache, dass sie aus der Zeitrechnung von Detroit mit dem alljährlichen Modellwechsel herausgefallen sind und sich mit Erfolg gegen das „geplante Veralten“ stemmen, macht sie in ihrer Musealität zu Fetischen, also zu dem, was bei US -Autos üblicherweise der „neue Jahrgang“ bezweckt. Wir haben im vorangegangenen Kapitel Raymond Loewys Bericht von seiner Ankunft in New York gehört: „Diese Ausflüge glätteten und beruhigten“ die Dinge, die zuvor „aus der Nähe zerrissen“ ausgesehen hatten. Die amerikanischen Designer übernahmen von den Europäern den Wunsch, die Dinge auch für den Blick aus der Nähe zu glätten. Die Wirkung lässt an Walter Benjamins berühmte Definition der Aura als einer „Ferne, so nah etwas sein mag“ denken. Benjamin dachte 1936 diese Aura jedoch einzig dem (künstlerischen) Einzelstück zu, nicht dem „technisch reproduzierbaren“ Gegenstand. Den Gestaltern, und nicht nur in den USA, gelang das Kunststück, dieses scheinbare Gesetz aus den Angeln zu heben. Ihre Arbeit lässt an den von ihnen gestalteten seriellen Dingen das als Aura sichtbar werden, was sie uns begehren lässt. Die Amerikaner sprechen nicht von „Aura“, sondern von „appeal“, in dem das vormals Numinose profaniert erscheint. Das zugleich Geheimnisvolle und E ­ rreichbare soll die Interessenten zum Kauf veranlassen. Durch den Akt des Erwerbs holen die Konsumenten das Produkt in ihre Nähe. Wenn das pervers ist, haben auch die meisten europäischen Gestalter der Avantgarde sich so verhalten: im Jugendstil, in der Neuen Sachlichkeit, nach 1945 mit der guten Form im gesamten Westen (und über den Westen hinaus). Sie alle suchten die Produkte begehrenswert zu machen, weil dies über das Geschäftliche hinaus eine ideelle Dimension berührt – die Liebe zum Leben. An der Warenästhetik ist also weniger die Ästhetik das Problem als das, was manche Entscheidungsträger darunter verstehen: Was nämlich in manchen Fällen weniger als Gestaltung denn als „Zerstaltung“ bezeichnet werden müsste. Dass die Entwerferin, der Entwerfer ihre formale Begabung zum 36

Besten des Produkts entfalten wollen, macht den Unterschied ebenso zwischen formaler Rohheit und Raffinesse wie zwischen Raffinesse und Hypertrophie aus. Die altgriechischen Künstler hatten beim Formen und Ausschmücken von Tongefäßen diesen Unterschied ebenso vor Augen wie die Designerinnen und Designer der Neuzeit, von denen in diesem Buch die Rede ist. Entscheidend ist die Frage, was die Entfaltung seiner Gaben bedeutet: ob man sie autonom zum Ausdruck bringen kann oder ob eine Marketingabteilung aus kommerziellen Gründen – unter Rekurs auf den angeblichen „Kundengeschmack“ – kontaminierend in den Entwurfsprozess eingreift. Die Pioniere des Industrial Design hatten dabei ihren eigenen Kampf auszufechten, und wie sie es taten, verdient unser Interesse.

*

R. Loewy: Hässlichkeit verkauft sich schlecht, ­Düsseldorf 1953, S. 299

**

R. Barthes: Kritik und Wahrheit“ (1966), Frankfurt a. M. 1980, S. 34

*** O. Aicher: die welt als entwurf (Berlin 1991), S. 65 **** W. F. Haug: Kritik der Warenästhetik, Frankfurt a. M. 1973

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18 Gestaltung in den Diktaturen der 1930er-Jahre Italien – Deutschland – Sowjetunion

Hätte sich international der Funktionalismus durchgesetzt, wenn es nach 1929 keine Wirtschaftskrise gegeben hätte? Was wäre aus der russischen Avantgarde geworden, wenn Lenin zwanzig Jahre länger gelebt hätte? Wäre das Publikum den Appellen an die Vernunft des aufgeklärten Gebrauchs gefolgt, mit denen die Avantgarde ihm die Brauchbarkeit nahezubringen versuchte? Hypothetische Fragen. Es gab die Krise, die Massenarbeitslosigkeit und die Bereitschaft, sich in der Misere nationalistisch aufgehetzt einem politischen Führer zu unterwerfen. Das Wunschideal der Avantgarde während der Zwischenkriegszeit war eine rein vernunftbasierte, also auf das gute Funktionieren der Gegenstände gerichtete Gestaltung gewesen (→ Kap. 16) . Nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch zu Hause sollte diese Grundvernunft gelten. Nur ein kleiner Teil der Gesellschaft konnte sich mit diesen Zielen identifizieren. Die Entbehrungen während der Wirtschaftskrise brachten es mit sich, dass ihr Anteil weiter dahinschmolz und die Zahl der Menschen stark wuchs, die ihre emotionalen Bedürfnisse an Symbolen von Ruhm und Größe ausrichteten. Walter Benjamin schrieb 1936 von „der Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt“ und fuhr fort: „Der Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierung der Kunst.“1 Wusste er noch nichts von Stalins Schauprozessen? Tatsache ist jedenfalls, dass sich in Europa drei Diktaturen etabliert hatten – weitere sollten bald folgen: Spanien, Portugal – die in der Theorie unterschiedliche Ideologien verfolgten und doch in ihren Formenrepertoires starke Ähnlichkeiten aufwiesen. Und wie steht es mit den Unterschieden? Mit Bezug auf die hier betrachtete Zeit der politischen Diktaturen der 1930er-Jahre stellt sich die Frage: Waren diese Repertoires von der politischen Ideologie eingefärbt, also faschistisch, germanisch-völkisch und sozialrealistisch? Gab es tatsächlich eine spezifisch faschistische Ästhetik der Gegenstände in Italien, eine nationalsozialistische im Deutschen Reich und 38

eine stalinistische in der Sowjetunion? Falls ja, gäbe es in ihnen eine Gemeinsamkeit, die sie von der Formensprache in Demokratien unterscheidet? Im Städtebau (durch monumentale Aufmarschachsen), in Architektur und Raumgestaltung (durch die tradierten Insignien der Repräsentationskultur) lässt sich die Frage bejahen. Im Bereich der Gebrauchsgegenstände und der Transportmittel fällt die Antwort schwerer – auch weil sich die drei Varianten totalitärer Herrschaft im Grad ihrer Gewalttätigkeit und Durchsetzungsbereitschaft unterschieden. Doch allgemein lässt sich konstatieren: Eine signifikante f­ aschistische, nationalsozialistische oder stalinistische Ästhetik von Möbeln, Geräten, Einrichtungsgegenständen oder Transportmitteln ist nicht zu erkennen. Aber auch die Nuancen können etwas aussagen. Die Zeit Mussolinis in Italien Der italienische Faschismus kam 1922, ein Jahrzehnt vor dem Nationalsozialismus in Deutschland, an die Macht. Er war keine Folge der Krise nach 1929, sondern entstand in einer Zeit, als in Holland, Frankreich, Belgien und in der neu gegründeten Tschechoslowakei der Optimismus blühte. Der Faschismus war der Avantgarde nicht feindlich gesinnt. Im Gegenteil, in seinem Männlichkeitspathos hatte er eine Wurzel im Futurismus, dessen Wortführer M ­ arinetti bereits 1909 voller Frauenverachtung den Faustkampf und den Maschinenlärm als Kultur des neuen Italiens ausgerufen hatte: „Wir erklären, dass sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen, […] ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake. […] Schönheit gibt es nur noch im Kampf. Ein Werk ohne aggressiven Charakter kann kein Meisterwerk sein. […] Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat des Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.“2 Der „Futurismo“ sollte die männlichgesunde und antiklerikale Abwehrreaktion gegen den „Passatismo“ sein – gegen das Jahrtausendgewicht der Kultur auf italienischem Boden, die sich zuletzt nur noch im künstlerischen Niedergang des 19. Jahrhunderts gezeigt 39

hatte. Die Futuristen priesen das Geknatter eines Motorrads, das mitleidlos die Nachtruhe italienischer Städte zerreißt, als Ausdruck von Vitalität, ebenso die Scheinwerfer eines rasch fahrenden Autos, die sich ins nächtliche Dunkel bohren, und den Nervenkitzel des kontrollierten Sturzflugs eines Aeroplans. Vivere pericolosamente war die futuristische Losung. Der Architekt Antonio Sant’Elia imaginierte die neue Stadt als totale Verkehrsmaschine mit aggregiertem Bahnhof und Flughafen, elektrischen Aufzügen, stählernen Brückenbogen und Laufstegen zwischen Hochbauten. Marinettis Manifest war 1909 ein literarisches Ereignis noch ohne eigenschöpferische visuelle Imagination gewesen, indem es bekannte Phänomene neu bewertete. Das änderte sich bald, und es entstanden neue Gegenstände in neuen Formen: Möbel, Radioapparate, Kaffeemaschinen. Im künstlerischen Ausdruck nahmen die Futuristen geschickt Impulse aus dem Kubismus und dem Dadaismus auf, auch Marinetti selber, der nach 1915 mit ausgeschnittenen Zeitungsbuchstaben lautmalerische Gedichte collagierte. Marinetti hatte eine starke Affinität zur internationalen Avantgarde; seine anarchistische Neigung kontrastierte mit Mussolinis Autoritarismus und war der Grund, weshalb er dann doch nicht Teil des inneren Machtzirkels wurde. Mussolinis Faschismus gründete seinerseits nicht in einer konfusen Rassen­ theorie wie der von H. S. Chamberlain für den Nationalsozialismus, sondern verdankte sich dem Wunsch, Italien kulturhistorisch wieder die politische Bedeutung zurückzugeben, die es bis zum Spätbarock besessen hatte. Das „­Bimillenario Augusto“, der 2 000. Geburtstag des ersten römischen Kaisers Augustus, spielte dabei eine wichtige Rolle und wurde entsprechend inszeniert. Es gab zwar nach 1922 politische Morde, aber einen durchdringenden faschistischen Terror stellt man erst für die späten 1930er-Jahre fest, auch im Zusammenhang mit den 1938 dekretierten Rassengesetzen, beides unter deutschem Einfluss. Eine Staatskunst, welcher Art auch immer, lehnte Mussolini zumindest in den ersten Jahren seiner Herrschaft ab und bezeichnete 1923 die Kunst explizit als eine Sache der persönlichen Freiheit. Hier liegt ein markanter Unterschied zum Nationalsozialismus und zum Stalinismus. In der Kulturgeschichte Italiens galten die Begriffe der Kunst, der Architektur und des Ingenieurwesens seit jeher als kommunizierende Gefäße, was sich 40

auch auf das Design auswirkte. Kunst war auch damals gleichsam der Mutterbegriff: Ein architektonisches Werk, ein Werk der Ingenieurskunst oder der Entwurf eines Gebrauchsgegenstandes gehörten letztlich alle zur Sphäre des Schöpferischen. Aus diesen Gründen spiegelt sich die faschistische Ideologie zwar neben Staatsbauten und einigen Ausstellungsgestaltungen deutlich in den Kategorien bildhafter Repräsentation wie Fotografien, Plakaten und Ausstellungen, viel weniger jedoch in der Phänomenologie von Gebrauchsgegenständen. Die Kaffeekanne „Moka Express“ von Alfonso B ­ ialetti etwa ist seit 1933 ein gelungenes Beispiel für die Formensprache des Art déco, ist aber nicht „faschistisches Design“. In der hier behandelten Epoche waren die Märkte noch weitgehend national definiert. Die Züge fuhren innerhalb Italiens, die Kaffeemaschinen wurden in Italien eingesetzt, Bekleidung in Italien getragen. Möbel aus Italien gab es anderswo nicht zu kaufen. Und in Italien waren die damals nach modernen Gesichtspunkten entworfenen Möbel solche der gehobenen Klasse, etwa nach Architektenentwürfen handwerklich gefertigte Einzel- und Ausstellungsstücke für die Biennale von Monza und später die Triennale von Mailand. Sie wurden in Fachzeitschriften wie Domus publiziert und drückten großbürgerliche Ansprüche an Kultiviertheit und Prestige aus. Ein Ausdruck faschistischer Ideologie waren sie selbst dann nicht, wenn führende Faschisten sie besessen haben sollten, denn ihr Formenrepertoire war nicht ideologisch ­kanonisiert. Einige Beispiele: Noch aus vorfaschistischer Zeit, aber aus futuristischem Fundus, stammt das Wasserflugzeug Caproni 60 aus dem Jahr 1919, mit seinen drei hintereinandergeschalteten Trillings-Tragflächen ein heute bizarr anmutendes technisches Phantasma. Die Flieger waren damals todesmutige Helden und charismatische Abkömmlinge des Ikarus. Fliegen war überall eine Sache nationalen Stolzes, doch lag es jenseits der Reichweite Normalsterblicher. In Italien war der kulturelle Kontrast der Moderne gegenüber der Geschichte größer, Technomanie ein Zeichen für Vitalität. In die Anfangszeit des Faschismus fällt die Fertigstellung der überwältigenden, einen halben Kilometer langen Anlage der Fiat-Fabrik in Torino-Lingotto – nach dem Vorbild der Ford Motor Company angelegt, doch italienisch dramatisiert und buchstäblich 41

überhöht mit der Teststrecke für die fahrtüchtigen Chassis auf dem Dach mit ihren Steilkurven. Sie wurde 1921 in Betrieb genommen, war folglich ohne Bezug zur neuen Ideologie geplant worden, eignete sich jedoch bald als Symbol für die Politik des Duce. Der rationalistische Kritiker Edoardo Persico besang sie 1927 hymnisch.3 Die Gründerfamilie Agnelli teilte zwar nicht die faschistische Gesinnung, arrangierte sich aber mit dem Diktator.4 Das Thema dieses Kapitels berührt ein grundlegendes Problem: das Verhältnis von Ideologie und Gestaltung. Politische Aktion und die Gestaltung eines Ambientes lassen sich nicht direkt voneinander ableiten. Dass das Zeppelinfeld in Nürnberg der bauliche Ausdruck des Nazitums war, ist unbestritten. Auch war und ist der Mailänder Bahnhof ein Ausdruck faschistischen Geltungsdranges, und „Ausdruck“ will sagen: Er war so gemeint. Die Gaskammern des Nationalsozialismus jedoch waren nicht als „Ausdruck“ der Herrschaft gemeint, sondern das geheime Instrument härtester Staatsgewalt; zum Symbol sind sie erst für die Nachwelt geworden. Wenn von „Ausdruck“ (oder „Eindruck“) die Rede ist, bedeutet dies aber immer eine gewisse Elastizität zwischen Absicht und Wirkung, „Sender“ und „Empfänger“. Obige Beispiele sind solche aus der Architektur, deren Zeichencharakter gesellschaftlich anerkannt wird. Im Design ist die Interaktion von Ideologie und Gestaltung noch weniger eindeutig. Design in der Zeit des Faschismus ist nicht gleich faschistisches Design. 1921 wurde in Monza das Istituto delle Industrie Artistiche gegründet, dessen Ziel die Förderung industrieller Gestaltung in Norditalien war – in Entsprechung zum Werkbund nördlich der Alpen. Lombardei und Piemont waren die einzigen Industrieregionen Italiens, der Rest des Landes lebte von der Landwirtschaft. Die Biennale I in Monza war 1923 die erste derartige Aktion in Italien, mit denen die Neuerer des Gruppo Novecento sich parallel zu Bemühungen in anderen europäischen Ländern artikulierten. Doch ihre Inter­ essen waren noch kunsthandwerklicher Art. Der Familienbetrieb des Ingenieurs Camillo Olivetti hingegen produzierte seit 1911 in Ivrea hochwertige Schreibmaschinen, zuerst das Modell M1, das sich noch stark am amerikanischen Vorbild von Underwood orientierte. Im Lauf der Jahre gewann Olivetti ein immer eigenständigeres Profil. Dasselbe gilt von Vincenzo Lancia in Turin, der 1922 das Automodell Lancia Lambda auf den Markt brachte, das 42

technisch originell war (erste selbsttragende Karosserie, Schraubenfedern) und dessen formale Erscheinung grundsätzlich zeittypisch war, nur etwas formbewusster und etwas aufregender als üblich. Italien bewies immer wieder technische Originalität und Findigkeit: 1929 führte Mailand erstmals eine Straßenbahn mit Falttüren ein. Doch was später und bis heute immer wieder mit typisch italienischer Formkultur assoziiert wird, wurde erst in den 1930er-Jahren manifest. Der Reiseschreibmaschine Olivetti ICO (Akronym für Ingegnere Camillo Olivetti) verlieh 1932 der Designer Aldo Magnelli mit dem halbkreisförmigen Randwulst um den Typenhebelkranz ein prägnantes Formmerkmal, das sich nicht aus der technischen Konstruktion erklärte, sondern der Absicht nach einer einprägsamen Linienführung entsprach. Damit war Italien allerdings im Gleichschritt mit anderen Ländern wie Frankreich, USA , England. Der Vergleich der Leichttriebwagen („Littorine“) von Fiat aus den Jahren 1932 und 1936 lässt erkennen, wie in kurzer Zeit aus der Addition einzelner Elemente die Tendenz zur Synthese eines Ganzen wurde.5 Italienische Designer – in wenigen Fällen gelernte Wagenbauer wie der Karossier Battista „Pinin“ Farina oder sehr oft ausgebildete Architekten wie Marcello Nizzoli, Giuseppe Pagano, Giò Ponti, Franco Albini oder die drei Castiglioni-Brüder – offenbarten jedoch eine auffallende plastische Sicherheit und Raffinesse, in dieser Qualität und Dichte weit vor anderen Ländern. Die gesellschaftliche Stellung des artista in Italien, seine Glaubwürdigkeit und Autorität, waren höher als anderswo. Die Künstler standen in der italienischen Kulturgeschichte seit der Renaissance der Naturwissenschaft – und damit der Technik – nahe, womit jene Einheitlichkeit des Ursprungs gewahrt blieb, die nördlich der Alpen seit Immanuel Kant in getrennte Hemisphären zerfallen war. Die Gestaltung technischer Artefakte wurde in Italien früher als nördlich der Alpen Spezialisten anvertraut, wie etwa beim Prestigeprojekt der elektrischen Zugskomposition ETR 200 von Breda (1936), für deren Äußeres Giuseppe Pagano und für die Interieurs Giò Ponti verantwortlich zeichnen.6 Dass solche Gestaltungsaufträge ohne Zutun der Partei ergangen sein sollen, ist wenig wahrscheinlich, doch kann von einer faschistischen Formaussage im prädikativen Sinn keine Rede sein. Der Staat vermittelte mit diesen Fahrzeugen von sich ein modernes Bild.7 Die „Littorine“ 43

Abb. 18: Radioapparat der Reihe „­Balilla“, Italien 1935. Politische Propaganda im Rundfunk nahm in Italien nach 1934 unter dem Einfluss Hitlerdeutschlands an Bedeutung zu. ­Verschiedene Produzenten stellten „Balilla“-Geräte her.

waren nach der von Mussolini gegründeten Stadt „Littoria“ benannt, wie auch der Fiat „Balilla“ 1933 nach der gleichnamigen faschistischen Jugendorganisation. Die parteinahen Bezeichnungen mögen Kompensationen für das Fehlen eines spezifisch „faschistischen“ Formgehalts gewesen sein. Mit „Radio Balilla“ waren auch Radioapparate verschiedener Hersteller bezeichnet. Auch sie waren als Propagandainstrument wichtig, doch weniger streng kontrolliert als im Deutschen Reich. Im Unterschied zu deutschen Geräten verzeichneten die Anzeigetafeln auch ausländische Sender. Die Radiophonie wurde in der Person des Erfinders Guglielmo Marconi als eine wesentlich italienische Schöpfung in Anspruch genommen. Radioapparate haben die Gestalter in Italien – vielleicht auch aus nationalem Stolz – veranlasst, teilweise sehr kühne Entwürfe zu präsentieren, wie es sie sonst in der Welt nicht gab (BBPR , Figini & Pollini, Enrico Paolucci).8 Der Radioempfänger von Phonola, ein sehr eigenständiger Entwurf der Brüder Livio, Pier Giacomo und Achille Castiglioni zusammen mit Luigi Caccia-Dominioni aus dem Jahr 1940, ging sogar in Produktion und wurde ein erfolgreiches Modell.9 Allerdings nahm im Faschismus die Geltung des Futurismus nach 1930 ab. Der Florentiner Bahnhof Santa Maria Novella, fertiggestellt 1932, war die 44

Abb. 19: Leichttriebwagen „Littorina“, gebaut von Fiat, 1932. Die regimenahe Bezeichnung und nicht primär das Aussehen transportiert die Bedeutung von rigoroser Staatlichkeit.

letzte öffentliche Bauaufgabe nach den Überzeugungen des Neuen Bauens; danach favorisierte die Partei zunehmend den ungebrochenen Willen zur klassischen Monumentalität. Mussolini orientierte sich immer klarer am antiken Rom und dessen historischer Größe. Dabei war das Augustus-Jubiläum, der 2000. Geburtstag des ersten römischen Kaisers Augustus am 23. September 1937, ein hochwillkommenes Ereignis, das in der Architektur eine direkte Parallelisierung von antiker Größe und dem zeitgenössischen Italien betreiben sollte. Das Industriedesign blieb davon unberührt. Da die alten Römer keine Motorräder oder Flugzeuge gebaut hatten, führte dies zu einem neuen Regulativ: zu getrennten Kategorien von technischem Design und gebauter Umwelt. Im Futurismus war die Gestaltung technischer Artefakte wie Auto, Eisenbahn und Flugzeug und die von Architektur und Städtebau Teile eines unteilbaren Ganzen gewesen. Nun zerfiel diese Einheit wieder. Der weiß gestrichene Stahlrumpf eines Luxusdampfers konnte in seinem Innern Räume bergen, die etwa einer antiken Säulenhalle oder dem Audienzsaal des Dogenpalasts nachempfunden waren. Man sah dies als gewollten Gegensatz, nicht als Widerspruch.10 Doch insgesamt lässt sich feststellen: Ein „faschistisches“ Produktdesign gab es in dieser Zeit in Italien nicht. 45

Die Zeit des „Dritten Reiches“ Der ideologische Druck auf das alltägliche Leben war im Deutschen Reich der NS -Zeit wesentlich stärker und systematischer als in Italien. Die öffentlichen Bauvorhaben, mit denen unmittelbar nach der „Machtergreifung“ 1933 begonnen wurde, erweckten den Eindruck, in der Tat für „tausend Jahre“ errichtet zu werden.11 Im Unterschied zu Italien, wo die Frage, was „genuin italienisch“ sei, doch eher Verwunderung hervorgerufen hätte, traf die analoge Frage in Deutschland auf grüblerischen Ernst rund ums „deutsche Wesen“. Die nationalsozialistische Rassentheorie warf bereits vor 1933 ihren Schatten auf die geistige Landschaft Deutschlands. Noch im Herbst 1932 konnte der 1. Vorsitzende des Bundes, Walter Riezler, die Denkfigur der „germanischen Rasse“ mit der Feststellung infrage stellen: „Unter den deutschen Stämmen sind, im Großen gesehen, die nicht rein germanischen des Südwestens zweifellos reicher an großen Begabungen als die rassisch reiner erhaltenen des Nordwestens.“12 Wenige Monate später war solchen differenzierenden Zweifeln der Boden entzogen, und Sätze wie der folgende wurden zur regimekonformen Formel: „Gerade der deutsche Ingenieur […] ist in weitem Umfang der Gestalter des zukünftigen Bildes der Welt, der geistige Träger des gewaltigsten Ausdruckes der weltbewegenden germanischen Kultur und soll als solcher vor dem Urteil der Geschichte bestehen können.“13 Die politische Ideologie hatte nach Hitlers Willen jedermanns Alltag zu durchdringen. Manches, Elitäres wie Populäres, das mit der verhassten „Systemzeit“ der Weimarer Republik assoziiert wurde, war als „unarisch“ und „zersetzend“ „auszumerzen“ und hatte keinen Platz mehr in der deutschen Wirklichkeit: Stahlrohrmöbel, Neues Bauen, Neues Wohnen, ein Großteil der Literatur, auch Erkenntnisse aus der Naturwissenschaft. Medizin, Chemie, Physik, Metallurgie und Materialkunde wurden streng auf Regime-Konformität überprüft. Die Ausstellung Entartete Kunst machte 1937 klar, was nun in der bildenden Kunst keinen Platz mehr hatte. In Kunst, Architektur, Städtebau und offizieller Raumgestaltung war der Einfluss der NS -Kulturpolitik unerbittlich. Und im Unterschied zu Italien gab es im Dritten Reich sehr wohl das Bemühen, die behauptete Überlegenheit der eigenen Rasse auch in alltäglichen Gebrauchsgegenständen abzubilden. Auch für sie sollte gelten: „Nicht 46

mehr das ‚freie Spiel der Kräfte‘, sondern der politische Wille beherrscht den Gang der Wirtschaftstätigkeit.“14 Dieser Wille verlangte, dass sämtliche Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens mit dem Prädikat des „Germanischen“ gesättigt zu sein hatten. Hitler gab am Reichsparteitag in Nürnberg 1933 die Linie vor mit den Sätzen: „Der Nationalsozialismus bekennt sich zu einer heroischen Lehre der Wertung des Blutes, der Rasse und der Persönlichkeit sowie der ewigen Auslesegesetze. […] Wir wissen von uns, dass im Altertum und in der neuen Zeit der arisch-nordische Mensch die zwingende Synthese gefunden hat zwischen der gestellten Aufgabe, dem Zweck und dem gegebenen Material. Und es ist deshalb kein Wunder, dass jedes politisch heroische Zeitalter in seiner Kunst sofort die Brücke sucht zu einer nicht minder heroischen Vergangenheit. Griechen und Römer werden dann plötzlich den Germanen so nahe, weil alle ihre Wurzeln in einer Grundrasse zu suchen haben, und daher üben auch die unsterblichen Leistungen der alten ­Völker immer wieder ihre anziehende Wirkung aus auf die ihnen rassisch verwandten Nachkommen.“15 Wo konnte der Ort für zeitgenössisches Design in einer solch wahnhaft synkretistischen und retrospektiven Sichtweise sein? Hätte Hitler seine Worte streng auf die Gestaltung von Gebrauchsgütern angewendet sehen wollen, wären für die Gegenstände wohl antikisierende Formen vorgeschrieben gewesen. Hier war eine entscheidende ideologische Leerstelle. Jegliche Entwicklung seit dem Altertum – gesellschaftlich, technologisch, ökonomisch, kulturell – wäre durch den rassisch begründeten rhetorischen Rekurs auf die Antike ausgeblendet worden. Dass dies unrealistisch war, musste auch Kulturideologen klar sein. Das Regime brauchte diesen blinden Fleck, in dem der Grund dafür liegt, dass das Design dann doch weniger unter die Kontrolle des Regimes kam als man erwarten würde. Noch Ende 1935 erschien das schmale Buch Der neue Wohnbedarf. 321 ausgewählte Industrieerzeugnisse von Mia Seeger, die nachträgliche Dokumentation zur gleichnamigen Ausstellung des Deutschen Werkbundes von 1932 in Stuttgart. Bemerkenswert war dies deshalb, weil erstens der DWB im Jahr 1934 in die völkische „Reichskulturkammer“ eingegliedert und faktisch aufgelöst worden war, und weil zweitens in Mia Seegers Buch nichts auf den 47

Nationalsozialismus verweist. Ihr Vorwort endet nicht einmal mit dem sonst obligaten Hitlergruß. Sämtliche dokumentierten Beispiele richteten sich an den am Gebrauchswert orientierten Werkbundkriterien der Weimarer Zeit aus. Es geht um Koch- und Essgeschirr, Sitz-, Liege- und Aufbewahrungs­ möbel, Beleuchtungskörper und Zimmeröfen. Das ist, was mit dem traditionellen Begriff „Hausrat“ bezeichnet wird, einem Wort aus der Zeit vor der Konsumgesellschaft. Nicht wenige Beispiele aus dem Ausland sind darunter (Frankreich, Großbritannien, Schweden, Schweiz).16 Hingegen fehlen technische Geräte wie Radios, Bügeleisen, Schreib-oder Nähmaschinen ganz. Radios waren noch ein Luxusgut, andere Geräte wie Bügeleisen oder Nähmaschinen wurden wohl als technisch gegeben vorausgesetzt. Die Namen der Entwerfer fehlen im Buch fast immer, während die Hersteller erwähnt sind. Der gestalterische Aspekt wird nicht explizit angesprochen, was sich immerhin als kluge Vorsicht vor dem Zugriff der Machthaber deuten lässt. Bei Walter Dexel findet sich wohl die Erklärung für die fehlende Eindeutigkeit der Parteivorgaben, was das Design betrifft. Dexel, der bis 1933 zur Avantgarde gehörte, wurde in der NS -Zeit ein Autor, der zwar als Exponent der „Forschungs- und Lehrgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe“ in Schriften von beträchtlicher Verbreitung in der Diktion des Regimes sprach, dabei aber dennoch seine moderne Gesinnung nicht ganz zu verraten versuchte. Er argumentierte mit der „Volkskultur“ gegenüber der „Fürstenkultur“, „weil das Allgemeine wichtiger erscheinen muss als das Besondere, und weil nicht das Prunkgerät einer kleinen Oberschicht, sondern nur das Gebrauchsgerät der Volksgesamtheit einer kulturgeschichtlichen Betrachtung echte und allgemein gültige Aufschlüsse zu geben vermag.“17 Buchstäblich national-sozialistisch steht dieses Argument rhetorisch wie ideell nicht weit vom Internationalisten Hannes Meyer entfernt (→ Kap. 14 und 16) . Dexel verdeutlicht dies, indem er schreibt: „Die Volksformen sind der tragende Grund auch der Stil- und Prunkformen […]. [Und] es ist nicht so, dass solche Prunkformen von der Volksform wiederholt würden, sondern umgekehrt: die Prunk- und Stilform wächst aus der Volksform heraus, übersteigert sich schließlich und kehrt dann reumütig zu ihr zurück, um an ihr zu gesunden.“18 Dexel verteidigt mit der alten Sachlichkeit des „Ahnenerbes“ die beargwöhnte Neue Sachlichkeit. 48

Abb. 20: Arthur Hennig: Kaffeegeschirr „Deutsche Form“, Porzellanfabrik F. Kaestner, 1932. Der Werkbund wurde 1934 ­aufgelöst, doch die „ungeschmückte Sachform“ lebt hier unter der nationalistischen Bezeichnung weiter. (Dexel, Hausgerät, das nicht veraltet, 1938)

Sogar im Ingenieurwesen war eine rein völkische Überzeugung schwer aufzufinden. Selbst deutschnationale Autoren auf diesem Gebiet bekundeten Mühe mit der Aussage von rassentheoretischen Vordenkern wie H. S. Chamberlain oder Oswald Spengler, wonach die „Kultur“ eine Angelegenheit schöpferischer Befähigung sei, also etwas Geistiges, „Zivilisation“ hingegen nur eine solche der Anwendung von antrainierten Techniken. Sie argumentierten demgegenüber, dass vielmehr ein voll entfaltetes Ingenieurwesen das Gefälle zwischen Kultur und Zivilisation aus der Welt zu schaffen vermöchte. Hitlers oberster Schirmherr über das Ingenieurwesen, Fritz Todt, gab zum Jahr 1942 die Losung aus: „Jede Stunde Arbeitskraft, jedes Kilogramm Mate­ rial muss auf das Endziel des Sieges angesetzt werden.“19 Arbeits- und Materialersparnis: Das waren die Realien und sind auch Kriterien des Designs in Friedenszeiten. Doch waren diese Motive hier nur durch die Kriegswirtschaft bedingt, etwa aus Gründen der Materialknappheit beim Bau von technisch vereinfachten Lokomotiven – Maßnahmen, die nicht nach außen hin sichtbar wurden. Man kommt zur Erkenntnis, dass der Suchscheinwerfer der NS -Kulturpropaganda das Design von Möbeln, Geräten, Apparaten, Musik­

instrumenten und sogar Transportmitteln weitgehend aussparte. Die Gestaltung von Gebrauchsgegenständen war nicht systematisch von Ideologie überwölbt. Objekte in der Auffassung des Art déco eigneten sich, effektvoll inszeniert und fotogen wie sie waren, zur Repräsentation von Macht und Erfolg – im ­Deutschen Reich nicht weniger als in England, Frankreich oder 49

den USA . Weniger glamouröse Gegenstände hingegen wie Fotokameras und Mikroskope von Leitz oder Zeiss, Schreibmaschinen und Schreibtischlampen, ­P ianos und Haartrockner, Besteck und Geschirr wurden in den gleichen Formen hergestellt und verkauft wie vor 1933. Der stärkste Gegensatz zum Alltagsgerät und das mächtigste Artefakt des NS Staates war das Zeppelin-Luftschiff LZ -129 „Hindenburg“. Dieser kostspielige und kurzlebige Gigant von fast 250 m Länge und 41 m Maximaldurchmesser trug zwar am Heckleitwerk das Hakenkreuz, und in seiner superlativischen Größe entsprach er genau den mentalen Fixierungen der Diktatur, doch mit seinem Bau war bereits 1931 begonnen worden, und zudem befolgte sein strömungstechnisches Konzept die Erkenntnisse des „nichtarischen“ Ingenieurs Paul Jaray beim Entwurf des Luftschiffs LZ -127 „Graf Zeppelin“ durch Ludwig Dürr (1926).20 Die LZ -129 war keine ideelle Schöpfung des Regimes. Dasselbe gilt von dem angeblich von Hitler angestoßenen Projekt des Autobahnnetzes und zudem vom Radioapparat mit der Bezeichnung „Volksempfänger“, der bereits 1932 auf den Markt kam. Das Projekt der Autobahnen ging auf die 1920erJahre zurück, etwa die Strecke „HaFraBa“ (Hamburg – Frankfurt —­Basel, geplant seit 1926). Die Nazis benutzten dabei frühere Erkenntnisse und bestehende Gerätschaften für ihre Zwecke. Der Volksempfänger, ein preisgünstiger Apparat mit Bakelitgehäuse, entworfen vor 1932 von Walter Maria Kersting und Kölner Studenten, erfuhr nach 1933 stilistische und technische Modifikationen: Auf dem Tableau waren nur noch die deutschen Sender bezeichnet. Ausländische Sender zu hören war streng verboten. Da es technisch nicht möglich war, internationale Frequenzen zu unterbinden, war jedem Gerät ein Zettel mit Androhung von Kerkerstrafe beigegeben. Das Politisch-Totalitäre war dem Gegenstand über den Gebrauch immanent, nicht über die Form. Ähnlich beim Projekt des „Volkswagens“, dessen ursprüngliche Bezeichnung „Kraft-durch-Freude-Wagen“ wohl am explizitesten die dahinterliegende politische Absicht bezeichnet. Doch auch das Projekt eines Volks-Autos war nicht neu (→ Kap. 12) .21 Dennoch wurde der „KdF-Wagen“ als Idee und Motiv zum eschatologischen NS -Projekt gemacht, um der darbenden Bevölkerung ein Glaubensziel zu geben, das eigene Auto, mit dessen Erreichung die Überlegenheit der autoritären Politik bewiesen werden sollte. Das Auto musste ein 50

Abb. 21: Walter Maria Kersting: Volksempfänger, 1932. Der ­Entwurf datiert aus der Zeit vor Hitlers Machtergreifung, die ­Namengebung folgte danach – und mit ihr die beklemmende ­Semantik.

vollwertiger Vierplätzer sein, nicht nur ein Kleinwagen; sein Preis wurde auf 1 000 Reichsmark festgesetzt; für die Interessenten wurde ein Ansparprogramm mit Akontozahlungen eingerichtet. Die Auto-Mobilisierung der „Volksgemeinschaft“ als „Volkswagengemeinschaft“ (Wolfgang Schivelbusch), als Vorhaben von Staates wegen (und nicht eines des Spiels der Marktkräfte): so etwas gab es weder in Italien noch in der Sowjetunion.22 Die schon eta­ blierten deutschen Autohersteller waren vom Projekt ausgeschlossen. In technischer Hinsicht war die Konstruktion des VW für eine wirtschaftliche Herstellung mit wenigen großflächig tiefgezogenen Karosserieteilen ausgelegt.23 In formaler Hinsicht innovativ bei einem Serienauto waren die versenkten Scheinwerfer mit schrägen Deckgläsern in den Kotflügeln. Wenn auch Ferdinand Porsche bei der Entwicklung des Volkswagens sehr weitgehende Anleihen bei anderen Herstellern wie Tatra und Zündapp machte, sollte sich doch dieses Modell – obschon es erst 1948 mit zehnjähriger Verspätung in volle Produktion ging – mit 20 Millionen verkauften Exemplaren als ein wichtiges Ereignis der Automobilgeschichte erweisen.24 Der „Volksempfänger“, der „KdF-Wagen“, der Zeppelin, die Autobahnen: Auch wenn sie nicht alle im Ursprung nationalsozialistisch waren, so wurden sie doch durch den alles durchdringenden ideologischen Willen der Diktatur dazu gemacht.25 51

Abb. 22: Ferdinand Porsche: „KdF-Wagen“, der systematisch bewirtschaftete Traum vom eigenen Wagen an der Schwelle, wirklich zu werden: die erste Vorstellung des nachmaligen „Volkswagens“ in der Zeitschrift Deutsche Technik, 1938.

Ein weiteres Beispiel dafür ist die strömungstechnische Forschung beim Bau von Flugzeugen und von Grand-Prix-Rennwagen. Mit dem Begriff der „Auslesegesetze“ war ein darwinistisches Kriterium benannt, das von der nationalsozialistischen Rassenlehre biotechnisch ausgelegt wurde und auch dem Design Orientierung zu geben erlaubte. Die davon abgeleitete „Biotechnik“ war die wissenschaftlich motivierte Arbeit an der Modellierung von unbelebter Materie nach dem Vorbild lebender Organismen. Vom Vogelflug sollte die Aviatik lernen, vom Windhund das Automobil. Der leitende Ideologe ­A lfred Rosenberg schrieb 1938: „Die […] germanische Art, der Natur ihre Gesetze abzulauschen, rang um ihre Freiheit gegenüber den über alle politischen Machtmittel verfügenden anderen Weltbetrachtungen.“26 Die Welt des Leistungssports war demnach die Sphäre, in der sich die logische Sieghaftigkeit deutscher Produkte zu beweisen hatte. Eine maximal strömungsgünstige Form war das Ziel, dem die Ingenieure in der Tat konsequenter – und bis ins konstruktive Detail – nachspürten als ihre eher i­ ntuitiv vorgehende italienische, französische, britische oder amerikanische Konkurrenz. Dies ist wohl der Punkt, an dem das Entwerfen am deutlichsten von Ideologie durchtränkt war. Berühmt sind die Autorennen mit dem Wettstreit 52

deutscher Marken wie Mercedes Benz und Auto-Union gegen italienische wie Alfa Romeo und Maserati, französische wie Bugatti und Talbot oder eng­ lische wie MG und Napier. Der Begriff „Auslesegesetze“ (den wir unter der Bezeichnung „La recherche d’un standart“ als Designkriterium bereits bei Le ­Corbusier angetroffen haben, → Kap. 15) erhielt durch das innergermanische Ringen von Mercedes-Benz und Auto-Union eine besonders dramatische Note. Die Arbeit an der Aerodynamik der Autos war eine vorwiegend deutsche Angelegenheit. Die Bemühung um Erkenntnis der objektiven Strömungsgesetze führte damals tatsächlich auf der Rennbahn zu einer deutschen Dominanz gegenüber den freieren Entwurfsmethoden in anderen Ländern. Design in Stalins Sowjetunion Nach Lenins Tod 1925 dauerte es zwei Jahre, bis Josef Stalin sich als neuer ­A lleinherrscher etabliert hatte, der er während eines Vierteljahrhunderts bleiben sollte. Wie Lenin verabscheute er die USA in politischer und bewunderte sie in technologischer Hinsicht. Doch die Sowjetunion war in dieser Epoche noch viel weniger eine Konsumgesellschaft als Deutschland oder Italien. Ein Designbegriff im neuzeitlichen Sinn betraf ohnehin nur die gesellschaftlich gehobenen Kreise der Macht- und Parteielite in den peripher gelegenen europäischen Metropolen Moskau und Leningrad, während die Landbevölkerung in den Weiten des Vielvölkerstaates in kargen Verhältnissen lebte. Man besaß wohl seine wenigen Kleidungsstücke, Möbel, Koch- und Essgeschirr, seinen Samowar – sein Set von vertrauten Gebrauchsgegenständen. Wir können ­davon ausgehen, dass bei den Menschen im Hinterland die Frage nach der gestalterischen Beschaffenheit ihrer Habseligkeiten auf Verständnislosigkeit gestoßen wäre. Die Zwanzigerjahre mit ihrem künstlerischen Aufbruch waren ein urbanes Phänomen gewesen: wohlgemute Kleiderentwürfe für Arbeiter von Warwara Stepanowa (→ Band 1, Abb. 168) und Alexander Rodtschenko, das Keramikservice von Wladimir Tatlin, die Ideen von El Lissitzky und anderen für praktische Wohnungseinrichtungen von Kollektiv-Wohnbauten und so weiter. Mit all dem war es jetzt zu Ende. Dies alles traf nun der Vorwurf des „Formalismus“, der unter Stalin zum vernichtenden Urteil wurde, ein kulturpolitisches Herbizid, das 53

Abb. 23: Sowjetunion: ­Lokomotive als Schneepflug, unmittelbarer Ausdruck funktionaler Ein­ deutigkeit und visueller Durchsetzungskraft, von El Lissitzky 1922 euphorisch ins Bild gesetzt. (Lissitzky, Vestsch)

die künstlerische Avantgarde mit sofortiger Wirkung verstummen ließ. Die Nomenklatura stieg derweil in mondänen Hotels ab, deren vom Art déco beeinflusste Ausstattung sich an westlichen Vorbildern orientierte. Der Gegensatz von politischer Ablehnung und kultureller Bewunderung wurde von den Machtträgern nicht als Widerspruch empfunden, sondern war in einer geschulten Dialektik leicht unterzubringen. Man wollte den kapitalistischen Gegner nun mit dessen eigenen Waffen schlagen. Die alte Bourgeoisie war entmachtet oder emigriert, ihre Palais von der neuen Parteielite bewohnt. Die arbeitende Bevölkerung lebte auch in den Städten unter extrem beschränkten Verhältnissen, ein Zimmer pro Familie war die Norm.27 Da wäre zu vermuten, dass es darin Klappbetten gab, einen Klapptisch und Klappstühle. Das wäre im 19. Jahrhundert die „amerikanische“ Antwort gewesen, doch die russische war es nicht. Bett, Stuhl, Tisch: Man verteidigte die angestammte Art dieser Stücke, und ihre Ornamente trösteten über ihre Mängel hinweg, die man erduldete. Ein Sofa gehörte ebenso wenig wie in Deutschland oder Italien zur Grundausstattung des Arbeiterhaushalts. Laternen und elektrische Leuchten waren spartanisch: mit einem Windschutz aus Glas beziehungsweise einer Glühbirne, im günstigen Fall mit 54

einem Stoffschirm, meist aber nackt, kaum einer Entwurfsüber­legung wert. Fahrräder hatten die internationale Standardkonfiguration, waren aber ohne technische Finessen wie Gangschaltung oder verschalte Antriebskette. Ein Auto besaß nur die Partei-Nomenklatura. Kurz: „Design“ im gestalterischen Sinn war noch bedeutend weniger ein Thema für die Mehrheit der Bevölkerung als in Westeuropa. Wie erwähnt: Der utopische Aufbruch von 1920 war nun von der Parteilinie als „Idealismus“ diskreditiert. Die Schule ­Wchutemas­/ Wchutein, ein „sowjetisches Bauhaus“, wurde durch Stalins Befehl bereits 1930 aufgelöst; 1932 wurden sämtliche Künstlervereinigungen verboten. Den Stahlrohr-Sitzmöbeln für die Redaktionsbüros des „Prawda“-­Gebäudes warf die Kritik vor, „kalt“ zu sein.28 El Lissitzky schrieb 1940 in seiner Beantwortung eines „Fragebogens für Möbel“ desillusioniert: „Einige begabte Studenten, die es mir zu erziehen gelang, machte man zu Säge­werksdirektoren.“29 Die Bemerkung verweist in ihrem Sarkasmus auf die ganze Ödnis der stalinistischen Anti-Avantgarde. Deren Absicht war einfach und klar: Stalin wollte keine erfinderische neue Kunst, sondern er wollte die traditionellen Abb. 24: Sowjetische ­Lokomotive, jedoch ohne funktionalistische Suggestivität, 1935 polemisch kritisiert von Raymond Loewy: „A good example of bad design.“ (Loewy, Locomotive)

55

Kunstauffassungen mit ihrer bewährten Ikonografie und Symbolik der Macht auf das ganze Volk angewandt wissen, um damit die Umkehrung der Machtverhältnisse seit 1917 sinnfällig zu beweisen. Der kulturpolitische Umschwung erfolgte 1934 und nahm seinen Anfang auf dem „Allunions-Schriftstellerkongress“, auf dem Maxim Gorki die Ziele des „sowjetischen Realismus“ verkündete. Die Literatur hatte die Leistungen des sozialistischen Aufbaues zu preisen; die rückhaltlose Bejahung wurde auch in der Umweltgestaltung zur unbedingten Pflicht. Figuratives Dekor war nun zentral, um die Leistungen des Sowjetmenschen in Szene zu setzen: Sowjetsterne, Ähren in Bäuerinnenarmen, Motive aus der Technik, Porträts von Lenin und Stalin. Der ideologische Impuls dahinter ist mit dem nationalsozialistischen Motto „Kraft durch Freude“ innig verwandt, ebenso das Formenrepertoire, in dem es auftrat. Konstruktivistisches Dekor auf Stoffen und Geschirr verschwand aus Ausstellungen, Zeitschriften, Werkstätten und dem Alltag, soweit es dort überhaupt hatte in Erscheinung treten können. Stalin gab die Devise aus, die fortan zu gelten hatte: „National in der Form, sozialistisch im Inhalt.“ Herausragende Technologie- und damit Designleistungen gab es durchaus: etwa das schwimmfähige sechsmotorige Flugboot „Maxim Gorki“ (1935) oder ein schnelles Gleitboot, der hydro- und aerodynamisch optimierte Katamaran OSGA-25 (1937–1938), der ebenfalls ein Einzelstück blieb. Das Flugzeug, ein Schaustück mit luxuriöser Ausstattung – unter anderem einer bordeigenen Rohrpost für die Techniker und Duschen für das erlesene Publikum der Passagiere! –, war ein nationalistisches Symbol für technisches Know-how, unerreichbar für die Bevölkerung, ein fotogenes Einzelstück mit kurzem Leben (1936 abgestürzt). Beide, das Boot und das Flugzeug, waren als Leistungsausweise beeindruckende Medienereignisse, aber ohne Auswirkung auf das reale Leben. Eine bedeutende Ausnahme von der Regel der symbolischen Wirkung gab es allerdings: die Moskauer „Metro“, die Untergrundbahn mit dem während der Bauzeit (1931 bis 1938) landesweit bekannten Namen „Baustelle Nummer 1“. Die architektonische Pracht ihrer Stationen im Stil des sowjetischen Klassizismus nahm auf feudalistische Schlösser, Hofbibliotheken und Spiegelsäle 56

Abb. 25: Wagen der ­Moskauer Metro, 1935. Sachlichkeit mit Spurenelementen von Prestige, passend zur Architektur der Stationen. (L’Architecture d’Aujourd’hui 8/1935)

Bezug: Sie wurden auch als horizontale Kathedralen des Sowjetlebens bezeichnet. Offen für alle Sowjetbürger, erfüllten sie für Stalin idealtypisch das Kriterium der allgemeinen Zugänglichkeit und Verfügbarkeit tradierter Machtsymbole – die exakt umgekehrte Entsprechung zu den früheren neuen Formen von utopischem Gehalt der Avantgarde. Für den Film galt dasselbe, ebenso in der Literatur, für die fortan eine naturalistische Ausdrucksweise vorgeschrieben war (wobei der Naturalismus meist zum Klischee überhöht wurde). Wo Symbolik weniger greifbar ist, in der Musik etwa, galt der Maßstab des Wohlklangs. Die Produktion von Autos war in der Sowjetunion im 1. Fünfjahresplan vorgesehen, und zwar in erster Linie von kleinen Lastwagen, die im 1932 eröffneten GAZ -Werk von Gorki (zuvor: Nisni Novgorod) nach dem Vorbild des Ford A konstruiert und gestaltet waren. Limousinen wurden von Parteileuten, hohen Behördenvertretern und der Geheimpolizei benutzt. Das Modell GAZ M-1 (1936–1942) war dem Ford V-8 nachempfunden; es wurde auf der Weltausstellung in Paris 1937 gezeigt und daraufhin auch nach Frankreich exportiert. In sechs Produktionsjahren wurden 63 000 Stück davon gefertigt. Nach dem Eintritt der Sowjetunion in den Krieg galt ein Entwicklungsstopp für zivile Fahrzeuge. Nach dem Krieg wurde die Entwicklung wieder aufgenommen, und erneut waren die Modelle stark vom Nachkriegs-US -Autodesign inspiriert, 57

Abb. 26: Stalins Auto, ZIS-115, stark der ameri­ kanischen Luxusmarke ­Packard nachempfunden, 1942.

doch mit ihrer großen Bodenfreiheit auf die russischen Straßenverhältnisse zugeschnitten.30 Erst lange nach dem Krieg, als die Automobilisierung die Gesellschaft erfasste, orientierte sich die sowjetische Wirtschaft an europäischen Modellen, insbesondere mit der Fabrik in Togliattigrad, die stark von Fiat beeinflusste Autos herstellte. Stalins Repräsentationsautos waren Modelle der Marke ZIS (abgekürzt für Zavod Imeni Stalina, Werk namens Stalin), das Modell ZIS 101 von 1936 war unverkennbar der Marke Buick nachempfunden, sein Nachfolger von 1942, ZIS 115, bis ins Detail der US -Luxusmarke Packard. Die Gestik seines hyper-

trophen Front-Dekors war überaus deutlich die der Repräsentationskultur. Aus demselben Grund war Stalins Speisesaal im Kreml pompös ausgestattet. Wenn der Diktator hingegen durch das Riesenland reiste, zweckmäßig, doch ohne offene Absicht der Demonstration von Macht, tat er dies in einem überraschend schmucklosen Eisenbahnwagen mit einem Besprechungstisch und schlichten Stühlen darin. Zum Schluss soll hier auf einen Gestalter hingewiesen werden, dessen Arbeit noch ein etwas differenzierteres Bild des sowjetischen Designs der Stalin-Ära abgibt: Abram Damskij, ein früherer Absolvent der Wchutemas. Seine beweglichen Bürotischleuchten waren jahrzehntelang in Produktion und hätten auch westeuropäische Produkte sein können. Auch Damskijs Leuchter 58

Abb. 27: Luxus-Suite im Hotel Moskwa, 1937. HighLife für die Parteielite und ausländische Gäste, außerhalb des Vorstellungsvermögens der Bevölkerung im Hinterland.

Abb. 28: Kantinen-Kochkessel, aus dem sowjetischen Prachtband Kulinaria, 1951. Väterchen Staat sorgt nach der Not während der langen Kriegsjahre für die tägliche warme Mahlzeit.

59

für die ersten Metrostationen waren noch technisch geprägt, indem sie aus identischen, mit Metallringen verschraubten Opalglasflächen bestanden. Für später fertiggestellte Metrostationen musste Damskij wesentlich ornamentaler gestaltete Lüster entwickeln. Deren Chassis bestand nun aus ornamentiertem Aluminiumguss, die Umkleidungen waren aus Pressglas mit plastischen Ornamentmustern.31 In produktionsgeschichtlicher Hinsicht bilden die Beleuchtungskörper der Metro entsprechend ihren Baujahren somit die technologische Entwicklung seit der industriellen Revolution im Rückwärtsgang ab. Doch nur für die Avantgarde handelte es sich um eine „Zeitumkehr“, die breite Bevölkerung nahm die so gestalteten Objekte als Zeichen des Fortschritts wahr. Gibt es eine konsistente Ikonografie in dieser Zeit der politischen Diktaturen? Nein, aber ihnen ist ein Merkmal gemeinsam: Sie unterscheiden zwischen Anwendungsbereichen und differenzieren somit den formalen Habitus der Gegenstände. Staatliche Repräsentation verlangt bildgesättigte Machtsymbole. Arbeitsbereiche sollen nüchtern sein, die Kantinen dafür punktuell gemütvoll hergerichtet. Das Zuhause soll Zufriedenheit ausstrahlen. Aber verhält es sich damit so anders als in Demokratien? Wenn von der Diktatur des wirtschaftlichen Erfolgs die Rede ist, muss eine Antwort wohl die Zeichenmacht von Prestige anerkennen: als Ausdruck von Selbstvertrauen und der Zuversicht, auf dem richtigen Weg zu sein. Welches konkret die daran beteiligten Zeichenfunktionen sind, ist soziokulturell bedingt. Einzig in der designgeschichtlichen Epoche der Neuen Sachlichkeit war es anders, nur sie wünschte sich eine durchgehende, alle Lebensbereiche durchdringende klare, funktionale Beziehung zwischen Dingen und Menschen, eine Seins-Ehrlichkeit, die keine kompensatorischen Maßnahmen mehr brauchte. Doch dieses Ideal war von kurzer Dauer, weil es an den Bedürfnissen der meisten Menschen vorbeiging. Eine Hypothese zur Gestaltungsfrage im Europa der 1930er-Jahre könnte lauten: Hätte es einen Namen für das gegeben, was wir heute Design nennen, wäre der Zugriff der totalitären Regime darauf härter gewesen. So aber blieb das Design als Disziplin weitgehend im verschatteten Hintergrund und wurde nicht ins Scheinwerferlicht der Ideologien gezogen. Dass es als Begriff noch nicht existierte, ist insofern ein kleines Glück im großen Unglück jener Zeit. 60

Anmerkungen

Gerätkultur des Mittelalters und der Neuzeit. Berlin 1943 (Ahnenerbe-Stiftung), S. 11 18 Ebd., S. 43 19 Fritz Todt: „Männer der deutschen Technik“. In:

1

Walter Benjamin: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (1936). Frank-

2

20 Zu Paul Jaray: Vgl. Anm. 5, 18 f., 26 f., 236–239

Zit. nach Konrad Farner: „Revolte, nicht Revolution.

21 Es war nach Ford auch von anderen Herstellern be-

Zur Geschichte des italienischen Futurismus“. In:

reits aufgegriffen worden: Austin „Seven“, Opel

Ders: Kunst als Engagement, Darmstadt/Neuwied

„Laubfrosch“, Fiat 500 „Topolino“, Citroën „Toute

Edoardo Persico: „Fiat, Arbeiter“ (1927). In: Ders.: Freiheit des Geistes. Architekturkritik im faschistischen Italien. Basel/Boston/Berlin 1993, S. 58–63

4

­Deutsche Technik in Wort und Bild vorgestellt. Das von Hitler vorgegebene Preisziel erwies sich

Vgl. Claude Lichtenstein/Franz Engler (Hrsg.): Stromlinienform. CH-Baden 1992, S. 194 f.

8 9

lage. Berlin 2001, S. 340 f. 23 Der KdF-Wagen wurde im Dezember 1938 in­

nisierten Widerstands gegen die Partei. Vgl. Meike

6 Der ETR 200 stellte 1939 einen prestigeträchtigen 7

petite voiture“ TPV (der nachmalige 2 CV). 22 Vgl. Wolfgang Schivelbusch: Die Kultur der Nieder-

Lingotto war anfänglich sogar auch ein Ort des orgaAlbath: Der Geist von Turin. Berlin 2010

5

(1942), S. 1

furt a. M. 1966, S. 44.

1973, S. 111 3

Deutsche Technik. Die technopolitische Zeitschrift

als illusorisch. 24 Es gab auch vor Hitlers Auftrag an Ferdinand Porsche ähnliche Modelle im Entwurfsstadium, von Zündapp etwa, und von der tschechischen Marke

Geschwindigkeitsweltrekord von 203 km/h auf.

Tatra sogar ein technisch sehr verwandtes Auto (den

Diese „Littorine“ fuhren auch in den italienischen

viertürigen Type 97), dessen Produktion die Deut-

Kolonien Nord- und Westafrikas – wo sie zum Teil

schen nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei

noch immer im Dienst sind – und kündeten vom tech-

(„Sudetenkrise“ 1938) einstellten. – Der zur Serien-

nisch fortschrittlichen Mutterland.

reife entwickelte Volkswagen wurde Ende 1938

Vgl. Giuseppe Pagano (Hrsg.): Tecnica dell’Abitazione.

vorgestellt, aber abgesehen von einer kleinen Serie

Katalog zur Triennale 1936, Mailand 1937, S. 146 f.

1939 begann seine eigentliche Produktion – unter

Vgl. Claude Lichtenstein: „Vorbote italienischen ­Designs“. In: werk/bauen+wohnen 12/2013, S. 24 f.

10 Vgl. Sigfried Giedion: Befreites Wohnen. Zürich/ Leipzig 1929, Taf. 8, 9 11 Vgl. Anna Teut (Hrsg.): Architektur im Dritten Reich 1933–1945. Berlin/Frankfurt a. M./Wien 1967 12 Walter Riezler: „Der Kampf um die deutsche Kultur“. In: Die Form 10/1932, zit. nach G. B. Hartmann/ Wend Fischer (Hrsg.): Zwischen Kunst und Industrie. Der Deutsche Werkbund. München 1977, S. 314 13 Bruno Jansen: „Technik und Kultur“. In: Deutsche Technik (1942), S. 45 und 47 14 (Ungenannt): „Die deutsche Wirtschaft im Jahre 1937“. In: Deutsche Technik (1938), S. 27 15 Adolf Hitler, Parteitag Nürnberg 1933. Zit. bei A. Teut (vgl. Anm. 11), S. 91 16 Das Buch dokumentierte insbesondere zahlreiche Modelle des schweizerischen Einrichtungshauses Wohnbedarf, dessen Bezeichnung der Werkbund und Mia Seeger für die Ausstellung übernommen hatten. 17 Walter Dexel: Holzgerät und Holzform. Über die

der Kontrolle der Siegermächte – erst 1948. 25 Doch sogar diesem Willen waren Grenzen gesetzt. Das Projekt eines „Volkskühlschranks“ – um den Verderb von Lebensmitteln im „Volk ohne Raum“ zu bekämpfen – wurde durch die bekannten Hersteller nicht unterstützt und 1941 eingestellt. Vgl. Ulrich Hellmann: Künstliche Kälte. Die Geschichte der Kühlung im Haushalt. Gießen 1990, S. 109–117 26 Alfred Rosenberg: „Weltanschauung und Technik“. In: Deutsche Technik 1/1938, S. 2 27 Alexander Lavrentiev/Juri Nasarow: Russisches Design. Tradition und Experiment 1920–1990. Berlin 1995, S. 54 28 Ebd., S. 49 29 El Lissitzky: „Aus einem Fragebogen für Möbel“ (1940). In: Ders.: Proun und Wolkenbügel. Schriften, Briefe, Dokumente. Dresden 1977, S. 197 30 Michael Dünnebier/Eberhard Kittler: Personenkraftwagen sozialistischer Länder. Berlin/DDR 1990, S. 138–167 31 Wie Anm. 27, S. 48–50

­Bedeutung der Holzformen für die deutsche

61

X-18 „Design und Ideologie“ – was heißt vergleichen?

Wie äußert sich Ideologie im Design? In welchem Verhältnis stehen der totalitäre Staat und die Gestaltung von Gebrauchsgegenständen zueinander? Färbt die Schreckensherrschaft auf die Gestaltung der Gegenstände ab? Wenn ja, auf welche Gegenstände, und auf welche nicht? Ist die Gestaltung aus einem totalitär regierten Land selber totalitär? Gibt es ein „faschistisches Design“? Diese Fragen lassen sich fürs Erste so beantworten: Es gibt keine feuda­lis­ tischen – kommunistischen – kapitalistischen – nationalsozialistischen – faschistischen – stalinistischen – trotzkistischen – demokratischen – neoliberalen Möbel, ebenso wenig wie analoge Porzellanservices oder Kinderwagen. Eine feste und umkehrbar eindeutige Beziehung zwischen dem politischen System und der Gestaltung von Gebrauchsgegenständen gibt es nicht (anders als bei bildnerischen Kategorien wie der Werbegrafik oder Plakaten mit ihren Bildprogrammen). Was es geben kann, sind ausdrucksmäßige Qualitäten, die von den Bedingungen sprechen, unter denen ein Gegenstand geformt wurde. Ausdrucks-Eigenschaften in der Beziehung zwischen dem politischen System und der Formensprache der Gebrauchsgegenstände sind grundsätzlich nicht starr, sondern elastische Größen. Doch auch eine elastische Beziehung ist eine Beziehung. Gibt es vielleicht Erkennungsmerkmale an einem Gegenstand, die sich auf das politische System, innerhalb dessen er entstanden ist (entworfen wurde, hergestellt wurde, rezipiert wurde), zurückführen lassen? Solche lassen sich oft nachweisen. Der „Volksempfänger“, der keine Anzeigeblende mit den Namen der Sender mehr enthält, auf deren Empfang man das Gerät einstellen kann, war ein Ausdruck der politischen Verhältnisse. Man konnte ausländische Sender empfangen, aber man durfte nicht, und das Design brachte das strikte Verbot auf seine Weise zum Ausdruck: durch die Bedeutung, die der Apparat erhielt, nicht durch seine Form. Der Apparat, entworfen 1932 als preiswertes Gerät 62

vor Hitlers „Machtergreifung“, ist erst seit 1933 als „Volksempfänger“ ein Repräsentant des Regimes geworden. Seine minimalistische Formensprache und das Gehäuse aus braunem Bakelit waren die Voraussetzung für einen niedrigen Anschaffungspreis, dieser seinerseits war die Voraussetzung, um die ganze Bevölkerung zum Hören der Ansprachen verpflichten zu können. Das Design selbst war nicht „nationalsozialistisch“, aber der Gegenstand wurde zum exemplarischen Fall für Gestaltung im Nationalsozialismus und damit zu einem Symbol dafür. Der italienische „Balilla“-Radioapparat war viel kostspieliger und dürfte nur in Haushalten mit überdurchschnittlichem Einkommen vorgekommen sein. Der Faschismus Mussolinis war weniger medial modelliert als Hitlers Nationalsozialismus. Der Duce zog es vor, direkt vor seinen Anhängern aufzutreten. Die Symbolkraft des abgebildeten italienischen Apparats ist schwächer als die des deutschen. Das, woran beide Regime kein Interesse hatten, blieb von spezifischen ­Einflüssen auf das Design verschont: Küchentisch, Ehebett, Suppenschüssel, Kaffeemaschine. „Man kann den Faschismus nicht mit dem Nationalsozialismus vergleichen“, hört man oft. Doch, man kann. Die Wahrnehmung von Ähnlichkeiten und Unterschieden ist das Resultat aus einem Vergleich. Vergleichen bedeutet, Gegenstände – materielle und ideelle – in Relationen wahrzunehmen. Die futuristische Dimension im italienischen Faschismus unterschied sich deutlich von der vergangenheitsbezogenen imaginären Rassenmythologie der Nazis und Stalins Sozialistischem Realismus. Und „Väterchen Stalin“ – diese Apostrophierung sagt vieles aus – konnte seine trügerische „gemütliche Wirkung“ in einer höchst prekären Lebensrealität entfalten, so wie eine beruhigende Stimme über die Gefährlichkeit des Sprechers hinwegtäuschen kann.* In Nazideutschland wurde die Stromlinienform unter dem Gesichtspunkt der Biotechnologie und der Leistungsform als essenziell „germanisch“ betrachtet und galt als ideologiekonform. In naturwissenschaftlicher Hinsicht war oder ist sie jedoch autonom und beruht wertfrei auf physikalischen Tatsachen. Eine bestimmte Ideologie kann eine bestimmte Wissenschaft fördern, kann sie 63

in ihren Dienst stellen, sie kann eine Wissenschaft zu einem Popanz aufbauen und andere Wissenschaften vernachlässigen oder verbieten; aber als Wissenschaften behalten sie ihre Überprüfbarkeit, auch wenn in vielen Fällen die Gelegenheit zur Überprüfung erst nach schmerzlich langer Zeit wieder möglich werden sollte. Die Aufgabe von Designgeschichte und -theorie ist das Aufspüren von Zusammenhängen und Relationen. Die Aussage „Vergleich ist die Mutter der Kritik“ ist dabei grundlegend, denn vergleichen heißt nicht, gleichsetzen, sondern gegeneinander abwägen. Dabei werden über die Bezeichnungen hinaus Inhalte zueinander in Beziehung gesetzt. Kann man also nicht doch von einer Wohnungseinrichtung auf die politische Einstellung ihrer Bewohner schließen? Nein, eine eindeutige Beziehung wird sich nicht nachweisen lassen. Oft resultiert aus der Kombination verschiedener Dinge der eine oder andere Hinweis auf eine solche Beziehung, aber der kann täuschen. Dann nehmen wir ein Gesamt-Tableau von Gegenständen als Indikator dafür, ob eine Person konservativ oder fortschrittlich, autoritär, reaktionär, libertär oder tolerant gesinnt ist, ob die Wahl und Zusammenstellung von Dingen dem sozialen Prestige geschuldet sind oder diesbezüglich eine geistige Unabhängigkeit zum Ausdruck bringen. Kommt noch dazu, dass der Geist der Benutzer, die mit den Dingen wohnen, nicht identisch ist mit dem Geist, aus dem die Dinge geschaffen wurden. Selbst wenn sie einander aufs Genaueste zu entsprechen scheinen, sind es doch zwei verschiedene Größen.

*

Siehe Julian Barnes: Der Lärm der Zeit (Roman über den Komponisten Schostakowitsch während des ­stalinistischen ­Terrors, 2016)

64

19 Design im Kontext des Zweiten Weltkrieges Andere Vorstellungen von Notwendigkeit

Zeiten des Krieges sind Beschleuniger. Ungenutzt gebliebene Erfindungen aus der Zeit vor dem Krieg werden im Krieg erinnert und umgesetzt, wenn man sich von ihnen einen Erfolg verspricht. Auch forciert der Krieg Erfindungen. Das Beispiel Armbanduhr wurde in Kap. 16 bereits erwähnt. Die Realisierung fällt oft erst in die Zeit „danach“. Jede dieser Erfindungen oder Entwicklungen ist das Resultat aus zielgerichtetem Suchen – vielleicht im Unterschied zu solchen, die sich in Zeiten relativen Friedens bisweilen auch zufällig einstellen mögen. Geschärfte Sinne und gesteigerter Scharfsinn: Für die Technologie waren Kriegszeiten noch immer Blütezeiten, auch wenn dies in der Welt der Konsumgüter nicht unmittelbar, sondern erst mit Verzögerung sichtbar wurde und sich im zivilen Alltag oftmals erst nach der Umstellung von der Kriegs- auf die Friedenswirtschaft erwies. „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“ war dafür Heraklits Wort bereits in der griechischen Antike, das wohl nicht einmal tragisch gemeint war. Schon kurz nach der Erfindung des Teleskops (um 1600) pries es Galilei in Venedig mit dem Argument an, damit feindliche Schiffe schon aus der Distanz erkennen zu können.1 Kriegswirtschaft Mit dem Eintritt eines Landes in den Krieg ist es mit dem „freien Markt“ zu Ende, und die Kriegsbewirtschaftung greift rigoros ins Wirtschaftsgeschehen ein. Als Japan im Dezember 1941 den amerikanischen Pazifikstützpunkt Pearl Harbor überfiel und die Vereinigten Staaten in den Krieg zwang, kontingentierte die US -Administration sogleich Materialien, die für den Bau von Flugzeugen der Armee oder den Bau von Schiffen für die Handelsflotte benötigt wurden: Metalle wie Aluminium, Kupfer, Stahl, Gummi und auch Kork. Die Illustrierte Life bildete im Herbst 1941 (also noch vor dem Kriegseintritt der USA) eine Küche des gehobenen Mittelstands doppelseitig ab, zählte die darin enthaltenen Gegenstände neuzeitlichen Lebens auf und bereitete die 65

Abb. 29: Küche des gehobenen Mittelstands kurz vor dem Kriegseintritt der USA, Herbst 1941. Das Land befürchtete ein abruptes Ende der „Demokratisierung des Komforts“. (Life, Sept. 1941)

Leserschaft im Text auf die zu erwartende Verknappung von Gütern des gehobenen täglichen Bedarfs vor.2 Dies machte dem Publikum in den USA bewusst, welche Vielzahl von Dingen bereits aus oberflächenveredelten oder rostfreien Metallen bestanden: Staubsauger, Kühlschrank, Kochherd, Toaster, Spültisch, Waschmaschine, Küchenuhr, Radio, Leuchten, Feuerlöscher, Bügeleisen, Mixer, Kochgeschirr, Kehrichteimer. Auch Linoleum (wegen des Anteils an Kork) fiel unter die Restriktionen. Die Kriegswirtschaft brachte einen jähen Paradigmenwechsel, ihre jederzeitige Verfügbarkeit fiel von all diesen Gegenständen ab. Der Krieg erzwang ein neues Verhalten beim Publikum. Man organisierte launige Sammelaktionen für Aluminium („aluminum collection week“), um den plötzlichen Bedarf der Flugzeugindustrie decken zu helfen: Verbrauchte Pfannen und defekte Hauhaltapparate waren unver­ sehens wertvoll geworden. Dasselbe machte man mit defekten Nylonstrümpfen, damit sie für die Karkassen von Reifen der „Superfortress“-Bomber 66

rezykliert werden konnten. „Sending their nylons off to war“, lautete dazu eine Überschrift.3 Unversehens stand die Konsumgesellschaft wieder elementaren Notwendigkeiten gegenüber. Im Kriegsjahr 1943 warb General Motors dafür, statt ein neues Automodell zu kaufen – deren Produktion war um die Hälfte reduziert und die Entwicklung neuer Modelle ganz gestoppt worden – weiterhin das bisherige zu fahren und es sorgsam zu pflegen: „Let me help you to get the most out of your Automobile.“4 Die Firma Bell (Telekommunikation) bat die Zivilbevölkerung, abends nur kurze Telefongespräche zu führen, um nicht den US -Soldaten, die auf anderen Kontinenten kämpften, die Leitung für Anrufe bei ihren Lieben zu blockieren. General Electric ermahnte zu sparsamem Stromverbrauch: Beispiele von ganzseitigen Anzeigen in einer einzigen Nummer von Life im Sommer 1943.5 Mit Patriotismus empfahl man sich dem Publikum für die Zeit nach dem Krieg. Der amtliche War ­P roduction Board stoppte sogar die Herstellung von Uhrweckern.6 Was hier über die USA gesagt wird, gilt generell für kriegführende Länder. Der Krieg entfernt die Produkte des zivilen Lebens nicht aus der Welt, er entzieht sie bloß der allgemeinen Verfügbarkeit und ebnet die sozialen Unterschiede ein Stück weit ein. Belange der Armee genießen absolut den Vorrang. Für die Zivilbevölkerung wirkt sich diese Entwicklung graduell wie die Rückkehr zu einer ­vorindustriellen Kargheit aus. Auf der anderen Seite hingegen, jener der Produzenten, konnte das genaue Gegenteil davon geschehen: die Mobilisierung der technischen Möglichkeiten und der mutigen Kreativität. Life brachte im Herbst 1942 die Reportage über den in rekordschneller Zeit realisierten Bau des Handelsschiffes „Teal“ in einer der Werften von Henry J. Kaiser. Dank der Anwendung des Prinzips der Vorfertigung und von „­assembly line tactics“ konnte das Schiff von der Größe von 10 500 Tonnen in nur zehn Tagen zusammengebaut werden.7 Doch Zeiten des Krieges sind nicht nur Beschleuniger. Auch das Gegenteil trifft zu: Für die akut gefährdete Bevölkerung verlangsamt sich die Zeit; ebenso für Soldaten in ihren Unterkünften, die aus dem normalen Erwerbsleben herausgeworfen sind und deren Aufgabe Wachsamkeit heißt, auch bei einer momentanen Ereignislosigkeit: wenn der Krieg zu schlafen scheint. Der schwedische Armeestab gab beim schwedischen Werkbund für diesen Fall 67

eine Broschüre in Auftrag, die mit Plänen, Stücklisten und Zeichnungen die Soldaten zum Bau einfacher Möbel anleitete. Damit sollte auch eine Brücke zu den Familienangehörigen errichtet, vielleicht das Signal zur Gründung eines eigenen Hausstandes gesetzt werden. Diese Broschüre erschien 1942. Damit sollte dem Lagerkoller vorgebeugt und ein konstruktives Wissen vermittelt werden.8 Materialforschung Wenn wichtige Rohstoffe und Materialien fehlen oder wenn die vorhandenen Werkstoffe mangelhaft sind, drängt sich die Suche nach einem Ersatz auf. Der amerikanische Erfinder R. Buckminster Fuller erwähnte dazu in einer Reihe von Vorträgen, die er 1946 vor Ingenieuren der Beech-Flugzeugwerke in Wichita/Kansas hielt, einen Fall aus dem Ersten Weltkrieg, als die ungenügenden Materialeigenschaften britischer Gewehre manifest wurden. Fuller erklärt: „Mit dem Ersten Weltkrieg ereignete sich hinsichtlich der strukturellen und mechanischen Fähigkeiten des Menschen ein grundlegender Wandel: die Veränderung der Metallurgie als solcher von einem handwerklichen Gebräu zu einer hochwissenschaftlichen Kunst. 1917 sah den Beginn in der industriellen Verwendung von Stahl-Legierungen. Das britische Ordonnanzgewehr war damals sehr weit verbreitet. Plötzlich erwiesen sich diese Gewehre im Gefecht als verschleißanfällig. Sie leierten rasch aus. Daraus entstand eine hektische Suche in verstaubten Bürokorpussen nach Legierungs-Formeln, die früher bei der bequemen Ausbeutung des Status quo lästig gewesen waren und irgendwo abgeheftet wurden. Zum Beispiel von Chromnickelstahl, der schon 1854 erfunden worden war, doch nun erst 1917 zur Produktion von Gewehren eingesetzt wurde.“9 Dies ein Beispiel dafür, dass im Krieg die Dringlichkeiten sich neu ordnen und dass man dabei oft auf früher gemachte Entwicklungen – die sich nun als „Vorratserfindungen“ erweisen – zurückzugreifen gezwungen ist. Wenige Monate vor Beginn des Zweiten Weltkrieges berichtete die Zeitschrift Life unter dem Titel „The War of Metals“ über den technologischen Wettstreit zwischen Stahl und Aluminium – genauer: über den Konkurrenzkampf der hinter ihnen stehenden Industrien – und sagte ein „Zeitalter der Legierungen“ 68

Abb. 30: Lockheed C-69, Prototyp der „Constellation“, 1944, von denen die ersten Exemplare im Krieg als Truppentransporter eingesetzt wurden.

voraus. Die Bezeichnung „Krieg“ für den technologischen Wettstreit zwischen den spezifischen Leistungsfähigkeiten der beiden Materialien beziehungsweise Industriekomplexen lässt bereits die überhitzte Geistesverfassung des Zeitalters erahnen. Die Verwendung von Leichtmetall für Flugzeuge, eine Art von Aluminium unter der charakteristischen Bezeichnung „Avional“, hatte seit etwa 1920 die Stahlindustrie herausgefordert und seit den frühen Dreißigerjahren neue Formen des Leichtbaus in rostfreiem Stahl hervorgebracht. Dafür mussten etwa extrem dünn gewalzte Stahlbleche gewellt werden, um auf erforderliche Steifigkeitswerte zu kommen. Daraus entstand ein neues Erscheinungsbild; bei Eisenbahntriebwagen und Flugzeugen wurden diese fein gewellten Inox-Oberflächen geradezu zum Attribut für Modernität.10 In Deutschland standen besonders Flugzeuge von Junkers, in den Vereinigten Staaten „Streamliner“-Züge von Pullman, gebaut von Budd, symptomatisch für diese Entwicklung. Kurz vor und im Zweiten Weltkrieg dann erfuhr vor allem die organische Chemie einen Entwicklungsschub. Materialien, die danach in den 1950erJahren populär wurden, verdankten sich diesen Anstrengungen des Krieges. Vor dem Krieg bestanden Radiogehäuse, Picknickgerätschaften, Rasierapparate oder Vorratsbehälter aus Duroplasten wie Bakelit oder Ebonit, Stoffen, die bei der Erwärmung erhärteten. Während des Kriegs erinnerte man sich ihrer mit etwas Wehmut. Die Chemie der Kunststoffe entwickelte sich nun aber 69

weiter in Richtung der Thermoplaste und erhielt eine hohe Kriegswichtigkeit, wobei das Deutsche Reich besonders aktiv war. Polyurethan-Hartschaum war eine deutsche Erfindung der Firma Bayer, ein Produkt, durch dessen stoßabsorbierende Wirkung die Wehrmacht die Brennstofftanks von Militärfahrzeugen gegen Schläge schützte. Bis heute wird er für geschäumte Transportverpackungen eingesetzt. Nach dem Krieg wurde die weiche Variante davon rasch als „Schaumgummi“ für Polstermöbel und Autositze populär. Nylon hingegen war bereits 1931 im Labor von Du Pont synthetisiert und 1935 patentiert worden. Es galt zunächst als Material, das die aus Japan importierte Seide verdrängen konnte, aus der damals zahlreiche Produkte bestanden (Bekleidung, Damenstrümpfe, Vorhänge und Wandbespannungen, Fallschirme). Damenstrümpfe aus angeblich unzerstörbarem Nylon wurden in den späten Dreißigerjahren in Ausstellungen kultisch inszeniert und vom weiblichen Publikum hochgestimmt erwartet. An der Weltausstellung in New York war der Du Pont-Pavillon ihretwegen eine der Hauptattraktionen. Doch die Produktionskapazitäten für Damenstrümpfe waren noch sehr begrenzt und entfielen bald ganz, denn mit dem Beginn der Kriegshandlungen in Europa wurde Nylon vermehrt für militärische Zwecke verwendet: Fallschirme, Taue, verrottungsresistente Schuhbestandteile, Moskitonetze, Hänge­matten und Abdichtungen in Kraftstofftanks. Die neue Kunstfaser wurde im zivilen Leben schmerzlich vermisst; nicht wenige Frauen schminkten sich im Krieg die Beine so, als ob sie Nylonstrümpfe trügen, wozu gehörte, dass sie sich die Strumpfnaht hinten auf die Beine malten.11 Das ist nebenbei ein schöner Beleg für den Merksatz des Zeichenforschers Roland Barthes: „Dès qu’il y a s­ ociété, tout usage est converti en signe de cet usage“ (Sobald es Gesellschaft gibt, wandelt sich jeder Gebrauch zum Zeichen seiner selbst).12 Im Krieg sorgten nun Kunststoffe für vollwertige Schlagzeilen und waren Bestandteil wichtiger Artefakte wie Kampfflugzeuge. Life titelte „War Makes Gimcrack Industry into Sober Producer of Prime Materials“ (Der Krieg macht aus der Ramsch-Industrie einen nüchternen Produzenten von erstrangigen Materialien).13 Kunststoffe waren nun nicht mehr nur Ersatzmaterialien, vielmehr Hochleistungswerkstoffe aus den Retorten der „Molekül-Ingenieure“. Die Materialeigenschaften waren nicht mehr – wie vor dem Krieg – ein mehr 70

oder weniger zufälliges Resultat, vielmehr wurden ihre erwünschten Eigenschaften im Vornherein definiert und die Werkstoffe nach dieser Vorgabe modelliert. Firmen wie Bayer oder I. G. Farben in Deutschland befanden sich in einem erbitterten transatlantischen Rennen mit Du Pont Nemours oder Plaskon. So entstanden hoch beanspruchbare Stoffe wie Nylon, Perlon oder synthetischer Kautschuk. Die Abhängigkeit ihrer Herstellung von fossilen Rohstoffen war dabei für die USA viel weniger ein Problem als für die Achsenmächte, deren schlauen Lösungen R. Buckminster Fuller in seiner erwähnten Vortragsreihe die Achtung des Wissenschaftlers nicht versagen konnte. Eine Passage daraus lautet: „Während des Zweiten Weltkriegs war eines der bedeutendsten Ereignisse hinsichtlich seines Effekts auf die Gebiete Technologie und Wirtschaft, dass die Deutschen gezwungen waren, in der Chemie einen Weg zu finden, um die Abhängigkeit vom Erdöl als Energieträger zu verkleinern, und dass sie dies mit Holz erreichten. Denn dieser Krieg war sehr wesentlich ein Krieg mit und um Öl [oil warfare]. Die Deutschen suchten nach anderen Energiequellen und kamen auf die Holz-Technologie. Die Chemie rund ums Holz entwickelte sich in Deutschland in verschiedene Richtungen. Sie [die Deutschen] merkten, dass der Natur im Holz der größte Trick zur Verfügung stand, um Sonnenenergie zu speichern, und dass sie von dort aus in unterschiedlichen Richtungen Energie gewinnen konnten. Sie brachten es sogleich zur ‚Grand Central Station‘ der Energie in ihrer lagerfähigsten Form – dem Alkohol. Daraus ließ sich Nahrung gewinnen, zuerst für Vieh, dann für Menschen. Oder hochoktaniger Treibstoff, synthetischer Gummi oder Kunststoffe. […] Holz-Technologie hat die Bedeutung des Holzes für eine fortschrittliche Technik so gesteigert, dass wir uns nicht erlauben können, es in der gedankenlosen Art wie bis anhin einzusetzen – es in Häusern den Termiten zum Fraß zu offerieren oder es zu verbrennen. Selbst wenn wir es könnten, zwänge die weltweite Technologie unsere technische Hand, es anders zu machen; der Rest der Welt ist nun dabei, sich zu industrialisieren und tut dies vom fortschrittlichsten Niveau des Zweiten Weltkrieges aus, nicht von unserem Niveau von 1861, 1890 oder 1917. Industrielle Technologie entsteht aus latenter Kenntnis und ist nicht ein Inventar veralteter Maschinerie, wodurch Holz sich neuerdings in einer historisch entscheidenden Position 71

wiederfindet.“14 Fuller wusste deshalb so gut über diese Zusammenhänge Bescheid, weil er sie während Jahren als assoziiertes Redaktions­m itglied der Wirtschaftszeitschrift Fortune aufmerksam verfolgt hatte. Zu Fullers Darstellung der kriegsbedingt geschärften Wissenschaftsanwendung passt auch die Entfaltung der Kryptoanalyse, also der Entschlüsselungstechnik geheimer Botschaften, die im Krieg von höchster Dringlichkeit war. Im englischen Bletchley Park gelang es mit der Konstruktion der „TuringBombe“, eine Decodiermaschine zu entwickeln, die die mehrfache Verschlüsselung des deutschen „Enigma“-Codes zu knacken vermochte. Die Basis dabei war die logische Permutation sämtlicher möglicher Buchstabenkonstellationen im Hinblick auf einen möglichen „Sinn“. Im Grunde entsprach Alan Turings ideelles Konzept der Methode, die der Archäologe Champollion 1822 manuell bei der Entzifferung des dreisprachigen „Steins von Rosetta“ aus dem Altertum anwendete (Hieroglyphenschrift), wenngleich auf einer enorm gesteigerten Schwierigkeitsstufe. In der lückenlosen Systematik des Vergleichens liegt in der „Turing-Bombe“ eine Vorstufe zur Entwicklung des Computers und der automatischen Datenverarbeitung (→ Kap. 28). Zweckrationalität als Devise In den Vereinigten Staaten erhielten mehrere prominente Industriedesigner Aufträge, deren Ursprung in ihren Leistungen auf dem Theater und in szenografischer Ausstellungsgestaltung lagen (→ Kap. 17) . Henry Dreyfuss konnte vier Exemplare von sehr großen und entsprechend detaillierten Globen mit einem Durchmesser von drei Fuß bauen, von denen einer dem Präsidenten Roosevelt, einer Premierminister Churchill, einer dem Generalsekretär Stalin und der vierte dem amerikanischen Generalstab zugedacht war.15 Die Alliierten im Kampf gegen die Achsenmächte konnten sich so ein realeres Bild von den Bewegungen der Armeen verschaffen als mit der flachen Mercator-Karte, auf der „Ost“ und „West“ stets künstlich getrennt sind. Und ein weiteres Mal kommt hier R. Buckminster Fuller ins Spiel. Er entwickelte eine völlig neuartige Projektionsmethode der Weltkarte – die „Dymaxion World Map“ –, bei deren Abwicklung der Sphäre die Kontinente als zusammenhängender Archipel in Erscheinung treten, den sie – mit Ausnahme Australiens – bilden, 72

Abb. 31: Norman Bel ­Geddes: Modellhafte Nachbildung einer Seeschlacht im Pazifik für die Zeitschrift Life, 1942. Bel Geddes’ Erfahrung als Bühnenbildner prädestinierte ihn für diese auf­ wendige Aufgabe im VorTV-Zeitalter.

ohne dass man sich dessen bewusst war, weil die bisherigen Projektionsmethoden dies verschleiert hatten. Fuller erreichte, dass die Zeitschrift Life seine innovative Projektion als Ausschneidebogen einem Heft beilegte, was der Bevölkerung erlaubte, ihrerseits die Umrisse dieser Dymaxion-Karte zusammenzufalten und zu einem annähernd wirklichkeitsgetreuen Bild von der Welt zu kommen. Was der Präsident im Großen vor Augen hatte, war so auch in vereinfachter Form in unzähligen nordamerikanischen Stuben veranschaulicht.16 Norman Bel Geddes, am Anfang von dessen Karriere die Gestaltung von Bühnenbildern gestanden hatte, erhielt von der Armee den Auftrag, naturgetreue Modelle von bestimmten Küstenformationen und von Städten zu bauen, anhand derer sich etwa die Invasion von Tunis durchspielen ließ. Für Life inszenierte er täuschend echt aufgebaute Modelldarstellungen von bedeutenden Seeschlachten im Pazifik, die in prominenter Aufmachung vom günstigen Verlauf des Krieges künden sollten.17 Das Studio von Raymond Loewy erhielt den Auftrag zum formalen Entwurf einer hyperstarken Lokomotive, die mit ihrem Aussehen ebenfalls im abgelegenen Hinterland Optimismus verbreiten sollte. Die Lokomotive T-1 wurde 1941 mit 500 Tonnen Gewicht, verteilt auf 16 Achsen (mit Tender), die stärkste und schnellste je gebaute Güterzuglokomotive. 73

Abb. 32: Willy’s Jeep, ­Prototyp 1941. Inbegriff einer militärischen Zweckorientierung ohne jegliches ästhetische Beiwerk.

Loewys Ingenieurs-Hintergrund dürfte dabei ebenso eine Rolle gespielt haben wie seine schon oft unter Beweis gestellte Befähigung zu effektvollen Inszenierungen. Andere Aufträge betrafen eher Details und das Ziel gesteigerter Effektivität. Der Designer Egmont Arens erhielt den Auftrag, bei militärischem Gerät die Beschriftungen auf eine rasche Lesbarkeit hin zu gestalten. John Vassos beschäftigte sich mit Tarnbemalungen von Schiffen, Landfahrzeugen und Uniformen. Von Brooks Stevens kam ein detaillierter Vorschlag zum Umbau existierender sechsplätziger Limousinen der Marken Ford und Mercury in Ambulanzfahrzeuge für das Rote Kreuz und in Kleintransporter bis zwölf Personen.18 Henry Dreyfuss Associates wurden beauftragt, die Aufstellung von Flugabwehr-Kanonen durch eine bessere Konstruktion des Unterbaus stark zu beschleunigen; ihre Lösung verkürzte die Zeit bis zur Betriebsbereitschaft von 15 auf dreieinhalb Minuten. Wohl im selben Zusammenhang entstand der Auftrag an dasselbe Studio einer statistischen Erhebung der Körpermaße tausender Personen (Männer und Frauen) im Hinblick auf die optimale Dimensionierung von militärischem Gerät und Kontrollpanels. Diese kriegsbedingte Ermittlung war folglich die Grundlage für die ergonomics, die nach dem Krieg in der zivilen Wirtschaft wichtig werdende Wissenschaft der Ergonomie mit ihrer Frage nach der „Mensch–Maschine-Einheit“.19 Darauf gehen 74

Abb. 33: „Horsepower Wins Wars“, Anzeige für ein Schleppfahrzeug von Chrysler in Life, 1943. Was sich semantisch auf die Leistungsfähigkeit des Flugzeugs bezog, wird nach 1945 auch die hart­ näckige Maxime der Automobilindustrie sein.

die Maßfiguren „Joe and Josephine“ auf dem Vorsatzblatt von Dreyfuss’ 1955 erschienenem Buch Designing for People zurück. Beispiele wie diese machen klar, dass im Krieg – und nicht nur im Krieg – auch in den USA „Design“ nicht gleichbedeutend mit „Styling“ war. Im Gegenteil, das US -­Design im Krieg bewies durch seine Wandlungsfähigkeit auch seine Leistungsfähigkeit und die Unterstützung, die es für zahlreiche Industrien bedeutete. „Horsepower wins wars!“ lautete eine Anzeige für ein Schleppfahrzeug von Chrysler für Flugplätze – ein Dokument dafür, wie sich zivile Vorzüge in kriegerische Tugenden verwandelt hatten; nach 1945 dann würde die Rückverwandlung in automobile Stärke unversehens wieder zum zivilen Verkaufsargument werden. Zum selben Themenkomplex gehört natürlich auch der „Jeep“, das US -­ Armeefahrzeug der Firma Willy’s, das 1941 aus einem Wettbewerb hervorgegangen war und dessen Name von G. P. (für „General Purpose“, Allzweck) abgeleitet ist. Die Beispiele für eine solche kompromisslose Priorität des Zweckmäßigen wären beliebig zu vermehren. Die Kriegstechnologie brachte auch Gegenstände hervor, die neben ihrer her­ausragenden Brauchbarkeit eine neuartige Ästhetik aufwiesen. Die Kurz­ wellen-Radioempfänger der Chicagoer Marke Hallicrafters waren formal von der Funktionsästhetik des Krieges geprägt und wurden (erst nach 1945) von 75

der amerikanischen Armee als Kommunikationsmittel eingesetzt. Ein Modell für den zivilen Gebrauch wurde von Raymond Loewy in ästhetischer Hinsicht verfeinert, kam 1952 als Hallicrafters Modell S-24 auf den Markt und wurde noch im selben Jahr von Max Bill in seinem Buch FORM. Eine Bilanz über die Formentwicklung im XX. Jahrhundert gewürdigt.20 In einem noch weitergehenden Sinn, da durch die Strömungsgesetze im Flugwesen bedingt, war ein Werkstück wie die Acrylglas-Kuppel im Bug der Bomber der US -Air Force. Als einteilige Werkstücke mit annähernd parabolischer Form aus unterschiedlichen Krümmungsradien, ohne Zwischensprossen und aerodynamisch geformt, ermöglichten sie dem Navigator dahinter ungehinderte Sicht auf sein Ziel und war in ihrem formalen Habitus wie ein Sichtfenster auf eine noch nicht alltägliche, eine werdende Gegenwart. Solche aus einem Stück bestehenden Formen, die nicht mehr auf der Elementargeometrie beruhen, werden die bevorstehenden Jahrzehnte prägen und ein Abb. 34: Bombernase aus Acrylglas, Artikel über die neuen Werkstoffe der plastics in der Zeitschrift Life, 1943. Die neuen Werkstoffe sind ungerichtet (isotrop), einteilig, frei formbar und kündigen eine neue Ästhetik an, bei der die frühere elementare Geometrie durch komplexere Form­zusammen­ hänge ersetzt wird. (Life, Aug. 1943).

76

Abb. 35: Charles Eames und Eero Saarinen: schichtverleimte Beinschienen für die US-Armee, Formsperrholz, 1942. Das körpernahe Material Holz muss aus einzelnen, komplex ausgeschnittenen Furnierlagen aufgebaut werden.

wesentliches Erkennungsmerkmal von Gegenständen sein, die in den kommenden zwei Jahrzehnten mit Auszeichnungen wie Die gute Form bedacht wurden (→ Kap. 20). Am Anfang des Œuvres von Charles und Ray Eames stand die Entwicklung von Beinschienen für verwundete Soldaten der US -Army aus Formsperrholz, die dem Körper weniger Wärme entzogen als die bestehenden Metallschienen. Um die ergonomischen Anforderungen mit komplexen Übergängen zwischen konkaven und konvexen Abschnitten zu erfüllen, mussten dünne Furniere einzeln nach einem ausgeklügelten Schnittmuster zugerichtet und unter Druck verleimt werden. Diese Methode war von den beiden Gestaltern zusammen mit Eero Saarinen bereits 1941 im Wettbewerb „Organic Design in Furnishings“ des Museum of Modern Art in New York erprobt worden und lag wenig später (1946) auch den ersten produzierten Möbeln des Eames’ Studios zugrunde, so dem Esszimmerstuhl in Holz, dem ersten Entwurf eines „Lounge Chair“ und dem runden Clubtisch mit vertieftem Tischblatt. Diese zahlreichen amerikanischen Beispiele ließen sich bestimmt um viele europäische ergänzen. Dass es in Europa, anders als in den Vereinigten Staaten, noch nicht die Prominenz von professionellen Gestaltern gab, denen entsprechende Aufgaben übertragen wurden, erschwert die Berichterstattung. Deutschland baute, wie bereits erwähnt (→ Kap. 18), eine große Zahl vereinfachter „Kriegslokomotiven“ mit einer stark reduzierten Anzahl von Einzelteilen, 77

mit dem doppelten Zweck, den Materialaufwand beim Bau zu verringern und Reparaturarbeiten zu vereinfachen. Eine solche zweckorientierte Einfachheit wiederum war es, die einen durchaus unmilitärischen Geist und Nazigegner wie den jugendlichen Otl Aicher begeisterte. Der spätere Mitbegründer der Hochschule für Gestaltung in Ulm äußerte sich rückblickend über die Emotionen, die in ihm die uneingeschränkte Sachlichkeit von militärischem Gerät ausgelöst hatte. Seine Provokation im Wortlaut: „Kein Auto war je so schön wie der schwimmfähige Kübelwagen der Volkswagenwerke, der für die Wehrmacht entwickelt wurde. Kein Motorrad war so schön wie die geländegängige Beiwagenmaschine mit Boxermotor, die an die Stelle der ehemaligen Ulanenpferde trat. Kriegsgerät hat eine eigene Faszination, vor allem seit im Krieg nicht mehr bunte Uniformen getragen, keine Fahnen mehr geschwenkt werden, seit ein harter Zweckverstand zu einer nackten Offenbarung des Technischen geführt hatte. Ich kannte kein schöneres Behältnis als den blechernen Benzinkanister, leicht gewölbt, abgerundete Ecken, mit Versteifungssicken auf den Breitflächen, einem Hebelverschluss, der in den Gesamtkörper einbezogen war und nicht hervorstand, mit einem Dreistegegriff. So etwas kann nur entstehen, wenn ein Ingenieur ein Objekt entwickeln darf, nur auf Zweckerfüllung angelegt, ohne Rücksicht auf Wohnzimmerkultur und Ladengeschmack. […] Noch marschierte der Infanterist in Knobelbechern mit Sohlen voller Eisennägel, aber schon gab es Profilsohlen aus synthetisiertem Gummi. Schnallen ersetzten den Schnürsenkel. […] Die Technik trat an die Stelle des Handwerks. Das Maschinenprodukt schuf sich eigene Formen für den Maschinenkrieg.“21 Victor Papanek

(→ Kap. 29)

schreibt zu dieser Zeit, zu diesem Sachverhalt und

bezogen auf die Vereinigten Staaten: „Der Bedarf an ehrlichem Design (an nützlichem anstelle von verkaufsförderndem Design) führte zu vernünftigeren und disziplinierteren Ideen als der freie Markt. Extremer Materialmangel zwang die Designer, die weiterhin Konsumgüter entwarfen, sich mehr auf Leistungsfähigkeit, Werkstoffe und die durch den Krieg geschaffenen Zwänge zu konzentrieren. Ein Dreiliter-Topf aus plastikbeschichtetem Karton, der mehrere Stunden Temperaturen von fast 25 Grad Celsius standhalten konnte, abwaschbar und unendlich wieder verwendbar, kostete im Einzelhandel 78

45 Cent – ein hervorragendes Beispiel, das allerdings nach 1945 eigenartigerweise aus dem Handel verschwand.“22 Eine Folge des Krieges waren nach 1945 auch die bedeutenden Konversionsprojekte in den Ländern der Kriegsverlierer, mithilfe derer wieder Arbeitsplätze und Gebrauchsgüter geschaffen wurden; in Deutschland gehörte dazu die Reparatur der Produktionsanlagen, besonders die volle Inbetriebnahme des intakten Volkswagenwerks Wolfsburg, in Italien die Entwicklung der „Vespa“

(→ Kap. 23) ,

in Japan der Aufstieg der optischen Industrie

(→ Kap. 27) .

Die

möglichst rasche Rückkehr der besiegten Länder zu wirtschaftlicher Prosperität lag durchaus im finanziellen Interesse der Gewinner des Krieges.23 Weiterwirken im Design nach 1945 Im zivilen Alltag galt die Aufmerksamkeit auch dem Entwurf von Gegenständen, die einem haushälterischen Umgang mit Energie förderlich waren. Der Dampfkochtopf gestattete ein zugleich energie- und vitaminschonendes Kochen. Auch wenn er ursprünglich eine französische Erfindung des 17. Jahrhunderts war (Denis Papin), waren es auch hier die Vereinigten Staaten, die ihn noch vor dem Krieg als „Flex-Seal“ kommerzialisierten. In der Schweiz wurde er seit 1944 in Lizenz und technisch verfeinert hergestellt und wurde nach dem Krieg als „Flex-Sil“ so populär, dass dieser Markenname für lange Abb. 36: Dampfkochtopf „Flex-Sil“ (US-Patent), Produktion Grossenbacher & Co. Schweiz, 1946. Das Motiv, Energie und Zeit zum Kochen einzusparen, verdankt sich dem Leben im Krieg und wird fortan bestehen bleiben.

79

Abb. 37: Mauritius Ehrlich: „Notzimmer-Garnitur“, Modell Aermo (Schweiz), 1944/1945. Jede Kiste ­enthielt das Nötigste zum Wohnen für eine kleine ­Familie: zwei Betten mit Matratze, Hocker, Schrank, Kochgeschirr. (Bill, Wiederaufbau)

Zeit ein Gattungsbegriff blieb, auch als es ausgereifte Konkurrenzprodukte gab.24 Ebenfalls in der Schweiz erfand Alfred Newerczeczal den „Sparschäler“, der durch bessere Handhabung und Klingenführung weniger Verlust an Gemüse und Früchten zur Folge hatte als die bisherigen Schälmesser. Dies dadurch, dass nicht mehr eine starre Klinge über die Frucht gestoßen, sondern eine bewegliche Klinge darüber gezogen wurde. Dabei war die Klinge zwischen den Enden eines gebogenen Aluminiumbandes gelagert und passte sich dadurch der Oberfläche des Schälgutes an.25 Die beiden Erfindungen kamen relativ spät – kurz vor und nach Kriegsende – auf den Markt, waren aber Produkte der durch den Krieg angeregten Fantasie der Sparsamkeit. Nach dem Ende der Kriegshandlungen ging es an die Bewältigung der Not und an die Umstellung auf die beginnende Nachkriegszeit; die Vorstellung, es hätte von einem Tag zum anderen wieder einen courant normal gegeben, wäre irrig. Eisenbahnlinien waren unterbrochen, ein Fahrplan illusorisch, der Nachschub für Güter des täglichen Bedarfs und für Treibstoffe musste erst wieder in Gang kommen. Unzählige Angehörige suchten einander und abertausende von „displaced persons“ mussten eine neue Bleibe finden. Um die 80

Not dieser Menschen zu lindern, machten Gestalterinnen und Gestalter in verschiedenen Ländern Vorschläge für praktisches und preiswertes Notmobiliar. In Frankreich experimentierte Pierre Jeanneret mit zusammensteckund -klappbaren Möbeln aus dünnen Brettern, Versuche, die leider nicht bis zur Verwirklichung gediehen.26 In der vom Krieg in materieller Hinsicht verschonten Schweiz entwarfen Mauritius Ehrlich und Huldreich Altdorfer in ihrer Firma Aermo GmbH (aus: Altdorfer-Ehrlich-Möbel) ein Kofferset, mit der Zielsetzung, „eine ganze Zimmereinrichtung mitsamt dem für vier Personen notwendigen Koch- und Essgeschirr in einem ‚Colis‘ so raumsparend und rationell als möglich für den Transport unterzubringen“.27 Ein solches Colis, gedacht als Beitrag zur Linderung des Flüchtlingselends im Ausland, umfasste zwei Betten samt dünner Matratze, einen Tisch mit Schublade, einen Schrank, vier Hocker und wog 166 Kilogramm; 50 davon passten in einen Eisenbahnwagen, 30 000 wurden gefertigt, ins Ausland verschickt und leisteten Überlebenshilfe. Wilhelm Kienzle entwarf mit einer vergleichbaren Abb. 38: Wilhelm Kienzle: Notmobilar-­Bausystem, Produktion Strub, 1944. Das Möbelprogramm aus sinnreich zusammensteckbaren Faserplatten und Holzleisten fußte auf dem Baukastenprinzip, kam aber im zerstörten Europa nicht zur Anwendung. (Werk 4/1945)

81

Zielsetzung einen zusammensteckbaren Möbelbaukasten aus leicht gebauten Tablaren, X-förmigen Vertikalträgern und Türchen, die mit Drahtstiften zu Behältermöbeln, Tischen und Pulten zusammengestellt werden konnten. Sie wurden von der Firma Strub produziert, doch fanden sie den Weg ins Ausland kaum, sondern verblieben in der Schweiz und wurden in Kellern wohl als Lagergestelle für Einmachgläser verwendet.28 Im Bauerndorf ­T rogen (Kanton Appenzell-Außerroden) wurde 1947 das Kinderdorf P ­ estalozzi realisiert, ein humanitäres Werk, dessen Architekt Hans Fischli am Bauhaus Dessau studiert hatte. Die Schlafräume wurden mit Tannenholz-Betten, die Klassenzimmer mit Stühlen und Pulten der kurz zuvor gegründeten Schreiner­ genossenschaft „Wohnhilfe“ ausgestattet, deren wichtigster Entwerfer Jacob Müller war. Um mit dem verfügbaren Geld möglichst viele Möbel bauen zu können, verwendete Müller teilweise handelsübliche Besenstiele für Streben und Füße.29 Die Knappheit an Mitteln und die Evidenz der Zwecke brachte allerorts intelligente, in ästhetischer Hinsicht uneitle und umso glaubwürdigere Lösungen hervor. In Deutschland machten die ausgebombten Familien aus militärischem Gerät Kochgefäße und Wasserbehälter. Deren Herkunft und die Oberflächen in Feldgrau oder mit Hammerschlag-Optik spielten keine Rolle, Hauptsache, sie waren irgendwie brauchbar.30 Abb. 39: Kochgerät aus zweckentfremdeten ­Armeebeständen nach Kriegsende, Deutschland 1945. Das Gruppenbild ­dieser Gerätschaften macht die Not ausgebombter ­Familien und die Not-­ Wendigkeit von „Design“ greifbar.

82

Abb. 40: Jacob Müller/Wohnhilfe: Klassenzimmer-Möblierung im Kinderdorf Pestalozzi, Trogen/Schweiz, 1947. Schulpulte und Stühle (und die Betten in den Zimmern) bestanden aus Tannenholz und waren nach ­ökonomischen Gesichtspunkten konstruiert. (Foto Anita Niesz SWB)

In der Sowjetischen Besatzungszone im Osten Deutschlands lagerten bei Kriegsende in den Räumen der Deutschen Werkstätten in Hellerau noch ungenutzte Zylinderflächen aus Sperrholz, die dort zur Verkleidung von V2-­Raketen gefertigt worden waren.31 Der ehemalige Bauhausstudent S ­ alman Selmanagic

(→ Kap. 22)

ließ sie zerschneiden und verwendete sie für mehrere

hundert Rückenlehnen seines „Seminarstuhls“, der in Ostdeutschland bereits vor der Gründung der DDR verbreitet war. Selbst die Vereinigten Staaten, deren Territorium im Krieg – mit Ausnahme von Pearl Harbor – nicht attackiert wurde und die als große Sieger daraus hervorgingen, trugen nicht leicht an der Umstellung auf eine Friedenswirtschaft. Ein Faktor dabei war das Behausungsproblem für die Kriegsveteranen, da der Wohnungsbau während des Krieges fast zum Stillstand gekommen war. Ein Zeitungsausschnitt im Archiv von R. Buckminster Fuller dokumentiert diese „nationale Schande“ als Ausgangspunkt für ein technologisches Konversionsprojekt: Fuller beabsichtigte, die erwähnten Beech-Flugzeugwerke als Herstellerin für ein industriell produziertes Wohnhaus zu gewinnen; ein Vorhaben, bei dem Architektur und Design in Übereinstimmung gebracht worden 83

wären. Doch dieses „Wichita-House“, benannt nach dem Standort von Beech in der gleichnamigen Stadt in Kansas, blieb ein Prototyp, und das Vorhaben kam bald im Sog des beginnenden Kalten Krieges zum Erliegen. Die ingeniösen Anstrengungen, die während des Krieges auf der ganzen Welt unternommen worden waren, um den Gegner niederzuringen, wurden von zahlreichen wichtigen Gestaltern als Ressource gesehen, die in Zeiten des Friedens erst recht zur Blüte kommen sollte. Diese Hoffnungen erfüllten sich großenteils nicht. Nach einer langen Zeit des erzwungenen Konsumverzichts wollte man wieder genießen, und der Code der sparsamen Lösung war bald eher verpönt. Die Blicke und Hoffnungen richteten sich auf einen sorglosen Konsum. Dabei gab es durchaus Produkte, deren Attraktivität gerade in ihrer Strapazierfähigkeit liegt. Die Blue Jeans kamen nach dem Krieg mit den GIs nach Europa – und sie kamen, um zu bleiben. Erfunden und patentiert worden waren sie bereits 1873 von Levi Strauss in Kalifornien (und zwar mit Verzögerung angeregt vom Gold Rush); mit ihrem festen Denim-Gewebe und den Nieten waren sie der Inbegriff von Robustheit. Nun, 70 Jahre nach ihrer Entwicklung, kamen sie mit den US -Soldaten nach Europa, etablierten das Prädikat casual wear auf diesem Kontinent und brachten weltweit die Bügelfalten an Beinkleidern nach und nach weitgehend zum Verschwinden.

84

Anmerkungen

Volkswirtschaften“ [Bundesrepublik Deutschland versus Großbritannien]. Frankfurt a. M. 2009, S. 392–398 24 Die Verbesserung betraf die sogenannte „metalli-

1

Vgl. Arthur Koestler: Die Nachtwandler. Bern 1959,

sche Dichtung“ durch die präzise Fertigung des De-

S. 369. Koestler legt Wert auf die Feststellung, dass

ckels, dank derer ein Dichtungsring aus Asbest (!)

das Teleskop entgegen Galileis Behauptung nicht

des amerikanischen Referenzprodukts entfallen

von diesem erfunden wurde.

konnte. Vgl. Claudia Cattaneo: „‚Flex-Sil‘ Dampf-

2

Life, 8. September 1941, S. 18–19

kochtopf. Bahnbrecher für eine neue Kochmethode“.

3

Jeffrey L. Meikle: American Plastic. New Bruns-

In: Unbekannt – Vertraut. „Anonymes“ Design im

wick, N. J. 1995, S. 148

Schweizer Gebrauchsgerät seit 1920 (Schweizer

4

Life, 17. Juli 1943

5 Ebd.

Design-Pioniere Nr. 4). Zürich 1987, S. 74–85 25 Ebd. S. 134–135

6

Life, 2. August 1943

7

Der Zusammenbau dauerte vom 13. bis zum 23.

Ökonomie der Mittel und die Ästhetik des Notwen-

September 1943. Vgl. Life, 12. Oktober 1942,

digen“. In: Christian Brändle et al. (Hrsg.): 100 Jahre

S. 38 f. 8 9

26 Vgl. Arthur Rüegg: „‚Solutions d’urgence‘ – Die

Schweizer Design. Zürich 2014, S. 163.

Alfred Roth: „Die schwedischen Soldaten zimmern

27 Ebd.

Möbel“. In: Das Werk Nr. 4/1943, S. 126

28 Wilhelm Kienzle (Schweizer Design-Pioniere Nr. 6).

R. Buckminster Fuller: Designing a New Industry. A Composite Series of Talks. Wichita/Kansas 1946, S. 26. Übers. C. L.

10 Life, 5. Juni 1939, S. 26–28 11 Wie Anm. 3, S. 148 12 Roland Barthes: „Eléments de sémiologie“. In: ­Communications (Paris) 1964, No. 4, S. 106. 13 Life, 3. Mai 1943. Zit. bei Meikle (vgl. Anm. 3), S. 126

Zürich 1991, S. 62–64 29 Jacob Müller. Handwerk, Technologie, Experiment (Schweizer Design-Pioniere 5). Zürich 1988, S. 58–60 30 Horst Oehlke: „Design in der DDR“. In: Regine Halter (Hrsg.): Vom Bauhaus bis Bitterfeld. 41 Jahre DDRDesign. Gießen 1991, S. 74 31 Heinz Hirdina: Gestalten für die Serie. Design in der DDR 1949–1985. Dresden 1988, S. 12

14 Wie Anm. 9, S. 39. Übers. C. L. 15 Carroll Gantz: Founders of American Industrial ­Design. Jefferson, North Carolina 2014, S. 119 f. 16 Vgl. Joachim Krausse/Claude Lichtenstein (Hrsg.): R. Buckminster Fuller – Your Private Sky. Design als Kunst einer Wissenschaft. Zürich 1999/2017, S. 250–275 17 Zwei Modell-Installationen des „Pacific War Theater“ für Life sind abgebildet in Rassegna Nr. 60 (­Bologna 1995), S. 10. 18 Gantz (wie Anm. 15), S. 120 19 Ebd., S. 154 20 Max Bill: FORM. Eine Bilanz über die Formentwicklung um die Mitte des XX. Jahrhunderts. Basel 1952, S. 37. 21 Otl Aicher: Innenseiten des Krieges. Frankfurt a. M. 1985, S. 104 f. 22 Victor Papanek: Design für die reale Welt (1971/1983). Wien/New York 2009, S. 46 23 Tony Judt: Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, Abschnitt „Eine Geschichte zweier

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X-19 Lebensmittel, Tötungsmittel Livingry versus Killingry

Sagt der Titel nicht bereits alles? Die Geschichte strotzt von militärischen Entwicklungen, deren zivile Derivate schließlich Eingang in den westlichen, östlichen, nördlichen und südlichen Alltag gefunden haben. Es gibt zwei Möglichkeiten, auf diese Tatsache zu blicken. Die tröstliche Sicht begrüßt das Fließgefälle vieler Anwendungsmöglichkeiten vom Krieg hin zum Frieden, die kritische Sicht beklagt, dass die intensivste Kreativität zuvor dem militärischindustriellen Komplex gegolten hat. Auflösen lässt sich der Widerspruch nur durch die Verbindung der beiden positiven Hälften: die fokussiertesten Anstrengungen für die Sache des Zusammenlebens, die Konvivialität, zusammenzubringen. Als kurz nach 1600 in Amsterdam das Teleskop erfunden wurde, war es nichts weiter als ein Spielzeug. Galilei legte wenige Jahre später dem Senat in Venedig den Ankauf eines von ihm verbesserten Instruments nahe, indem er verhieß, dass sich damit feindliche Schiffe schon von Weitem ausmachen ließen. Damit wurde es unmittelbar nach seiner Erfindung einem kriegerischen Zweck unterstellt. Die Frage der Reaktionszeit war in der Militärstrategie seither eine Schlüsselgröße. In Kap. 2 (Band 1) wurde der optische Telegraf („Semaphor“) nach Chappe erwähnt, ein Kommunikationsmedium, dessen Ursprungsmotiv in vor-elektrischer Zeit ein militärisches Meldesystem war. Als ein neueres bekanntes Beispiel für die Austauschprozesse zwischen Krieg und Frieden gilt die teflonbeschichtete Bratpfanne, an deren Boden nichts mehr kleben bleibt. Dass sie ein Nebenprodukt der bemannten Weltraumfahrt sei (abgeleitet vom Hitzeschild der Raumkapseln) ist eine häufig kolportierte, aber unzutreffende Legende. Das Material Teflon wurde zufällig entdeckt und erstmals im Manhattan Project beim Bau der Atombombe eingesetzt. Auf die Innenseite der Bratpfanne kam es Jahre nach dem Krieg dank der Idee der Ehefrau eines französischen Chemikers. Die beeindruckende Karriere eines ­Derivats: von der chemischen Zufallsentdeckung zur Waffe und weiter in die 86

Küche, also von der Retorte zum Atompilz und später zum Spiegelei. Beide Anwendungen waren Reaktionen auf eine wissenschaftliche Entdeckung. Das Material Teflon wurde nicht erfunden, um die Atombombe zu ermöglichen, sondern seine Eignung dafür wurde erkannt. Beide Fälle betreffen Anwendungen. Ein analoger Fall war der im letzten Kapitel erwähnte Chromnickelstahl, dessen Eignung für Gewehre im Ersten Weltkrieg erkannt wurde. Die militärische Bedeutung der Digitalisierung führte zu den ersten Großrechnern in den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion

(→ Kap. 28),

von denen aus sie den Weg

ins Zivilleben antraten. Und der Wettlauf zwischen den beiden Supermächten im Weltraum war in erster Linie ein Prestigekampf vor dem Hintergrund militärischer Ambitionen. Beispiele für den Weg aus der militärischen in die zivile Zweckbestimmung wären etwa die Pilotenbrille „Ray-Ban“, der britische „Land Rover“ der Farmer als Antwort auf den US -Armee-Jeep oder das „Offiziersmesser“ im Touristengepäck der Rückkehrer aus der Schweiz. Doch man droht, sich bei diesen Beispielen im Dickicht der Einzelfälle zu verlieren. Die Beispiele für eine Wirkung vom einen auf das andere und auch für Wechselwirkungen wären beliebig zu vermehren. Die wichtige Frage ist einzig, was es braucht, damit Menschen ihre Kräfte auf ein lebenswichtiges Ziel bündeln – und welcher Art dieses Ziel ist. Ein Beobachter des Verhältnisses von Technologie und der Entwicklung von Kriegsgerät war R. Buckminster Fuller. Er machte sich keine Illusionen über den bisherigen Gang der Geschichte. Im Aufsatz „Geosocial Revolution“ rief er 1965 zu einer energischen Kursänderung auf, als er feststellte: „Das Waffentum (weaponry), das aus dem Bestreben des Menschen hervorgegangen war, hochgradige Leben-oder-Tod-Krisen in einer Welt von angeblich unvermeidlich divergierenden Prioritäten vorwegzunehmen (Darwins „Überleben des Stärksten“), genoss stets den Vortritt und hatte Zugang zu den am höchsten entwickelten materiellen und geistigen Ressourcen, die die bisher entdeckte und verstandene Lebensumwelt des Menschen zu bieten hat.“ * Was Fuller aber Zuversicht gab, dass die Kursänderung möglich sei, war ein Entwicklungsgesetz, das er hinter der militärischen Kulisse ausgemacht zu haben glaubte und das er so beschrieb: „Nur aufgrund meiner mehr als 87

dreißigjährigen Studien über die weltweiten Ressourcen im Kontext des – wie ich es mit der Zeit genannt habe – ‚livingry‘ im Gegensatz zum ‚killingry‘ ist es mir gelungen, die anfangs erläuterten kausalen Zusammenhänge und die steigende Leistungsfähigkeit der weltweiten Technologie zu entdecken. […] Mitte der zwanziger Jahre wurde mir bewusst, dass die Tendenz auf dem heimischen Produktionssektor, aus immer weniger Material immer mehr zu erwirtschaften, einen zufälligen Nebeneffekt der öffentlich subventionierten Waffenentwicklung darstellte. Ich erkannte, dass die absichtliche Entwicklung dieses Prinzips das Malthus’sche Gesetz des grundsätzlichen Mangels an weltweiten Ressourcen sowie das von Darwin postulierte ‚Überleben der Tüchtigsten‘ widerlegen könnte. Dazu könnte die Entwicklung einer wissenschaftlich begründeten Design-Kompetenz beitragen.“ ** In der „friedlichen Nutzung der Atomkraft“ sah er nicht die Lösung. Mehrere Jahrzehnte später, nach verschiedenen „größten anzunehmenden Unfällen“ (GAU) von Harrisburg, Three Mile Island, Tschernobyl und Fukushima und mit der nach wie vor praktisch ungelösten – moralisch im Grunde unlösbaren – Frage, wohin die radioaktiven Abfälle endgelagert werden sollen, kann auch für uns die Lösung nicht in einer so gefährdenden Technologie liegen. Worin dann? 300 Jahre Kohlen- und Erdölwirtschaft sind nicht so einfach zu überwinden. Es gibt entmutigend viele Länder, deren Wirtschaftsstruktur wesentlich darauf aufbaut. Die Transformation ist eine gewaltige Aufgabe. Doch die Photo­ voltaik, Windturbinen, Gezeitenkraftwerke, Erdwärme-Sonden und Energiespeicher haben sich vielversprechende Positionen erarbeitet. Die Photovoltaik ist wohl auch als ein Nebenprodukt der Kriegstechnologie anzusprechen. Doch die Verhältnisse sind nicht mehr so eindeutig wie noch zur Zeit des Zweiten Weltkrieges. Kriegsbereitschaft geht nun leichter in wissenschaftlichen Forschergeist über und dieser in umweltbewusste Intelligenz im Alltag. Die bemannten Raumkapseln waren ein Nebenschauplatz des Kalten Krieges wie es die Überwachungssatelliten sind, nicht aber die immer zahlreicheren Kommunikationssatelliten im Orbit. Die Photovoltaik, mit denen sie ausgestattet sind, wurde ebenfalls schon seit Jahrzehnten für die Erforschung des Sonnensystems eingesetzt. Solarpanels erzeugen heute noch in sehr großer 88

Distanz von der Sonne genügend Strom, um auf dem Mars Motoren zu betätigen, eine Vielzahl von Daten zu messen und Fotos zur Erde zu funken, sogar noch aus dem lichtschwachen interstellaren Raum. Möglicherweise ist die Bedeutung der Technologie im frühen dritten Jahrtausend so hoch wie noch nie. Vielleicht wäre sogar der Kriegsmodus der geeignetste, um zukunftsfähig zu agieren. Wobei es sich zum ersten Mal nicht um einen Krieg zwischen Völkern handelt, sondern um jenen der geeinten Menschheit gegen ihre eigenen Fehlleistungen: Welthunger, Kinderarmut, Analphabetismus, Ressourcenverschleiß und Klimakatastrophe.

*

R. Buckminster Fuller: „Geosocial Revolution“ (1965). In: Utopia or Oblivion, CH-Baden 2008, S. 217. Übers. C. L.

**

Ders.: „Welt-Design-Initiative“ (Mexico Lecture, 1963). In: Joachim Krausse/Claude Lichtenstein (Hrsg.): R. Buckminster Fuller – Your Private Sky: Diskurs, CH-Baden 2001, S. 286

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20 Vom Konstruieren zum Modellieren Max Bill und „Die gute Form“

Noch bevor die gröbsten Verheerungen des sechsjährigen Krieges beseitigt und die existenzielle Not großer Teile der Bevölkerungen wenigstens fürs Erste überwunden waren, machte sich im westeuropäischen Alltag eine vorsichtige Zuversicht bemerkbar. Die Konsumgüterproduktion nahm langsam wieder Fahrt auf, Wünsche formierten sich am Familientisch: nach einem Kühlschrank, einer Waschmaschine, einer Leselampe, einem Wärmestrahler oder einem Grammophon. Vieles lag noch außer Reichweite. – So könnte dieses Kapitel beginnen. Aber so einfach, dass man mit einer anderen Linienführung sich in eine andere Zeit hineinbewegte – die angebliche „Stunde Null“ –, lagen die Verhältnisse nicht. Die Warenhäuser füllten sich zwar wieder mit Gegenständen, jedoch mit solchen, die sowohl nostalgische Aufwallungen über so viel Unschuld oder aber Abscheu vor dem sentimentalen Geschmack hervorrufen: Das ideologische und militärische Braun war weg, doch an den erträumten Dingen blieb davon eine Kruste aus antrainierten Bewertungsreflexen zurück. Man setzte im vorherrschenden Mangel „Wertigkeit“ mit Repräsentativität in Material, Form und dekorativem Aufwand gleich. Auch in gestalterischer Hinsicht war 1945 keine „Stunde Null“. Doch bereits 1950 gehörte das Adjektiv „formschön“ zum allgemeinen Sprachgebrauch. In wenigen Jahren waren zusammen mit einer jugendlicheren Formensprache der Dinge neue Wörter im Sprachgebrauch heimisch geworden: „neumodisch“, „modern“, „originell“, „dekorativ“, „geschmackvoll“. Die Fachzeitschriften der gestalterischen Eliten verstanden zwar meistens etwas anderes darunter als die populären Illustrierten. Doch ein neuer Brausenkopf, ein Wasserhahn oder ein Handwaschbecken sahen nun anders aus als vor dem Krieg, desgleichen ein Telefon, ein Vorhangmuster, ein Küchenmixer, ein Kochherd oder eine Schreibmaschine. Oft galt „Amerika“ als Absender der veränderten Formen, die in Begleitung von neuen Materialien, anderen Fertigungsmethoden und neuen Formen des 90

Abb. 41: Die formale Entwicklung des Telefonapparats von 1900 bis 1950. Vom Funktionieren einzelner Komponenten und Materialien zu deren Inte­ gration als synthetische Ganzheit. (Braun-Feldweg, Gestaltete Umwelt)

Gebrauchs ankamen – selbst dort, wo der Ursprung einer Form ganz und gar in Europa lag. Der deutsche Gestalter Wilhelm Braun-Feldweg stellte 1954 in einem Bildvergleich drei Telefonapparate aus einem halben Jahrhundert nebeneinander und kommentierte ihn mit den Worten: „Das Nebeneinander von Tisch-Fernsprechern aus verschiedenen Jahren spricht für sich selber. Der Austausch von Werkstoffen (von Holz und Blech zum Kunststoff) erklärt manches, doch die zwingenden Anstöße zur Umformung liegen tiefer, sie sind eindeutig schöpferischer Art.“1 Kunststoffe ermöglichten nunmehr die fast beliebig freie Modellierung von Gegenständen und Gehäusen, bei denen konvexe und konkave Partien nahtlos ineinander übergingen. Der Telefonapparat von 1930 war additiv aus einzelnen Funktionselementen zusammengesetzt: aus Gehäusesockel, Gabel, Sprech- und Hörmikrofon sowie dem Griff. Nun aber ermöglichte die industrielle Verarbeitung von Kunststoffen die Modellierung des Gegenstandes aus komplex geformten Teilen als daraus resultierende, einteilig wirkende Schalenform. Dadurch, dass eine Oberfläche nun frei zwischen konkav und konvex wechseln konnte, erhielt sie eine höhere Steifigkeit. 91

Das additiv-komponierende Denken der Vorkriegsmoderne, dessen Grundlage die Einzelanalyse der Komponenten und ihrer funktionalistischen Konfiguration war, hat einem synthetisierenden und modellierenden Gestus Platz ­gemacht. Dabei änderte sich die formale Erscheinung der Gegenstände tiefgreifend – so wie es die USA bereits vorgemacht hatten

(→ Kap. 17) .

Braun-Feld-

wegs Erwähnung der „geistig-schöpferischen“ Dimension bezieht sich auf den Willen zur Verschmelzung von Teilen zu einem modellierten Ganzen – ein Gedanke, der sich fundamental von der avantgardistischen Idee der Montage von Elementen unterscheidet. Dabei spielte auch die rationellere Arbeitsweise in der Industrie, die sich in durchdachteren Arbeitsvorgängen und in der Tendenz nach weniger Einzelteilen äußerte, eine nicht zu unterschätzende Rolle. Ein Grund für das andere Verhältnis der Teile zum Ganzen war auch die Verfügbarkeit komplexerer Fertigungswerkzeuge wie Tiefziehpressen oder Formen für Duroplast-Produkte. Braun-Feldwegs Aussage bringt die Sphären des Materials, der Formgestaltung und der Herstellung in einen Zusammenhang und hebt sie über die äußerliche Mode hinaus auf eine ideelle Ebene: die widerspruchsfreie Gestalt aus Funktion, Materialwirkung und Form. Form: Membran zwischen innen und außen Dieselbe Symptomatik beschäftigte den deutschen Designer Dieter Oestreich, der 1953 mit seinem Aufsatz „Formtendenzen unserer Zeit“ ihren geistigen Hintergrund auszuleuchten suchte. Er erkannte im neuen Prinzip des „Plastisch-Organischen“ die neue Synthese und ein „neues Körpergefühl“ aus dem früheren Gegensatz zwischen dem „muskulös-gespannten“ Prinzip des Jugendstils und dem „Konstruiert-Scharfkantigen“ der neuen Sachlichkeit. Oest­reich schreibt: „Erst heute, nach dem Zweiten Weltkrieg, zeichnet sich eine Tendenz zur Synthese ab: Die Konstruktion beginnt, als Skelett in die plastische Form hineinzuwandern (im Jugendstil war diese fast nur Muskel), deren gespannte Oberfläche zu einer elastischen Haut wird, die knapp anliegt wie das Trikot auf dem Körper einer Tänzerin.“ Er schließt mit der Feststellung, dieses neue plastische Gefühl habe nichts vom Schwellenden des Barocks, sondern sei „in seiner Straffheit und Schlankheit unserer Zeit durchaus eigen“.2 Mit der Fotografie der Filmschauspielerin Leslie Caron im Trikot 92

Abb. 42: Das „neue plastische Gefühl“ in einer Analogie: Inneres und Äußeres der Gestalt sind widerspruchsfrei im dynamischen Gleichgewicht. Die Schauspielerin Leslie Caron in der Analyse von Dieter ­Oestreich. (Werk 6/1953)

Abb. 43: Franco Legler: Prototyp einer Stehleuchte – auch hier die dynamische Balance. Das direkte Vorbild für „Tizio“ von Richard Sapper und Marco Zanuso (1970) – oder ein Beispiel für die Eigenlenkungskraft stringenten Entwerfens? Beides ist möglich. (Bill, Form)

setzt er die Überlegung effektvoll ins Bild. Zur menschlichen Figur in Aktion lassen sich tatsächlich zeitgenössische Gegenstände finden, die den Gedanken der leistungsfähigen Strukturform, der dynamischen Kräfteverhältnisse und des Schalenprinzips abbilden, auch dort, wo die Konstruktion in Wirklichkeit noch nicht wirklich die selbsttragende Form war: der geschweifte Rumpf des Passagierflugzeugs Lockheed Constellation

(→ Abb. 30) ,

der Vespa-

Roller, der erste Porsche-Sportwagen – den Oestreich senkrecht von oben abbildet – und schließlich in seiner reinsten Form, doch wesentlich später, der S-Chair von Verner Panton (1967). Denselben Gedanken der Strukturform impliziert auch Raymond Loewy bereits mit der ersten Abbildung in seinem 93

Abb. 44: Der erste Porsche-Sportwagen beruhte auf der technischen Basis des Volkswagens, konnotierte in formaler Hinsicht jedoch die Zuversicht der Nachkriegszeit. (Werk 6/1953)

1951 erschienenen Buch Never Leave Well Enough Alone (1953 deutsche Ausgabe: Hässlichkeit verkauft sich schlecht). Er drückt seine Bewunderung für das Hühnerei aus und dessen ingeniöse, so dünne und doch erstaunlich beanspruchbare Kalkschale mit der perfekten formalen Spannung, die daraus erwächst. Braun-Feldweg und Oestreich sprechen hier von deutschen Produkten. Doch ihre Argumente sind von internationaler Geltung und sind Variationen von Darstellungen, die kurz zuvor von Max Bill vorgelegt worden waren, zunächst mit Blick auf die Schweiz, bald aber über sie hinaus. In einer Zeit, als Gestaltung noch kaum als ein eigenständiges Thema wahrgenommen wurde, sondern als Derivat des Kunstgewerbes galt, trug Bill mit seiner Wanderausstellung Die gute Form (1949) und seinem daraus hervorgegangenen Buch Form (1952) wesentlich dazu bei, dass es sich zu einer Thematik von internationaler Ausstrahlung entwickelte. 94

Weitere Anstöße zur Propagierung eines neuen gestalterischen Bewusstseins gab es damals in verschiedenen Ländern gleichzeitig: in Frankreich (Formes utiles), in Ost- und Westdeutschland, in Italien und England. In Ostdeutschland zum Beispiel wurde im Januar 1949 die Bildung einer Kommission zur Leipziger Messe angeregt, „welche über die industriellen Erzeugnisse der angewandten Kunst […] detaillierte Gutachten ausarbeiten wird, um damit den volkseigenen Betrieben Hinweise zu geben, wie sie material- und energiesparender eine zweckmäßigere und damit auch schönere Formgestaltung erzielen können, dies im Hinblick auf die Bedürfnisse der Bevölkerung wie auch im Hinblick auf den Export.“3 Diese Anregung erfolgte gleichzeitig mit Bills Realisierung seiner Ausstellung, die im April 1949 eröffnet wurde. Das Setting der Ziele, ihrer Verknüpfung und kausalen Reihenfolge ist in dieser Erklärung bereits vollständig ausgebildet und eng mit dem von Bill verwandt: eine ressourcen- und arbeitssparende, funktionelle, ästhetische und infolgedessen wirtschaftlich erfolgreiche Gestaltung von Gütern. Ist diese gelenkige Geometrie von interdependenten Kriterien stichhaltig? Die Frage wird hier am Beispiel der Ausstellung Die gute Form diskutiert, deren Urheber zu den Protagonisten der Gestaltung nach dem Zweiten Weltkrieg zählt. Bills Initiative entfaltete eine Wirkung weit über die Schweiz hinaus und möglicherweise bis nach New York. Das Museum of Modern Art war von Bill über seine Absichten in Kenntnis gesetzt worden und begann selber im Januar 1950 mit einer Ausstellungsreihe unter dem Titel Good Design, in der es über modernes Mobiliar hinaus um die Gestaltung von Gerät und Hauhaltartikeln ging.4 Die Entstehungsgeschichte Die Leitung des Schweizerischen Werkbunds (SWB) wurde schon bald nach 1945 von besorgten Kollegen im soeben wieder gegründeten Deutschen Werkbund (DWB) darauf aufmerksam gemacht, dass sich in der Bevölkerung eine nostalgische Einstellung gegenüber ihren verlorenen Besitztümern und damit nach der Vergangenheit zeige.5 Die Schweiz galt für Deutsche als neutraler Kleinstaat und unversehrter Nachbar mit einer zuverlässigen ­Demokratie auch als moralisch intakt (und sie gefiel sich in dieser Rolle). Die Geschäftsführung des DWB ersuchte die schweizerischen SWB -Kollegen um Rat, was 95

Abb. 45: Max Bill: internationale Wanderausstellung Die gute Form in ihrer ersten Station in Basel, 1949. Die 80 Tafeln waren zusammen mit ihren Rahmenhalterungen in einer freien Grundrissfigur in den Raum gestellt. (Foto Ernst Scheidegger)

gegen die aufkommende Sentimentalität zu tun wäre. Das weitgehende Fehlen einer Repräsentationskultur in der Schweiz dürfte dabei ein Beweggrund gewesen sein. Daraufhin entwickelte der SWB im Winter 1947/1948 die Idee einer „didaktischen Wanderausstellung“ für die Schweiz und das Ausland, mit deren Durchführung er den profilierten Künstler, Architekten und Gestalter Max Bill beauftragte.6 Die Ausstellung entstand unter großem Zeitdruck und wurde unter dem Titel Die gute Form im April 1949 in Basel an der Schweizerischen Mustermesse eröffnet, worauf sie nach Deutschland, Österreich und in die Niederlande weiterreiste. Ihre Wanderschaft dauerte bis 1951.7 Bill war damals bereits in die Planung der „Hochschule für Gestaltung“ in Ulm einbezogen8

(→ Kap. 21).

Er

hatte 1936 für den SWB mit der aufregenden Gestaltung der „Sezione Svizzera“ auf der 5. Mailänder Triennale Furore gemacht.9 Während des Krieges hatte er erste Erfahrungen als Industriedesigner gesammelt, unter anderem mit der formalen Überarbeitung einer Schreibmaschine und mit Pendelleuchten, worüber er 1946 in der Zeitschrift Werk berichtete.10 96

Die Wanderausstellung Die gute Form bestand aus 80 Tafeln mit je drei Beispielen. Bill hatte für die Tafeln eine Halterung aus leichten Holzleisten-­ Rahmen entwickelt, die untereinander verbunden in einer freien Kurve aufgestellt waren.11 Aus dem Publikumserfolg entwickelte sich die Idee, in der Schweiz eine alljährliche Auszeichnung vorbildlich gestalteter Produkte durchzuführen, was mit dem Label Die gute Form SWB 1951 zum ersten Mal stattfand .12 Andere Länder führten ähnliche Auszeichnungen ein: Frankreich die Formes utiles,13 Italien den Compasso d’oro des Warenhauses La Rinascente,14 Deutschland den Bundespreis gute Form sowie die Auszeichnung Industrieform. In New York adelte das Museum of Modern Art erstmals 1950 unter dem Titel Good Design ausgewählte Produkte. Von 1938 bis 1947 hatte das MoMA kleine Ausstellungen unter dem Titel Useful Objects mit preiswerten Gegenständen für Abb. 46: Max Bill: Die gute Form, Ausstellungstafel aus der thematischen Gruppe „Formen des Wohnens“, hier mit drei Sesseln: Mies van der Rohe 1929, Eero Saarinen 1947 und der anonyme „Kolonialsessel“, 1949.

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junge Familien und Minderbemittelte veranstaltet. Mit dem neuen Titel Good Design – inspiriert von Die gute Form? – verband sich gegenüber Useful Objects eine andere Ausrichtung: An die Stelle der Preiswertigkeit war die Ästhetik getreten (Kriterien: „Eye appeal, function, construction and price, with emphasis on the first“, wie zu lesen war).15 Das klingt von heute aus wenig aufregend; wir haben das alles mehrfach gehört. Für die Zeitgenossen im Europa nach 1945 war das anders. Es hatte in der Zwischenkriegszeit die „Neue Sachlichkeit“ gegeben, die dann von den (kultur)politischen Ereignissen hinweggeschwemmt wurde. Nun musste man sich wieder neu orientieren. Aber woran? Max Bill nahm im Verlauf des Projekts eine wichtige Neubewertung vor. Sein ursprünglicher Projekttitel lautete im Frühling 1948: „zweck + konstruktion = form“. Er sah vier Abteilungen vor: „1. Formen der eindeutigen Funktion, 2. Formen des Bauens, 3. Formen des Wohnbedarfs, 4. Formen im täglichen Leben“.16 Anfang 1949 wurde der Titel vorübergehend geändert in „Funktion und Form“, bis dann mit „Die gute Form“ der neugierig machende Titel gefunden war. Bill hatte in der Zwischenzeit erkannt, dass die „Formen der eindeutigen Funktion“ – gerade wegen ihrer Eindeutigkeit – uninteressant sind. Und dass eine Sache erst da interessant wird, wo eben Zweck + Funktion ≠ Form ist: wo also diese Gleichung nicht so ohne weiteres zutrifft. Im Herbst 1948 hielt Bill vor seinen schweizerischen Werkbund-Kollegen den Vortrag „Schönheit aus Funktion und als Funktion“. Darin sagte er: „Wenn wir besonderen Wert darauf legen, dass etwas schön sein soll, so deshalb, weil uns auf die Dauer mit der reinen Zweckmäßigkeit im eingeschränkten Sinn nicht gedient ist, denn […] diese sollte selbstverständlich sein. Die Schönheit aber ist weniger selbstverständlich, und die Ansichten über Schön und Nichtschön scheinen öfters auseinanderzugehen. Deshalb bleibt als leichtere Forderung immer wieder die Zweckmäßigkeit. Das Streben nach Schönheit ist aber weit mühevoller; die Anstrengungen sind größer, und solche Anstrengungen erfolgen nur unter bestimmten Voraussetzungen, dann, wenn die gestalterischen Kräfte in der Lage sind, die Formidee mit den praktischen Aufgaben harmonisch zu verbinden [Hervorhebung Bill]. Es braucht also zwei Voraussetzungen: erstens die Aufgabe und zweitens die Fähigkeit der ­Gestaltung.“17 98

Bills Vortrag erregte im SWB heftigen Protest. Wie lässt sich das erklären? Dessen offiziöses Argumentarium war noch immer die Avantgarde-­R hetorik der 1920er-Jahre, die sich etwa in lobenden Abbildungen von einem Automotor oder der Ehrlichkeit eines Raupenfahrzeugs geäußert hatte. Bill ging über jene Art von kategorischem Lob für die Technik als instinkt­sichere Gestalterin hinaus und wog die Gegenstände individuell auf ihre formale Qualität hin. Er widersprach damit dem noch immer geltenden Werkbund-Theorem, wonach Materialgerechtigkeit, konstruktive Richtigkeit und Zweckmäßigkeit hinreichende Voraussetzungen für Schönheit seien. Auch machte Bill die Fertigungsgerechtigkeit zum Kriterium. Nördlich der Alpen war dies in intellektueller Hinsicht neu. Das empfindlichste Tabu war vermutlich Bills Betonung der „Formidee“: die Erkenntnis, dass man auch beim vernunftgeleiteten Entwerfen nicht von selbst zur formal überzeugenden Lösung geleitet wird, sondern eine aktive Rolle, die des kritischen Gestalters, einnehmen muss. Was darunter zu verstehen ist, hatte er zuvor im Zusammenhang mit seinem ersten Auftrag als Industrial Designer, dem Re-Design der Schreibmaschine „Patria“ (1944), beschrieben. Es seien, schrieb Bill 1946, dabei verschiedene Kämpfe zu bestehen gewesen. „So zum Beispiel […], wenn man das Typische der Maschine, den Typenkranz, in seiner Wölbung besonders ausprägt.“ Und er fuhr fort mit der Voraussage: „Und doch sind es gerade diese Überlegungen, die ein Fabrikat vom anderen abheben können; denn mit der Zeit werden ohnehin alle diese Maschinen ähnlich aussehen und sich nur durch typische Merkmale unterscheiden können.“18 Für Bill ist folglich die Suche nach einem überzeugenden Distinktionsmerkmal kein Widerspruch zur „recherche d’un standart“, vielmehr eine daraus folgende Notwendigkeit. Er sieht damit die Rolle des Industriedesigners differenzierter als Sigfried Giedion, der von seinem langjährigen Amerikaaufenthalt die skeptische Überzeugung nach Europa zurückbrachte, der Designer sei generell der Versucher und Einflüsterer, der den Industriellen vom richtigen Weg abzubringen suche. Giedion: „Auf der einen Seite glaubt der Geschäftsmann dem Ingenieur, der weiß, wie eine Sache zu konstruieren ist, und auf der anderen Seite hört er vertrauensvoll auf den Rat des industriellen Designers.“19 Der Ingenieur und der Designer sind in dieser Sichtweise Opponenten; Giedion beleuchtet 99

Abb. 47: Max Bill: Skizze zu seinem Re-Design der ­Patria-Schreibmaschine des Herstellers Aug. Birchmeier, Schweiz 1944. Bill suchte eine in sich schlüssige und widerspruchsfreie Form, soweit es die bestehende Mechanik zuließ. (Werk, 5/1946)

mit der supponierten Oppositionsstellung das amerikanische Industriedesign generell unter dem Begriff des „Streamlining“ und somit als „Styling“, während er dem Ingenieur unverbrüchliches Know-how zubilligt. Dabei waren es in Wirklichkeit schon damals oft Designer, von denen entscheidende Impulse zu einer sinnvolleren Konstruktion ausgingen (→ Kap 17, X-17 und Kap. 19) . Bill ist aufgeschlossener, selbst wenn auch er Probleme der amerikanischen Praxis anspricht. Doch für ihn ist hohe gestalterische Qualität in jedem Fall eine Anforderung, die ihre eigene Aufmerksamkeit verdient: „Der ‚Industrial Designer‘ wird auch bei uns kommen, ähnlich wie der Reklame-Grafiker, der sich aus dem mit Grafik beschäftigenden Maler entwickelt hatte und heute ein selbstständiger Beruf geworden ist.“20 Zurück zu Vitruv Bill revidierte folglich während seiner Ausstellungsvorbereitung die avantgardistische Maxime der Moderne, der noch der ursprüngliche Projekttitel „zweck + konstruktion = form“ entsprochen hatte. Das Denken der VorkriegsAvantgarde war zweipolig: „Funktion plus Konstruktion gleich Schönheit“. Bills Vortrag „Schönheit aus Funktion und als Funktion“ vom Herbst 1948 war das Zeichen dafür, dass er im Grunde zum klassischen vitruvianischen Dreipol zurückgekehrt war, bei dem die Schönheit ein Teil der Aufgabe ist und nicht das zwangsläufige Resultat aus der Funktionalität. Die drei Bedingungen des spätantiken Architekten Vitruv für ein gelungenes 100

Bauwerk – Nützlichkeit, Solidität, Schönheit – sind demzufolge nicht in eine mathematische Gleichung von drei Termen zu gießen (A + B = C), sondern sind ein Komplex von Anforderungen, von denen jede einzelne als Teil der Aufgabe zu erfüllen ist: A, B und C sind gemeinsam die Voraussetzungen für einen gelungenen Entwurf. Bill überträgt diese Formel auf die Gestaltung von Gebrauchsgegenständen. Im Begleitprospekt zur Basler Ausstellung erklärte Bill dem Publikum die Bedeutung ihres Titels: „Unter einer guten Form verstehen wir eine natürliche, aus ihren funktionellen und technischen Voraussetzungen entwickelte Form eines Produktes, das seinem Zweck ganz entspricht und das gleichzeitig schön ist.“21 Das war eine eingängige, doch nicht eben luzide Formulierung. Was heißt „gleichzeitig schön“: deshalb schön oder zudem schön? Die Frage bleibt offen. In der Sache jedoch wollte Bill dem Publikum begreiflich machen, dass die Kongruenz von Funktionalität und Ästhetik sich nicht von selbst einstellt, sondern herbeigeführt werden muss. Er suchte, die Ästhetik als eine Gegenstandseigenschaft zu beweisen, worauf alle ein Anrecht haben. Mit dem Buch Form, von ihm selber souverän gestaltet und 1952 in Basel dreisprachig erschienen, ließ Bill eine als „persönlich“ bezeichnete Systematisierung der Erkenntnisse aus seiner Arbeit an der Ausstellung folgen. Der Untertitel Eine Bilanz der Formentwicklung um die Mitte des XX. Jahrhunderts war das Zeichen dafür, dass Bill eine lebhafte Entwicklung seit dem Kriegsende im Gange sah. Bills Einleitung war Ausdruck seiner eigenen Erkundung des anspruchsvollen Themas der Ästhetik. Ein zentraler Abschnitt daraus lautet: „Form ist das, was wir im Raum begegnen [sic]. Form ist alles, was wir sehen können. Doch wenn wir das Wort Form hören oder den Begriff denken, dann bedeutet er doch mehr als nur ein Etwas, das zufällig besteht. Wir verbinden mit dem Begriff Form von vornherein eine Qualität. Wir unterscheiden, ob es eine hässliche Form sei oder eine schöne, wobei es uns sehr viel selbstverständlicher erscheint, dass eine Form schön sei, als hässlich. Wir kritisieren die Form immer nach dem Argument des Schönen, ja des beabsichtigt oder erwählt Schönen. Wenn wir von den Formen der Natur sprechen, so denken wir an solche, die besonders vollkommen sind. Wenn wir von den Formen der Technik sprechen, dann sind es nicht irgendwelche Formen, sondern 101

solche, die ganz speziell als gültige Form empfunden werden. Dass wir bei einem Kunstwerk die Frage der Form weniger in ihrem alltäglichen Sinn verwenden, sondern im Zusammenhang mit den speziellen Stilmerkmalen des Kunstwerkes, bedeutet, dass Form überhaupt ein unersetzbarer Bestandteil des Kunstwerkes ist, ja, dass ein Kunstwerk ganz ausgesprochen seiner Form wegen ein Kunstwerk ist. Dies heißt also, dass Form in ihrer autonomsten Existenz eine Idee repräsentiert und dadurch identisch wird mit Kunst. Dies wäre denn auch die Erklärung dafür, dass Form immer vergleichsweise zu etwas anderem als schöner oder weniger vollkommen gewertet wird und dass letzten Endes sowohl für Form wie für Kunst die vollkommene Schönheit als Maß gilt. Also will Form letzten Endes Schönheit bedeuten.“22 In diesem Gedankengang liegt der Keim einer Grundlegung der Ästhetik und auch von Bills Unterricht in Ulm einige Jahre später. Für ihn war die Schönheit eines Gegenstandes eine ontologische und intersubjektive Tat­sache, nicht nur eine Angelegenheit des individuellen Geschmacks. Bills didaktische Bemühungen, wenig später in Ulm, kamen aus seiner Überzeugung, dass sich über formale Qualität sehr wohl reden lässt. Er beobachtete das Verhalten von Menschen, die sich über eine bestimmte Gegenstandsform unterhalten und etwa bemerken: „Das ist aber nicht schön!“ und erkannte darin das Indiz einer enttäuschten Schönheitserwartung. Er folgerte daraus: Jedem Menschen ist eine immanente Erwartung des Ästhetischen eigen. Der Philosoph und Logiker Max Bense griff einige Jahre später in Ulm den Gedanken auf und entwickelte daraus, auch unter direktem Bezug auf Bill, sein anspruchsvolles Werk Aesthetica, in dem er dem Ästhetischen den Terminus der „Mitrealität“ zusprach. Bense schreibt: „Das ästhetische Sein eines Kunstwerks existiert niemals imaginativ. Ästhetisches Sein gibt es also nicht im Zustand der Mitidealität, nur im Zustand der Mitrealität. Die Konzeption, die der Künstler vor dem Beginn seiner Arbeit vom Werk besitzt, bezieht sich nicht auf die Schönheit dieses Werkes, sie bezieht sich nur auf die Mittel, auf die Realien, durch die das Schöne hervorgebracht und wahrnehmbar wird. Es gibt keine Vorstellung vom Schönen, es gibt nur seine Herstellung und seine Wahrnehmung.“23 Wie das Licht erst sichtbar wird, wo es auf ein Hindernis auftrifft, braucht das Ästhetische ein Trägermedium – den Gegenstand –, in 102

Abb. 48: Helen Haussmann: Vase, in ihrer Ästhetik und Harmonie gewürdigt von Max Bill im Buch Form, 1952. Die spannungsvolle Form aus ineinander übergehenden konvexen und konkaven Partien ist ein Produkt der Intuition.

dem es sich manifestieren kann. Und wo sich etwas manifestiert, lässt sich darüber sprechen. In den 1920er-Jahren nannte man eine kugelförmige Lampe kaum „formschön“, denn die Kugelform ist objektiv gegeben, ihre Absolutheit verschließt sich einer persönlichen Wertung und hat mit subjektivem Empfinden nichts zu tun. Nach 1945 hingegen suggerierte das Prädikat „formschön“ ein ästhetisches Einverständnis und suchte gleichsam die Begründung hinter der Subjektivität. Im Unterschied zu einer Bauhaus-Kugelleuchte ist eine anmutige Vase aus etwa dem Jahr 1945 ein präzises Beispiel für das Attribut „formschön“, ihre Form war nicht objektiv gegeben, sondern erwählt. Bill schreibt zu einer Arbeit der Keramikerin Helen Haussmann: „Form und Glasur sind von äußerster Übereinstimmung. Die vollkommene Schönheit drückt sich hier in der letzten Einfachheit aus.“24 Dies ist etwas anderes als die geome­ trisch beschreibbare Elementarform der Avantgarde in der Zwischenkriegszeit. Bills Behauptung der „vollkommenen Schönheit“ und der „letzten Einfachheit“ ist nicht objektiv beweisbar, hingegen sucht sie Einfühlung und Einverständnis beim Betrachter, also eine Übereinstimmung der Wertvorstellungen, die das gewürdigte Objekt durch sein So-Sein bewirkt. Sensibilisierung des Publikums: Dies war das Motiv von Die gute Form.25 In einer 1957 erschienenen Broschüre über Die gute Form SWB vereinfachte Bill seine Definition des Begriffs, subsumierte das ästhetische Geschehen unter dem Prädikat der Harmonie und führte zum Stichwort „ästhetische 103

Einheit“ aus: „Die Form eines Gegenstandes soll, über die nur materielle Zweckerfüllung hinaus, nicht nur das zwangsläufige Ergebnis der eng begrenzten Zweckerfüllung sein, sondern die Gesamtheit der zu erfüllenden Funktionen soll zu einem harmonischen Ganzen geformt sein und dadurch einen ästhetisch einwandfreien Gesamteindruck erwecken.“26 Damit verschiebt sich der Diskurs wieder ins Allgemeinverständliche. Bill definiert den Status des Gegenstandes als Kulturgut mit den Worten: „Die ästhetische Funktion als sichtbarer Ausdruck der Einheit aller Funktionen ist das entscheidende Argument dafür, ob ein Gegenstand über seine reine Zweckerfüllung hinaus zu den Kulturgütern unserer Zeit gerechnet und demzufolge als Die gute Form ausgezeichnet werden kann.“27 Was uns einleuchtend erscheint, damals jedoch in den deutschsprachigen Ländern für Diskussionen sorgte, war andernorts überhaupt nicht kontrovers. In Italien verursachte die Legitimität der Formbestimmung als Teil der Aufgabe keinerlei Bauchschmerzen (→ Kap. 23) . Auch Herbert Read hatte bereits 1934 die Ansicht, Schönheit folge zwingend aus der Funktionalität, als falsch bezeichnet.28 In Italien fehlte der Auseinandersetzung zwar die analytische Tiefe, dafür war sie auf der intuitiven Ebene umso zuverlässiger. Marcello Nizzoli, der verantwortliche Formgestalter bei Olivetti, beschrieb die Arbeit des Designers als eine ständige Verpflichtung zur respektvollen Verständigung mit den Technikern, um das technische Innenleben des Geräts mit den ästhetischen Ansprüchen des Gestalters in Übereinstimmung zu bringen

(→ Kap. 23) .29

Wie Nizzoli sah Bill das

Entwerfen als Aufgabe, Funktion und Form in Übereinstimmung zu bringen – was nicht von selbst geschieht, also nicht deterministisch gedacht ist –, und wie Nizzoli war er der Überzeugung, dass dieser anspruchsvolle Prozess unter der Führung des Gestalters stehen soll. In dieser Vorstellung einer zu bewahrenden Hierarchie lag der Hauptgrund für den „Bill-Streit“ in Ulm (→ Kap. 21) . Eine normative Ästhetik? Jede der 80 Ausstellungstafeln von Bills Wanderausstellung enthielt drei ­Beispiele und sehr knapp gefasste Kommentare; sie wurden 2014 vollständig publiziert und interpretiert.30 In Bild und Text forderten sie das Publikum auf, die Überlegungen nachzuvollziehen (→ Abb. 45 und 46) . Dasselbe gilt von Bills Buch 104

Abb. 49: Die portable Nähmaschine Elna mit Freiarm: ein erfolgreicher Export­ artikel. Das DruckgussAluminiumgehäuse ergab ein geringes Gewicht. ­Integrierte Beleuchtung, stufenlose Geschwindigkeitsregulierung mittels Kniehebel. Prospekt-Titelseite, um 1950.

Abb. 50: Die Elna-Näh­ maschine mit dem zum Nähtisch ausgefalteten Blechkoffer mit Schrumpflack-Oberfläche.

105

Form mit seiner nochmals geschärften Auswahl von Beispielen. Später wurden die Aktion Die gute Form SWB und ihre internationalen Pendants gelegentlich mit dem Vorwurf konfrontiert, dem Publikum eine „normative Ästhetik“ aufzudrängen. Bill kann man diesen Vorwurf nicht machen. Die kaleidoskopische Vielfalt und Heterogenität seiner Auswahl und seiner Begründungen widerlegen ihn: Die Argumente sind überprüfbar, sie wollen überzeugen, nicht überreden. Sie wollen das Publikum anregen, eine eigene Aufmerksamkeit für Qualitäten zu entwickeln. Da den kommentierten Objekten das unterschiedlichste genetische Material innewohnt, sehen sie auch sehr unterschiedlich aus. Man betrachte etwa die Tafel mit dem Barcelona-Sessel von Mies van der ­ aarinens Schalenfauteuil: Sie Rohe, dem anonymen Kolonialsessel und Eero S sind von ganz verschiedener Art. Bill lässt keine Bevorzugung einer bestimmten Art erkennen und gibt keine stilistische Richtung vor. Die Vielfalt der Fälle, der Formen, der Funktionen und der Begründungen, die Pluralität der Erscheinungen und Sinngebungen sperren sich gegen jeden deduktiven Zugriff. Und sie bestätigt, was hier andernorts bereits betont wurde

(→ X-5):

Die Funk-

tion eines Gebrauchsgegenstandes ist nicht a priori vorgegeben, sondern ist – wie die Form, das Material und die Konstruktion – eine gesuchte Größe. Jeder Gegenstand ist auch eine Interpretation der Funktion. Insgesamt drückt sich in Bills Aufgeschlossenheit für die Vielfalt der Lösungen die Überzeugung aus, dass bei der Gestaltung immer wieder andere, aufgabenspezifische Faktoren zu berücksichtigen sind. Seine Maxime war, jedes Ding „aus seinen eigenen Gegebenheiten heraus zu entwickeln“.31 Im Verstoß gegen diesen Grundsatz lag in seinen Augen später das Versagen der Ulmer Schule (→ Kap. 21). Die Gestaltungsarbeit als Suche und Lösungsfindung implizierte dabei nach Bills Auffassung stets einen persönlichen Gestaltungsspielraum. Theodor W. Adornos Diktum zum künstlerischen und gestalterischen Gelingen lässt sich anhand von Bills Beispielen und Argumenten gut nachvollziehen. Adorno: „Die Intention erlischt im Gehalt.“32 „Die gute Form“ bedeutete für Bill die Kongruenz von Funktion, Machart und Ästhetik, sie ist für ihn die überzeugende Form des gut gemachten und gut funktionierenden Gegenstandes. So war die Nähmaschine „Elna“ der Firma Tavaro kompakt und leicht, die erste Haushalt-Nähmaschine mit 106

Abb. 51: Hans Bellmann: Mischbatterie für den ­Sanitärapparate-Hersteller Sabez (Sanitärbedarf ­Zürich AG), 1952. Brausekopf, Rohrbogen und Hähne drücken den zeit­ typischen Wunsch nach einer spannungsvollen und organischen Formensprache aus.

Druckguss-Aluminiumgehäuse, Freiarm, integrierter Beleuchtung und Geschwindigkeitsregler mittels Kniebügel; zudem war der Blechkoffer sinnreich auszufalten und konnte so als Nähtisch dienen. Ihre Form war konzeptionell schlüssig. Die Auszeichnung Die gute Form SWB betraf nicht nur die Ästhetik, sondern das Gerät als ein Ganzes. Ein anderes Beispiel erhielt die Auszeichnung nicht, da ihm diese Schlüssigkeit abging: Der Radioempfänger der Firma Thorens, das Modell „New Century“, war neuartig durch die Trennung des Bedienungsteils vom Tuner und den Lautsprechern, was das Gerät beweglich im Raum machte. Hier erweist sich bereits das Symptom der Mobilität als kommendes Zeitthema, wenn auch noch mit einem Verbindungskabel zwischen dem Bedienungsteil und der Basisstation. Ersteres wäre auszeichnungswürdig gewesen, doch die etwas pompöse Gestaltung des Lautsprechers war wohl der Hinderungsgrund. Dennoch empfanden aufgeschlossene Köpfe im Werkbund, dass im Label Die gute Form SWB die Gefahr lag, die Erscheinungsform vom Gegenstand als einer Ganzheit abzuspalten, und versuchten, diesen Effekt zu vermeiden. Max Bill legte später (1961) Wert auf die Feststellung, dass „die gute Form ihrer Idee nach nie mit ‚Gestalterei‘ zu tun haben wollte“. Und er schimpfte auf das neue Schlagwort von der „Industrieform“, weil es verdecke, dass stets der Mensch für die Form verantwortlich ist und nicht die „Industrie“ als ein 107

Abb. 52: Eero Saarinen: ­Sessel aus Fiberglas-verstärktem Kunststoff, Fuß aus Aluminium, weiß gespritzt, für Knoll ­Associates, 1957. Das „organisch-plastische Repertoire“ als Formideal der Nachkriegszeit in höchster Vollendung. (Foto Stan Ries)

Abstraktum.33 (Vermutlich deshalb wurde an Fachhochschulen der Begriff „industrielle Formgebung“ in den Sechzigerjahren durch „Produktgestaltung“ ersetzt.) Dort, wo ein Produkt mit einer Etikette für die Auszeichnung warb, ohne dass das Publikum ein Mittel zur eigenen oder nachvollziehenden Beurteilung zur Hand gehabt hätte, ist der Vorwurf des Normativen nicht unberechtigt. Dies wurde dem Ersten Vorsitzenden des SWB , dem Fotografen Hans Finsler, bereits um 1955 bewusst, als er die zahlreichen Belobigungen „guter Formen“ zu unterschreiben hatte, ohne dass er sie zu sehen bekommen hatte. „Besteht nicht die Gefahr, dass wir vor lauter guten Formen den Sinn für die Dinge als solche verlieren?“, fragte er.34 Überzeugen versus Überreden Das Thema der Guten Form ist zweifellos eine hierarchische Angelegenheit, top-down: Man bereichert das Publikum, für das man das Beste will, um dieses behauptete Beste. Manipulation war dabei nicht beabsichtigt. Darin besteht ein Unterschied zum Ansatz des Designers Raymond Loewy. Bills Haltung ist die des Aufklärers, anders als die Loewys. Dieser formuliert in seinem Buch Hässlichkeit verkauft sich schlecht (1953) eine ähnliche Zielvorstellung wie die Europäer, hat aber eine andere Vorstellung vom Weg dahin. Loewy 108

schrieb: „Es braucht Jahrzehnte, die Massen dazu zu erziehen, die einfache und schöne Zweckform zu erkennen und zu würdigen. Es ist erwiesen, dass die breite Öffentlichkeit die Gebrauchsgegenstände, deren Gestalt auf die einfachste Zweckform zurückgeführt ist, noch keineswegs allgemein akzeptiert. […] Was also soll der Gestalter tun? Soll er für seinen Auftraggeber ein Modell entwerfen, das sich nicht absetzen lässt, das Unternehmen zum Bankrott bringt und Zehntausende von Arbeitern und Angestellten auf die Straße setzt? Liegt es nicht in jedermanns Interesse, das Erziehungswerk schrittweise zu beginnen, das Publikum unmerklich, langsam, aber sicher vom Chrom zu entwöhnen?“35 Loewy spricht hier vermutlich von einem Automodell. In ­seinen Worten wird erkennbar, dass der Designer im höheren Interesse des Publikums, wenn auch auf manipulative Weise, eine erzieherische Absicht verfolgt. Auch er will für das Publikum nur das Beste: die Entwöhnung vom Schwulst. Aber Entwöhnung ist etwas Passives. Bisweilen hat sie auch nicht funktioniert, besonders bedauerlich beim bewundernswerten Automodell Studebaker Starliner von 1953, den Loewy bereits ein Jahr später mit Chromelementen verunstalten musste, weil das Publikum von der schlichten Eleganz des Autos überfordert war. Der europäische Weg setzte demgegenüber mehr auf argumentatives Vertrauen. Der Unterschied zwischen Europa und „Amerika“ lässt sich vielleicht bis zum Punkt zurückführen, dass das lateinische Verb „persuadere“ einen Stamm mit zwei sich gabelnden Bedeutungen hat: „überreden“ und „überzeugen“. Ersteres wurde 1957 vom US -Publizisten Vance Packard in seinem Buch The Hidden P ­ ersuaders (deutsch Die geheimen Verführer) kritisch ausgeleuchtet. Auch für Loewy war die Psychologie des Verkaufens und Kaufens wichtig, wie in seiner Autobiografie nachzulesen ist. Dennoch ist seine obige Argumentation des „Erziehungswerks“ zumindest rhetorisch näher bei den europäischen Bemühungen, von denen dieses Kapitel gehandelt hat: beim Überzeugenwollen.

109

Anmerkungen

(UAM) in Paris eine Schau unter dem Titel Formes utiles vor. In deren Fokus stand jedoch die Funktionalität eines Gegenstandes, weniger die Ästhetik (→ Kap. 24).

1

Wilhelm Braun-Feldweg: Gestaltete Umwelt. Haus, Raum, Werkform. Berlin 1956, S. 109

2

Compasso d’Oro eine vom Label Die gute Form SWB

Das Plastisch-Organische“, Das Werk 1953,

inspirierte Entsprechung. Internet-Recherche vom 06.05.2013: www.moma.

Deutsche Verwaltung für Volksbildung in der sowje-

org./learn/resources/archives/archives_exhibition_

Heinz Hirdina: Gestalten für die Serie. Design in der DDR 1949–1985, Dresden 1988, S. 20

Zur Entstehung und Durchführung der Ausstellung „Die gute Form“ und den einzelnen Ausstellungs­

tung durch. Für die publizierte Fassung von Bills

stellung 1949. Zürich 2014, darin: Claude Lichten-

Vortrag siehe Max Bill: „Schönheit aus Funktion und

tet und 1934 aufgelöst. Reaktivierung 1946. Die Messeleitung der Mailänder Triennale 1947

als Funktion“. In: Werk 8/1949, S. 272 ff. 18 Max Bill: „Erfahrungen bei der Formgestaltung von Industrieprodukten“. In: Werk 5/1946, S. 169 19 Vgl. Sigfried Giedion: Die Herrschaft der Mechanisierung (1948/1982), S. 658

hatte beabsichtigt, Bill mit der Gestaltung von deren

20 Wie Anm. 17

Eingangshalle zu betrauen, woraus allerdings nichts

21 Mit dieser Definition auf der ersten Ausstellungstafel

wurde. Auch dies war ein Keim zu Die gute Form. Grund für den Zeitdruck war die verzögerte Zusicherung des Unterstützungsbeitrages der Schweizerischen Eidgenossenschaft. (Vgl. Anm. 4)

9

MfGZ/DS/Konvolut SWB. 17 Der SWB führte im Oktober 1948 die Werkbund-­ Tagung zum Verhältnis von Wirtschaft und Gestal-

5 Der DWB wurde 1933 von den Nazis gleichgeschal-

8

Quelle: Zürcher Hochschule der Künste, Archiv

tafeln vgl. die Monografie von Lars Müller (Hrsg.):

S. 19–29

7

history_list 16 Max Bill: „Exposé für eine Wanderausstellung“.

Max Bill, Sicht der Dinge – Die gute Form: Eine Ausstein: „Die schöne Form des guten Gegenstands“,

6

15 Quelle MoMA Archiv: „Useful Objects Exhibit“,

Jan Bontjes van Beek in einem Schreiben an die tischen Besatzungszone, 16. Jan. 1949. Zit. in

4

scente seit 1954 mit der Auszeichnung Premio

Dieter Oestreich: „Formtendenzen unserer Zeit. S. 194–199, hier S. 197

3

14 In Italien vergab seinerseits das Warenhaus La Rina-

Erstmals ging Peter Erni detailliert auf die Aktion Die

wurde das Publikum auf das Thema eingestimmt. 22 Max Bill: Form. Eine Bilanz der Formentwicklung um die Mitte des XX. Jahrhunderts. Basel 1952, S. 6 23 Max Bense: Aesthetica. Einführung in die neue Aesthetik. Baden-Baden 1965, S. 26.

gute Form SWB ein (CH-Baden 1984). Siehe auch

24 Wie Anm. 22, S. 63

Jakob Bill: „die gute form – auch als tafelanord-

25 Bill erläuterte die Absicht dahinter so: „Diese Wan-

nung“. In: wie Anm. 4, S. 124–131

derausstellung bezweckt, speziell im deutschspra-

Vgl. Richard P. Lohse: Neue Ausstellungsgestal-

chigen Ausland Einblick zu geben in die Probleme

tung, Erlenbach-Zürich 1953, S. 28–31

der funktionellen Gestaltung und dadurch möglichst

10 Max Bill: „Erfahrungen bei der Gestaltung von Industrieprodukten“, Werk 5/1946, S. 168–170 11 Bei einigen der nachfolgenden Stationen waren die Tafeln direkt an den Wänden befestigt. Nur in

weite Kreise über die bisher erreichten Resultate und ihre Grundlagen aufzuklären. Durch ihre Darstellungsart soll die Ausstellung sich nicht nur an direkt interessierte Kreise, wie z. B. Produzenten und

Basel war auch eine kleine Anzahl dreidimensionaler

Konsumenten, wenden, sondern vor allem auch

­Exponate ausgestellt: Kleinmöbel und Lampen

grundlegendes Material bieten für die Ausbildung

schweizerischer Provenienz. In: wie Anm. 4

des gestaltenden Nachwuchses und die Weiterbil-

12 Prämierungen von Produkten mit dem Label „Die gute Form SWB“ fanden von 1951 bis 1968 statt;

dung schon tätiger Entwerfer.“ 26 Max Bill: Die gute Form. Broschüre herausgegeben

die Ausstellung der betreffenden Produkte jeweils

von der Direktion der Schweizer Mustermesse in Ba-

im darauffolgenden Jahr.

sel und vom Zentralvorstand des Schweizerischen

13 René Herbst bereitete fast gleichzeitig mit Bill (für Ende 1949) für die Union des artistes modernes

110

Werkbundes SWB. Verlag Buchdruckerei Winterthur 1957. Zitiert nach Margit Staber: „Die gute

Form“, in: Form. Internationale Revue (Köln), 14/1961, S. 45 f. 27 Ebd. 28 Herbert Read: Art and Industry, London 1934, S. 2 29 Marcello Nizzoli, in: Stile Industria 1954 (→ Kap. 23) 30 Wie Anm. 4 31 „Interview mit Max Bill“, in: Herbert Lindinger (Hrsg.), Hochschule für Gestaltung Ulm. Die Moral der Gegenstände, Berlin, 1986, S. 66. 32 Theodor W. Adorno in einer Radiosendung des Westdeutschen Rundfunks zu seinem 50 Todestag, Zitat ohne Jahresangabe. Abgehört unter dem Titel „Radio Adorno“, WDR, September 2019 33 Max Bill: „über die güte der guten form“, in: form. Internationale Revue, 15/1961, S. 32 34 Hans Finsler: „Der Werkbund und die Dinge“, in: SWB-Tagungsbericht, St. Gallen, 1955, S. 28

35 Raymond Loewy: Hässlichkeit verkauft sich schlecht. Düsseldorf 1953, S. 185. (Loewys Argumentation steht eigentlich in direktem Widerspruch zum deutschsprachigen Buchtitel. Der amerikanische Originaltitel von 1951 lautete Never Leave Well Enough Alone, sinngemäss: „Laß es nie mit ‚gut genug‘ getan sein“.)

111

X-20  Das Problem der Ästhetik (II)

War nun Die gute Form nicht doch der Versuch, eine „normative Ästhetik“ zu etablieren? Und was würde das bedeuten, normative Ästhetik? Der Fächer von Antworten könnte lauten: Dass alle Menschen dasselbe schön beziehungsweise hässlich finden werden, weil die Geschmacks-Anführer (master-influencer) es ihnen so vormachen. Oder dass Schönheit nach einer objektiven Vorlage definiert wird: Rundungen und gerade Abschnitte nach klaren Regeln, richtige Behandlung von Ecken und Kanten, von planen Flächen und Rundungen, eine Systematik von Radien, sichere Beherrschung der „Kunst der Fuge“ bei Übergängen von einem Material zum anderen. Oder: kontrollierte Effekte von Spiegelung und Reflexion im Tageslicht, im Kunstlicht und im Zwielicht. Oder auch: hochprozentige Harmonie mit sparsamen Spurenelementen von Irritation im Unterschied zur höchsten Reinheit ganz ohne Widerstand? Oder Farbkombinationen nach Vorschrift. Kurz: trittsicherer guter Geschmack. Wäre das unter normativer Ästhetik zu verstehen? Man findet in Bills Texten keine Rekurse auf den „guten Geschmack“. Dazu war er zu sehr von der Begründbarkeit seiner Auffassungen überzeugt. Gleichwohl ist zuzugeben, dass der Verdacht, es könnte eine normative Absicht in solchen Qualitätslabels liegen, durch ihre Wirkungsgeschichte und die der damit verwandten Initiativen nicht von der Hand zu weisen ist. Die erwähnten Anflüge von Zweifel beim Ersten Vorsitzenden des Schweizerischen Werkbundes, Hans Finsler, wenn er die entsprechenden Urkunden signierte, sprechen für ihn: Gebe ich mich nicht für eine zweifelhafte Aktion her, wenn ich keine eigene Anschauung von den ausgezeichneten Produkten gewinnen konnte? Ihn beschlich der Verdacht, dass unter der erfolgreichen Institutionalisierung das Risiko der Degeneration des Ursprungsgedankens besteht. Eine Befürchtung, die gerade wegen der Aktualität der „guten Form“ in den 1950er-Jahren berechtigt erschien. 1959 hatte Jay Doblin, Direktor des Institute of Design am Illinois Institute of Technology (Chicago), die Idee, eine Rundfrage an einen Kreis prominenter 112

Gestalter, Kritiker und Vermittler zu richten mit der Aufforderung, die „zehn bestgestalteten Produkte“ zu bezeichnen. Die Idee entsprach in ihrem wohlgemuten Optimismus sehr der Zeit, als das Thema der Gestaltungsqualität einer zunehmenden Öffentlichkeit nahegebracht wurde. Einige bekannte Designer wiesen angeblich die Aufgabe als unlösbar zurück mit dem Argument, jede Auswahl werde ja doch nur die persönlichen Vorlieben abbilden. Leider wissen wir nicht, wer diese Weisen waren. Etwa zwei Drittel der Angeschriebenen schickten jedoch ihre Favoritenliste an Doblin, der alle Nennungen erfasste, auszählte und daraus eine Liste von 100 Gegenständen zusammenstellte. Diese schickte er erneut an die Gestalterinnen und Gestalter und bat sie, daraus die zehn wichtigsten in eine Reihenfolge zu bringen. Daraus ergab sich die in der Zeitschrift Fortune publizierte Hitparade, angeführt von der Schreibmaschine Olivetti „Lettera 22“, gefolgt vom „Dining Chair“ (mit Metallfüßen) des Studio Eames, dem „Barcelona Chair“ von Mies van der Rohe und dem Studebaker „Commander Coupé“ von Raymond Loewy: eine Schreibmaschine, zwei Sitzmöbel und ein Automodell. Die Zeitschrift Fortune publizierte alle Favoriten unter dem Titel „The 100 Best Designed Products“. Es spricht für die Zeitschrift, dass sie die Fragwürdigkeit des Vorhabens nicht verschwieg, die im Anspruch lag, Qualität quantifizieren und statistisch messen zu wollen. Die Auswahl gab einen vagen Einblick in die Diskurse der professionellen Fachwelt, allerdings ohne sie lesbar zu machen. Dennoch enthielt die Auswahl einige schöne Überraschungen: etwa den Reißverschluss (1913 erfunden von G ­ ideon Sundback) auf Platz 87 und einen Zimmerofen, entworfen 1750 von Benjamin Franklin (Platz 90). Die Leserschaft kam vielleicht gerade wegen der heillosen funktionalen und formalen Heterogenität der ausgezeichneten Produkte auf die richtige Spur und Einsicht: dass die Ästhetik (das Aussehen eines Dings) nicht ein Leitsystem durch die Welt der Gegenstände bereitstellt. Dennoch gab es eine Rangliste, also einen errechneten Konsens auf der Grundlage der Statistik. Die Liste sagte jedenfalls aus, dass in der Fachwelt so etwas wie Einigkeit über die herausragende gestalterische Qualität der Olivetti-Reise­schreibmaschine besteht. Die Erkenntnis daraus: Jede Rangliste außerhalb des Leistungssports ist mit Vorsicht (oder besser Nachsicht) zu betrachten, ob es um die 100 bestgestalteten Produkte, die 100 besten Filme oder die 100 besten Schlagzeuger geht. 113

Was sich aus ihnen lesen lässt, ist nicht, dass es um das oder jenes Beste geht, sondern dass manche jemand oder etwas für „sehr gut“ halten. Das kann immerhin eine wertvolle Orientierung geben, der Sache aktiv und mit eigenen Sinnen nachzugehen. Der amerikanische Designer Norman Bel Geddes schrieb 1932: „Es besteht ein großer Unterschied zwischen einigermaßen befriedigenden Proportionen und der Bestimmung von Proportionen, die einem Gegenstand vermehrtes Inter­ esse, Lebendigkeit, Überzeugungskraft und Unterscheidbarkeit verleihen.“ * Das Argument ist eng verwandt mit Max Bills im vorangehenden Kapitel wiedergegebenen Begründung seines eigenen Schreibmaschinen-Entwurfs (Stichwort „Form-Idee“). Bel Geddes schrieb auch: „Der Unterschied ist beträchtlich zwischen einer Wandfläche aus der Hand eines feinen, sensiblen Gestalters und einer nackt zurückgelassenen Wand aus der Hand eines weniger Begabten.“ ** – Verstehen wir nicht genau, was er damit aussagen will, auch wenn wir die Aussage nicht explizit begründen können? Wir empfinden das Einverständnis, doch wie begründen wir den angesprochenen Unterschied? Auf welcher Grundlage? Wie bestimmt man die Differenz zwischen dem Reduzierten und dem Groben? Zwischen dem Einfachen und dem Primitiven? Zwischen dem Elementaren und dem Unsensiblen? Sind ästhetische Sachverhalte objektivierbar, sind sie messbar? Nein, dazu sind ihre Anteile zu komplex miteinander verwoben. Dennoch sind sie sinnlich wahrnehmbar und sprachlich zu begründen, man kann sich darüber austauschen, man kann Einverständnis oder auch Dissens feststellen. Ebenso wenig wie sich die Schönheit einer Landschaft messen lässt, ist die ästhetische Qualität eines menschlichen Artefaktes von einer Skala abzulesen. Doch anders als bei der Naturschönheit (einer Landschaft oder eines Tieres) gibt es bei einem von Menschen gestalteten Gegenstand einen Weg, die Gestaltungsqualität zu reflektieren. Die „Geschmacksfrage“, die sich bei einer Landschaft oder einem Tier nicht stellt, ist auch bei einem Gegenstand vermeidbar. Zwar gibt es stets persönliche Vorlieben (Farben, Materialien, Linienführungen), doch unabhängig davon lassen sich Qualitäten zur Sprache bringen. Darüber hinaus stellt sich aber die Frage nach der Bedeutung, die die Ästhetik in unserem Leben einnehmen soll. Sie zu beantworten ist weitgehend eine 114

Sache der persönlichen Anschauung. Ich weiß von der Fotografin (und Unternehmerin) Doris Quarella, dass sie beim Parken ihres Autos auf das Bild achtete, das sich ihr dabei in der Frontscheibe zeigte. Nur für sich allein. Schön daran ist, dass so die Ästhetik durch eine persönliche Aktivität hergestellt und nicht nur passiv konsumiert wird. Damit hat die Aisthesis die Schwelle zur Poiesis überschritten – die Bewegung von der passiven Betrachtung zum ­aktiven Tun.

*

Norman Bel Geddes: Horizons (Boston 1932) S. 234. („There is a great difference between merely satisfying proportion and the proportioning of a form that gives it added interest, vitality, conviction and distinction.“)

**

Ebd., S. 144 („There is a great difference between a wall surface kept simple in the hands of a fine, sensitive designer and one that is left bare by the hands of a less able man.“)

115

21 „Die Linie der Vernunft“ Die Hochschule für Gestaltung Ulm 1953–1968

Die Hochschule für Gestaltung in Ulm war die erste Hochschule für gestalterische Aufgaben in Europa, keine Werkkunstschule und keine Universität. Mit ihrer neuartigen Stellung hat sie sich in ihrer kurzen und nervösen Lebenszeit pionierhafte Verdienste um eine zeitgemäße gestalterische Ausbildung erworben. Die Unstetigkeit ihrer Existenz bildet sich jedoch auch dar­i n ab, dass über den wahren Umfang und die tatsächliche Gültigkeit dieser Verdienste die Meinungen geteilt sind. Wie aber bemisst man die Leistungen einer Schule? Dass überhaupt (nach den beiden Bauhaus-Kapiteln) noch einmal eine Schule im Rahmen einer Design-Ideengeschichte eine Darstellung verdient, liegt erstens daran, dass sie in Europa der Ausbildung von Gestaltern einen Entwicklungssprung verschaffte, und zweitens, dass sie am Ursprung von erfolgreichen Produkten stand und einen zwar schmalen, aber signifikanten Sektor des westdeutschen Designs nach 1945 repräsentiert. Auf der Suche nach einer eigenen Entwurfshaltung hat sie ein zukunftsfähiges Verhältnis zur Welt zu artikulieren versucht. Das geschah nicht in beschaulicher Ruhe, sondern in ständiger Auseinandersetzung im breiten Spektrum zwischen ideellem Wettstreit, persönlichen Freundschaften, Rivalitäten, Eifersucht und Verrat. Das Lehrprogramm der HfG war in der ganzen Zeit in stetiger Veränderung begriffen und befand sich in einem angespannten Seinsmodus entlang den bundesrepublikanischen Phasen nach dem Zweiten Weltkrieg: „Entnazifizierung“, Rehabilitation, Wirtschaftswunder und Konsumkritik. Dies alles in 15 Jahren. War die HfG ein zweites Bauhaus? (Wenn ja, will man darin eine Leistung oder ein Manko erkennen?) War sie ein Vorläufer von „1968“? (Wenn ja, entsprach das ihren Zielen oder war es ein ungewolltes Ergebnis?) Kam ihr Ende zu früh, als dass die Schule in der politischen Landschaft einen Ort hätte finden können, oder kam die Regierungskoalition von Willy Brandt zu spät für 116

die HfG? (Doch die HfG war weitgehend privat finanziert und erhielt finanzielle Unterstützung vom konservativ regierten Land Baden-Württemberg.) Stellte die HfG wegen ihrer konsumkritischen Einstellung eine ideelle Gefahr für den Kapitalismus und somit für das westliche Bündnis dar? (So hat man das nach dem Ende der Schule bisweilen dargestellt und ihre gesellschaftspolitische Ausstrahlung damit sehr hoch veranschlagt.) Hat sie das deutsche Design und ihr Bild in der Welt bleibend verändert? (Wie viel davon ist effektiv von der HfG ausgegangen, und wie viel ist ihr im Nachhinein nur zugeschrieben worden?) Hat sie der deutschen Produktkultur ein neues Gesicht gegeben? War sie in ihrer Internationalität zukunftsweisend? – Fragen. Die Letztgenannte kann mit einem klaren Ja beantwortet werden. Zu jeder Zeit waren der Kreis von Studierenden und Dozierenden international: Deutschland, Schweiz, Österreich, Italien, Niederlande, Israel, Großbritannien, Brasilien, Argentinien, USA , Japan. Die Antwort auf die anderen Fragen fällt schwerer. Die tatsächlichen Leistungen der Schule sind nicht ohne Weiteres zu benennen, was auch daran liegt, dass wichtige Exponenten und Historiografen der HfG sich in dieser Frage alles andere als einig waren und sind. Die Schule wurde von den einen als Hort der Aufklärung verehrt, von anderen später als Zentrale eines elitären Kulturbegriffs kritisiert. Zur Mythenbildung trugen beide Seiten bei. Die HfG erlebte in den Jahren ihrer Existenz ein Kommen und Gehen von Persönlichkeiten und deren Auffassungen. Zudem: Eine Schule ist auch an ihren Ansprüchen zu messen, und die waren ehrenwert hoch. Was bleibt? Die Entstehungsgeschichte der HfG ist in kurzen Zügen die folgende: Inge Scholl, die überlebende ältere Schwester der Geschwister Hans und Sophie Scholl, die 1943 wegen Widerstands gegen die Nazis hingerichtet worden waren, ersuchte kurz nach dem Kriegsende beim amerikanischen Hochkommissar für Westdeutschland, US -General McCloy, um Unterstützung beim Aufbau einer neuen Schule, deren Ziel der Aufbau eines neuen, demokratischen und moralisch geläuterten Deutschland sein sollte.1 Inge Scholls damaliger Verlobter, Otto (Otl) Aicher, begründete als 24-Jähriger in der stark kriegszerstörten Stadt die Ulmer Volkshochschule mit dem Ziel, in Kursen und mit Vorträgen von theologischem, philosophischem und psychologischem 117

Inhalt den Stadtbewohnern wieder einen tragfähigen ethischen Boden zu geben.2 McCloy fand Gefallen an diesen Absichten, die er als aufrichtige Bemühungen im Zeichen der Entnazifizierung wahrnahm. Bekanntlich nahmen es die Amerikaner in vielen Fällen mit der Entnazifizierung bald nicht mehr sehr genau, weil das Ziel, im Kalten Krieg Westdeutschland im westlichen Bündnis zu verankern, Priorität hatte.3 Aus der Volkshochschule, deren Basis auf Einzelbeiträgen von Repräsentanten des Geisteslebens beruhte, entstand bald die Idee einer „Geschwister-Scholl-Hochschule“, deren Bestimmung um 1950 mit diesen Worten formuliert wurde: „Die Geschwister Scholl-Hochschule will ihre Schüler zu selbstständigem politischem Denken erziehen. Sie will am Aufbau einer demokratischen Elite mithelfen. […] Sie will die Kluft zwischen Intelligenz und Kultur auf der einen Seite und Leben und Alltag auf der anderen Seite überwinden helfen. […] Sie will vor allem auf die Gestaltung der Sozialprodukte Einfluss nehmen und der Industrie helfen, Form und Qualität in Übereinstimmung zu bringen. Über die dadurch mögliche Exportsteigerung will sie den Lebensstandard erhöhen helfen. Sie will die verschiedenen Gebiete der Gestaltung (Sprache, Ton, Bild, Formung, Bau) in Zusammenhang bringen. […]“4 Die Verbindung aus einer neuen, nicht korrumpierten Denkkultur und einer wirtschaftliches Wohlergehen versprechenden Produktkultur war da bereits als Hauptziel bestimmt. Verantwortlich für die Ausweitung der Unterrichtsziele auf die Welt der Gebrauchsgegenstände war Max Bill. Bereits 1948 hatten Inge Scholl und Otl Aicher in Zürich den etwas älteren und prominenten Bill getroffen und ihn um Mitarbeit an ihrem Vorhaben gebeten. Bills schmales Buch Wiederaufbau, erschienen 1945, war dabei der Auslöser.5 Die Idee, die Ausrichtung der Schule von geisteswissenschaftlichen Fragestellungen in Richtung Produktgestaltung und Visuelle Kommunikation zu verlagern, geht auf Bill und seine Rolle bei der Wanderausstellung Die gute Form zurück. Bill wurde 1950 als Architekt des HfG-Gebäudekomplexes auf dem Kuhberg und bald auch zum Gründungsrektor bestimmt. Der Schulbetrieb begann 1953 mit wenigen Studierenden in provisorisch bezogenen Liegenschaften unten in der Stadt und bezog im Januar 1955 den architektonisch einzigartigen, mit äußerst knappen Mitteln errichteten Neubau auf der Anhöhe, das wichtigste 118

Werk des Architekten Max Bill.6 Die offizielle Eröffnungsfeier fand am 1. Oktober 1955 statt. Bill, der Gründungsrektor, definierte in der Eröffnungsrede die Aufgabe der Institution mit der Aussage: „Die gesamte Tätigkeit an der Hochschule ist darauf gerichtet, am Aufbau einer neuen Kultur mitzuarbeiten, mit dem Ziel, eine mit unserem technischen Zeitalter übereinstimmende Lebensform zu schaffen.“7 Die HfG umfasste vier Abteilungen: Produktform, Visuelle Kommunikation, Information und Bauen. Alle vier Bezeichnungen waren programmatische Neuschöpfungen oder Abgrenzungen. Der Begriff „Produktform“ sollte sich ebenso vom „Kunstgewerbe“ abgrenzen wie die „Visuelle Kommunikation“ von der „Grafik“, deren Herkunft von der Malerei verdächtig war. „Bauen“ war nicht „Architektur“, sondern war auf Industrialisierung, Serialität und Modularisierung angelegt. Die Abteilung „Information“, die entsprechend der ursprünglichen Idee tatkräftig zur Beseitigung der geistigen Verheerungen aus dem Dritten Reich beitragen sollte, wurde von Bill „versachlicht“ und als Ausbildungsgang für aufklärenden Journalismus und Textarbeit im Zusammenhang mit der Industrie und dem praktischen Alltag aufgebaut. Ihr wurde 1960 noch die kleine Abteilung „Film“ angegliedert. Von zentraler Bedeutung war von Anbeginn der für alle Studierenden obligatorische einjährige „Grundkurs“, an dem grundlegendes Wissen rund um Fragen des Gestaltens und ein hohes Anspruchsprofil vermittelt wurde.8 Die vorliegende Darstellung muss sich auf die Abteilung „Produktform“ beschränken, die auch im Rückblick – mehr noch als die Abteilung „Visuelle Kommunikation“ – am häufigsten mit „Ulm“ assoziiert wird.9 Der Keim eines Konflikts Eine Institution wie diese war weltweit neuartig: Sie war keine Kunstgewerbe- oder Berufsschule, keine Technische Hochschule und keine Universität. Dass bei der Erwähnung dieser Sonderstellung immer wieder das Bauhaus in Erinnerung gerufen wurde, erstaunt nicht. Bill setzte sich in der Entwicklungsphase für die Bezeichnung „Bauhaus Ulm“ ein, wobei ihm klar war, dass es sich nicht um eine Wiederholung des Bauhauses, nicht um ein direktes Anknüpfen an 1930, sondern nur um eine Weiterführung nach 1950 119

handeln konnte. Bill schrieb ganz zu Beginn seiner Mitarbeit in einem Brief an Inge Scholl: „Meine einzige Sorge ist, dass man dann auch den Willen hat, 20 Jahre weiter zu sein als das Bauhaus, aber nicht weiter hinten, sondern weiter vorne.“10 Dazu passt Bills 25 Jahre später gemachte Aussage: „Meine Vorstellung war es, dort weiterzufahren, wo das Bauhaus bei normaler Weiterentwicklung 1950 gestanden hätte, wenn es 1933 nicht geschlossen worden wäre.“11 Im Prospekt des Jahres 1952 war zu lesen: „Die Schule ist die Weiterführung des ‚Bauhaus‘ (Weimar–Dessau–Berlin). Neu hinzugekommen jene Aufgabengebiete, denen vor 20–30 Jahren im Rahmen der Gestaltung noch nicht die heutige Bedeutung beigemessen wurde.“12 Doch das Paar Aicher-­ Scholl lehnte die nominelle Anlehnung ans Bauhaus ab, da sie beide die Einflussnahme seitens der Kunst auf die Ausbildung von der Schule fernhalten wollten und etwas Neuartiges im Sinn hatten. In dieser Frage lag bereits von Anfang an der Keim eines Konflikts. Man hat Bill später vorgeworfen, seine Überzeugungen zu sehr auf die bildende Kunst gegründet zu haben. Der Vorwurf hält näherer Überprüfung nicht stand. Bill selbst unterschied zwischen Kunst und Design, verband beides jedoch zugleich wieder auf seine Weise in seiner denkwürdigen Formulierung: „Das Ziel der konkreten Kunst ist es, psychische Gegenstände für den geistigen Gebrauch zu entwickeln, ähnlich wie der Mensch sich Gegenstände schafft für den materiellen Gebrauch.“13 Er sah in der Gebrauchsdimension die maßgebliche Größe, in der Kunst und Gestaltung eine gemeinsame Drehachse haben. Nicht so Aicher, für den die Kunst nur mehr eine irritierende Hypothek aus der Kultur- und Sozialgeschichte war, wie er wiederholt zum Ausdruck brachte.14 Das bisher Beschriebene ließe vielleicht erwarten, dass eine so unruhige Institution kaum Produkte mit einer erkennbaren Handschrift hervorbringen würde. Oder doch? Kann es sein, dass die Handschrift sogar ein Zufluchtsort war, eine Übereinstimmung im Konkreten als Gegengewicht zu den ideellen Differenzen? Wie auch immer, bald war die Handschrift da, und sie zeichnete sich in den dreidimensionalen Gegenständen aus durch viel Orthogonalität, weitgehendes Fehlen von Kurven und von bombierten Partien, dafür viel weiß oder hellgrau gespritzte plane Flächen, sparsamste Beschriftung, tendenzielle Nicht-Axialität – und wenn schon unlackiertes Metall, dann 120

gebürstet und also schimmernd, niemals chromglänzend. Ein allen Ulmer Produkten gemeinsames Merkmal war die Distanz, die sie gegenüber jeglicher beabsichtigten ästhetischen Kurzlebigkeit und also gegenüber dem Modischen hielten. Damit war nicht ein Anspruch auf eine zeitlich unbegrenzte Gültigkeit verbunden. War die HfG, da sie die modische Verschleißwirtschaft ablehnte, ein Dorn im Fleisch des Wirtschaftswunderlands BRD? Die Frage ist nicht eindeutig zu beantworten. Dafür mag die ideologische Plausibilität sprechen, dagegen andererseits die Unwahrscheinlichkeit, dass eine kleine Schule am Südrand des Landes das Wirtschaftsgeschehen der BRD auf eine gänzlich andere Grundlage hätte stellen können. Was sich sagen lässt: Die HfG hat langfristig viel zur Physiognomie eines hochwertigen „deutschen Designs“ beigetragen. Dass Steve Jobs eine Vorliebe für „Ulm“ hatte und für Apple in Jonathan Ive einen Bewunderer des vormaligen „Ulmer Designs“ als Chefdesigner verpflichtete, ist bekannt. Man muss aber präzisieren: insbesondere einen Bewunderer der Firma Braun AG , deren Produktepalette Radioapparate, Plattenspieler, TV-Empfänger, Rasierapparate, Haartrockner, Tischfeuerzeuge, Fruchtpressen und Heizlüfter umfasste. „Ulm“ und Braun ist die stärkste Assoziationsbrücke überhaupt, wenn von „Ulmer Design“ die Rede ist. Daneben können genannt werden Erco (Leuchten), Saba (Unterhaltungselektronik), Kodak (Diaprojektor), Pfaff und Gritzner (Nähmaschinen). Welche dieser Produkte sind typisch für das Design der HfG, wie viele sind im Unterricht entstanden, wie viele von Dozentenhand außerhalb des Unterrichts? Im Fall von Braun steht fest: Der erste Kontakt zwischen Erwin Braun und der HfG war – vermittelt durch den Filmregisseur und Werbefachmann Fritz Eichler – der Dozent Hans Gugelot, der die Grundlage für das formale Leitbild der BraunRadioapparate und -Plattenspieler an der Schule legte. Das war 1954. Seitens der Firma Braun AG war ab 1956 Dieter Rams für das Design zuständig, der kein Absolvent der HfG war, doch die Entwürfe zusammen mit Gugelot entwickelte und nach dessen Tod 1965 selbstständig weiterarbeitete. Man hat Rams auch als den „ulmerischsten aller Nicht-Ulmer“ bezeichnet.15 Die entschiedene Abgrenzung der HfG gegenüber der damals verbreiteten Formensprache während des deutschen Wirtschaftswunders war von Anfang 121

Abb. 53: Nähmaschine Zündapp: deutsches Nachkriegsdesign unter quali­ tativ mittelmäßigem amerikanischen Einfluss, das konventionelle Gegenbild zu den Zielen der HfG.

eine Bekenntnisfrage. Wie lässt sich der Mainstream charakterisieren? Er war in mancherlei Hinsicht die Fortsetzung des Vorkriegsdesigns, ergänzt um stilistische Einflüsse aus Produkten der Siegermacht USA . Es gab viele Rundungen und Kurven an technischen Apparaten, Geräten, Transportmitteln und auch Möbeln, viel elfenbeinfarbigen Kunststoff oder ebensolches Metall und liebevoll gemeinte Zierlinien. Zentrales Merkmal war, dass jeder Gegenstand auch im übertragenen Sinn als etwas Abgerundetes, als Solitär erschien. Die dekorativen Zutaten verfolgten den Zweck, das Objekt wichtig zu machen. Repräsentativität war entscheidend. Der Gegensatz dazu wird in Dieter Rams’ Merksatz sichtbar: „Gutes Design ist sowenig Design wie möglich“16 (→ X-22) . Dass dies nicht einem Verzicht auf Repräsentativität gleichkommt, vielmehr eine andere Erscheinungsform bedeutet, musste das Publikum erst lernen. Der erste ikonisch gewordene Ulm-Entwurf war in der Entstehung fast ein Nebenprodukt: der Ulmer-Hocker aus Tannenholz mit unteren Hartholzkanten. Da bei der Fertigstellung der Hochschulbauten nur mehr sehr wenig Geld für die Einrichtung übrig war, kamen Bill und Gugelot auf die Idee, ein Sitzmöbel zu bauen, das auch als Ablagetischchen und – auf den Tisch gestellt – als Rednerpult dient, ein Element, das jeder und jede Studierende von Raum zu Raum mitträgt und darin sogar noch die Unterrichtsmaterialien, 122

Abb. 54: Max Bill, Hans ­Gugelot (Mitarbeit Paul ­Hildinger, Werkstattleiter): Ulmer Hocker, 1954. Vor dem Hintergrund eines aufgebrauchten EinrichtungsBudgets entstanden; auch als Trage für Bücher und Hefte verwendbar.

Hefte, Bücher und Stifte, transportieren kann. Der Chef der Schreinerwerkstatt, Paul Hildinger, trug das Seine bei und erfüllte die konstruktiven Anforderungen mit der sorgfältigen Eckverbindung aus Zinken. War auch der aus Zeichensälen bekannte traditionelle Hocker mit Griffloch das Vorbild, machte das Rundholz als Strebe und Griffstange daraus ein HfG-Objekt. Zum marktgängigen Fetisch wurde der Hocker erst Jahrzehnte nach der Schließung der Hochschule. Er kann insofern auch als symptomatisch für die Abgrenzung gegenüber dem oben gekennzeichneten Nachkriegsdesign gelten, als mehrere Hocker lückenlos aneinanderzureihen waren, dass sie ein addier- und multiplizierbares Grundelement waren und nicht etwas in sich Abgeschlossenes. Und mehr als das, nämlich im Grunde eine Stammzelle des HfG-­Designs. Denn damit verwandt, wenn auch auffallender, war 1955 die Musiktruhe PK-G von Hans Gugelot für Braun, die im Unterricht entwickelt wurde und gleichsam als Visitenkarte des HfG-Genoms gilt. Allein schon der Kontrast zwischen der schwülstigen Gattungsbezeichnung „Musiktruhe“ und dem formalen Habitus des Geräts veranschaulicht die Differenz zur damaligen deutschen Alltagswirklichkeit und damit die Außenseiterstellung der HfG. Die Präsentation des Geräts auf der Funkausstellung in Düsseldorf erregte Aufsehen: Aus planen hellen Holzflächen (Ahorn) zusammengesetzt, ohne 123

Abb. 55: Hans Gugelot: ­Radio-Phono Kombination Braun PK G-3, entwickelt an der HfG, 1954. Eine radikal neue Auffassung dieser Gerätekategorie: geradlinig, ohne golddurchwirkte Stoffblende und andere herkömmliche Repräsentationsmerkmale.

Gehrungen, Rundungen und Schweifungen, war es eine völlig unvermittelte Manifestation von etwas Anderem. Die schräggestellte hellgraue Bedienungstafel mit den dunkelgrauen Drehknöpfen und Drucktasten unterschied sich markant von den üblichen schwarz hinterlegten Gläsern mit den Sendernamen in Goldschrift und von den elfenbeinfarbenen Tasten, die Lage des Lautsprechers hinter ausgefrästen Schlitzen im Holz von der üblichen golddurchwirkten Stoffbespannung. Der Plattenspieler lag sichtbar unter dem gläsernen Schiebedeckel und nicht verdeckt von einem glänzend lackierten und kostbar gemaserten Holzdeckel. Deutsche Traditionsmarken wie Grundig, Nordmende oder Telefunken erhielten hier einen Konkurrenten, der sich einem nonkonformistischen Publikum vornehmlich aus Architekten, Grafikern oder Fotografen als kraftvolle Alternative anbot. Gugelot ließ diesem Entwurf noch im selben Jahr einen weiteren folgen, der erstmals sein Thema „Systemdesign“ auch in einem technischen Gerät berücksichtigte. Er hatte es kurz zuvor erstmals in der Firma Wohnbedarf im Möbelprogramm M125 verwirklicht. Die Elemente Radio, Grammo und TV waren nicht mehr in einem Kombimöbel vereinigt, sondern als einzelne Elemente konfiguriert, die dank koordinierter Außenmaße je nach Bedarf neben- oder übereinander angeordnet sein konnten. In Anzeigen dieser Geräte stand unter der Abbildung einer daneben sitzenden jungen Frau in Dreiviertelhosen der Vermerk „Entwurf: 124

Abb. 56: Braun AG: Anzeige für die unterschiedlich kombinierbaren Komponenten von Radio, Plattenspieler und Fernseher: ein frühes Beispiel für Gugelots Konzept des „Systemdesigns“, 1956. (Bauen+Wohnen 11/1957)

Hochschule für Gestaltung Ulm“. Die Schule war zu diesem Zeitpunkt, 1957, bereits eine Marke, Gugelot ihr unversehens bekannt gewordener Designer und die Firma Braun ihr bekanntester Botschafter. Andere Alternativen zum verbreiteten Erscheinungsbild deutscher Radioapparate waren kurz zuvor (1953) von der „Kronberger Werkstatt“, den Architekten und Gestaltern Walter Schwagenscheidt, Tassilo Sittmann und Helmut Dornauf an der Düsseldorfer Funkausstellung gezeigt worden. Die dort versammelte Welt der Produzenten sah in den Modellen einen Affront und reagierte mit schroffer Ablehnung. Der Vergleich eines dieser Entwürfe mit Gugelots Konzept macht jedoch dessen Überlegenheit deutlich.17 1957 war auch das turbulente Jahr des „Bill-Streits“, in dessen Verlauf Bill zunächst die Position als Rektor verlor (aber Dozent blieb), später die Schule ganz verlassen musste. Lagen die Ursachen wirklich in der Streitfrage des Stellenwertes der Kunst im Design? In der Referenz „Bauhaus“? Und welche Rolle spielte der Konflikt zwischen den zwei Alphatieren, Bill und Aicher? Die beiderseitige Verbitterung blieb lebenslang. Bill warf der HfG im Rückblick einen uniformierenden Stilwillen vor, Aicher Bill die Kultivierung eines romantisierenden Berufsbildes unter dem Leitstern der bildenden Kunst. Ein vertikales Meister-Schüler-Verständnis im Unterrichten pflegten beide. 1986 sagte Bill in einem Gespräch, angesprochen auf den oft erhobenen Vorwurf 125

Abb. 57: Walter Schwagenscheidt, Dieter Dornauf, Tassilo Sittmann (Kronberger Werkstatt): Radioentwurf, als Pilotprojekt für die Kölner Funkmesse 1954 entworfen. Unkonventionell gedacht, doch nicht eigentlich systematisch angelegt. Von der Messeleitung als zu radikal abgelehnt.

der Gleichförmigkeit und der Nivellierung des „Ulmer Stils“, mit auflodernder Emotionalität: „Das ist ja auch ein Fehler, der daher kommt, dass man die Dinge uniformiert hat, statt sie aus ihren eigenen Gegebenheiten zu entwickeln. Und dieser sogenannte Ulmer Stil, mit seinen winzig kleinen Zettelchen dran, mit diesen Papierchen: das ist absolut ein Irrtum. So kann man es ja nicht machen. Mir kann man so etwas nie nachweisen.“18 Aicher seinerseits begründete seine Ablehnung der Kunst und fragte rhetorisch: „Ist Design eine angewandte Kunst, tritt es also auf in den Elementen Quadrat, Dreieck und Kreis oder ist es eine Disziplin, die ihre Kriterien aus ihrer Aufgabenstellung, aus dem Gebrauch, aus der Fertigung und Technologie bezieht? Ist die Welt das Einzelne und Konkrete, oder ist sie das Allgemeine und Abstrakte?“19 Aus solchen Äußerungen – die sich beiderseits als heftige Projektionen zu erkennen geben – lässt sich wenig Erhellendes herauslesen, denn wohlgemerkt, so streiten zwei Kontrahenten, die ihren jeweiligen Widerpart gegenseitig mit im Grunde identischen Vorwürfen eindecken. Ohne Aicher den Wunsch abzusprechen, die HfG als Ort einer starken Lebensrealität zu sehen anstatt als künstlerisches Luftschloss, muss doch gesagt sein, dass Bill in seiner eigenen Designtätigkeit frei von jeder kunstgewerblichen Attitüde war. Sein 1954 126

Abb. 58: Max Bill, Ernst Moeckl: Türklinke für die HfG, 1954, seit 2012 wieder in Produktion. Das Produkt aus einer höchst differenzierten Befragung des Problems.

zusammen mit dem Studenten Ernst Moeckl entwickelter Türgriff für die HfG veranschaulicht wohl, was Bill mit der sinngemäßen Formulierung „Bauhaus Ulm ja, aber zwanzig Jahre später“ meinte. Moeckls Beschreibung lautet so: „Türbeschlag – Drücker und Langschild. Die Bewegungen der Hand am Türdrücker beim Betätigungsvorgang wie Zugreifen, Berühren, Angleiten, Drücken, Ziehen bzw. Schieben und Abgleiten, die fließend ineinander überlaufen, ergeben die bogenförmige Grundform des Griffes und einen Querschnitt ohne jede Kante, der sich elliptisch entwickelt. Das freie Ende des Griffes ist im Verlauf des Bogens etwas stärker zur Tür hin abgebogen, dadurch hat die Hand selbst am Ende des Griffes noch einen guten Halt und unerwünschtes Abgleiten wird vermieden. Außerdem ist das Öffnen und Schließen mit den Armen möglich (wenn beide Hände tragen), ohne dabei nach hinten abzurutschen. Das Hängenbleiben mit Kleidungsstücken und anderen Gegenständen ist durch das nach innen abgebogene Ende ebenfalls verringert.“20 Das ist nicht die Beschreibung einer Form, sondern eines Vorgangs, wie dies am Bauhaus nicht vorgekommen war. Wer sich an den Designansatz von Max Bill aus Kapitel 20 erinnert, wird ihm hier wiederbegegnen. Es ist eine feinstoffliche, aufs Konkrete gerichtete 127

Abb. 59: Bettentwurf für Dunlop, 1954. Neuartige Federung dank Einschnitten in Unterlage. Auf dem Bild zu sehen: Otl Aicher, Max Bill, Herbert Lindinger, Hans Gugelot (gebückt), Verwaltungsdirektor Schlensag, Werkstattchef Paul Hildinger.

Aufmerksamkeit für einen bescheidenen Gebrauchsgegenstand. Der Unterschied zu Gropius’ Bauhaus-Türdrücker (→ Kap. 13) ist signifikant und liefert zumindest in diesem Fall die klare Widerlegung des Vorwurfs einer „stilisierten Sichtweise des Bauhauses“, den im Rückblick auch Reyner Banham Bill gegenüber erhob.21 Da gibt es viel Ungeklärtes, verfestigte Stereotypen und Vorurteile, nicht zuletzt eine bisweilen überraschend unscharfe und stilisierte Sicht auf das Bauhaus durch die HfG-Angehörigen selbst und ihre eloquenten Kritiker. Der Sturz Bills spaltete die Studierenden auf Jahre hinaus in zwei Lager. Auch für seine Befürworter war er – als Schweizer auch als Repräsentant für „Demokratie“ nach Ulm geholt, als Persönlichkeit dort jedoch oft als „Autokrat“ erlebt – im menschlichen Umgang schwierig, bisweilen schroff und dann wieder überraschend zugewandt, aber eben doch als Entwerfer und Lehrer eine Autorität.22 Sein Weggang hinterließ für die einen eine lange nachwirkende Leere, andere atmeten auf.

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Das „Ulmer Modell“ entsteht Im Lauf dieser Auseinandersetzungen nahm zunächst ein konsolidierter Lehrplan mit einbeziehenden Ingenieurwissenschaften, Informationstheorie und Methodik Form an mit Tomás Maldonado als neuem Wortführer, von Otl Aicher und der Geschwister-Scholl-Stiftung stark unterstützt. A ­ icher schrieb 1975 rückblickend über diese Phase: „Es entsteht [um 1958] das ­U lmer Modell: ein auf Technik und Wissenschaft abgestütztes Modell des Design. Der Designer nicht mehr übergeordneter Künstler, sondern gleichwertiger Partner im Entscheidungsprozess der industriellen Produktion.“23 In Aichers Augen war somit erreicht, was für ihn schon lange das eigentliche Ziel gewesen war. Nach Bills Weggang suchte die Institution ihr Selbstverständnis mit einer neu gegründeten eigenen Zeitschrift, genannt Ulm, zu vermitteln. In der ersten Nummer umriss die Schule im September 1958 ihr weit ausgreifendes Programm. Man las: „Die HfG bildet Fachkräfte aus für zwei entscheidende Aufgaben der technischen Zivilisation: die Gestaltung industrieller Produkte (Abteilung Produktform und Abteilung Bauen); die Gestaltung bildhafter und sprachlicher Mitteilungen (Abteilung visuelle Kommunikation und Abteilung Information). Die HfG bildet damit Gestalter heran für die Gebrauchs- und Produktionsgüterindustrie sowie für die modernen Kommunikationsmittel Presse, Film, Funk und Werbung. Diese Fachleute müssen über die technologischen und wissenschaftlichen Fachkenntnisse verfügen, die für eine Mitwirkung in der heutigen Industrie erforderlich sind. Gleichzeitig müssen sie die kulturellen und gesellschaftlichen Konsequenzen ihrer Arbeit erfassen und berücksichtigen.“24 Das klingt auch heute noch vernünftig. Dennoch: Nachfolgend wird von diesem Anspruch noch einmal die Rede sein müssen (→ X-21) . Ein wichtiges Dokument der ersten Zeit nach Bills Weggang und auf dem Weg zum „Ulmer Modell“ war 1958 der Vortrag, den Maldonado anlässlich der Weltausstellung in Brüssel hielt. Er hatte Bill in Argentinien kennengelernt, war von diesem nach Ulm geholt worden, schlug sich dort 1957 auf die Seite seiner Kritiker und nahm daraufhin im Lehrplan eine prominente Stellung ein. 1958 stellte er die HfG im ausführlichen Brüsseler Vortrag unter dem Titel „Neue Entwicklungen in der Industrie und die Ausbildung des 129

Produktgestalters“ vor. Er sah die Institution als Zielort der an Irrtümern reichen und verworrenen Entwicklung vom Handwerk über die Arts and Crafts-Bewegung, den Werkbund und das Bauhaus bis schließlich zur HfG. Er nannte für die vergangenen Jahrzehnte drei Phasen der gestalterisch-technischen Entwicklung: „In der ersten Periode war der Produktgestalter der Konstrukteur, der Erfinder, der Planer. Henry Ford selber war der große Produktgestalter jener Zeit. In der zweiten Periode war der Produktgestalter der Künstler. In der dritten Periode wird der Produktgestalter Koordinator sein. Es wird seine Sache sein, in enger Zusammenarbeit mit einer Reihe von Fachleuten die verschiedensten Erfordernisse der Herstellung und des Gebrauchs zu koordinieren. Kurz, er wird für eine maximale Produktivität, aber auch für eine maximale materielle wie kulturelle Zufriedenstellung des Verbrauchers verantwortlich sein.“25 Die Funktion des Designers als Koordinator ist auf den ersten Blick eine überraschend selbstbescheidene: Sein Beitrag hat zum Ziel, objektive Gegebenheiten der Industrie mit den Verbraucherbedürfnissen zu koordinieren oder zu synchronisieren, man kann auch sagen zu harmonisieren. Es ist dies die Sicht von Design als Dienstleistung, eine Sicht übrigens, die in den USA ­bereits Jahre zuvor von Henry Dreyfuss vertreten worden war.26 Worin konkret soll sie für Ulm bestehen? Im Zusammenführen der verschiedensten Ansprüche, wobei die sehr wohl kritisch hinterfragt werden sollen. Doch was bedeutet ein Satz wie „für maximale Produktivität, aber auch für eine maximale materielle wie kulturelle Zufriedenstellung des Verbrauchers verantwortlich sein“? Der Soziologe Lucius Burckhardt, der selbst während kurzer Zeit Dozent der HfG war und sich 1960 in seinem Bericht „Ulm anno 5“ mit der Schule auseinandersetzte, glossierte darin den Anspruch, Auseinanderstrebendes unter einen Hut zu zwingen und gleichsam eine „soziale Marktwirtschaft der Formgebung“ zu schaffen (mit den zu vereinbarenden Polen: Mode und technischer Fortschritt; rationale Vernunft und gesellschaftliche Wünsche; technische Zweckmäßigkeit und ­soziologische Bedingtheit der Form) als Beispiel für typisch deutsch-idealistisches Wunschdenken und meinte dazu sarkastisch: „Nichts einfacher als das im Lande Hegels.“27 130

Abb. 60: Reinhold Weiss: Diplomarbeit: Entwurf eines Regler-Bügeleisens mit dünner Bügelsohle, 1958/59. Ergonomischer, aufwärts abgewinkelter Griff mit integriertem ­Bedienungselement.

Horst Rittel, Dozent für Designmethodik und seit 1960 Mitglied des Rektoratskollegiums replizierte auf Burckhardts kritischen Bericht mit einer Darstellung des erneut systematisierten Berufsbildes an der HfG („Zu den Arbeitshypothesen der HfG Ulm“, 1961). Er konstatierte dabei in sachlichem Ton eine Vergleichbarkeit vieler Problemstellungen hinsichtlich der hohen Komplexität der Aufgabe, ihres zunehmend interdisziplinären Charakters in einem Spannungsfeld divergierender Interessen von Hersteller und Verbraucher, Ingenieur und Kaufmann oder Konstrukteur und Fertigungsingenieur, er erwähnte auch die Spannung zwischen Theorie und Praxis und benannte die Anforderung an den Designer, durch Analyse des „Ist-Zustandes“ zu einer konsistenten Vorstellung vom „Soll-Zustand“ zu kommen.28 Dahinter stand eine heuristische Arbeitstechnik mittels des morphologischen Kastens („Zwicky-­Box“), und ein streng geregeltes Problemlösungsverhalten, mit dem sich die Lösung eines Problems durch systematisierte Annahmen generieren lassen sollte. Allerdings fand dies innerhalb eines Rahmens statt, der von Einzelnen als zu einengend empfunden werden konnte. „Die HfG lehrte nur Produktgestaltung, nicht Produktentwicklung“, wie der ehemalige Student Anthony van Hoboken schreibt, der die Schule nach anderthalb Jahren unzufrieden wieder verließ.29 131

Abb. 61: Pio Manzù: Autoentwurf mit Einvolumen­ karosserie (Modell), ­Studienjahr 1962/63. ­Kompakte Antriebseinheit vorne, ­langer Radstand, großer ­Innenraum, Kunststoff-Stoßfänger und dank Kunststoffschild aerodynamischer und korrosions­ geschützter Unterboden.

Die Richtungskonflikte an der Schule gingen mit Rittels Einsatz für eine stringente Entwurfs-Methodologie in die nächste, heftige Runde. Otl Aicher lehnte die so von Rittel und anderen angestrebte Verwissenschaftlichung des Entwerfens als unerwünschte Akademisierung ab, woraus erneut eine schwere institutionelle Krise entstand. Die Ereignisse und Hintergründe sind anderswo gut dargestellt worden.30 Rittel verließ die HfG unter Aichers Druck. Der HfG-Absolvent Karl-Achim Czemper hat später Aichers Beurteilung Rit­ tels mit dem Hinweis widersprochen, dieser sei keineswegs methodengläubig gewesen. „Er war ein kritischer Denker ohne Illusionen und weit davon entfernt, Wissenschaft und mathematische Methoden zu idolisieren.“31 Der englische Kritiker und Publizist Reyner Banham war bereits früher, im Frühling 1959, eine intensive Woche lang zu Gast an der HfG gewesen und hatte eine vollständig andere Sicht der Dinge im Gepäck mitgebracht, obwohl er sich nach seiner Rückkehr begeistert über „Ulm“ äußerte. Er schrieb: „In meiner Erinnerung fasst das die Schule zusammen – etwas Neues, sehr Technisches, Esoterisches, eher Abstraktes, sehr gut ausgeführt, weder üppig noch aufdringlich. […] Auf der anderen Seite scheint sie total unberührt von solchen Phänomenen wie der Bildzeitung zu sein, der fantastisch erfolgreichen deutschen Boulevard-Zeitung, die einen so wunderbaren Kommunikationsjob macht.“32 Banham hieß in den Diskussionen genau das gut, was für die HfG von Übel war: die Mode und ihren raschen Verschleiß, die exaltierten Formgesten der Autos aus Detroit, den Massengeschmack, egal, ob „gut“ oder „schlecht“, und ganz okay, wenn „schlecht“. Ein soziokulturelles, 132

Abb. 62: Michael Conrad, Herbert Lindinger, Pio Manzù: Stadtlinienbus, 1. Preis in einem inter­ nationalen Wettbewerb, 1966. Plädoyer für Sach­ lichkeit und Absage an ­Expressivität.

letztlich ethnologisches Interesse an der Alltagskultur wie dieses verhielt sich wie eine windschiefe Gerade zum „rechten Winkel von Ulm“ und kann im Rückblick wie ein erstes Räuspern der Postmoderne gelesen werden.33 Wie auch immer man zur moralischen Rigorosität der HfG stehen mag, ob man sie vollumfänglich oder im Prinzip gutheißt, oder ob man sie in ihrer Moral anzweifelt oder als anmaßend zurückweist: Im Rückblick bleiben von der HfG substanzielle Beiträge zur Produktkultur. Die Einflüsse der HfG auf andere Ausbildungsstätten in Europa und weit darüber hinaus sind evident. An Projekten auch nach einem halben  Jahrhundert noch zukunftweisende Beiträge waren verschiedene Autoentwürfe von Pio Manzù und ­M ichael Conrad, die im Unterricht des Mailänder Gastdozenten Rodolfo Bonetto e ­ ntstanden und auf eine vernünftige Auto-Mobilität abzielten. Sie hatten bei geringen Außenabmessungen ein geräumiges, bisweilen variables Interieur mit bequemem Zugang und viel Kopffreiheit und ein mit sicherer Hand entworfenes Äußeres frei von modischen Gedankenlosigkeiten. Der radikale Schritt vom Volkswagen-Käfer zum VW Golf – zehn Jahre später – dürfte davon beeinflusst gewesen sein. Dass von einem Entwurf sogar ein fahrbarer Prototyp in realer Größe gebaut werden konnte – das Mehrzweckauto „Autonova Fam“ von 1965, kürzer und dafür höher als die damaligen Autos –, war eine konzeptionell beeindruckende Leistung und der Zeit weit voraus.34 Am stärksten geprägt wurde ein HfG-Stil aber durch Hans Gugelot und seine Entwicklungsgruppe. Zu deren Entwürfen gehören die Rasierapparate „Braun ­Sixtant“ (1961) und der Diaprojektor „Carousel“ für Kodak (1963). Ihre bis ins 133

letzte Detail überlegte, fertigungsgerechte Konstruktion und ihre souveräne formale Erscheinung sind gültige Dokumente für die gestalterische Sorgfalt von „Ulm“ geblieben, Produkte, die auch ein beträchtliches Publikum erreicht haben und als stilbildend empfunden wurden. Mit Gugelots frühem Tod 1965 erlitt einer der fruchtbarsten Bereiche der HfG einen Rückschlag, von dem er sich nicht mehr ganz erholte. Der Dozent Walter Zeischegg trat nun mehr in Erscheinung und mit ihm die vermehrte Berücksichtigung von Kunststoffen bei Gegenständen, die von der puristischen Orthogonaliät abwichen und meist auf räumlich entwickelten Schalen und periodischen Kegelschnitten beruhten. Analog zur Verbindung Gugelots mit Braun etablierte sich nun eine Zusammenarbeit der Entwicklungsgruppe Zeischegg mit der Firma Helit, doch der stapelbare Kunststoff-Aschenbecher war eben doch eine etwas prosaische Anwendung von Zeischeggs anspruchsvollem Entwurfsdenken.

Abb. 63: Fritz B. Busch, Michael Conrad, Pio Manzù: „Autonova Fam“, fahr­ fähiger Prototyp eines familienfreundlichen Mehrzweckautos, 1965. Gedrängte Bauweise, geräumig und viel Kopffreiheit, große Fensterflächen, hoher Nutzwert.

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Abb. 64: Hans Gugelot: Diaprojektor mit Rundmagazin ­Kodak „Carousel“, 1963. Im Vergleich mit der US-amerikanischen Variante desselben Herstellers sehr konzise, formal beherrschte und herstellungstechnisch vorteilhafte Konfiguration.

Abb. 65: Entwicklungsgruppe Walter Zeischegg: Fläche aus gitterorien­ tierten doppelt gekrümmten Kunst­ stoff­elementen, gedacht für Raum­ tren­nungen, Verkleidung von Leuchten, Lüftungskanälen und weitere An­ wendungen, 1963–1965.

Die Ulmer Schule war in allen Krisen, durch die sie hin und her geworfen und Ende 1968 endgültig niedergerungen wurde, ein Ort mannigfacher Reflexion, an dem man über die kulturelle Verantwortung von Gestaltern gründlich nachdachte und stritt. Sie legte damit Grundlagen für Ausbildungsgänge in zahlreichen anderen Ländern, an denen Gestaltung unter dem Gesichtspunkt der Verantwortung für Gesellschaft und Umwelt gelehrt wird. An Dichte und Intensität von Fragestellungen, an Qualität des Lehrpersonals, an Impulsen und Anregungen war sie den meisten anderen Schulen überlegen und wäre dies mit ihrem Anspruch wohl auch heute. Und doch wäre vermutlich noch viel mehr möglich gewesen. Seit ihrem Ende haben sich „Konsumismus“ und Überflussmentalität weltweit ausgebreitet und sind zum dominierenden Leitmotiv geworden. Eine Bremsfunktion dagegen einzunehmen, wäre der HfG wohl gelungen, ein Damm zu sein dagegen nicht.

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Anmerkungen

11 Max Bill: „Vom Bauhaus bis Ulm“. In: Du (Zürich), Juni/1976, S. 18 12 Max Bill: Form. Eine Bilanz über die Formgestaltung um die Mitte des XX. Jahrhunderts. Basel 1952,

1

Die Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ hinterlegte an der Münchner Universität Flugblätter gegen das nationalsozialistische Regime, deren Mitglieder Geschwister Hans und Sophie Scholl wurden rasch im Februar 1943 gefasst, durch den Volksgerichtshof verurteilt und hingerichtet.

2

Inge Aicher-Scholl leitete die Ulmer Volkshochschule von 1946 an und parallel zu ihrem Engagement für die HfG bis 1974.

3

Vgl. Tony Judt: Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart. München/Wien 2006. (Postwar. A History of Europe Since 1945. London/New York 2005)

4

S. 166 13 Max Bill: „Worte rund um Malerei und Plastik“. In: Kunsthaus Zürich, Wegleitung zur Allianz-Ausstellung 1947, o. S. (S. 7–10, hier S. 9 f.). 14 Otl Aicher: „Bauhaus und Ulm“. In: Lindinger 1987 (vgl. Anm. 9), S. 124–128 15 Karl-Achim Czemper: „Erinnerungen und Gedanken“. In: Ders. (Hrsg.): HfG Ulm. Die Abteilung Produktgestaltung. 39 Rückblicke. Ulm 2003, S. 83 16 Dieter Rams: „Zehn Thesen für gutes Design“ (­Internet-Recherche, www.vitsoe.com, April 2019) 17 Christian Borngräber: „Bruchstücke. Westdeutsches Nachkriegsdesign 1945–1955“. In: Grau­

„Was will die Geschwister-Scholl-Hochschule?“,

zonen – Farbwelten. Kunst und Zeitbilder 1945–

undatiertes anonymes Typoskript (wohl 1950). In:

1955. Berlin 1983, S. 127–169, hier S. 162–164

Claude Schnaidt: „Ulm 1955–1975“, Archithese

18 Max Bill, in: Lindinger 1987 (vgl. Anm. 9), S. 66

Nr. 15, Teufen 1975, S. 5

19 Otl Aicher, ebd., S. 126

5

Max Bill: Wiederaufbau. Erlenbach-Zürich 1945

20 Ernst Moeckl 1955, ebd., S. 71

6

Die Geschwister-Scholl-Stiftung erhielt von den

21 Reyner Banham, ebd., S. 27

USA für den Bau 1 Million Mark, die restliche Bau-

22 Vgl. insbesondere die Berichte von Karl Heinz Berg-

summe wurde durch weitere Spenden aufgebracht.

miller (S. 21–28), Frauke Decurtins Koch-Weser

Baukosten insgesamt ca. 2,5 Millionen Mark. Bau-

(S. 29–36), Klaus Krippendorff (S. 55–72) und

beginn August 1953, Bezug der ersten Bautrakte

Karl-Achim Czemper (S. 73–86). In: Karl-Achim

im Januar 1955. 7

Max Bill am Eröffnungstag, 2. Oktober 1955. Vgl. Christine Wachsmann (s. Anm. 9), S. 78

8

S. 14

Der Grundkurs, der seit 1953 von zentraler didak­

24 Tomás Maldonado, in: Ulm, Jg. 1, Nr. 1 (1958)

tischer Bedeutung gewesen war, wurde in einem –

25 Tomás Maldonado: „Neue Entwicklungen in der In-

je nach Sichtweise mutigen oder verzweifelten –

dustrie und die Ausbildung des Produktgestalters“

Schritt 1962 kurzerhand abgeschafft. Siehe

(Vortrag auf der Weltausstellung Brüssel 1958). In:

Wachsmann (vgl. Anm. 9), S. 173 f. 9

Czemper (vgl. Anm. 15) 23 Otl Aicher, in: Archithese 15/1975 (vgl. Anm. 9),

Archithese Nr. 15, 1975; Herbert Lindinger (Hrsg.): Hochschule für Gestaltung Ulm. Die Moral der Gegenstände. Berlin 1987; René Spitz: hfg ulm. Der Blick hinter den Vordergrund. Die politische ­Geschichte der Hochschule für Gestaltung 1953–

Ulm Nr. 2 (Oktober 1958), 25–40, hier S. 34. 26 Vgl. Henry Dreyfuss: „How the Designer Works“. In: Ders.: Designing for People. New York 1955, S. 44–63, hier S. 54 27 Lucius Burckhardt: „Ulm anno 5. Zum Lehrprogramm der Hochschule für Gestaltung in Ulm“. In:

1968. Stuttgart/London 2002; Christiane Wachs-

Werk Nr. 11/1960, S. 184–186, hier S. 184

mann: Vom Bauhaus beflügelt. Menschen und Ideen

28 Horst Rittel: „Zu den Arbeitshypothesen der Hoch-

an der Hochschule für Gestaltung Ulm. Stuttgart

schule für Gestaltung in Ulm“. In: Werk Nr. 8/1961,

2018

S. 281–283

10 René Spitz (vgl. Anm. 9), zit. nach Daniel Meister/ Dagmar Meister Kleiber (Hrsg.): Einfach – komplex. Max Bill und die Architektur der HfG Ulm. Zürich 2018, S. 27

29 Anthony van Hoboken: „Ulm 1961/62“. In: KarlAchim Czemper (vgl. Anm. 15), S. 157 30 Vgl. Christiane Wachsmann (wie Anm. 8), Kapitel „Aicher gewinnt“, S. 175–189. Dort auch Verweise auf René Spitz (vgl. Anm. 9)

136

31 Karl-Achim Czemper: „Erinnerungen und Gedanken“. In: wie Anm. 15, S. 80 32 Wachsmann (vgl. Anm. 9), S. 142–144 33 „Der rechte Winkel von Ulm“ hieß ein Radio-Feature des Journalisten Bernhard Rübenach, das 1959 auch in Buchform publiziert wurde. 34 Vgl. Otl Aicher: Kritik am Auto. Schwierige Verteidigung des Autos gegen seine Anbeter. München 1984

137

X-21  Das Problem der Systemgrenze

„Diese Fachleute [die Designer] müssen über die technologischen und wissenschaftlichen Fachkenntnisse verfügen, die für eine Mitwirkung in der heutigen Industrie erforderlich sind. Gleichzeitig müssen sie die kulturellen und gesellschaftlichen Konsequenzen ihrer Arbeit erfassen und berücksichtigen.“ Mit diesen Worten brachte die Hochschule für Gestaltung Ulm im Jahr 1961 zum Ausdruck, was sie als ihre Aufgabe ansah. Es sind Sätze, wie sie heute jede Universität, jede Hochschule und Fachhochschule verlauten lässt. Sie sind richtig. Es gibt nur ein Problem: Die Institutionen überschätzen sich, indem sie die Tragweite ihres Selbstanspruchs unterschätzen. Dies war nicht nur in Ulm so. Wissen wir genug, wenn wir einen Soll-Zustand zu bestimmen suchen? Hier liegt die Schwierigkeit. Denn was sind „die“ technologischen und wissenschaftlichen Fachkenntnisse, was „die“ kulturellen und gesellschaftlichen Konsequenzen? Haben wir die richtigen Kriterien zur Hand? Auch „Ulm“ sah damals in Umfahrungsstraßen den Weg zur Lösung des Verkehrsproblems. Im Nachhinein erweist sich der Denkrahmen immer wieder als zu eng. Ein halbes Jahrhundert nach der erwähnten programmatischen Erklärung zeigt sich das Anforderungsprofil wesentlich weiter aufgespannt und schwerer zu erfüllen. Die HfG dachte letzten Endes doch in statischen Prämissen, die Zusammenhänge sind jedoch dynamisch. 1958 träumten viele vom privaten Atomkraftwerk im eigenen Keller oder unter der Motorhaube, vermutlich auch einige „Ulmer“. Heute ist uns klar: Umweltverträglichkeit liegt nicht allein schon vor, wenn ein Produkt langlebig ist. Heute sind wir der Ansicht, in der Umweltverträglichkeit, mit dem ökologischen Fußabdruck und mit dem Kriterium Fairtrade einen gültigen Referenzrahmen zu besitzen, von dem die Ulmer noch nichts ahnen konnten. Doch vielleicht werden auch wir uns dar­in getäuscht haben, weil am Horizont neue Zusammenhänge sichtbar geworden sind.

138

Die HfG konzipierte Autos, die vernünftiger waren als die meisten der damals verkehrenden: Fahrzeuge mit hohem Gebrauchswert, ohne modische Attribute und mit weitgehendem Fehlen von Status- und Prestigeüberlegungen. Die Schule entwickelte jedoch nicht ein integriertes Verkehrskonzept. Auf den wachsenden Verkehr reagierte man in Ulm (wie anderswo auch) mit der Vorstellung von der autogerechten Stadt, mit dem Vorschlag von automatisierten Parkhäusern oder mit Plakaten zur Erhöhung der Verkehrssicherheit. Man übernahm dabei unhinterfragt die Prämisse vom Auto als Privateigentum und des Individualverkehrs entsprechend dem Prinzip „Von-Haus-zu-Haus“, statt den Verkehr unter dem Gesichtspunkt des Service, also der Dienstbarkeit, zu betrachten. Die angeblich systematische Analyse des „Ist-Zustandes“ und des „Soll-Zustandes“ stieß an die Grenzen des praktischen Erkenntnisvermögens, weil die Lösung innerhalb der konventionellen Grundannahmen gesucht wurde statt unter Prämissen außerhalb davon. Bestimmte Randbedingungen, die wir heute als problematisch erkennen, wurden nicht infrage gestellt oder durch alternative Denkansätze erweitert. Das Problem war der lenkende Einfluss unerkannt gebliebener „Systemgrenzen“. So sehr man sich auch bemühte, die jeweiligen Aufgabenstellungen in ihren „vollständigen“ Implikationen zu ergründen, machte man faktisch an den üblichen Schranken der Randbedingungen halt, zumeist vermutlich, ohne sie als solche zu erkennen, geschweige denn, sie infrage zu stellen. Man verbesserte Leuchten, aber nicht die Energiegewinnung oder Energieausbeute; man entwarf „sachliche“ Autobusse oder Straßenbahnen, dachte aber nicht an einen hindernisfreien Einstieg. Warum nicht? Vielleicht deswegen, weil die technischen Konfigurationen dies damals nicht zugelassen hätten. Sie entstanden später in den Konstruktionsabteilungen und unter dem Titel der Barrierenfreiheit: neue Annahmen über den Raddurchmesser, die Konstruktion der Fahrwerke, die pneumatische Absenkung des Fahrzeugs an Haltestellen. Im Ulm der Sechzigerjahre betraf das Entwerfen nur das Fahrzeug. Das Beispiel mag veranschaulichen, was der erwähnte Student an Ulm vermisste: eine umfassende Produktentwicklung, die über den eigentlichen Gegenstand hinausgeht und seine gesellschaftliche Bedeutung ­einschließt.

139

Entwerfen heißt, sich um einen möglichst sachgerechten Referenzrahmen zu bemühen. Die angesprochene Ausbildung von „Fachleuten“ ist so lange unzureichend, als diese sich in ihrem „Fach“ bewegen. Was aber ist es, was die Begrenzungen einer Disziplin ausweitet, durchdringt und überschreitet? Es braucht ein Denken, das auf die Ganzheit von Systemen gerichtet ist. Von diesem Anspruch hatte auch die so selbstgewisse HfG Ulm mit ihren Systemtheoretikern und Kybernetikern nicht die richtige Vorstellung.

140

22 Gestaltung und Parteilinie: ein Spannungsfeld Design in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR 1945–1989

Wichtige Zweige der deutschen Industrie waren vor dem Zweiten Weltkrieg im Osten Deutschlands angesiedelt, etwa die chemische Industrie in Bitterfeld und Leuna, die optische Industrie mit den bedeutenden Firmen Zeiss und Schott (beide in Jena), die feinkeramische Industrie in Oberfranken, die Deutschen Werkstätten (Dresden-Hellerau), die Autoindustrie (Auto Union) und nicht zuletzt die Junkers-Flugzeugwerke (Dessau).1 Die westdeutschen Niederlassungen einiger dieser Firmen (Schott, DKW/Auto Union, Zeiss) waren erst eine Folge des Krieges. Der Osten Deutschlands war stark indus­ trialisiert – auch in Form von Präzisionsindustrie – wie übrigens auch die benachbarte Tschechoslowakei. Nach dem Krieg und der Teilung Deutschlands musste die 1949 gegründete Deutsche Demokratische Republik den Wiederaufbau unter ungünstigeren Umständen als die Bundesrepublik beginnen. Der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) blieb seitens der UdSSR die Teilnahme am US -Marshallplan verwehrt, vielmehr auferlegte diese dem Land bis 1953 hohe Reparationsleistungen, teilweise in Form der Demontage zahlreicher Industrieanlagen und des Abtransports von 11 000 Kilometer Eisenbahnschienen, was auch den Güterverkehr stark behinderte. Die DDR war gegenüber der doppelt so großen BRD von Anfang an im Hintertreffen. Die antinazistische Ausrichtung der Ulmer Hochschule und ihre programmatische Ablehnung der modischen Verschleißwirtschaft hätten eigentlich eine grundsätzliche Übereinstimmung mit der Wirtschafts- und Kulturpolitik in der DDR bedeuten sollen. Doch tatsächlich war die Beziehung weniger klar, und sie beschränkte sich in der DDR auf einen anfänglich kleinen, dann wachsenden Kreis von Gestaltern und Lehrern, die sich mit vielfältigen Ansprüchen und Widerständen konfrontiert sahen. Die kulturpolitischen Verhältnisse im „Arbeiter- und Bauernstaat“ brachten wechselnde Umstände mit sich. Dennoch war der Einfluss der Partei nicht so groß, wie man ohne eigene 141

Kenntnis und Erfahrung erwarten würde. Mit der HfG gab es Schnittmengen und Wechselströme. Was die HfG seit 1953 wollte, war in Ostdeutschland bereits früher, seit 1946, als Ziel formuliert und begonnen worden. Wer wird erwarten, dass sie auf breiter Front erfolgreich gewesen wäre? Doch insgesamt konnte sich eine „aufgeklärte“ funktionale Gestaltungspraxis hier eher besser und vor allem früher durchsetzen als im westdeutschen Hinterland. Von vorne anfangen wollen Schon kurz nach 1945 veranlassten der Wunsch, im Osten Deutschlands beim Wiederaufbau der Demokratie mitzuwirken, Gestalterinnen und Gestalter aus dem Ausland, nach Ostdeutschland (bis 1949: „Sowjetischer Sektor der Besatzungsmächte“) zu gehen. Zu ihnen gehörten der prominente nieder­ ländische Architekt Mart Stam. Bereits im Land lebte der gebürtige Bosnier ­Selman Selmanagic. Beide waren sie am Bauhaus Dessau gewesen – Stam kurze Zeit als Dozent, Selmanagic als Student. Beide wollten zum Aufbau eines sozialistischen deutschen Staates beitragen. Nach der Nazidiktatur galt es, erst einmal Ausbildungsstätten für gestalterisch Tätige zu schaffen beziehungsweise die existierenden Akademien von der Naziideologie zu säubern. In Ostdeutschland betraf dies im vorliegenden Zusammenhang fünf Institutionen: die Hochschule für Baukunst und Bildende Künste in Weimar (gegründet 1946); die Hochschule für Werkkunst (1875) und die Akademie der bildenden Künste (1764), beide in Dresden; die Hochschule für angewandte Kunst in Berlin-­Weißensee (gegründet 1946); schließlich die Burg Giebichenstein – Hochschule für industrielle Formgestaltung in Halle (→ Kap. 13 und Kap. 14) . Mart Stam war in der Anfangsphase nach 1945 eine wichtige Figur. Er war zunächst in Dresden, wo er nach Gropius’ Vorbild beim Bauhaus Weimar die beiden erwähnten Schulen verschmelzen wollte und wohin er unter anderen Marianne Brandt als Lehrerin holte. Es gab Widerstand aus dem Lehrkörper, genauer aus den Reihen der „freien Künste“, doch vor allem Walter ­U lbricht, damals noch ein führender Funktionär der KPD in Sachsen und von Beruf Möbelschreiner, war ein scharfer Gegner der Schule, die in Kontakt mit den Deutschen Werkstätten Hellerau stand und zu Ulbrichts Missfallen eine neuzeitliche Möbelgruppe entwickelt hatte.2 Als Folge dieses repressiven Klimas 142

in Dresden ging Stam 1950, kurz nach der Staatsgründung, nach Berlin, übernahm die Leitung der Schule von Berlin-Weißensee und gründete das Institut für industrielle Gestaltung und dessen Sammlung für industrielle Gestaltung. Voller Optimismus und in kategorischer Klarheit äußerte er nun seine Erwartungen an seine Wahlheimat: „Unsere neue Art, an das Problem der indus­ triellen Gestaltung unserer Industrieprodukte heranzugehen, ist im Rahmen einer kapitalistischen Produktion nicht möglich, ist überhaupt nicht möglich, solange nicht die Befriedigung der Bedürfnisse, nicht die ständige Erhöhung des Wohlergehens und Wohlempfindens der großen breiten Masse Ausgangspunkt der Produktion ist, sondern der Profit“ (Stam 1950).3 Man erlebte die Zeit als einen hoffnungsvollen Neuanfang. Auch andere Bauhaus-Absolventen aus Weimar und Dessau setzten sich sogleich für eine Rückbesinnung auf funktionalistische Gestaltungsziele ein: Marianne Brandt, Franz Ehrlich, Marguerite Friedlaender, Walter Funkat, Gustav Hassenpflug, Herbert Hirche, Peter Keler und Hajo Rose. Franz Ehrlich, Edmund Collein oder Richard Paulick kamen als Architekten in der DDR in bedeutende Positionen. Das geschah einige Jahre vor der Gründung

der DDR (1949) und somit auch vor der HfG Ulm. Die Zeit sah optimistische Bemühungen um eine fortschrittliche Gestaltung nach dem Ende der Nazi­ herrschaft: zweckdienlich, ästhetisch überzeugend, gesellschaftlich fortschrittlich, in volkswirtschaftlicher Hinsicht gesund; weder dem modischen Verschleiß noch dem statusgetriebenen Repräsentationsdenken verpflichtet. Fotografien von Ausstellungs- und Messeständen, etwa der Leipziger Herbstmesse 1946, dokumentieren auf hohem Niveau das Wiederaufleben des gestalterischen Repertoires der Avantgarde vor 1933.4 Die jüngere Literatur zur Gestaltung in der DDR betont diesen Neubeginn in der anfänglichen Übereinstimmung der politischen Ausrichtung des Staates mit einer funktionalen Auffassung bei einer konsequenten Ablehnung des merkantilen Profitstrebens, wie es – bisweilen allzu pauschal – dem Westen zugeschrieben wurde. Die rhetorische Abgrenzung vom Westen war gerade für die fortschrittlichen Gestalter ein Argument, um zugunsten der funktionellen Gestaltung im Sozialismus gute Stimmung zu machen.5 Und wirklich sollten in 40 Jahren neben der (wie überall) üblichen Durchschnittsware 143

Abb. 66: Margarete Jahny (Betreuerin Marianne Brandt): Projektarbeit für ein stapelbares Geschirr, Dresden 1946. Die erstaunliche Vorwegnahme von Nick Roerichts Service TC 100 von der HfG Ulm (1959).

zahlreiche bemerkenswert gestaltete Produkte entstehen: Möbel, Services, Küchengerät, Radios und Plattenspieler, Motorroller und Motorräder, Büroapparate und anderes. (Einiges davon gelangte auch ins Sortiment von IKEA und anderen Firmen in den Westen, ohne dass dies bekannt wurde.) Aber auch Beispiele für geradezu exaltierte stilistische Anleihen bei der Stromlinienform entstanden, was allzu starre Zuordnungen zwischen Formensprache und Wirtschaftsmodell erschwert.6 Auch blieben manche Ideen und Projekte – nicht selten überaus relevante – im Entwurfsstadium stehen. Mart Stams zitierte Aussage beruhte auf der Hoffnung, dass im neuen Staat dort angeknüpft werden konnte, wo nach 1933 die Entwicklung abgebrochen war. Ein erstaunlicher früher Entwurf aus Stams kurzer Zeit in Dresden war ein stapelbares Geschirr, 1949 entwickelt von Margarete Jahny – betreut durch Marianne Brandt –, das eine große Ähnlichkeit mit dem Service TC 100 aufweist, mit dem Nick Roericht zehn Jahre später in Ulm Furore machte. Jahny, von der später verschiedene Services in hohen Stückzahlen produziert wurden, gilt als eine der bedeutendsten Gestalterinnen der DDR . Ihre Idee 144

der platzsparenden Unterbringung von Geschirr knüpfte am „Neuen Wohnen“ der Weimarer Republik an – etwa von Das Neue Frankfurt – und lässt sich als Zeichen der Rückkehr zum Optimismus von 1925 lesen. Für ihr erwähntes Unterrichtsprojekt kam eine serielle Produktion nicht in Betracht. Dennoch bekam der Vorschlag in etwas anderer Form eine Zukunft. Stalins Arm geht dazwischen Mart Stam verließ kurz nach seinem Umzug nach Berlin bereits an Neujahr 1953 wieder die DDR – drei Jahre nach der Staatsgründung – und ging zurück in den Westen. Was war geschehen? Walter Ulbricht war 1950 Generalsekretär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) geworden; die SED hatte Stalins Maxime des Sozialistischen Realismus, „National in der Form, sozialistisch im Inhalt“ übernommen und suchte ihr in Stalins letzten Lebensjahren nachzukommen. Damit stellte sie sich den Erneuerern im ganzen Land in den Weg. Dass in diesem Slogan die beiden Wortteile des „National­ sozialismus“ vorkamen, wenn auch in einer matt dialektischen Formulierung, irritiert. Eine auffallende Sprachgläubigkeit und ein Eiertanz um das „richtige“ Verhältnis von Bezeichnendem und Bezeichnetem wohnte in der ganzen Zeit der DDR den Diskursen inne; kein Wunder, da die stattliche Obrigkeit die Sprache regelte. Damit setzte sich ein Element der Nazi-Kulturpolitik, ob gewollt oder ungewollt, in die DDR hinein fort.7 Von Kurt Liebknecht, dem einflussreichen Präsidenten der Bauakademie, ging nun die Forderung nach einer Architektur nach dem Vorbild historischer Stile aus. Er schrieb 1951: „Wenn wir im Schinkelschen Stil bauen würden, so würde das dem Schönheitsempfinden der Bevölkerung mehr entgegenkommen, als wenn wir im Bauhausstil bauen würden.“8 Zwar widersprach der in der SED hoch geachtete sozialistische Schriftsteller Ludwig Renn Liebknecht mit dem Argument, das Bauhaus sei nationales Erbe: „Wir können doch nicht diese vielleicht wichtigste Periode unserer deutschen Architektur-Geschichte, die einzige Periode, in der Deutschland einen eigenen Stil schuf, einfach totschweigen.“9 Doch für die Machthaber blieb das Bauhaus ein Symbol des „Kosmopolitismus“, den sie ablehnten. Hier lag der Grund für Stams Rückkehr in den Westen. Der SED -Generalsekretär Walter Ulbricht, wie erwähnt ursprünglich 145

Möbelschreiner, berief sich 1952 in einer Konferenz auf den Geschmack und die Bedürfnisse der breiten Bevölkerung: „Die Möbel, die im Bauhaus-Stil hergestellt wurden, entsprechen nicht dem Schönheitsempfinden der fortschrittlichen Menschen des neuen Deutschland. Es gibt auch heute noch bei uns volkseigene Betriebe, die die primitive Gestaltung von Möbeln gedankenlos nachahmen und nicht die hohen Ansprüche erkennen, die die werktätige Bevölkerung jetzt an die Schönheit der Gestalt und an die Bequemlichkeit der Möbel stellt.“10 Ein Jahrzehnt später sprach Ulbricht in einer Rede, der breiten Unterstützung in der Republik gewiss: „Die Mehrheit der Werktätigen wird nicht in solch langweiligen Räumen wohnen wollen. Sie wollen helle, freundliche Farben und geschmackvolle Vasen.“11 Zu welchen Worten passen welche Vorstellungen von welchen Gegenständen? Die alte Frage. Doch als 1956 die „Wohnraum Typenserie 602“ vorgestellt wurde, entworfen von Franz Ehrlich für die Deutschen Werkstätten Hellerau, kam Ulbrichts hindernder Arm zu spät, um die Produktion zu stoppen, die bereits einen großen Bestellungseingang verzeichnete.12 Ehrlichs Entwurf wurde rasch beliebt. In einem zentralistischen Obrigkeitsstaat auf planwirtschaftlicher Grundlage hatte das offizielle Wort das Gewicht einer Maxime zur Regelung der Praxis. Nach Stams Gang zurück in den Westen vertrat mit Walter Heisig ein strammer Parteimann die offizielle Linie. Als Erstes benannte er das „Institut für industrielle Gestaltung“ kulturpolitisch konform um – und zurück – in „Amt Abb. 67: Bücherschrank entsprechend Stalins Maxime des Sozialistischen Realismus, der Renaissance nachempfunden, 1953. Formen des Feuda­ lismus für das Proletariat.

146

Abb. 68: Franz Ehrlich: Komplettierungsfähiger Einzelmöbel-Typensatz 602, 1957 VEB Deutsche Werkstätten Hellerau. Ein Erfolg gegen den Willen des SED-Vorsitzenden ­Ulbricht.

für angewandte Kunst“ und begründete dies so: „Formalistische und kosmopolitische Tendenzen treten am meisten und am deutlichsten auf dem Gebiet der Glas- und Keramik-Industrie in Erscheinung. Tendenz zur ‚einfachen‘ Form und die möglichst weitgehende ‚Ausschaltung des Dekors‘ lässt deutlich das Bestreben, einen sogenannten ‚internationalen Qualitätsstandard‘ einzuhalten, erkennen. Das aber bedeutet Unterstützung des Kosmopolitismus, ist ein Ausweichen vor dem Ringen um die nationale Form, ist Mangel an bewusster Parteilichkeit.“13 Die linguistische Nähe des letzten Satzes zu einer Nazi-Phrase ist unschwer erkennbar. Die Verfechter der Moderne standen nun im Gegenwind. Im Glauben an die Überzeugungskraft klarer Argumente setzten sie sich tapfer für ihre geistiggestalterischen Grundlagen ein, etwa Selman Selmanagic, der um 1952 in einem Zeitungsartikel die Begriffe von „Form“ und „Inhalt“ anders, nämlich reziprok zur SED -Linie, zu bestimmen suchte: „Vergessen wir nicht, dass der Möbelentwerfer von heute als sozialistischer Realist vom Inhalt her, also von innen nach außen arbeitet und nicht, wie der Möbelzeichner früherer Zeiten, von den äußeren Schmuckformen ausgeht. Dieses Ausgehen vom Inhalt, also von der Gebrauchsaufgabe des Möbels her, erfordert natürlich ein ganz 147

besonders sorgfältiges Eingehen auf die Konstruktion und die Methode der Herstellung. […] Dass alles, was ein Möbelkollektiv erarbeitet, nur vom werktätigen Menschen her entwickelt werden kann, ist selbstverständlich. Seine Bedürfnisse ergeben letztlich die Inhalte. Aus diesen Inhalten sind dann in kollektiver Arbeit die Formen zu entwickeln.“14 Aufatmen im Tauwetter Doch eine solche Argumentation zugunsten der Sachlichkeit vermochte die Parteioberen nicht zum Überdenken ihrer Grundsätze zu veranlassen. Ein gewisser Kurswechsel konnte erst nach Stalins Tod 1953 und Chruschtschows Geheimrede auf dem Parteikongress 1956 (Beginn der Entstalinisierung) stattfinden und etwas mehr staatliche Toleranz bringen. Die Bevormundung der Gestalter ging nach Chruschtschows Rede zurück und hörte sogar für ­einige Jahre auf. Das „Tauwetter“ war auch in der DDR selbst unter Walter Ulbricht spürbar. Ein Zeichen dafür war 1956 die Gründung der Fachzeitschrift form+zweck, die während all der Jahre eine klar progressive Linie verfolgen und eine verdienstvolle Diskussionsplattform werden sollte, aber auch Artikel im angesehenen Organ Bildende Kunst. Es konnten wieder Entwürfe entstehen, auf Ausstellungen gezeigt und in den Zeitungen kommentiert werden, die frei vom kleinbürgerlichen Mief des Spätstalinismus waren. Der Radioapparat „Berolina K“, der 1955 an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee von Horst Giese entworfen und seit 1957 produziert wurde, war ein markanter Zeuge dieser nachstalinistischen Wende.15 Eine Fülle von aufgeräumten, schlichten Gegenständen entstand, die dem Wohnen neuen Schwung zu geben versprach. Die Partei sah das ungern. Sachlichkeit, Schlichtheit, Übersichtlichkeit, Glattflächigkeit, Rationalität: Was sie bei Werkzeugmaschinen, Laboreinrichtungen und anderen Investitionsgütern für begrüßenswert hielt, musste nicht auch im Wohnen gelten. Die Kubakrise 1962 hatte eine erneute kulturpolitische Verhärtung zur Folge, die sich jedoch vorerst in der praktischen Entwurfsarbeit erstaunlich wenig niederschlug. Ilse Decho – Dozentin für Glasgestaltung in Halle – schuf 1963 mit dem Teeservice 5000 der Firma Schott in Jena eine überzeugende Paraphrase von Wilhelm Wagenfelds Entwurf aus den 1930er-Jahren und erhielt dafür eine Goldmedaille. Die erste 148

Abb. 69: Ilse Decho: gläsernes Teeservice 5000, 1963. Hommage an Wilhelm Wagenfeld (1932) und selbstbewusste Fortsetzung der ruhmreichen Herstellung von hitzebeständigem Glas in Jena.

Generation von Absolventen der Gestaltungs-Ausbildung, jene, die um 1955 ihre Diplome erhalten hatten, sah insgesamt eine gute Zukunft vor sich: zeitgemäße Gestaltungsarbeit für Industrieprodukte, gesellschaftlich richtig, von der Politik getragen, volkswirtschaftlich sinnvoll, ästhetisch überzeugend. Sie empfanden, dass sie im Staat eine dankbare Rolle spielten. Einer der wichtigen Exponenten der DDR-Gestaltungskultur, Karl Clauss Dietel, nennt die Zeit von 1955 bis 1968 die beste und fruchtbarste: Bis zum August 1961 (Mauerbau) konnte er sich frei in Westberlin mit Kollegen treffen und im „Amerikahaus“ die westlichen Zeitschriften studieren. Zwar entfiel mit der Mauer nach 1961 diese Bewegungsfreiheit, aber in beruflicher Hinsicht standen einem noch während Jahren einige Möglichkeiten offen. Für Dietel und manche seiner Kollegen änderte sich die Situation mit dem Einmarsch der Sowjettruppen in der Tschechoslowakei im August 1968, mit dem Chruschtschows Nachfolger Breschnew den Prager Frühling erstickte. Das Mitgefühl vieler DDR-Bürger mit ihren Genossen in der Tschechoslowakei untergrub das Vertrauen in die eigene Staatsführung, die darauf mit einer erneuten politischen Verhärtung antwortete und den Spielraum für gestalterische Initiativen spürbar einschränkte.16 Im umfassenden Buch von Heinz Hirdina Gestalten für die Serie. Design in der DDR 1949–1985 (erschienen 1988) sind Arbeiten abgebildet, die eine erstaun-

liche Parallelität – auch in zeitlicher Hinsicht – zu Projekten und Produkten 149

Abb. 70: Wolfgang Dyroff: Pendelleuchte, 1964. Ähn­ liche Auffassungen waren damals an Leuchten aus Dänemark anzutreffen.

Abb. 71: Jürgen Peters: VVB Rundfunk TV und ­Verstärker. Die DDR suchte mit Erfolg mit solchen ­Repräsentationen mit der Moderne in der Bundes­ republik Schritt zu halten.

der HfG Ulm erkennen lassen. Nicht immer wird klar, ob sie in Produktion gegangen sind. Jürgen Peters’ Elektrorasierer „bebo-sher“ von 1961 ist das ostdeutsche Korrelat zu Hans Gugelots „Braun Sixtant“ aus demselben Jahr (wenn die Zeitangabe stimmt). Ausgesprochen innovativ war das Entwurfsmodell eines modularen Radio-TV-Sets ebenfalls von Peters (1964). Das Vi­ brations-Poliergerät „Metapolan“ von Erich John (1963) war in der Auffassung wie auch in der Volumetrie nahe an Gugelots Kodak „Carousel“ Diaprojektor 150

Abb. 72: Erich John: ­Vibrationspoliergerät, VEB Rathenower Optische Werke, 1964.

(ebenfalls 1963, Abb. 64). Die Ähnlichkeit in der klaren und einfachen Linienführung kommt aus der weitgehenden Übereinstimmung der Auffassungen von Gestaltung. Da die zentral gesteuerte Wirtschaftsplanung erhebliche Mängel bei der effektiven Umsetzung der Mengen- und Qualitätsziele offenbart hatte, sollte ab 1964 mit dem „Neuen Ökonomischen System“ die Eigeninitiative der Volkseigenen Betriebe stimuliert werden, wobei auch Sonderprämien winkten. Zudem wurden halbjährlich an den internationalen Leipziger Messen von einer Jury Auszeichnungen für „Gutes Design“ der Exportgüter verliehen. Generell verlagerte sich damals die Aufmerksamkeit von der „guten Form“ zur umfassenderen „Qualität“, die sich in mehr Kriterien äußerte als in der formalen Gestaltung allein, wodurch die wirtschaftlichen Verantwortungsträger die internationale Konkurrenzfähigkeit von Produkten steigern wollten: etwa für optisches Gerät, Werkzeugmaschinen, Rechner und andere Investitionsgüter.17 Bürokratisierung Zwei kurz aufeinanderfolgende Umbenennungen des „Instituts für indus­ trielle Gestaltung“ als Teil der Schule von Berlin-Weißensee in „Zentralinstitut für Formgestaltung“ (1963) und zwei Jahre später in „Zentralinstitut für Gestaltung“ (1965) standen ebenfalls im Zusammenhang mit dem „Neuen 151

Ökonomischen System“ und waren von einer tiefgreifenden Veränderung im offiziellen Stellenwert von Gestaltung in der DDR begleitet, zuerst als Vorgang einer Zentralisierung, dann auch vom Schritt von der „Formgestaltung“ zur „Gestaltung“. In den ersten beiden Bezeichnungen ist das „Künstlerische“ noch enthalten, zuerst explizit, dann noch implizit. Dem folgte die Absicht, die „Form“ vollständig im „Produkt“ aufgehen zu lassen und sich dessen hohe Gesamtqualität als Ziel zu setzen.18 Aus designtheoretischer Sicht ist das plausibel: Gestaltet werden soll nicht nur die Form, sondern der ganze Gegenstand. In der Praxis jedoch erwies sich der Schritt als verhängnisvoll, denn er war verbunden mit einer neuen politischen Verortung des Instituts, weg vom Kulturministerium zum „Deutschen Amt für Messwesen und Warenprüfung“ (1965), das heißt ans Wirtschaftsministerium unter einem kulturpolitischen Hardliner, Günter Mittag. In jeder Ministerialbürokratie entwickelt das Organigramm eine unwiderstehliche Macht. Man erahnt das zunehmende Hemmnis einer technokratischen Behörde, die wertvolle Ideen stoppte, manchen Gestaltern den Sauerstoff zum Atmen entzog und sie nach und nach resignieren ließ.19 Der Plan, durch die Verlagerung des Instituts dem Industriedesign im Rahmen des „Neuen Ökonomischen Systems“ der Produktqualität eine wichtigere Stelle zuzuweisen, war grundsätzlich nicht falsch.20 Man kann s­ agen, dass die Gestalter damit im Wirtschaftsgeschehen die Funktion des „Koordinators“ in Industrie und Gewerbe erhalten sollten – in der DDR von Staates wegen –, die an der HfG Ulm Maldonado als Ziel vor Augen stand (→ Kap. 21) .

Doch koordiniert wird stets das bereits Vorhandene. Theoretisch

hätte sich der Einfluss des Gestalters vielleicht auch auf die Erkundung produktionstechnisch neuer Methoden erstrecken können, in der Praxis geschah dies nicht. Nicht wenige profilierte Gestalter in der DDR wehrten sich gegen diese Art von Einbindung, die bedeutete, sich innerhalb der Grenzen der gegebenen Betriebskultur und Produktionsmethoden zu bewegen. (Dies war auch der Pferdefuß bei Maldonados Konzept.) Erreicht wurde, wie nicht selten in der DDR , das genaue Gegenteil des Beabsichtigten. Die Gestalter litten unter den Unzulänglichkeiten des „humanen Faktors“, unter der zunehmenden Drangsalierung durch die Ministerialbürokratie bei zugleich fehlender Kooperationsbereitschaft aufseiten der Industriebetriebe. Im Rückblick war 152

von „Kasernierung“ die Rede.21 Die Verstaatlichung vormals halb privater Betriebe unter Erich Honecker (1972) wirkte sich zusätzlich kontraproduktiv aus und brachte vielerorts initiative Ansätze zum Erliegen. Am besten konnten sich die Gestalter bei Investitionsgütern entfalten: bei optischen Geräten, Schleifmaschinen, Drehbänken, Spritzguss-Werkzeug­ maschinen, Labor- und Medizinalgerät. Diese Güter, deren Grundlage das überlieferte deutsche Qualitätsbewusstsein war – und deren Randbedingungen in Pflichtenheften definiert –, wurden in den ganzen Comecon-Wirtschaftsraum geliefert. Die Sechzigerjahre waren geprägt von einem Aufbruch, angetrieben von den Zielen der Staatlichen Plankommission. „Aus bisher unverbundenen Einzelprodukten einer zersplitterten Produktion wurden allmählich Baureihen, Programme, Kombinationen, Kollektionen und Baukästen.“22 Die beiden Gestalter Karl Clauss Dietel – der auch über einen Hintergrund als Ingenieur verfügte – und Lutz Rudolph zogen den Status des Freiberuflers der festen Anstellung bei einem Mitglied der Vereinigung Volkseigener Betriebe vor und entwarfen gemeinsam in drei Jahrzehnten eine lange Reihe wichtiger Entwürfe, die nur zum geringeren Teil in Produktion gingen und meist im Stadium funktionsfähiger Prototypen endeten. Eine Ideengeschichte muss auch Versuche würdigen, die nicht zur Realisierung gelangten. Die Entwürfe des Gespanns Dietel/Rudolph – sie arbeiteten auch unabhängig voneinander – stehen für eine zugleich funktionale und ästhetisch überzeugende Auffassung von Gestaltung in einem sozialistischen Staat. Sie wurden teils verwirklicht, großenteils nicht, teils teilverwirklicht. Die Limousine Wartburg 353 (Prototyp 1962) wies eine gestalterisch mutige Verwendung prägnanter „Toleranzfugen“ auf, die produktionstechnisch bedingt waren und zugleich die Form artikulierten.23 Dies, und auch die Ausbildung der Kühlluftlamellen, geschah unabhängig von Autoentwürfen in Ulm, aber gleichzeitig und in auffallender inhaltlicher Parallelität damit. Ähnliches gilt vom „Heli“-Radio RK2 (Rundfunkgeräte-Kombination 2), einem noch früheren Entwurf aus dem Jahr 1960.24 Es markierte einen Kontrast zu den üblichen geschweiften und lackglänzenden Radiogehäusen und bestand aus zwei gleich großen, aus planen Flächen zusammengesetzten Modulen, die nebenoder übereinander aufzustellen waren. Selbst Walter Ulbricht soll daran bei 153

seinem Messebesuch Gefallen gefunden haben.25 Vier Jahre später ging auch Dietels und Rudolphs Entwurf des variabel-modularen Radio-/Grammo-Programms Heliradio RK 3 in Produktion und wurde wieder ein Erfolg. Wenn ein Entwurf realisiert wurde, erreichte er meist auch ein großes Publikum. Modularität war in der DDR in verschiedener Hinsicht ein wichtiges Thema. Sie bot sich als geeignete Methode an, um gleichzeitig verschiedene Anforderungen zu erfüllen. Sie konnte zugleich die Design-Zusammenarbeit unterschiedlicher Industriebereiche und die Organisation der Produktionsmittel erleichtern, die Verwendungsmöglichkeiten bei den Benutzern vermehren und nicht zuletzt Service- oder Reparaturarbeiten vereinfachen. In der Realität ließ sich das Prinzip nicht im ganzen Umfang entfalten. Ein Hinderungsgrund war oft die fehlende Verbindung zwischen dem vorgegebenen Plan und Abb. 73: Gerd Boehnisch: Mikroskop „Ergaval“, Carl Zeiss Jena, 1967. Mit solch hochwertigen Produkten war die DDR auf der Höhe des Weltmarktes.

154

Abb. 74: Erich John: ­System: Operngucker, ­modulare Theaterglas­ kombination „Unistar“, VEB Rathenower Optische Werke, 1965. Sinnreiche Kombinatorik, jedoch ­vermutlich wegen des Gewichts auf der Nase von ­begrenztem Tragkomfort.

den praktischen Voraussetzungen, um ihn erfüllen zu können. Oft fehlte es an den entsprechenden Mitteln, die für eine neue Produktionslinie zu investieren gewesen wären, respektive an der unternehmerischen Risikobereitschaft. So blieb man lieber beim Alten. Der Kleinwagen „Trabant 601“ (produziert von 1964 bis 1991) ist das prominenteste Beispiel dafür. Er war von seinen Ingenieuren als maßstäblich verkleinerter Mittelklassewagen konzipiert worden, als Gernegroß im Kontrast etwa zu den Gernekleinen Citroën 2 CV, Renault R4 oder dem BMC 850, dem „Mini“, deren DNA die von Kleinwagen war. Der „Trabi“ verdankte sich dem konventionellen Reflex, den Käufern die verkleinerte Imitation eines „richtigen“ Autos anzubieten, und war so ein Resultat kleinbürgerlichen Denkens. Karl Clauss Dietel und Lutz Rudolph unternahmen als beauftragtes Team während zwanzig Jahren sieben Anläufe zur Entwicklung eines NachfolgeModells. Sie schlugen wiederholt Kompaktfahrzeuge mit Steilheck, längerem Radstand und Heckklappe vor, also mit besseren Fahreigenschaften, besseren Platzverhältnissen und höherer Variabilität. Jedes Scheitern ihrer Bemühungen schmerzte sie mehr als das vorherige, letztmals 1984.26 Im Entwurfsstadium blieben auch verschiedene Nutzfahrzeugentwürfe von Dietel stecken; immerhin bis zum Funktionsmuster in Originalgröße brachte es 155

Abb. 75: K. Clauss Dietel mit Hans Fleischer: Grundentwurf Wartburg 353, Automobilwerke Eisenach, 1962, Bugvariante 1964. Ein mutiger Ansatz mit bemerkenswerten Parallelen zu Ulm.

Abb. 76: K. Clauss Dietel: Lkw-Studie L60, Modell für Industriewerke Ludwigsfelde, 1971/1972. Modulares Denken im Hinblick auf funktionelle Variabilität und technische Langlebigkeit.

1972 das Modell für IFA , doch blieb es bei verschiedenen Prototypen. Alle diese Projekte scheiterten offiziell an den notwendigen Investitionen für die Fertigungsanlagen, vor allem aber am fehlenden Verständnis der zuständigen ­Behörde, womöglich auch an Ressentiments hoher Beamter und Staatssekretäre gegenüber den freiberuflichen Gestaltern – hier Dietel und Rudolph – oder aus einer Kombination von alldem. Besonders bedauerlich ist, dass 1972 deren pfiffiges Konzept eines viertürigen Kleinwagens keine Chance hatte, gut 20 Jahre vor dem Renault Twingo; ein solches Auto, gut konstruiert und 156

Abb. 77: K. Clauss Dietel und Lutz Rudolph: PkwStudie im Auftrag des Rats des Bezirks Karl-MarxStadt/Chemnitz, Bereich Kultur, 1971/1972. Als Entwurf seiner Zeit weit voraus, doch ohne Chance der Verwirklichung.

sorgfältig gebaut, wäre nicht nur „zeitgemäß“, sondern seiner Zeit weit ­voraus gewesen und hätte auch im Westen gut ankommen können. In Auftrag gegeben hatte die Studie der Rat des Bezirks Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) und nicht etwa der Trabant-Hersteller VEB Sachsenring Zwickau, wo durchsetzungsfähige und weitblickende Mentoren nicht entscheiden konnten; aus Berlin kam stets das rote Licht.27 Die Frage mag berechtigt sein, ob Käufer in der Bundesrepublik sich mit einem solchen Auto nicht als „Ostblock-Sympathisanten“ verdächtigt gemacht hätten. Vielleicht, vielleicht aber auch nicht – die beiden deutschen Staaten waren die eigentlichen Frontstaaten im Kalten Krieg; doch umgekehrt wäre mit einem solchen eigenständigen und zukunftsfähigen Auto die DDR auch ein anderer Staat gewesen und Sympathie im West- für den Ostblock etwas plausibler. „Offenes Prinzip“ Von Bedeutung für das Design in der DDR – und als ebenfalls zukunftsfähiges Konzept weit darüber hinaus – ist auch das von Dietel entwickelte und von Rudolph mitgetragene „offene Prinzip“. Sie verstanden darunter eine Entwurfsmethode für ein Konstruktions- und Produktionsprinzip, eine Nutzungsform und auch ein Wirtschaftskonzept. Der Grundgedanke war einfach: Ein Produkt soll so aufgebaut sein, dass seine Komponenten leicht ausgetauscht 157

werden können, sei es aus Gründen der Abnutzung (materieller Verschleiß), der Modernisierung (technologischer Verschleiß bzw. Fortschritt) oder auch der soziokulturellen Veränderungen („Mode“). Das Produkt sollte also aus ­sowohl räumlich-operativ als auch zeitlich anschlussfähigen Komponenten bestehen, Ersteres durch deren gute Zugänglichkeit, Letzteres durch die „Elastizität“, mit der sie zu einem bestimmten Zeitpunkt den technologischen Fortschritt in das Produkt einzubauen erlauben. Zugleich sollte das „offene ­P rinzip“ dem Eigentümer eines Produkts ermöglichen, sich nach seinen Vorlieben, in Form der gewählten und hergestellten formalen oder farblichen Konfiguration darin persönlich zu manifestieren. Mit den in hohen Stückzahlen produzierten Leichtmotorrädern „Simson“ (1967–1991) gelangen Dietel und Rudolph Entwürfe, die das „offene Prinzip“ sinnfällig verkörperten. In technischer Hinsicht war ein Kriterium die formale Prägnanz reversibler Verbindungen, also das Sichtbarbelassen von Schrauben; beim Entwurf einer Schreibmaschine waren Schraubenköpfe sichtbar und auch bei anderen Geräten sollten jegliche Schnappverbindungen – wie sie im Westen durch „Hinterschnitte“ im Kunststoff schon damals üblich waren – vermieden werden, um Reparaturen zu erleichtern. Das Prinzip der Austauschbarkeit war zwar nicht neu, doch war es nach dem Krieg in den Hintergrund gedrängt und im Zuge der Entwicklung zur Konsum- und Verschleißgesellschaft vergessen worden.28 Es wird heute von den Fürsprechern einer Kreislaufwirtschaft wieder vertreten und wäre wohl imstande, weltweit gravierende Probleme hinsichtlich des ökologischen Fußabdrucks zu entschärfen. Dietel und Rudolph unterlegten ihm eine zusätzliche Absicht und implizierten mit dem offenen Prinzip auch ein geeignetes Ventil gegen den gesellschaftlichen Konformitätsdruck, der vom Staat ausging und unter dem sie, wie so viele andere auch, litten. In der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre wurde in der DDR ein Thema ­v irulent, das auch in Westeuropa die Diskussion belebte: das Wohnen in ­modularen, beliebig veränderbaren, erweiterbaren, um- und ausbaubaren ­Elementen. Das Denken in Systemen war in der DDR theoretisch wegen der Rationalisierungsmöglichkeiten in der Industrie seit Langem ein anerkanntes ­Postulat. Es wurde generell in der Industrie als effizientes Mittel der Rationalisierung wahrgenommen – wenn auch nicht immer konsequent praktiziert. Das „offene 158

Prinzip“ hatte auch in einem größeren Zusammenhang in der DDR einen Platz im Entwurfsdenken der Gestalter. Einige von ihnen sahen in der Modularisierung besonders auch im Wohnbereich ein geeignetes Mittel zur Überwindung der weitherum empfundenen Monotonie. form+zweck nahm sich des Themas an und erteilte seinen Promotoren das Wort. Der an solchen Projekten beteiligte Ekkehard Bartsch schrieb: „Erst dann, wenn dem Menschen Gelegenheit gegeben wird, aus dem Angebot von kombinierbaren, Intellekt und Phantasie herausfordernden und fördernden Gebrauchselementen die ihm gemäßen auszuwählen, kann er sich schöpferisch über die zurzeit bestehenden Gestaltungsklischees, Gewohnheits- und Verhaltensnormen erheben. Er eignet sich die Produkte damit nicht mehr passiv genießend an, sondern aktiv, kritisch, schöpferisch.“29 Dieser Gedanke war bereits unter Hannes Meyer am Bauhaus entwickelt worden – und auch von Le Corbusier –, konnte sich aber unter den damaligen Zeitumständen nicht wirklich entfalten (→ Kap. 14 und 15) . Der neue Anstoß dazu kam von den Deutschen Werkstätten Hellerau – mit der Burg ­Giebichenstein/ Hochschule Halle in deren Umfeld – und vom Dozenten an der „Burg“ Rudolf Horn. Ein Elementbaukasten aus furnierten MHF-Platten, das „Montage­ möbelprogramm Deutsche Werkstätten“, sollte als Ausstattungssystem die Brücke zwischen den oft standardisierten Wohnungsgrundrissen der „Plattenbauten“ (der Architektur) und den individuellen Benutzerbedürfnissen (dem tätigen Leben) bilden. Für den Einsatz als Raumteiler war auch die Rückseite der Module glatt und ansehnlich ausgebildet. Das Publikum wurde zur Entwicklung der Individualität geradezu aufgefordert. „Damit [mit solchen Anbausystemen] werden die Voraussetzungen für die Verwirklichung eines wichtigen kulturellen Anliegens unserer Entwicklung geschaffen, indem die Werktätigen nicht nur als Konsumenten, sondern als aktiv schöpferische Mitgestalter ihrer gegenständlichen Umwelt in Erscheinung treten“, schrieb Rudolf Horn.30 Ein nicht mit Autorennamen gekennzeichneter Bericht in der Zeitschrift Bildende Kunst benannte noch etwas deutlicher den soziokulturellen Impuls hinter dem Entwurf: „Ein wichtiger Schritt zur anpassbaren Wohnung, welche den Benutzer zur besseren und bewussten Wahrnehmung und selbstständigen Bestimmung seiner Umwelt auffordert.“31 159

Eine radikalisierte Variante aus einzelnen Plattenelementen, die zu einer beliebigen räumlichen Matrix zusammengefügt werden sollten, ging wegen der nicht praktikabel gelösten Knotenpunkte nicht in Produktion. Die Veröffentlichung solcher Gedanken im Jahr 1968 erfolgte in überraschender Parallelität mit gleichgerichteten Ansätzen im Westen, wo sie unter der Bezeichnung der „Partizipation“ für viel zeittypisches Kolorit sorgten: im partizipativen Bauen und der offenen Architektur in den Niederlanden und anderswo, in der Wohnlandschaft in deutschen, schweizerischen, französischen, italienischen Ausprägungen. Selbst billige Möbel aus Wellpappe wurden 1972/1973 an der TU Dresden entwickelt.32 Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs war das Motiv hinter diesen Ansätzen der Wunsch nach „Selbstverwirklichung“, im Westen als Form des Protests gegen die Konsumgesellschaft, im Osten gegen die Bevormundung durch die staatliche Obrigkeit und gegen die gleichmachende Uniformität der Lebensumwelt, gegen das „Establishment“ da wie dort. Die Gestalter und Gestalterinnen in der DDR brachten in vier Jahrzehnten – und darüber hinaus – wertvolles und intensives Nachdenken über „richtiges“ Design und viel Engagement für seine Verwirklichung auf. Oft überstiegen die Ansprüche die Möglichkeiten. Zukunftsweisende Ideen, auch staatlich geförderte, blieben Ideen, etwa Versuche, einen biologisch abbaubaren Kunststoff für Autokarosserien zu entwickeln; ein Forschungsvorhaben, das mangels eindeutigen Erfolgs eingestellt werden musste, aber als Idee noch immer gültig ist. Auch an den Bemühungen, vielleicht vor allem an ihnen, lässt sich die Bedeutung eines Themas ermessen.

160

Anmerkungen

1933 bis 1945 habituell als „Faschismus“ be­ zeichnet. 8

Kurt Liebknecht: „Im Kampf um eine neue deutsche Architektur“, in Neues Deutschland, 13.02.1951,

1

Prominente feinkeramische Industriebetriebe wie

zit. bei Pfützner (vgl. Anm. 5.2) S. 177/198 (erste

Rosenthal und Hutschenreuther, beide in Selb

Seitenzahl jeweils: engl. Text/zweite Zahl: Original-

(Oberfranken), kamen durch den Waffenstillstand an die äußerste Peripherie der amerikanischen 2

Architektur. Ludwig Renn antwortet Dr. Kurt Lieb-

Mitteilung von K. Clauss Dietel, Chemnitz, der von

knecht“, in: Neues Deutschland, 14. März 1951,

damals in Dresden studierte und den Konflikt miterlebte. Mart Stam: „Neue Möglichkeiten auf dem Gebiet der industriellen Gestaltung“ (1950), zit. bei Katharina Pfützner: Designing for Socialist Need. London/New York 2018, S. 23/50 4

wohnen“, 1952“. Ebd., S. 177/198 11 Walter Ulbricht: Diskussionsrede an der Bezirksdelegiertenkonferenz, Leipzig, 9.12.1962. Ebd., S. 190/202

sens: Textil, Leipziger Herbstmesse 1946. Gestalter:

13 Walter Heisig: Zu den aktuellen Fragen der ange-

Wils Ebert, Franz Ehrlich, Herbert Hirche, Kurt

wandten Kunst in Industrie und Handwerk, Berlin,

Kranz, Selman Selmanagić. Abb. bei Heinz Hirdina:

Institut für angewandte Kunst, 1953, zit. bei Pfützner (vgl. Anm. 5.2), S. 179/198 14 Selman Selmanagić: „Hellerau – Pflegestätte deut-

Die hier benutzte Literatur stützt sich in erster Linie

scher Wohnkultur“ (undat. Zeitungsartikel, verm.

auf folgende Quellen: 5.1. Die ausführliche Darstel-

1952), Publikationsort unbekannt. Ebd.,

lung von Heinz Hirdina (1988, vgl. Anm. 4), die noch während der Existenz der DDR erschien und neben wertvollen Einblicken und reichhaltigem Bildmaterial vorsichtig formulierte Kritik enthält; 5.2. Die erhel-

S. 178/198 15 Höhne (vgl. Anm. 5.4), S. 57. Der Entwurf entstand unter der Leitung von Rudi Högner. 16 K. C. Dietel nennt als Beispiel den späten Projektab-

lende Studie von Katharina Pfützner (vgl. Anm. 3),

bruch des weit gediehenen Nachfolgers des Klein-

die als eine kritische Würdigung einen überzeugen-

wagens „Trabant“ im Jahr 1971. Gespräche mit dem

den Rückblick auf das Thema vermittelt; 5.3 Jens Kassner: Ostform. Der Gestalter Karl Clauss Dietel

Autor, April und August 2019. 17 Pfützner (vgl. Anm 5.2), S. 64–66

(Chemnitz 2010) stellt das Werk von Dietel und

18 Hirdina (vgl. Anm. 5.1), S. 154 f.

­seinem Kollegen und Freund Lutz Rudolph dar und

19 Durch die repressive Politik gingen über 120 Gestal-

dokumentiert weiteres aufschlussreiches Material

ter freiwillig oder unfreiwillig aus der DDR in den

zu wichtigen, nicht in Produktion gegangenen Ent-

Westen oder wählten den Freitod. Unter den Aus­

würfen; 5.4. Günter Höhne: DDR Design. Kultur im

gebürgerten war die größte Gruppe die der Produkt-

Heim (Köln, o. J. [2018]) enthält weitere Hinweise

gestalter. Vgl. Hannelore Offner, Klaus Schroeder:

und gibt einen guten Überblick. Neuerdings erschie-

Eingegrenzt – ausgegrenzt. Bildende Kunst und

nen: die informative Studie von Walter Scheiffele:

­Parteiherrschaft in der DDR 1961–1989, Berlin

Ostmoderne – Westmoderne (Leipzig 2019).

2000.

Ein Beispiel für eine dramatisierte Pseudo-Stromli-

20 Wie Anm. 17, S. 151–159

nienform ist das Kofferradio „Koffer Super 6 D 71“,

21 Der Begriff stammt vom Leipziger Kunstwissen-

ausgestellt auf der Leipziger Herbstmesse 1953. Vgl. Heinz Hirdina (s. Anm. 5.1), S. 40, Abb. 68 7

über Innenarchitektur, zit. in: „Wir wollen besser

12 G. Höhne (vgl. Anm. 5.4), S. 20

1985. Dresden 1988, S. 22, Abb. 30

6

S. 3. Wie Anm. 5.2., S.178/198 10 Walter Ulbricht, Grußadresse an einer Konferenz

Vgl.: Standgestaltung Landeseigene Betriebe Sach-

Gestalten für die Serie. Design in der DDR 1949– 5

Ludwig Renn: „Im Kampf um eine neue deutsche

­Besatzungszone (nachmalige BRD) zu liegen. den Vorgängen durch Hans Brockhage hörte, der

3

wortlaut). 9

schaftler Rainer Behrens. Siehe auch Kassner (vgl. Anm 5.3), S. 54 f.

Wegen der sprachlichen Nähe der Begriffe „Natio-

22 Hirdina (vgl. Anm. 5.1), S. 129

nalsozialismus“ und „Sozialismus“ wurde in der

23 Die Front des Serienmodells 1967 war etwas kon-

DDR-Publizistik – inhaltlich ungenau – die Zeit von

ventioneller gestaltet (verchromter Lufteinlass).

161

24 Heli steht für Gerätebau Hempel Limbach in Limbach-­Oberfrohna, bis 1972 ein initiatives ­halb privates Unternehmen, dann vollverstaatlicht als VEB Gerätebau Limbach-Oberfrohna. Siehe Jens Kassner (vgl. Anm. 5.3), S. 65 25 Mitgeteilt von K. C. Dietel, Juni 2019 26 Kassner (vgl. Anm. 5.3), S. 60 f. 27 Mitgeteilt von K. C. Dietel, August 2019 28 Es war von Henry Ford bereits um 1915 eingeführt worden und wurde als solches auch von R. Buckminster Fuller in seinem Buch Nine Chains to the Moon (1938) gewürdigt. 29 Ekkehard Bartsch: „Standardisierung – Vielfalt – Formgestaltung“, in form+zweck, 2/1965, S. 7–12, hier S. 11. Zit. bei Pfützner (vgl. Anm. 5.2), S. 146/164 30 Rudolf Horn: Gestaltung und industrielle Produktion im Möbelbau“, in: Bildende Kunst 2/1969, S. 69– 73, hier S. 72, zit. bei Pfützner (vgl. Anm. 5.2), S. 146/164 31 „Montagemöbel aus dem VEB Deutsche Werkstätten Hellerau“, 1968, in: Bildende Kunst, 6/1968, S. 295–296. Zit. bei Pfützner (vgl. Anm. 5.2), S. 150/165 32 Siegfried Hausdorf: „Sitzen auf Wellpappe“, in: form+zweck, 1/1974. Erwähnt bei Hirdina (vgl. Anm. 5.1), S. 220

162

X-22  Wie viel ist „wenig“ Design?

„Gutes Design ist möglichst wenig Design“: Diese Aussage stammt vom westdeutschen Gestalter Dieter Rams, der damit wohl auch die Auffassungen der meisten Industriedesigner in der DDR traf. Eine Behauptung mit einem hohen Maß an Überzeugungskraft, obwohl sich ihr Inhalt auf der sachlichen Ebene nicht beweisen lässt. Qualitäten zu quantifizieren ist immer eine Heraus­ forderung. Doch die von ihrer Richtigkeit Überzeugten verstehen, was Rams damit meint. Und die anderen? Hier liegt einmal mehr das Problem. Rams Meinungsäußerung setzt ein inhaltliches Einverständnis voraus, das jedoch nur bedingt herbeigeführt werden kann. Er weist auf etwas hin, ohne es analysieren zu können oder zu wollen. Bestimmt entspricht seine Aussage nicht der populären Auffassung dessen, was Design ist und woran man es zu erkennen glaubt: an einer aus dem Rahmen fallenden Erscheinung. „Gutes Design ist möglichst wenig Design“: Rams meint damit eine leise Formensprache, bei der man die Ohren spitzt, um etwas zu vernehmen, nicht eine dröhnende, bei der man sie sich zuhalten muss. Oder vom Akustischen aufs Visuelle übertragen: Ruhige Linien statt expressiver Bewegtheit. Das ist wohl der Punkt, an dem manche denken mögen: Ruhige Linien, ist das denn Design? Wo die Linienführung sich nicht in den Blick drängt? Ist denn nicht erst Design, wenn die Dinge erkennbar geformt sind? Wo die Linien geführt sind? Wo sie sich aktiv als Linien verbinden und nicht nur dort passiv als Linien vorhanden sind, wo sie als Grenzlinien zwischen den einzelnen Funktionselementen aneinander treffen? Das wäre allerdings die falsche Alternative. Es geht auch in der „sachlichen“ Gestaltung nicht darum, die Linien sich selbst zu überlassen. Design nach heutiger Auffassung muss mehr sein als ein Konglomerat separater Elemente, wie es oft im 19. Jahrhundert der Fall war und übrigens überraschend oft noch im 20. Jahrhundert. Gestaltung bedeutet, aus vielem Einzelnen ein schlüssiges Ganzes zu machen. Das ist das Gegenteil von einer visuellen „Kakophanie“ (kein Schreibfehler). Das erkennbare Vorhandensein einer „Linienführung“ ist 163

nicht das Kriterium, das lautes von leisem Design unterscheidet. Sondern welcher Art sie ist. Der formale Gesichtspunkt kann auch nicht der allein entscheidende sein. Ein Computerbildschirm soll so geradlinig gestaltet sein, wie es nur geht, doch bei der dazugehörenden Computermaus muss es nicht um die maximale Reduktion gehen, sondern um eine günstige ergonomische Form. Auch die Farbgebung ist ein Kriterium der Design-Lautstärke. Oft wird uns erst im Nachhinein bewusst, welches die zeittypischen Farbtöne einer Epoche waren. In den 1960er-Jahren waren es oft knallige Farben und Farbkon­t raste (Rot, Grün, Orange neben viel Weiß). In den Siebzigern gab es viel Beige, Braun, Olive und Senfgelb (und kaum mehr Weiß). In den Achtzigern viele Pastelltöne: Pistache, Türkis, Himbeer, Cassis und „Petrol“. (Auch die Fantasie der Bezeichnungen ist der Zeit unterworfen.) Nach der Jahrtausendwende sind es wieder helle, schimmernde Farben: viel Hellgrau, Caramel, Sandfarbe und zudem Anthrazit. Die Farbtöne bilden im Reigen der Jahrzehnte einen Chor, der mal laut, dann wieder leiser singt. Man kann Dieter Rams’ Diktum auch übersetzen in eine physikalische Formulierung: Gutes Design ist eines mit geringen molekularen Schwingungen, da es uns nur so Luft zum Atmen lässt. Die „Pop“Jahre der späten Sechziger hingegen verlangte es nach einer intensiven molekularen Schwingungswärme, um die dumpf anhängende Last der damals vorherrschenden Umweltgestaltung abzuwerfen. Doch die Farbgebung weist uns auch den Weg zu einer Begründung, weshalb eine sparsame Gestaltungsintensität sinnvoll ist: Jede persönliche Lebensumgebung, und sei sie noch so nachlässig behandelt, ist ein individuelles Werk. Jedes Stück darin ist Teil eines gewachsenen Konglomerats von Einzelgegenständen, die in einer langen Folge spontaner Momente den Weg zu uns gefunden haben. Das „Design“ unserer Wohnung ist ein Unikat, selbst wenn alle Gegenstände dar­­in seriellen Ursprungs sind. Wer eine Stimmigkeit der Gegenstände untereinander wünscht, erreicht sie viel leichter, wenn die meisten Gegenstände diskret sind und im Hintergrund verbleiben, bis zum Moment, wo wir sie dort im Gebrauch hervorholen. Das bedeutet nicht, dass immer alles auf Diskretion hin angelegt sein muss. Dies ist nicht ein Plädoyer für Akzentlosigkeit. Wer einen Sinn für Theatralik hat, kann zu Hause auch nach dem Muster von „Protagonisten und Komparsen“ Regie führen und seine eigenen Akzente setzen. 164

23 „Uno stile industriale“ Italien: Epizentrum des Designs 1945–1975

Der weltweit als „stilsichere Formgebung“ populär gewordene Design-­Begriff wurde im Vierteljahrhundert zwischen dem Kriegsende und den frühen Siebzigerjahren in Italien, im dicht besiedelten und hoch industrialisierten Norden eines ansonsten rückständigen Landes geschmiedet: in der Lombardei, im Piemont und im Veneto. Mailand und Turin waren die beiden Kraftzen­ tren, die sich im Gegensatz zur ewigen (als ewiggestrig gesehenen) Hauptstadt Rom sahen und gegen Rom aufbegehrten. Nach 1945 war das nicht schwierig, denn „Rom“ war das schlagende Herz des Faschismus gewesen, und den hatte man nun überwunden. Die Pioniergeneration von Designern bestand fast ausnahmslos aus Architekten, überwiegend Absolventen – und einigen Absolventinnen – des Politecnico di Milano, einige wenige hatten in Turin studiert oder kamen aus kleineren Städten mit einer Fachhochschule, an denen sie sich mit Malerei, Bildhauerei und Architektur befasst hatten: nicht mit entweder – oder, sondern mit allem gemeinsam. Der Begriff „Formgebung“ ist im Fall von Italien umfassend zu verstehen, als sehr viel mehr denn als modisches Styling. Dies ist der ideelle Anker dieses Kapitels: Das Verständnis von „Design“ als Träger eines Formgedankens für eine oft neuartige Gebrauchsvorstellung, entwickelt und materialisiert auch für innovative Produktionsmethoden und mit Farb- und Oberflächenwirkungen für unterschiedliche Lichtverhältnisse. So hat Italien es der Welt vorgemacht. Der Kerngedanke dabei ist die in der Spätantike entstandene synkretistische Auffassung, dass Architektur die Mutter aller Künste ist und dass Architektur, bildende Kunst und Technik ein einziges Ganzes bilden. Diese Vorstellung vom einheitlichen Ursprung hatte auch als gegenweltliches Korrelat den Futurismus hervorgebracht

(→ Kap. 18) .

Und der Futu-

rismus, dessen sich Mussolini als Vehikel in den Faschismus hinein bedient hatte, eignete sich nach 1945 ebenso wieder als Vehikel aus dem Faschismus hinaus. Wie bereits erwähnt, waren in der italienischen Geschichte der 165

Abb. 78: Livio, Pier ­Giacomo und Achille ­Castiglioni: Modell eines Radio-Empfängers mit ­einklappbarer Sendertafel: Abwendung vom Vorbild des Kleinmöbels. Links: Blick auf die Rückseite der separaten Lautsprecherbox, 1940.

ersten Jahrhunderthälfte – im Gegensatz zum Dritten Reich – die politische Ideologie und die Kultur gegeneinander beweglich geblieben, was auch erklärt, weshalb in Italien die Aufarbeitung des Faschismus bis heute nur vage betrieben wurde. Mailand als Metropole des Nordens sah sich als Ort des Neubeginns. Die gelegentlich gehörte Behauptung jedoch, die Design-Pioniere seien während Mussolinis Herrschaft oppositionelle Architekten gewesen, die die Zeit der Arbeitslosigkeit zur geistigen Vorbereitung des Designs nutzten, gehört ins Reich der Legenden.1 In einigen Fällen mag dies zutreffen, in der Mehrheit aber hatte man sich mit den Verhältnissen arrangiert. Die geistige Energie des Futurismus befeuerte 1940 die Brüder Livio, Pier ­Giacomo und Achille Castiglioni und ihren Kollegen Luigi Caccia Dominioni, für eine Sonderausstellung von Radioapparaten in Mailand (Mostra dell’apparecchio radio), ein ganzes Bündel neuer Ideen freizusetzen: Geräte mit kippbaren Bedienungstafeln, mit der Trennung von Empfängerteil und Lautsprechern, in neuartigen Materialien und mit Anmutungen als technische Geräte und nicht als Möbel.2 Die Lust des Entwerfens, die sich hier zeigte, war die ins Konstruktive gewendete Destruktionsenergie des Futurismus. Die Unvermitteltheit der Vorschläge war nicht durch irgendwelche Rücksichtnahme auf das Publikumsverständnis oder die Marktakzeptanz abgemildert, vielmehr wird es umgekehrt gewesen sein: dass die Entwerfer erwarteten, das Publikum würde sich der Faszination der Ideen willig ergeben. So war es dann auch. Was Max Bill etwas später in der Schweiz den Produzenten und dem Publikum zu erklären hatte (→ Kap. 20), verstand sich in Italien wie von selbst. 166

Design in Italien sollte nun für die nächsten Jahrzehnte aus Zuversicht und Enthusiasmus kommen. Hoch entwickelte Produktionsmethoden Die Firma Olivetti in Ivrea steht ganz am Anfang dieser italienischen Verschmelzung aus Künstlertum und technischer Fantasie. Der junge Adriano Olivetti – er war ein Antifaschist auch in der riskanten Tat – beauftragte bereits 1936 den Maler und Architekten Marcello Nizzoli mit der Formgebung der Olivetti-Schreib- und Rechenmaschinen sowie Telexgeräten.3 Nizzoli verlieh ihnen eine schlüssige, bündige Form, entsprechend dem spätantiken künstlerischen Anspruch Vitruvs, dass das Ganze mehr sein soll als die Summe der Einzelteile. Diese Maxime war das instinktive theoretische Fundament, das keine wortreiche Theorie brauchte. Das sollte auch für zahlreiche andere italienische Gestalterinnen und Gestalter und für die vier Jahrzehnte gelten, um die es hier geht. Bei den Produkten von Olivetti war seit 1938 die Mechanik nicht mehr wie üblich mit einem Rahmen oder einer Hülle aus gefaltetem Blech verkleidet, sondern umschlossen von einer Schale aus Alu-Spritzguss, mit subtilen konkaven und konvexen Ausformungen und sorgfältigen Fugenverläufen. Die erste Maschine war 1938 ein Telexgerät, dann folgte 1940 die mechanische Rechenmaschine Summa 15, noch mit Handbetrieb, 1945 die Büroschreibmaschine Lexicon, 1948 die elektrische Rechenmaschine Divisumma, 1949 die kompakte Schreibmaschine Studio 44, 1950 die Reiseschreibmaschine Lettera 22, 1954 die neue Rechenmaschine Elettrosumma Duplex – alles Entwürfe von Nizzoli –, in den 1960er-Jahren dann die ersten Großrechner, gestaltet von Ettore Sottsass.4 Dazu kamen im Lauf der Jahre in der Olivetti-Stadt Ivrea immer mehr lichte Fabrikations­ gebäude, Wohnsiedlungen, Kindertagesstätten, eigene Arztpraxen und auch Ferienkolonien am Meer für die Belegschaft. Die Firma Olivetti unter Adriano Olivetti verwirklichte jene Idee der Sozialpartnerschaft, in Übereinstimmung mit einem Gründungsgedanken des Deutschen Werkbundes, der in Deutschland jedoch zumeist theoretisch geblieben war. Olivetti stand sehr früh für Industriedesign. Im Bereich der Wohnungseinrichtung hingegen war Italien noch lange nach dem Krieg eher kunstgewerblich 167

Abb. 79: Marcello Nizzoli: Schreibmaschine Olivetti „Lettera 22“, 1950. Das meisterhaft gestaltete, in verschiedenen Farbtönen erhältliche AluminiumDruckgussgehäuse umgibt geschmeidig das Chassis mit seiner hochwertigen Mechanik.

orientiert. Kunstvolle mundgeblasene Schalen von Fulvio Bianconi für Venini, ursprüngliche Korbwaren oder schwungvoll geformte Möbel von Carlo Mollino, Keramiken von Guido Gambone oder von Ugo Lucerni waren noch weit weg von der Denkweise der Serie und von den geistreichen und bisweilen subversiven Einrichtungsstücken der Brüder Castiglioni, von Franco ­A lbini, Vico Magistretti, Marco Zanuso, Osvaldo Borsani, Anna Castelli Ferrieri, Cini Boeri, Mario Bellini, Gae Aulenti oder Enzo Mari. Die Wanderausstellung Forme nuove in Italia, die 1954 von der italienischen Vereinigung für Kunsthandwerk zusammengestellt wurde und die in die Schweiz und nach Deutschland reiste, enthielt zwar auch einige Beispiele von Industriedesign. Doch Teo Ducci, ihr kommissarischer Leiter, beklagte die damaligen Widerstände, ja sogar die Feindseligkeit in der italienischen Gesellschaft gegenüber dem Serienprodukt. Er schrieb: „Die italienische Wirtschaft leidet an einigen Krankheiten. Eine davon, eine der schwersten, ist die Feindseligkeit, mit der bei uns die Serienproduktion angesehen wird. […] Das italienische Publikum sucht, verlangt, unterstützt vorwiegend all das, was persönlich und exklusiv wirkt. Jeder leistet sich die Illusion, dass von dem, was er wünscht – sei es eine Vase, ein Stoff oder ein Automobil – nur ein einziges Exemplar besteht, sein Exemplar. Die Produzenten beeinflussen diese Tendenz und werden durch sie beeinflusst. Und wenn sie aus wirtschaftlichen 168

Gründen gezwungen sind, eine Bestellung für eine Mehrzahl von Exem­ plaren auszuführen, dann passiert es ihnen, dass zunehmend jedes Stück an einer ‚kleinen Änderung‘ leidet, die aber genügend groß ist, um zwei Stücke wesentlich verschieden zu machen.“5 Ducci bezieht diese Beobachtung wohl auf das Verhalten des wohlhabenden Teils der italienischen Bevölkerung. Italien holte dann aber die Industrialisierung bald mächtig nach. Es produzierte im Jahr 1951 20 000 Kühlschränke, 1970 bereits mehr als fünf Millionen, mehr als das ganze übrige Westeuropa zusammen.6 Und ohne die Entwicklung der darauffolgenden Jahre in die Richtung des Serienprodukts wäre der internationale Erfolg des italienischen Designs nicht denkbar gewesen. In dieser Hinsicht war ein Einrichtungsvorschlag des Architekten und Designers Ignazio Gardella visionär, weil seine Wohnzimmer-Einrichtung für Sozialwohnungen auf einer Ausstellung der RIMA (Riunione Italiana di Mobili e Ambienti) im Jahr 1946 in Mailand in diese Richtung ging. Gardella entwarf ein Set von sehr eigenständigen einfachen Möbeln: In die obere Abdeckung Abb. 80: Fulvio Bianconi: Vase aus Überfangglas, 1951 für Venini (­Murano). Die Herstellungsmethode des Überfangens von zusammengeschmolzenen Medaillons ermöglichte die faszinierende Interaktion von grundsätzlicher Ordnung und Anteilen von Zufall.

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Abb. 81: Ignazio Gardella: Wohnzimmereinrichtung auf der Ausstellung RIMA, Milano 1946. Ein Bündel ­frischer Ideen: stapelbare Bücherregal-Elemente, als Teetisch dienende Abdeckung des Geschirrschränkchens, Pult mit ­Jalousieverschluss, Sessel mit klappbarer Ablage­ fläche.

eines niedrigen Schränkchens mit Klappen auf beiden Längsseiten war ein abnehmbarer leichter Teetisch versenkt; die hölzernen Bücherregale waren dank konisch geschnittener H-Elemente in der Höhe stapelbar; ein Schreibpult war die moderne Version eines Rolltisches mit hölzerner Jalousie; der sehr plastisch artikulierte Fauteuil trug an seiner Seite eine ausklappbare Abstellfläche für den Aschenbecher oder das Weinglas. Platzsparende Einrichtungen waren schon seit der Zwischenkriegszeit ein dauerndes Thema gewesen, aber die Frische von Gardellas Vorschlag war bestechend und nimmt sich rückblickend wie eine Vorschau auf die Kreativität aus, auf die italienische Gestalter in den folgenden Jahren zugreifen konnten. Dies gilt allerdings für das Thema des Mobiliars erst nach einer zögerlichen Reihe von Jahren; Gardellas Konzept blieb vorerst ein Vorschlag. Sehr sichtbar wurde die Gestaltung nach dem Krieg an den öffentlichen und privaten Transportmitteln. Die „Vespa“ ist eines der wichtigsten Beispiele dafür. Der Chefingenieur des Aviatik-Unternehmens Piaggio, Corradino d’Ascanio, konzipierte und entwickelte diesen revolutionären Roller als Konversionsprojekt für den Übergang von der Kriegs- zur Friedensproduktion, da Piaggio als Hersteller von Rüstungsgütern nach den Bestimmungen der Siegermächte 1945 keine Flugzeuge mehr bauen durfte.7 Die „Wespe“ wurde 1946 patentiert, ging rasch in Produktion, faszinierte mit ihrer anfänglich geheimnisvollen Stromlinienform, auf die das Publikum so unvorbereitet 170

Abb. 82: Corradino ­d’Ascanio: Roller für den vormaligen Flugzeugbauer Piaggio: die „Vespa“, ­Prototyp 1946. Selbsttragende Schalenformen, ­mitfedernder Motor neben dem ­Hinterrad, einseitige ­Radbefestigung, freier Beinraum.

war, weil sie so anders war als die von einem Motorrad. Die Vespa wurde sofort ein Erfolg und veranlasste den Konkurrenten Innocenti, seinerseits die „Lambretta“ zu entwickeln, deren Rohrrahmenkonstruktion jedoch konventioneller war. Auch die Lambretta verkaufte sich in großen Stückzahlen; beide zusammen ermöglichten in Italien und in immer mehr Ländern eine motorisierte Mobilität auch für die Frauen, die zu der Zeit meist noch Röcke trugen und für die deshalb ein Motorrad nicht infrage gekommen wäre. Das technisch Neue an der Vespa war ihr konstruktiver Aufbau mit tragenden Schalen, deren Form sowohl nach der bequemen Sitzposition – wie auf einem Stuhl – als auch nach den Gesetzen der statischen Steifigkeit bestimmt war und zudem als Regen- und Unfallschutz diente. Die kleinen Räder w ­ aren – wie beim Auto – nur einseitig befestigt, was die Behebung von Reifenpannen erleichterte – für d ­ ’Ascanio ein wichtiger Gedanke bei der Konzeption. Motor und Getriebe waren kompakt und nah ans Hinterrad verlegt, schwangen beim Einfedern mit und trieben das Hinterrad ohne Kette an. Dadurch war der Durchstieg frei, die Sitzposition der Fahrer und Fahrerinnen ähnelte der auf einem Stuhl, und die Einkapselung der Antriebseinheit verhinderte die Verschmutzung von Kleidern.8 Know-how aus dem Flugzeugbau und die luziden Überlegungen eines genialen Ingenieurs hatten hier einen Grundtyp hervorgebracht und einen weltweiten, noch heute gültigen neuen Standard gesetzt.9 171

Abb. 83: Renzo Zavanella: Triebwagen OM und OMStand, Fiera Campionaria, Milano 1948. Zwei gestalterische Domänen aus einer Hand: herausragende Ausstellungsszenografie und plastische Sicherheit im Fahrzeugbau.

Sicherer Zugriff im Plastischen Der Hersteller „OM “ von Eisenbahn-Triebwagen, Lastwagen und Omnibussen (OM für Officine Meccaniche) beauftragte den Architekten Renzo Zavanella mit der Außen- und Innengestaltung verschiedener Fahrzeuge, deren rationale Eleganz und sorgfältige Detaillierung sofort auffielen. Die Sitze waren körpergerecht und zugleich expressiv plastisch artikuliert. Für „OM “ besorgte Zavanella auch die Messe-Auftritte auf der Fiera Campionaria in Mailand 1948 und 1951.10 Ausstellungsgestaltung war in Italien seit jeher ein Verbindungsmedium zwischen Architektur und Produktform gewesen, und einem gut aussehenden stillstehenden Fahrzeug begegnen die Italiener mit besonderer Dankbarkeit, weil sie es dann in Ruhe betrachten können. Selbstverständlich galt der Enthusiasmus der italienischen Männerwelt noch immer in erster Linie dem Auto. Der Meisterkarossier Battista „Pinin“ Farina gestaltete mit dem in kleiner Serie gebauten Sportwagen Cisitalia (ebenfalls 1946) für diese Männerwelt ein Übergangsobjekt zuhanden ihrer Träume vom eigenen Auto. Vor dem Krieg waren Farinas Entwürfe Einzelanfertigungen gewesen, die seinen Ruhm begründeten.11 Nun arbeitete er für die Kleinserie. Die Marke Cisitalia ist längst verschwunden, dafür entstand 1947 die 172

Abb. 84: Renzo Zavanella: ­Trieb­wagen OM, Inneres, 1951. Körper­gerechte Sitze von sicherer Linien­führung, visuelle Ordnung und technische Sorgfalt in allen ­Details.

Marke Ferrari. Pininfarina gab auch ihren Modellen das Aussehen und dieses der Reputation der Marke den Schwung. Anders als man heute denkt, war auch bei Ferrari nicht formale Aggressivität das Herz von Pininfarinas Kunst, sondern schlichte Eleganz. Sie war in Form von subtiler Spannung immer sein höchstes Ziel; weil sie für ihn etwas Höheres war als für seine Kollegen im In- und Ausland, gelangen ihm formale Erfindungen bei Einzelstudien, die später auch seinen Entwürfen für Serienmodelle von Fiat, Lancia und Alfa Romeo, bald auch Peugeot oder der British Motor Corporation zugutekamen. Für Pininfarina gilt dasselbe wie für die anderen ganz großen Namen der italienischen Gestalter: Sie galten in der Öffentlichkeit als Künstler und fühlten sich von ihr zu neuen Ideen ermutigt. Überhaupt war die Öffentlichkeit in mittelmeerischer Tradition der Ort, an dem die Errungenschaften des Designs wahrgenommen und diskutiert worden – fast ist man versucht zu sagen, dass Produktgestaltung in diesem Land immer auch ein Stück visuelle Kommunikation war. Der Nährboden war eine comunità von Gestaltern, die sich untereinander austauschten und die ihre Arbeiten gegenseitig verfolgten und kommentierten. Vermutlich steht dahinter auch die Tradition der Agora, des Forums. Dieses inflationär gebrauchte 173

Abb. 85: Pininfarina: das Spitzenmodell von Lancia, die Flaminia (1957), mit ihrer neuen Formensprache der „Trapezform“; ein formales Charaktermerkmal zudem die farbig abgesetzte Dachlinie bis zum hinteren Abschluss.

Epitheton ist im vorliegenden Fall berechtigt. Und was wäre das italienische Design ohne die publizistische Begleitung, die es in Jahrzehnten erfahren hat? Sie ist in ihrer Wirkung kaum zu überschätzen. Seit 1928, von Anbeginn ihrer Existenz, war in der Architekturzeitschrift Domus auch Gestaltung ein Thema; Giò Ponti legte dort eine wichtige Grundlage für den Diskurs. In Domus hatte Pontis Mitarbeiter Alberto Rosselli eine langjährige Kolumne zum Design, 1954 gründete Rosselli die wichtige eigene Zeitschrift Stile Industria, die 1963 leider eingestellt wurde und deren thematische Orientierung in reduziertem Umfang wieder zu Domus zurückkehrte. Auch Casabella ist hier zu erwähnen, gegründet ebenfalls 1928, von 1933 bis 1943 von Giuseppe Pagano geleitet, nach zwölfjährigem Unterbruch 1955 neu gegründet und bis 1964 geleitet von Ernesto Nathan Rogers, danach von Alessandro Mendini, Tomás Maldonado, Vittorio Gregotti und Francesco Dal Co. Seit 1953 erschien die Zeitschrift Civiltà delle macchine, 1957 folgte Il mobile italiano, geleitet von Carlo de Carli. Nicht zu vergessen das vierteljährlich erscheinende Periodikum Rassegna, das 1979 von Vittorio Gregotti gegründet wurde, bis 1997 existierte und immer wieder sorgfältig aufbereitete Themen des Designs, der Architektur und des Städtebaus präsentierte. Historisches und technisches Interesse verbanden sich stets mit ästhetischem Bewusstsein, das Schreiben mit dem eigenen Entwerfen: Das italienische Design ist durch die reflexive 174

Beschäftigung seiner Akteure mit ihrem Thema, mit der Geschichte, mit den Kollegen und deren künstlerischer Entwicklung zu dem dichten Komplex geworden, den wir kennen. Die genannten Zeitschriften spannten den Horizont ihrer Interessen durch ihre „Transversalität“ weit über das hinaus, was man üblicherweise in Fachzeitschriften zu sehen bekommt. Als wichtiger Nebeneffekt dieser engagierten Publizistik entstanden von zahlreichen Produkten und Entwurfsmodellen aussagekräftige Fotografien – eine Dokumentation in einzigartiger Dichte und Qualität. Von größter Bedeutung war auch der Anerkennungspreis Compasso d’Oro („Goldener Zirkel“), der nach dem Vorbild von Die gute Form SWB seit 1954 vom Warenhaus La Rinascente und einer Jury von praktizierenden Gestaltern ausgesprochen wurde.12 Die Gründung der Associazione per il Disegno Industriale, 1956, war ein Zeichen dafür, dass das oben von Teo Ducci beschriebene individualistische Syndrom dabei war, sich zurückzubilden. Was blieb, war ein überaus entspanntes Sich-Einbringen des einzelnen Gestalters in die überpersönlichen Zusammenhänge industrieller Produktion. Symptomatisch ist vielleicht die Bemerkung der langjährigen verantwortlichen Grafikerin bei La Rinascente, Lora Lamm, die sich mit ihren kleinformatig gezeichneten Entwürfen vor den Spiegel gestellt und sich gefragt habe: „Passt es zu mir?“13 Die Kunst der Zusammenarbeit Eine Stellungnahme von Marcello Nizzoli, eines angesehenen Designers, drückt die italienische Sicht auf die Gestaltung ebenso selbstbewusst wie kollegial aus. Er schrieb 1954 in Stile Industria: „Ich glaube, dass der Gestalter bei jeder Aufgabenstellung im Bereich industrieller Produktgestaltung ein anderes Verfahren anwenden muss, ja, dass der Wert eines guten Entwurfs sogar essenziell von dem Verhältnis zwischen der angewandten Methode und der Form des Produkts abhängt. Das Ziel ist erreicht, wenn es dem Gestalter gelungen ist, alle Bedingungen zu berücksichtigen und sie während seiner Arbeit als gleichwertige Faktoren zu behandeln, die zu seiner Auffassung des Produkts beitragen. Die Form ist also das, was alle – selbst einander widersprechende – Aspekte zum Ausdruck bringt, die ein Produkt charakterisieren. […] Auch die Materialien bedingen oft schon die Form. Eine Form, die für ein 175

bestimmtes Material gedacht ist, kann meist nicht ungestraft in ein anderes überführt werden, auch wenn man sich darauf beschränkt, die Form in ihrer engen ästhetischen Bedeutung zu betrachten. […] Daraus ergibt sich auch das Problem der Zusammenarbeit zwischen dem Designer und Technikern, Planern, Wirtschaftsfachleuten und, indirekt, der ganzen Belegschaft der Produktionsstätte. In der Praxis, und vor allem, wenn das Produkt ein komplexes Gebilde ist, beginnt die eigentliche Arbeit des Gestalters erst, wenn die technische Struktur schon fertig ist. Hier muss er unter Berücksichtigung der von den Technikern gelösten Probleme seine Zusammenarbeit mit den Technikern ansetzen, indem er ihnen präzise Fragen stellt. In dem daraus entstehenden Dialog fragt etwa der Gestalter: ‚Kann man das hier machen?‘, ‚Könnt ihr den gleichen Funktionsablauf herstellen, wenn die Maße des Mechanismus in diesem Punkt verkleinert werden?‘, ‚Ist es wirtschaftlich und technisch möglich, die Position dieser Hebel diesem Ablauf entsprechend zu verändern?‘. Oft erhält man zunächst negative Antworten. Wenn es einem aber gelingt, nach einem ersten Entwurf oder Muster die ästhetischen und praktischen Gründe für die verlangten Änderungen verständlich zu machen, werden die Techniker allmählich flexibler auch in ihren Lösungen. In dieser Phase beginnt sich Zusammenarbeit abzuzeichnen, beginnen doch Techniker und Designer in einem ständigen Dialog zusammenzuwirken und eine technisch-ästhetische Harmonie herzustellen. […] Ich bin davon überzeugt, dass die Arbeit des Designers von einer immer stärkeren Berücksichtigung der technischen Pro­ bleme bei der Produktion in hohem Masse angeregt werden kann. Vor allem jedoch fördert sie das Verständnis für den Wert seiner Arbeit bei den Technikern, mit denen er zusammenarbeitet. Ich glaube, dass auch bei dieser Arbeit das Problem am besten gelöst wird, wenn zwischen dem Designer und den Mitarbeitern bei der Planung und der Produktion ein echtes, grundlegendes, menschliches Verständnis hergestellt wird.“14 In dieser Darstellung wird wohl die Essenz der italienischen Entwurfs­ methode greifbar: der Entwurfsprozess als interaktives Geschehen zwischen dem artista und den Facharbeitern auf der Basis wechselseitigen Respekts und einer alle einbeziehenden Neugierde. Dieses Gefüge erwies sich in den kommenden Jahrzehnten als tragende Grundlage für zahlreiche Entwürfe. 176

Vergegenwärtigte Traditionen Giò Ponti war ein überaus vielseitiger Gestalter, der sich als junger, klassizistisch orientierter Architekt in den 1920er-Jahren zum Keramikspezialisten geschult hatte und 1948 die berühmt gewordene Bar-Kaffeemaschine „La Pavoni“ mit ihren Metallhörnern entwarf. Sein Weg aus dem Kunsthandwerk zur Industrie war unproblematisch und unideologisch. Seine Rolle auch als Herausgeber von Domus machte ihn zu einer zentralen Figur, auch weil er etwas älter war als die meisten anderen Protagonisten dieses Kapitels. Er war im Faschismus nicht nur ein Mitläufer gewesen, bewältigte aber den Übergang zur Republik ohne Reputationsschaden. Als feinsinniger Ästhet stand er für eine unpolitische Sicht der Architektur und der Gestaltung. Sein Buch Amate l’Architettura von 1957 (amerikanische Ausgabe: In Praise of Architecture, 1959) war die aphoristische und kaleidoskopische Auseinandersetzung eines vielseitig begabten Genussmenschen. Für ihn gab es keinen Gegensatz zwischen Tradition und Moderne, wofür seine Stühle „Leggera“ (1952) und Abb. 86: Giò Ponti: Stuhl „Super­ leggera“, Gewicht dank minimierter Querschnitte nur 1,2 Kilogramm, 1957 für den Hersteller Cassina. Die moderne Interpretation eines der grazilen Stühle aus dem Dorf Chiavari.

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„Superleggera“ (1957), entworfen für Cassina, mit größter Selbstverständlichkeit stehen. Sie sind eine Abwandlung der berühmten „Bauernstühle“ aus der ligurischen Kleinstadt Chiavari; waren diese schon elegant und schlank gestaltet gewesen, war die „Leggera“ Pontis moderne Interpretation davon und „Superleggera“ die konstruktiv auf die Spitze getriebene Reduktion, die mit den dreieckig gefrästen Spanten-Querschnitten der Füße ihre Vorbilder noch deutlich übertraf und nur 1,2 Kilogramm wog, ohne dass die Tragfähigkeit darunter litt. Das Prädikat „Superleggera“ klang den Italienerinnen und Italienern auch von den „Superleggera“-Autokarosserien der Firma Touring her wie Musik im Ohr. Auch solch unverhüllter Stolz auf die kulturelle Leistung einer früheren Epoche (Chiavari-Stühle) war eine wichtige Ressource im italienischen Design und kein Einzelfall. Rattan- und Peddigrohrmöbel von Entwerfern wie Vittorio Gregotti oder Giovanni Travasa zeugen ebenfalls davon. Dazu war der eleganteste Wolkenkratzer überhaupt, das Pirelli-Hochhaus in Mailand, von Ponti und dem Tragwerkingenieur Nervi (1959) kein Widerspruch, nur eine andere Seite. Es kam nun die große Zeit des bel design, der italienischen Formulierung der guten Form: gut gestaltete, technisch zuverlässig funktionierende Geräte für Heim und Büro, Telefonapparate, Lampen, auch nicht-technische Produkte wie Service und Bestecke. Olivetti baute seine Produktpalette aus, wobei Marcello Nizzoli neue Formlösungen fand, denen gegenüber Konkurrenzprodukte aus anderen europäischen Ländern – Deutschland, Frankreich, Schweiz, Niederlande, Schweden, England – behäbig wirkten. Auffallend ist in den Jahren von 1945 bis 1960 auch die Bedeutung der Nähmaschine: Nicht weniger als drei italienische Hersteller konkurrierten einander mit neuen Modellen: Der erste war Visa di Voghera mit der 1948 von Ponti gestalteten „Visetta“, 1956 Necchi mit der einzigartigen „Mirella“ von Nizzoli (Compasso d’Oro) und 1957 Borletti mit der Maschine von Marco Zanuso (ebenfalls Compasso d’Oro).15 Ein Hinweis darauf, dass viele italienische Mütter noch selber die Kleider für ihre Kinder und sich selbst schneiderten; in anderen europäischen Ländern war es wohl ähnlich. Im Bereich des Mobiliars waren die Versuche tastender, der Widerstand im Publikum wahrscheinlich größer, der Erfolg zögerlicher. Doch die italienischen Gestalter – unter denen sich auch 178

Frauen wie Cini Boeri und Anna Castelli Ferrieri befanden – entwickelten ein lebhaftes Interesse für neue Materialien wie Formsperrholz, Schaumgummi und ABS und entwarfen mit ihnen pionierhafte Möbel. Die Rolle der Unternehmer bei diesem Prozess war wichtig: Sie leiteten meist kleine Familienbetriebe – fast immer im Norden des Landes –, standen in einem Vertrauensverhältnis mit den Gestaltern und beteiligten sich aktiv an der Suche nach neuen Möglichkeiten. Wenn Design in Italien oft mit dem Wort „ricerca“ (Suche, Forschung) assoziiert wird, ist das durchaus berechtigt. Die Grundlage war das gegenseitige Verständnis und die hohe Achtung der „Künstler“ und „Handwerker“ füreinander, die auf ihre Weise das freundschaftliche, zugewandte Verhältnis von „Tradition“ und „Innovation“ widerspiegelten. Aufgeschlossenheit für Neues In dieser Hinsicht war der Sessel „Lady“ mit Polyurethanpolsterung von Marco Zanuso für die vom Pirelli-Konzern 1948 gegründete Tochterfirma ­A rflex (entwickelt zusammen mit der Pirelli-Tochter Sapsa, 1947 bis 1948, vorgestellt 1951, Goldener Preis der Triennale 1951) ein Meilenstein. Für die beabsichtigte serielle Herstellung eines so mit „Schaumgummi“ gepolsterten Polstermöbels griff Pirelli auf die noch nicht sehr langjährigen Erfahrungen mit Autositzen zurück. Das saubere Zusammenwirkung des Schaumgummis und der Tragkonstruktion aus Metall und Holz, mit anderen Worten die Trennung der flexiblen Polsterung (mit Nastrocord-Bezug) von der formstabilen Stoff-Verkleidung der Seitenwände, war nicht einfach zu erreichen, führte aber schließlich zum Erfolg.16 Die Vorstellung dieses Sessels erregte viel Aufmerksamkeit und steht am Anfang der intensiven italienischen Beschäftigung mit Kunststoffen aller Art.17 Drei Jahre später erweiterte der Entwerfer Osvaldo Borsani die Gebrauchsmöglichkeiten bei seiner Möbelfamilie „Tecno“, indem er die Sitzflächen und Rückenlehnen durch ein frappant einfaches Element gelenkig miteinander verband: Je eine dreieckige Metallplatte an beiden Seiten war mit Bohrungen und Schnappbolzen versehen, was die Wahl der Neigungen in einem weiten Bereich bis zur Horizontale (Liege oder Schlafsofa) zuließ. Zudem waren die Armlehnen aufgewölbte Bogen aus flexiblem Kunststoff und konnten bei Nichtbedarf in dieselbe, nun negative 179

Abb. 87: Osvaldo Borsani: Ruhesessel P 40 mit flexiblen Armlehnen aus Kunststoff, für Tecno, 1955. Zum Ein- und Aussteigen wird eine Armlehne nach unten gedrückt. Neue Materialien mit neuen Eigenschaften ermöglichen neue Gebrauchsformen.

Wölbung niedergedrückt werden. Bei diesen Tecno-Möbeln kommt nun vermehrt eine unkonventionelle, geistreiche Denkungsart zum Ausdruck, die bald ein Erkennungsmerkmal italienischen Designs werden sollte. Cassina ist unter den prominenten Möbelproduzenten die älteste Firma (seit 1927). Ihr erwuchs in den folgenden Jahren eine lange Reihe von Konkurrenten, die ­einander aber auf dem Weltmarkt eher halfen, als dass sie sich schadeten, indem sie gemeinsam das stets wachsende Renommee der italienischen Produktivität verbreiteten.18 Im Bereich der elektrischen Beleuchtung machte die bereits 1936 von Gino Sarfatti gegründete Firma Arteluce mit immer neuen eigenen Entwürfen auf sich aufmerksam. Mit wachsender Aufmerksamkeit für das Thema Licht entstanden danach 1959 die Firmen Artemide und 1962 Flos. Gestalter für Arteluce war Sarfatti selber, für Artemide waren es Vico Magistretti (Model „Eclisse“, 1967), für Flos als Erste die Brüder Pier Giacomo und Achille Castiglioni, 1970 auch ihr ältester Bruder Livio Castiglioni – mit der Leuchtschlange „Boalum“ – und Paolo Rizzatto. Parallel dazu gab es ein beständiges Interesse der Gestalter am Entwurf von Plattenspielern, Radioapparaten und TV-Empfängern. Phonola erregte 1956 Aufsehen mit einem Gerät mit drehba-

rer Bildröhre über einem hölzernen Gehäusesockel um den Empfängerteil, entworfen von Berizzi und Butté. Die Entwicklung zur industriellen Form 180

Abb. 88: Marco Zanuso und Richard Sapper: kompakter TV-Empfänger „Algol 11“, 1964 für Brionvega. Der ­flächenbündige, insektenaugen-ähnliche Bildschirm bildet die Form der Kathodenstrahlröhre stärker ab, als bis dahin gewohnt. Oberseite mit integriertem Traggriff.

verlief fortan, seit den 1960er Jahren, immer mehr unter Verwendung von Kunststoffgehäusen. Pionier dabei war die Firma Brionvega, für die Marco Zanuso und Richard Sapper ein ikonisches Klappradio und den TV-Empfänger Algol 11 (beide 1964) schufen. Die Gehäuse waren in mehreren kräftigen Farben erhältlich; beim TV-Empfänger umspannte eine durchsichtige Plexiglasscheibe die Front bis in die Seiten wie ein Insektenauge; das Gehäuse war etwas nach oben abgewinkelt, was eine bodennahe Aufstellung des Geräts suggerierte. In die Gehäuseform war ein Handgriff eingearbeitet. In solchen Elementen machte sich die ganze Innovationskraft der italienischen Gestalter geltend. Der Umfang dieses bel design schien unerschöpflich und erfasste auch ausländische Auftraggeber (z. B. Zanuso für Terraillon oder Sapper und Zanuso für Siemens). Es sah seine Aufgabe darin, bekannte Gestaltungsaufgaben formal überraschend und kompetent zu interpretieren. Die Begründer dieser Praxis waren die um 1900 geborenen Gestalter gewesen: Ponti, ­Nizzoli, Pagano, Albini; Zanuso (1916) war der jüngste. Nun kam die nächste Generation ins Spiel. Kulturtechnik der Bricolage Die Kreativität suchte sich noch einen anderen Weg als die elegante Variation bestehender Produkttypen. Es waren wieder die Brüder Pier Giacomo und 181

Achille Castiglioni und damit Angehörige einer jüngeren Generation, die den Anfang machten. Auf der Triennale 1954 zeigten sie den Prototyp eines Hockers, der aus einem Traktorsitz, einem Metallträger und einem hölzernen Querstabilisator bestand. Es war mit dem Ready-made des gelochten Blechsitzes ein concetto mit surrealistischem Hintersinn. 1957 überarbeiteten sie den Entwurf, der merkwürdigerweise erst 1971 von Zanotta in Produktion genommen wurde. Diese collagierende Entwurfsmethode war neu und unterschied sich durch die ironische Färbung vom bel design durch ihre „rhetorische“ ­Dimension. Ein weiteres Projekt der Castiglioni-Brüder verdeutlichte dieses Interesse. Angeblich waren sie an einem Wochenende in ihrem Landhaus und fragten sich spielerisch, ob sie wohl im unaufgeräumten Schuppen Dinge finden würden, woraus sich etwas machen ließe. Sie fanden einen zerbrochenen Autoscheinwerfer, eine Angelrute und ein schwer definierbares Blech­ gebilde und machten daraus die Vorlage für ihre Leuchte „Toio“, die dann 1962 von Flos hergestellt wurde. Hier war es vor allem der Autoscheinwerfer, der den Ideen-Transfer verkörperte; der unverkleidet gebliebene Transformator auf dem mit Rostschutzfarbe gestrichenen eisernen Fußteil verstärkte das verfremdende Element in diesem Entwurf. Transfer, Verfremdung und Rekontextualisierung, Dissoziation und Assoziation wären einige Begriffe für das Phänomen einer neuen Kulturtechnik, die sich in diesen Arbeiten ­a nkündigte. Objekten eingeschriebene Lebenskunst Neben Autos, Möbeln, Leuchten (und auch Textilien, von denen hier nicht die Rede ist) waren und blieben die Wohnaccessoires wichtig: Vasen, Gläser, Service, Besteck, Tafelgerät, Aschenbecher, Briefbeschwerer. Es war bereits davon die Rede, dass diese Accessoires lange die handwerkliche Herkunft erst verkörpert, dann „verteidigt“ hatten. Nun aber wurde auch diese Gegenstandskategorie industrialisiert oder zumindest serialisiert. 1957 gründeten Bruno Danese und die Fotografin Jacqueline Vodoz in Mailand die Firma Danese und brachten eine neue Dimension ins Spiel: einen Verlag für drei­ dimensionale Gebrauchsgegenstände und auch für Kinderbücher und stilisierte Tierbilder für Kinderzimmer. Die programmatische Ausrichtung des 182

Abb. 89: Pier Giacomo und Achille Castiglioni: Stehlampe „Toio“, 1962 für Flos. Das Entwurfsprinzip der Bricolage geht mit einer Abwendung vom Harmonie-­ Ideal des bel design einher.

Hauses Danese lässt sich knapp umschreiben mit: Zugänglichmachen von ästhetisch hochstehenden Gebrauchsgegenständen – auch solchen zum „geistigen Gebrauch“, um nochmals Max Bills Formulierung zu verwenden – mit dem Ziel der visuellen und haptischen Sensibilisierung für die Komplexität des Einfachen und bei Kindern der Förderung der Empathie mit Tieren. Ihre ersten Künstler waren Bruno Munari und Franco Meneguzzo, bald auch der junge Künstler Enzo Mari, der in fast 40 Jahren zur wichtigsten Stütze des Hauses Danese werden sollte.19 Das Ladengeschäft unweit des Mailänder Doms war ein Flagship Store, in dem alles zusammenpasste: die Displays, die Produkte, die Verpackungen und die Begleitinformationen zu den Entwerfern. Danese produzierte nicht selbst, sondern verlegte: regte an, fragte die Gestalter – die gute Freunde wurden – um einen Entwurf, entschied, etwas produzieren zu lassen, und hielt die Rechte an den Produkten: Objekten in Kunststoff, in Metall, in Karton, in Acrylglas. Eines der ersten Objekte war 183

Abb. 90: Enzo Mari: Schale „Putrella“, 1958 für Danese. Geheimnisvoll verformtes Doppel-T-Profil: raffinierter Kulturtransfer von der ­maskulinen Welt der Industrie in die verfeinerte des Wohnens.

der Aschenbecher „Cubo“ von Munari, ein starkfarbiger Kunststoffwürfel mit Blechgesenk, gefolgt von „Putrella“, der Obstschale von Mari, die aus einem zugleich einfach wie rätselhaft verformten Eisenprofil (Doppel-T-­T räger) bestand. Rätselhaft: Wie lässt sich ein so kräftiges Profil so verformen, ohne sich zu bauchen? Über die Antwort schweigt sich Putrella aus, was genau die Faszination ausmacht.20 Das Haus Danese verlegte auch künstlerische Multiples und schuf Aufmerksamkeit für diese neue Kategorie von Artefakten: Munaris „Macchine aeree“ (Luftmaschinen) zum Aufhängen an der Zimmerdecke oder andere kinetische Objekte.21 Klassiker von Danese-Produkten wurden Maris „ewiger Kalender“, bei dem die Zahlen und Monate manuell ausgewechselt werden, und sein geniales Holzpuzzle „Sedici animali“ („Sechzehn Tiere“), die ohne Restabschnitte aus einem einzigen Brett ausgeschnitten sind. Die Firma Kartell wurde 1949 vom Chemiker Giulio Castelli gegründet. In den ersten Jahren stellte sie einfache Haushaltgeräte und Zubehörteile aus Kunststoff für die Automobilindustrie her und war wichtig bei der zunehmenden Substitution von Glas, Metall und Holz durch anorganische Kunststoffe. Castellis Ehefrau war die bereits erwähnte Architektin Anna Castelli Ferrieri, eine der ersten Absolventinnen des Politecnico di Milano. Kartell war mit der Welt des Designs intensiv verflochten und produzierte seit 1961 auch Kleinmöbel, zuerst farbige, frei zusammensteckbaren Kindermöbel aus Kunststoff von Richard Sapper und Marco Zanuso, ab 1973 auch mit verwandter Zielsetzung 184

Abb. 91: Anna Castelli ­Ferrieri: stapelbare PVCContainer „Componibili“, 1970 für Kartell. Auch in Weiß und Schwarz lieferbar und noch immer in ­Produktion.

einen Kindermöbel-Baukasten der Gruppe aus Giorgio Decursu, Jonathan de Pas, Donato d’Urbino und Paolo Lomazzi. Kartell war auch der Hersteller verschiedener Entwürfe von Gae Aulenti, Joe Colombo und Ettore Sottsass. Anna Castelli Ferrieri trug wichtige eigene Entwürfe bei, von denen die preiswerten modularen, stapelbaren Container des Programms „Componibili“ (1970) sehr erfolgreich wurden und noch immer hergestellt werden.22 Überhaupt ist bemerkenswert, dass nicht wenige Entwürfe aus Italien über Jahrzehnte, zum Teil bis heute, im Sortiment der Hersteller geblieben sind. Die Möbel, die manche Italiener wohl ohne schlechtes Gewissen als Seitentrieb der Modewelt gesehen haben, erwiesen sich so als gerade nicht der schnelllebigen Mode ausgesetzt. Der Ruf nach Veränderung Dies war bei technischen Geräten anders. Ein Automodell veraltet in technischer Hinsicht meist innerhalb eines Jahrzehnts, mag es noch so überzeugend gestaltet sein. Die bereits angesprochenen Arbeiten Marcello Nizzolis von 1945 bis 1957 weisen eine einheitliche Formensprache auf, die sich gut auf Nizzolis oben zitierte Aussage aus Stile industria beziehen lässt. Die Aussage – betreffend die ästhetische Führung des Gestalters und seine re­ spektvolle Zusammenarbeit mit den Technikern – ist unabhängig von einer bestimmten Formensprache gemeint. Nizzolis Nachfolgemodell für die „Lexicon“, die „Diaspron 82“ wies als erste Maschine einer neuen Generation eine 185

Abb. 92: Marcello Nizzoli: Schreibmaschine Olivetti „Diaspron“, 1961: Die neue, facettierte Linienführung leitet den Abschied von der organischen Modellierung von Olivetti-Produkten ein. Vergleiche damit Abb. 85: die neue Geradlinigkeit als Zeiterscheinung.

vollständig andere formale Charakteristik auf: statt plastisch gerundet war sie nun aus facettierten Formabschnitten gebildet. Diese von der vertrauten Nizzoli-Linie fundamental abweichende Form verursachte in der Fachwelt beträchtliche Irritation. Ein Kommentar von Alberto Rosselli in der in New York erscheinenden Zeitschrift Industrial Design wirft aus diesem Anlass ein Licht auf grundsätzliche Fragen, die sich nach dem „magischen“ DesignJahrzehnt in Italien den Gestaltern stellen würden. „Obwohl sich die neue Maschine in mechanischer Hinsicht von der alten nicht wesentlich unterscheidet“, schreibt Rosselli, „ist die Evolution in der formalen Erscheinung industrieller Produkte rascher als die technischen Veränderungen, und zwar wegen der Ansprüche des Marktes. Zu diesem Zeitpunkt kann der ­Gestalter diese Tatsache nicht steuern. Zudem trifft es nicht zu, wie viele glauben, dass es vor allem technologische Faktoren sind, welche die Herstellung bestimmen. Es ist an der Zeit zu realisieren, dass gerade wegen der schöpferischen Suche dieser kulturelle und ästhetische Druck stark spürbar ist. Die Dominanz der Ästhetik gegenüber technischen Attitüden, die wir heute beobachten, kündigt das Ende einer industriellen Phase an; diese hat ihren Höhepunkt erreicht und bereitet sich auf eine Reform oder sogar auf eine umfassende Revolution vor. Nizzolis jüngste Erfahrung beim Re-Design ist nicht eine persönliche und isolierte, vielmehr das Symptom veränderter Voraussetzungen des Industrial Designs.“23 Rossellis Aussage lässt sich so akzentuieren, dass das 186

Abb. 93: Piero Gatti, ­Cesare Paolini, Franco ­Teodoro: „Sacco“, 1968. Unbenutzt ist der mit Styroporkügelchen gefüllte Sitzsack ein amorphes Gebilde, erst durch die sitzende ­Person werden die Kügelchen verdrängt, was ihr Halt und dem Sack Form gibt.

Ende der angebotsorientierten Gestaltungsära in Sicht gekommen war, in deren Verlauf die Entwerfer auf „naive“ Weise dem Land und der Welt Überraschung auf Überraschung beschert hatte. Diese Zeit der kreativen Unschuld neigte sich ihrem Ende zu, und die Nachfrage – oder wohl genauer: die Frage nach der Nachfrage – übernahm nach und nach das Zepter. Design in Italien war bis etwa 1960 Design für Italien und wandelte sich danach immer mehr zu Design aus Italien. Dabei veränderte sich auch der Charakter der Produkte. Ihre Originalität, die während des erwähnten magischen Jahrzehnts eine „naive“ gewesen war, wurde zur beabsichtigten Originalität. Das Publikum war nun die westliche Welt einschließlich Japans. Der amorphe Sitzsack „Sacco“ mit seiner Füllung aus Styroporkügelchen war 1968 eine Idee der drei jungen Architekten Piero Gatti, Cesare Paolini und Franco Teodoro. Sein Prinzip war die pure Inversion: Bisher hatten sich die italienischen Gestalterinnen und Gestalter um formale Nuancen bemüht, nun wurde die Form zum Zufallsprodukt gemacht und die Formel „die Form folgt der Funktion“ wörtlich genommen.24 Bestecksets wurden fundamentalistischer und formalistischer, Interpretationen provokativer. Um nochmals eine OlivettiSchreibmaschine zu erwähnen: Das Modell „Valentine“ von Ettore Sottsass und Perry King, eine Reiseschreibmaschine (1969), wurde am Handgriff getragen, der an der Rückseite des Geräts angebracht war, und wurde auch daran aus den Gleitnuten im Kunststoffkoffer hervorgezogen. Das war nun nicht mehr das vitruvische Empfinden eines Marcello Nizzoli, sondern geradezu dessen Dementi mit einer satten subversiven Dosis. Jonathan de Pas, 187

Donato d’Urbino und Paolo Lomazzi waren ein weiteres Trio – und für einmal keine Architekten –, denen zeittypische Entwürfe gelangen: der aufblasbare Sessel „Blow“ und das kleine Sofa „Joe“ in Form eines Baseball-Handschuhs, genannt nach dem früheren Sportstar Joe di Maggio. Die Zielgruppe für diese Entwürfe war nun die hippe Jugend in den westlichen Ländern, wohingegen zuvor während zwei Jahrzehnten die wichtigsten Produkte primär an die italienischen Landsleute gerichtet gewesen waren. Diese hoch professionelle Designkultur kulminierte im Œuvre des jung verstorbenen ­Cesare „Joe“ ­Colombo, der in wenigen Jahren ein ganzes expansives Universum von Gegenständen erschuf: Sessel, Lampen, Gläser, Flugzeuggeschirr, Betten, Aufbewahrungsbehälter – ein besessener Gestalter, der den „Design“Begriff mehr als alle seiner Kollegen popularisierte (ihn allerdings auch kanalisierte), der an die gesellschaftlich wichtige Funktion des Designs glaubte und mit (scheinbar) leichter Hand diesem Glauben in einer „vertikalen“ topdown Auffassung eine Formensprache verlieh: als Gestalter, der der Gesellschaft die richtigen Instrumente in die Hand gibt, mit der sie verantwortungsvoll umgehen wird. Im Katalog Italy: The New Domestic Landscape des Museum of Modern Art in New York entwarf der Kurator Emilio Ambasz eine Typologie der italienischen Gestalterinnen und Gestalter und unterschied – klugerweise ohne Namen zu nennen – drei methodische Ansätze: 1. Konformismus, 2. Reformismus, 3. Opposition. Die erste Kategorie, so Ambasz, verstehe ihre Arbeit als autonom und als unabhängig von gesellschaftlichen Implikationen und praktiziere eine Verfeinerung von bekannten Formen und Funktionen. Die zweite Kategorie hinterfrage ihre Rolle als Gestalter in der Gesellschaft und befinde sich dabei in schmerzhaften Konflikten mit der Realität; deshalb stelle ihre Arbeit oft auf rhetorische Weise, durch neue Vorzeichen vor an sich bekannten Gegenständen, ihre schwierige Stellung in der Gesellschaft dar. ­A mbasz gibt zu, dass die Unterscheidung zwischen diesen beiden Kategorien oft nicht leichtfällt. Die dritte Kategorie, die oppositionelle, verdanke sich dieser Schwierigkeit: Sie mache das Dilemma zum Programm.25 Im Grunde unterschied Ambasz zwischen einerseits dem Design in der erwähnten „naiven“ Periode, als Italien aus der Verschattung von Faschismus und Krieg 188

Abb. 94: Enzo Mari: Vorschlag für eine neue handwerkliche Verarbeitung von Porzellan, 1974. Ein Ansatz, bei dem ein aufgeschlossener Designer im Umgang mit ihrem Material geübte Kunsthandwerker Mut zu neuen Lösungen lehrt.

heraustrat, den Fortschritt tagtäglich erlebte und den wachsenden Wohlstand genoss, und anderseits der darauffolgenden Zeit der sich nach und nach formierenden Skepsis an diesem Fortschrittserleben und der Bezweifelung des Konsums. Diese mentale Bewegung machte die Jugend in der ganzen westlichen Welt; Italien auf seine besonders kreative Art, wobei Ettore ­Sottsass und Alessandro Mendini die wichtigsten Promotoren waren (→ Kap. 30) . Die Bandbreite des italienischen Designs erreichte um 1970 wohl ihr Maximum und reichte nun vom stilsicher gestalteten Gebrauchsobjekt bis zum halbwegs geistreichen Gag und von dort bis zur trotzigen Manifestation von Widerstand. Für die Kategorie „Gag“ mag das Schaumstoff-Objekt „Pratone“ der Gruppe „Strum“ stehen, die „große Wiese“ aus Schaumstoffhalmen, bei deren Entwurf die Funktion des Sitz- oder Liegemöbels maximal weit in den Hintergrund getreten war.26 Exponenten von internationalen Zeitschriften oder der Werbung, Inhaber von Galerien (und deren Fotografen) waren begeistert von so viel überschießender Originalität. Die reflexive Seite hingegen hatte in Enzo Mari einen verlässlichen Deuter. Ihn beschäftigte die unfruchtbare Oppositionsstellung von Handwerk und seriellem Design, wo dem Handwerk der nichtschöpferisch-repetitive, dem Design der visionärhervorbringende Part zuzufallen pflegte. Im Verlauf seines Projekts „Una proposta per una lavorazzione a mano della porcellana“ (Vorschlag zur manuellen Verarbeitung von Porzellan) leitete er eine Gruppe von Keramikerinnen 189

und Keramikern an, durch eine neue, aufgeschlossene Denkweise und einen neuen Umgang mit dem Material, durch die Multiplikation von je identischen Ausgangselementen aus Porzellan in Obstschalen ganz neue Patterns und Erscheinungsformen von Schalen hervorzubringen.27 Der Zeitpunkt dieses Projekts, 1973, war der historische Moment, als die westliche Welt zum ersten Mal nach dem Krieg sich in einer bedrohlichen Wirtschaftskrise wiederfand und das scheinbar naturgesetzliche Prinzip stetigen Wachstums sich von tiefen Rissen zerspalten zeigte.

190

Anmerkungen

13 Lora Lamm im Gespräch mit dem Autor, Zürich, März 2019 14 Marcello Nizzoli: „Konsequentes Design“, in Stile Industria 1954, zit. nach Hans Wichmann: Italien:

1

Vgl. Jocelyn de Noblet, Catherine Bressy: Design. ­Introduction à l’histoire de l’évolution des formes in-

2

15 Vgl. Stile Industria 6/1956, S. 2–14

Der Auftrag erging von der Leitung der Triennale di Mi-

16 Cinzia Anguissola d’Altoé: „Il mobile e la tecnica“, in

lano, von Giò Ponti und Giuseppe Pagano. Vgl. Dario

Manolo de Giorgi (Hrsg.): 45–63. Un museo del di-

Scodeller: Livio e Pier Giacomo Castiglioni. Il progetto

segno industriale in Italia. Progetto di una collezione.

Adriano Olivetti war väterlicherseits jüdischer Herkunft, brachte während des Krieges einige Gefährdete unter Einsatz seines Lebens außer Landes in die Schweiz. Die mit ihm befreundete Schriftstellerin

4

5

­Möbelproduzenten schon vor dem Krieg. Die Grün-

Vgl. Augusto Morello: „Continuità di uno stile.

dungsjahre einiger wichtiger Produzenten-Firmen

Duo nuove macchine Olivetti disegnate da Marcello

nach 1945: Cappellini (1946), Kartell (1949), Arflex

­Nizzoli“. In: Stile industria 1/1954, S. 8–10; Nathan

(1950), Tecno (1953), Zanotta (1954), Danese

H. Shapira: Design Process Olivetti 1908–1978.

(1957), Poltronova (1957), Artemide (1959), Gavina

Los Angeles 1979 (University of California)

(1960), Flos (1962), schließlich Driade (1968) und

Teo Ducci: „Neue Formen in Italien?“, in: Katalog

Alias (1979). Als Einzige unter ihnen war Poltronova

Tony Judt: Geschichte Europas von 1945 bis zur D’Ascanio war auch ein Pionier der Helikopter-­ Konstruktion, auch wenn seine Entwürfe nicht in Pro­ duktion gingen. Vgl. Roberto Segoni: „Corradino d’Ascanio: nel segno dell’invenzione“, in: Rassegna Nr. 18: „Veicoli /Vehicles 1909–1947”, Bologna 1984, S. 22–33 Zur Konstruktion der Vespa: Sie weist eine Hinterachsschwinge auf, mit welcher Motor und Getriebe starr verbunden sind und somit mit dem Hinterrad mitfedern.

9

Weitem kein Einzelfall im italienischen Design. 18 Cassina (gegründet 1927) und Molteni (1939) ­existierten als Ausnahmen unter den hier erwähnten

Gegenwart. Frankfurt a. M. 2010, S. 377

8

Handel, ein Zeichen für seine Bedeutung. Dies ist bei

schen Roman „Familienlexikon“ berührend dazu.

1954 (Wegleitung 201), S. 14

7

Milano 1995, S. 90–103, hier S. 92 17 Zanusos Entwurf ist heute (2019) noch immer im

Natalia Ginzburg äußerte sich in ihrem autobiografi-

Nuove Forme in Italia, Kunstgewerbemuseum Zürich 6

(Birkhäuser), S. 248 f.

dustrielles de 1820 à aujourd’hui. Paris 1974, S. 113

della luce. Milano 2003 (Mondadori Electa), S. 26–49 3

Design 1945 bis heute. Basel/Boston/Berlin 1988

Wie Anm. 7

10 Vgl. Richard P. Lohse: Neue Ausstellungsgestaltung. Zürich 1953, S. 96–99 11 Giovanni Battista „Pinin“ Farina (Pinin als familiärer Kosename seit seiner Kindheit) ließ vom italienischen Senat seinen Namen zu Pininfarina ändern, wodurch er als Firmenname an die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden konnte. 12 Zur Inneneinrichtung von La Rinascente in Mailand

in der Toscana domiziliert, alle anderen in Norditalien. 19 Die Firma Danese wurde 1999 von Carlotta de ­Bevilacqua erworben. 20 Stefano Casciani: Arte industriale. Gioco Oggetto Pensiero. Danese e la sua produzione. Milano 1988 21 Vgl. Claude Lichtenstein/Alfredo W. Häberli (Hrsg.): Bruno Munari. Far vedere l’aria – Die Luft sichtbar machen. CH-Baden 1995 22 Anna Castelli Ferrieri war auch von 1976 bis1987 Art Director von Kartell. 23 Alberto Rosselli, Statement in „Two views that bracket today’s problem“, Industrial Design 3/1960, S. 38 (Zitat aus Stile Industria Nr. 21/1959). Übers. C. L. 24 Der „Sacco“ wurde sogleich von Zanotta in Produktion genommen. Vgl. Andrea Branzi (Hrsg.): Il design italiano 1964–1990. Un museo del design Italiano. Milano 1996, S. 122 25 Emilio Ambasz (Hrsg.): Introduction, in Italy: The New Domestic Landscape. New York 1972, S. 20–21 26 Die Gruppe „Strum“ bestand aus Giorgio Ceretti, Piero Derossi und Riccardo Rosso. Vgl. Andrea Branzi (wie Anm. 24), S. 123 27 Vgl. Renato Pedio: Enzo Mari Designer. Bari 1980,

siehe: „Gusto e funzionalità negli interni del nuovo

o. S. (Abb. 160–169, Kommentar); Stefano Casciani

grande magazzino della Rinascente a Milano“,

(vgl. Anm. 20): „Idee e ideologie per il lavoro artigia-

­Domus Nr. 268 (März 1952), S. 36–51

nale“, S. 164–167

191

X-23 Zum Unterschied von Originalität und Extravaganz

1981 stand in Aspen die Design Conference unter dem Titel „The Italian Idea“. Das Poster zum Anlass enthält ausschließlich die Namen von italienischen Künstlerinnen, Architekten und Designerinnen zurück bis in die Renaissance. Was, abgesehen von der Sprachmelodie dieser Namen, war wohl die Absicht der Veranstaltung? Wir können es nur vermuten, denn einen Tagungsbericht davon gibt es nicht. Das Ziel könnte gewesen sein, das italienische Design als eine spezifische Ausdrucksform zu würdigen. Was aber galt in der transatlantischen amerikanischen Sicht als spezifisch italienisch? Das Spiele­r ische, die Lebensfreude? Wieso aber 1981? Wenn es zwanzig oder dreißig Jahre früher um dasselbe Thema gegangen wäre, wären die Gegenstände, die solche Empfindungen auslösten, mit Bestimmtheit von ganz anderem Charakter ­gewesen. Denn ob man das Design aus Italien von 1950 oder das von 1980 betrachtet, macht einen beträchtlichen Unterschied. Im Vergleich zeigen sich zwei Phasen mit unterschiedlichen Profilen von Originalität, wie Gestaltung in Italien verstanden und praktiziert wurde: zwei Arten des Denkens und der Gestaltungsweisen. Das Ausstellungs-Interieur von Ignazio Gardella aus dem Jahr 1946 war eine Neuschöpfung, ebenso wie im selben Jahr die „Vespa“ eine genuine technische Neuerfindung war. Bei beiden war die Ressource die Knappheit der Mittel: ein schmales Budget des Zielpublikums, ein sparsamer Materialverbrauch und eine ökonomische Fertigung, aber ein hoher Gebrauchswert. Auch Vico Magistrettis frühe Entwürfe haben diesen Hintergrund. Ihre Originalität ist sozusagen durch Mangel und Knappheit hervorgetrieben, sie kommt aus der Aufgabe. Man kann von einer Push-Originalität sprechen. Eine Generation später war Italien nicht mehr das arme Land wie in der Zeit kurz nach dem Krieg. Vielmehr war es die weltweit für ihre Kreativität bewunderte Brutstätte unzähliger Design-Leistungen: von Möbeln, Lampen, technischen Apparaten und Fahrzeugen. Das Land erhielt viel berechtigte 192

Aufmerksamkeit dafür, und die wirkte als Ansporn, mehr zu liefern: mehr überraschende Ideen, mehr freche Provokationen, mehr Anlässe für Erstaunen und Beifall, mit denen sich das Publikum zur Schicht der weltläufigen Kulturelite zählen konnte. Die Welt nahm Italien auch Ideen ab, die anderswo nur Kopfschütteln geerntet hätten. Die gestalterische Fantasie auch im Publikum wurde dadurch bereichert. Italien brachte frischen Wind in die Häuser, Wohnungen und Büros vieler Länder. Aus den anfänglichen Ideen zur Über­listung der Knappheit in Italien entwickelte sich eine üppige Überraschungskultur von internationaler Wirkung. Das Kleinsofa in der Form einer geöffneten Hand oder die Schreibmaschine in der Kunststoffhülle wie der eines Vermessungsgeräts waren geistreiche Kreationen, doch ihr Ursprung lag nicht im Motiv, einen Mangel zu überwinden, sondern in der Lust, unerwartete Transformationen von Bildern vorzunehmen. Die Originalität war keine Notwendigkeit mehr, sondern war gesucht. Deswegen könnte hier von einer Pull-Originalität die Rede sein. Diese Unterscheidung wird am italienischen Design besonders sinnfällig, doch sie beschränkt sich nicht auf Italien. In Italien gibt es zu beiden OriginalitätsPolen nennenswerte Beiträge, was von anderen Ländern weniger gesagt werden kann. Woran mag es liegen, dass der Pol der Einfachheit in den anderen Ländern charakteristischere Beispiele hervorgebracht hat als der Pol der gesuchten Originalität? Um beim Mobiliar zu bleiben, wären aus Deutschland der Teetisch von Herbert Hirche oder ein Klapptischchen von Ferdinand Kramer zu erwähnen, aus Frankreich Pierre Jeannerets Möbel für Chandigarh oder Charlotte Perriands „Nuage“-Regal, aus der Schweiz das Embru-Regal von Wilhelm Kienzle oder Jacob Müllers Klappmöbelset „Plio“, aus Jugoslawien (dem heutigen Kroatien) der Klappsessel von Niko Kralj, aus den Niederlanden der polyvalente Zeichentisch von Wim Rietveld und Friso Kramer. Bestimmt gäbe es auch den einen oder anderen Entwurf aus Nepal, Mexiko oder Kenia zu nennen, wenn wir nur von ihnen wüssten. Am anderen Ende des Spektrums ist es schwieriger, zu einem klaren Urteil zu kommen. Wann ist etwas allzu gesucht? Ist die Wohnung von Karl Lagerfeld, eingerichtet von Memphis, originell zu nennen? Oder das S-förmig verzogene Schubladenmöbel von Shiro Kuramata? Wem käme dieses Prädikat 193

in den Sinn? Beide sind extrem ausgefallen. Worin liegt der Unterschied zwischen Ausgefallenheit und Originalität? Darauf folgt nun der Einwand: Aber ist das denn nicht eine Frage, die nur subjektiv zu entscheiden ist? Wohl schon. Dennoch: Wie wäre es mit dem Unterscheidungskriterium der Dringlichkeit, mit der es zu einer Lösung gekommen ist? Dann ließe sich sagen: Ausgefallenheit ist gewollt, Originalität ist gemusst. Oder mit anderen Worten: Zur überraschenden Lösung wird man von äußeren Faktoren gedrängt, zur ausgefallenen Lösung aus eigenem Bestreben verleitet. Ist es das? Aber wohin gehört dann der „Sacco“? Nein, die Welt zerfällt nicht in zwei Hälften. Aber nützlich kann eine Unterscheidung dennoch sein, die die Dinge einem von diesen beiden Magnetpolen zuzuordnen versucht.

194

24 Frankreich: Salon und Atelier Von den „formes utiles“ zu „le design“, 1930–1975

Ein „französisches Design“ gebe es nicht, behauptete 1973 ein französischer Kenner des Geschehens, im Gegensatz zu Italien gebe es hier nur brillante Individualisten.1 Das trifft zu, wenn man dabei an eine „Designer-Szene“ denkt, von der in Bezug auf Frankreich in der Tat nicht die Rede sein kann. Doch existiert ein Land ohne eine solche Szene deshalb in einem Vakuum? Was sind denn all die Produkte, die für französisches savoir-vivre, savoir-faire stehen? Es trifft zu, in diesem Land blieben die Gestalter lange im Hintergrund. Selbst die Compagnie d’Esthétique Industrielle (CEI ), die 1953 gegründete französische Niederlassung des mediengewandten Raymond Loewy, konnte kein starkes Profil gewinnen. Roger Tallon war lange einer der wenigen prominent gewordenen Industrie-Gestalter. Französisches Design erfordert eine andere Art von Aufmerksamkeit für eine andere Art von Gestaltung und eine andere Industriekultur als die italienische. Es ist weniger künstlerisches Manifest als zweckgebunden – oder dann allzuoft von einer irritierenden Verspieltheit, der viel Willkür anhaftet. Davon aber soll hier nicht die Rede sein. Auch die Brillanz von Individualisten ist nicht zu verachten, wenn aus ihren Händen außergewöhnliche Serienprodukte hervorgegangen sind, die international den Weg in die Gesellschaft gefunden haben und so unverbrüchlich zum Bild von Frankreich gehören. Eine Schwierigkeit beim Versuch einer Charakterisierung ist allerdings der überwiegend konventionelle, traditionelle oder indifferente französische Publikumsgeschmack – auch der jungen Generation – im privaten Bereich, dies in einem Land, wo sich der selbstständige Taxichauffeur als „artisan“ bezeichnet und die Innenarchitektur unter der Bezeichnung „décoration“ figuriert. Solche Benennungen bilden im Grunde noch immer dieselbe Realität ab, gegen die L’Esprit Nouveau als Sprachrohr einer kleinen Minderheit polemisiert hatte. Große Namen der Einrichtungskultur wie die von Eileen Gray, Charlotte Perriand, Jean 195

Prouvé oder Pierre Chareau sind erst spät zu dem geworden, was sie heute sind. Populär waren hingegen Autos, Flugzeuge (Caravelle), Passagierschiffe (Normandie, France) und andere Transportmittel. Die geblümten Tapeten und konfektionierten Dekors gehören ebenso zum Land wie seine unkonventionellen Hervorbringungen, von denen im Folgenden einige behandelt werden. Der Widerspruch etwa zwischen dem konventionellen Wohnmilieu und unvergleichlich originellen Fahrzeugen ist vielleicht nur ein scheinbarer, insofern er seine Wurzel im französischen Sinn für das Praktische und Unpro­ blematische hat. Wenn das zutrifft, dann wäre in diesem Land von beiden Seiten, der behaglichen Konvention und der unerschrockenen Originalität, die eine jeweils die Voraussetzung für die andere. „Formes utiles“ versus „luxe“ Eine Domäne des funktionalistischen Denkens in Frankreich noch heute ist das foyer, der häusliche Herd. Zur berühmten französischen Küche gehört ein umfangreiches Arsenal von spezifischen Kochhilfen, von Putz-, Schäl- und Hackgeräten, von Zubereitungs-, Rühr-, Schöpf- und Essbesteck: Eierschneider, Spargelschäler, Zwiebelhacker, Hummerscherenknacker, Abseihkellen, alle Arten von Brätern und Kasserolen und all die anderen Gerätschaften für die Küchenchefs und -chefinnen: Passe-vite, poche de mousse (Schaumabschöpfkelle), thermo-saucièr, poche à douille (Dressiersack) etc. Da offenbart sich im europäischen Mutterland der hohen Gastronomie ein physikalisch fundiertes Urvertrauen in die Funktionalität der Dinge als Relikt einer höfischen Kultur, Gerätschaften für den Ernstfall in der Küche. Dies ist die Seite der Gegenstände für hoch spezialisierte Zwecke, bei denen die ­F ranzosen keinen Spaß verstehen, auch wenn Marken wie Duralex, Moulinex und Terraillon phonetisch an Figuren aus bandes dessinées denken lassen. Diesen Gegenständen von einer spezialisierten Nützlichkeit entgegengesetzt sind Dinge, die am anderen Ende französischer Gestaltungsphilosophie stehen: die allgemeine Nützlichkeit des Mehrzweck-Gegenstands: „Zeug“ zum Fahren, zum Sitzen, zum Beleuchten. „Formes utiles“, nützliche Formen in Reinkultur, die es so nur in Frankreich geben konnte: ökonomische Kleinwagen von hohem Gebrauchswert, ein Zweirad wie das Vélosolex oder der 196

Abb. 95: Jean Mantelet: ­Patentschrift für ein Gemüse­sieb, 1948. Die Dinge besser funktionieren machen: ein zentraler ­Aspekt des Designs für die französische Küche.

Tolix-Stuhl aus gepresstem Blech (noch mehr solche Namen!). Es sind dies (oder waren) Gegenstände, deren Benutzung frei von Repräsentations-Ehrgeiz war. Von Anti-Design zu reden wäre verfehlt, denn die Ambitionen der Entwickler galten dem hohen Gebrauchsnutzen bei teilweise souveräner Missachtung der Warenästhetik. Einige Beispiele für diese utilitaristische „Atelierkultur“ sollen hier vorgestellt werden. Frankreich, ein Land mit einer umfangreichen Landwirtschaft und einem beträchtlichen Anteil von Industriearbeitern, wandelte sich langsamer als andere Länder von einer Bedarfszu einer Konsumgesellschaft, und dies mit mehr Gewicht auf Lebensmitteln als auf Luxusgütern. Allerdings: Die Entwicklung seit den 1970er-Jahren ging auch hier in Richtung der internationalisierten und globalisierten Wirtschaft; durch das Entfallen der Schutzzölle auf französische Waren in der EWG und der EU wurden die Karten neu gemischt. Die typischen Charakterzüge 197

Abb. 96: Raval & Bertrand: Schreibtisch im Art-décoStil, um 1931: Extravaganz für Städter. Im oberen ­Bügel befindet sich die Beleuchtung.

französischen Designs, von denen hier die Rede ist, gibt es in dieser Prägnanz heute weitgehend nicht mehr. Ein spezifisch französisches Merkmal ist die Parallelität von einer Hoch- und Repräsentationskultur einerseits und einer „Atelierkultur“ anderseits. Hierin liegt eine Entsprechung zu den jungen Vereinigten Staaten, wo allerdings im späten 19. Jahrhundert die funktionale Gestaltung von luxuriösen Ansprüchen zuerst überlagert und dann verdrängt wurde (→ Kap. 5) . In Frankreich geschah dies 150 Jahre später. Die Repräsentationskultur hatte vor dem Krieg im Art déco ihre Apotheose: Erlesene Materialien, anspruchsvolle Linienführung und ausgesuchte Farbakzente in Einrichtungsgegenständen, eine hochgezüchtete Stilistik und soignierte Materialkultur bis zur Exaltation. Für Sigfried Giedion war das französische Art déco nicht mehr als „ein unfruchtbares Gemisch aus Jugendstil und deutschem Kunstgewerbe“.2 Das ist zu einseitig gesehen. Für einmal soll hier der Verweis auf einen visuellen Gestalter die Verhältnisse klären helfen: A. M. Cassandres Plakate der Zwanziger- und Dreißigerjahre sind geistreiche, unübertroffen kunstvolle und handwerklich einzigartige Beispiele für die Eleganz auch von Art déco als französischer Variante der Neuen Sachlichkeit, Arbeiten, mit denen hohe Kunst in die Straßen und in den städtischen Alltag gelangte. Eleganz und Originalität, Raffiniertheit und Direktheit sind in der französischen Gestaltung Polaritäten 198

von ganz spezifischer Spannung. Nicht überall so bewusst artikuliert wie bei Cassandre oder auch in der exquisiten „Maison de verre“ (Arzthaus D’Alsace, 1932) des Architekten und décorateur-ensemblier Pierre ­Chareau im Pariser Quartier Latin, in dessen Interieur die genieteten Stützen aus Kulisseneisen zugleich in Menninge-Orange belassen und teilweise mit edlen Ebenholzflächen belegt sind. Industrielle Direktheit und Saloneleganz sind hier dialektisch aufeinander bezogen (wobei Chareau und sein Mitarbeiter Bernhard Bijvoet die technisch-industrielle Ästhetik überwiegend bildhaft, in manuell gefertigten Schlosserarbeiten, inszenierten). Da C ­ hareaus Wohnungseinrichtungen vor 1925 luxuriös gewesen waren ohne diesen Aspekt von Industrieästhetik, wird offenkundig, dass diese seither eine Quellkraft geworden war. Ähnliches gilt von Eileen Grays Arbeiten vor 1920, die sich in ihrer Hand vom Art nouveau über außereuropäische (afrikanische, asiatische) Anklänge in die Ästhetik der Passagierdampfer hinein entwickelte. Die Erweiterung der Eleganz um die Industrieästhetik und die Interaktion zwischen diesen Polen ist jedenfalls eine Signatur Frankreichs. Wenn die Repräsentationskultur auch nach 1789 prägend blieb, ist seit dem Eiffelturm die culture technique der ihr entgegengesetzte Beitrag der Moderne. Die hohe gesellschaftliche Anerkennung des Ingenieurwesens wirkte tief in die französische Gestaltungspraxis hinein. Doch der wichtigste Lehrgang für Indus­t rial Design findet an der Fachhochschule statt, die seit 1766 „École nationale supérieure des arts décoratifs“ heißt, abgekürzt ENSAD, in der Umgangssprache aber „les Arts déco“. Benennungen wie diese bestimmen das Bild, das sich die Öffentlichkeit von einer Sache macht. Die Ingenieurkultur ihrerseits hatte neben dem anerkannten historisch-innovatorischen Anteil – Montgolfière, Vélocipède, Eiffelturm, Fotografie und ­K inematograph – auch eine konservative Seite: Der 1953 neu lancierte Dampfkochtopf von SEB in Frankreich, das Produkt einer wichtigen Firma, bildete mit dem massiven Haltebügel, der den Deckel dem Dampfdruck entgegenstemmt, die Wirkungsweise des physikalischen Prinzips ganz direkt und fast roh ab, überraschend ähnlich wie in Denis Papins Erfindung 300 Jahre zuvor. Dies zu einer Zeit, als in den USA , in der Schweiz und anderswo bereits seit Langem dasselbe physikalische Prinzip viel eleganter umgesetzt war.3 199

SEB ist ein typisches Beispiel für die zahlreichen französischen Industriebe-

triebe, die von patrons geleitet wurden, Unternehmern, die funktionell dachten und sich unter industrieller Ästhetik nicht viel vorstellen konnten; und dies in einem Land, in dem der Konsumgütermarkt noch lange überwiegend ein selbstgenügsamer Binnenmarkt war. Kenner Frankreichs sahen darin schon früh eine Schwäche. Doch im Rückblick liegt darin auch eine Qualität, weil die rückhaltlose Bejahung der Gebrauchsfunktion zu unverwechsel­ baren französischen Leistungen geführt hat. Ein weiteres Beispiel in dieser Hinsicht sind die „Tolix“-Stühle aus gepresstem Blech und die etwas feineren Konkurrenzmodelle von „Multip’l“. Tolix nannte der burgundische Spengler Xavier Pauchard seine Kleinmöbel-Produktion. Er erfuhr um 1907 aus einer amerikanischen Publikation über die galvanische Verzinkung von Stahlblech und gründete daraufhin seine „Etablissements X. Pauchard“ für galvanisierte Kleinmöbel und andere Gegenstände (Blechstühle und -tische, Wassereimer). Sein stapelbares Stuhlmodell A war für den Garten, für Parks, Boulevard-Cafés, Fabriken und Werkstätten gedacht; seit der Jahrtausendwende empfiehlt sich sein industrieller Chic auch für Innenräume. Dasselbe gilt von den stapelbaren Blechstühlen des Ingenieurs Joseph Mathieu, die seit 1922 von der „Société industrielle des meubles Multipl’s“ hergestellt wurden. Während die Tolix-Modelle aus gepresstem Blech für Füße und Sitz und aus Stahlrohr für die Lehne bestehen, wirkt Mathieus konstruktives Konzept einheitlicher und raffinierter, da hier die Füße konkav und konisch ausgebildet sind, wodurch der Stuhl die Stapelbarkeit deutlicher zum Ausdruck bringt. Allerdings musste das „Multip’l“-­ Modell, dessen Form so raffiniert einteilig wirkt, in Wirklichkeit aus zahlreichen einzelnen Blechen zusammengesetzt werden.4 Kaum jemand hätte solche Stühle in seinen privaten Innenräumen verwendet, sie waren für Werkstatt und Garten gedacht. Gerade die traditionalistische Unterscheidung von privater und beruflicher Sphäre begünstigte hier den Mut zur unkonventionellen Lösung. Für diese Ingenieur-Haltung stehen auch die gelenkig verstellbaren Leuchten für Werkstätten und Ateliers ihres Erfinders Bernard-Albin Gras, der 1921 begann, für Werkstätten und Ateliers Leuchten zu entwickeln, deren 200

konstruktive Raffinesse sie von anderen primitiveren Fabrikaten unterschieden. Ihre gestalterische und konstruktive Qualität bewirkte, dass sie mit der Zeit den Weg in die Wohnräume fanden.5 Die Führung des Kabels in den gewalzten Rohren, der abgerundete Pyramidensockel mit dem Kugelgelenk waren Merkmale für einen verfeinerten technischen Charakter.6 Er passte nicht mehr nur zur groben Welt der Fabrik und der Werkstatt, sondern empfahl sich als Epiphanie einer höheren Wahrheit bald auch für die Wohnumwelt. Le Corbusier erfasste dies als Erster, er setzte die Gras-Leuchten in seinen Bauten ein, bald gefolgt von einigen seiner Kolleginnen und Kollegen der Union des artistes modernes, UAM: Robert Mallet-Stevens, Pierre Chareau, Eileen Gray. Doch diese UAM war auf der französischen Bühne eine kleine Fraktion von fortschrittlichen Gestaltern, Innenarchitektinnen und Architekten. ­Dominant war hingegen die Übermacht aus Repräsentanten der École des b ­ eaux arts und deren Auffassung beim Ausstatten von Hotels, Kinos und Schalterhallen. „Normandie“: forciertes Prestige Das Wertesystem der École des beaux arts kam fast immer bei Prestige­ projekten zum Zug und bestimmte so auch das Dampfturbinen-getriebene Passagierschiff Normandie der Compagnie Générale Transatlantique. Die Normandie trat 1935 als Symbol der nationalen Ehre in den Wettstreit zwischen England, Frankreich und Italien um das größte, schönste, eleganteste und luxuriöseste Schiff ein und erreichte in ihrem kurzen Leben auch sogleich das „Blaue Band“ für die schnellste Überquerung des Atlantiks.7 Ihr Rumpf war nach neuen hydro- und aerodynamischen Erkenntnissen geformt. Zum Zweck eines möglichst eleganten Äußeren des Dampfers waren ihre drei monumentalen Schlote stromlinienförmig gestaltet – der dritte allerdings nur eine Attrappe ohne technische Funktion. Damit widersprach sie dem Enthusiasmus der Avantgarde für die Wahrheit aus der Hand des Ingenieurs. Die Interieurs der Gesellschaftsräume und der Kabinen repräsentierten in der Sprache des Art déco französischen haut-goût: brillante Oberflächen, virtuos orchestrierte Farbakzente und Beleuchtungseffekte. Doch aus der progressiven französischen Fachwelt erhielt das Schiff deutliche Kritik. Der Architekt 201

Abb. 97: Perspektiv-Grundlage der „Normandie“, um 1932. Die aufwendig konstruierte Perspektive des Schiffsrumpfs setzt avanciertes hydrodynamisches Know-how in eine publikumsorientierte Eleganz hinein fort: der hinterste Schornstein als Attrappe um der formalen Harmonie willen. (L’Architecture d’Aujourd’hui 8/1935)

Robert Mallet-Stevens bezeichnete sie als verpasste Chance, das Schiff als Leistungsausweis fortschrittlicher französischer Gestaltungskraft zu präsentieren: „Manche Elemente dieses enormen Ensembles erinnern unkritisch an ‚1925‘, man hat an Bord zu sehr das Gefühl, einer Retrospektive beizuwohnen.“ Er kritisierte den Umgang mit Holzoberflächen im Inneren und beklagte die verpasste Einbeziehung seiner Kollegen von der UAM , von „Barillet, Burkhalter, Chareau, Dourgnon, Gascoin, Herbst, Francis Jourdain, Lambert-Rucki, Léger, Lurcat, Prouvé und Salomon“. Mallet-Stevens schließt mit dem enttäuschten Fazit: „Das Profil der Normandie hätte sein sollen: absolute Sicherheit, neue Linien im Äußeren, ein wirklicher Dampferstil im Inneren: ein solches Schiff hätte Frankreichs Stolz werden können.“8 Doch ein solches Gefühl der Enttäuschung war einer kleinen Gruppe von Avantgardisten vorbehalten, während das Publikum ungebrochenen Stolz auf diese kulturelle und technische Leistung empfand. 202

Kunsthandwerk oder Industrie-Ethos? Eine Reformbewegung wie den Werkbund gab es in Frankreich nicht. Die Anschauungen über Gestaltung blieben lange von wertkonservativen Kreisen bestimmt, vor allem von den Akademien und den Écoles des beaux arts. Kunsthandwerker suchten, in die Société des artistes décorateurs (SAD) aufgenommen zu werden. Dass innerhalb der SAD dank der Umwälzungen der 1920er-Jahre Meinungsverschiedenheiten über den Begriff der „dekorativen Künste“ auftraten, war nur logisch. Es kam zu einer Abspaltung; 1929 trat eine progressive Gruppe aus der SAD aus und gründete die Union des ­artistes modernes (UAM ). Aber auch diese Gruppe war alles andere als homogen. Le Corbusier, Charlotte Perriand, Pierre Jeanneret und Jean Prouvé als Befürwortern der Industriekultur standen eher „Gesamtkunstwerker“ wie René Herbst gegenüber; und dann gab es Persönlichkeiten wie den bereits erwähnten Pierre Chareau oder Eileen Gray, die beide ihre Arbeiten aus der Spannung zwischen den beiden Ästhetiken entwickelten. Die UAM war geeint gegen den Widerstand von außerhalb, aber innerhalb der Vereinigung gab es stark divergierende Zielvorstellungen. Eine Sektion innerhalb der UAM , ­Formes utiles, war bald etwas isoliert, da die Mehrzahl der UAM -Mit-

glieder vom Verständnis des Kunsthandwerks ausgingen und nur geringes Abb. 98: René Herbst: ­Vorschlag für ErstklassSchiffskabinen mit Metallausstattung, 1934 für die UAM ausgestellt am Salon d’automne. Leuchten von André Salomon, Textilien von Hélène Henry. Die ­Reedereien hatten jedoch andere Vorstellungen von Eleganz.

203

Abb. 99: Zwei Staubsauger der französischen Marke Conord, 1940 und 1950erJahre. Die „dynamische Formgebung“ tritt als neuer Design-Habitus an die Stelle der nüchternen Funktionalität. (Hermant, Formes utiles)

Interesse für Industrieware hatte. Sie vermieden den offenen Bruch mit den Arts ­d écoratifs, hielten an der Idee einer „synthèse des arts“ fest und vermochten nach dem Esprit Nouveau lange nicht, den theoretischen Rahmen für das industrielle Zeitalter zu aktualisieren.9 Den Versuch einer solchen Formulierung unternahm erst wieder ein Buch, das eine korrekte Gestaltung von den Gestaltgesetzen der Natur herzuleiten suchte und sich dabei auch auf Viollet-le-Duc bezog: Formes utiles, von André Hermant 1959 im Namen der UAM herausgegeben. Mit zahlreichen Bildanalogien zwischen Architektur beziehungsweise Gestaltung und der Pflanzenwelt und mit Verweisen auf Platon und Teilhard de Chardin wird das Kriterium der Nützlichkeit (utilité) dem der Stilisierung (stylisme) entgegengehalten.10 Dabei richtet sich Hermant nicht gegen Ästhetik schlechthin, vielmehr gegen die Tendenz der Ästhetisierung aus mangelhafter Geschmackssicherheit und fehlendem Können. Zugleich widerspricht er Raymond Loewys Buchtitel La laideur se vend mal, der durch die Realität oft widerlegt werde: Hässlichkeit sei leider oft erfolgreich.11 Dabei macht er einen Unterschied zwischen Hässlichkeit aus geschmacklich verfehlter Schönheit und Gestaltung unter Nichtbeachtung ästhetischer Kriterien; Letztere findet seine ausdrückliche Zustimmung: Er nennt als gelungenes und erfolgreiches Beispiel den Citroën 2 CV (siehe unten) und zitiert für Beispiele dieser Art Jean ­Cocteau: „Er ist weder schön noch hässlich, er hat andere Verdienste.“12 Dieses Andere, die utilité, spielt im französischen Design eine zentrale Rolle. In der 204

Abb. 100: Telefonapparate im Niedergang („La décadence des téléphones“), späte 1950er-Jahre. Der Kampf gegen die Windmühlen der vorsätzlichen ­Dekorativität. Vgl. Abb. 41. (Hermant, Formes utiles)

Gegenüberstellung von zwei Staubsaugern der Marke Conord – der eine wohl aus den 1940er-Jahren, der neue zeitgenössisch – bezeichnet Hermant die Richtung des (amerikanischen) stylisme als Verrat an der utilité.13 Der verfehlten Ästhetisierung stellt er den esprit gegenüber: die Gabe der künstlerischen Formung. Auch solche Beispiele und Glücksfälle gab es: Er illustriert sie mit dem ­Citroën DS 19 und dem Passagierflugzeug Caravelle. Doch sein Bildzitat eines Zeitungsausschnitts, der die Entwicklung in Gestalt des Telefons dokumentiert, argumentiert im scharfen Gegensatz zur zukunftsfrohen Haltung anderswo, etwa in Deutschland oder der Schweiz – und spricht von Degeneration (Vgl. Abb. 41) .14 Jean Prouvé Ohne eine spirituelle Grundierung und unbelastet von kulturpessimistischen Befürchtungen spiegelt sich in Jean Prouvé die Essenz der französischen culture technique vielleicht am unbefangensten. Als junger Kunstschlosser in der Jugendstilstadt Nancy erhielt er die ersten Aufträge: ein Gartentor hier, ein Treppengeländer dort. Seine formale Begabung war auffallend und äußerte sich direkt im Material. Er wurde schon in jungen Jahren durch die Anschaffung einer Autogen-Schweißanlage und einer Biegepresse vom Kunsthandwerker zum Konstrukteur und gründete die Ateliers Jean Prouvé SA , entwarf bereits mit 25 Jahren Typenmöbel und wurde von fortschrittlichen Architekten für die konstruktive Durcharbeitung von Fassadenelementen, 205

Treppenläufen, Liftkabinen, Dachelementen beigezogen.15 Seine SitzmöbelEntwürfe waren durch sinnreiche Mechanismen verstellbar und denkerisch vollkommen eigenständig. Er verwendete Rasten, Zugfedern, er kombinierte gewalzte U-Profile mit Ledergurten und schuf ein Repertoire an Einrichtungsgegenständen, das eine überraschende Alternative zur Kultur des Stahlrohrmöbels darstellte. War bei diesen das Trägermaterial eindimensional, also isomorphe Meterware, bei der die Form durch Kurven, Abbüge und verschraubte oder verschweißte Knotenpunkte konstituiert wurde, arbeitete Prouvé im Gegenteil als plastischer Konstrukteur, der seinen Entwurf aus durchgeformten Einzelteilen entwickelte. Ihre Durchformung war gelerntes Handwerk und empirisch erfasste Statik, die Verbindung der Teile zum Ganzen war Industrie. Prouvé tat damit in methodischer Hinsicht den Schritt von der Art nouveau ins Industriezeitalter und schuf gleichsam eine „industrielle Organik“. Er benannte seine von der klassischen Moderne abweichende Auffassung von Formgebung mit diesen Worten: „Ein Möbelstück ist einer starken Belastung ausgesetzt und muss daher eine entsprechende Widerstandskraft aufweisen. Dabei gibt es ebenso komplexe Probleme zu lösen wie bei großen Baukonstruktionen. Für mich sind die Möbel vergleichbar mit stark beanspruchten Maschinenrahmen, und das führte mich dazu, sie mit der gleichen Sorgfalt, also nach den gleichen Statikgesetzen, ja sogar aus den gleichen Materialien zu gestalten. Die gebogenen Stahlrohre konnten mich nicht befriedigen. Mich inspirierte das Stahlblech, abgekantet, gestanzt, gerippt, dann geschweißt. Das Ergebnis waren Abschnitte von gleicher Festigkeit und starke Partien, die durch raffinierte Details und gute Fertigung hervorstachen.“16 Von 1957 bis 1970 unterrichtete er am renommierten CNAM (Conservatoire Nationale des Arts et Métiers) in Paris. Seine zahlreichen vorbereitenden Skizzen machen klar, dass ihn stets die Frage interessiert, wie etwas gemacht ist und weshalb so und nicht anders. Als Dozent tat er vieles, um die herausragenden technischen Leistungen des Landes (und auch anderswo) zu analysieren und ein Bewusstsein dafür zu vermitteln. Wenn er die Konstruktion des Rollmaterials der Pariser Métro ergründete – jenes Typs, der auf Gummirädern fuhr und seitlich durch horizontale Gummiräder geführt wurde – trug er solches Denken ins professionelle Bewusstsein seiner Studenten; dasselbe, 206

Abb. 101: Jean Prouvé: ­Esstisch Nr. 502 mit hölzernen Beinen und beidseitig gegabeltem Verbindungsrohr, Bausatz für Selbstmontage, 1951. Der Entwurf geht auf das Jahr 1943 ­zurück.

wenn er das Fahrgestell des 2 CV oder eines anderen Autos analysierte und in seinen Zeichnungen ein detailliertes, nachvollziehendes technisches Verständnis zum Ausdruck brachte. Wie eine Radaufhängung wirkt, wie Karosseriebleche gewalzt und geschweißt oder wie Türscharniere ausgebildet worden waren: Das Wie führte ihn immer zurück zum Wozu. Er fuhr selber neben anderen Autos auch den 2 CV, den er als „von seltener Ehrlichkeit“ bewunderte und notierte: „Nichts ist schöner als eine Reihe von 2 CV bei der Montage!“17 Dieses Auto kam einer technischen Architektur am nächsten – die Türen behandelt wie Fassadenpaneele. Die Fahrzeuge seines Interesses, die architektonischen Konstruktionsmittel und seine Möbelentwürfe waren letztlich Abkömmlinge desselben Zentralfeuers mit demselben Plasma als Grundmaterial; er sah im 2 CV ein fahrendes Haus, im Sessel mit Gleitsitz eine machine à habiter und in seriell produzierten Treppen oder Fassadenteilen eine automobilistische Fertigungsmethode mitsamt der dazugehörenden Montagetechnik. Wie sie als Anwendungssphären miteinander genetisch verwandt waren, so auch die Art und Weise der konstruktiven Idee, der Produktion, der Montage und der Verwendungsmöglichkeiten. Hierher führt die eingangs zitierte Bemerkung über die „brillanten Individuen“ zurück: Jean Prouvé konnte auf einen reichen Bestand an früheren Leistungen zurückgreifen, vielleicht sogar auf eine nationale Tradition. Waren nicht die doppelstöckigen Liftkabinen des Eiffelturms, die 1889 durch Dampfkraft auf ihrer geneigten Bahn hochgezogen wurden, auch schon fahrbare Häuser gewesen? 207

Die meisten von Prouvés Möbelentwürfen kamen allerdings erst nach seinem Tod (1984) in den Handel, Modelle, deren Entwurf teilweise bis in die Zwanzigerjahre zurückreicht. Die wenigsten von ihnen erreichten zu Prouvés Lebzeiten nennenswerte Produktionszahlen. Er war ein créateur, der wiederholt von Architekten zur Möblierung ihrer Schulhäuser oder eines Sanatoriums beigezogen wurde.18 Er war, was man in der Kunstwelt einen ­artists’ artist nennt. Eileen Gray Ähnliches gilt für die fast eine Generation ältere Eileen Gray, gleichsam der weiblichen Entsprechung, vielleicht auch das weibliche Gegenprinzip, zum Analytiker Prouvé

(siehe auch → Kap. 16) .

Auch sie war ein Mitglied der UAM . War

Prouvé ein typologisch denkender Konstrukteur, so Gray eine Gestalterin, die scheinbar die individuelle Lösung suchte und dabei immer wieder das Allgemeine fand.19 Am Ende ihres langen Lebens – sie wurde 98 Jahre alt – wunderte sie sich über das unversehens wiederentfachte Interesse an ihrer Arbeit.20 Nicht nur hinsichtlich ihrer Einzigartigkeit und vielseitigen Begabung waren sich Gray und Prouvé ebenbürtig, sondern auch hinsichtlich des „Schicksals“ ihrer Möbelentwürfe. Wie bei einigen von Prouvés Möbeln existierten sie fast 50 Jahre lang zur Hauptsache nur als Fotografien, bis sie endlich entdeckt und richtig wahrgenommen wurden (→ Abb. 177 und 178, Band 1) . Erst 1973 kamen ­Eileen Grays Modelle nach einer 40-jährigen Pause zu ihrer eigenen Überraschung wieder in den Handel und begannen zu dem zu werden, was sie sind: Trophäen und Ikonen: der Deckstuhl „Transat“, mit Holzgestell in ­Japanlack, der Beistelltisch „E.1027“ mit dem Trageknauf, dem dünneren Stabilisierungsrohr und der höhenverstellbaren Glasplatte im Kreisring, die Chaiselongue mit der asymmetrischen Rückenlehne, der Fauteuil „Bibendum“ – so genannt nach dem Firmensignet von Michelin, dem Pneumännchen –, der Toilettentisch-Hocker. Gray war eine Frau aus irischem Kleinadel und arbeitete nicht zum Lebenserwerb für ihr jeweiliges Thema. So wurde sie bereits vor dem Ersten Weltkrieg eine eminente Gestalterin für Japanlack, bewundert selbst von ihrem japanischen Lehrmeister Sugawara in Paris. In den 1920er-Jahren führte sie in Paris ihre Galerie, nannte sie „Galérie Jean Désert“, und wer 208

eintrat, hielt sie für die Angestellte des Monsieur Désert (den es nicht gab).21 Aber als sie für sich und ihren damaligen Lebenspartner Jean Badovici in ­Roquebrune (Côte d’Azur) ihr erstes Haus entwarf, E.1027, war sie während drei Jahren auf der Baustelle und traf fast alle Entscheidungen. Die meisten ihrer Möbelentwürfe entstanden für dieses Haus, das als Manifest ihres Lebensentwurfs nach ihrem 50. Lebensjahr fertig wurde. Nach der Trennung von Badovici, nicht lange danach, überließ sie es ihm und realisierte 1935 ihr zweites Haus in der Nähe von Menton, in dem sich ihre Begabung vielleicht noch subtiler entfaltete.22 Sie hatte eine Idee für einen höhenverstellbaren Tisch und besprach dies mit ihrem Schlosser, der ihn baute; auch sie war eine Konstrukteurin. Künstlerhäuser gehören immer einer eigenen Kategorie an, und man kann sich fragen, ob die von Eileen Gray überhaupt zum französischen Design gehören. Doch, das tun sie. Gray kam zweifellos aus der Mitte der UAM und somit aus einer Vereinigung, die eine wichtige Facette und die Elite fortschrittlicher Gestaltung in Frankreich repräsentierte. Einzelfiguren wie Gray oder Prouvé sind im vorliegenden Zusammenhang zu Repräsentanten erhoben worden, was man billigen oder auch infrage stellen kann. (Sind Gray und Prouvé öffentliche Figuren? Heute ja, aber damals?) Doch mit Blick auf die Design-Mentalität eines Landes sind seine Fahrzeuge, die während langer Jahre die Straßen und Trassen befahren, auf jeden Fall repräsentativ. Denn sie sind Produkte nicht nur hinsichtlich der technischen Fantasie beim Entwurf und ihrer Herstellung, sondern auch der aneignenden Fantasie aufseiten der Konsumenten, somit werden sie zu Trägern gesellschaftlicher Bedeutung. Der kollektive Stellenwert des Utilitären, bisweilen in Begleitung von Eleganz, bisweilen unter ostentativem Verzicht auf sie, ist wohl in keinem anderen Land so deutlich zum Ausdruck gekommen wie in Frankreich. Utilitaristische Fahrzeuge Das motorisierte Zweirad Vélosolex ist ein Beispiel für den direktesten Zugriff auf die Technik: das schnurrende Motörchen sitzt über dem Vorderrad und treibt mittels einer Rolle das Rad an; die Kolbenbewegung wird auf direktestem Weg in die Rotation der Antriebsrolle umgesetzt. Beim Anhalten und 209

Abb. 102: Flaminio Bertoni: Skizze für Citroën TPV („Toute petite voiture“), den nachmaligen 2 CV (1948), hier der Projektstand 1938. Radikale Leichtbauweise als ­Entwicklungsziel.

Anfahren wird die Fliehkraftkupplung wirksam, ein Getriebe gibt es nicht. Muskelkraft und Tretpedale unterstützen den Motor bei Steigungen. Ein gebirgiges Land konnte nicht die Heimat dieser Erfindung sein. Alles ist mit einfachsten Mitteln auf das Ziel der kraftsparenden Fortbewegung ausgerichtet; mit einem Minimum an Teilen und bei geringer Geräuschentwicklung. Die Erfindung wurde 1941 patentiert und stammt von Marcel Mennesson.23 Die Produktion des Velosolex lief 1946 an und dauerte in Frankreich bis 1988 (danach in Ungarn bis 2002), sechs Millionen wurden davon gefertigt. Beabsichtigt war ein möglichst geringer Kaufpreis. Eine solche Direktheit der Verbindung von Zweck und Mitteln war typisch französisch. Deutschland machte es fast immer perfekter und komplizierter (und kam deshalb nicht auf eine solche Lösung), England wollte es ehrgeiziger, raffinierter und kostspieliger. Das sind Verallgemeinerungen und als solche Vereinfachungen – sind sie deswegen falsch? Das Vélosolex ist ein Kind Frankreichs. Kein Wunder, hat Jacques Tatis Titelfigur im Film Mon oncle ihr Vélosolex auf dem Direktions-Autoparkplatz des Schwagers abgestellt, zu dessen Ärger, wenn er mit dem Amerikanerwagen herangleitet. Nadelstiche gegen die Repräsentationskultur: Die feine Subversion von „unten“ nach „oben“ ist französisch; die Originalität erscheint dabei meist – anders als im italienischen Design – als nicht um ihrer selbst erwählt, vielmehr beiläufig und aus Notwendigkeit. 210

Abb. 103: Citroën DS 19, Profilzeichnung, 1955. Infragestellung sämtlicher ­technischer und formaler Konventionen und Verwirklichung einer neuen Idee von automobiler Architektur durch André Lefèbvre und Flaminio Bertoni: Sitze zwischen den Achsen, hydropneumatische Federung, große Fensterflächen, Kunststoffdach.

Vom Kleinwagen 2 CV war schon die Rede. André Citroën übernahm als erster europäischer Automobilhersteller zu Beginn seiner Automobilproduktion 1919 das Fließbandprinzip aus den USA . Nur 15 Jahre nach der Gründung seines Automobilwerks André Citroën SA stellte er die ersten preiswerten Limousinen mit Frontantrieb und Ganzstahlkarosserie vor, die Modelle „7“ und „11“ („Traction Avant“), die 1934 mit ihrer niedrigen, modernen Karosserie und dem langen Radstand eine Sensation waren und in über 20 Produktionsjahren legendär wurden. Am Ende ihrer Zeit, erst 1957, waren sie jedoch veraltet und wurden vom DS 19 abgelöst, der viel besungenen „Göttin“ (Déesse), die 1955 ein noch größerer Paukenschlag für die nächsten 20 Jahre sein sollte.24 Ein Auto zu haben, war in Frankreich weniger als anderswo ein gesellschaftlicher Geltungsbeweis. Die Weitläufigkeit des Landes trug das ihre dazu bei, dass der Automobilisierungsgrad bereits vor dem Zweiten Weltkrieg deutlich höher war als in anderen europäischen Ländern.25 Doch für die meisten war das Auto ein Fortbewegungsmittel, kein Statussymbol. Die „genialen Individualisten“, von denen eingangs die Rede war, entwickelten im Haus Citroën einen einzigartigen Punch: André Citroën selbst als unermüdlich einfallsreicher Unternehmer, sein Nachfolger Pierre-Jules Boulanger, der Chefkonstrukteur André Lefèbvre, die beiden aus Italien stammenden Walter Becchia als Motorenkonstrukteur und der Plastiker Flaminio Bertoni als Formgestalter, beim DS 19 zudem 211

der geniale Autodidakt Paul Magès für die hydropneumatische Federung.26 Sie arbeiteten unter dem Visionär Lefèbvre eng und produktiv zusammen; das Entwicklungsteam war klein, ein Marketing nach heutiger Auffassung nicht existent, doch die Zielgruppe war bekannt: die Bauernfamilie oder die Studentin für den „2 CV “, der kleine Handwerker beim „Ami 6“, der Mittelstand beim „Traction“ und beim „ DS 19“. Diese vier Modelle waren im Zeitraum von 30 Jahren von Bertoni entworfen. Die „Traction“ wies für die damalige Zeit ungewöhnlich niedrige und fließende Linien auf. Die hinteren Passagiere fanden großzügigen Beinraum vor. Der 2 CV – konzipiert um 1937, produziert von 1948 bis 1990 – war hingegen ein auf extreme Leichtbauweise hin konzipierter Vierplätzer mit vier Türen. Sein Plattformrahmen umfasste den luftgekühlten kleinen Zweizylinder-Boxermotor mit Frontantrieb und eine horizontale Verbundfederung mit langen Federwegen, der Aufbau bestand aus gebogenen Stahlrohren und Vierkantprofilen, das Rolldach bis zur hinteren Stoßstange war aus imprägniertem Stoff, die Vorder- und Hintertüren waren nicht an Scharnieren befestigt, sondern waren ganz als Scharniere ausgebildet und mit dem Mittelpfosten verschränkt. Die komfortablen Sitze waren mit Gummizügen und Ösen in einen Stahlrohrrahmen gespannte Stoff-Flächen. Mit dem Leergewicht von 490 Kilogramm war der 2 CV um 250 Kilogramm leichter als der Volkswagen. Er war vom Firmenchef Pierre Boulanger als „Regenschirm auf Rädern“ gedacht, mit dem etwa ein Bauer einen Korb Eier auf ruppigen Feldwegen heil zum Wochenmarkt transportieren konnte, zu einer Zeit, als es in Frankreich erst eine Viertelmillion Autos gab. Das Pflichtenheft schloss mit der Bemerkung: „Et enfin, je vous précise que son esthétique m’importe peu“ („ferner halte ich fest, dass mir sein Aussehen unwichtig ist“).27 In keinem anderen Land konnten solch radikale Konzeptentscheidungen industriell umgesetzt und zum Erfolg werden, auch wenn anderswo solche Autos populär wurden. Doch wer von „Antidesign“ spricht, irrt. Es handelt sich um eine Auffassung von Gestaltung für eine Bevölkerung, die noch nicht eine Konsum-, vielmehr eine Bedarfsgesellschaft war. Renaults Antwort auf den 2 CV, der kräftigere und noch vielseitigere Renault 4 (1961), wurde ein noch größerer Verkaufserfolg während der langen Wachstumsjahre der Automobilisierung. Und auch das überaus komfortable fünftürige Mittelklasse-Modell 212

Abb. 104: Die elegante „Caravelle“, das erste zweistrahlige Passagierflugzeug mit Hecktriebwerken, Hersteller Sud-Aviation Toulouse, Erstflug 1955, erstmals eingesetzt 1957.

­Renault 16 (1965) mit seinem modularen, verwandelbaren Innenraum war ein Ingenieurs-Auto, dessen eigenständige Ästhetik genuin auf das Konzept der gesteigerten Nützlichkeit und Dienlichkeit abgestützt war, eine Priorität, wie sie sich in keinem anderen Land als Frankreich fand.28 Die Unterschiede zwischen diesen Beispielen und dem wimmelnden Leben im italienischen Designbiotop sind augenfällig. Ein solches Treibhaus war Frankreich nie. Es gab zwar seit 1951 das von Jacques Viénot gegründete In­ stitut d’Esthétique Industrielle (IEI ) mit seiner Zeitschrift L’Esthétique industrielle.29 Eine von Viénot geleitete Kommission aus Architekten, Industriellen, „stylistes“ und Philosophen verfasste 1954 die „Doctrine de l’esthétique industrielle“, als Versuch, in 13 „Gesetzen“ die Magna Charta der industriellen Gestaltung zu definieren. Das Dokument, der Versuch einer Grundlegung, erwähnt und begründet knapp (in dieser Reihenfolge) die Gesetze der Wirtschaftlichkeit, der Gebrauchstüchtigkeit, der Einheitlichkeit, von Harmonie, von Stil (im Gegensatz zur Mode), die Vorläufigkeit (im Unterschied zur Endgültigkeit), den Geschmack, das Ansprechen aller fünf Sinne, das Verhalten eines Fortbewegungsmittels bei Bewegung, die Hierarchie von Produkten 213

Abb. 105: Renault R 4: ­vielseitig, praktisch und ­uneitel, ein Bekenntnis zum Utilitarismus (vier Türen, Heckklappe) und ein erfolgreicher Entwurf für Jahrzehnte und Millionen gefertigter Einheiten, 1961.

unterschiedlicher Qualität, die Relativität des kommerziellen Erfolgs (der einem nicht a priori recht gibt), die Ehrlichkeit, die allgemeine Schlüssigkeit des Produkts.30 Die etwas wackelige Systematik, die eher unglückliche Anzahl der Gesetze und die Ambitioniertheit des Titels machen die Schwierigkeiten beim Verfassen spürbar. Das ist Teil der französischen Designkultur, die nie so etwas wie breite Evidenz erlangte und wo zwischen ideellem Anspruch und praktischer Realität stets eine Lücke blieb. In den Sechzigerjahren verschwand die Bezeichnung esthétique industrielle und wurde durch le design ersetzt, ein Wort, das im Französischen fremder war als disegno im Italienischen, das immer stark an progetto gebunden blieb. „Moulinex libère la femme“ Von der Firma Moulinex war bereits kurz die Rede. Ihre Entwicklung kann wohl als beispielhaft für viele französische Firmen gelten. Ihr Gründer Jean Mantelet war ein Spengler in der Normandie, der 1931 ein handbetriebenes Passiergerät für gekochtes Gemüse erfand und damit seine Firma „Moulinex“ aufbaute. Diese moulin-légume (Passiermühle) bestand aus einer gewendelten Aluminiumfläche in einem konischen Ringbehälter, die, durch eine Handkurbel betätigt, gekochtes Gemüse durch ein Sieb drückte und pürierte (→ Abb. 95) .31 Lange nach dem Krieg erst machte Mantelet den Schritt zu 214

Elektroapparaten, zuerst 1957 mit einer Kaffeemühle, deren Motor und Mahlwerk ein befreundeter Ingenieur entwickelt hatte. Mantelets Maxime war ein günstiger Ladenpreis, woraus sich die Forderung nach geringen Gestehungskosten ergab. Die elektrische Kaffeemühle erforderte ein Gehäuse aus Kunststoff, womit die Firma einen Schritt weg von ihrem Ursprung, dem Metall, tat, der den Konstrukteuren nicht leichtfiel. Die Folge war eine facettierte Gehäuseform. Moulinex exportierte seine Produkte – darunter auch einen Stabmixer – damals schon in die USA , wo die Kundschaft jedoch den etwas unbeholfenen Formen aus Kunststoff kritisch begegnete. Es war der US -Importeur, der zum Beizug eines Industrial Designers riet. Mantelet heuerte 1961 den jungen Gestalter Jean-Louis Barrault an, der einige Jahre zuvor zuerst in Raymond Loewys bereits erwähnter CEI („Compagnie d’esthétique industrielle“) gearbeitet hatte, danach bei deren früherem Chef Harold Barnett. Barrault wurde zum Hausdesigner bei Moulinex, ohne fest angestellt zu sein. Sein Material wurden nun Kunststoffe entsprechend den spezifischen Anforderungen, mit denen er für verschiedene Kunden arbeitete.32 Sein Status als externer Spezialist und Berater bildet auch Mantelets ideelle Verortung von Design bei der Produktentwicklung ab: auf einer nachgeordneten Entwicklungsstufe, nicht als zentrales Kriterium. An erster Stelle stand für Mantelet die Gebrauchsidee, danach folgte das Wie der Konstruktion und erst dann das Aussehen. Mantelet war ein typischer patron, ein Unternehmer alter Schule. Er besuchte oft Messen, beobachtete das Publikum und entwickelte einen guten Sinn für dessen Bedürfnisse, die für ihn stets objektiv gegeben und nie Surrogate waren. Ein Produkt musste für ihn „notwendig“ sein.33 Diese Haltung kam aus einer nationalen Sichtweise; französische Kochgewohnheiten waren die Referenz. Eine Marketingabteilung wurde bei Moulinex erst 1977 eingeführt, als der internationale Konkurrenzkampf und der Preisdruck immer stärker geworden waren. Der Gestalter Barrault sah sich als Dienstleister und bemaß den Erfolg seiner Arbeit am Zuspruch des Publikums. Prisunic: der zweite Jugendstil Im Bereich des Wohnens verdient Prisunic eine Erwähnung, ein Unternehmen, das sich 1953 erneuerte und um 1968 als eine Tochter des Warenhauses 215

Abb. 106: Marc Held für Prisunic: Bett aus glasfaserverstärktem Polyester, 1969. „Yé-yé“ – Frankreich sucht den Anschluss an die Pop-Kultur.

Printemps einen Anlauf nahm, um dem jugendlichen Publikum moderne Möbel anbieten zu können. Im „bureau d’études Prisunic“ entstanden unter der Leitung von Denise Fayolle Aufbewahrungsmöbel, Tische, Betten und Sitzmöbel, entworfen etwa von Marc Held, Marc Berthier, wenig später auch von internationalen Namen wie Gae Aulenti oder Terence Conran.34 Sie bestanden zu einem guten Teil aus farbigem Kunststoff und dokumentierten unter Fa­ yolles Slogan „le beau au prix du laid“ („Das Schöne zum Preis des Hässlichen“) einen starken Einfluss der Pop- und Op-Art. Was als authentisch französisch galt, hatte begonnen, sich aufzulösen. Britische und vor allem italienische Einflüsse waren deutlich, wobei jedoch die Produkte hinsichtlich Raffinesse und Stilsicherheit ihren Vorbildern nicht ganz ebenbürtig ­waren. Elan bei großen Projekten: TGV Zum Ende verdient die Planung und Durchführung des Projekts Train à grande vitesse, abgekürzt TGV, eine geraffte Darstellung, diesmal als Beispiel einer staatlichen Initiative. Die französischen Staatsbahnen (SNCF ), wie auch die Bahn in den meisten anderen europäischen Ländern, verharrte noch in den 1970er-Jahren vor dem Hintergrund des Automobil-Booms und des Aufschwungs der Zivilluftfahrt in einer Stagnation und drohte, zum ArmeLeute-Verkehrsmittel zu werden. Die Verantwortlichen der SNCF vermochten, 216

sich aber aus ihrer selbstgenügsam gewordenen Mentalität zu befreien und entwickelten das Projekt einer schnellen Bahnverbindung zwischen Paris und Lyon – der zweitgrößten Stadt Frankreichs –, mit der die Reisezeit von vier auf zwei Stunden verkürzt werden sollte. Wie rückständig, ja naiv die SNCF-Führung noch 1970 über ihre Modernisierung gedacht hatte („niemand

[hatte] auch nur die leiseste Vorstellung von dieser Aufgabe“), lässt sich im Bericht einer jungen Mitarbeiterin nachlesen, die an einen internationalen Eisenbahnerkongress nach Deutschland entsandt worden war.35 Bereits sieben Jahre nach Präsident Pompidous Startschuss (1974) wurde die Strecke TGV Sud-Est eröffnet. Seit 1971 war von Alstom an neuem Rollmaterial gearbeitet worden, zuerst mit geplantem Gasturbinenantrieb, nach der Ölkrise 1973 auf Basis von elektrischem Antrieb. Ein früherer Mitarbeiter von Raymond Loewys CEI , Jacques Cooper, erhielt von seinem Arbeitgeber Alstom den Auftrag: „Entwerfen Sie uns einen Zug, der nicht wie ein Zug aussieht!“, was bedeutete: nicht mit den schmutzig-oliv lackierten Lokomotiven und den in beliebiger Zahl aneinandergehängten Waggons.36 Cooper orientierte sich beim Triebkopf an der Form einer Flugzeugnase und führte deren Profil in jene der Waggons weiter. Die traditionelle Dichotomie von Lokomotive und Waggons war aufgelöst. Die Ingenieure entschieden sich früh für die sogenannte Jacobs-Bauart, bei der zwei Waggon-Enden auf einem gemeinsamen Drehgestell aufruhen. Die Anzahl der Drehgestelle wird dabei halbiert, die Laufruhe spürbar gesteigert – akzentuiert noch durch die Luftfederung – und die Unfallsicherheit erhöht. Das Äußere des orangerot lackierten Zuges war kraftvoll und einheitlich und erfüllte die Erwartungen an ein modernes Transportmittel als Verbindung zwischen Stadtzentren. Das Interieur wurde sachlich, aber gepflegt ausgebildet und brachte zum Ausdruck, dass der TGV für die ganze Bevölkerung erschwinglich sein sollte. Vor dem Beginn der Bauarbeiten an der 430 Kilometer langen Strecke des TGV ­Sud-Est mussten die SNCF sich mit über tausend Landeigentümern ei-

nigen, wozu eine attraktive Entschädigung und das Angebot einer Unterführung gehörten, wenn landwirtschaftlicher Grundbesitz durch die Trasse entzweigeschnitten wurde. Auch dies gehört zum Design dieser Eisenbahn: Sie ist Ausdruck des politischen Willens, ein umfangreiches Vorhaben fokussiert 217

zu verwirklichen, wozu Frankreich immer wieder auf seine bonapartistische Tradition zurückgreifen kann, deren Triebkraft nicht zuletzt das nationale Prestige ist. Auch die wiederholt aufgestellten Geschwindigkeits-Weltrekorde sind ein Ausdruck davon. Die Idee eines solchen Zuges war jedoch kein französisches Eigengewächs; Japan war mit dem „Shinkansen“ (Inbetriebnahme 1964) vorausgegangen.37 Frankreich übernahm von Japan die strikte Trennung von Personen-Schnellverkehr und Gütertransport, der auf den alten Strecken verblieb, während die Deutsche Bahn sich nicht zu diesem Grundsatz durchringen konnte. Und zum TGV-Design gehörte die vom ersten Tag an ehrgeizige Durchsetzung des Fahrplans mit minutengenauer Abfahrts- und Ankunftszeit und nicht zuletzt die auf der Perronkante aufgemalten Nummern der Waggons, um möglichst kurze Zwischenhalte durch effizientes Einsteigen zu erreichen: französische top-down-Systematik. Aus diesem ersten Ast des TGV Sud-Est, der im Herbst 1981 eröffnet wurde, entwickelte sich nach und nach ein Geflecht von TGV-Linien mit immer mehr Hochgeschwindigkeitsstrecken. Die Fahrzeit für die 540 Kilometer zwischen Paris und Bordeaux beträgt aktuell zwei Stunden, die für die 410 Kilometer zwischen Paris und Straßburg eindreiviertel Stunden. Und TGV-Züge fahren immer mehr Destinationen außerhalb Frankreichs an. Bei groß orchestrierten Unternehmungen ist das zentralistische Frankreich ganz in seinem Element.

218

Anmerkungen

15 Zum Beispiel bei der „Maison du Peuple de Clichy“ (Architekten Beaudouin & Lodz), 1935–1939. 16 Jean Prouvé, zit. nach Benedikt Huber/Jean-Claude Steinegger (Hrsg.): Jean Prouvé. Architektur aus

1

Jocelyn de Noblet, Gründer des Centre de Re­ cherche de la Culture Technique (CRCT), sagte dies 1973 auf eine entsprechende Frage. Vgl. Claire Leymonerie: Le temps des objets. Une histoire du design industriel en France (1945–1980). Saint-Étienne 2016, S. 9

2

S. Giedion: Die Herrschaft der Mechanisierung (amerikanische Originalausgabe: Mechanization

3

SEB: Société d’emboutissage de Bourgogne. Vgl.

Die aktuellen, millionenfach produzierten Monobloc-Plastikstühle entsprechen in ihrer Form und im Gebrauchsnutzen sehr weitgehend den Multip’lModellen, was widerstrebend anzuerkennen ist. Le Corbusiers Prädikate als besoins-types (Notwendigkeits-Typen) und als objet-outil (Gegenstand als Werkzeug) begründeten ihren Transfer vom ­Atelier in den Wohnraum. Vgl. Ders: L’Art décoratif

Eileen Gray die Rechte zur Produktion ihrer Möbel. 21 Peter Adam: Eileen Gray – Architektin/Designerin. Kilchberg/Zürich 1989, S. 119–131, hier bes. S. 119 22 Ausführliche Würdigung und Dokumentation von „Tempe à Pailla“ in: wie Anm. 21, S. 258–289 23 Von Mennesson stammt auch der europaweit verbreitete Solex-Autovergaser. 24 Vgl. Roland Barthes: „Der neue Citroën“ (geschrieben 1956). In: Ders.: Mythen des Alltags. Frankfurt a. M. 1974, S. 76–78 25 Gesamtbestand an Personenwagen in Frankreich (jeweils 1. Januar, in Millionen): 1950: 2,3; 1960:

Vgl. Brigitte Durieux/Laziz Hamani (Hrsg.): Objets

6,25; 1970: 13,7; 1980: 21,0; 1990: 27,7; 2000:

cultes du mobilier industriel. Paris 2012, S. 94–97

33,0; 2010: 37,0. Also 1950 auf 18 Einwohner ein

Bereits 1936 entriss ihr die britische Konkurrentin Die Normandie wurde 1942 durch Brand in New

Auto, 2010 auf 1,8 Einwohner. 26 Zur DS 19 gibt es eine umfangreiche Literatur. Siehe dazu neuerdings: Christian Sumi: The Goddess – la

York zerstört.

Déesse. Investigations on the Legendary Citroën DS.

Robert Mallet-Stevens: „Normandie 1935“. In:

Zürich 2020, eine erhellende Studie zum Komposi-

­L’Architecture d’aujourd’hui Nr. 8/1935, S. 27 9

20 Der Londoner Galerist Zeev Aram erwarb 1973 von

d’aujourd’hui. Paris 1925, S. 69–79

der Cunard Lines, Queen Mary, die Krone wieder.

8

torium Martel-de-Janville, 1935 19 Doch soll nicht vergessen werden, dass Eileen Gray in den 1940er-Jahren auch Typenhaus-Entwürfe

S. 74–85

7

schule in Suresnes, 1935; Jules-Emile Leleu: Sana-

­erarbeitete.

Schweizer Gebrauchsgerät seit 1920. Zürich 1987,

6

technischen Objekts. Weil am Rhein 2005, S. 277 18 Beispiele: Architekten Beaudouin & Lodz: Freiluft-

S. 659

In: Unbekannt – Vertraut. „Anonymes“ Design im

5

von Vegesack (Hrsg.): Jean Prouvé – Die Poetik des

Takes Command, 1948). Frankfurt a. M. 1982,

auch Claudia Cattaneo: „Dampfkochtopf Flex-Sil“.

4

der Fabrik. Zürich 1971, S. 142 17 François Chéry: „Häuser wie Autos?“, in Alexander

Siehe C. Leymonerie (vgl. Anm. 1), S. 24

10 Der jesuitische Philosoph und Naturwissenschaftler Teilhard de Chardin (1881–1955) war im Nachkriegs-Frankreich eine bedeutende Figur, deren Ziel die Verbindung von Wissenschaft und Spiritualität war. 11 Loewys amerikanischer Originaltitel war Never

tionsprinzip der Fahrzeugform 27 Pierre-Jules Boulanger war nach André Citroëns Tod von 1937 bis 1950 Vorstandsvorsitzender der Citroën SA. 28 Der R 16 wurde vom Aviatik-Ingenieur Gaston ­Juchet konzipiert, damals Design-Chef von Renault. 29 Das IEI wurde 1984 umbenannt in Institut Français du Design, IFD.

Leave Well Enough Alone (Lass es nicht mit „gut

30 Siehe C. Leymonerie (vgl. Anm. 1), S. 73–74

­genug“ getan sein). (→ Kap. 17, → Kap. 20)

31 Jean-Claude Kaufmann: „Moulinex libère la

12 Vgl. André Hermant: Formes Utiles. Paris 1959, S. 115 13 Ebd., S. 121 14 Ebd, S. 130 (Vorlage aus Arts, Mai 1958)

femme?“. In: Les bons génies de la vie domestique. Paris 2000, S. 22 32 Auch das Strandfahrzeug Citroën Méhari mit Kunststoff-Karosserie war ein Entwurf von Barrault.

219

33 C. Leymonerie (vgl. Anm. 1), Zit. 431. 34 Vgl. Jocelyn de Noblet/Catherine Bressy: Design. Introduction à l’histoire de l’évolution des formes industrielles de 1820 à aujourd’hui. Paris 1974, S. 319 35 „Ich war kurz zuvor in die kommerzielle Direktion der SNCF eingetreten mit der Aufgabe, ‚Umfragen durchzuführen‘ – in einem winzigen Dienstzweig, der noch längst nicht das Marketing von heute war. Und ich hatte gewünscht, dass ich nach Nürnberg an den Kongress zum Thema Design von Eisenbahnen reisen dürfe. Am Abend vor meinem Referat – ich war die einzige Abgeordnete der SNCF! – hatte ich beim Abendessen von Roger Tallon zum ersten Mal etwas über Design gehört: Eingehen auf Kundenbedürfnisse, Zweckmäßigkeit, Berücksichtigung von Sachzwängen, Randbedingungen und Auflagen, die Ziele des Unternehmens, Übereinstimmung von Formen und Wirtschaftlichkeit, deren ästhetischer Wert usw. Heute noch bin ich verwundert darüber, dass dies alles wie eine Offenbarung für mich war. […] Spätabends, im Hotelzimmer, schrieb ich mein Referat grundlegend um. Ich sprach dann voller Über­ zeugung und im Namen der SNCF davon, dass das Unternehmen fest entschlossen sei, die Bedeutung des Designs bei der dringend notwendigen Modernisierung ihres Rollmaterials und, noch allgemeiner, ihres Images einzusetzen. In Wirklichkeit hatte damals bei den SNCF noch niemand auch nur die leiseste Vorstellung von dieser Aufgabe. Hätte mich ein Kadermitglied der SNCF-Direktion gehört, ich bin überzeugt, es wäre vom Stuhl gefallen.“ – Marianne Persine Heissler: „Penser le train autrement, du Corail au TGV“, in: Roger Tallon, Katalog Centre Georges Pompidou, Paris 1993, S. 125. Übers. C. L. 36 Jacques Cooper, in der Fachzeitschrift La vie du rail, 1991. Zum TGV siehe auch: Mario-Rémy Gonnard: Le prodigieux TGV. Grenoble 1981, und Hughes Murray: Die Hochgeschwindigkeits-Story. Düsseldorf 1994. 37 Der Name „Shinkansen“ bedeutet auf Japanisch „sehr schneller Zug“.

220

X-24  Zwei Arten von Nonchalance

Auffallend am französischen Design ist die Popularität, zu der es nonkonformistische Lösungen gebracht haben. Mehr als anderes waren es Autos, für die Frankreich berühmt wurde: in den Zwanzigerjahren die Bugattis und V ­ oisins, in den Dreißigern der Citroën „Traction avant“, in den Fünfzigern der 2  CV und die „Déesse“, in den Sechzigern die Renault 4 und Renault 16. Danach wird es schwieriger, signifikante Beispiele zu nennen: Andere Länder übernahmen Elemente des französischen esprits, Frankreich verlor langsam den Ruf seiner genuinen Originalität, die immer mit einem Fuß in der Nonchalance gestanden hatte. Aber in den heute (wieder) beliebten „Tolix“-Stühlen und -Barhockern ist diese Nonchalance noch immer wirksam, die in einer Epoche der sonst alles durchdringenden Ästhetisierung der Lebensumwelt etwas Befreiendes hat. Auch die zusammenklappbaren Blech-Bistrotische des Produzenten „Fermob“, die auf mehreren Kontinenten anzutreffen sind, gehören in diese Linie von ganz und gar praktischen, durchdachten, formal unauffälligen, aber tipptoppen Dingen. Merkwürdigerweise lässt sich an Frankreich beobachten, dass diese Nonchalance auch in der entgegengesetzten Linie wirksam ist, wo sie sich unversehens als Entscheidung für gänzlich unmotivierte Dekoration äußert. In der Architektur ist das mit Händen zu greifen, etwa wenn an einem öffentlichen Gebäude die Dachträger über ihre Funktion hinaus als ein theatralisch supponiertes Strebenwerk ohne statische Begründung inszeniert werden: mit großer Gebärde, ohne Inhalt. Diese in zwei entgegengesetzte Richtungen wirkende Nonchalance ist ein eigenartiges Spezifikum Frankreichs. In Frankreich lag die Nonchalance während langer Zeit nicht in der technischen Ausstattung, sondern im Gebrauch. Beulen im Blech beließ man meist, wo sie waren, man kultivierte nicht den Ärger. Weit über das französische Publikum hinaus wurden lange französische Produkte – besonders die erwähnten Kleinwagen – für die Souveränität bewundert, mit der sie das Schönheitsgebot zugunsten der Brauchbarkeit 221

ignorierten: Gegenstände, die nicht schön zu sein brauchten, um wertgeschätzt zu werden. Muss hier die Vergangenheitsform gewählt werden? Tendenziell wohl schon, was vermutlich mit der Öffnung der Märkte zu tun hat. Denn die starken Charaktere von Dingen, deren raison d’être die Bedarfsdeckung ist, sind im internationalen Konkurrenzkampf gegenüber der suggestiven Kunst der Bedürfniserzeugung schon längst auf dem Rückzug. Frankreich war lange eine Bedarfsgesellschaft – und ist es bis zu einem gewissen Grad noch immer –, was sich auch in der Popularität des Do-it-Yourself und der bricolage äußert, die durch die finanziellen Verhältnisse eines großen Teils der Bevölkerung bedingt waren und sind. Seit einiger Zeit aber kommt in Frankreich zunehmend die andere Seite der Nonchalance zum Ausdruck, die einer risikofreudigen und nicht eben selbstkritischen Dekorationslust. Dinge wollen mit Zusätzlichem verschönert sein, ohne dass sie dabei schöner werden – das Gegenteil der souveränen Attitüde von Gleichgültigkeit gegenüber den ästhetischen Konventionen von ehedem. Der stapelbare „Monobloc“-Stuhl aus Polypropylen, der die alten Klappstühle weitgehend verdrängt hat, ist seit 1973 ein unglaublicher Verkaufserfolg. Sein Erfinder Henri Massonnet wurde bei der Entwicklung vom Designer Pierre Paulin unterstützt. Der Stuhl ist logisch konzipiert. Und dennoch schwächt das dekorative Surplus der Rückenlehne die Qualität des Entwurfs. Zwei Abbildungen in Diderots und D’Alemberts Encyclopédie können einen Hinweis auf den „Stoffwechsel“ geben, der den französischen Umgang mit einem Konzept und dessen Verfeinerung bestimmt. Die eine zeigt ein Haus aus Stampflehm, bei dem die Hausecken und Fensterleibungen rustiziert, also mit Steinvorlagen veredelt sind: ein „geschmücktes Haus“ („Maison décorée“). Die zweite Abbildung ist bezeichnet mit „Même maison sortant de la main de l’ouvrier“ („Dasselbe Haus, wie es aus der Hand des Arbeiters hervorgeht“) und zeigt den Rohbau, die wesentliche Grundlage, doch eben auch das noch Unfertige. Erst das Geschmückte ist im 18. Jahrhundert das Fertige. Und im 21. Jahrhundert wieder. Spezifisch für das französische Design war aber, dass es auch in der umgekehrten Richtung gehen konnte und gesellschaftlich anerkannt war. (Die Vergangenheitsform ist bewusst gewählt.) Es fiel den Franzosen nicht schwer, von 222

den Dingen das, was sie schmuck macht, abzuziehen – lateinisch: abstrahieren. Kleinwagen, deren bequeme Sitze man zum Picknick leicht herausnehmen kann, Steilheck mit Klappe, flacher Boden: ein hoher Gebrauchswert. Das ist die nonkonformistische Einstellung, die in Frankreich eine lange Tradition hat. Sie erklärt, warum Autos wie der R 4 oder der 2 CV sich während Jahrzehnten millionenfach verkaufen konnten und in der europäischen Jugend äußerst beliebt waren. Die erwähnte Nonchalance liegt nicht in der technischen Konfiguration, sondern in den vielfältigen Möglichkeiten des Gebrauchs, die dem gesellschaftlichen Prestige klar übergeordnet waren. Der Zusammenhang mit der weitverbreiteten Praxis in Frankreich, das eigene Haus selbst umzubauen oder zu modifizieren, auch aus Kostengründen vieles selbst zu machen, und diesen praktischen Autos, liegt auf der Hand. Bricolage ist die Kunst des Möglichen: Lieber das Erreichbare realisieren und es bisweilen mit der Genauigkeit nicht allzu streng nehmen, als dem Unerreichbaren nachzutrauern. Dass die individuelle Lösung wichtiger ist als der Aha-Effekt beim Anblick eines Gegenstandes, ist wohl der Grund dafür, dass französische Haushaltgeräte oder Möbel – im Unterschied zu italienischen, skandinavischen oder deutschen – eine geringe spezifische Identität haben und eher im Gebrauch aufgehen, als dass sie sich in den Blick drängen. Und dennoch irritiert die Leichtigkeit, mit der in der französischen Gestaltung das Vernünftige ins Verspielte kippen kann. Die Nonchalance tritt dann in der fragwürdigen Willkür auf, mit der das Dekor eingesetzt ist. In der umgekehrten Richtung geht die Entwicklung kaum noch. Man erträumt nicht mehr das Vernünftige, vielmehr das Verspielte. C’est quand-même dommage.

223

25 „Britain Can Make it“ Design in Großbritannien 1930–1975

Sind die Londoner Taxis eher ein Dokument liebenswürdigen altmodischen Eigensinns oder doch von einer gewissen Überheblichkeit in ihrem Beharren auf britishness? Grossbritannien hielt während des ganzen 20. Jahrhunderts auch in der Produktkultur an seiner Eigenart fest, die durch die ­i nsulare Geografie befördert wird. Worin besteht diese Eigenart? Das Land bewältigte den Übergang vom weltumspannenden Empire zu einer europäischen Mittelmacht, wenn auch der Austritt aus der EU auf eine Narbe in diesem Prozess hinweist. Die britische Produktkultur versteht bis heute, etwas Eigenes zu bewahren, ihren Gegenständen ein einnehmendes Gesicht zu verleihen. Selbst nach der unerbittlich wirtschaftsliberalen Abbruchpolitik Margaret Thatchers (1979–1990) sind davon Restspuren geblieben.1 Die Frage, ob der Austritt des Vereinigten Königreiches aus der EU aus diesen Resten eine revitalisierte britische Lebensumwelt schaffen oder sie weiter global nivellieren wird, wird die Zukunft beantworten. Das 19. Jahrhundert in Großbritannien war vom mentalen Gegensatz von ­I ndustrie und Handwerk (Arts and Crafts) geprägt gewesen (→ Kap. 3 und 4) . Letzterem wurde eine „heilende“ Kraft zugeschrieben; doch auch Industriellen­ familien wohnten oft in Landhäusern oder Stadtvillen, deren Einrichtung stilistisch und im Materialausdruck dem Landleben huldigte. Zugleich erkannten aufmerksame britische Besucher der Kölner Werkbund-Ausstellung 1914 den Aufbruch, in dem sich das Deutsche Reich befand. Sie gründeten unter diesem Eindruck 1915 die Design and Industries Association (DIA). Die Bezeichnung klingt moderner als von den Gründern gemeint. Einer von ihnen war Harry Peach, dessen Firma Dryad Korbsessel produzierte, mit denen auch einige der gloriosen Passagierdampfer (und zudem frühe Passagierflugzeuge) ausgestattet wurden. Die DIA beabsichtigte, in der Nachfolge von ­Ruskin und Morris Produkte zu fördern, die seriell hergestellt waren, ohne dabei die Würde handwerklicher Sorgfalt preiszugeben.2 Eine Industrieästhetik 224

Abb. 107: Harry Peach/ Dryad Ltd. Strandsessel aus Korbgeflecht, um 1950. Ungekünsteltes Handwerk ohne Berührungsängste gegenüber der Welt der ­Industrie.

wie in den 1920er-Jahren auf dem Kontinent war nicht das Ziel der DIA . Zwar stellte Dryad nach 1930 auch mit Rohrgeflecht bespannte Stahlrohrgestelle her, aber Stahlrohrmöbel sind nie bestimmend geworden für das britische Design. Das Neue Wohnen blieb in England das Randphänomen einer kulturellen Elite. Britannien, das im 19. Jahrhundert so stark auf den Kontinent eingewirkt hatte, reagierte in der Zwischenkriegszeit zurückhaltend auf die Impulse aus Kontinentaleuropa. Modernität bedeutete in Britannien etwas anderes als „fließender Raum“, „weiße Wände“ und „Stahlrohr“. Der Neuen Sachlichkeit setzte das Land seine eigenen Vorlieben entgegen; man hatte seine bay-windows mit ihrer charakteristischen Beziehung zwischen Innen und Außen und man pflegte seine eigenen Vorstellungen von Wohnlichkeit. Nach 1945 wurden diese Auffassungen entschieden bekräftigt. Die kontinentale Moderne wurde als kühl und radikal, ja sogar als ein Ausdruck von letztlich „deutschem Wesen“ empfunden, mochten auch ihre Gefolgsleute von den Nazis verfolgt, ins Exil getrieben oder umgebracht worden sein.3 225

Abb. 108: Messrs. Joseph: Tisch für die Prudential ­Assurance Co., um 1933, Hersteller PEL. Britischer Zugang zur Repräsentativität im modernen Büromöbel. Ein repräsentativer Ausdruck ist hier wichtiger als die rigorose konstruktive Logik.

Eine Ausnahme davon waren die Möbel der Firma PEL (Akronym für ­P ractical Equipment Ltd.), aber auch sie bestätigen im Grunde die obige Aussage. PEL wurde 1931 unter dem Eindruck der Stahlrohrmöbel auf dem Kontinent von der Tube Investments Ltd. – einer Produzentin von Stahlrohren – gegründet und beschäftigte Entwerfer wie Serge Chermayeff, Oliver Bernard und Bruno Pollak. PEL wurde die bekannteste Marke für britische Stahlrohrmöbel. Ihre Modelle unterscheiden sich jedoch in einem wichtigen Punkt von den deutschen, holländischen oder schweizerischen Vorbildern: Sie sind im Vergleich etwa mit Thonet, Standard oder den „Wohnbedarf-Typen“ nicht so konsequent auf leichte Montage und geringes Eigengewicht hin konstruiert, sondern weisen mehr geschweißte Knotenpunkte auf, sind komplizierter aufgebaut und repräsentieren eher den modernen Stil, als dass sie seine Inkarnation wären. Darin sind sie eben doch britisch. Dasselbe lässt sich von den Tischen und Buffets der Firma PEL sagen, die jedoch insgesamt konsistenter und eigenständiger, vielleicht „britischer“ wirken. Sie haben einen Anflug von Art déco, aber längst nicht so flamboyant wie französische Arbeiten; man erkennt auch im britischen Art déco Verbindungen zur formalen Disziplin der Arts and Crafts. Die Eigentümer solcher „modernistischen“ Möbel waren urban orientiert und (wie überall) eine kleine Minderheit der Oberschicht. Selbst die mit Art déco versetzte ostentative Modernität solcher Möbel behauptete vor dem Zweiten Weltkrieg einen britischen Kern: das behagliche Selbstbewusstsein, Bewohner des Empire zu sein und der gesellschaftlich 226

Abb. 109: W. H. Russell: ­Toilettentisch aus schwarzem Nussbaumholz für die Firma Gordon Russell, 1930. Das gestalterische Ethos der Arts and Crafts wirkt mit Geradlinigkeit im 20. Jahrhundert fort.

Abb. 110: Harold Stabler: Teeservice, versilbert, Elfenbein und Ebenholzgriffe, 1935. Kubismus mit abgerundeten Kanten, weltläufig und modern, ohne radikal sein zu wollen. Hersteller Adie Bros.

227

Abb. 111: Serge Chermayeff: Radio mit Bakelitgehäuse, für EKCO, 1933. Der ausdrucksmäßige Unterschied zum Volksempfänger (vgl. Abb. 21) ist bei aller produktionsbedingten Ähnlichkeit doch beträchtlich.

führenden Schicht anzugehören. Dafür stehen auch die silbernen Teeservice von Harold Stabler, der in wenigen Jahren die formale Entwicklung von einem spätviktorianischen Stil zu einer sozusagen kubistischen Modernität vollzog. Sets wie diese kamen wohl ausschließlich auf großbürgerliche und adelige Tische. Vielleicht etwas anders die verschiedenen Modelle von Radioapparaten der Firma E. K. Cole, abgekürzt EKCO, Geräte mit abgerundeten Bakelitgehäusen aus der Hand der Entwerfer Wells Coates und Misha Black, die ebenfalls Repräsentanten der Moderne in der Tonart dieser britischen Designkultur waren, doch weniger elitär. Anders als die Service und die modernistischen Möbel waren Radioapparate – auch wenn sie keineswegs billig waren – eine Gegenstandskategorie, die leichter in breitere Gesellschaftsschichten gelangte, dort alltagswirksam wurde und den Zeitstil abbildete. Ein entspanntes Designverständnis Dies war die Situation vor dem Zweiten Weltkrieg. Von den erwähnten Beispielen sollte man jedoch nicht auf das Ganze schließen. Der Kunst- und ­Kulturhistoriker Nikolaus Pevsner – vor Hitlerdeutschland nach England geflohen und dort bald zu Ehren gekommen – kam nicht umhin, in einer Umfrage zur gestalterischen Kultur seiner hochgeschätzten neuen Heimat ein 228

Abb. 112: Gerold Summers: Sessel aus Formsperrholz, Simple Furniture Ltd., 1934. Aus einzelnen in der Form verleimten Furnieren auf­ gebaut, auch wenn die ­Gestaltung als Ausgangspunkt eine (technisch unmögliche) verformte Tafel aus Schichtholz erwarten ließe.

kritisches Urteil abzugeben: „Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass 90 % der britischen Kunstindustrie (industrial art) frei von jedem ästhetischen Verdienst ist.“4 Wir wissen nicht, was er zu den verbleibenden zehn Prozent gelungener Beispiele zählte, doch davon, welche Auffassung von Ästhetik und von industrial art er hatte, können wir uns anhand seiner späteren Texte eine Vorstellung machen. Er lobte darin Möbel etwa von Ambrose Heal und das Rollmaterial der Londoner Untergrundbahn.5 Er dürfte 1937 auch Marcel Breuers jüngste Sperrholzmöbel für die soeben gegründete Firma Isokon dazu gezählt haben, vielleicht einen Teil der Steinzeug-Keramik, Besteck, Koffer und Lederwaren, mit Sicherheit die zurückhaltend modernen Möbel der Firma Gordon Russell, als deren Berater er wirkte.6 Doch einiges spricht dafür, dass die Briten unter den von Pevsner angesprochenen „ästhetischen Verdiensten“ etwas anderes verstanden als die Kenner in anderen Ländern. Der Publizist Philip Morton Shand, ein Gefolgsmann der CIAM (Internationale Kongresse für Neues Bauen) schrieb für die deutsche

Zeitschrift Die Form über die „englischen Charakterzüge“ in der Gestaltung und behauptete: „Als Nation neigen wir dazu, höchste fachliche Tüchtigkeit höher zu schätzen als künstlerische Inspiration.“7 Er begründete dies so: „Da das Wort Schönheit für den Engländer [sic!] einen ziemlich poetischen, wenn nicht geradezu rhetorischen Klang hat und eins dieser großen Worte ist, die 229

er ungern gebraucht, so kommt es ihm fast unglaublich vor, dass ein Ding gleichzeitig wirklich praktisch und wirklich schön sein kann. In seinen Augen schließen sich diese Eigenschaften gegenseitig aus. […] Denn plastische Schönheit ist etwas, das er innerhalb einer Kunstgalerie oder in einem Museum zu finden erwartet und nirgendwo sonst. Was ihm wirklich gefällt, ist eine ‚vollkommen vernünftige Form‘.“8 Damit scheint Shand eine verbreitete Meinung wiederzugeben. Wenig später jedenfalls (1935) schrieb Sir – später Lord – Kenneth Clark: „Es ist nicht wahr, dass Schönheit und Tauglichkeit Hand in Hand gehen. Viele rein nützliche Dinge des Alltagsgebrauchs, wie die Schreibmaschine, können nicht schön gemacht werden, und Schönheit in ihrer reinsten Form ist fast immer nutzlos. Ich sehe keinen Grund, weshalb der Industrielle schöne Objekte hässlichen vorziehen sollte, es sei denn, dass Abb. 113: George Carwardine: Tischleuchte „Anglepoise“, Hersteller Terry Ltd., 1932. Die allseits bewegliche, durch gegenläufig wirkende Federn ausbalancierte Tischleuchte war eine Erfindung mit typenbildender Tragweite.

230

Abb. 114: R. D. Russell: ­Radioapparat der Marke Murphy, 1937, Hersteller des Gehäuses Gordon ­Russell, technischer Teil (Chassis) von Murphy. Die feine Linienführung ­vermittelt wie bei Abb. 109 eine entspannte Modernität. Seitenflächen schwarz ­gebeizt, Front und Oberseite farblos lackiert.

er einen guten Geschmack hat.“9 Der Gegensatz zur italienischen Sicht der Dinge könnte nicht größer sein. Um nochmals Morton Shand das Wort zu erteilen: Er kannte Frankreich sehr gut und definierte einen in seinen Augen markanten Kontrast zwischen den beiden Ländern, den er so akzentuierte: „Wenn der Franzose [sic!] das Material benutzt, um die Form damit auszudrücken, also als Mittel zum Zweck, so benutzt der Engländer – immer so wenig wie möglich – die Form dazu, die Schönheit seines Materials herauszustellen oder zu steigern. Mittel und Zweck sind für ihn identisch. […] Der Engländer empfindet Misstrauen gegen eine Form, die über ihr Material hinausgeht oder es in den Hintergrund drängt.“10 Shand argumentiert hier allerdings aus einer ideologisch verklärten Sicht. (Wann „geht die Form über das Material hinaus“?) In seinem Argument fehlt das Kriterium der Funktion, denn das primäre Motiv bei der Gestaltung ist nicht, „das Material herauszustellen“, und ebensowenig, „die Form auszudrücken“, sondern das Erzielen eines Gebrauchswerts. Zutreffend ist allerdings, dass in der britischen Produktkultur die Suche nach neuen Formen wenig ausgeprägt war, viel eher entsprach dem britischen Temperament die Nähe zu bewährten Lösungen. Großbritannien zahlte dafür seinen Preis. 231

Denn was zu seiner Zeit als vorteilhaftes Charakteristikum gilt – berechtigter Stolz auf das Eigene –, wurde später als Starrsinn zum Existenzproblem, wie es nach den 1970er-Jahren mit der britischen Autoindustrie geschehen ist. Und, wie wir selbst vom anglophilen Nikolaus Pevsner gehört haben, ein Ruhmesblatt war die britische Gestaltung vor dem Zweiten Weltkrieg nicht. Industrial Art, also „Kunstindustrie“, war ein zu wenig griffiges Wort für die Aufgaben der Zeit. Zweiter Weltkrieg Der Krieg veränderte auch in Großbritannien die Bedeutung von Design. Einsparung von Ressourcen und Arbeitskraft sowie Produktivitätsgewinne wurden überlebenswichtig. Der Kampf gegen das Deutsche Reich mobilisierte die Bevölkerung. Die Gestaltung von Alltagsprodukten trat in den Hintergrund, die Entfaltung des engineering hingegen wurde existenziell. Zum Beispiel hatte Großbritannien bei Kriegsbeginn viel zu wenige Kampfflugzeuge und musste unter höchstem Druck eine ganze Industrie hochfahren. Es gelang, Flugzeuge zu entwickeln, die stärker, schneller und wendiger waren als die deutschen. Das Ingenieurwesen, insbesondere in der Aviatik, entwickelte sich zum Pool für ein technikbasiertes Design für die Zeit nach dem Krieg. Nach dem abgewehrten Blitzkrieg („Luftschlacht um England“) machte sich erstaunlich früh wieder Optimismus bemerkbar. Bereits am 1. Januar 1943 gründeten Marcus Brumwell, Milner Gray und Misha Black mit Blick auf die Zeit nach dem Krieg die Design Research Unit (DRU ), ein Studio für Gestaltung, dessen Portfolio erstmals Visuelle Kommunikation, Ausstellungsgestaltung und Industrial Design umfasste – die erste integrale Gestaltungs-Agentur in Großbritannien und also ein wichtiger Vorläufer von Pentagram. Das geniale Signet von British Rail kam ebenso aus dieser Agentur wie die Gestaltung verschiedener Lokomotiven von Misha Black, dem vielleicht wichtigsten Pionier eines professionellen Industriedesigns in Großbritannien. Black hatte in sehr jungen Jahren, seit 1928, effektvolle Ausstellungsstände gestaltet und wurde dank seines propagandistischen Geschicks 1942 ein Angehöriger („officer“) des britischen Informationsministeriums im Kriegskabinett. Auch der Kunsthistoriker Herbert Read, dessen Buch Art and Industry 1934 232

erschienen war, arbeitete in oder für die DRU. Das Profil der DRU wurde wie folgt skizziert: „Dienste aller Art, um bei sämtlichen Problemen der Gestaltung beratend zu wirken, was die Bedürfnisse des Staates, von Gemeindebehörden, der Industrie und des Handels betrifft.“11 Die DRU nahm damit die Nachfrage nach dem Krieg für technische Expertise und ein Bedürfnis vorweg nach „Neudefinition und dem Re-Design öffentlicher Dienste, wofür sich die Kontaktaufnahme mit Eisenbahngesellschaften, Busbetrieben und dergleichen aufdrängt“.12 1944 wurde der Council of Industrial Design (COID) gegründet, auch er mit dem Ziel, in der absehbaren Nachkriegswelt britischen Exportprodukten Nachdruck zu verleihen, wobei ihre britishness gewahrt werden sollte (er wurde 1972 in Design Council umbenannt). Die Exponenten des COID waren etablierte Unternehmer, etwa Gordon Russell und Josiah Wedgwood. Der COID forderte, dass britisches Design von dem anderer Exportländer deut-

lich unterscheidbar sei, und riet den Gestaltern, traditionelle britische Designmerkmale mit solchen von „gutem“ modernem Design zu kombinieren.13 Das war 1945 noch nicht das abgegriffene Schlagwort des Standort-Marketings heutiger Tage. Design zur Erleichterung der Lebensumstände Bei Kriegsende war das Land erschöpft, und die Bevölkerung hatte noch bis 1950 die Rationierung von Lebensmitteln und sogar Kleidungsstücken zu erdulden, da die Umstellung auf eine Friedenswirtschaft Zeit brauchte. Im September 1945 kündigte das Victoria & Albert-Museum eine Ausstellung mit dem Titel What Industrial Design Means an. 1946 fand sie statt, jedoch unter dem kernigeren Titel Britain Can Make it – ein Appell an neue Zuversicht bei den Landsleuten. Der Kurator Misha Black vermittelte der Bevölkerung Design als eine Aufgabe, bei der die erleichterte Bewältigung des Alltags und wirtschaftliches Wohlergehen zusammengehen. Blacks Beschreibung in der Ausstellung dessen, was Design sei, betonte die alltägliche und soziokulturelle Bedeutung von Gestaltung. Er sprach Fragen aus und stellte Zusammenhänge dar, die allgegenwärtig, aber der Öffentlichkeit überhaupt nicht bewusst waren: „Was ist Industrial Design? Auf jedes Produkt angewendet, 233

sollte Industrial Design folgende Ziele erreichen: Höhere Effizienz im Gebrauch und besseres Aussehen, somit höherer Wert für den Benutzer oder Konsumenten, gesteigerter Verkaufserfolg und in vielen Fällen verminderte Produktionskosten. Industrial Design ist die intelligente, praktische und gekonnte Verbindung von Kunst und Industrie. […] Allzu viele Artikel werden so hergestellt, wie sie sind, weil sie ‚schon immer so gemacht worden sind‘. Allzu viele Artikel werden hergestellt, weil sie funktionieren, doch ohne einen Gedanken an die Person zu verschwenden, die ihn benutzen muss. Allzu viele Artikel werden hergestellt von Leuten, die sie nur herzustellen und die nie mit ihnen zu leben haben. Wäre es nicht so, warum ist es denn so schwierig, auf zwanzig Meter Entfernung zu sehen, ob ein Taxi besetzt ist oder nicht? Warum müssen wir uns immer noch am Dampf verbrühen, wenn wir einen Wasserkessel vom Herd nehmen? Warum ist die Autowäsche eine Sache von Stunden? Die Antwort auf diese Fragen lautet: Weil es noch nie eine saubere Vermählung des Ingenieurs mit dem Künstler gegeben hat.“14 Nun also, kurz nach dem Krieg, suchte man der britischen Bevölkerung Industriedesign als Mittel zur Erleichterung ihrer Lebensumstände und als wirtschaftliches Stimulans zu vermitteln. Dabei legte Black das Gewicht ganz auf die praktische Dimension von Gestaltung. Fünf Jahre später, 1951, fand das Festival of Britain am südlichen ThemseUfer in einem weit größeren Rahmen statt. Diese nationale Leistungsschau zum 100-jährigen Jubiläum der Great Exhibition von 1851 sammelte die neu konfigurierte Nation – die Dekolonisation war bereits im Gange – und erhielt das Prädikat A tonic to the nation (Stärkungstrank).15 Das Festival nahm in architektonisch-szenografischer Hinsicht Bezug auf die viel gerühmte Ausstellung in Stockholm 1930 (Architekt: Gunnar Asplund) und auch auf die Schweizerische Landesausstellung 1939 in Zürich, die unmittelbar vor dem Krieg noch eine freundliche und mehrheitsfähige Modernität offenbart hatte und im Zeichen der Bedrohung ein Bekenntnis zur Demokratie und ein Aufruf zur Selbstbehauptung gewesen war. In ihrem gestalterischen Auftritt war das Festival of Britain ein Manifest der Vermittlung zwischen dem neugewonnenen Stolz auf die Stellung Großbritanniens in der Welt bei gleichzeitigem Verzicht auf nationalistisches Pathos, das man mit den niedergerungenen 234

Abb. 115: Ernest Race: ­Antilope Chair, 1951, pro­ duziert von Ernest Race Ltd., Sperrholz und lackierter Eisenstab. Das Erinnerungsstück an das „Festival of Britain“.

totalitären Mächten assoziierte. Als Bezeichnung für das behutsam moderne Auftreten ist im Vereinigten Königreich von „New Empiricism“ die Rede, wor­­in eine dezidierte Affinität zur skandinavischen Gestaltungsphilosophie steckt (→ Kap. 26) . Für manche Briten verband sich jahrzehntelang als Erinnerung an das Festival of Britain der „Antilope“-Stuhl aus weiß lackiertem Eisen, entworfen von Ernest Race, der im Außenraum den Ausstellungsbesuchern als Sitzgelegenheit diente: schwungvoll, in Material und Erscheinung neuzeitlich, zugleich mehrheitsfähig im Publikum.16 Common Sense Ein zentraler Begriff, wenn es um britisches Design geht, ist der common sense, was besser wörtlich mit „Gemeinsinn“ als mit „gesunder Menschenverstand“ übersetzt wird. Common sense im Vereinigten Königreich reicht tiefer als bis zum analytischen Desinteresse des „gesunden Menschenverstands“. Auch die italienische Designauffassung wäre mit diesem Begriff nicht zu erfassen, da in Italien die künstlerische Autonomie einen höheren Stellenwert hatte. Design nach britischer Auffassung ist näher am Alltag und an der Allgemeinheit, stellt sich nicht dar, sondern wirkt aus dem Hintergrund. Design soll nicht überraschen oder entzücken, sondern „richtig“ und „passend“ sein. Noch der bedeutende Gestalter und Unternehmer Terence Conran, der Entscheidendes für die Verbreitung zweckmäßiger Möbel in Großbritannien 235

geleistet hat, sagte Jahrzehnte später ganz undramatisch: „Gutes Design ist vermutlich zu 98% common sense. In erster Linie hat ein Gegenstand gut und effizient zu funktionieren – und dies zu erreichen, erfordert viel Zeit und Aufmerksamkeit.“17 Entsprechend dieser undogmatischen Sichtweise sind in der Tat epochale Gegenstände entstanden. Schon lange vor dem Krieg hatte Frank Pick, der oberste Chef von London Transport – Untergrundbahn und Omnibusse – als obersten Grundsatz die Funktionalität genannt: „Alles ist für den Gebrauch gemacht. Der Prüfstein für die Güte eines Dinges ist die Gebrauchstüchtigkeit. Versagt es in diesem Punkt, wird kein ornamentaler Aufwand und kein aufwendiger Finish es besser machen.“18 Die Kongruenz der beiden Aussagen von Pick und Conran, zwischen denen ein Dreivierteljahrhundert liegt, ist auffallend.

Abb. 116: London Underground-­ Wagen (1937). Schiebetüren oben mit konvexen Dachausschnitten (wegen knappem Lichtraumprofil der Tunnels); Schiebetüren aus funktionalen Gründen unten konkav nach außen gekrümmt, um innen mehr Fußraum für die Stehenden zu erhalten.

236

Die Londoner Transportbehörde setzte Picks Auffassung modellhaft klar um. Pick arbeitete seit 1906 für London Transport, war von 1933 bis 1940 deren CEO und verantwortete bereits 1916 die Einführung einer benutzerfreundlichen Signaletik, die ober- und unterirdisch für eine gute Führung der Menschenströme sorgte. Dazu gehörte die Beschriftung von Stationen, Wegweisern und dem Rollmaterial durch die eigens in Auftrag gegebene Johnston-Schrift (1916) und Henry C. Becks epochales Streckendiagramm (1933), das auf die immer unübersichtlicher gewordene kartografisch korrekte Abbildung der U-Bahnstrecken Groß-Londons verzichtete und dafür die topologischen Bezüge – abstrahiert und zweckmäßig vereinfacht – darstellte.19 Nikolaus Pevsner würdigte Pick ausführlich und machte darin eine aufschlussreiche Beobachtung zum Design der U-Bahn-Wagen, die sich ebenfalls als Zeichen für common sense liest. Er schrieb: „Bei der 1920er Serie wurden die Wagen leicht nach außen vorgewölbt, um beim Einsteigen mehr Fußraum zu gewinnen; dadurch konnte man auf die hässlichen Fußbretter, hässlich und gefährlich zugleich, verzichten. Die scheinbar stromliniengerechte Form der Untergrundbahnwagen der Piccadilly-Line, seit 1937 im Verkehr, ist aus den gleichen Überlegungen entstanden. Die einzige Funktion dieser Auswärtskurve ist es, das Fußbrett zu verdecken, so dass es benutzt werden kann, sobald sich auf den Stationen die Türen öffnen, aber nicht während der Fahrt.“20 Anzumerken ist hierzu, dass der Einbezug der Trittbrettfläche ins Wageninnere letztlich doch das Thema der Stromlinienform berührt, wenn auch in einem höheren Sinn, weil durch diese Maßnahme die Gefahr für die Außenstehenden, sich an den Wagen zu verfangen, signifikant kleiner wurde; die „Stromlinienform“ wurde also nicht stilistisch, sondern konzeptionell und verkehrstechnisch aufgefasst. Charismatischer „Routemaster“ Die Wagen von London Underground waren ein Werksentwurf, wie so vieles damals und wie auch der Londoner Doppeldeck-Bus, ebenfalls eine Leistung von London Transport. Es gab ihn seit den 1920er-Jahren, doch zur Ikone geworden ist er in der Überarbeitung durch Douglas Scott (Inbetriebnahme 1959, Herstellung bis 1968, in Dienst bis 2005). Scott war ein Gestalter, 237

Abb. 117: Douglas Scott: „Routemaster“-Bus, London Transport, 1964. Die liebevolle Verfeinerung des Vorgängermodells und die Sorgfalt im Detail haben ein Meisterwerk hervorgebracht.

der seine Laufbahn beim Londoner Ableger von Raymond Loewy Associates – 1936 das erste Designstudio in England – begonnen hatte (→ Kap. 17) . Sein Designethos stimmte mit dem Loewys insofern überein, als er den Erfolg eines Entwurfs am Zuspruch des Publikums bemaß. Er sagte: „Ich habe stets für den Markt entworfen. […] Private und persönliche Formensprachen sind bei Industrial Design fehl am Platz.“21 Auch das ist ein Zeichen von Common Sense. Scott suchte nicht das Scheinwerferlicht. Wohl im Unterschied zum amerikanischen Publikum (im Fall Loewys) erwartete das britische eine gewisse Distinguiertheit und gestalterische Zurückhaltung – decency. Dafür stand Scotts „Routemaster“-Bus beispielhaft. 1920 war der Londoner Doppelstock-Bus ein kantiges Gebilde auf Vollgummirädern, nach dem Krieg hatte er eine stark verfeinerte, etwas gerundete Form.22 Scott hatte 1959 enge Randbedingungen bezüglich Abmessungen, Gewicht, Sauberhaltung und Reparatur-Zugänglichkeit einzuhalten. Die leicht verjüngte obere Front der Passagierkabine und die sorgfältig ermittelten Rundungen – beides aus einem Ringen um Zoll-Bruchteile bei Innenmaßen hervorgegangen – ließen das Fahrzeug kompakter erscheinen, als es war. Die freundliche Außenform mit der abgerundeten Motorhaube und das heitere Innere, die Detailkultur der Sitze, deren Bezugsstoffe ebenfalls von 238

Scott entworfen waren, ihre Haltegriffe, die in die Decke eingelassenen Leuchten und die angenehme Farbgebung im Innern (crèmefarbiger Deckenhimmel), nicht zuletzt die Gestaltung der Innentreppe und des Handlaufs fügten sich geradezu zur idealtypischen Verkörperung des Gemeinsinns im britischen Design.23 Charakteristisch für den Stellenwert dieses Auftrags ist aber auch die Beiläufigkeit, mit der die Behörde von London Transport ihn behandelte. Scott berichtet amüsiert: „Da Großbritannien sich noch immer im Wiederaufbau befand, war alles ziemlich bürokratisch. London Transport hatte keine klaren Regeln für den Umgang mit beratenden Designern, die man damals sowieso als eher eigenartige Leute betrachtete. Ich werde nie vergessen, wie mein Honorar für den Routemaster-Job ausbezahlt wurde: Das Geld kam aus der Handkasse.“24 Scotts „Routemaster“-Bus gilt nicht nur bei der englischen Fachwelt als einzigartiges, unverwechselbar britisches Transportmittel, dem nach seinem Verschwinden aus dem Straßenbild vielfach nachgetrauert wird; auch das Publikum hatte ihn ins Herz geschlossen.25 Der junge Scott hatte seine berufliche Prägung nach der Arbeit für Raymond Loewy (1936–1939) während des Krieges beim Flugzeugbauer De Havilland vertieft und dabei ein umfassendes Ingenieursverständnis entwickelt. Diese Orientierung teilt er mit vielen seiner Generationskollegen aus der Zeit des Krieges. 1945 wurde die Institution of Engineering Designers gegründet. Die Verbindung von zwei bisher getrennten Disziplinen muss als wichtige Ressource der britischen Entwicklung während der nachfolgenden Jahrzehnte gelten. Einmal mehr die Frage: Wie stand es dabei mit den Frauen? Bereits im Ersten Weltkrieg – und als eine Folge des Kriegs – ließen sich auch britische Frauen in den Ingenieurwissenschaften ausbilden. Sie gründeten 1919 die Women’s ­Engineering Society – eindeutig ein Element der britischen Emanzipationsbewegung. Frauen wirkten seither in UK immer im Ingenieur­wesen mit und leisteten wertvolle Beiträge, wenn auch in geringer Zahl. Die Flugzeug-Ingenieurin Beatrice Shilling etwa verhalf dem Kampfflugzeug „Spitfire“ zu entscheidend höherer Zuverlässigkeit. Generell jedoch war die britische verarbeitende Industrie und Wirtschaft weitestgehend eine Männerdomäne; D ­ esign-Beiträge von Frauen kamen am häufigsten auf den Gebieten Textil­gestaltung und Keramik vor (Lucille Day, Marianne Straub, Jane Priestman). 239

Allround-fitness: „Anglepoise“ Ein Ingenieur-Designer der ersten Stunde war George Carwardine, der 1931 eine in allen Richtungen dreh- und schwenkbare Tischleuchte erfand, wozu er auf seine Erfahrungen als Ingenieur in der Automobilfabrik Horstman zurückgreifen konnte.26 Er war dort Spezialist für Radaufhängungen und Federungen; die Firma ging 1929 in Konkurs. Für die Leuchte mit dem Namen „Anglepoise“ – englisch für „Gleichgewicht“ – verband Carwardine seine Kenntnisse aus dem Fahrzeugbau mit dem Studium der menschlichen Anatomie, insbesondere des Armes (→ Abb. 113) . Er bezog sich auf dessen Bewegungsgeometrie und Mechanik – Schultergelenk, Elle und Speiche, Handgelenk – und auf den Antagonismus der Muskeln auf der Armober- beziehungsweise -unterseite. Zudem ermittelte er die geeignete Geometrie für die Lage der Gelenkpunkte und kam so zu der Schreibtischleuchte, die seit vielen Jahrzehnten jedem Kind vertraut ist und bei der sich die Spannungen der Federn beidseits des „Krans“ immer im Ausgleich befinden und die Resultierende gleich null ist. Carwardine ließ die Leuchte bei einem Hersteller von Zugfedern, Herbert Terry & Sons, produzieren.27 Einmal mehr drängt sich die Feststellung auf, dass eine Neuformulierung der Tischleuchte wie diese nicht als Formidee vom Bauhaus kommt, sondern sich als „Prinzipien-Idee“ nur aus dem Denken und Problemlösungsverhalten des engineering entfalten konnte. Es ist dies ein Beispiel für die Fälle, in denen der common sense an einen kritischen Punkt kam, wo er durch die in eine andere Richtung weisende Idee eines eigensinnigen Individuums überstrahlt wurde. Immer wieder kamen aus Großbritannien überraschende und nonkonformistische Ideen und alternative Ansätze. Einige davon werden hier gewürdigt, andere in der nachfolgenden Reflexion X-25. Moulton und Issigonis Alex Moulton ist ein Beispiel für den zumindest indirekten Einfluss der Aviatik, auch er Ingenieur, Erfinder und Designer in Personalunion. Eine seiner Hauptleistungen war 1962 das Moulton-Fahrrad, eine Neuformulierung grundsätzlicher Art. Moulton, ein Absolvent des King’s College in Cambridge, war im Krieg Assistent des Chefingenieurs der Bristol Aircraft Company 240

Abb. 118: Alex Moulton: Kompaktes Fahrrad mit kleinen Rädern: Moultons Ziel war die Verkleinerung des Fahrrads unter Beibehaltung der ergonomischen Prämissen (Bein- und Armlängen von Erwachsenen, Sitzposition). Konstruktives Layout, 1962.

gewesen. Seine Vorfahren hatten sich seit 1848 in der Gummiindustrie einen guten Ruf erworben (Spencer & Moulton). Nach dem Krieg erforschte Moulton die Möglichkeit von Gummifederungen an Fahrzeugen. Die Federung des Kleinwagens BMC „Mini“ (1959), von dem unten die Rede sein wird , war eine Entwicklung von Alex Moulton, und ebenfalls die „Hydrolastic“-Verbund­ federung des größeren Modells BMC 1100 (1962). Das Moulton-Zweirad und die Arbeit am „Mini“ liefen zeitlich parallel und wiesen inhaltliche Überschneidungen auf. Beide bauten auf der Prämisse von ungewöhnlich kleinen Rädern auf.28 Moulton suchte beim Zweirad die optimale Körperposition und ermittelte sie als gleichseitiges Dreieck von Sattel, Lenkergriffen und Tretlager. Der Radstand war wegen der Ergonomie dem des Standard-Fahrrads vergleichbar, die Gesamtlänge wegen der kleineren Räder aber kürzer. Moulton konzipierte die Räder für einen hohen Reifendruck, um den Rollwiderstand zu verringern; dementsprechend mussten sie aber gefedert sein, was ­Moulton durch eine Hinterradschwinge mit Gummi-Federkonus und vorne durch eine Federhülse im Lenkerrohr erreichte. Eine Gelenkmuffe im Hauptträger erlaubte die rasche Trennung des Rahmens in zwei Hälften, weshalb das Rad die Modellbezeichnung „Stowaway“ („verstaubar“) erhielt. S ­ pätere Entwicklungen von Moulton-Rädern wiesen einen Rahmen wie ein filigranes Raumfachwerk auf, was ihnen spezielles Lob von Lord Norman Foster eintrug. George Carwardine und Alex Moulton verkörpern die Kompetenz und 241

Abb. 119: Alec Issigonis: Kleinwagen BMC „Mini“ 850, Längsschnitt, 1959. Die Zielvorgabe einer Gesamtlänge 10 Fuß (3,05 m) wurde dank der Querstellung des Vierzylindermotors erreicht. Frontantrieb ermöglicht die konsequenteste Platzausnützung im Innern.

Originalität von britischem engineering, bei dem sich der Common Sense in einer neuen Physiognomie verkörpert: als Setzung einer neuen Formel, die aus der konsequenten Hinterfragung der gewohnten Denkmatrix hervorgegangen ist. Der Designer Sir Kenneth Grange benennt den Unterschied zwischen Design und Engineering so: „Design kann definiert werden als Form, ermöglicht durch Materialien, währenddem Engineering besser umschrieben werden kann mit: Form, diktiert durch Materialien.“29 Eine kluge Kennzeichnung, bei der aber klar wird, dass sie gerade bei den erwähnten Pionieren nicht zutrifft, bei denen das ideelle Konzept dem „Material“ übergeordnet war. Das Know-how ist meist, aber eben nicht immer, ein „Gewusst-wie“. In Sternstunden ist es ein heftiger Impuls: „Erkennen-was-besser-wäre“. Impulse wie diese bringen etwas wahrhaft Neues hervor und vermögen eine Disziplin von innen her zu verändern. Das gilt ebenso sehr von Alec Issigonis, dem mit Moulton befreundeten Konstrukteur des Kleinwagens „Mini“. Issigonis überwand mit mehreren Modellen die generelle Rückständigkeit der britischen Automobilindustrie, gerade weil er dem Common Sense als einer gängigen Konvention seinen one’s own sense – Eigensinn – einer vernunftbasierten Neubefragung gegenüberstellte. Sein erstes Auto war 1948 der äußerlich wenig auffällige Morris Minor, ein vorzüglich konstruiertes Modell mit guten Fahreigenschaften, das bis 1991 in hoher Stückzahl gebaut wurde. ­Issigonis war nicht nur sein verantwortlicher Konstrukteur, sondern auch der Gestalter, der später von sich behaupten konnte: „Ich entwarf das gesamte 242

Auto ganz allein, bis zu den Knöpfen, die das Handschuhfach verschließen, und den Türgriffen.“30 International noch bedeutender und kühner gedacht war der bahnbrechende Kleinwagen Morris Mini 850, der 1959 auf den Markt kam. Dieses vierplätzige Modell war nur zehn Fuß lang (3,05 Meter) und „innen größer als außen“, wie die Werbung geistreich behauptete. Möglich wurde diese Geräumigkeit durch die Querstellung des Vierzylindermotors und durch die Anordnung von Getriebe/Differenzial und Motorblock vertikal übereinander. Die gesamte Mechanik war in einer bisher unvorstellbaren Kompaktheit unter der kurzen Fronthaube zusammengefasst und trieb die Vorderräder an. Kleine Räder in den äußersten Ecken und die Ausnutzung sämtlicher Möglichkeiten für Staufächer ergaben ein geräumiges Inneres; mit dem leistungsfähigen Fahrwerk und mit Sportversionen des Motors ließen sich zahlreiche Rennen gewinnen. Issigonis’ Mini war die Blaupause für zahlreiche kleine und kompakte Autos der vergangenen Jahrzehnte. Nach anfänglich zögerlich einsetzendem Verkaufserfolg wurde das Modell zu einem epochalen Kultauto, das auch von Film- und Musikstars gefahren wurde. Die formale Gestaltung war zweckmäßig, funktionell und doch auch typisch britisch, indem die einzelnen Elemente der Karosserie – Kotflügel, Motorhaube, Dach, Windschutz- und Heckscheibe, Kühlergrill, Kofferraumdeckel abgerundet waren und sich gerade dadurch – indem sie sich gleichsam puzzleartig einander anpassten – zu einer harmonischen Einheit verbanden. Dieses „Interplay“ der Elemente ist auch an anderen Fahrzeugen zu beobachten, etwa dem Jaguar Mark II von William Lyons (1959) und dem erwähnten Doppelstockbus von Douglas Scott. Auch in fast allen Entwürfen von Jasper Morrison ist es erkennbar (→ Kap. 31) . Issigonis und Lyons waren in Personalunion Ingenieure und Designer (Lyons zudem Gründer und Lenker der Marke Jaguar), ihre designerische Kompetenz war home-made, intuitiv und markant. Sie waren Ausnahmeerscheinungen. Für die meisten anderen Fälle wies Misha Black im Jahr dem Industrial Designer die Rolle des konstruk­t iven Widerparts des Ingenieurs zu. Er sagte 1959 in einer Rede: „Der Industriedesigner unterscheidet sich in seiner Übung, seinen Interessen und ­seiner Persönlichkeit in wichtigen Punkten vom Ingenieur. Wenn der Designer wirklich Teil eines Entwurfsteams ist, können diese Unterschiede der Feuerstein sein, 243

gegen den der Ingenieur seine Klinge mit größerer Imagination führt.“31 Issigonis verstand es beim „Mini“ offenbar, die Pole von Analyse, Reflexion, Intuition und Formgebung in seiner Person zu vereinen. Das war um 1960 noch möglich, bald danach aber nicht mehr. Der Mini lässt sich als Startschuss für die aufregende Zeit sehen, die nun aufzog. Der Winzling war als eine Manifestation automobiler Vernunft entstanden und sah sich bald von einer Aura aus urbanem Charisma und hedonistischem Lebensstil umgeben. Das wertkonservative Vereinigte Königreich entwickelte sich in wenigen Jahren zum Epizentrum einer Jugendkultur für die halbe Welt bis weit hinter den Eisernen Vorhang. Sie erfasste die Musikszene, die Kleidermode – der Mini II: Mary Quants Minirock –, den Film, die Literatur und das Theater. Die Gestaltung von Gebrauchgütern änderte sich nicht einmal so sehr, aber ihre Wahrnehmung: Die Produkte zeigten sich in einem anderen Licht. Britishness wurde auf einmal cool. Vom Kontinent aus betrachtet, wurde England in kürzester Zeit ein mehr als vollwertiges Sub­ stitut des fernen Amerika, mit dem Neuen und Überraschenden zuhanden auf dem jenseitigen Ufer des Ärmelkanals und ohne die Trennung des Atlantiks. UK , das Land, in dem immer die upper class den Ton angegeben hatte, legte

die distinguierte Zurückhaltung ab und erhielt großen Applaus dafür. Pop und Pentagram Verschiedene Bereiche der progressiven britischen Kultur vermengten sich zu einer einzigen Szene und wirkten aufeinander ein: Musik, Film, Literatur, Architektur, bildende Kunst, Werbung und Design. Künstler gestalteten Schallplattenhüllen, die Architektengruppe Archigram setzte das neue ­Lebensgefühl in wirkungsstarke zeichnerische Darstellungen eines erweiterten Architekturbegriffs um, bei dem es um das Zusammenwirken verschiedener Sinneseindrücke ging und um das spezifische Gewicht des ­Zufälligen, Kontingenten, nicht Geplanten, sondern sich spontan Ereignenden

(→ Kap. 31) .

Die Sprache der Werbung nahm das auf ihre Weise auf. Die bereits erwähnte Agentur Pentagram wurde von 1962 an zum Umschlagplatz heiterer Ideen; inmitten seiner Gründer und Kollegen Bob Gill, Colin Forbes und Allan Fletcher, bald erweitert um Theo Crosby, wurde Kenneth Grange der 244

Abb. 120: Sir Kenneth Grange/Pentagram: Triebköpfe des Zuges InterCity 125, im Liniendienst von 1976 bis 2016.

für ­I ndustrial Design Zuständige bei Pentagram. Er erinnerte sich in einem Filmbeitrag der BBC über diese Anfangsjahre von Pentagram: „We were still a very few“, und er meint damit die damaligen professionellen Industrial ­Designer im Land. Auch Grange hatte einen Ingenieur-Hintergrund, der ihn befähigte, bei seinen Entwürfen technisch auf der Höhe zu sein. Einer seiner eigenen Favoriten ist der Hochgeschwindigkeitszug InterCity 125 (die Zahl steht für Meilen pro Stunde) für British Rail, der 1976 in Betrieb genommen wurde und bis 2016 im Einsatz war. Eigentlich hatte Pentagram nur den Auftrag für die Außenbemalung eines neuen Zugs erhalten, doch Grange berichtet, dessen Entwurf sei so hässlich gewesen, dass er auf eigene Faust eine neue Loko­ motive entwarf, deren Modelle im Windkanal testete und die Direktion von British Rail damit überzeugte. Auch diese Geschichte betrifft eine Zeit, als Design noch nicht in die Fänge von Verkäufern geraten war. Daraufhin entwarf Grange den gesamten Zug einschließlich der Innenausstattung, der ebenfalls im kollektiven Gedächtnis der Briten einen festen Platz hat. Grange sagt: „Der Erfolg eines jeden Designs hängt davon ab, wie seine Leistung und seine 245

Abb. 121: Kenneth Grange/ Pentagram: Küchengerät für Kenwood Ltd., 1963. Britisches Design zeigt sich auch hier von seiner ge­ winnenden Seite: zurückhaltend sachlich, dabei ­einnehmend und nicht ­fundamentalistisch.

Persönlichkeit (performance and personality) einander ergänzen und ob sie in gewisser Weise sogar ein und dasselbe werden.“32 Ein wichtiger Kunde von Pentagram war auch die Marke Kenwood, für die Grange zahlreiche Elektroapparate entwarf: Küchenmaschinen, Toaster, Rasierer, Bügeleisen. Meist in hellbeigen Farbtönen, nie hochweiß, nie bunt, in glatten Formen, doch mit leichten Kurven und Abknickungen versehen, ­waren diese Produkte zugleich modern und auf die bereits mehrfach beschriebene Art britisch; sie unterscheiden sich von Arbeiten aus „Ulm“, sind dort geschmeidig und fast beiläufig, wo Dieter Rams umgekehrt grundsätzlich sein will. Die Ausstrahlung von britischem Design liegt gerade darin, dass es sich nicht wichtiger macht, als es einem guttut.

246

Anmerkungen

künstlerische und architektonische Attitüde standen und nicht für Design in engerem Sinn. Sie wandten sich gegen das tonangebende Establishment der modernen britischen Kunst und Architektur. Herbert

1

2

3

4

5 6

Vgl. Tony Judt: Geschichte Europas von 1945 bis zu

Read, den Leiter des politisch linksstehenden Insti-

Gegenwart: Abschnitt „Eine Geschichte zweier

tute of Contemporary Art ICA, traf ihr Vorwurf, ein-

Volkswirtschaften“ [BRD, UK]. Frankfurt a. M.,

seitige Anschauungen zu propagieren. Als Read,

S. 392–398

Freund und Bewunderer von Walter Gropius und des

Nikolaus Pevsner: „Die Design and Industries

Bauhauses, das ICA verließ, um eine Professur in

­Association“. In: Ders.: Architektur und Design.

den USA anzutreten, nahm der eine Generation jün-

Von der Romantik zur Sachlichkeit (Textsammlung).

gere agent provocateur Reyner Banham seine Stelle

München 1971, S. 469–487

ein, und das ICA öffnete sich neuen Fragestellungen.

Ann Massey: The Independent Group. Modernism

Die Ausstellung Parallel of Life and Art (1953), er-

and Mass Culture in Britain 1945–59. Manchester/

arbeitet von Eduardo Paolozzi, den Architekten Pe-

New York 1995, S. 6–7

ter und Alison Smithson und dem Fotografen Nigel

(„When I say that 90 Percent of British industrial art

Henderson, ging 1953 als Augenöffner für das Ge-

is devoid of any aesthetic merit, I am not exaggera-

wicht des „Nebensächlichen“ in die britische und

ting.“): Nikolaus Pevsner, in: „An Enquiry into Indus­

internationale Kulturgeschichte ein und bereitete der

trial Art in Britain“ (1937). Zit. bei Edward Lucie-

Pop Art den Boden. Vgl. neben Ann Massey (er-

Smith: A History of Industrial Design. Oxford 1983,

wähnt in Anm. 3) auch David Robbins (Hrsg.): The

S. 114. Übers C. L.

Independent Group. Postwar Britain and the Aesthe-

Nikolaus Pevsner in verschiedenen Aufsätzen des

tics of Plenty. Cambridge/Mass. und London 1990;

Sammelbandes 1971 (wie Anm. 2)

Thomas Schregenberger/Claude Lichtenstein

Nikolaus Pevsner: „Sir Gordon Russell und das mo-

(Hrsg.): As Found. Die Independent Group: Die Ent-

derne Möbel“ (wie Anm. 2), S. 451–467 7

P. Morton Shand: „Englische Charakterzüge – engli-

deckung des Gewöhnlichen. CH-Baden 2001 17 („Good Design is probably 98% common sense.

sche Typenformen“. In: Felix Schwarz/Frank Gloor

­Above all, an object must function well and effi-

(Hrsg.): „Die Form“. Stimme des Deutschen Werk-

ciently – and getting that part right requires a good

bundes. Gütersloh 1969, S. 297–306, hier S. 300

deal of time and attention.”): Terence Conran, in:

8

Ebd. S. 304

9

Zit. bei Nikolaus Pevsner: „Die Design and Industries Association“ (siehe Anm. 2), S. 481

10 Morton Shand (wie Anm. 7), S. 299 11 Milner Gray: „Notes on the Formation and Operation of a Design Group“, Oktober 1942 (unveröffentlichter Text, S. 1), gefunden bei Wikipedia (2019–09– 15). Übers. C. L. 12 Wie Anm. 11 („ the reconditioning and re-designing public utility services“ recommending „contact […] with the railway companies, motor coach lines and so on.”) 13 Ann Massey (wie Anm. 3), S. 6 14 Avril Blake: Misha Black, London 1984 (Publikationsreihe des Design Council), S. 33. Übers. C. L. 15 Mary Banham/Bevis Hillier (Hrsg.): Tonic to the ­Nation. The Festival of Britain 1951. London 1976 16 Auf die Independent Group der damals Dreißigjähri-

Life Edited (New York), 3. Mai 2016 18 Frank Pick in den frühen 1930er-Jahren. Zit. bei Fiona MacCarthy: British Design Since 1980, ­London 1982, S. 12. Übers. C. L. 19 Vgl. die Ausgabe von Rassegna (Nr. 66): London Underground, Bologna 1996 20 Nikolaus Pevsner: „Frank Pick und London Transport“. In: wie Anm. 2, S. 424–447, hier S. 429. (­Erschienen erstmals im August 1942 in der Architectural Review.) 21 („ I have always designed for the market […] Private and personal aesthetics are out of place in industrial design“): Douglas Scott: „From the Routemaster to AGA. Unsung Hero Douglas Scott“. In: www.agali-

ving, 13.05.2015. (AGA: Aktiebolaget Gas Accumulator, schwedische Herstellerin von Kochherden, gegründet 1919.) Übers. C. L. 22 Nikolaus Pevsner (wie Anm. 2), S. 441–444

gen, die eine neue Avantgarde manifestierte, kann ich hier nicht eingehen, da sie für eine spezifisch

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23 Jonathan Glancey: Douglas Scott. Rugby/London 1988 (Publikationsreihe des Design Council), S. 56–61 24 Douglas Scott, in Design, Oct. 1983 zit. Woudhuysen, Sept. 2019 (Internet-Quelle, Übers. C. L.) 25 2014 wurde eine Bus-Neukonstruktion in den Dienst gestellt, die in formaler Hinsicht starke Anleihen beim Routemaster macht, ein Hybridmodell mit Hecktür (Sicherheitsvorschrift), das aber den Fahrgästen in der warmen Jahreszeit erhebliche Pro­ bleme wegen der Aufheizung des Innern bereitet. 26 Die britische Automarke Horstman verschwand 1929 vom Markt. 27 Nach verschiedenen Produzenten und Rechtsinhabern kauften die Nachkommen der Marke Terry die Rechte zurück und produzieren wieder unter diesem Namen. 28 Tony Hadland: The Moulton Bicycle. Reading, UK, 1980/1991 (Eigenverlag), passim. Ferner: Alex Moulton. A Lifetime in Engineering. An Interview with Alex Moulton and John Pinkerton. Münster 2007. 29 Kenneth Grange: „3-D thoughts“. In: David Gibbs (Hrsg.): Pentagram. The Compendium. London 1993, S. 111 30 („I designed the whole car myself, even the little knobs that opens the glove box, and the door handles.“): Alec Issigonis, zitiert auf einer Texttafel im Science Museum, London 31 Misha Black in einer Rede während der Konferenz zum Thema „Industrial Design and the Engineering Industries“. Birmingham 1959. Zit. in Avril Blake (vgl. Anm. 14). Übers. C. L. 32 Kenneth Grange in Gibbs (wie Anm. 29), S. 111. Übers. C. L.

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X-25  Common Sense und Eigensinn

Bemerkenswert oft stammen überraschende und ungewohnte Problemlösungen aus Großbritannien. Als ob der common sense auch ganz konträre Energien freisetzen würde, die zu gänzlich alternativen Konzepten führen. Die erste allseits bewegliche Tischlampe, Anglepoise, die der Ingenieur George Carwardine entwickelte, wäre hier nochmals zu nennen oder Alex Moultons kompaktes Fahrrad. Auch die ausladend leicht gewölbten elektrostatischen Lautsprecher der Marke Quad, die mit einer sehr geringen Bautiefe eine hochwertige Klangcharakteristik erreichten. Oder Trevor Baylis, der in den achtziger Jahren für Subsahara-Afrika einen Radioempfänger erfand, der unabhängig von einem Stromnetz und Batterien den erforderlichen Strom selbst mit einem Federwerk erzeugt. Dieser Apparat mit dem Namen „Freeplay“ wurde um 1985 entwickelt, um die Bevölkerung über die Gefahren einer Ansteckung mit AIDS zu informieren, wofür Baylis später von Nelson Mandela ausgezeichnet wurde. 2013 entwickelte Duncan Fitzsimons für Rollstühle ein platzsparendes Rad mit einer zusammenklappbaren Felge, auch dies ein Beispiel für britische Findigkeit. Der erfolgreichste Unbeirrbare war James Dyson, der 1979 nach Tausenden von Fehlversuchen den beutellosen Staubsauger zum Funktionieren brachte. Er sagt, er habe dabei aus jedem Fehlversuch gelernt. Und er fährt fort: „Scheitern macht mir nichts aus. Ich habe immer gedacht, dass Schulkinder nach der Zahl ihrer Misserfolge ausgezeichnet werden sollten. Ein Kind, das merkwürdige Sachen ausprobiert und auf diesem Weg oft scheitert, ist vermutlich das kreativere Kind.“ * Ein Staubsauger ohne Staubbeutel galt 1979 als ein Paradox und ist heute eine Standardlösung. Da die großen Firmen daran kein Interesse zeigten, gründete Dyson seine eigene Firma. Diese entwickelte auch den flügellosen Ventilator, bei dem aus einem stehenden Ring Luft strömt, ohne dass es dazu einen Propeller braucht. Den Ventilator als einen stoischen Ring zu präsentieren, bei dem im Unterschied zu den anderen Ventilatoren im kreisrunden Gehäuse nicht Propellerflügel kreisen, ist wiederum ein genüsslich demonstriertes Paradox. ** Paradox in der Bedeutung, dass 249

sich etwas anders verhält oder sich anders zeigt, als man es erwartet. Haben nicht Monty Python ebenfalls einzigartig auf dieser Klaviatur gespielt? Solch hartnäckige Lust an der Abweichung, an der Irritation und solche Unbeirrbarkeit ist nicht ausschließlich eine britische Eigenschaft, aber dennoch ein im Land auffallend wiederkehrendes Phänomen. Am Anfang solcher Alternativentwicklungen steht stets eine Skepsis, ein fundierter Zweifel an einer gängigen Konfiguration. Bei näherem Hinsehen wird klar, dass überhaupt ein essenzieller Teil der Designgeschichte – der wichtigste? – sich als eine Abfolge von Versuchen darstellen ließe, die aus einer Skepsis hervorgegangen sind. Skepsis ist vielleicht die wertvollste Ressource im Design. Aus dem aus Skepsis geborenen Neudenken kommen die Ideen und der Fortgang von Produktentwicklungen, seien sie positiver oder negativer Art. Aus dem linearen Weiterdenken hingegen entwickeln sich Konventionen und aus ihnen Stile. Da in Großbritannien die Konventionen hochgehalten werden, findet auch Skepsis, im Verbund mit Fachkompetenz, reichlich Nahrung. Dieses Aufbegehren gegen den Mainstream ist es, der immer wieder für bemerkenswerte Lösungsansätze sorgt. Dies ist keineswegs ein auf Großbritannien beschränktes Phänomen. Weitere internationale Beispiele wären etwa: • Emil Berliner, der Erfinder der Schallplatte (1887) und des Grammophons, die dem Edison’schen Phonographen (1877) klar überlegen waren; denn die Schellackplatten ließen sich seriell pressen, während die Wachswalze individuell bespielt werden musste. Zudem brauchten die Schallplatten viel weniger Platz; • Hugo Junkers, der das Flugzeug als Erster um 1920 nicht mehr in Holz und Stoff, sondern in Metall dachte: Eine metallene Tragkonstruktion, verkleidet mit gewellten Blechen; • Christine Frederick mit ihrer Analyse der sinnvollen Bewegungsabläufe und Vorgänge in der Küche und Grete Schütte-Lihotzky, die Fredericks Analyse 1925 zur modernen Frankfurter Kompaktküche weiterdachte; • André Lefèbvre, der für das Auto die Leichtbauweise propagierte; • Jean Prouvé, der das Möbel als Tragwerk für dynamische Vorgänge auffasste; 250

• und denken wir zurück an Michael Thonet, an Josuah Wedgwood, viel weiter zurück an die mutmaßlich unbekannten Erfinderinnen der Webstuhl-Litze und der Töpferscheibe. • Und wieder nach vorn ins 20. Jahrhundert: Da war Yoshisada Horiuki, der Erfinder der Inline-Skates, der 1969 die Gummiräder bei Rollschuhen nicht mehr paarweise hinter- und nebeneinandergesetzt als Untersatz, angeschnallt an Straßenschuhe, auffasste, sondern als geschlossene Einheit wie einen Eis­hockeystiefel, jedoch mit Rädern (→ Abb. 147).

*

James Dyson, in: Chuck Salter: „Failure Doesn’t Suck“, Fast Company, Mai 2007

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Doch auch dabei gibt es einen Rotor von kleinen ­Dimensionen, der unsichtbar im Ständer eingebaut ist und sich mit hoher Tourenzahl dreht.

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26 Nordeuropäische Unbeirrbarkeit Design in Skandinavien

Die Schnittmenge des skandinavischen Designs mit jenem Großbritanniens zeigt sich in der wenig manifesthaften, dafür zweckmäßigen Modernität. Dennoch verdienen die Themen der Gestaltung in den nordeuropäischen Ländern Dänemark, Schweden, Norwegen und Finnland eine eigene Würdigung. Aus drei Gründen: erstens ihrer Qualität und Vielfalt wegen, zweitens infolge ihrer gemeinsamen Identität als Gruppe demokratischer, dünn besiedelter – in geografischer Hinsicht weitläufiger, hinsichtlich ihrer Bevölkerungszahl bescheidener – Kleinstaaten, auch wenn sie sich in ethnischer und auch sprachlicher Hinsicht markant unterscheiden.1 Und drittens sind es auch die signifikanten Unterschiede, die diese behauptete skandinavische Einheitlichkeit zumindest relativieren. Die Monarchien Dänemark und Schweden waren in der Geschichte europäische Groß- und Mittelmächte; Norwegen lag etwas mehr abseits. Das heutige Finnland war während Jahrhunderten ein Teil Schwedens, von 1717 bis 1917 ein Teil Russlands und erst seit 1917 eine selbstständige Republik. Die Einwohnerzahl Schwedens ist mit etwa 10 Millionen fast doppelt so hoch wie die der anderen drei Länder. Angesichts der insgesamt wenig mehr als 26 Millionen Einwohner aller vier Länder – Stand 2020, 1960 waren es sogar nur 20 Millionen! – wird einem bewusst, wie hoch der skandinavische Beitrag zum Thema der Gestaltung auf internationaler Ebene seit bald einem Jahrhundert zu veranschlagen ist. Die nordeuropäischen Königshäuser waren der Grund dafür, dass es bereits seit Langem im Umkreis der Hauptstädte ein leistungsfähiges Kunsthandwerk gab: Gold- und Silberschmiede, Glasbläser und -schleifer, Keramiker, Möbelschreiner, Uhrmacher, Hofschneider. In diesem Substrat lag auch die Basis für die Herausbildung einer neuzeitlichen Gestaltung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und dann besonders nach 1945. Die Höfe waren jedoch weniger Brennpunkte für Prachtentfaltung als Orte von großbürgerlichem 252

Wohlleben. Sogar der nordische Klassizismus der „vormodernen“ skandinavischen öffentlichen Bauten lässt sich als Bekenntnis zu einer funktionellen Vernunft lesen. Der bedeutende Designer Sigvard Bernadotte war der zweite Sohn des schwedischen Königs Gustav Adolfs VI – ein Prinz als begabter und erfolgreicher Gestalter, aus dessen Hand sowohl exquisite wie auch alltagsnahe Produkte hervorgegangen sind. Vielleicht war es die geografische Konstellation dieser Länder, die hinsichtlich des Designs auffallend viel Eigenes hervorbrachte: Die Hauptstädte Oslo, Stockholm und Helsinki liegen im Süden der Länder, auf dem 60. Breitengrad, von wo aus es tausend Kilometer weiter nordwärts in zunehmend dünner besiedeltes Gebiet geht. Die bäuerlichen Traditionen im Hinterland Schwedens, Finnlands und Norwegens, ihr Holzreichtum und wohl auch die soziokulturelle Bedeutung seiner Sommerhäuser – deren einfache und doch gemütliche Einrichtung – waren von prägendem Einfluss auf die Gestaltung. Dänemark ist für das Thema „Design aus Skandinavien“ ebenfalls von Bedeutung, auch wenn es sich in seiner bescheidenen Größe und geradezu „südlichen“ Lage von seinen drei Partnerländern unterscheidet. Verinnerlichte warme Wohnlichkeit Beim Begriff „skandinavisches Design“ stellt sich bei manchen wohl zuerst die Vorstellung von Möbeln, Leuchten und Wohnaccessoires ein, erst danach von Industriedesign – auch wenn sich bei genauerem Hinschauen das indus­ trielle Profil bald mit Namen von Elektroapparaten, Unterhaltungselektronik, Kameras und Autos belebt: mit Marken wie Electrolux, Nilfisk, Husqvarna, Bang & Olufsen, Bodum, Hasselblad, Saab und Volvo. Mit ihnen allen, ob Möbel, Tischgerät oder anderes Industriedesign, verbindet sich die Vorstellung von hochwertiger Qualität und einem beeindruckenden Gleichmut gegenüber dem Modischen. Die marxistische Theorie des spekulativen Tauschwerts der Dinge und der daran gekoppelten ephemeren Warenästhetik hat es mit der auf Langlebigkeit angelegten Gestaltung Skandinaviens jedenfalls nicht leicht, wie auch die Verschmelzung von Monarchie und verinnerlichter Sozialdemokratie eine ganz und gar nordeuropäische Besonderheit ist.2 Die eben genannten Marken betreffen zur Hauptsache schwedische und dänische 253

Produkte. Der hochwertige „Schwedenstahl“ war ein wichtiger Faktor für das schwedische Industriedesign. Die Erzvorkommen im ganzen Land waren der Grund, dass sich bereits vor der Industrialisierung in Mitteleuropa in kleinen Wirtschaftseinheiten eine eigene Praxis der Metallverarbeitung entwickelte. In Schweden standen die ersten – noch mit Holzkohle betriebenen – Hochöfen. Später entstanden die bekannten Industrien zur Fertigung von Flugzeugen, Schiffen, Autos, Maschinen, Elektrogeräten, Koch- und Tischgeräten. Da Schweden als einziges dieser Länder sich militärisch aus dem Zweiten Weltkrieg herauszuhalten vermochte – Dänemark und Norwegen wurden 1940 von der deutschen Wehrmacht besetzt, Finnland zuerst in den Winterkrieg mit Russland gezwungen, daraufhin in eine Koalition mit dem Deutschen Reich – ging es mit einem Vorsprung in die Nachkriegszeit. In zahlreichen internationalen Fachberichten aus den Kriegs- und Nachkriegsjahren etwa über schwedische Glaswaren oder Möbel klang auch Sympathie für ein Land mit, das weitgehend unbeschädigt aus dem Krieg herausgekommen war. In den späten Fünfzigerjahren schob sich dann jedoch Design aus Dänemark in den Vordergrund. Die vier Länder hatten schon seit Langem eine traditionelle und auch berufliche Durchlässigkeit untereinander gekannt: Gestalterinnen aus Norwegen arbeiteten in Schweden, Finnen erlernten ihr Metier in Dänemark und umgekehrt. Dieser Austausch war während des Zweiten Weltkriegs weitgehend unterbunden, belebte sich danach jedoch rasch neu. Der skandinavischen Identität gegen außen stehen Unterschiede nach innen gegenüber. Beides soll hier Berücksichtigung finden. Aus methodischen Gründen ist Schweden gleichsam als referenzielle Mitte eines systemischen Dreiecks behandelt, dessen Ecken von Norwegen, Finnland und Dänemark eingenommen werden. Ein gemeinsames Merkmal dieser Weltgegend, ihre ausgesprochene Kinderfreundlichkeit, ist erst im 20. Jahrhundert auffällig geworden: Der Kinderstuhl „Tripp Trapp“, ein Entwurf des Norwegers Peter Opsvik aus dem Jahr 1974, hat sich in ganz Europa verbreitet.3 Zuvor pflegte man die Kleinkinder in hochgebaute Sessel zu heben, wo sie dann wie Tennis-Schiedsrichter auf ihrem Hochsitz thronten. Der Tripp Trapp verbindet die Elemente Sitz und 254

Treppe; seine in der Höhe verstellbaren Sitz- und Fußbretter und seine Tischfläche beziehungsweise der Sicherungsbügel – die sich entfernen lassen – waren Beiträge zur Selbstermächtigung der Kinder während ihres Aufwachsens. Ein spezifisch skandinavischer Gedanke. Unprätentiöse Formen Ein Dokument dieser menschenfreundlichen Einstellung ist das Buch Das Haus in der Sonne des Malers und Zeichners Carl Larsson (erschienen 1909). Es war wohl eher der Ausdruck einer Wunschvorstellung als das Abbild einer bereits verwirklichten gesellschaftlichen Realität: In Schweden sprachen um 1900 die Kinder zu ihren Eltern noch in der Höflichkeitsform.4 Zugleich lässt sich feststellen: Das Werkbund-affine Gedankengut der unprätentiösen Formen ging in Skandinavien stets mit einem starken Gebrauchsgedanken einher: Die Gegenstände sollen den Menschen dienen und nicht umgekehrt. Diese Erwartung gründet in den langen und dunklen Wintern des Nordens und äußert sich in einem elementaren Bedürfnis nach Gemütlichkeit im Haus und nach körpergerechten Materialien und angenehmen Farben. Das Haus in der Sonne fand auch in Ländern außerhalb Skandinaviens eine weite Verbreitung und lässt sich als populärer Vorläufer moderner Aufklärungsschriften und Fachdiskurse wie Befreites Wohnen (von Sigfried Giedion) oder Das neue Wohnhaus – Die Frau als Schöpferin (von Bruno Taut) sehen. Auf die Bedeutung der Winterszeit für das Kunsthandwerk, die langen Abende zu Hause, wenn man manuelle Arbeiten verfertigt, kommen skandinavische Autoren oft zu sprechen. In den entlegenen Gebieten des Nordens, wo Armut oder zumindest einfache Lebensverhältnisse weitverbreitet waren, lag seit jeher eine wichtige Voraussetzung für traditionelles Kunsthandwerk: Korbflechten, Töpfern, Bemalen von Keramik, Weberei, Stickerei, Schnitzwerk. Hier war auch der Nährboden für neuere Formauffassungen und Fertigungsmethoden. Ein kundiger Beobachter, Alfred Roth – der einige Jahre in Schweden gelebt hatte – versuchte in knappen Worten die skandinavische Entwicklung in die internationale Moderne einzuordnen und schrieb 1962: „Zu jener Zeit, da die neuen Architekturgedanken in Holland, Deutschland, Frankreich und auch bei uns in der Schweiz bereits in voller Entfaltung begriffen waren, 255

herrschte in den skandinavischen Ländern noch traditionsgebundene Ruhe, eine Tradition allerdings, die mit ihrer lebensverbundenen, sensiblen Einfachheit den bald folgenden Übergang zur neuen funktionellen Auffassung verhältnismäßig leicht gemacht hat.“5 Den entscheidenden Moment für das Neue sah Roth in seiner der Avantgarde verpflichteten Sicht in der Stockholmer Ausstellung von 1930 (siehe unten). Wichtiger aber als die Speerspitze einer Avantgarde war in Nordeuropa die in die Breite gehende Wirkung der von Roth erwähnten „lebensverbundenen, sensiblen Einfachheit“  – dem eigentlichen genuin skandinavischen Element. Was Schweden betrifft, so war es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die Gestaltung das wichtigste Land Skandinaviens. Es war (und ist) eingemittet zwischen klassischer Ausgewogenheit und einer vorsichtig-progressiven Haltung, womit gemeint ist: eine einschließende, nicht-elitäre und nichtegoistische Einstellung, für die es in Skandinavien den Begriff „Jante-Gesetz“ gibt: Wolle nicht mehr gelten als die anderen! Für die angenehme Empfindung, wenn etwas „gerade richtig“ ist, also „weder zu viel noch zu wenig“ von etwas, gibt es in der schwedischen Sprache das Prädikat „lagom“, das auf das Wunschideal von Maß und Bescheidenheit verweist.6 Theatralik, Selbstdarstellungsimpulse und Repräsentationsinstinkte sind dem skandinavischen Designverständnis grundsätzlich fremd. Brennpunkte vor 1945 Die Stockholmer Ausstellung für Kunstindustrie, Kunsthandwerk und bäuerliches Handwerk des Jahres 1930 gilt als entscheidender Impuls für die Entwicklung des skandinavischen Designs, mit der es aus der von Alfred Roth erwähnten „traditionsgebundenen Ruhe“ herausgeholt wurde. Mit deren leichtfüßig wirkender Architektur leistete der „Klassizist“ Gunnar Asplund eine epochale und weit über Skandinavien hinauswirkende Neubestimmung einer Ausstellungsarchitektur und -szenografie. Bereits zuvor, auf der Pariser Ausstellung von 1925 (→ Kap. 24), hatte der Schwedische Pavillon des Architekten Carl Bergsten mit den darin ausgestellten Möbeln und Glaswaren viel Aufmerksamkeit erhalten. Schwedische Glasproduzenten von Glaswaren wie Orrefors, Boda und Kosta brachten anmutige Vasen, Karaffen und Trinkgläser 256

Abb. 122: Carl Malmsten: Stuhl für das Rathaus Stockholm, 1916. Mit den sich nach unten leicht verbreiternden Füßen und sehr nuancierten formalen Details gelang Malmsten die eigenständige Interpretation eines nordischen Klassizismus für die Ausstattung des Stadtparlaments.

hervor, die daraufhin international als „Swedish grace“ apostrophiert wurden. Die jüngeren, um 1900 geborenen Gestalter wurden durch die Auseinandersetzung mit der Stockholmer Ausstellung zu ihren je unterschiedlichen und doch innerlich verwandten skandinavischen Modernitätsvarianten angeregt: Das Ehepaar Aino und Alvar Aalto, Arne Jacobsen, Bruno Mathsson, Kaj Franck, um nur einige zu nennen. Gestalter der etwas älteren Generation, wie der Möbelschreiner Carl Malmsten oder der Glasgestalter Wilhelm Kåge (mit den Geburtsjahren 1888 und 1889), standen dem neuartigen Funktionalismus, den die Ausstellung präsentierte, distanzierter gegenüber. Malmsten gewann als junger Mann den Wettbewerb zur Möblierung des Stockholmer Rathauses (1916) und orientierte sich auch später an einer traditionelleren Grammatik. Der gleichaltrige Däne Kaare Klint verarbeitete in seinen weniger traditionalistischen Entwürfen englische Einflüsse. Vielleicht lässt sich behaupten, dass Dänemark wegen der relativen Nähe zu England, den Niederlanden, Belgien oder Deutschland näher an Orten der Erneuerung war als das selbstgenügsamere Schweden. Bis 1930 bestanden skandinavische Sitzmöbel, auch wenn sie von schlichter Anmutung waren, üblicherweise aus sorgfältig bearbeitetem Massivholz 257

traditioneller Konstruktion: gedrechselte, achsial verdübelte, aus dem Vollen gearbeitete Hölzer, die zu Rahmen verbunden und mit Rohrgeflecht bespannt oder mit Polstern versehen waren. Freistehende Schränke hingegen waren in Schweden selten. In den hölzernen skandinavischen Wohnhäusern fungierten viele Raumtrennungen als eingebauter Stauraum, dies übrigens eine Parallelität zu Japan (→ Kap. 27) . Bei einem Sitzmöbel sagte der kategoriale Unterschied zwischen Bespannung und Polsterung viel über die ideelle Herkunft und die Bestimmung eines Sitzmöbels aus: Kam es vom bäurischen Leben her oder wollte es zur städtischen Repräsentation hin? Skandinavische Sitzmöbel haben dieses Herkunfts- und Destinationsschema nach 1930 aufgebrochen; Bauernhaus und Villa schließen seither einander als Bezugspole nicht mehr aus. Ein Beispiel dafür sind Bruno Mathssons Liege „Pernilla“ aus dem Jahr 1936 und sein Sessel „Eva“ von 1943, die zu den charakterlich typischsten skandinavischen Möbeln bis lange nach 1950 gehören. Mathsson, Sohn Abb. 123: Bruno Mathsson: Armlehnsessel „Eva“, Gurtbespannung, 1943. Mathsson holte die bis dahin verdeckten kreuzweise gespannten Stoffgurte unter Matratzen und Polstern hervor ans Tageslicht und etablierte sie als Zeichen für ein entspanntes Wohngefühl.

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eines Schreiners, interessierte sich für formverleimtes Schichtholz, wie es die etwas älteren Aino und Alvar Aalto mit den Möbeln für ihre Erstlingswerke ausgelotet hatten (siehe unten). Der experimentellen Unvoreingenommenheit der Aaltos setzte Mathsson seine etwas vorsichtigere Vorgehensweise entgegen. Mit dem Ziel der hohen Brauchbarkeit und Dienlichkeit vor A ­ ugen, waren Mathssons kreuzweise mit Stoffgurten bespannten Massivholzrahmen bedeutend körpergerechter als die einfach gebogenen Aalto-Sperrholzschalen. Mathssons Idee, die Stoffgurte nicht mehr wie häufig nur für die Unterkonstruktion von Polstern einzusetzen, sondern zur eigentlichen Sitzoder Liegefläche zu machen, war grundlegend und sollte für Jahrzehnte – bis heute! – ihre Wirkung entfalten. Eine Idee wie diese war geeignet, eine breitere Bevölkerung zu erreichen als mit dem avantgardistischeren Programm der Aaltos. Die dazu passenden gekurvten Linien auch des Untergestells, die bereits auf den ersten Blick organische Körperfreundlichkeit und Komfort versprachen, können geradezu als Signatur des skandinavischen Möbeldesigns gelten. Das erstaunlich vielfältige Möbelsortiment von Aino und Alvar Aalto war ebenfalls von der Stockholmer Ausstellung von 1930 beeinflusst, doch es war radikaler und überraschender. Den Anfang machten die Möbel für das Lungensanatorium in Paimio (fertiggestellt 1933) und die Bibliothek in Viipuri (1935). Ihnen lag eine neue Fertigungsmethode zugrunde: Birkensperrholz, in großen zusammenhängenden Formen verleimt und nachträglich in Trag­ bügel und gekrümmte Flächen aufgeschnitten: Hocker, Stühle, Sessel, Polsterfauteuils, Freischwinger, Beistelltischchen, Tee- und Esstische. Aino und Alvar Aalto gründeten mit diesem experimentellen Programm 1935 ihre eigene Firma Artek für Produktion und Vertrieb, die bis 2013 unabhängig blieb.7 Derart unbekümmert war skandinavische Gestaltung damals sonst nirgends, auch nicht Design aus den anderen europäischen Ländern, und dieser neue Ansatz ging ausgerechnet vom entlegenen Finnland aus. Außergewöhnlich am Ehepaar Aalto war seine Verbindung zur mitteleuropäischen Avantgarde rund um die CIAM und die eigenständige Auseinandersetzung damit, was Sigfried Giedion bewog, schon 1931 erste Aalto-Modelle (Hocker, Stapelstuhl) in seinem Einrichtungsgeschäft „Wohnbedarf“ in Zürich anzubieten (→ Kap. 16), 259

Abb. 124: Alvar und Aino Aalto: Beistelltisch aus Birkensperrholz, Artek/Wohnbedarf, 1933. Das Ehepaar Aalto entwickelte mit scheinbar leichter Hand eine eigene Herstellungsmethode für eine Vielzahl von Möbelmodellen, für die sie ihre Firma Artek gründeten.

ebenso das Bettsofa mit Stahlrohrgestell, an dessen Verstell-Mechanismus er mitkonstruierte. Die Entwürfe der Aaltos waren 1933 unter den ersten, welche die bereits etwas erstarrte Gleichsetzung von „Modernität“ mit „Stahlrohr“ lockerten. Ihre Möbel strahlten weit in die Welt hinaus und gewannen Freunde in England, den Niederlanden, der Schweiz und – spätestens mit dem finnischen Pavillon an der Weltausstellung New York 1939 – nicht zuletzt an der amerikanischen Ostküste. Man staunt über die Leichtigkeit, mit der die Aaltos sich eine neue Fertigungsmethode und eine neue Formenwelt erschlossen. Die längst zum Klassiker gewordene Aalto-Vase mit dem frei gekurvten Umriss ist aus der Vorstellung einer Eskimo-Fischerin, die in ihren Lederhosen im Wasser steht, entstanden (die Entwurfszeichnung trägt den Vermerk „Eskimoerindens Skinnbuxissa“). Sigfried Giedion stellt hier den formalen Bezug zu den Umrissen der unzähligen Seen Kareliens her.8 In der skandinavischen Entwicklung war die Formensprache der Aaltos in ihrer Unvermitteltheit während langer Zeit ein faszinierender Sonderfall. Der Wiener Architekt, Designer und Schriftsteller Josef Frank, der mit seiner schwedischen Frau Anna Sebenius 1933 nach Schweden emigrierte, gilt 260

Abb. 125: Alvar Aalto: zwei Vasen, 1. Preis in einem Wett­bewerb, in Eichenholzformen mundgeblasene Modelle in verschiedenen Größen und Farben, 1936. Die freie Form ist nach der Vorstellung der Lederhose gebildet, in der eine ­Eskimofrau im Wasser stehend fischt.

seinerseits als bedeutender Impulsgeber des schwedischen Einrichtungsstils. Noch von Wien aus trat er in Kontakt zu Estrid Ericson, der Inhaberin des Stockholmer Einrichtungsgeschäfts Svenskt Tenn, die ihm eine berufliche Perspektive anbieten konnte. Franks Ablehnung der Idee vom Gesamtkunstwerk – in Übereinstimmung mit seinem Vorbild Adolf Loos – passte gut zur skandinavischen Auffassung, dass die Einrichtung dem Menschen dienen soll und nicht umgekehrt. Die lebensbejahende Ausstrahlung seiner Arbeiten für Svenskt Tenn, für Möbel und Lampen, Bezugsstoffe, Vorhänge und Teppiche, erhielt an den Weltausstellungen Paris 1937, New York und San Francisco 1939, viel Anerkennung, wozu zu sagen ist, dass Svenskt Tenn eher im Hochpreissegment lag.9 Frank erreichte beim Publikum durch seine einzigartige Verarbeitung von Blumen-, Baum- und Tiermotiven eine entscheidende Erweiterung der Vorstellungen von Modernität. Dienliche, heitere Eleganz anstelle von unnahbarer Extravaganz: darin lag auch eine bereits angesprochene Nähe zur englischen Auffassung.

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Abb. 126: Josef Frank: ­Fußteil eines Sessels, hergestellt vom Einrichtungshaus Svenskt Tenn, 1936. In Franks Arbeiten für Svenskt Tenn verbanden sich eine neuzeitliche ­Überzeugung und bewährte Elemente in einzigartigem Frohmut.

Ausstrahlungen nach 1945 Nach dem Krieg wurde skandinavisches Design zu einer Weltmarke. Die Wanderausstellung Design in Scandinavia tourte in den 1950er-Jahren durch Museen in den Vereinigten Staaten und stärkte das gemeinsame gestalterische Profil der vier Länder. An den Mailänder Triennalen präsentierten sie sich mit einem gemeinsamen Auftritt, ebenso wie in Paris anlässlich der Ausstellung Formes scandinaves (1958, Musée des Arts Décoratifs). Nach innen jedoch fand ein Wechsel in der Hierarchie statt. War vor dem Krieg Schweden das Zugpferd gewesen („Swedish Modern“), hatte sich nun Dänemark diese Position erarbeitet. Dänisches Design („Danish Modern“) bemühte sich nun besonders erfolgreich um den nordamerikanischen Markt.10 Das gelang wohl dank des Umstands, dass dänisches Design formbetonter war als das schwedische – more stylish. In ihm trat das puritanische Element gegenüber dem skulpturalen Prinzip zurück. Dänemark profilierte sich nun sozusagen als der Süden Nordeuropas und setzte viel kreative Energie frei. So ist der seit etwa 1980 beliebte und oft als „Schwedenofen“ bezeichnete mattschwarze Heizkörper, der mit seiner feuerfesten Glasscheibe die atmosphärischen Vorzüge des sichtbaren Feuers elegant mit der Ökonomie des althergebrachten Gusseisenofens verbindet, dänischen Ursprungs. 262

Dänemark: skulpturale Couragiertheit Die hohe Qualität der dänischen Möbelgestaltung wurde unter anderem auf ein intaktes Handwerk und auf eine enge Zusammenarbeit zwischen Gestaltung und Ausführung zurückgeführt, womit eine Entsprechung zu Italien, Japan und auch Österreich und der Schweiz vorliegt.11 Bei der Propagierung von dänischem Design spielte auch „Den Permanente“ eine Rolle, die bereits 1931 gegründete Standesorganisation von Kunstgewerblern und Designern, die zuerst in Kopenhagen, dann auch in anderen dänischen ­Städten Ausstellungs- und Verkaufsstellen unterhielt und nun an Prominenz gewann. In ihrem Ziel, der Förderung-des-guten-Geschmacks, entsprach Den Permanente international zeittypischen Absichten und Qualitäts-Labels

(→ Kap. 20) .12

Vor dem Hintergrund des raschen Aufschwungs dänischer Gestaltung nach 1945 stellt sich nun die Frage, ob sich darin spezifische Züge zeigen, die es von seinen skandinavischen Nachbarn unterscheidet. Die Entwicklung der Abb. 127: Finn Juhl: Sessel aus ­Teakholz, Polster mit Rindslederbezug, 1945, Herstellung Niels Vodder. Juhls Gestaltungsprinzipien stellten höchste Ansprüche an die handwerklichen Fähigkeiten der herstellenden Schreiner, Polsterer und Sattler.

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dänischen Möbelgestaltung von Kaare Klint über Hans J. Wegner und Finn Juhl zu Arne Jacobsen, Poul Kjaerholm und Verner Panton gibt mindestens der Spur nach eine Antwort. Von Kaare Klint war bereits kurz die Rede. Seine Möbelentwürfe orientierten sich an der Tradition, interpretierten diese aber in einer frischen Form. Der eine halbe Generation jüngere Hans J. Wegner (*1914) ging in den formalen Lösungen weiter als Klint und machte bei seinen Sesseln die Knotenpunkte zu Etüden seiner formalen Raffinesse. Auch dekonstruierte und re-konstruierte Wegner das Form- und Elementgefüge eines Möbelstücks auf immer wieder andere Weise, was ihm eine Auffälligkeit verlieh, die jedoch stets beherrscht und organisch wirkte. Er entwarf auch Modelle aus Metall, so einen Liegestuhl mit Seilbespannung (1950). Noch weiter in Hinsicht exquisiter Holzverarbeitung ging Finn Juhl (*1912), dessen skulpturale und in konstruktiver Hinsicht komplexe Gebilde die Tatsache zu verleugnen schienen, dass sie aus zusammengesetzten Teilen bestanden. Diese Bemerkungen beziehen sich auf Sitzmöbel. Einer anderen Möbelgattung verhalfen besonders die dänischen Gestalter zu hoher Präsenz: dem niedrigen Buffet oder – wie es heute genannt wird – sideboard. Es war nicht neu, erhielt aber in seiner dänischen Ausprägung, meist aus südostasiatischem Teakholz oder Palisander, eine zeittypische Aktualität. Und über Möbel hinaus waren Leuchten ein Thema in Dänemark. Der Gestalter Poul Henningsen hatte seit den Zwanzigerjahren Leuchten für die Firma Poulsen entworfen: Decken-, Pendel-, Schreib- und Nachttisch- sowie Stehleuchten. Ihr Hauptmerkmal war die Lenkung des Lichts durch Ringlamellen verschiedenster Ausformung, sodass jedes Modell über eine exakt berechnete Mischung von Direkt- und Indirektlicht-Anteilen verfügte. Sie sind noch immer im Handel. Auch Arne Jacobsen arbeitete unter anderem für Poulsen. Er erreichte als Designer eine Breitenwirkung in einer ganz neuen Dimension und verwirklichte neben seinem bedeutenden architektonischen Œuvre eine vielfältige Werkgruppe von Sitzmöbeln, Tischen, Pulten, Leuchten, sanitären Armaturen, Uhren, Wohnaccessoires und Besteck. Das von Jacobsen in Kopenhagen erbaute und von ihm mit seinen Möbeln und Accessoires eingerichtete SAS Hotel (1960) ist ein seltenes Beispiel für die Idee des Gesamtkunstwerks nach 264

1945. Bereits für sein Erstlingswerk, das Bellevue-Theater in Klampenborg (1929), hatte Jacobsen eine Wandleuchte entworfen. Als Designer entfernte sich ­Jacobsen als Erster vom idiomatisch gewordenen „hölzernen“ Stil dänischer Möbel und anderer Produkte, deren Leitmotiv die Körpergerechtigkeit und die „natürliche“ Materialwirkung war, und suchte systematisch einen höheren Abstraktionsgrad: Bei Stühlen sah er statt Massivholz schichtverleimtes Sperrholz vor, erstmals mit dem Modell 3107 für Fritz Hansen, der seit 1952 in vielen Millionen von Exemplaren verkauft wurde; statt das Deckfurnier nur farblos zu lackieren, spritzte er es schwarz, er verwendete nicht Bespannungen aus Gurten für Sitzflächen und Rückenlehnen, sondern oft Stoff – immer unifarben – über Hart- und Weichschaumpolstern. Ein Tischgestell bestand ebenso aus Metall wie eine Leuchte mit schwenkbarem Reflektor. Abb. 128: Arne Jacobsen: zwei Lampenmodelle, Hersteller Louis Poulsen & Co., seit 1957. Jacobsen schuf in kurzer Zeit ein erstaunliches Œuvre auch als Designer von zeitlosen ­Möbeln und Leuchten, hier für die Ausstattung des SAS Royal Hotel in Kopenhagen, eine seiner wichtigsten Arbeiten als Architekt.

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Jacobsen arbeitete nach 1955 sowohl in seiner Architektur wie im Design klar auf eine geometrisch definierte formale Prägnanz hin und entfernte sich in dieser Hinsicht stark vom vertrauten Charakterbild skandinavischer Gestaltung. Die Formen seiner Stühle oder Sessel, einer Lampe oder eines Aschenbechers orientierten sich nicht mehr zentral am menschlichen Körper, sondern an allgemeingültigen, außerhalb des Designs liegenden Themen, was ihre Bezeichnungen „Egg“, „Swan“, „Ant“ zum Ausdruck bringen. Eine vielteilige Serie von Kannen und anderen Tischgefäßen war nach dem Form-­Motiv des Zylinders gebildet und trug auch diese Bezeichnung („Cylinda“, 1967). Der Historiker Alan Bullock, Dean an der Universität Oxford, für dessen St. Catherine’s College Jacobsen das Mensagebäude entwarf, wies auf dessen unbezähmbare Lust auf „Formgebung“ hin: „Besuchten wir mit ihm ein Warenhaus, um die Küchenausstattung zu wählen, so verbrachte er die meiste Zeit damit, die verschiedenen Dinge, die er sah, auf Zetteln anders zu entwerfen.“13 Jacobsen ä ­ ußerte sich in einem Gespräch kurz vor seinem Tod in der Zeitung Politiken so: „Das Primäre sind die Proportionen […], dann kommt das Material […], und damit kommt natürlich die Farbe ins Spiel.“14 Jacobsen brachte eine proaktive Formbetonung in die skandinavische Gestaltung, die es so zuvor nicht gegeben hatte und die mit einer gewissen Distanzierung vom common sense einherging. Nicht alles aus seiner Hand hat überdauert; sein Besteck von 1957 ist ein formalistisches Zeitdokument, vielleicht auch einige Modelle der Cylinda-Linie. Anderes, die Sitzmöbel und die ­A J -Leuchten für Poulsen (Tischmodell und als Stehleuchte), sind anscheinend zeitlos. Der eine Generation jüngere Poul Kjaerholm machte 1958 anlässlich der erwähnten Pariser Ausstellung Forme scandinaves erstmals auf sich aufmerksam und ordnete sich in die von Jacobsen angestoßene Entwicklung ein. Sein bekanntester Entwurf wurde die Liege PK24 für Fritz Hansen mit Peddigrohrgeflecht und feingliedrigem Stahlrahmen (1967), die sich vom angestammten skandinavischen Genom weit entfernte. Sein Generationsgenosse Verner Panton bestärkte die Tendenz zur Internationalisierung auch dadurch, dass er seinen Zweitwohnsitz (neben Kopenhagen) in Basel, und damit in der unmittelbaren Nähe der Firma Vitra, nahm. Sein Meisterstück ist der S-Chair 266

(1967), der in einer radikalen Geste die Dichotomie von Gestell und Schale in einer einzigen selbsttragenden und selbstaussteifenden Kunststoffschale aufhob. Finnland: vielfältiges Raffinement Zurück zu Finnland, von dem bisher erst im Zusammenhang mit Aino und Alvar Aalto die Rede war. Das Land brachte eine Reihe weiterer wichtiger Gestalterinnen und Gestalter hervor, deren gemeinsames Merkmal zugleich ihre Eigenständigkeit und die Unterschiedlichkeit ihrer Orientierung ist: ­I lmari Tapiovaara, Timo Sarpaneva, Tapio Wirkkala, Antti und Vuoko ­Nurmesniemi, Kaj Franck, Ulla Prokopé, Eero Arnio sowie Firmen wie Arabia, Iittala und der Textil- und Modeproduzent Marimekko. Ilmari Tapiovaara war besonders vielseitig: Er war Industriedesigner, Möbelgestalter und Innenarchitekt mit internationalem Erfahrungshintergrund, unter anderem eine Zeit lang als Mitarbeiter im Büro von Le Corbusier, und mit mehreren Auszeichnungen der Mailänder Triennale in den Fünfzigerund Sechzigerjahren. Bei verschiedenen Möbeln interessierte ihn ihre Zerlegbarkeit, sodass sie sich als Paketmöbel verschicken ließen oder hätten verschicken lassen. Auch seine Entwürfe sind seit vielen Jahren in Produktion (Artek). Danach kam erst mit Eero Arnio finnisches Möbeldesign wieder zu Prominenz, doch dessen aus der Kugelform entwickelten Sitzmöbel (BallChair, 1966 oder Bubble Chair, 1968) und der einem Trinkglas nachempfundene Cognac-Chair sind im Grunde untypisch für Skandinavien; damit stehen sie aber auch für die Internationalisierung der Szene, die damals Fahrt aufnahm. Davon zeugt auch der erste Preis, den Arnio 1964 im Möbelwettbewerb im italienischen Cantù gewann. Anders verhielt es sich hinsichtlich der Geometrie mit Kaj Franck, der ebenfalls auf der Grundlage geometrischer Formen gestaltete, allerdings nicht Möbel, sondern Geschirr und Trinkgläser. Francks Referenz auf geometrische Grundformen ist aber anders begründet als bei Arnio und auch als bei Jacobsen, nämlich sozial. Franck kam aus einer künstlerisch und gestalterisch interessierten Familie, studierte in Helsinki Innenarchitektur, auch er reiste 1930 nach Stockholm zur skandinavischen Ausstellung für angewandte Kunst 267

Abb. 129: Kaj Franck: Trinkgläser und Karaffe Kartio, seit 1958. Franck verstand es, Grundformen nicht nur farblich, sondern auch im formalen Detail so fein zu behandeln, dass sich ihre Qualität auch über den Tastsinn vermittelte, etwa im Krümmungsradius ­zwischen Glasboden und Kegelfläche.

und begeisterte sich dort für die neue Tendenz des Funktionalismus, dessen soziale Dimension mit der großbürgerlichen Prägung seiner Herkunft kontrastierte. Er sagte später: „Die einzige Möglichkeit, die gestaltungstechnischen Probleme von Gebrauchswaren zu lösen, besteht darin, radikal und sozial zu sein.“15 Für die finnische Familienwohlfahrtsvereinigung entwarf er 1946 erstmals ein Geschirrset. Im selben Jahr begann er als Gestalter in der Firma Arabia, wo er bald zum Leiter des Designateliers aufstieg. Der Auftrag an sein Team war die gestalterische Erneuerung des Sortiments. Das Geschirrset „Kilta“ (deutsch: „Gilde“), entstanden ab 1948, markierte mit seinen schlichten, ornamentlosen und von geometrischen Grundsätzen abgeleiteten Formen nicht nur in gestalterischer Hinsicht einen Bruch mit der bisherigen von der Volkskunst beeinflussten Formgebung, sondern auch in markttechnischer, indem seine Teile einzeln gekauft werden konnten und in unterschiedlichen Farben angeboten wurden, deren gute Kombinierbarkeit ein wichtiges Kriterium beim Entwurf gewesen war. Der puristischen Einfachheit seiner Entwürfe lag, wie gehört, ein sozialer Gedanke zugrunde. Eine skandinavische Besonderheit war der Status der Gestalterinnen und Gestalter, die nicht fest an Firmen gebunden waren, sondern die Möglichkeit 268

hatten, nicht nur für andere Industriezweige, sondern sogar für direkte Konkurrenten zu arbeiten. Neben der Arbeit für Arabia begann Franck auch eine Zusammenarbeit mit den Glashütten Iittala und Nuutajärvi – beide mit wichtigen Produkten; diese klangvollen Markennamen sind allesamt Namen der Ortschaften, in denen die Betriebe ansässig sind. Die Karaffe für Iittala und das Gläserset „Kartio“ („Kegelstumpf“) werden seit 1958 produziert und haben in dieser Zeit nichts von ihrer Überzeugungskraft verloren. Franck sagte 1965: „Auch Design für die Serienfertigung darf die Menschen nicht langweilen. Es muss so prägend sein, dass es Jahre und Dekaden überdauert, aber so unaufdringlich, dass die Verbraucher nicht nach dem Designer fragen. Die Fabrikmarke sollte als Herstellerangabe reichen.“16 Sowohl eine Bestätigung seines Weges wie weitere Inspirationen erhielt Franck 1956 durch eine Reise nach Japan, als er sich mit besonderer Aufmerksamkeit für die traditionelle Gartengestaltung interessierte. Dass eine „erfühlte“ Schlichtheit erfüllt und erfüllend sein kann – seine derartige Überzeugung erhielt in Japan weitere Nahrung. Die Keramikerin Ulla Prokopé, die ebenfalls für Arabia arbeitete, griff mit ihren Entwürfen hingegen auf die ländliche Welt Suomis zurück und ließ damit eine Saite anklingen, die eher gemütvolle Wärme, Herzlichkeit und Geborgenheit konnotierte. Die Auszeichnung, die sie 1960 von der Mailänder Triennale für ihre Arbeit erhielt, bezeugt die international wirkende Überzeugungskraft auch solchen finnischen Designs mit seiner sensiblen Rusti­ kalität. Dies lässt sich auch vom Eigenbild des finnischen Designs für die ­F innen selbst sagen, für dessen Herausbildung die Schaufenstergestaltung des Warenhauses Stockmann in Helsinki während der Sechzigerjahre wichtig war: Sie zeigte den Finnen, wer sie waren.17 Die schwedische Firma IKEA griff diese Handschrift ein Jahrzehnt später auf, wenn auch in derberer Form, und errichtete ihr Profil wesentlich darauf. Timo Sarpaneva, ein Gestalter, der mit seinen Entwürfen für die Firma I­ ittala bekannt geworden ist, verarbeitete auf besonders feine Weise Elemente einer bäuerlichen Tradition in seinen Entwürfen. Die gusseiserne, außen mattschwarz, innen weiß emaillierte Kasserole mit dem vertieften Deckel (Entwurf 1960, Modell „Sarpaneva“) weist zwei hochgezogene Henkelösen auf, 269

Abb. 130: Timo Sarpaneva: Kasserole aus Gusseisen, innen weiß emailliert. Der Griff dient sowohl zum ­Abheben des Deckels, als auch – wenn beidseitig eingehängt – als Traggriff. Seit 1960 in Produktion.

durch die ein geschweifter genuteter Massivholzgriff gesteckt wird, an dem hängend die Kasserole getragen wird – so wie man die längste Zeit einen Topf vom Feuerhaken genommen hat. Eine halbkugelförmige Vertiefung im Deckel ist mit einem schmalen Mittelsteg versehen, woran sich der Deckel mit dem Holzgriff einhängen lässt, ohne dass man sich die Finger verbrennt. Vorindustrielle, ja atavistische Elemente verbinden sich in diesem Gegenstand mit einem subtil reduzierten modernen Formensinn – ähnlich, wie dies im nächsten Kapitel über japanische Gestaltung gewürdigt wird. Gläserne Kerzenständer aus dickem Glas, ein anderer Entwurf Sarpanevas für Iittala, ­dokumentieren dieselbe Haltung, in der rustikale Attribute in die Neuzeit übersetzt sind. Was Giedion über Aalto sagte, trifft auch auf Sarpaneva zu: „Das Differenzierte und das Primitive bilden Komplemente, […] weil dort [in Finnland] Mittelalter und Urzeit lebendig geblieben sind und sich mit der westlichen Kultur verbinden.“18 Schweden: rational und zuverlässig Vorsichtig formuliert, sind die erwähnten Gestaltungen aus Finnland eher ein Zeichen von Individualismus – sei es der Gestalterinnen oder der Käufer –, während schwedische Produkte eher eine Breitenwirkung erreichen. Der klarste Fall für Letzteres ist natürlich ist der IKEA-Konzern, für dessen 270

Abb. 131: Karin und Lasse Strinning: String-Regal, 1959. Dieses Möbel war international ein großer ­Erfolg; zerlegt in einer Schachtel verkauft, war es ein direkter Vorläufer des IKEA-Konzepts.

Konzept es im Kleinen einen Vorläufer gab: das „String“-Bücherregal aus dem Jahr 1949. Dieses leichtgebaute, ebenso minimalistische wie leistungsfähige Kleinmöbel entwickelte sich in den 1950er-Jahren zu einem Verkaufsschlager in ganz Westeuropa. Es war ein unkonventioneller Entwurf, mit dem das junge Stockholmer Architektenpaar Karin und Nisse (Nils) Strinning einen Entwurfswettbewerb des Verlagshauses Bonnier für ein speziell für Taschenbücher geeignetes Regal gewannen. Dessen Charaktermerkmale waren die leiterähnlichen Seitenteile aus Eisendraht zum Einhängen der Tablare und der Postversand in einer Schachtel. Das Konzept der Selbstmontage wurde später von IKEA weitergeführt.19 Der IKEA-Gründer Ingvar Kamprad begann 1947 mit dem Aufbau seiner Firma, die mit ihrem Entwicklungs- und Vertriebskonzept das Einrichtungsgeschäft und den Möbelhandel revolutionieren sollte. Aus dem Gedanken, dass die Kunden das Produkt als Bausatz kaufen, es selbst nach Hause trans­ amprads portieren und es dort montieren, wurde eine Milliardenindustrie. K Ziel war die konsequenteste Verbindung von Qualität und Preisgünstigkeit. Er sprach davon, die Einrichtung „demokratisieren“ zu wollen: „Schweden hat sich als Vorläufer erwiesen bei der Schaffung von Neuem im Hinblick auf ‚normale Sterbliche‘ als Endverbraucher – für alle, deren Mittel begrenzt sind.“20 Doch „Optimierung“ ist nicht „Maximierung“, sondern bedeutet 271

Abb. 132: Sixten Sason: Mittelklassewagen Saab 93, Grundentwurf 1946, ­Aufnahme1961. Der Schritt des Flugzeugbauers Saab in die Automobil­ produktion verlieh den Saab-Modellen von Anfang an ein spezifisches Profil von unkonventionellem engineering. (Foto AB Saab)

immer auch „Relativierung“, Relativierung der Qualität. In Kamprads Wortlaut liest sich das so: „Bei Arbeitsplatten muss die Oberfläche stabiler sein als bei Bücherregalbrettern. […] Eine teurere Oberflächenbehandlung für das Regalbrett schadet dem Kunden, weil sie sinnlos mehr kostet. Die Qualität muss sich langfristig immer den Interessen des Kunden anpassen.“21 Ob dies tatsächlich stimmt, ob es nicht doch eigentlich im Interesse des Kunden wäre, für einen Gegenstand etwas mehr auszugeben als unbedingt nötig, dafür sich länger an ihm zu erfreuen – das ist eine Frage, die im Grunde von der Sub­ stanz des skandinavischen Designs selbst her bejaht werden kann. Der bekannteste schwedische Industriedesigner war Sixten Sason, bekannt geworden durch seine Entwürfe für die Automarke Saab von 1946 bis 1968 (Saab 92, 93, 96, 99). Der Flugzeughersteller Saab (Svenska Aeroplan Aktiebolaget) baute seit 1940 selbst entwickelte Flugzeuge zur Luftverteidigung und Hubschrauber und begann kurz nach dem Krieg mit dem Aufbau einer zahlenmäßig zuerst bescheidenen, dann wachsenden Automobilproduktion. So entstand der technisch und formal höchst eigenständige, qualitativ hochwertige Saab 92, ein Auto der unteren Mittelklasse mit Frontantrieb und 272

Abb. 133: Die Mittelformatkamera Hasselblad 1600 F, konstruiert von Victor Hasselblad, gestalterisch ausgearbeitet von Sixten Sason, 1952. Mit einer Hasselblad-Kamera fotografierten die Astronauten des Apollo-Programms vom Mond aus die Erde (vgl. Abb. 163).

konsequent aerodynamischer Karosserie, das 1950 als Modell 92 in Serie ging und bis 1968 modifiziert und weiterentwickelt wurde. Sason entwarf auch das markante, ganz unterschiedlich aufgefasste und größere Nachfolge-Modell 99 (1968), den Grundentwurf für wiederum für Jahrzehnte. Aber unter anderem auch die Hasselblad-Mittelformat-Fotokamera, welche die US -amerikanischen Apollo-Crews auf ihren Mond-Missionen begleitete und die phänomenalen Bilder der Erde, von außen gesehen, lieferte, und ein langjährig produzierter Schlittenstaubsauger für Electrolux stammten aus Sasons Hand. Das kleine Schweden brachte mit Volvo (gegründet 1926) eine weitere Automarke zu Weltruf. Die beiden Marken bezogen sich auf gegensätzliche Referenzen: Wenn Saab eindeutig vom Flugzeugbau geprägt war, dann Volvo implizit von einer traktorgleichen Robustheit. Beide Marken waren für die harten winterlichen Verhältnisse des skandinavischen Heimmarkts entwickelt worden. Von ihm aus arbeiteten sie sich nach 1960 als Qualitätsprodukte in immer mehr Länder vor, gerieten aber nach der Jahrtausendwende auf dem Weltmarkt unter immer stärkeren Konkurrenzdruck.22 In konstruktiver Hinsicht – anders als Saab – konventionell, in ästhetischer Hinsicht wenig, in qualitativer Hinsicht jedoch sehr ambitioniert (umfassender Korrosionsschutz), verband Volvo mit dem Konkurrenten Saab das Qualitätsbewusstsein und der Ehrgeiz, technisch langlebige, sicher zu fahrende und an der 273

behaupteten aktuellen Mode uninteressierte Fahrzeuge zu bauen. Vom Volvo-­ Gründer Gabrielsson heißt es, sein Grundsatz sei gewesen, dass ein Volvo ­äußerlich nicht gefällig sein dürfe, oder anders ausgedrückt: ungefällig sein müsse. Vielleicht ist das einfach gut erfunden. Aber diesen kommerzkritischen Trotz gab es, Spuren davon finden sich noch heute, und darin wird eine geistige Unabhängigkeit erkennbar, die vielleicht so etwas wie die Herztöne skandinavischen Eigensinns hören lässt.23

274

Anmerkungen

19 Wie Anm. 3, S. 541 20 Ingvar Kamprad: „Den Menschen einen besseren Alltag schaffen …“ IKEA-Memorandum, 20. Dezember 1976, o. S.

1

2

Die finnische Sprache gehört im Unterschied zu

21 Ebd.

­Dänisch, Schwedisch und Norwegisch nicht zum

22 Die Volvo Car Corporation wurde 1999 an die Ford

nordgermanischen Zweig der indogermanischen

Motor Company verkauft und wurde 2010 vom chi-

Sprachfamilie, sondern zur uralischen Sprach­familie.

nesischen Konzern Geely übernommen. Die Auto-

Vgl. Wolfgang Fritz Haug: Kritik der Warenästhetik. Frankfurt a. M. 1971 (Suhrkamp)

3

marke Saab ging 2012 unter. 23 Volvo führte schon 1944 Verbundglas für die Wind-

Die Produktion des Tripp Trapp-Sessels erfolgt in

schutzscheibe ein und war die erste Marke, die

Schweden. Siehe Mateo Kries/Joachim Eisenbrand

1959 serienmäßig Dreipunkt-Sicherheitsgurte

(Hrsg.): Atlas des Möbel-Designs. Weil am Rhein

­einbaute.

2019, S. 522 4

Hinweis von François Renaud, Zürich

5

Alfred Roth: „Arne Jacobsen. Anmerkungen zu ­Persönlichkeit und Werk“, in: Arne Jacobsen. Architektur – Gebrauchsgerät, Zürich 1962, S. 4

6

Diesen Hinweis verdanke ich Frida Grahn, Architektin (Zürich).

7 8

Artek wurde 2013 von Vitra übernommen. Vgl. Sigfried Giedion: Space – Time – Architecture (1940), dt. Ausg. Raum – Zeit – Architektur, ­Ravensburg 1965, S. 387 f.

9

Penny Sparke: Design im 20. Jahrhundert. Die ­Eroberung des Alltags durch die Kunst. Stuttgart 2001, S. 56–59

10 Ake Stavenow/Ake Huldt: Design in Sweden. ­Stockholm 1961, S. 14 11 Klaus Naeff: „Vom dänischen Möbelbau“. In: Werk Nr. 4/1954, S. 124 12 Ebd., S. 121 13 Alan Bullock: „Mit Arne Jacobsen an der Arbeit“. In: Arne Jacobsen. Ein dänischer Architekt (Gedenkschrift, hrsg. vom Königlich Dänischen Ministeriums des Äußern), Kopenhagen 1971, S. 53 14 Arne Jacobsen in einem Interview 1971, zit. Neue Zürcher Zeitung, 09.02.2002 15 Wikipedia, Kaj Franck, aufgerufen 2020–01–25 16 Kaj Franck, in: Kaunis Koti („Schönes Heim“), 1965, zit. nach Christophe Bruchansky: „Kaj Franck on Serial Production and Anonymity“, Juni 2011 (Memento vom 31. Dezember 2011 im Internet Archive) 17 Für die innovative Schaufenstergestaltung von Stockmann zeichneten ab etwa 1962 die aus der Schweiz stammenden Hans Hildebrand und Willy Welti verantwortlich. Hinweis von Hansrudolf Frey, Stein am Rhein. 18 Wie Anm. 8, S. 377

275

X-26  Über Kontraproduktivität

Die folgenden Überlegungen stehen einmal nicht in einem besonderen Zusammenhang mit dem vorangegangenen Kapitel, dem Versuch, ein Charakterporträt der skandinavischen Gestaltung zu zeichnen. Eher im Gegenteil. Weil Design nicht nur das ist, was als Gegenstand hervortritt, sondern auch, was Menschen damit tun, stellt sich stets die Frage, ob das Damit-Tun mit dem So-Sein in Übereinstimmung steht, oder ob die beiden Aspekte auseinandertreten. Eine solche Inkongruenz zwischen dem Anspruch des Gegenstands und dem Effekt seines Gebrauchs ist bedauerlich, wenn dies in Form von Kontraproduktivität passiert. (Hätte ich doch für die zwei Stockwerke gleich die Treppe genommen, statt, um Zeit zu sparen, minutenlang auf den Lift zu warten!) Kontraproduktivität ist das Zeichen für das Verfehlen eines Ziels. Als Ziel kann von den Gestaltern etwa eine hohe Umweltverträglichkeit des Gegenstands gemeint sein oder eine betonte Sozialverträglichkeit. Wenn solche Ziele verfehlt werden, ist dies ein kommunikatives Versagen zwischen denen, die eine Absicht verfolgen, und jenen, die durch den Gebrauch des Gegenstandes den gegenteiligen Effekt hervorrufen. Denn nicht immer liegt der Fehler bei den Gegenständen selbst und ihren Entwerfern, sondern oft in der Art und Weise des Gebrauchs von Objekten. Wie wiegt man die Qualitäten des Gegenstands und jene seines Gebrauchs gegeneinander auf? Eine schwierige Frage. Wie weit reicht die Verantwortung der Gestalter und der Produzenten und wie weit in der umgekehrten Richtung die der Konsumenten und Verbraucher? Bei Gegenständen, die als Gegenstände an sich schon „unvernünftig“ sind, liegen die Dinge einfacher als bei vernünftig gemeinten Gegenständen. Es gibt den immer etwas fragwürdigen Satz: ‚Der Erfolg gibt uns recht.‘ Wie würde die umgekehrte Entsprechung dazu lauten? „Am Misserfolg ist nicht das Konzept des Gegenstands schuld, sondern was wir aus ihm gemacht haben.“ (Und anzufügen ist: Manchmal doch auch der Hersteller, der zu wenig Geduld mit seinem Produkt hatte und es zu früh vom Markt nahm, noch bevor das Publikum sich damit befreunden konnte.) Doch gibt es vielleicht auch 276

hier einen Zusammenhang zwischen den beiden Polen. Ein Indiz hierfür ist die Kontraproduktivität. Kontraproduktivität liegt dann vor, wenn anstelle eines geplanten Szenarios ein unwillkommener Nebeneffekt resultiert. Wenn ein Eisenbahnzug konstruiert wird, dessen Neigetechnik die Fahrt nicht ruhiger, sondern unruhiger macht. (Dies, weil schon die leichteste Seitwärtsbewegung der Waggons bei Geradeausfahrt von der Elektronik sofort als Kurve interpretiert und durch eine Gegenbewegung korrigiert wird, sodass der Zug auch bei Geradeausfahrt dauernd im Korrekturmodus ist; Effekt: Übelkeit der Fahrgäste.) Oder: Staubsauger, die sich als Staubschleudern herausstellen; hochgezüchtete Automotoren, die elektronisch abgeriegelt werden müssen, um das Auto nicht gemeingefährlich zu machen; die Klimaanlagen, bei denen der Kühleffekt, den sie im Innern erreichen, von der spiegelbildlichen zusätzlichen Aufheizung des Außenraumes begleitet ist; Sonnenbrillen mit so dunklen Gläsern, dass sich die Pupillen weit öffnen, wodurch die ins Auge gelangende UV-Strahlung den Schutzeffekt mehr als aufwiegt. Stapelbare Trinkgläser mit einer zu geringen Konizität, sodass die Stapelhöhe zwischen zwei Gläsern zu groß wird, als dass sich das Stapeln noch lohnen würde. Ein kostspieliges und exquisit aussehendes Leichtgewichts-Fahrrad aus Karbon, für dessen Diebstahl­ sicherung man einen massiven Stahlbügel benötigt, der die Gewichtsersparnis i­ llusorisch macht. Kontraproduktivität ist ein heimtückisches Phänomen. In der Wirtschaftstheorie kennt man in diesem Zusammenhang den Begriff des abnehmenden Grenznutzens, der für das Erkennen von Kontraproduktivität eine entscheidende Rolle spielt. Fliegen ist schneller als die Eisenbahn, doch die Fahrt zum Flughafen, die Sicherheitschecks und das angespannte Warten beim Boarding, macht die Zeitersparnis weitgehend zunichte. Ab welcher Reisezeit sich das Fliegen nicht mehr lohnt? Dafür haben wir ein recht sicheres Gespür. In vielen anderen Fällen fehlen uns ohne eine entsprechende Erfahrung auch die wissenschaftlichen und technischen Grundlagen für diese Einschätzungsfähigkeit. Umso wichtiger, dass das Problem der Kontraproduktivität sowohl bei der Entwicklung von Gegenständen als auch im Umgang mit ihnen gebührende Aufmerksamkeit erhält. 277

27 Das spezifische Gewicht von „Wenig“ Gestalterische Praktiken im traditionellen und modernen Japan

Man hört oft, dass das Inselreich Nippon sich erst in der Meiji-Epoche (im 19. Jahrhundert) „der Welt geöffnet“ habe. Was war vorher? Japan war im Austausch mit China, Korea und Indien, verwandelte Inspirierendes in unverwechselbar Eigenes. Auch Impulse aus Europa unterlagen der Aneignung. Der chinesische Einfluss auf Japan war beträchtlich, auch der indische, besonders über den Buddhismus. Erst im frühen 17. Jahrhundert ging das Land in eine über zweihundertjährige Isolation auch gegenüber seinen Nachbarn, die der Kaiser Mutsuhito (Regierungszeit 1860–1912) beendete und in die sogenannte Meiji-Zeit münden ließ. In deren Verlauf unternahm das Land große Anstrengungen zu einer Modernisierung und Industrialisierung, ­wobei es sich stark an Preußen beziehungsweise am Deutschen Reich orientierte. Beide Länder, Deutschland wie Japan, fühlten sich bei diesem Prozess als „verspätete Nationen“ und in einer Art von Solidarität verbunden.1 Japan und der Westen lernten beide voneinander. Im Verlauf dieser ost-westlichen Austauschprozesse entdeckte der Westen in der japanischen Gestaltung eine Modernität genuiner Ausprägung und von überzeitlicher Geltung. Die englischen Arts and Crafts und der Jugendstil sind ebenso Ausdruck des fern­östlichen Einflusses wie das Frühwerk Frank Lloyd Wrights, der zudem ­jahrzehntelang einen schwungvollen Handel mit japanischen Farbholzschnitten betrieb. Der sichelförmige Archipel Japans liegt hauptsächlich in einer subtropischen Zone. Im Sommer ist es heiß und feucht, im Winter kann es kalt werden; die traditionellen Materialien Holz, Reisstroh und Papier helfen die Feuchtigkeit regulieren, die Kultur richtet sich nach der warmen Jahreszeit aus, man erduldet die Härte des Winters und begrüßt mit der Kirschblüte dessen Ende.

278

Wertvolle Sparsasmkeit Texte über das traditionelle Japan beginnen bisweilen mit dem Hinweis auf die „leeren Räume“ der Häuser, die nur wenige Gegenstände enthalten: ein in den Boden eingelassenes Kohlebecken als Wärmequelle, eine Bildrolle in der Nische mit der Bezeichnung Tokonoma, ein niedriger Tisch als Ablagefläche, der eine oder andere Lampion – für Kerzen oder elektrifiziert –, ein papierbespannter Fächer aus feinen Bambusstäbchen, und am Boden die TatamiMatten aus Reisstroh, nach deren modularem Grundmaß die Räume gebildet sind.2 Die traditionellen Tatami in Kyoto messen 0,95 mal 1,90 Meter und gestatten mit ihrem Seitenverhältnis von 1:2 Variationen in ihrem Layout bezüglich ihrer Längs- oder Querrichtung. Dieser Richtungswechsel verändert die Raumwirkung durch die unterschiedlichen Effekte des Gegenlichts auf ihrer Oberflächenstruktur. Das scheinbar „Wenige“ und der subtile Umgang damit hat in der japanischen Kultur ein höheres spezifisches Gewicht als womöglich irgendwo sonst auf der Welt. Das traditionelle japanische Wohnhaus und die Gestalt der darin befindlichen Gegenstände, die „Leere“ der Räume und die Sparsamkeit im Umgang mit den Gegenständen, bilden ein unauflösliches Korrelat. Bisweilen wird, auch von Kennern mit Bewunderung ausgesprochen, diese „Leere“ als „Schmucklosigkeit“ apostrophiert.3 Dieses ­Attribut ist jedoch missverständlich. Die Bezeichnung „Ungeschmücktheit“ ist zutreffender. Nach westlichem Verständnis ist diese Unterscheidung nicht so leicht zu begreifen. Im Zen-Buddhismus hingegen ist sie essenziell: Die Abwesenheit von etwas – im Zen: die Kategorie des mu – bedeutet nicht dessen „Fehlen“. Vielmehr ist die Ungeschmücktheit der Schmuck, sie bedeutet, dass der Gegenstand des Schmucks nicht bedarf. Der Philosoph und Schriftsteller Soetsu Yanagi betont diesen Sachverhalt mit der Feststellung: „Mu bleibt das wichtigste, tiefste, fundamentalste der künstlerischen Prinzipien. Japan sollte, so denke ich, aus diesem Prinzip eine Gabe an den Westen machen.“4 In der traditionellen japanischen Auffassung liegt der Schmuck auch in der Rhythmisierung von Gleichartigem, in der Periodizität eines Motivs und im p ­ atterning, nicht aber wie in der abendländischen Auffassung in der Heraushebung eines bestimmten Motivs. So etwa bei einer Umfriedung aus Bambusrohr oder auch beim feingliedrigen Holzleistenraster der Shoji-Türen. Im Akzent auf dieser tradierten 279

Abb. 134: Haushaltgegenstände und Küchenutensilien: etwa Trichter, Mörser, Bambusrohr zum Besprühen von Pflanzen. Die darstellerische Prägnanz ist ein Zeichen auch für den direkten Zugriff auf die Funktionsweise des Gegenstandes. (Rudofsky, The Kimono Mind)

280

Abb. 135: Porzellanschalen mit Fischernetz-Dekor: ein pattern, ein repetitives Flächenmuster ohne Hauptmotiv, jedoch als Zeichen von subtilem Reagieren auf die Volumetrie der Gefäße.

„Leere“, die wie erwähnt mehr ist als die Abwesenheit von etwas, liegt allerdings keine geringe ironische Pointe angesichts des grellen Kontrasts zu den heutigen kleinen, mit Gegenständen überfüllten Wohnungen im modernen Japan. Die Parallelspannung zwischen den beiden Realitäten – der ruhmreichen, im Zen-Buddhismus gründenden Tradition und der energischen Modernität dieses Landes – ist eine Tatsache, die dem hier Beschriebenen innewohnt. Denkt man beim Wort „Design“ im Westen reflexartig an Möbel, ist dies beim traditionellen japanischen Wohnraum anders. Es gibt darin nur sehr sparsam Möbel. War die Druckempfindlichkeit der Tatami-Matten der Grund dafür? Nein – das wäre wieder eine westliche Hypothese. Es ist umgekehrt: Tatami machen Möbel nach westlicher Auffassung unnötig; sie liegen dem Futon zugrunde – dem traditionell-japanischen Bett – und sie ersetzen in gewisser Weise die Stühle, da es sich auf den Bodenmatten sitzen und knien lässt; der niedrige Tisch war eine Ausnahme.5 Bernard Rudofsky (→ Kap. 29) würdigt die Tatami-Matten mit diesen Worten: „Tatami, jener exquisite Fußbodenbelag, der ununterschiedlich für Wohnhaus, Tempel und kaiserlichen Palast Verwendung findet, ist nicht nur eine einzigartig demokratisch-aristokratische Errungenschaft, sondern bedingt auch architektonische Einheitlichkeit. […] Ihres Wohlgeruchs wegen hat man sie mit einer Wiese verglichen.“6 Freistehende Schränke gab es nicht, Stauraum (mit Schiebetüren) war ebenso aus der innen liegenden Raumbegrenzung gebildet wie ein Regal für Bücher und Kleingegenstände. Die angesprochene „Leere“ ist aus japanischer Sicht vielmehr die Abwesenheit von unnötiger Fülle. 281

Abb. 136: Traditionell ­japanischer Innenraum im Kloster Daigaku-ji, Kyoto. Der Lacktisch ist der einzige Gegenstand im Raum, ­dessen scheinbare „Leere“ er aktiviert, sodass von eigentlicher Leere nicht gesprochen werden kann.

Eine einprägsame Charakterisierung des Unterschieds von westlicher und japanischer Raumauffassung kommt vom Kunstkritiker Masaru Kazumie (1960): „Der Europäer hat Jahrtausende lang nach der Devise my home is my castle solide Steinbauten hingestellt, deren Wände ihn von der unsicheren Außenwelt abtrennten. Um sich das Höchstmaß an Zurückgezogenheit zu sichern, baute er auch die Wände innerhalb der Häuser dick und solide. Der Japaner betrachtet seine Wohnung nicht als einen von der Natur abgetrennten Raum. Wenn er sein Haus baut, denkt er zuerst an Pfosten und Balken. Die Flächen dazwischen werden nach den Bedürfnissen der Hausbewohner eingeteilt, durch dünne Lehmwände mit Bambusgeflecht, durch Schiebe­t üren und Zwischenwände aus Papier. Mit diesen gestaltet er seinen Raum flexibel, mit ihnen regelt er Beleuchtung und Lüftung. Im Sommer schwächt er mit luftdurchlässigen Bambusvorhängen, Sudare genannt, das Sonnenlicht ab. Wenn er will, kann er das ganze Haus in einen einzigen Raum verwandeln, indem er die Schiebetüren und Papierzwischenwände (Fusuma und Shoji) entfernt. Wir sehen, dass der Japaner auf diese Weise seinen Wohnraum nach den Gegebenheiten einrichten kann.“7 Bruno Taut formulierte es 1937 so: „Das japanische Zimmer aber bleibt sonst [abgesehen von der Bildnische Tokonoma] neutral. Keine Erinnerungen bleiben in dunklen Ecken haften, die westliche ‚Gemütlichkeit‘ fehlt, es fehlen die 282

vielen Möbel, Teppiche, Vorhänge, Decken, Kissen, Bilder, Tapeten … Wie der ganze Raum durch völliges Öffnen nach außen ausgelüftet wird, so auch jene den Wänden, Winkeln und Ecken anhaftenden Erinnerungen, die sich in sie wie in einen weichen Teig eingedrückt haben und die Bewohner allzu leicht bedrücken.“8 Vielleicht wundert sich die Leserin, der Leser über das Gewicht, das in diesem Kapitel der (Innen-)Architektur eingeräumt wird. Doch dies hat seinen Grund: Gestaltung (Design) im traditionellen Japan ist enger mit Raumgestaltung verbunden als sonst in der Welt. Wenn die Anzahl der reizerzeugenden Elemente verringert ist, wird das einzelne Element wichtiger. Von Bedeutung in der japanischen Gestaltungsweise ist auch das E ­ lement des Ordnungsmusters. Die Tatami schreiben dem Grundriss des Hauses ein solches Muster ein; ebenso die fein aufgeschnittenen Bambusstäbchen dem papierbespannten Fächer oder das filigrane Stabwerk dem Papierschirm gegen Sonne, Schnee oder Regen. Der gusseiserne Teekessel weist ein regelmäßiges Muster von Höckern auf, die seine Oberfläche vergrößern und so zur lokalen Erwärmung des Raums beitragen. Eine Teeschale aus Porzellan ist mit einem regelmäßigen Netz feiner Linien bemalt, die an ein Fischernetz erinnern sollen. Der Zaun aus Bambus ist aus rhythmisierten und kunstvoll verschnürten Elementen gemacht. Solche repetitiven Muster enthalten und verdeutlichen gleichsam den ruhigen Atem der Materialien, aus denen ein Gegenstand besteht. Das japanische Wort dafür ist „moyou“. Im folgenden Zitat des Schriftstellers Soetsu Yanagi – einer Übersetzung aus dem Englischen – ist das Wort „pattern“ übernommen, weil es besser als das deutsche „Muster“ eine strukturelle Dimension des Begriffs mit enthält, die für das japanische Verständnis wichtig ist. Yanagi schreibt: „Da ein Pattern die Abbildung der ihm eigenen Natur eines Objekts ist, ist es auch, was von der Form eines Objekts übrig bleibt, wenn alles Unnötige entfernt worden ist. Mit anderen Worten: es ist eine Vereinfachung; das Pattern tritt hervor, wenn das Exzessive getilgt und nur das Essenzielle übrig geblieben ist. Es gibt nichts Überflüssiges; es ist eine Aussage ohne Worte, konzis und bündig. Was nicht genügend vereinfacht worden ist, ist noch kein Pattern. In diesem Sinn sind Patterns nicht eine Form von Dekoration, vielmehr ein Ausdruck von NichtAusgeschmücktheit (non-adornment). Doch wir dürfen diese Schlichtheit 283

nicht als grob behauene Weglassung verstehen. Im Verständnis von Zen ist sie eine ‚alles umschließende Leere‘. Sie umfasst alles und bedeutet alles. Je größer die ihr unterlegte Bedeutung, desto größer ihre Lebendigkeit. Ein Pattern ist Bewegung in der Ruhe, ein Zustand, in dem sich Gegensätze auflösen. Es gibt kein Pattern ohne Ruhe – es gibt kein Pattern ohne Bewegung.“9 Diese faszinierende Sichtweise, ein aus Zen und dem Shintoismus kommendes Verständnis von Ästhetik, wurde im 20. Jahrhundert auch von der westlichen Avantgarde übernommen, etwa von Kasimir Malewitsch und Piet Mondrian. Der japanische Begriff dafür, „muji“, wörtlich für „Bodenlosigkeit“, bedeutet mit höchster Sensibilität gepaarte Schlichtheit.10 „Wenn das japanische Dach ein Schirm ist, ist das europäische Dach nur ein Hut“, schreibt der Schriftsteller Junichiro Tanizaki in seinem Essay Lob des Schattens (1933).11 Und weiter: „Wenn wir einen Wohnsitz errichten, breiten Abb. 137: Traditionelle Verpackung von fünf Eiern, bisweilen noch bis in die Siebzigerjahre so angeboten auf dem Frischmarkt, heute wohl ganz verschwunden.

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Abb. 138: Fächer aus Papier und Bambus: Die extreme Feingliedrigkeit ist ein Sinnbild für die traditionelle japanische Art, zu gestalten. Die zusammenklappbare Kopfstütze, aus einem Stück Holz gefertigt und gelenkig ­gemacht, Zeichen staunenswerter handwerklicher Fertigkeiten.

wir vor allen Dingen den Schild eines Daches aus, beschatten damit ein abgemessenes Areal auf dem Erdboden und konstruieren das Haus in diesen dämmerigen Schattenbezirk hinein.“12 Das Dach beschützt die mit Maulbeerpapier bespannten lichtdurchlässigen Schiebewände in der Außenwand, und es nimmt den Innenräumen die zu große Helle. Hier liegt eines der Hauptmissverständnisse in der westlichen Japan-Rezeption: Mies van der Rohe und Gropius, um nur sie zu nennen, ging es um die Luftigkeit dieser Architektur, die sie als strahlende Helligkeit sahen, als ein ständiges In-der-Sonne-­ Stehen.13 Lesen wir Tanizaki, geht es ihm viel mehr um die Dunkelheit, die Dämmerung und die Verschattung; immer wieder kommt er auf die „unergründliche Tiefe“ von Gegenständen aus schwarzem Lack zu sprechen, 285

etwa die Lackschale, die weich in der Hand liegt und in deren schimmerndem Dunkel der Tee seinen Duft entfaltet oder die Misosuppe dampft.14 Und er schreibt: „Es ist in der Tat berechtigt, ‚Dunkelheit‘ zu den notwendigen Bedingungen zu rechnen, wenn die Schönheit einer Lackarbeit beurteilt werden soll […]. Heute stellt man zwar auch so etwas wie ‚weißen‘ Lack her, doch die Oberfläche der seit alters gebräuchlichen Lacke ist schwarz, braun oder rot; es sind Farben, in denen sich ‚Dunkelheit‘ in mehreren Schichten abgelagert hat und die, so darf man annehmen, notwendigerweise aus dem Dunkel ihrer Umgebung heraus entstanden sind.“15 Wenig später lesen wir: „Als ob zahlreiche Rinnsale über die Tatami flössen und sich zu einem stehenden Gewässer sammelten, so nimmt der Lack da und dort einen Lichtstrahl auf, leitet ihn dünn, diffus und flackernd weiter und webt ein Muster in die Nacht selber hinein, ähnlich dem einer Lackmalerei.“16 Tanizaki macht uns auch auf das Aufglimmen eines Gold-Ornaments auf einer tief im Dunkel des Hausinnern liegenden Schiebetüre aufmerksam, wo eine Kerze das Dunkel eher noch verstärkt als es aufhellt.17 Auch auf die Beschaffenheit von Papier und seine Ausdrucksintensität beziehungsweise -armut kommt Tanizaki zu sprechen: „Das Papier ist, so heißt es, eine Erfindung der Chinesen. Wenn wir westliches Papier vor uns haben, empfinden wir nichts, außer dass es sich um einen einfachen Gebrauchsgegenstand handelt. Wenn wir jedoch die Musterung von China- oder Japan-Papier betrachten, so spüren wir darin eine Art Wärme, die unser Herz beruhigt. Auch wenn alle Sorten weiß sind, so ist doch die Weiße des westlichen Papiers verschieden von der Weiße des dicken japanischen Hosho-Papiers oder des weißen China-Papiers. Die Oberfläche des westlichen Papiers scheint die Lichtstrahlen gleichsam zurückzuwerfen, während das Hosho- und das China-Papier wie eine Fläche weichen, frisch gefallenen Schnees die Lichtstrahlen satt in sich aufsaugt.“18 Licht und Dunkelheit, Duft, Wärme und Weichheit, ja sogar das Geräusch von Regen- und Tautropfen sind wesentliche Elemente der traditionellen Ästhetik Japans – und damit synästhetische sinnliche Erfahrungen, wie sie sonst in der Welt selten so gepflegt und formuliert worden sind. Die Verfeinerung des Buddhismus im Zen ist ein Stichwort; Zen als die Kunst, aus wenig viel zu machen. Bruno Taut sagt es so: „Die Form, das Produkt der Kunst, entspringt 286

aus dem Gefühl, und wenn das Gefühl Zeit und Ruhe hat, sich zu konzen­ trieren, so pflegt es schließlich sehr bestimmt zu bejahen oder zu verneinen. Die schöne Form, so verborgen ihre Quellen sind, wird dann zur objektiven Tatsache.“19 Wenn hier von „Gefühl“, „Zeit“ und „Ruhe“ die Rede ist, liegt allerdings eine Bruchstelle zur modernen Welt vor. Wie konnte das Land sie ­u mgehen oder überwinden? Antwort: Indem Japan es nicht zum Bruch kommen ließ und nichts „überwinden“ wollte, sondern einen zweiten Schauplatz eröffnete. Die Moderne ist – oder war es zumindest im 20. Jahrhundert – eine metallische Welt. Japan verleugnete nicht die bisherige eingeschränkte Bedeutung von Metall in seiner Kultur, doch es realisierte, dass es dies nicht der modernen Welt anbieten konnte. Tanizaki huldigt in einer Textpassage dem, wofür es den Ausdruck „wabi – sabi“ gibt: die Würde, welche die Spuren der Zeit und des langjährigen Gebrauchs einem Objekt verleihen: „Im Westen verwenden die Leute unter anderem für das Besteck Silber und Stahl und Nickel und polieren es, damit es möglichst glitzert, aber wir haben eine Abneigung gegen solche funkelnden Gegenstände. Zwar braucht man auch bei uns gelegentlich Wasserkessel, Sake-Schalen und -Flaschen aus Silber, doch nie werden sie so poliert. Im Gegenteil, man freut sich, wenn der Ober­ flächenglanz verschwindet und sie mit dem Alter schwarz anlaufen.“20 („Ibu­ shigin“, angelaufenes Silber, lautet auch ein Schönheitskompliment für reife Frauen.)21 Und Tanizaki fährt fort: „Man kann nicht sagen, dass wir ganz allgemein glänzende Dinge ablehnen; doch einem seichten, hellen Glanz ziehen wir ein vertieftes umwölktes Schimmern vor. Sei es ein natürlicher Stein oder ein künstlich geschaffenes Gerät, es geht uns um einen von Trübungen gedämpften Glanz, der unfehlbar mit der Vorstellung einer Alterspatina zusammenhängt.“22 Was für die tradierte Auffassung galt und gilt, brauchte in Japan allerdings nicht für die Anforderungen an die Industrie zu gelten. Industriell hergestellte Güter können glänzen und gleißen wie im Westen, ohne dass ­darin ein opportunistisches Verhalten der Japanerinnen und Japaner zu erkennen ist. Es sind ganz einfach zwei getrennte Sphären, zwischen denen sie jederzeit zu unterscheiden und zu wechseln vermögen. Bruno Taut wurde 1933 vom japanischen Staat eingeladen, um Betriebe und Institutionen über Anforderungen und Möglichkeiten industrieller 287

Gestaltung zu instruieren. Das Ministerium für Handel und Industrie beabsichtigte seit 1928 die Entwicklung einer leistungsfähigen Exportwirtschaft. Tauts von den Japanern dankbar aufgenommener Beitrag wurde hier schon erwähnt. 1940 erging eine analoge Einladung an Charlotte Perriand, die kurz zuvor das Atelier von Le Corbusier und Pierre Jeanneret verlassen hatte.23 Ihr früherer Kollege bei Le Corbusier, der nach Japan zurückgekehrte Architekt Junzo Sakakura, hatte Perriand für diese Aufgabe empfohlen. Sie lebte während zwei Jahren in Japan und bekam als Assistenten einen jungen, der französischen Sprache kundigen Mann an ihre Seite gestellt: Sori Yanagi, der nach dem Krieg einer der wichtigsten Designer Japans werden sollte. Perriand besuchte zahlreiche Betriebe – handwerkliche, Manufakturen und Fabriken. Sie berichtet: „Vom Beginn meiner Mission an arbeitete ich, mithilfe von Sakakura, an einer großen Ausstellung in den Warenhäusern von Takahashimaya in Tokio und Osaka, die eine Auswahl und Zusammenstellung sowohl traditioneller als auch neuer und potenziell ‚westlicher‘ Gegenstände werden sollte. Man bedenke, dass damals das Leben in Japan noch sehr traditionell geprägt war.“24 Die Ausstellung fand im März 1941 in Tokio, im Mai 1941 in Osaka statt. Perriands eigene Umarbeitung ihrer „Chaiselongue“ aus Metall in eine Version à la japonaise aus Bambus und Holz und ihre weiteren Möbel aus diesen Materialien, etwa ein Bett, inspirierten junge Gestalter zu Entwürfen „westlicher“ Möbel in japanischem Geist, darunter Sitzmöbel mit Tatami-verträglichen Kufen. Nach 1945: Aufstieg zur wirtschaftlichen Großmacht Mit den Abwürfen amerikanischer Atombomben über Hiroshima und Nagasaki mit zehntausenden von Toten im August 1945 waren der Zweite Weltkrieg beendet, das militaristische Japan besiegt und seine Wirtschaftskraft gebrochen. Wie im Fall Deutschlands war die US -Regierung bestrebt, das Land dem westlichen Bündnis einzugliedern (Truman-Doktrin), ein Plan, der mit der Revolution Mao Tse Tungs in China noch dringlicher wurde. Rasche Wirtschaftshilfe war ein wichtiger Teil davon. Ein Beispiel dafür war 1946 der amerikanische Großauftrag an die Firma Asahi, Ferngläser für die US -Streitkräfte zu liefern. Ihm sollte um 1965 die Entscheidung der US -Navy

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Abb. 139: Isamu Kenmochi: Stuhl aus Holz und Bambus, beeinflusst von Charlotte Perriand, 1954. Stühle ­traten in Japan erst nach dem Zweiten Weltkrieg auf; dieses Modell dokumentiert dabei gleichwohl die japanische Materialkultur.

folgen, Kleinbild-Spiegelreflexkameras des Herstellers Topcon als Teil der Matrosen-Ausrüstung anzuschaffen. Für Japan brach nach 1945 eine neue Zeit an. Innerhalb einer Generation wurde die tradierte Lebensart vom westlichen Lebensstil weitgehend verdrängt. Das Buch How to Wrap Five Eggs des Grafikers Hideyuki Oka mit dem Untertitel Traditional Japanese Packaging war bereits 1967 ein wehmutvoller Rückblick auf eine verschwindende Welt.25 Sein ikonisches Titelbild zeigt ein mit geübter Hand kunstvoll um fünf Eier geschlungenes Geflecht aus Pflanzenfasern: keine Wegwerfpackung, sondern im buchstäblichen Sinn ein Gebinde, wie es auf dem Markt zu kaufen war

(→ Abb. 137) .

Das Flechten von Tabletts, Körbchen

und Körben, Fliegenklatschen und anderen Gegenständen, die Kunst, aus den linearen Elementen der Pflanzenfasern, zwei- und dreidimensionale Dinge zu machen, diese Urform von Design, war auch in Japan sehr verbreitet gewesen. Bemerkenswert japanisch waren die Raffinesse und der Erfindungsreichtum, mit denen dies praktiziert wurde. War hier etwas dabei, verloren zu gehen, oder wurde das Können auf eine andere Sphäre umgelenkt? Letzteres trifft zu. 289

Abb. 140: Nikon-KleinbildSucherkamera, 1957. Die optische Industrie Japans nimmt am Anfang ihres ­Weges an die Weltspitze Maß an deutschen Vorbildern wie der Leica und der Contax.

Seit den 1950er-Jahren entwickelte Japan mit einer zunehmenden Dynamik eine Exportindustrie, zunächst von Fotoapparaten und Filmkameras, dann von Unterhaltungselektronik, schließlich nach 1960 von Autos, bis Japan 1980 die weltweit volumenstärkste Automobilindustrie aufgebaut hatte. Die japanische feinmechanisch-optische Industrie mit Dutzenden von Herstellern hochwertiger Objektive und Foto- beziehungsweise Filmkameras war der erste Industriekomplex, in dem das Land in wenigen Jahren den Status einer Weltmacht erlangte.26 Der Aufstieg begann im Ersten Weltkrieg, 1917, mit der Gründung von Nippon Kogaku, dem ersten Werk für optische Gläser und ab 1925 von Objektiven für Ferngläser, Teleskope und Fotoapparate. Nippon Kogaku wurde später Japans erster Hersteller ganzer Kameras der Marke Nikon, bestehend aus Nikkor-Objektiven und Kameragehäusen.27 Bis in die 1920er-Jahre lieferten noch die deutschen Hersteller Zeiss (Jena) und Leitz (Wetzlar) Objektive für japanische Kamerahersteller, wobei die Betriebsgeheimnisse gewahrt blieben. 1919 erfolgte die Gründung der Firma Asahi („aufgehende Sonne“), die sich bald in der Glasherstellung und -vergütung einen guten Ruf erwarb und 1923 zur Herstellung ganzer Objektive für verschiedene Kamerahersteller überging. 1928 war die Gründung von Minolta, einer deutsch-japanischen Gemeinschaftsunternehmung unter der Führung von Kazuo Tashima, was sogar im Namen zum Ausdruck kommt (die Abkürzung von „Mechanismus, Instrumente, Optik und Linsen von Tashima“).28 Die Geheimnisse der 290

Glasherstellung hatten die japanischen Fachleute sich durch Versuch und Irrtum erschlossen. Zähe Beharrlichkeit und Unbestechlichkeit ist eine japanische Tugend, die Außenstehende als „preußisch“ bezeichneten, die aber von alters her als hoch artikuliertes Qualitätsbewusstsein durch die Tuschemaler, die Lackkünstler und nicht zuletzt die Tee-Zeremonienmeister in der Gesellschaft verankert worden war. 1937 wurde die Firma „Canon“ gegründet, mit dem Ziel, preisgünstige Nachbauten deutscher Kameras von Leitz- und Zeiss Ikon (Leica beziehungsweise Contax) zu entwickeln. Das sind nur wenige Beispiele aus einer Vielzahl von Herstellern, die in den 1960er-Jahren rasant zu weltweiter Dominanz aufstiegen. Geholfen hatte bei diesem Aufstieg der große Heimmarkt eines Landes von gegen hundert Millionen Einwohnern, von denen viele nach dem Krieg zu fotografieren begannen. Vor allem aber waren es die Disziplin und innovative Energie der japanischen Entwickler, die ihren deutschen Lehrmeistern nun den Rang abliefen. Nicht zuletzt trug die Presse-Berichterstattung aus dem Koreakrieg (1950–1953) wesentlich dazu bei, unter den internationalen Fotoreportern die Kunde von der Qualität japanischer Foto-Technologie zu verbreiten. Bis dieser einzigartige Aufschwung einsetzte, hatte die optische Industrie Japans jedoch fast ein Jahrzehnt überstehen müssen – von 1937 bis 1945 –, als sie zwecks Produktion optischer Geräte ganz unter der Kontrolle der Militärregierung stand. Nun aber setzten die japanischen Hersteller von Kleinbild-Spiegelreflexkameras im Lauf der 1960er-Jahre ihren eigenen Standard durch, dessen Faszination nicht zuletzt in der Wechselwirkung von der primären Ähnlichkeit japanischer Produkte nach außen und von einer sekundären Differenzierung nach Herstellern lag: Marken wie Topcon, Canon, Nikon, Minolta, Konica, Yashica und weitere.29 Den Anfang machte 1957 die Firma Asahi, die mit der „Pentax“, der ersten japanischen Kleinbild-Spiegelreflexkamera mit Dachkantprisma, einen heftigen Wettbewerb unter japanischen Herstellern lancierte, aus dem innerhalb eines knappen Jahrzehnts der neue Weltstandard hervorging: die hochwertige Kleinbildkamera mit einem umfangreichen Set von Wechselobjektiven. Die Asahi „Pentax“ war technisch und formal stark von der ostdeutschen „Contax“ (von Zeiss Ikon, Dresden) aus dem Jahr 1949 beeinflusst. 1957 erwarb Asahi auch die Rechte am kernigen Markennamen „Pentax“ von 291

VEB Zeiss Ikon. Es ist wohl bemerkenswert, dass das Erscheinungsbild der

wichtigen japanischen Produkte von einer ostdeutschen Konstruktion geprägt war und nicht von den westdeutschen Zeiss Ikon-Kameras aus Stuttgart, die bald als bieder wahrgenommen werden sollten. Nachdem in der Zwischenkriegszeit Deutschland für Japan ein Orientierungspunkt gewesen war – neben dem von ferne bewunderten Bauhaus auch die hohe Wertschätzung, die von 1934 bis 1937 der im Land lebende Bruno Taut genoss –, übernahmen die USA nach dem Krieg diese Rolle weitgehend. In Tokio wurden mithilfe von US -Designern erste Ausbildungsgänge für Industrial Design aufgebaut. Einige dieser Designer waren Russel Wright, George Nelson, Freda Diamond und Jean Reinecke, die nach 1950 zu diesem Zweck nach Japan reisten.30 Diese Studiengänge wurden im Schoß der Ingenieurwissenschaften angesiedelt, mit Ausnahme der 1954 gegründeten Designschule von Yoko Kuwasawa, deren Bezug eher das Dessauer Bauhaus war. 1953 wurde die JSSD gegründet (Japanese Society of Science and Design), deren erster Präsident Masaru Katsumie wurde.31 Wir sind Katsumie bereits oben in seiner Charakterisierung der japanischen Ästhetik begegnet. Dass er sowohl authentisch für die traditionelle japanische Auffassung als auch für die Industrie sprechen konnte, bringt die wertmäßige Ebenbürtigkeit und weitgehend konfliktfreie Parallelität beider Sphären zum Ausdruck, die in Japan nicht als ein Entweder-oder gesehen wurden. Eine eher untypische Verbindung von US -Amerika und Japan war der Einfluss des väterlicherseits japanischstämmigen amerikanischen Plastikers Isamu Noguchi. Er war in den USA und Japan aufgewachsen und hatte während des Krieges unter der Feindschaft zwischen den beiden Ländern zu leiden.32 Er entwarf die „Akari“-Leuchten, die seit etwa 1951 in ganz unterschiedlichen Formen zu einem der ersten japanischen Exportartikel wurden und sehr viel für Japans kulturelle Rehabilitierung in der Welt leisteten. Wie es dazu kam, beschrieb Noguchi im Rückblick so: „Der Bürgermeister von Gifu bat mich, das traditionelle Handwerk der chochin zu erneuern, der aus Gifu stammenden Papier-Laternen, die zu einer billigen Partydekoration herabgesunken waren. Als Folge dieses Besuchs wurden die Akarileuchten geboren – das japanische Wort für Licht – das seither zu einem weltweiten Begriff 292

Abb. 141: Isamu Noguchi: „Akari“-Lampe, 1951. Die Modellfamilie Akari war und ist eine überzeugende Verbindung aus der Tradition der Papier-Lampions und elektrischen Leuchtmitteln. Prospektblatt, ­entworfen von R. P. Lohse für Wohnbedarf, 1950erJahre.

für eine Kunstform geworden ist. […] Ich nahm die spiralförmigen Laternen aus Gifu als hervorragende Ingenieurskunst wahr und fand eine Möglichkeit, sie mit der elektrischen Glühbirne zu kombinieren. […] Es sind nun 35 Jahre vergangen, seit ich die erste Akari entwarf. […] Doch wenn ich der Entwerfer bin, dann sind da all die anderen Hände, welche sie [in Japan] kunstvoll herstellen.“33 Die Akari-Leuchten trugen ein glaubhaftes Stück „­Japantum“ in die Welt, in dem Moment, als dies auch das Buch Japan des Fotografen ­Werner Bischof tat, dessen zwei Hauptteile ein Bild des traditionellen und des modernen Japans vermittelten. 20 Jahre zuvor hatte Junichiro Tanizaki sich geringschätzig über elektrifizierte Lampions geäußert.34 Noguchi löste die Aufgabe bedeutend subtiler. Akari beruht auch auf Tanizakis Hommage an den Schatten. Der Westen nahm die Akari-Familie sogleich mit warmer Sympathie auf – bis heute. Ein anderes Objekt, das eine Vermählung von Tradition und Moderne verkörperte – wenn auch nur für den Heimmarkt –, war 1953 der Radioapparat der Marke „National“. Sein rechteckiges Gehäuse bestand aus schwarzem Kunststoff, die Schallöffnungen in der Front erinnerten an Flechtwerk aus Bambus und die hell schimmernde Frontblende an die feinen Holzleisten-­Raster der Papierschiebefenster (shoji). Im Habitus verwandt war ein früher Entwurf Sori Yanagis ebenfalls für einen Radioempfänger mit Plattenspieler. Sori Yanagi, 293

Abb. 142: Zenichi Mano (?): Radioempfänger „National“, Hersteller Matsushita Co., Osaka, um 1950. Die Gehäuseform nimmt Motive aus der japanischen Architektur und Raumgestaltung auf. Außergewöhnlich im globalen Vergleich ist die dunkle Oberfläche.

Charlotte Perriands früherer Assistent, war der Sohn des bereits zitierten Schriftstellers Soetsu Yanagi. Er bewegte sich bald gleich souverän auf traditionellen Gebieten der Keramik (Teekanne 1958, Kochgefäße), des Arbeitens mit Holz (Hocker „Butterfly“ 1956) wie mit Aluminium und Kunststoff. Sein Wasserkessel (1953) aus Aluminium ist ein Beispiel für seine technische Findigkeit. Ein im Innern des Kessels kaminartig hochgezogener Dorn als „Flammenkanal“ mit einem Loch am oberen Ende konzentrierte die Gasflamme in der Mitte des Behälters, verhinderte ihr seitliches Ausweichen, zog sie nach oben, vergrößerte die Oberfläche für den Wärmeaustausch und erreichte dadurch eine Verbesserung des Wirkungsgrades. 1954 entwarf Yanagi einen stapelbaren Hocker aus Kunststoff, das erste Möbelstück aus diesem Material in Japan. Zwei Jahre später erschien sein Hocker „Butterfly“ aus zwei symme­ trischen Elementen aus komplex verformtem Sperrholz mit Palisander-Deckfurnier. Dieses expressive Kleinmöbel verstärkte das Interesse an Japan und kündete weltweit von dessen Formverständnis. Sowohl beim Kunststoffhocker als auch bei „Butterfly“ war die Prämisse der Unterlage aus Tatami in den Hintergrund getreten. Yanagis Fähigkeit, in unterschiedlichsten Materialien zu arbeiten – Keramik, Aluminium, Kunststoff, Schichtholz –, ist auch für japanische Verhältnisse außergewöhnlich. Einen weiteren Impuls erhielt Japans Ruf als innovationsfreudiges Land durch die kleinen Transistorradios, die seit 1955 die Welt eroberten. Die 294

Abb. 143: Sori Yanagi: ­Wasserkessel aus Aluminium, 1954. Der hochgezogene Dorn in der Mitte ermöglicht als Flammenkanal eine kürzere Zeit bis zum Erreichen des Siedepunktes und damit eine Energieersparnis.

Abb. 144: Sori Yanagi: ­Hocker „Butterfly“ aus zwei identischen Formsperrholzschalen, 1956. ­Yanagi konnte sich gestalterisch mühelos in neuen­ ­industriellen und in altbekannten organischen Materialien und Modi bewegen und erreichte dabei stets eine hohe Eleganz.

wissenschaftlichen Grundlagen der Transistoren lagen in Europa und den USA und reichen in die 1920er-Jahre zurück (Lilienfeld); nach 1950 wurde

ihre Erfindung wirtschaftlich interessant. Die Firma Texas Instruments stellte 1954 einen sehr kleinen Radioapparat vor, der sofort ein Verkaufserfolg wurde, verlor jedoch bald das Interesse daran und stellte die Produktion ein. Da als Anwendungsgebiet für die Transistortechnik in den USA das Militär galt, öffneten in Japan reaktionsschnelle Ingenieure das Feld für ihre kommerzielle Nutzung. Dass in Japan nach dem Krieg Forschung für Armee-­ Belange untersagt war, erwies sich so als Glücksfall und als Einfallstor für die Konsumgüterindustrie.35 Ihre neu gegründete Firma lancierte 1955 den ersten japanischen Klein-Transistorempfänger, dem sie den cleveren Namen „Sony“ gaben (Sony TR-55). In diesem Produkt, das wenig größer als eine 295

Abb. 145: Portabler TVEmpfänger Sony, mit Transistoren, 1960. Das sehr kompakte, batteriebetriebene Gerät mit einer Bilddiagonale von etwa 8 Zoll und einer verstellbaren Sonnenblende weckte als eine Weltneuheit das ­Bedürfnis nach TV-Unterhaltung im Freien.

Zigarettenpackung war, liegt der Ursprung des Sony-Konzerns. Weitere japanische Firmen, auch solche mit langer Vorgeschichte, folgten bald: Hitachi, Toshiba und andere, und sie machten diese Kleinradios – deren Klangqualität für den Zweck, unterwegs Radio zu hören, ausreichend war – zu einem weiteren Standbein der japanischen Exportindustrie. Als Sony 1960 dann den ersten tragbaren Klein-Fernseher lancierte, ein Gerät von kompakten Aussenmaßen und charismatischem Äußeren, war dies ein weiterer Schritt zur Etablierung von Japans Ruf als der innovativen Design-Großmacht in Fernost. Dazu fügte sich, dass 1960 die World Design Conference in Tokio durchgeführt wurde. Und im Hinblick auf die Sommerolympiade 1964 in Tokio wurde der Hochgeschwindigkeitszug „Shinkansen“ zwischen Tokio und Osaka realisiert, eine weltweite Pionierleistung zur Aktualisierung des Bahnverkehrs und das Vorbild des französischen TGV auch in der Hinsicht, dass er auf seiner eigenen Trasse fuhr (→ Kap. 24) . Der „Walkman“ (1978) und ebenso die von Sony im Verbund mit der niederländischen Philips lancierte Compact Disc (1982) bestätigen die maßgebliche Bedeutung, zu der Japan als zweitgrößte Volkswirtschaft hinter den USA (1975–2000) aufgestiegen war. In der Motorisierung bildet sich dieser Aufstieg modellhaft ab. Noch nach 1945 waren Autos den Wohlhabenden vorbehalten. Es gab nur wenige Limousinen. 296

Das erste von 1935 bis 1948 in geringer Stückzahl gebaute Modell von Toyota war dem amerikanischen Chrysler Airflow nachempfunden. Seit den 1950erJahren gab es das von europäischen Marken (Simca, Renault, Ford England) beeinflusste Mittelklassemodell Corona, für den amerikanischen Markt das Spitzenmodell Crown, die beide im Land oft als Taxis eingesetzt wurden. Doch dies waren auf Japan beschränkte Modelle. Marktfahrer besaßen oft ein bescheiden motorisiertes Dreiradfahrzeug  – vorne Motorrad, hinten mit zwei Rädern und darüber einer kleinen Ladepritsche mit oder ohne Stoffabdeckung. Anfänglich waren sie offen und hatten einem Motorradlenker. In den schmalen Straßen und Marktgassen waren sie die einzige Möglichkeit, wenn man seinen Marktstand nicht mit dem Fahrrad oder überhaupt zu Fuß betreiben wollte. Diese Dreirad-Fahrzeuge, die anfänglich über keinen Rückwärtsgang verfügten, waren die Keimzelle der japanischen Automobilindustrie. Mit der Zeit bekamen sie eine Fahrerkabine und nach Wunsch einen geschlossenen Laderaum.36 Noch heute sind sie wichtig im Land. Bis zu einem Hubraum von 360 Kubikzentimeter waren Fahrzeuge von der Fahrzeugsteuer befreit, eine Leistungsgrenze, die auch eine ­erstaunliche Palette vierräderiger Kleinstwagen hervorbrachte, mit denen die Massenmotorisierung begann. Kleinvolumige Motoren waren in Japan wegen dieses steuertechnischen Lenkungseffektes stark verbreitet und die Norm.37 Als Beispiel für diese wichtige Fahrzeugkategorie soll das Modell von Mazda aus dem Jahr 1958 erwähnt werden. Mazda, die Marke des Herstellers Toyo Kogyo (Hiroshima), arbeitete seit 1948 mit dem Designer Jiro Kosugi zusammen. Im Modell von 1958 wurde der Motor hinter der Fahrerkabine angeordnet, was hinsichtlich der Geräuschentwicklung und der Lastverteilung günstig war. Die aufgesetzten Scheinwerfereinheiten mit der formal artikulierten Gummidichtung, auf die ihrerseits die Rückspiegel aufgesetzt sind, und die schrägverlaufenden Rundrohre als Kantenschutz des Bugs, die leicht ab­geknickte untere Seitenpartie und der Übergang zum hinteren Kotflügel beweisen die formale Sensibilität Kosugis und seine Aufmerksamkeit für gestalterische Möglichkeiten auch bei einem bescheidenen Nutzfahrzeug. Eine weitere Fahrzeugkategorie – eine, mit der Japan den Aufstieg aus nationaler Selbstbescheidung zur Weltspitze erlebte – waren die Motorräder. Nach 297

Abb. 146: Jiro Kosugi: Kleintransporter von Mazda, 1956. Nach solchen steuerbefreiten dreirädrigen und wendigen Fahrzeugen mit hohem Nutzwert besteht noch heute in Japans zahlreichen engen Gassen ein Bedürfnis. ­Gekonnte, eigenständige Formgebung.

1945 war das am weitesten verbreitete Leichtmotorrad eine Kopie des deutschen Fabrikats von DKW (Auto Union). Zehn Jahre später kam als eine genuine Neuentwicklung die Yamaha 125 auf den Markt, und damit eine ganz andere formale Aussage. Es gab keinen Rohrrahmen und auch keine QuasiStromlinienform mehr, also nicht mehr die nach hinten absinkenden Linien. Oberflächlich betrachtet, könnte man meinen, dieses Motorrad habe sich an italienischen Maschinen etwa von Moto Guzzi, Gilera oder Laverda orientiert – Maschinen mit Rohrrahmen –, doch in produktionstechnischer Hinsicht war es fortschrittlicher: Der gepresste Blechrahmen, auf den die neue formale Erscheinung zurückging, ermöglichte wesentlich höhere Stückzahlen.38 Was sich in der optischen Industrie ereignete, geschah parallel auch bei den Motorrädern: Marken wie Yamaha, Honda, Kawasaki oder Suzuki setzten einen neuen Standard „Made in Japan“. Was die Automobilindustrie betrifft, müssen hier wenige Hinweise genügen. Bis 1960 produzierte sie nur für den Heimmarkt: Kleinst- und Kleinwagen, Mittelklassewagen und das eine oder andere Modell der Oberklasse für Würdenträger oder ungewöhnlich Wohlhabende. In den Fünfzigerjahren wurden in Lizenz auch Modelle von Austin und Renault gefertigt. Manche Produkte waren kurz, schmal, hoch und wirken aus heutiger Sicht mit ihren großen Rädern auffallend unproportioniert. Doch die schon erwähnten 298

Abb. 147: Yoshisada Horiuki: Inline-Skates, 1969. Hergestellt von Japan New Roller Skate Company. Ein schönes Beispiel für IdeenTransfer und für die Entdeckung eines neuen Standards: vom Eishockeyschuh zum neuen Rollschuh-­ Typus mit den Rädern in ­Linie.

steuertechnischen Grenzwerte wirkten sich kreativitätsfördernd bei den kleinen Modellen aus, während die Marken für die Mittel- und Oberklasse technisch durch und durch konventionell – und dabei sehr zuverlässig – waren; Mittelklassemodelle orientierten sich meist an europäischen, die großen Limousinen an amerikanischen Marken. Doch nach 1960 drängten die japanischen Hersteller auf den Weltmarkt: USA , Lateinamerika, Naher Osten, in Europa vor allem Finnland, Österreich und die Schweiz, also Länder ohne eigene Autoindustrie. Die Dynamik der japanischen Automobilindustrie war phänomenal. Etwa zwischen 1955 und 1980 – in nur einem Vierteljahrhundert – machten Japans Hersteller aus den Erzeugnissen für einen rückständigen Heimmarkt die größte Auto-Exportindustrie.39 Mit dem wachsenden Wohlstand der Japaner – wie überall sonst auch – nahm der Anteil der Kleinwagen ab, doch entgegen der generell zunehmenden Konventionalität konnten sich in der Industrie einige Brutherde für innovationsfreudige Originalität erhalten, so etwa bei Honda und Mazda. Datsun (Nissan), Toyota, Mazda, Mitsubishi, Subaru waren Marken, die sich am breiten Geschmack orientierten und bei vorteilhaften Preisen gute Qualität lieferten. Die Zusammenarbeit einiger japanischer Firmen mit italienischen Karosserieentwerfern seit 1960 (Michelotti, Bertone, später Giugiaro und Pininfarina) förderte die internationale Akzeptanz. Die Lancierung der Hybrid-Technologie durch Toyota 1997, 299

bald gefolgt von Honda, war ein mutiger Schritt in eine ökologischere Mobilität. Vielleicht wird man sie dereinst als eine Übergangstechnologie bezeichnen, aber auch dann wäre der Anstoß dazu von Japan ausgegangen. Die Organisation „Muji“ hat einen besonders überzeugenden Weg gefunden, aus der Gegenwart eine Brücke zurück zur japanischen Gestaltungsauffassung zu schlagen. Die Marke „Muji“ wurde 1980 gegründet und ist seither mit preiswerten und sorgfältig gefertigten Produkten weltweit bekannt geworden, was sich in immer mehr Verkaufspunkten auch in Europa und in der Welt zeigt. Kennzeichen des wachsenden Muji-Sortiments ist seine unbunte formale Schlichtheit, eben: die japanische Noblesse des Ungeschmückten. Es ist, als ob sich die verschattete Welt Tanizakis in eine „gedeckte“ Helligkeit gewendet hätte, die auf den Wohnaccessoires, Aufbewahrungsbehältern, Büromaterialien, Kleidungsstücken, Möbeln und technischen Geräten liegt.

300

Anmerkungen

17 Ebd., S. 40 18 Ebd., S. 19 f. 19 Wie Anm. 8, S. 8 20 Wie Anm. 4, S. 20

1 2 3

Inga Ganzer: Hermann Muthesius und Japan.

21 Hinweis von Caspar Schwabe, Sakura-Shukagawa

­Petersberg 2016, S. 33–36

22 Wie Anm. 4, S. 22

Vgl. Yuichiro Kohiro: Form in Japan. München 1967,

23 Perriand hatte das Atelier Le Corbusier – zusammen

S. 7

mit Pierre Jeanneret – auch wegen politischer Diffe-

Emil Preetorius: „Geleitwort“. In: Beispiel Japan.

renzen (Le Corbusiers Haltung zur Vichy-Regie-

Bau und Gerät. München und Zürich 1965, S. 4 4

Soetsu Yanagi: „The Japanese Perspective“ (1957). In: Ders.: The Beauty of Everyday Things (Text-

5

6

7 8

S. 36. Übers. C. L.

sammlung). London 2018, S. 141–165, bes.

25 Weitere Auflagen: 1967, 1976, 1989, 2008

S. 156–165, hier S. 164. Übers. C. L.

26 Takateru Koakimoto: „Japanes Photographic Len-

Der Yogasitz oder Knien am niedrigen Tisch ist aus

ses“. In: Camerart, vol. 1 (1958), spring 1958, S. 60

dem japanischen Alltag weitgehend verschwunden.

27 Masao Nagaoka: „Makers of the Nikon“. In: Came-

Rückenprobleme sind auch im heutigen Japan häu-

rart Nr. 2 (1958), S. 64–66. Nippon Kogaku/Nikon

fig geworden und haben zu einer starken Verbreitung

eröffnete in den USA eine Niederlassung, in Europa

von Sitzen mit Rückenlehnen geführt.

zuerst 1961 mit Nikon Switzerland

Bernard Rudofsky: Sparta – Sybaris. Keine neue

28 Wikipedia, „Minolta“, besucht März 2020

Bauweise, eine neue Lebensweise tut not. Salzburg/

29 1958 erschien erstmals die Zeitschrift Camerart

Wien 1987, S. 58 f.

(Tokio), die fast ausschließlich japanische Produkte

Masaru Kazumie: „Das Wesen japanischer Ästhetik“.

besprach und japanische Fotografen dokumentierte.

In: Form. Internationale Revue (Köln) 12/1960, S. 28

Darin finden sich Anzeigen von allen Marken, auch

Bruno Taut: Grundlinien der Architektur Japans.

längst verschwundenen wie Aires, Halma, Komaflex,

­Kokusai Bunka Shinkokai (Gesellschaft für internationale Kulturbeziehungen), Tokio 1937, S. 13 9

rung) verlassen. 24 Charlotte Perriand – Un art de vivre. Paris 1985,

Soetsu Yanagi: „What is Pattern?“ (1932). In: wie Anm. 4, S. 74 f. Übers. C. L.

10 Ebd., S. 160 11 Yunichiro Tanizaki: Lob des Schattens. Zürich 1987, S. 33

Mamiya, Pax, Petri, Ricoh. 30 Carroll Gantz: Founders of American Industrial ­Design. Jefferson, North Carolina 2014, S. 151 31 Shutaro Mukai: „L’insegnamento del Design“. In: Marco De Michelis (Hrsg.): Design Giapponese. Una storia dal 1950. Milano 1995, S. 27 32 Die japanischstämmigen Amerikaner wurden in den

12 Ebd., S. 32

USA während des Krieges interniert. Noguchi wurde

13 Die westliche Bewunderung für Japan äußerte sich

zeitweise sogar der Spionage verdächtigt.

bisweilen auf fragwürdige Weise. Im bekannten Buch Katsura. Tradition and Creation in Japanese

33 Isamu Noguchi. In: Ders.: The Isamu Noguchi Garden Museum, New York 1987, S. 259 f.

Architecture (New Haven 1960), herausgegeben

34 Wie Anm. 4, S. 7 f.

von Walter Gropius und Kenzo Tange, gestaltet von

35 Friedrich Naumann: Vom Abakus zum Internet. Ge-

Herbert Bayer mit Fotografien von Yasuhiro Ishimoto, wurden bei Ishimotos Außenaufnahmen zum Teil die Dächer weggeschnitten, um einem Kampfbegriff der Moderne – dem Flachdach – Genüge zu

schichte der Informatik. Darmstadt 2001, S. 121 36 Kazuo Ozeki: Japanese Three-Wheelers 1930– 1974. Tokyo 2010 37 Steuertechnische Überlegungen waren es auch,

tun. Siehe Yasafumi Nakamori: Katsura. Picturing

die Mazda bewogen, eine Lizenz für den Wankel-

Modernism in Japanese Architecture. Photographs

(Rotationskolben-)Motor zu erwerben. Er erreichte

by Ishimoto Yasuhiro. New Haven/London 2010,

proportional zum Hubraum etwa die doppelte spezi-

S. 43–46

fische Leistung des Ottomotors. Mazda baute für

14 Wie Anm. 11, S. 30 f.

einen Teil seiner Modelle von 1967 bis 2012 solche

15 Ebd., S. 26

Motoren und löste die technischen Herausforderun-

16 Ebd., S. 27

gen, die überall sonst nach 1975 den Bemühungen

301

um diese Antriebstechnologie ein Ende gesetzt ­hatten. Hinweis Caspar Schwabe (­Sakura­­­Shukagawa), März 2020. 38 Hinweis von Franz Engler, Zofingen 39 Im Jahr 1980 erreichte Japan die weltweit größte Zahl produzierter Autos.

302

X-27  Askese oder Genuss?

Bernard Rudofsky zitiert in seinem Buch The Kimono Mind (1965) den amerikanischen Commodore Perry, der 1853 ein japanisches Haus von innen sah und nach Hause berichtete, die Wände bestünden aus öligem Papier und seien mit rudimentären Zeichnungen geschmückt, und auf dem Boden stünden die bekannten asiatischen rot lackierten Sitzbänke. Rudofsky macht mit sarkastischer Knappheit klar, dass da ein kultureller Ignorant ein Haus betreten hatte: „Wir können nur hoffen, dass er sich nicht auf einen dieser ‚Bänke‘ gesetzt hat, der in japanischer Wirklichkeit ein Tisch war.“ Und er präzisiert: „Das ‚ölige‘ Papier ist in Wirklichkeit das herrliche Maulbeerpapier.“ Was die Zeichnungen angeht, war es wohl von einem westlichen Admiral zu viel verlangt, den Sinn der zeichnerischen Sparsamkeit auf den Schiebewänden zu verstehen, die er als einen Fall von Unfertigkeit und Leere wahrnahm.* Doch diese Leere ist keine Leere. Die Zeichnung ist nicht unfertig und die Sparsamkeit nicht Geiz oder Unvermögen. Wenn eine Linie einen Zweig darstellt, der sich über zwei Flächenelemente zieht und an seinem Ende ein Blütenblatt trägt, ist gesagt, was der Künstler sagen wollte und was die Bewohner aus der Zeichnung herauslesen konnten. Was der Besucher aus dem Westen als freudlose Askese wahrnahm, war in Wirklichkeit eine raffinierte Form von Genuss. Was für das traditionelle Japan gilt, lässt sich verallgemeinern: Sparsamer Einsatz gestalterischer Mittel kann mit einem großen ästhetischen Reichtum sehr gut zusammengehen. Es handelt sich dabei jedoch nicht um eine direkte Korrelation, wie wir bereits von Norman Bel Geddes gehört haben (→ X-20). Vielmehr ist dabei ein Geschehen im Spiel, das sich nicht auf ein einfaches Schema von Ursache und Wirkung zurückführen lässt. Zwar trifft dies nicht auf alle Kulturen zu; die ornamentale Üppigkeit indianischer Gestaltung, um nur ein Beispiel zu nennen, behält ihre Gültigkeit sui generis und soll hier nicht infrage gestellt werden. Aber was bedeutet das Wort „Sparsamkeit“? Es kann Askese bedeuten, die bis zum Geiz gehen kann. Sparsamkeit kann aber auch 303

aus einem hoch entwickelten Sensorium kommen und eine Fähigkeit bedeuten, im scheinbar Wenigen Nuancen und Abstufungen wahrzunehmen und diese als Reichtum zu genießen. Der Gegensatz zur Sparsamkeit ist erstens Üppigkeit, zweitens Verschwendertum. Wo liegt der Unterschied? Auch Üppigkeit kann zu wunderbaren Resultaten führen, Verschwendertum hingegen bezeichnet im Grunde ein unterentwickeltes Sensorium für das Zusammenspiel der Elemente. Wie kommt es, dass Schlichtheit so häufig mit sinnlicher Armut gleichgesetzt wird? Sind es die Dinge selbst, die ein solches Urteil bewirken? Nein, es ist wohl eher die Sprache – nicht die Formensprache der Gegenstände, sondern ein bestimmtes angelerntes Sprechen über die Dinge. Die moralisch-ethische Argumentationslinie, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts generell die Üppigkeit verurteilte und die Schlichtheit lobte, spannte das verhängnisvolle Koordinatensystem auf. Dessen problematischer Anspruch war die Gleichsetzung des Schönen mit dem Guten und dem Wahren, also von Ästhetik, Ethik und Episteme (Erkenntnis). Es war die quasireligiöse Inbrunst, die in der formalen Vereinfachung eine kathartische Tat und eine Geste der Psychohygiene und umgekehrt in der Üppigkeit Dekadenz und Verworfenheit erblickte. Und es war wohl auch die keinen Widerspruch duldende Haltung, mit der einige Apologeten der Neuen Sachlichkeit antike Philosophen und frühmittelalterliche Kirchenväter als Kronzeugen für ihr Denken ins Feld führten, was zunehmend Widerspruch hervorrief. Doch Augustinus‘ schöne Behauptung aus der Spätantike, „Das Schöne ist der Glanz des Wahren“ – Mies van der Rohes Maxime –, eignet sich wenig zur Bekehrung Andersdenkender. Sie gilt für jene, die das, was sie meint, selbst sinnlich erfahren haben und wissen, wovon die Rede ist. Und für diese hat der Ausspruch nichts mit empfohlener oder verordneter Askese zu tun, vielmehr mit eigenem, erlebtem Genuss dank einer hoch entwickelten visuellen oder sensorischen Sensibilität. Der Vorwurf des Asketischen ist häufig das Zeichen eines fundamentalen Missverständnisses. Dies wird mit Blick auf die lange zurückreichende japanische Denk- und Sehkultur klar. Für das Gebiet der Akustik gibt es den Ausdruck „ohrenbetäubend“. Man wird nicht gleich taub, doch das Gehör übersteuert, würde sich gerne verschließen, 304

kann aber nicht. Für die optische Welt wäre die Entsprechung „augenblendend“, aber man erblindet nicht bei einem Anblick, vielmehr werden die Augen von der Fülle überreizt. Wie wir sie – im Unterschied zum Gehör – vor der Überwältigung verschließen können, können wir sie jedoch umgekehrt für die Ober- und Untertöne des Einfachen öffnen. Aus der scheinbaren Leere und aus den sparsamen Akzenten die sinnliche Fülle hervorzuholen (hervorzugestalten): Das lehrt uns die japanische Kultur.

*

Bernard Rudofsky: The Kimono Mind. New York 1965, S. 114

305

28 Vom „Elektronengehirn“ zum Gehirn-Ersatz? Digitalisierung und Ephemerisierung

Stellen wir uns vor, wir hätten vor 100 Jahren, 1920, zu einem intelligenten Menschen von „Digitalisierung“ gesprochen und hätten angesichts seiner Verwunderung zu erklären versucht, was das ist und wann, wofür und wie wir diesen Begriff gebrauchen: Wir wären wohl auf vollständiges Unverständnis gestoßen. Auch mit der Voraussage, dass wir in 100 Jahren Musik aus einer elektronischen Wolke hören würden, die beliebig weit von unserem Standort entfernt liegen kann, dass wir mit einem Klick auf eine Taste oder eine „Maus“ erst anderntags oder Wochen später das Musikstück weiterhören können. Und wir hätten korrekt behaupten können, dass wir so auch zeitversetzt Radiosendungen nachhören werden, Wochen danach, ebenso Beiträge im Fernsehen („Fernsehen?“). Oder wir hätten vorausgesagt, dass wir mitverfolgen können, wie sich auf dem Display („Display?“) – also Sichtfenster – unseres Smartphones („…?“) – nun ja, unserer Nahbedienung, auto-control – mit jedem Schritt unsere geografischen Koordinaten verändern, die uns das GPS – Global Positioning System – dank der satellitengestützten Triangula-

tion meldet. Oder dass wir Ersatzzähne ausdrucken … Was für einen Menschen des Jahres 1920 verstiegene Fantastik gewesen wäre, ist hundert Jahre später selbstverständlicher Alltag. Das mag trivial klingen wie alles Selbstverständliche. Dass eine CNC -Fräse aus einem massiven Block hochwertigen Metalls das komplex geformte hoch beanspruchbare Element für die Tragfläche des größten Passagierflugzeugs herausholt und – wieder auf einen simplen Tastenbefehl – das spiegelsymmetrische Gegenstück: Solches überrascht uns heute nicht mehr. In der Fertigungstechnik hat sich die Digitalisierung auf ganzer Front durchgesetzt. Zuvor war der Bau eines Industriewerkzeugs noch eine dem Handwerk verbliebene Domäne gewesen. Das ist vorbei. Heute stellt uns die Digitalisierung Suchmaschinen zur Verfügung, die in kürzester Zeit unsere Suchbegriffe aus dem virtuellen Datenraum 306

zusammenführen. Wir müssten sie uns eigentlich als monströse Spürhunde vorstellen, wenn nicht ihre Immaterialität uns dies verunmöglichte. Und die Wettervorhersage hat eine erstaunliche Zuverlässigkeit im Modellieren der atmosphärischen Vorgänge erreicht. Auch die Sensorik schreitet mit Riesen­ schritten voran. Wohin führt sie uns? Gesichtserkennungs-Software, ja Programme, die angeblich Individuen an ihrem Gang unter Millionen Menschen zuverlässig identifizieren können, geben der Polizei und der Strafjustiz neue Instrumente in die Hand, deren angebliche Beweiskraft die Justiz vor neue Herausforderungen stellt. Was bedeutet es, wenn ein selbstfahrendes Auto in einen Verkehrsunfall verwickelt ist? Wer ist schuld? Oder möchte jemand behaupten, dass es mit einem selbstfahrenden Auto keine Unfälle mehr geben kann? Und dass es deshalb bald keine nicht-selbstfahrenden Autos mehr geben darf? Eine Rekapitulation der gesamten Entwicklung, die zur immer stärkeren Durchdringung des Lebens eines ständig wachsenden Teils der Weltbevölkerung durch die digitale Produktion, Distribution und den Konsum von Daten geführt hat, würde den Rahmen dieser Darstellung ebenso sprengen, wie sie die Kompetenz des Autors überstiege. Doch zugleich wäre eine Ideengeschichte des Designs ohne eine Würdigung dieser Themen wirklichkeitsblind, weil Design in erster Linie die Frage betrifft, was Menschen mit ­Dingen machen und Dinge mit Menschen. Deswegen der Versuch, den Diskurs ­z wischen den Klippen von eigener Ignoranz und Überforderung hindurchzusteuern. Die Digitalisierung ist gleichbedeutend mit einer totalen Diktatur der Zahlen: des Zählens, des Rechnens, des Messens, des Ordnens. Wenn der Industrieroboter seine Aktion ausführt, folgt er dem Programm, das ihm die Verbindungslinie zwischen verschiedenen Raumkoordinaten, Winkelstellungen zu bestimmten Zeitpunkten sowie die Bewegungsgeschwindigkeit vorschreibt. Wenn wir auf dem Bildschirm verfolgen, was wir gerade schreiben, liegt dem Sichtbarwerden der Schrift ebenso der Vorgang des Rechnens zugrunde, wie wenn wir einen Film schauen oder Radio hören. Wenn wir ein Musikstück einüben, verlangsamt ein Programm das Tempo, ohne dass sich die Tonhöhe verändert. Was in der analogen Akustik nicht möglich wäre, ist 307

auf digitalem Weg möglich, weil der Ton bei der Tempoveränderung umgerechnet wird. Das Rechnen ist das Fundament, dies auch in historischer Hinsicht. Die erwähnte totale Diktatur ist die von zwei Zahlen: der Null und der Eins. Mit der Erfindung der Null in Indien ums Jahr 300 v. Chr. kamen der Unterschied zwischen Zahl und Ziffer und der „Stellenwert“ in die Welt.1 Die beiden Zahlen verbanden sich in der Entwicklungsgeschichte zuerst mit der Mechanik, dann mit der Elektromechanik und schließlich mit der Elektronik. Seit der Jahrtausendwende ist die Mechanik immer mehr auf dem Rückzug: Im Smartphone, im Laptop, im Tischcomputer und im Computerspiel gibt es sie ­überhaupt nicht mehr.2 Die mechanische Epoche orientierte sich an der Funktionsweise des Uhrwerks – eines Getriebes –, was mathematisch und mechanisch Begabte von einer „Rechenuhr“ träumen ließ. Der Mathematiker Wilhelm Schickard, Professor in Tübingen, schrieb am 20. September 1623 seinem Freund ­Johannes Kepler eine fröhliche Nachricht: „Dasselbe, was du auf rechnerischem Wege gemacht hast, habe ich kürzlich mechanisch versucht und eine aus elf vollständigen und sechs verstümmelten Rädchen bestehende Maschine gebaut, welche gegebene Zahlen im Augenblick automatisch zusammenrechnet: addiert, subtrahiert, multipliziert und dividiert. Du würdest hell auflachen, wenn du da wärest und miterlebtest, wie sie, so oft es über einen Zehner oder Hunderter weggeht, die Stellen zur Linken ganz von selbst erhöht oder ihnen beim Subtrahieren etwas wegnimmt.“3 Eine prinzipiell verwandte Rechenmaschine entwickelte Blaise Pascal um 1642 in Paris und baute sie in mehreren Exemplaren, für die er viel Bewunderung erfuhr. Leibniz perfektionierte 1673 den „Zehnerübergang“ durch seine technische Erfindung der „Staffelwalze“. Mechanische Rechenmaschinen entwickelten sich in wenigen Exemplaren im Lauf eines halben Jahrhunderts nur langsam und erfuhren wegen ihrer mechanischen Kompliziertheit und Kostspieligkeit keine große Verbreitung. Doch das Rechnen war nur die Vorstufe zur Digitalisierung. Zur Digitalisierung gab erst 150 Jahre später – oder bereits 150 Jahre später? – die Analytical Engine von Charles Babbage den entscheidenden Anstoß. Der 308

britische Mathematiker beschäftigte sich lebenslang mit dem Projekt eines dampfbetriebenen Rechenautomaten, der auch Konstruktionspläne ausplotten sollte. Er konstruierte um 1840 die Maschine im Kopf, und wäre sie aus den erdachten 55 000 Teilen gebaut worden, hätte sie funktioniert, wie man heute zu wissen meint. Babbage erklärte anlässlich einer Italienreise dem Mathematiker Luigi Menabrea seine Pläne, und dieser publizierte 1842 mit Babbages Einverständnis eine Denkschrift in französischer Sprache. Die Mathematikerin Ada Lovelace – die Tochter der Mathematikerin Anne Isabelle Milbanke und des Schriftstellers Lord Byron – besorgte die Übersetzung ins Englische und ergänzte sie um einen umfangreichen Kommentar. Lovelace war die brillante Mitarbeiterin von Babbage. Sie benannte den grundsätzlichen Unterschied zwischen einer Rechenmaschine und einem Rechenautomaten – der Analytical Engine – mit diesen Worten: „Die Grenzen der Abb. 148: „Babbage’s Calculating Machine – Difference Engine“. ­Babbages geplanter hochkomplexer Mechanismus des Jahres 1832 war auch noch nach heutigem Urteil ­korrekt ­ersonnen. (Tomlinson’s Encyclopaedia of Useful Arts, 1861)

309

Arithmetik wurden in dem Augenblick überschritten, in dem die Idee zur Verwendung der [Programmier-]Karten entstand, und die Analytical Engine hat keine Gemeinsamkeit mit schlichten Rechenmaschinen. Sie ist einmalig, und die Möglichkeiten, die sie andeutet, sind höchst interessant. Eine Rechenmaschine kann nur eine fixe Berechnung durchführen oder ist auf die manuelle Eingabe der durchzuführenden Operationen angewiesen. Mit der Programmierung dagegen kann man beliebig komplexe Algorithmen für den Rechner formulieren und automatisch ablaufen lassen.“4 Diese Aussage bezeichnete eine neue Grundlage, da sie zum Begriff der „Modellierung“ die prognostische Dimension einer Berechnung hinführt. Ada Lovelace schrieb auch die folgenden visionären Sätze, die eine Anwendung der Analytical Engine weit über Babbages Absichten hinaus für denkbar darstellten: „Sie [die Analytical Engine] könnte auf andere Dinge als Zahlen angewandt werden, wenn sich Objekte finden ließen, deren fundamentale Wechselwirkungen durch die abstrakte Wissenschaft [mathematischer] Operationen dargestellt werden können und die sich für die Bearbeitung durch die Anweisungen und Mechanismen des Gerätes eignen. Angenommen, zum Beispiel, dass die grundlegenden Relationen von Tönen in der Wissenschaft der Harmonik und der musikalischen Komposition für solche Anwendungen zugänglich wären, könnte die Maschine elaborierte und wissenschaftliche Musikstücke von jeder beliebigen Komplexität und Länge komponieren.“5 Das ist bereits der Vorausblick auf unsere Gegenwart. Die Grundlage dieser Entwicklung waren die Algorithmen, also Programme, nach denen Rechenoperationen durchzuführen sind. (In der Mathematik waren sie schon seit Langem eingeführt worden.) Ada Lovelace nahm für Charles Babbage Programmierungen vor, wörtlich „Vorweg-Schriften“. In diesem Zusammenhang verdient die Erfindung des Jacquard-Webstuhls, um 1800, Band 1)

(→ Kap. 2 und 3,

nochmals eine Erwähnung, wo Lochkarten die zu webenden Muster

steuerten oder vorschrieben. Das Prinzip der Lochkarte ist das binäre Prinzip von Ja und Nein (Loch/kein Loch) beziehungsweise in der Sprache der Mathematik von null und eins. Die Lochkarte war der Schlüssel zur mechanisch unterstützten Datenverarbeitung. Nach diesem Prinzip wurden vom Webstuhl die Lochkarte „gelesen“ (abgetastet) und die vertikalen Lagen der 310

Kettfäden gesteuert. Gelochte Papierstreifen waren auch kurz nach Babbages und Lovelaces Ideen, seit 1855, die Basis der frühen Telegrafie. Grundlegend wurde das binäre Prinzip der Lochkarte, als in den Vereinigten Staaten Herman Hollerith, ein junger Ingenieur und Beamter auf dem ­Statistischen Amt in Washington, es als Methode vorschlug, um bei der Volkszählung 1890 die 63 Millionen Bogen mit je 30 beantworteten Fragen in einem Bruchteil der gewohnten Zeit auswerten zu können. Hollerith hatte bereits an der Auswertung des census von 1880 teilgenommen und erlebt, wie quälend langsam, kompliziert und fehleranfällig das herkömmliche Auswertungsverfahren war, bei dem jede Antwort manuell einer Kategorie zugeordnet werden musste. Bei Holleriths Vorschlag handelte es sich nicht einfach um die neue Anwendung eines bekannten Instruments. Er durchdachte das Lochkartenprinzip grundsätzlich hinsichtlich seiner Aufgabe. Dank ihm ließen sich die Antworten nun viel schneller und systematischer übertragen, entsprechend den Lochmustern auszählen und tabellarisch klassifizieren. Was zuvor mehrere Jahre in Anspruch genommen hatte, war jetzt nach dem Prinzip der Stapelverarbeitung in wenigen Monaten zuverlässiger getan. Das Stanzen und Decodieren, also Auswerten von Lochkarten war ein analoger Vorgang, ebenso wie die Erregung eines Sprechmikrophons beim Telefon und das Aufnehmen des Geräusches im Hörer. „Analog“ bedeutet, dass sich die Wellen auf lineare (graduelle) Weise elektromechanisch in Erregungen der Membran übersetzen lassen, die von unserem Gehör aufgenommen werden. „Digital“ hingegen bedeutet, dass jede „Information“ (beim DigitalTelefon zum Beispiel: das Geräusch) nichtlinear in getrennte (diskrete) Bits aufgespalten wird. Als mathematische Grundlage dieser Zerlegung dienen die beiden Zahlen oder „Zustände“ null und eins. Sämtliche Computerprogramme zur Datenverarbeitung von Zahlen, Buchstaben, Bildern und Tönen beruhen auf dieser mathematischen Grundlage. Die Verarbeitung von Daten  – die Voraussetzung für den automatischen Verlauf eines Programms mittels Schaltvorgängen  – erfolgte im Lauf eines ­Jahrhunderts in enormen Entwicklungsschritten. Anfänglich waren es mechanische Schaltelemente, dann elektromechanische Relais, dann ab ungefähr 1915 die Elektronenröhre (auch Kathodenstrahl- oder Vakuumröhre 311

genannt), nach 1950 der Halbleiter (Transistor), nach 1960 der integrierte Schaltkreis, auch Mikrochip genannt, und nach 1970 der Mikroprozessor.6 Zur Erinnerung: In kaum einem Fall einer technologischen Fortentwicklung führt ein direkter Weg von der wissenschaftlichen Entdeckung zur indus­ triellen Einführung; vielmehr muss die Erfindung zuverlässig reproduzierbar sein, sie muss patentrechtlich abgesichert werden, und es gilt, Partner in der Industrie zu finden, die von den wirtschaftlichen Erfolgsaussichten überzeugt sind. Deshalb dauert es meist Jahre, oft Jahrzehnte, bis eine Erfindung zum neuen Standard wird. Mit den erwähnten Schritten der Speicherentwicklung verbunden war eine fast unfassbare Verringerung von deren ­Dimensionen und eine Steigerung der Schwingungsfrequenz, woraus immer kürzere Schaltgeschwindigkeiten resultierten.7 Diese Entwicklung wird mit dem Begriff der „Ephemerisierung“ bezeichnet, in dem drei anthropogene Elementargewalten dieser Entwicklung miteinander verknüpft sind: Entmaterialisierung, Beschleunigung und Medialisierung. Trotz eigener Hürden soll hier versucht werden, die großen Linien dieser epochalen Entwicklung nachzuzeichnen, eine erzählbare Veranschaulichung der weitverzweigten Verknüpfungen der Gebiete Mathematik, Elektrotechnik, Logik und Kybernetik zu gewinnen. Die Entwicklungslinie setzte sich – nach Babbages gedanklichem Entwurf – erst 100 Jahre später mit der Leistung von Konrad Zuse fort. Er ersann und baute von 1936 bis 1938 in Berlin den ersten universell programmierbaren Computer, den er „Rechenmaschine“ nannte und mit dem er komplizierte Gleichungen lösen konnte. Erstaunlicherweise war Zuse weder Mathematiker noch Elektroingenieur, sondern Architekt mit einem starken Interesse für Baustatik und Tragwerkslehre, deren Berechnungen zu erleichtern sein ursprüngliches Motiv war. Die Zuse-Rechner – es waren deren wenige – blieben Einzelstücke, jeder eine Weiterentwicklung des vorherigen. Staatliches Interesse an ihnen blieb während des Krieges aus. Seine Maschine Z4 überstand als Einzige den Krieg, gelangte 1950 an die ETH in Zürich, wurde dort bis 1959 eingesetzt und steht heute im Deutschen Museum in München. Gleichzeitig mit Zuse beschäftigte sich der englische Mathematiker Alan Turing mit formallogischen Problemen und postulierte 1936 die „Turing-­ 312

Maschine“, mit der sich mathematische Entscheidungsprobleme lösen ließen. Turings Entdeckung wurde im Zweiten Weltkrieg überlebenswichtig, als es ihm und seinen Kollegen von Bletchley Park gelang, mit ihrer Decodier­ maschine die mehrfache Verschlüsselung des deutschen „Enigma“-Codes aufzubrechen (→ Kap. 19) . Mit seinem unter Mathematikern als epochal geltenden Aufsatz „On computable numbers with an application to the Entscheidungsproblem“ über die Programmierbarkeit von Funktionen (1936) wurde Turing zu einem Pionier der theoretischen Computerwissenschaft. Die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion wurden nach 1950 zu rivalisierenden Weltmächten auch hinsichtlich der Computerentwicklung. In den USA machte der ABC -Computer von John V. Atanasoff und Clifford E. Berry, von dem 1939 am Iowa State College ein Prototyp und 1942 ein weiteres Exemplar gebaut wurde, den Anfang. Er arbeitete mit Vakuumröhren und war nicht programmierbar.8 In Harvard beschäftigte sich Howard H. Aiken mit einem programmgesteuerten Rechenautomaten mit einer Lochkartensteuerung. Seine Absicht war, damit Hitlerdeutschland schneller zu bezwingen. Aikens Rechner „Mark I“ wurde im dortigen Computation Laboratory in Betrieb genommen. Die Weiterentwicklungen machten den Harvard-Campus zum ersten Fachgebiet für Informatik. Doch die mechanische Steuerung (Mark I) und auch die folgenden elektromechanischen Steuerungen mit Relais erwiesen sich als wenig entwicklungsfähig in puncto Rechengeschwindigkeit und Zuverlässigkeit. Deshalb sahen die Mathematiker und Elektrotechniker die ­Zukunft in der Technologie der Elektronenröhre. Erst jetzt also, 40 Jahre nach der Erfindung der Elektronen- oder Vakuumröhre und 30 Jahre, nachdem Röhrenverstärker in der transatlantischen Telefonie und beim R ­ adio ihre unverzichtbare Rolle gespielt hatten, fand die Vakuumröhre ihre Anwendung auch bei den Großrechnern der ersten Generation. Berühmt als „Elektronengehirn“ wurde zuerst ENIAC von der University of Pennsylvania. ENIAC – der Name steht für Electronic Numerical Integrator And Computer. Dies war die erste voll elektronisch konzipierte Rechenanlage.9 Sie wurde 1946 in Maryland der Armee übergeben, wog mit ihrer addierten Frontlänge von 30 Metern 30 Tonnen, hatte mit ihren 18 000 Vakuumröhren einen Strombedarf von 140 Kilowatt und entwickelte eine enorme Abwärme. 313

Die militärische Zweckbestimmung ließ damals die Frage nach der Sinnhaftigkeit dieses Aufwands gar nicht aufkommen. Noch um 1950 schätzten verschiedene Experten den weltweiten Bedarf nach Rechnern auf nicht mehr als ein halbes Dutzend.10 Diese Experten dachten ihnen nur in den Generalstäben der Weltmächte eine Funktion zu, etwa zur Berechnung ballistischer Kurven. Die Finanzierung solcher „Mainframe Computer“ war in allen Ländern, in denen an ihrer Funktionsweise geforscht wurde, durch den militärisch-industriellen Komplex sichergestellt, die Arbeit mit ihnen Geheimsache. Die wenigen Großrechner blieben für die Öffentlichkeit unsichtbar im Hintergrund. Das änderte sich erst mit den amerikanischen Präsidentschaftswahlen 1952, als die Zwischenergebnisse laufend hochgerechnet und über die CBS -Radio- und Fernsehstationen mitgeteilt wurden. Der Rechner war ein UNIVAC (Universal Automatic Computer) der früheren ENIAC -Entwickler Eckert und Mauchly und im Gegensatz zu ENIAC ein Rechner für zivile Anwendungen. Die amerikanische Öffentlich-

keit war fasziniert von der Tatsache, dass am Wahltag der unerwartete Sieg Eisenhowers zu einem frühen Zeitpunkt und zutreffend durch eine electronic machine – deren Bedienungskonsole im CBS -Studio nur als effektvoll blinkendes Modell nachgebaut war! – prognostiziert werden konnte. Mit diesem Ereignis betraten die Computer die öffentliche Bühne.11 In den USA wurden Abb. 149: Der ENIAC-Mainframe-Computer, University of Pennsylvania 1946. Der erste elektronisch rechnende Großcomputer. Ein heutiges Smartphone wiegt hunderttausendmal weniger und rechnet ­fünfhundertausendmal schneller. (IBM-Archiv)

314

Abb. 150: Anzeige der ­Burroughs Corporation für die erstmalige elektronische Verarbeitung von Checks: eine Welturaufführung. (Fortune 5/1959)

nun die electronic machines zu einem populären Begriff, und es entstand ein Markt mit konkurrierenden Akteuren.12 Die Einführung von Transistoren, die ab 1958 die Elektronenröhre ersetzten, führten zu einem markant kleineren Stromverbrauch und zu stark verkleinerten Abmessungen der Anlagen, gleichzeitig zu stark gesteigerter Rechengeschwindigkeit.13 Aber diese Anlagen waren in systemischer Hinsicht noch „linear“: Es gab den einen „Terminal“, der von einem geschulten Operateur – Mathematiker oder Ingenieur – mittels Eingabebefehlen bedient wurde. Der Zugriff auf die gespeicherten Daten war zeitraubend, da jedes Speicherelement vom Anfang her durchsucht werden musste (Sequential Access Memory, SAM ) und der Zugriff an einer beliebigen Stelle noch nicht möglich war (Random Access Memory, RAM ). Der Schritt von SAM zu RAM verweist darauf, dass die markantesten Veränderungen nun auf dem Gebiet der Softwareentwicklung geschehen würden. Das 1959 eingeführte System IBM 1401 machte mit 15 000 Anlagen im Jahr 1967 etwa einen Drittel des weltweiten Bestandes an Computern aus.14 Ein noch größerer Erfolg wurde nach 1965 das IBM System/360, ein unter enormem finanziellen Entwicklungsaufwand geschaffenes vollständiges Set von untereinander kompatiblen Komponenten. IBM kündigte bei seiner Vorstellung an, es repräsentiere durch sein integrales Konzept eine grundlegende Abkehr von der bisherigen Praxis der Computerentwicklung und werde im Geschäfts­ leben, in Wissenschaft und Politik die Produktivität ebenso markant steigern, wie es die Kosten der Informationsverarbeitung senken werde. Die technologische Grundlage dieser Leistungssteigerung war nun die Mikroelektronik aus integrierten Schaltkreisen anstelle der Transistoren, kaum dass diese 315

die früheren Elektronenröhren abgelöst hatten. Auch in ästhetischer Hinsicht war das System IBM /360 sehr bemerkenswert, insofern als der Industriedesigner Eliot Noyes – der Entwerfer auch der IBM -Kugelkopf-Schreibmaschine Selectric Composer – seinen Komponenten durch schlichte, rot lackierte glatte Flächen und rechte Winkel eine formale Konsistenz verliehen hatte, die es parallel zu Hans Gugelot in Ulm (→ Kap. 21) zu einem Musterbeispiel für „Systemdesign“ machte (→ Abb. 154) . Der stilistische Unterschied zum Univac-Großrechner von Remington Rand, etwa zehn Jahre zuvor, ist augenfällig. Bei diesem war jede sub-unit gestalterisch noch als Einzelfall behandelt worden. Eine grundlegende Voraussetzung für die großflächige Verbreitung des Computers war die Einführung des time-sharing-Prinzips, wodurch mehreren Akteuren zugleich der Zugriff auf den Rechner – von fast beliebig vielen Terminals aus – möglich wurde. Mit diesem Schritt wurde die bisherige eindimensional-lineare Systemstruktur für einen einzelnen Operateur gesprengt und weitete sich fächerförmig aus.15 Damit war ein entscheidender Schritt zur Erweiterung des Anwendungsfeldes über Berechnungen hinaus zur breiten Informationsverarbeitung getan. Die letzten Abschnitte könnten den Anschein erwecken, dass die Digitalisierung allein von den Vereinigten Staaten ausgegangen und nur dort vorangetrieben worden wäre. Doch auch die Sowjetunion und die mit ihr verbündeten Staaten arbeiteten an der Entwicklung von leistungsfähigen Rechenanlagen. Ohne deren Verfügbarkeit schon um 1960 wären die frühen Erfolge der Sowjets im Weltraum – Erdumrundungen, Ausstiegsmanöver von Kosmonauten, Koppelungsmanöver von Weltraumkapseln – nicht möglich gewesen. In den Augen des US -amerikanischen Kybernetikpioniers Norbert Wiener hielten in den Fünfzigerjahren die russischen Mathematiker und Forscher sogar die Spitzenposition, Namen wie Sergej A. Lebedew und Viktor M. Gluschkow.16 Letzterer sprach bereits 1962 von einem weltumspannenden Computernetzwerk und entwarf mit den Vorstellungen über seine Bestandteile aus Kommunikationslinien, Servern, Modems und der dazu passenden Software die Vorwegnahme des späteren ARPA-Net in den USA (siehe weiter unten).17 Von 1969 bis 1973 führten sehr umfangreiche Teams aus der Sowjetunion, der DDR , Bulgarien, Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei ein gemeinsames

316

Entwicklungsprojekt zur Entwicklung elektronischer Rechenanlagen und deren Programm-Infrastruktur durch und brachten es zum Abschluss.18 Auch Frankreich, Italien, Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland bemühten sich zu Beginn der 1950er-Jahre darum, den Anschluss nicht zu verpassen, und Letztere stand dabei während kurzer Zeit sogar mit der DDR in Verbindung.19 Die Anwendungsgebiete waren Lohnbuchhaltung, Lagerbewirtschaftung und Buchhaltung, sie blieben aber noch weit weg von einer allgemeinen Datenverarbeitung. Die weitere Darstellung der Entwicklung und Verbreitung von Großrechnern würde den vorliegenden Rahmen sprengen. Sie schufen den Hintergrund für die spektakulären Missionen der Weltraumfahrt in den 1960er-Jahren – mit dem Höhepunkt der Mondlandungen –, entsprechend prominent wurden sie auch in der Berichterstattung herausgestellt; unauffällig, aber routinierter arbeiteten sie in den Bank- und Versicherungszentralen oder in Personalabteilungen von Großfirmen. Sie nährten die kollektive Fantasie, wirkten aber noch nicht in den Alltag hinein. Doch dass die Computer die kollektive Fantasie stark beschäftigten, war die Ankündigung ihrer hinter dem Horizont des Alltags heraufdämmernden Aktualität. Die britische Zeitschrift Architectural Design gab ihnen im Fe­ bruar 1967 mit dem epochalen Themenheft „2000+“ gebührend Raum, einem Abb. 151: Der Anfang von Computer Aided Architectural Design CAAD: Architektin am Bildschirm des Rechners PDP-1, 1960. Der Informationsgehalt der Zeichnung ist noch äußerst beschränkt.

317

Abb. 152: Autodesigner in Detroit mit „lightpen“, um 1960. Die Praxis, mit der Rotation von viel komplexeren dreidimensionalen Modellierungen zu arbeiten, wird ein Vierteljahrhundert später die Norm sein. (Architectural Design 2/1967)

spekulativen Ausblick in eine 50 Jahre vorausliegende Zukunft. Der Künstler und Zukunftsforscher John McHale schrieb über die Erkundung und Besiedlung des Weltraums und die Veränderung der Architektur im Hinblick auf die kontrollierte Steuerung des Raumklimas. Auch die Gerätschaften zur Datenverarbeitung und Kommunikation wurden abgebildet, etwa ein hypothetisches Fernsehtelefon als Kombination zweier Geräte (Telefon und Experimental-Kompaktfernseher) und wohl als Premiere die Installation für CAD (computed aided design): Auf einem kreisrunden Kathodenstrahl-Bild-

schirm erscheint der Grundriss, den eine vor ihm sitzende Architektin mit einem Leuchtstift eingegeben hat.20 Am profiliertesten war im selben Heft von ­Architectural Design der Beitrag des Futurologen Theodore J. Gordon, der die Prognosen einer von der Rand Corporation zum Thema der Automatisierung zusammengestellten Arbeitsgruppe von Fachleuten kommentierte. Einige der Einschätzungen dieser Spezialisten verdienen, hier erwähnt zu werden. Sie prognostizierten, die computergestützte Automatisierung werde bereits in den 1970er-Jahren bestimmend sein für folgende Bereiche: Flugsicherung, 318

monetäre Transaktionen (Bezahlung nur noch mit Kreditkarte), Büroarbeit (Einsparung von einem Viertel der Arbeitsplätze). Bis Ende der 1980er-Jahre würden sich durchgesetzt haben: Unterricht („widespred use of sophisticated teaching machines“), automatisierte Bibliotheken, Übersetzungsprogramme, führerloser Schienenverkehr, Diagnose von Krankheiten, selbstlernende Industrieroboter, Inspektionssysteme für die Kanalisation, Roboter als Haushalthilfen, die Steuerveranlagung mit direktem Zugang zu Firmendaten. Für die Verbreitung selbstfahrender Autos wurde ein langsamerer Verlauf prognostiziert: von 1985 bis 2020, ebenso für digitale Zeitungen. Die Prognosen trafen teilweise überraschend exakt ein, teilweise waren sie weit übersteigert. Man sieht auch, dass in diesem eminent technophilen Ausblick die Gefahr des Datenmissbrauchs überhaupt noch nicht im Raum stand. Vielmehr sah Gordon nur vorteilhafte Effekte. Er schrieb: „Die Computerisierung hat das Potential, eine Weltsprache hervorbringen. Die Automatisierung kann die globale industrielle Produktivität auf ein Niveau heben, an dem die Gestaltung der Freizeit zu einem beträchtlichen Problem wird und wo sich ein Abb. 153: „Data-Phone“ mit Lochstreifen zur Verbindung mehrerer Computer über Telefonleitungen, um 1960: ein ­systemischer Schritt hin zum Netzwerk. (Architectural Design 2/1967)

319

Abb. 154: Das System IBM/ 360, gestaltet von Eliot Noyes, mit dem Operateur als einzigem Gebieter über die raumfüllende Maschinerie, 1964.

Ersatz für das puritanische Arbeitsethos finden lassen muss. An jenem Tag werden wir vielleicht ein weltumspannendes und durch internationale Verträge geschütztes System zur Verteilung der Güter haben.“21 Es gab also unter den beteiligten Experten einen Konsens über die bevorstehenden Innovationen des bargeldlosen Zahlungsverkehrs, der elektronischen Lernhilfen, der automatisierten Kopienerstellung und -ausgabe in Bibliotheken, der selbstfahrenden Verkehrsmittel auf Schienen und des Ausdruckens der Zeitung zu Hause, wie auch die Prognose von elektronischen Prothesen bei körperlichen Behinderungen, etwa „Radar für Blinde“. Doch die Leitvorstellung bei diesen Zukunftsvisionen war im Grunde die Automatisierung bekannter Vorgänge und Mechanismen (der Zeitungsausträger wird durch den heimischen Drucker ersetzt), noch nicht die Informatisierung und Interaktivierung von immer mehr Bereichen, wie sie nach 1980 zu erleben war. Der Bildschirm als Eingabegerät – wie wir ihn heute kennen – war noch keineswegs auf dem Radar. Die Experten projizierten die auf der Übersicht verzeichneten Manifestationen des technologischen Fortschritts zum größten Teil auf ihre Vorstellungen von zentralisierten Rechnern und Datenverarbeitungssystemen – und eben nicht auf die Möglichkeit dezentraler Kommunikationsmedien als Ein- und Ausgabegeräte, wie wir sie heute täglich benutzen. 320

Auch der Komplex der Kommunikation wurde in demselben Heft von Architectural Design thematisiert, nur eben getrennt von der Datenverarbeitung. Als Herzstück der Kommunikation auf dem Weg in die Zukunft sah man das interaktive TV-Gerät. Der Medien-Enthusiast Neil P. Hurley schrieb: „Der Tag ist nicht fern, zu unserem Glück, bis die meisten Büros, Fabriken, Schulen und Behausungen mit einem interaktiven TV-Set (two-way desk TV set) ausgestattet sein werden, sodass wir die Kommunikation untereinander durch eine einfache Wählvorrichtung herstellen werden. Mit der Verkleinerung dieser Apparaturen und mit der zu erwartenden Kostenreduktion werden auch unbemittelte Menschen das Vergnügen haben, in persönlichen Kontakt mit irgendwem auf der Welt treten können, wie heute auch das Transistorradio im Begriff ist, weltweit ein universelles Besitztum einer einkommensschwachen Schicht zu werden.“22 Diese Voraussage hat sich, was die zwischenmenschliche Kommunikation betrifft, vollauf bestätigt. Dass Hurley dabei an die sukzessive Verkleinerung dieser Geräte bis zur Größe eines Spielkarten-Sets dachte, wie wir sie heute kennen, können wir getrost ausschließen. In seiner Vorstellung lief es auf eine Verbindung von Fernseher und Schreibmaschine in Kombination mit dem Telefonnetz hinaus. Was anderes sind aber unser heutiger Personal-Computer und das Smartphone? Die aber verfügen über einen Plasma-Bildschirm, der auf der Basis von Flüssigkristallen arbeitet. Dieses Prinzip war zwar bereits um 1900 entdeckt worden, setzte sich aber erst beinahe ein Jahrhundert später durch. Nicht angesprochen in der Voraussage war die Möglichkeit, auf Daten in ungeheurer Vielfalt und Menge zugreifen zu können. Das höchst engagierte Heft von Architectural Design bringt zum Ausdruck, dass Datenverarbeitung und mediale Kommunikation noch als zwei getrennte Bereiche galten. Das erstaunt, denn der Ort, an dem sie erstmals ­z usammenkamen, waren nur wenig später die Buchungssysteme bei der Eisenbahn und den Fluggesellschaften sowie von Reisebüros. Noch bis etwa 1970 erfolgte die Platzreservierung bei der Bahn in einer Zentrale, wohin die Schalterbeamten in den Bahnhöfen sich mit dem Reservierungsauftrag mündlich oder schriftlich – per Telefon oder Telex – wandten.23 Die Deutsche Bahn führte 1970 ein computerisiertes Reservierungssystem ein, dem 321

sich die Schweizerischen Bundesbahnen bald anschlossen. Kurz darauf folgten die Französischen Staatsbahnen mit demselben Schritt. Grenzüberschreitende Reservierungen erforderten nun nicht mehr Anrufe oder fernschriftliche Anfragen bei den entsprechenden Anlaufstellen im Ausland. Der Schritt bedeutete die Überwindung zentralisierter Strukturen und linearer Verbindungen zwischen zwei Endpunkten zugunsten eines Netzwerks. Europäische Fluglinien schlossen sich aus demselben Grund zum International Programmed Airline Reservation System zusammen, das online sowie realtime Buchungen vorzunehmen gestattete.24 Systemlogisch gesprochen, waren dies Beispiele für das, was heute I­ ntranet heißt. Neue Begriffe bürgerten sich ein. Im Linzer Katalog Design ist unsichtbar, einem gewichtigen Zeitdokument von 1982, unterscheidet der Siemens-Konzern noch zwischen „Kommunikationstechnik“, „Fernsprechtechnik“ und „Daten- und Informationssystemen“, die alle ihre eigenen Geräte kannten: Telex und Telefax, Telefon, Rechner, Textverarbeitung. Und noch 1987 dokumentierte ein zeitgenössisches Schema die ­Galaxie der zahlreichen elektronischen Geräte zu Hause damit, dass in ihrem Zentrum der Farb-Televisionsempfänger thronte. Der sogenannte „Home-Computer“ erschien darin noch als ein peripheres Gerät unter vielen, bestimmt für Textverarbeitung, eine modernisierte Schreibmaschine im ­Reigen der ­Apparate. Die weitere Entwicklung verlief stürmisch auf zwei Ebenen, die sich rasch zu durchdringen begannen: die Demokratisierung des Rechners als dezentralisierter Personal Computer und die Verbindung sämtlicher Rechner, auch der kleinsten, im World Wide Web. Sie kann hier nur in den gröbsten Zügen rekapituliert werden. Auf dem Weg zum Personal Computer liegen Bausätze wie der Altair 8800, die Entwicklung einer benutzerfreundlichen Software (Microsoft, ab 1975), des Computers mit grafischer Benutzeroberfläche (Apple Macintosh, 1983), die die Computerarbeit mittels der Bildsymbole (icons) und der „Maus“ als Eingabegerät ähnlich vereinfachten wie 70 Jahre zuvor der Kodak-Rollfilm das Fotografieren. Ebenso war die Etablierung eines weltweit gültigen „Kommunikationsprotokolls“ notwendig, das den Endgeräten ermöglicht, weltweit miteinander Verbindung aufzunehmen.25 322

Abb. 155: Das Farb-TV-Gerät wurde um 1980 als zentrales Video-Terminal im Haushalt vorausgesagt. Eine Menschengeneration später sind infolge der ­Konvergenz von Schreibgerät und Fernseher der Laptop und das Smartphone an die prognostizierte Stelle getreten.

Altair 8800 (1975) lässt sich als Symptom für das zunehmende Interesse an einem Heim-Computer bezeichnen. In Analogie zu einer Trendsportart, die sich im Nachhinein als Vorreiter einer Breitensportart erweist, war dieser Bausatz das Symptom des Wunsches nach einem „Computer für jedermann“. Daran orientierten sich unter anderen Steve Jobs und Stephen Wozniak, als sie ihre Firma „Apple“ gründeten. Sie machten einen entscheidenden Schritt anders: Sie versetzten sich in die Lage der Anwender und entwarfen für sie Benutzungsszenarien, was die Funktion des Programmierers ausgliederte oder besser zum Softwareentwickler zurückverlagerte. Ihr „Macintosh“-­Personal 323

Computer (1983) verfügte mit seiner grafischen Oberfläche über einen hohen Grad an Evidenz, da er die bis dahin komplizierten Befehlseingaben überflüssig machte, womit die bisherige Machtstellung des Operateurs in der Rechenzentrale überwunden war. Der Rechner war durch die operationale Verbindung zwischen der Maus und dem betreffenden „Icon“ auf dem Bildschirm sofort einsetzbar. Das war revolutionär. Die „Maus“ – in Stanford entwickelt 1963 von Douglas C. Engelbart – war dabei das Hilfsmittel, das jeden Benutzer – in Analogie zu Heinrich von Kleist – zum geübten Marionettenspieler macht, der sich mit intrinsischen Handbewegungen in seiner Rolle bewegt. Der Vorläufer des Internets war das ARPA-Net (ARPA für Advanced Research Projects Agency). Die Organisation wurde 1957 unmittelbar nach dem „Sputnik-Schock“ ins Leben gerufen, um die Führung der USA im Kampf um die Beherrschung des Weltraums zurückzugewinnen.26 Als diese Zweckbestimmung aber bereits 1958 der neu gegründeten NASA (National Aeronautics and Space Administration) übertragen wurde, löste sich ARPA vom Pentagon und machte sich an die Neukonfiguration einer scientific community.27 Auch dabei blieb der militärische Daseinszweck unter dem Patronat der US -Luftwaffe bestehen. Joseph C. R. Licklider imaginierte ein „intergalaktisches Computernetzwerk“: ein System aus miteinander verbundenen Computern, geeignet für eine interaktive Kommunikation. Das aus dieser Idee entstandene ARPANetz verband ausgewählte US -amerikanische Hochschulen miteinander und schuf so ein vorerst kontinentales Verbindungsnetz von Computern und dem Telekommunikations-Netz. 1965 gelang es zum ersten Mal, zwei örtlich getrennte Computer – der eine in Boston, der andere in Santa Monica – miteinander zu verbinden. Datenpakete wurden noch nicht übermittelt, dies geschah erstmals 1969 zwischen den Universitäten von Stanford, Santa Barbara, Los Angeles und Salt Lake City. Bis 1980 erweiterte sich das Netz über das ganze Territorium der USA und sogar – via Satellit – bis nach London und zu einer Station in Norwegen.28 Es dauerte Jahre, bis das System einigermaßen zuverlässig und belastbar war. Dem ARPA-Net folgten in den USA weitere universitäre Netzverbünde mit zunehmend ziviler Ausrichtung. In anderen Ländern Europas wurden nach diesem Vorbild analoge Netzwerke zwischen 324

Hochschulen geschaffen, die jedoch innerhalb der Staatsgrenzen verblieben. 1982 entstand das European UNIX Network, ein Gemeinschaftsprojekt der Niederlande, Dänemarks, Schwedens und Großbritanniens. Es folgten Hochschulen in Japan, Kanada und Griechenland, und dann der Schritt, dass die verschiedenen Netze sich schließlich zum Internet verflochten. Das Internet wurde nicht als solches geschaffen, es wurde dazu durch Wachstum nach außen und zunehmende Verflechtung nach innen.29 Nun nahm die Entwicklung rasch Fahrt auf und ließ einen verwegenen Wunschtraum des Forschers Vannevar Bush aus dem Jahr 1945 in ­Reichweite rücken: Im Aufsatz „As We May Think“ hatte er 1945 die Schwierigkeit beschrieben, in einer immer höher spezialisierten Abb. 156: Der Apple Macintosh ­Personal Computer, Gestaltung ­Frogdesign/Hartmut Esslinger, 1983. Seine grafische Oberfläche mit den Symbolen hat die Befehlseingabe stark vereinfacht und den Computer niederschwellig einsetzbar gemacht.

325

Wissensgesellschaft noch den relevanten Kern eines Problems zu erkennen. Die Schwerfälligkeit der Beschaffung von Fachliteratur und daraus folgend die Erschwernisse des Erkennens sollten durch die Maschine „Memex“ (für Memory Extender) überwunden werden: einen Schreibtisch mit mehreren overhead- Sichtschirmen, auf denen der Inhalt ganzer Bücher aus dem unerschöpflichen Wissensspeicher erscheinen würde. Und Memex sollte die Inhalte „kennen“, genauer: inhaltliche Schnittmengen in einzelnen Texten erkennen und den Operateur durch entsprechende Querverweise darauf aufmerksam machen. Es war dies Bushs Vorwegnahme der links und des Hypertexts, mit einer Vorrichtung für Stichwortsuche und einem Schnelldurchlauf, den wir heute cover-flow nennen, und fast allem, was wir heute beim Navigieren durch den Datenraum brauchen. Bush spricht nicht ausdrücklich, aber implizit von download, und er schreibt: „Ich gebe zu, bei meinen Überlegungen alle Arten technischer Schwierigkeiten ignoriert zu haben, aber ebenso habe ich Mittel nicht in Betracht gezogen, die derzeit noch unbekannt sind und die jeden Tag auftauchen könnten, um dann den technischen Fortschritt so schnell voranzutreiben wie seinerzeit die ­E lektronenröhre.“30 Die seit 1990 in atemberaubendem Tempo vollzogene Verschränkung von Text- und Bildprogrammen, von Telekommunikation und Mailverkehr, zeitverschobenem oder real-time Radio und Fernsehen ließ die Vielzahl der Geräte stark schrumpfen. Seit 1990 verschmolzen alle diese Bereiche im Personalcomputer mit Internetanschluss und einem Mailprogramm zur Einheit; nochmals wenige Jahre später verdichtete sich diese erneut zum Notebook, dann erneut zum Tablet und Smartphone, und damit zur überwiegenden drahtlosen Datenübermittlung. Die Konvergenz der technischen Möglichkeiten, ergänzt um das Kriterium der Interaktivität, kam erst mit dem Personalcomputer und seinem Gebrauch als ein planetar vernetzter Terminal des World Wide Web auf ihr heutiges Niveau. Zwischen 1990 und 2000 wurden die Suchmaschinen geschaffen, die seither die täglich lawinenartig anschwellenden Daten im virtuellen Raum aufspüren. Wenn wir das Internet in Analogie zum Straßennetz sehen können, ist das World Wide Web der darauf nach allgemeinverbindlichen Regeln rollende 326

Verkehr: Jede Website entspräche einem Fahrzeug. Das Konzept von Websites und der weltweit vereinheitlichten Übertragungsprotokolle (Hypertext Transmission Protocol, HTTP) waren der Vorschlag des jungen britischen Informatikers Tim Berners Lee und seines belgischen Kollegen Robert Cailliau, den sie 1989 am Europäischen Kernforschungszentrum CERN in Genf machten, um damit die Anschlussschwierigkeiten zwischen den nationalen Datennetzen zu überwinden. So kam es zum World Wide Web. In weniger als zehn Jahren wurde die Welt eine andere – scheinbar aus dem Nichts. Ein Höhepunkt dieser Entwicklung war erreicht, als es 2019 durch eine weltumspannende Vereinigung zahlreicher Observatorien zu einem Superobservatorium erstmals gelang, ein Schwarzes Loch in einer anderen Galaxie als der Milchstraße sichtbar zu machen – 50 Millionen Lichtjahre entfernt. Bei all dem, was weit in den Raum und die Zeit ausgreift und uns als Inbegriff von Gegenwärtigkeit und Aktualität erscheint, dürfen wir uns aber dar­a n ­erinnern, dass die Grundlage dazu im Telefonnetz geschaffen wurde, das seinerseits vor bereits 100 Jahren aus dem Telegrafennetz hervorgegangen war, dem grundlegenden Vor-Vorläufer von 1850.

327

Anmerkungen

16 Wie Anm. 1, S. 177 17 Von Gluschkow erschien 1962 das Buch Synthesis of Computing Automata. Vgl. Anm. 1, S. 179 18 Wie Anm. 1, S. 175. Am Projekt waren 20 000 Wis-

1

Der Begriff „Ziffer“ für „null“ stammt aus dem Sans-

senschaftler und 300 000 Facharbeiter aus sieben

krit: „sunya“ („leer“), arabisch „as-cifr“, lateinisch

Ländern – Kuba schloss sich dem Projekt noch 1973

„cifra“. Vgl. Friedrich Naumann: Vom Abakus zum

an – beteiligt. Die wissenschaftliche Kraftanstren-

Internet. Die Geschichte der Informatik. Darmstadt

gung konnte Ende 1973 zum Abschluss gebracht

2001, S. 23

werden.

2

Hinweis von Urs Beat Roth, Zürich

3

Wie Anm. 1, S. 44 f.

treffen gekommen, bei dem sich unter anderen Alan

4

Ada Lovelace: „Notes“. In: Luigi Menabrea: Sketch

Turing und Konrad Zuse begegneten. Vgl. Anm. 1,

of the Analytical Engine invented by Charles Babbage Esq. (1842). Zit. bei Christoph Dorner: „Ada,

19 Noch 1946 war es zu einem internationalen Arbeits-

S. 167 20 Beim betreffenden Gerät handelt es sich um den be-

wer ist Ada?“ In: Süddeutsche Zeitung,

reits 1959 vorgestellten und als erster „Minicompu-

14.09.2015, S. 18

ter“ geltenden transistorgesteuerten PDP-1 (Pro-

5 Ebd.

grammed Data Processor Model 1) der Firma Digital

6

Mikroprozessoren sind Siliziumplättchen von weni-

Equipment Corporation von Kenneth H. Olsen.

gen Millimetern Kantenlänge, auf denen hunderttau-

„­Minicomputer“ ist relativ zu verstehen: Die Rech-

sende oder Millionen von Schaltelementen (Transistoren, Dioden, Widerstände) miteinander verbunden sind. Erste praktische Einführung des Mikrochips durch Texas Instruments. 7

Naumann (2001) nennt eine mögliche Frequenz von 500 MHz und eine Milliarde Schaltvorgänge pro ­Sekunde als magische Grenze. Vgl. Anm. 1, S. 126

nereinheit war noch immer von Schrankgröße. 21 Theodore J. Gordon: „The effects of technology on man’s environment“. In: Architectural Design (London), 2/1967, S. 97. Übers. C. L. 22 Neil P. Hurley: „Communications Revolution“. In: ­Architectural Design, 2/1967, S. 100. Übers. C. L. 23 In Fotografien der Schweizer Zentrale des TEE

8

Ebd., S. 145 f.

(Trans Europ Express), aufgenommen 1958, in

9

Die Programmierung von ENIAC wurde durch eine

­Basel sind die Telex-Geräte gut zu erkennen.

Gruppe von mathematisch versierten Frauen geleis-

24 Das System war von IBM entwickelt worden.

tet: Fran Bilas, Betty Jennings, Ruth Lichterman,

25 Vgl. Anm. 1, S. 229 und passim

Kay Mc Nulty, Betty Snyder, Marilyn Wescoff sind in

26 Der Grund für den Schock war nicht der piepsende

die Geschichte eingegangen. 10 Wie Anm. 1, S. 134 11 David Gugerli: Wie die Welt in den Computer kam.

fußballkleine künstliche Trabant selbst, sondern die Tatsache, dass die Sowjetunion offenkundig fähig war, leistungsfähige Langstreckenraketen zu bauen.

Zur Entstehung digitaler Wirklichkeit. Frankfurt

27 Wie Anm. 1, S. 231

a. M. 2018, S. 14

28 Die Station Norsar wurde 1968 unweit von Oslo ein-

12 Remington Rand (Univac), IBM (International Business Machines), Burroughs, Monroe Calculating Machines, National Cash Register Company, um nur einige der damals wichtigsten zu nennen. 13 Die erwähnte Überlegenheit des Transistors über die

gerichtet zwecks Erkennung seismischer Erschütterungen aufgrund von Atomwaffenversuchen der UdSSR. 29 Wie Anm. 1, S. 235–238 30 Vannevar Bush: „As We May Think“. In: Form

Vakuumröhre ist jedoch nicht total: Für die beste

­Diskurs Nr. 2/1997, S. 136–147. Kommentiert

Musikwiedergabe schwören Kenner auf die Röhre

von Hartmut Winkler, Übers. Regine Winter.

wegen ihres wärmeren Tons. 14 Wie Anm. 1, S. 154 15 Vgl. David Gugerli (wie Anm. 11): Kapitel „Teilen“, S. 62–73. Gugerli bezeichnet den Schritt zum timesharing-Konzept als eine Überwindung der Fließband-Metapher.

328

X-28 Künstliche Intelligenz, künstlerische Intelligenz

Die folgenden Überlegungen gehören zu einem überaus aktuellen Thema des Jahres 2020. Wie wird es in fünf, zehn oder 20 Jahren sein? Aktualität ist heimtückisch; die Aktualität von heute kann morgen schon ein Anlass für Verdruss sein. Da das Thema jedoch eine lange Vorgeschichte hat, überschreitet es auch in beiden Zeitrichtungen das Prädikat des Nur-Aktuellen. Zu Fuß in einer Einfamilienhauszone unterwegs. Wäre es in der Dunkelheit, würden Scheinwerfer an Häusern aufflammen, da ein Sensor mich als bewegtes Objekt erspäht hat. Es ist aber taghell, und was sich dort vorne im Vorgarten bewegt, ist kein Tier, sondern ein automatischer Rasenmäher, der sein Geschäft verrichtet. In den Häusern drin könnte es auch ein ebensolcher Staubsauger sein, der um Stuhlbeine herumzirkelt wie ein Insekt, das sich mit seinen Fühlern durch die Versuch-und-Irrtum-Welt tastet. Können Automaten „Erfahrungen machen“? Mit solchen Apparaten sind Träume in Erfüllung gegangen. Was früher als utopisch galt, steht uns heute zur Verfügung, und wir sind nicht einmal erstaunt darüber. Was in alten Slapstick-Filmen infolge der Divergenz von Herzenswünschen und den Tücken der Mechanik Anlass für Lachtränen war – Buster Keatons dampfender Kaffeemaschinen-Wecker auf dem Nachttisch, dessen Scherenarm beim Danebengießen zittert –, funktioniert heute zu unserer Zufriedenheit, meistens jedenfalls. Wir sehen keine Zahnräder mehr, keine Gewindestangen, keinen Scherengitter-Mechanismus, denn die Mikroprozessoren haben schon vor vielen Jahren unsere Geräte zu Blackboxes gemacht. Daran ist nichts Anthropomorphes mehr, möglicher Erheiterung ist die Grundlage entzogen. Wir haben mit der Automatisierung Ernst gemacht. Wer 1935 einen Lebensmittelladen führte, musste die Beträge von Hand ausrechnen und zusammenzählen, nach 1945 kam die Registrierkasse, in den Neunzigerjahren der Bar-Code und der Scanner, die alles automatisch erfassten und überprüfbar ausdruckten, nach 2010 self-scanning. In technologischer Hinsicht ein beeindruckendes 329

Entwicklungspattern, dessen Ursprung in der menschlichen Intelligenz der Entwickler liegt. Ist dabei die Intelligenz vom Erfinder auf die Erfindung übergegangen? Können Computer Erfahrungen machen, die denen der Menschen überlegen sind? Was unterscheidet Lernen von Auswendiglernen? Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichte Günther Anders das Werk Die Antiquiertheit des Menschen, worin er einem Phänomen nachspürte, dem er die Bezeichnung „prometheische Scham“ gab: Die Scham des Menschen, dessen Ingenium Apparate erschaffen hat, denen gegenüber er sich unterlegen fühlt, weil sie so viel mehr können als er selbst je könnte. Es war die Zeit der ersten „Elektronengehirne“, die in Sekundenbruchteilen komplizierte Berechnungen ausführten, für die man von Hand viele Stunden benötigte. Jahrzehnte später hat diese Scham längst einer abgeklärten Gebrauchsroutine Platz gemacht. Wir tun keinen Schritt mehr, ohne dass wir auf unseren Geräten herumtippen, um zu sehen, welcher Bus uns am raschesten ans Ziel bringt und was es dort zu essen gibt. Wir haben uns gegen die Scham immunisiert, was wohl den Anlass dazu nicht zum Verschwinden gebracht, sondern ihn nur in Nützlichkeit umgebogen hat. Ist der Begriff der „künstlichen Intelligenz“ dafür gerechtfertigt? Ja, aber nur, wenn wir ihm Grenzen setzen. Es ist gut, dass die Piloten gewarnt werden, wenn zwei Flugzeuge sich nah aufeinander zu bewegen. Ist es auch gut, wenn sich beim Autofahren die Scheibenwischer automatisch in Gang setzen, sobald einige Tropfen auf der Windschutzscheibe liegen? Wo beginnt die Bevormundung? Kommt uns die Zuvorkommenheit der Apparate wirklich gelegen? Wenn ich englisch „its“ schreiben will und „das System“ daraus immer wieder „ist“ macht? Das vermeintlich Dienstfertige wird dabei zur Demonstration von Herrschaft. Im Fall der Piloten, die den Flugzeugabsturz nicht verhindern konnten, als die fehlerhafte Software die Flugzeugnase nach unten drückte, war die Bevormundung durch die übergeordnete Instanz fatal. Liegt hier ein Problem: in der Unterordnung des Menschen unter die angebliche Erfahrung einer Technologie, die die Konsequenz einer ungenügenden Abrichtung war? Wir haben gehört, dass Ada Lovelace um 1840 von einer arithmetisch generierten Musik träumte. Keine Frage, dass sie für ihre geniale Antizipationsgabe 330

unsere Bewunderung verdient. Heute gibt es solche selbst generierte Musik – na und? Können wir uns für eine zivilisatorische oder kulturelle Manifestation interessieren, die nichts manifestieren will, die nur ist? Wie verhalten sich künstliche Intelligenz und künstlerische Intelligenz zueinander? Sie sind jedenfalls nicht deckungsgleich. Artifiziell bedeutet künstlich gemacht, artistisch be­d eutet künstlerisch. Diese Unterscheidung stellt in Abrede, dass es eine absichtslose Kunst geben kann. Die Absichtslosigkeit der Maschinen in ihrem Funktionieren muss um jeden Preis die Bedingung bleiben, die der Mensch an seine Technologie knüpft. Wir könnten versucht sein, die mathematische Basis der künstlichen Intelligenz, nämlich die Binarität der Zahlen Null und Eins, als zu grobmaschig für das „Künstlerische“ zu halten. Tatsächlich tut sich zwischen diesen beiden Zahlen im Zahlenraum ein enormer Abgrund auf. Doch wenn wir hören, welche Feinheiten von Tonabstufungen und Resonanzen die CD und welchen Reichtum an Farbnuancen die DVD enthält, verblasst diese Hypothese. Schließlich trägt unser Tisch auch alles, was sich darauf befindet, obwohl zwischen seinen einzelnen Molekülen ebensolche Abgründe klaffen. Was bedeutet nun aber „künstlerisch“? Doch dies, dass es individuelle, per­ sönliche und letztlich nicht herzuleitende Kräfte gibt, die wir als Fantasie bezeichnen. Fantasie befähigt uns zu voraussetzungslosen Vorwegnahmen und Imaginationen, derart, dass wir uns Denkmöglichkeiten vorstellen (sprich: vor uns hinstellen), die nicht vorprogrammiert sind. Und auch, dass wir einer spontanen Intuition zu folgen bereit sind. Fantasie zu entwickeln bedeutet, intentional und interessegeleitet vorzugehen. Unser Wille kürt unsere Ziele und die Mittel, sie anzustreben. Unsere Intuition provoziert uns, Risiken einzugehen, deren Folgen nicht unmittelbar absehbar sind. In beiden Fällen gilt wohl: Dass die Fantasie über einen Algorithmus ablaufen könnte, widerspräche ihr essenziell; den Algorithmus gibt es bereits, die Fantasie hingegen richtet sich auf etwas, das es bis eben noch nicht gegeben hat und was eine neue Erfahrung werden könnte. Die Kamera des Smartphones weiß nichts von einem Vorder- oder Hintergrund. Sie überträgt nur alle Bildpunkte möglichst farbgetreu und gestochen scharf. Vom Vorder- und Hintergrund wissen nur wir, weil unser eigenes ­Sehen in die 331

Tiefe gerichtet und intentional ist. Die traditionelle Fotografie basierte auf den Gesetzen der Optik, also der räumlichen Tiefendimension, worauf auch unser eigenes Sehen beruht. Die Fotografie enthielt eine intentionale Aussage, je nachdem, worauf wir die Kameraoptik fokussierten. Die „künstliche Intelligenz“ des Smartphones nimmt uns diese Aussagemöglichkeit aus der Hand. (Diese Entwicklung begann schon in den 1970er-Jahren, nämlich als die Autofokus-Vorrichtung der Spiegelreflexkameras eingeführt und auf die Suchermitte eingestellt wurde. Wir stellen unsere Augen auf das scharf ein, was uns in dem Moment interessiert. Doch die Kamera wurde durch die Fixierung auf den Diagonalenschnittpunkt bereits etwas eigenmächtig. Auch professionelle Fotografen zentrierten nun ihre Bildkompositionen reflexartig um diese Mitte herum, was bei vielen das künstlerische Spektrum einschränkte. Ein bedauerlicher Fall von einer unbemerkt gebliebenen Bevormundung.) Wenn wir ein Bild einscannen, arbeitet der Scanner ganz einfach von einer Seite zur anderen hinüber: Bildpunkt für Bildpunkt wird abgetastet. Ein Wahrnehmungsvorgang ist das nicht, vielmehr eine Datenübertragung, als solche technologisch beeindruckend, aber was ein Erkenntnisinteresse betrifft, leer. Die künstliche Intelligenz – Big Data – entbindet uns nicht von der Frage, wie aus Daten Information und wie daraus Erkenntnis wird. Wie relevant aber kann ein Entwurf sein, der von selbst (oder wie von selbst), also ohne glaubwürdigen Widerstand entstanden ist? Eine erhellende Übung im Unterricht betraf die Aufgabe, Marcel Breuers „Wassily“-Sessel mit sprachlichen Mitteln möglichst gut zu charakterisieren (→ Abb. 147, Band 1).

Hinter den wenigen, dialektisch miteinander verbundenen Elementen des

Sessels steht ein (nichtlinearer) Entwurfsprozess, dem in einem kurzen Text gerecht zu werden, die Aufgabe war. Ohne Basis eines entsprechenden Verständnisses, will sagen ohne eine kognitive Synthese, bleibt die Aufgabe sinnlos. Künstliche Intelligenz kann heute den Abstand zwischen fahrenden Autos messen und bei dessen plötzlicher Verkürzung reaktionsschnell eingreifen; sie kann beim Einparken helfen und vieles andere auch, aber bei einem komplexen Problem wie der Kreativität ist sie der menschlichen Problembewältigung weit unterlegen. Noch? Ob sie in dieser Hinsicht nicht doch irgendwann zuständig sein wird? Ich wage den Satz: Ich kann es mir nicht vorstellen. 332

29 Die Erweiterung des Designbegriffs Globalisierung, Grenzen des Wachstums, Alternativen

Fotogen am Pier liegende Passagierdampfer aus der Zeit bis 1970, wie sie mit Fracht beladen werden, gehören unwiederbringlich der Vergangenheit an. Der Passagierdampfer musste dem Kreuzfahrt-Giganten und dem Containerschiff weichen, der Mastbaum und die Ladeluke dem künstlich intelligenten Hafenkran. Kisten, Körbe und Säcke kommen heute nicht mehr vor: Sie sind ins Innere des Containers verschoben worden, was eine weltumspannende Modularisierung des Transports bedeutet. Der standardisierte Schiffscontai­ ner mit dem aufgeklebten Bar-Code hat in einem beispiellosen Siegeszug die globalen Güterströme in alle Himmelsrichtungen auf enorme Ausmaße anschwellen lassen.1 In den Frachthäfen von Rotterdam bis San Francisco und Yokohama besorgen Kräne und Laufkatzen in geheimnisvollen Abläufen das Beladen der Schiffe nach genauen, im Voraus berechneten „raumzeitlichen“ Ladeplänen, die auch das Gewicht, die Beladungssymmetrie und die Reihenfolge des Entladens berücksichtigen. Lastenzüge fahren in vorgegebener Reihenfolge zur Aufladestelle und setzen den Weg der Fracht auf der Straße oder der Schiene fort. Es ist dies ein mechanisches Ballett der höheren Art, ebenso beeindruckend wie problematisch.2 Der Container wurde zu einem Wirkungsquantum der Globalwirtschaft. Mehr von allem, hierhin, dorthin, kreuz und quer über die Meere und – in kleineren Behältern –, in die Frachträume der Flugzeuge. Wie weit und wie lange noch? Die Frage nach den Belastungsgrenzen durch diesen Prozess wird bereits seit einem halben Jahrhundert gestellt, doch erst seit wenigen Jahren wird sie auch gehört. Die Covid-19-Epidemie hat der Welt im Jahr 2020 die Verletzlichkeit, in die sie sich durch diese innige Verflechtung und die grenzenlose Mobilität von Gütern und Personen begeben hat, mit aller Härte aufgezeigt. Die wachsende Erdbevölkerung produziert einen steigenden Gesamtkalorien-Bedarf und verlangt nach der entsprechenden Lebensmittelproduktion. 333

Abb. 157: Die Scherengitterstruktur der Jurte in der äußeren Mongolei steht für globale, auch „nichtwestliche“ Cleverness im Einsatz von Design zur Lebens­ bewältigung. Erfindungen des „Westens“ wie die Nähmaschine finden dabei – hier manuell angetrieben – zu ihrer eigenen Rolle. (Architectural Design 5/1967)

Wie viele Menschen verträgt der Planet Erde? Noch viele, wenn wir anders produzieren und konsumieren als bisher. Die wichtigste Frage: Wie lässt sich eine Verteilungsgerechtigkeit erreichen? (Erwarteter Einwand: „Was haben solche generell-moralischen Wortmeldungen mit Design zu tun?“ Antwort: Mehr als man denkt.) Mit dem Begriff des „ökologischen Fußabdrucks“ zur Bemessung des Konsums (einschließlich Wohnen und Fortbewegung) als Kennwert für Gegenstände und menschliche Verhaltensweisen steht seit 1994 ein Bemessungs- und Bewertungskriterium zur Verfügung (→ X-29) . Unser Verhalten bemisst sich auch am Gebrauch oder Nichtgebrauch von Gegenständen.3 Zerstörerisch die Erfahrung, dass die Reaktionsbereitschaft der Gesellschaft und Politik nur träge (wenn überhaupt) zunimmt. Diese Aussagen sind mehr als nur moralisches Zubehör in der Welt der Gestaltung. Es ist fast ein halbes Jahrhundert her, seit der Club of Rome seine Denkschrift Die Grenzen des Wachstums (Limits to Growth) veröffentlichte. Deren Autoren waren ein Team um Dennis und Donnella Meadows am Massachusetts Institute of 334

Technology. 1972 war die Globalisierung noch in ihren Anfängen, die „große Beschleunigung“ noch am Anfang. Hätten wir damals nicht nur rhetorisch verständnisvoll reagiert, sondern mit Taten, wären wir heute entscheidend weiter. „Grenzen des Wachstums“ Der Club of Rome fand mit der Tabelle „Aussichten der Menschheit“ („Prospects of Humanity“) eine eindrückliche Veranschaulichung für die Problematik. In der Horizontalen stellte sie den „Zeithorizont der eigenen Sorgen“ dar (kommende Woche, nächste Jahre, die eigene Lebensspanne, die Lebensspanne der Kinder), die vertikale Ordinate veranschaulichte die „räumliche Dimension der Sorge“ (in aufsteigender Reihenfolge: die Familie, die Nachbarschaft, die Nation, die Menschheit als Ganzes)

(→ Abb. 158) .

Die Auto-

ren schreiben, dass jede menschliche Sorge in dieser Matrix ihren Ort hat: Der überwiegende Teil der Menschheit ist so sehr im täglichen Überlebenskampf gefangen, dass er sich nur während der allernächsten Tage um die eigene Familie kümmern kann (innerster Quadrant links unten). Und dass eine abnehmende Anzahl Menschen nur die Möglichkeit hat (so privilegiert ist), sich auf längere Sicht um das Wohl der Menschheit kümmern zu können (äußerster Quadrant rechts oben). „Die meisten Menschen können sich nur um Dinge kümmern, die ihre Familie und ihre unmittelbaren Freunde in naher Zukunft betreffen. Nur wenige denken voraus in die Zukunft von einem globalen Gesichtspunkt aus“, schreiben Dennis und Donella Meadows.4 Es gilt, die Unterschiede zwischen den Menschen so zu verringern, dass immer mehr Menschen Verantwortung übernehmen können. Fragen wie diese sind zentral: Wie viel von welchem Rohstoff verbrauche ich? Wachsen die Ausgangs­materialien für ein Produkt nach oder sind sie danach verloren? Welche Schadstoffe produziere ich? Unter welchen Arbeitsbedingungen ist das Produkt entstanden? Verstärkt mein Verhalten die Gerechtigkeit oder die Ungerechtigkeit in der Welt? Wofür stehe ich: für gedankenlose Verschwendung oder für einen umsichtigen Umgang mit den Dingen?5 Seit etwa 1970 sind Ansätze entwickelt worden, die solche Fragen stellen und Antworten darauf geben und bewusst machen, dass das bisherige 335

Abb. 158: Club of Rome: „Aussichten der Menschheit“ („Prospects of Humanity“), 1972. Unterschiedliche Möglichkeiten, Verantwortung zu übernehmen: Die unbemitteltsten Menschen finden sich im Feld unten links repräsentiert, die wohlhabendsten oben rechts.

Designverständnis zu eng war. Besondere Verdienste um die Erweiterung des Designbegriffs haben sich zwei gebürtige Österreicher erworben, die als Emigranten in den USA größere Klarheit über die Rolle des Designs gewannen: Bernard Rudofsky und Victor Papanek. Auch die Arbeiten des Schweizer Soziologen Lucius Burckhardt, dessen Tätigkeitsfeld die Bundesrepublik Deutschland und die Schweiz waren und dessen Argumentationen er oft zusammen mit seiner Frau Annemarie erarbeitete, veränderten das Sprechen über Design. Dies nicht zuletzt, da Burckhardt von 1976 bis 1983 Erster Vorsitzender des Deutschen Werkbunds war. Bernard Rudofsky Bernard Rudofsky war Kurator am Museum of Modern Art in New York und wurde 1967 mit seiner Ausstellung Architecture Without Architects, einer Auseinandersetzung mit „anonymer‘ Architektur, international bekannt. Schon lange vorher, 1944, war mit der Ausstellung Are Clothes Modern? sein Interesse an Fragen der Nützlichkeit zum Ausdruck gekommen: die Betrachtung der Bekleidung aus der Perspektive der Körpergerechtigkeit.6 40 Jahre später, 336

1987, kam Rudofsky mit seiner letzten Ausstellung in Wien unter dem Titel Sparta/Sybaris – Keine neue Bauweise, eine neue Lebensweise tut not auf sein Lebensthema eines ethischen Designs zurück. Er grenzte sich damit vom westlichen, in Gewohnheit und Selbstüberschätzung fixierten Fortschrittsnarrativ ab und schrieb: „Die Schichten von Kulturstaub, die so vieles von unserer Vergangenheit verbergen, erstarren gelegentlich zu einer Kruste, die allen Lösungsmitteln wissenschaftlicher Forschung widersteht. Gemeinplätze blockieren den Weg zu einem unbefangenen Urteil, Lokalpatriotismus verunglimpft das Fremde. Wer denkt denn daran, dass so ziemlich alles, was uns von den sogenannten Wilden unterscheidet, orientalischen Ursprungs ist! Unser Alphabet und unsere Zahlen, unsere Wissenschaften und Pseudowissenschaften, Ethik und Ästhetik, Philosophien und sogar Religionen sind weitgehend Importartikel. […] Auch die Quellen unserer Kunst, der Architektur und des Städtebaus sind im Osten zu finden. Nur in unseren Wohnsitten und unserer Kleidung sind wir bodenständig barbarisch. Die Frage, ob es ratsam wäre, nachzuholen, was wir versäumten, kam niemals auf, seit wir das Unbehagen in der Kultur mit dem Behagen in der Unkultur vertauschten.“7 In seinen Worten zeigt sich die Berechtigung der Fortschritts-Skepsis eindringlich, eloquent und welterfahren.8 Rudofsky nimmt uns unsere routinierten Mittel zum blind gewordenen Zweck aus der Hand und konfrontiert uns mit den ursprünglichen Zwecken als solchen. Er stellt weiter fest: „Nicht Abb. 159: Bernard ­Rudofsky (Entwurf): fuß­ gerechte Sandale, produziert von 1946 bis 1960. Der Schuh – das Kleidungsstück, das uns mit der Erdoberfläche verbindet – ist in Rudofskys Sicht der Gradmesser für die ­Vernunft oder Unvernunft eines Individuums und auch der Gesellschaft.

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um ‚Einrichtung‘, sondern um Lebensstil handelt es sich hier. Nicht die Mechanisierung des Reinemachens, sondern Reinlichkeit selbst, nicht häuslicher Komfort, sondern alterprobte Methoden, sich Wohlbehagen zu verschaffen, sollen in den Mittelpunkt dieser Erörterung gerückt werden. Unsere Tendenz, Futtern mit Speisen, Waschen mit Baden, Langeweile mit Muße gleichzusetzen, hat uns in eine kulturelle Sackgasse getrieben.“9 Das ist eine Kampfansage an das Diktat des westlichen Effizienzdenkens. Scharfzüngig und geistreich, mit dem Blick des Etymologen, Ethnologen und Anthropologen, glossiert Rudofsky so zum Beispiel die Stuhlmanie („das Anlehnungsbedürfnis“) des modernen Menschen und bezeichnet die Bank ohne Lehne als souveränstes Sitzmöbel, das jedoch leider nur noch beim Klavierspiel Ansehen genießt.10 Nun gut, was soll so schlecht an Rückenlehnen sein? Abb. 160: Bernard Rudofsky: Gegenüberstellung von Schnittmustern aus Japan und Europa, beide 1865. Rudofsky verspottet die „Kabbalistik“ der europäischen Schneiderei als peinlichen Gegensatz zur respekt­ vollen Behandlung des Materials in Asien.

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Für Rudofsky sind sie ein Symptom eines degenerativen, weil gedankenlos nur an der convenience interessierten Verhaltens. Am meisten schätzt er das Sitzen auf dem Boden, wofür ihm die japanische und indische Wohnkultur Beispiele sind. Daunenkissen, für den westlichen Menschen der alternativlose Inbegriff von Schlafkomfort, haben in der Nackenstütze einen uralten Vorläufer auf allen Kontinenten, der unverdienterweise außer Gebrauch geraten ist: geflochten aus Bambus in Asien, aus Porzellan, aus Holz in Nordeuropa und in ganz Afrika (→ Abb. 10, Band 1) . Sarkastisch verspottet Rudofsky das hypertrophe Waffenarsenal des großbürgerlichen Haushalts: „Entreegabeln, Fischgabeln, Salatgabeln, Austerngabeln, Hummergabeln, Spargelgabeln, Kaviargabeln, Wildbretgabeln, Olivengabeln, Makkaronigabeln, Konfektgabeln, Vorlegegabeln und die dazugehörigen Messer und Löffel – alle genau eingetragen in den Preislisten jener Läden, die für die Seligkeit von Bräuten und solchen, die es werden wollen, sorgen.“11 Eine andere Bildlegende, „Vom Henkerbeil zum Buttermesser“, weist auf eine tatsächlich irritierende formale Ähnlichkeit bei Richard Riemerschmid hin. Rudofskys Kritik ist eine Innenwelt-Schau des modernen Menschen in seiner typisch westlichen Verbindung von Selbstgerechtigkeit und Beschränktheit. Lucius Burckhardt Die Design-Skepsis des Soziologen Lucius Burckhardt war ähnlich grundiert wie die Rudofskys, doch begründete er sie weniger anhand visueller Beispiele als mit zeitgenössischen gesellschaftlichen Verhaltensweisen und ebenfalls mit kritischem Blick auf den westlichen Lebensstil und auf die professionellen Reflexe in den Köpfen der Gestalter und Planer. Von Burckhardt war bereits in Kap. 21 kurz die Rede. Als Publizist, Dozent, unter anderem Mitgründer der Gesamthochschule Kassel und von 1976 bis 1983 als Erster Vorsitzender des Deutschen Werkbundes kannte er die Geschichte, Überzeugungen und Mythen der modernen Bewegung und arbeitete sich an ihnen ab. 1970 stellte er fest: „Der Glaube, dass durch Gestaltung eine humane Umwelt hergestellt werden könne, ist einer der fundamentalsten Irrtümer der Pioniere der modernen Bewegung. Die Umwelten der Menschen sind nur zu 339

einem geringen Teil sichtbar und Gegenstand formaler Gestaltung. Zu einem weit größeren Teil aber bestehen sie aus organisatorischen und institutionellen Faktoren. Diese zu verändern ist eine politische Aufgabe.“12 Dies war seine Bilanz nach dem Ende der jährlichen Auszeichnungen von Produkten mit dem Label Die gute Form SWB , als unübersehbar geworden war, dass die Welt in den vorangegangenen 20 Jahren sich weder zum Besseren noch zum Schöneren entwickelt hatte. Doch es blieb für Burckhardt nicht beim postulierten Gegensatz von „Gestaltung“ – als einem visuellen Phänomen – und gestaltungsferner Politik. Zehn Jahre später führte er die beiden Pole der formalen Gestaltung und der Gesellschaftspolitik zusammen – Letztere aber nun nicht mehr als Antithese zu Gestaltung, sondern als wichtiger Teil von ihr – und fand für seinen nunmehr erweiterten Gestaltungsbegriff die kernige Formulierung „Design ist unsichtbar“. Beispiele für diese Dimension der institutionellen Gestaltung gibt es in Fülle, wenn man erst einmal einen Sinn für das Phänomen entwickelt hat. Burckhardt nennt als eindrückliches Beispiel die Fahrpläne und die Tarifgestaltung im öffentlichen Verkehr, Beispiele von „unsichtbarer Gestaltung“, deren beträchtliche Auswirkungen auf die Lebensart der Bevölkerung offenkundig sind: Wo vor etwa 1980 die Transportmittel so schnell fuhren wie technisch möglich, aber zu jeder Stunde zu anderen Zeiten und mit wenig Rücksicht auf Umsteigevorgänge, definiert nun der Taktfahrplan eine systematisierte Ordnung aus Abfahrts- und Ankunftszeiten, Knotenpunkten und Anschlussmöglichkeiten. Diese Matrix wurde in den Niederlanden entwickelt, einem dicht besiedelten Land mit hoher Städtedichte. Ihre Bedeutung liegt in der Plausibilität der Idee, obwohl man erst nach erstaunlich langer Zeit und unter dem Druck der chronisch verstopften Straßen auf sie verfiel. Bald folgten die Schweiz und daraufhin immer mehr europäische Länder. Taktfahrplan, Verkehrsverbund und preisliche Anreize sind Beispiele für das, was Burckhardt mit „unsichtbarem Design“ meint. Er schreibt: „Design […] hat eine unsichtbare Komponente, nämlich die institutionell-organisatorische, über welche der Designer ständig mitbestimmt, die aber durch die gängige Art der Einteilung unserer Umwelt im Verborgenen bleibt. Indem nämlich die Welt nach Gegenständen eingeteilt wird und das Unsichtbare dabei als Randbedingung auftritt, wird die Welt 340

auch gestaltet.“13 Vor diesem Hintergrund kommt Burckhardt zu einem bedenklichen Befund, was die Rolle der Gestalter betrifft: „Beginnen wir mit dem Entwurfsprozess. Hier stellten wir bereits fest, dass der Designer die Welt einteilt nach Objekten statt nach Problemen. Dies beruht auf der linguistischen Determination, welche die Benennung eines Übelstandes gleich zum Gerät seiner Abhilfe macht.“ Als Beispiel nennt Burckhardt die Zwiebelhackmaschine, die den Zeitgewinn wieder bei ihrer Reinigung einbüßt – wofür es dann ein „Zwiebelhackmaschinen-Reinigungsgerät“ braucht. Was er mit solchen satirischen Zuspitzungen meint – hier: die kaum gewonnene, so zerronnene Zeit – nennt Burckhardt „Kontraproduktivität“ (→ X-26) . Er fährt weiter: „Mit zu dieser direkten Verbindung zwischen Benennung und Abhilfe gehört die Stilllegung der Randbedingungen: Über das zu entwerfende Gerät hinaus sollen keine technischen oder organisatorischen Veränderungen notwendig werden. Erfolgreich ist, was in die bestehenden Systeme eingefügt werden kann, und seien die noch so überlastet: ein Abfallzerkleinerungs­ gerät im Ablauf des Spülbeckens, eine Reinigung des Backofens durch Überhitzung, usw. Diese Art der Problemlösung hat ihre Ursache in der Stellung des Designers in der Gesellschaft: als ein im Grunde von der Verantwortung befreiter Ideenlieferant.“14 Die böse Pointe liegt allerdings darin, dass üblicherweise die Lösung eines Problems zur neuen Randbedingung wird, aus der bald neue Probleme erwachsen werden. Der verdichtete Taktfahrplan, zusammen mit Streckenabonnements und Vergünstigungen, ergab einen deutlichen Lenkungseffekt weg vom Privatfahrzeug hin zum öffentlichen Verkehr. Aber auch zu mehr Verkehr und mehr Zersiedlung. Deshalb war und ist sein Einfluss auf die R ­ egionalplanung, die Wohnbautätigkeit und auf die Standortplanung von Geschäftssitzen massiv, er hat in den Köpfen eine neue geografische Topologie etabliert (die Dorfjugend aus dem Hinterland fährt am Wochenende noch spätabends in den Ausgang in die Städte). Eine grandiose Idee wie der Taktfahrplan erweist sich als zwiespältig und begrenzt wirksam: Sie verteilt nicht allein das vorhandene Mobilitätsbedürfnis um, sondern erzeugt zusätzliche Mobilitätsanreize. Deshalb hat Burckhardts kritischer Befund aus den frühen Achtzigerjahren vielleicht zu einem Um-Denken beigetragen, aber nicht zu einem Um-Handeln geführt. Und seither hat sich der 341

Fächer weiter geöffnet: Es gibt zwar ein wachsendes Bewusstsein über die von Burckhardt glossierten Muster, aber zugleich werden neue Dinge in ungeheurer Zahl auf den Markt geworfen. 1977 forderte Burckhardt, dass in die Beurteilung von Gütern zwingend die Frage eingeschlossen gehört, was nach dem Ende ihrer Lebensdauer aus ihnen wird.15 Auch wenn er damit nicht der Erste war, war dies bemerkenswert früh. Für seine Früh- und Weitsicht spricht im selben Zusammenhang auch seine Warnung vor systemischen Abhängigkeiten, in die man durch seinen Entscheid für bestimmte Services geraten kann, die zu Folgekäufen zwingen. Unnötig zu sagen, dass diese Gefahr (Beispiel: Apple!) seither im selben Ausmaß gestiegen ist wie die Bereitschaft, genau dies zu tun.16 Victor Papanek Anders als Rudofsky, früher als Burckhardt und stärker aus der Praxis als Designer und als Lehrer für Gestaltung äußerte sich Victor Papanek, der von den USA aus an Schulen in der ganzen Welt gerufen wurde, um in Workshops die Physiognomie eines „Designs für die reale Welt“ zu ergründen. Wie Rudofsky bemühte er sich um die Überwindung des westlichen Narrativs von Komfort und Bequemlichkeit, wobei ihm seine zahlreichen Lehraufenthalte – die er selber als Lernaufenthalte begriff – in Lateinamerika, Afrika und bei den Inuit im hohen Norden reiches Anschauungs- und Erkenntnismaterial lieferten. Papanek öffnet den Designbegriff und dessen Geltungsbereich – seine Inklusion – maximal weit, wenn er am Anfang seines ersten Buches Design For the Real World. Human Ecology and Social Change (Erstauflage 1971) feststellt: „Alle Menschen sind Designer. Alles, was wir tun, und dies zu jeder Zeit, ist Design; denn Design ist die Grundlage einer jeden menschlichen Aktivität. Die Planung und Strukturierung [patterning] einer jeden Handlung im Hinblick auf einen erwünschten und vorhergesehenen Zweck konstituiert den Design-Prozess. Jeder Versuch, Design davon abzuspalten und daraus einen Selbstzweck zu machen, wirkt der Tatsache zuwider, dass Design die primäre und dem Leben zugrundeliegende Matrix ist.“17 Bereits wie jemand seine Besteckschublade eingerichtet hat, berührt in Papaneks Sicht das Design. Doch 342

Abb. 161: Victor Papanek: Sechseckdiagramm zum „Design-Problem“, 1970er-Jahre: Der Funktionsbegriff betrifft nicht nur die Gebrauchsfunktion, sondern auch Funktionen der Herstellung und des gesellschaftlichen wie familiären Umgangs mit einem Gegenstand.

entgrenzt und banalisiert diese Auffassung nicht den Begriff von Gestaltung? Nicht bei Papanek.18 Denn untrennbar mit der funktionalen Seite der Gestaltung verbunden sind für ihn die Gefühlswerte eines jeden Gegenstandes, wie er in einer Passage begründet: „Die altvertraute Frage ‚Soll es gut funktionieren oder gut aussehen?’ (die scheinbar ewige Alternative zwischen Funktion und Ästhetik) wird von vielen Designern offenbar mit ‚Keines von beiden!‘ beantwortet.“ Und er fährt fort: „Natürlich ist die Frage selbst falsch. Es gibt diese scheinbare Trennung von Funktion und Äußerem in Wirklichkeit gar nicht. Das Aussehen, die Erscheinung eines Werkzeugs, Objekts, Gebrauchsgegenstandes oder eines Gebäudes, ist ein wichtiger Teil der Funktion. Wir verlangen mehr von den Dingen, die wir verwenden oder in denen wir leben, als dass sie nur funktionieren. Sie müssen in uns auch Assoziationen hervorrufen, eine ästhetische, soziale und symbolische Funktion haben.“19 Papanek fasst seine Anschauungen über Design in einem sechseckigen Ideogramm zusammen, das seine Analyse des „Funktionskomplexes“ wiedergibt. 343

Die Ecken nehmen folgende Begriffe ein: Gebrauch, Herstellungsmethode, ­Assoziation (persönliche Beziehung zum Gegenstand), Ästhetik, (gesellschaftlicher) Bedarf, schließlich Telesis als Kriterium, ob ein Gegenstand zur Lebensart und zum geistig-kulturellen Setting einer Person passt oder ob er ­darin ein unverstandener Fremdkörper ist.20 Jeden dieser sechs Pole versieht Papanek mit dem Zeichen Yin-Yang, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass die Kriterien in geistiger Bewegung gehalten werden sollen: weich/hart, Gefühl/Denken, Intuition/Intellekt, und offen für Fragen, Zweifel, Aktualisierung und unvoreingenommene Selbstvergewisserung. Im Text beleuchtet er jeden dieser Eckbegriffe diskursiv. Selbsterklärend ist wohl nur der Pol Herstellungsmethode (aus verfügbaren Materialien, Werkzeugen und Verfahren), die Bedürfnisse beziehen sich auf das Überleben, erweitert um die eigene Identität und ihre Zielsetzungen, die Ästhetik betrifft über die Gestalt hinaus die Wahrnehmungsfähigkeit und Sensibilität, Figur-Eigenschaften und biosoziale Voraussetzungen, der Gebrauch eines Dinges ist zunächst der Weg, „um etwas damit zu machen“, und auch, „um damit etwas von sich mitzuteilen“ – als Symbol, die Assoziation berührt die Bedeutung eines bestimmten Gegenstandes als Teil der frühkindlichen Prägung, in der erlebten Erziehung und der eigenen Biografie, schließlich die Telesis als zur gegenwärtigen Epoche und zur eigenen Lebensart passende Denk- und Handlungsweise. Als Beispiel für das Telesis-Kriterium nennt Papanek die Ursprungsidee des Bauhauses und ihr Veralten im Lauf der Zeit: „Für einen Studenten, dessen amerikanische Designschule noch immer sklavisch die Unterrichtsmuster aus dem Bauhaus imitiert, existieren Informatik und Elektronik, Kunststofftechnologie, Kybernetik und Bionik einfach nicht. Die Unterrichtsformen am Bauhaus waren für ihre Zeit und ihren Ort ausgezeichnet (Telesis), amerikanische Schulen, die diesen Abläufen in den achtziger Jahren folgen, perpetuieren einen Infantilismus des Designs.“21 Der Maler Gustave Courbet sagte dies bereits um 1870: „Il faut être de son temps“ – man muss in der Gegenwart sein, man muss als Zeitgenosse leben. Die Telesis gegen Ende des 20. Jahrhunderts (und im 21. Jahrhundert) verlangt auch, sagt Papanek, dass wir uns nicht in einem eindimensionalen Fortschrittsdenken verbieten, scheinbar von der Zeit „überholte“ Ideen von früher wieder in Betracht zu ziehen, zum 344

Abb. 162: Victor Papanek: Das „Eskimo-NeunPunkte-Problem“: Um alle Punkte mit nur vier Linien verbinden zu können, muss man das gewohnte, scheinbar naheliegende Denksystem verlassen.

Beispiel könnten Hochsee-Frachtschiffe wieder mit Segeln ausgestattet werden und mit Windkraft-Unterstützung fahren. Die kostspieligen vielköpfigen Besatzungen früherer Epochen wären nicht mehr nötig, da die Steuerung der Segel computergesteuert erfolgen könnte.22 Der Begriff des Fortschritts wird bei Papanek einerseits brüchiger, anderseits aber auch plastischer und überraschender. Er ist nicht mehr nur der Überwinder des Alten, sondern kommt zu diesem hinzu, was die Wahlmöglichkeiten vermehrt und die Suche nach einem Optimum bewusster gestaltet. Als Urheber eigener Entwürfe hat Papanek wenig Aufhebens von sich gemacht. Seine Bücher dokumentieren aber Arbeiten seiner Studentinnen und Studenten etwa an der Purdue University (Indiana) als Zeugnisse seiner Art von Aufgabenstellungen. In einer dieser Aufgaben fragte er nach Ideen, was aus den Millionen von abgefahrenen Autoreifen werden könnte. Ein Student schlug eine fußbetätigte Wasserpumpe vor, die mittels eines Pedals Grundwasser hochpumpt und eine Gemüsekultur bewässert, der Vorschlag benutzte die Tendenz des zusammengepressten Reifens, in seine Ruheposition zurückzukehren und dadurch einen Unterdruck zu erzeugen. Könnte das funktionieren? Wir wüssten es gern, aber bemerkenswert ist die Blickrichtung des Unterrichts von Papanek: Sie gilt nicht der Frage, wo es noch eine Marktlücke für einen neuen Gegenstand gibt, sondern der Frage nach einem neuen Sinn für alte Gegenstände. Papaneks Ansatz wurde gelegentlich auch harsch kritisiert, etwa von Gui Bonsiepe, der ihm in den Siebzigerjahren vorwarf, mit 345

seiner Zuneigung zu „armem“ Design die südlichen Länder in ihrer Rolle als Benachteiligte festzuschreiben und überhaupt mit der Ablehnung der modernen Fortschrittserzählung die bestehenden Herrschaftsverhältnisse zu bestätigen.23 Whole Earth Catalog In einem thematischen Zusammenhang mit den hier erwähnten Exponenten eines erweiterten Designbegriffs steht auch der Whole Earth Catalog (WEC), der von 1968 bis 2004 erschien, um einem breiten Publikum access to tools zu geben – Zugang zu Werkzeugen, wie es im Untertitel hieß. Das Erscheinen der ersten Ausgabe, Ende 1968, war kurz nach dem Erstflug amerikanischer Astronauten zum Mond – noch ohne Landung, – die die ersten Fotografien des Planeten Erde von „außen“ zurückgebracht hatten. Dieses Bild der Erde als blauer Planet, umhüllt von seiner Haut der Biosphäre, in der Schwärze des Alls schwebend als Ganzes wirklich zu erblicken, war ergreifend. Was die Aufnahmen zeigten, hatte man zwar gewusst, aber der tatsächliche Anblick konkretisierte ein vormals abstraktes Wissen und machte es unvermittelt als ein epochales Ereignis sinnlich erfahrbar. Die Erde war jetzt „the big here“ (das große Hier), und der Musiker Brian Eno ergänzte: und „the long now“ (das lange Jetzt).24 Der WEC verstand sich als soziales Netzwerk innerhalb der Gegenkultur („counter culture“). Er wurde von Stewart Brand gegründet und war die erste Plattform für ein Umweltbewusstsein, mit Leseempfehlungen, Kauftipps für robuste, nicht modische, aber praktische Kleidungsstücke, Bastelanleitungen für alternative Produkte und Installationen (so etwa ein Regal zum Züchten von Pilzen), aber auch mit Steckbriefen von Rechenmaschinen und der ersten Personal Computer. Der WEC bildete die Klammer zwischen der Aussteigerszene, in der man ein naturnahes Leben führte und jenen technisch begabten freaks, für die die neuen Medien selber Zugang zu Werkzeugen und zu Wissen herzustellen versprachen, ja selber ein solches Werkzeug waren. Die Aufteilung der Welt in sieben Themenkomplexe war so plausibel, dass sie von der ersten bis zur letzten WEC -Ausgabe nicht revidiert zu werden brauchte: „Verständnis ganzer Systeme; Behausung und Landnutzung; Indus­ trie und Handwerk; Kommunikation; Zusammenleben; Nomadentum; Lernen“ 346

Abb. 163: Titelseite des Whole Earth Catalog (2. Ausgabe), Frühling 1969. Eine ­alternative „Plattform“ avant la lettre. Auf der Rückseite stand geschrieben: „We can’t put it to­gether. It is ­together“.

(Understanding Whole Systems; Shelter and Land Use; Industry and Craft; Communications; Community; Nomadics; Learning). Der erweiterte Designbegriff – erweitert um die Frage nach der Auswirkung der Produktion und des Gebrauchs von Gegenständen – stand im WEC im Zentrum. In produktionstechnischer Hinsicht war der Katalog von seinen Machern einfach und unzimperlich hergestellt, mit dem intensiven Gebrauch einer Polaroidkamera (für die Reproduktionen aus Büchern) und einer IBM „Selectric“ Schreibmaschine (mit ihren auswechselbaren Kugelköpfen für unterschiedliche Schrift-Fonts). Stewart Brand nennt ihn in der Ausgabe zum 30-Jahr-Jubiläum das wahrscheinlich erste Beispiel für open-source desktop publishing.25 Das Thema des Do-it-yourself erhielt in diesen Jahren ganz allgemein im Zusammenhang mit basisdemokratischen „Selbstermutigungen“ eine Bedeutung. „Partizipation“ wurde ein progressives Schlüsselwort, für das sich in den USA der Begriff „Advocacy Planning“ fand. Gestalterinnen und Gestalter sollten sich vermehrt um den Einbezug der „Benutzergruppen“ bemühen, wozu gehörte, diese nach ihren Bedürfnissen, Erwartungen und Ideen zu ­f ragen.26 Auch Papanek und Burckhardt plädierten beide für dieses Modell. 347

Abb. 164: Hüttchen für ­Fischerbedarf, aus ausgedienten Fischerbooten gebildet, Northumberland / England. Beispiel für einen in Lebensumständen begründeten FunktionsTransfer und für ein DesignDenken außerhalb der professionellen Gemarkungen. (Dixon, Rethink)

Was im Bauen noch immer eine gemilderte Variante des top-down-Modells war, lockerte sich in der Gestaltung der Wohnumgebung noch mehr. Im halböffentlichen Bereich der Außenräume entfiel ein weiteres Stück der Bestimmungsmacht von „oben“, und im privaten Bereich der Wohnungseinrichtung geschah dies noch stärker, soweit der Wohnungsgrundriss es gestattete. Der Griff zum Lammfellroller, um den Zimmerwänden die Farbe eigener Wahl zu geben, war ein emanzipatorischer Schritt. Erst recht der Wunsch der Jugend nach kultureller Selbstbestimmung, der sich in einer Aufmerksamkeit für nonkonformistische Lösungen äußerte, mit denen sie sich von der geschmackvollen Wohlanständigkeit ihrer Eltern abzusetzen trachtete: Innerhalb der vorgegebenen Zimmerwände waren es Funde aus dem Trödelladen oder vom Flohmarkt – auch offensichtlicher „Kitsch“, der jüngst von rechtschaffenen Bürgern ausgemustert worden war –, die nun in ein Relief der persönlich gestalteten Wohnumgebung eingebettet und damit zugleich umcodiert wurden. Sie waren jetzt nicht mehr ein Zeichen von „schlechtem Geschmack“, sondern von kultureller Autonomie. Jochen Gros: Halbfertigdesign Der deutsche Designer Jochen Gros schlug eine tiefgreifende Veränderung des Designverständnisses und des Umgangs mit Gestaltungsproblemen vor. Er beschäftigte sich seit den 1970er-Jahren mit einem systematisierten Einbezug 348

von Halbfertigteilen beim Entwurf und der Herstellung eines Gegenstandes. Gros hatte einen Teil seiner Studien am Institut für Umweltplanung in Ulm (das nach der Schließung der HfG deren Räumlichkeiten übernommen hatte) verbracht. Er entwickelte in auffallender Parallelität zu Enzo Mari (→ Kap. 23), mit einem vergleichbaren soziokulturellen Anliegen, in das jedoch noch stärker der Gedanke eines umweltschonenden Umgangs mit Werkstoffen und des Recyclings hineinwirkte, das Modell eines konsequenten Halbfertigdesigns. Er sah es als umweltverträgliche Alternative zur Konsumsucht und zur Massenproduktkultur. Statt dass eine Wirtschaft weitgehend auf Fertigprodukte ausgerichtet wäre, wie es in Wirklichkeit der Fall war, sollen die Konsumenten die Produkte fertigstellen und damit auch individualisieren, womit eine engere Beziehung zum Gegenstand entstünde. Bei diesem Modell könnten neue Mischformen zwischen Produktion und Konsum entstehen, wie Gros schreibt: „Ich meine damit den halbprofessionellen Bereich, in dem sich Eigenarbeit zum zweiten Beruf entwickelt, und die dezentrale, kleingewerbliche Werkstattproduktion. Um einen Begriff dafür zu bilden, könnte man dieses Spektrum vom Selbermachen des Konsumenten über den zweiten Beruf bis zur Werkstattproduktion als ‚neues Handwerk‘ bezeichnen. Dieses ‚neue Handwerk‘ hätte im Rahmen meiner Utopie den entscheidenden Anteil an der Fertigstellung von Produkten zu übernehmen, es hätte unter Ausnutzung industriell produzierter Materialien, Halbzeuge und Einzelteile dem Design seinen (wahrscheinlich vielfältigen) Stempel aufzudrücken und könnte allein damit den Rückfluss von Abfallmaterialien und weiterverwertbaren Einzelteilen im Sinne einer Recyclingwirtschaft übernehmen. Ökologisch erscheint das überlebensnotwendig. Sozialpsychologisch würde dadurch unter anderem die Identitätsproblematik weitgehend gemildert – und zwar nicht nur für die Konsumenten, sondern auch für die jeweils beteiligten Produzenten.“27 Was damit auch erreicht würde, wäre – ohne dass Gros den Ausdruck verwendete – ein wertvoller Anteil von eigentätiger Poiesis, die über die konsumierende Aisthesis hinauswiese. Der Ansatz hat Berührungspunkte mit dem etwa gleichzeitig entwickelten „offenen Prinzip“ in der DDR

(→ Kap. 22) .

Gros

unterrichtete an der Hochschule für Gestaltung Offenbach und gründete dort die Gruppe Des-In (für Design-Initiative). Einprägsam – vielleicht allzu sehr 349

und unglücklich bildstark, weil sich darin nur ein Teil des Gros’schen Modells abbildete – war ein aus alten Fahrzeugreifen bestehendes Sofa; ein weiteres Beispiel für die Reifen-Problematik. Bildwirksames Design erregte auch in anderen Fällen unmittelbares Aufsehen, verdrängte jedoch gerade durch die visuelle Prägnanz allfällige kritische Gedanken zum Wirtschaftsgeschehen. In London schuf Ron Arad 1981 seinen Erstling, den Sessel beziehungsweise das Zweiplätzer-Sofa „Rover Seat“, der die muschelartigen, markant gekurvten lederbezogenen Einzelsitze von Abbruchexemplaren der Limousine Rover 2000 auf ein schwarzlackiertes kräftiges gerundetes Rohrgestell setzte: der scharfe Gegensatz von feinporigem cognacfarbigen (oder auch schwarzem) Leder und der überrobusten Stahlkonstruktion übte eine starke Wirkung aus (→ Abb. 172) . Er ermöglichte Arad die Gründung seiner One-off-Galerie („One-off“ bedeutet „einmalig“, „Einzelstück“, vom Rover Seat wurden aber etwa 300 Stück gebaut). Die mit dem Reifensofa von Des-In vergleichbare Zeichenhaftigkeit findet auf der Ebene der Bedeutung nicht ihre Entsprechung. Während bei Arad die Beziehung zwischen Produzent und Konsument doch „vertikal“ bleibt, ist das Modell von Gros horizontal und interaktiv. Gros geht es um eine Neuformulierung des Machens (der Konzeptions- oder Produktionsmethode), Arad um Perzeption und eine kulturelle Kommunikation. An dieser Scharnierstelle findet der Übergang von der Modernitätsskepsis zur Postmoderne statt. Seit der Formulierung der in diesem Kapitel vorgestellten Gegenpositionen zum Design-Mainstream ist ein halbes Jahrhundert vergangen. Es spricht für die damals aufgestellten Forderungen, dass sie ihre Aktualität und Frische nicht verloren haben. Oder müssten wir es umgekehrt ausdrücken? Spricht es für die Unfrische des Designs, dass zahlreiche der Forderungen noch immer einer Umsetzung harren?

350

Anmerkungen

17 Victor Papanek: Design for the Real World. Human Ecology and Social Change (1971), 2. ed. Chicago 1984, S. 3. Übers. C. L. 18 Gui Bonsiepe war da anderer Ansicht: „Bombast

1

Dimensionen der Schiffscontainer (L/B/H): 6,10/2,44/2,59 Meter. Die Länge von 6,10 Meter entspricht 20 Fuß, der doppelt so lange 40-FußContainer misst 12,19 Meter

2

Vgl. das Themenheft „Globalisierung“ der Zeitschrift Du, Februar 2003 (Nr. 733)

3

4

5

7

Nr. 61, Januar 1973, S. 13–16 19 Victor Papanek: „Vorschau aus der Sicht von heute“, in: Gsöllpointner/Hareiter/Ortner (vgl. Anm. 13), S. 587 20 V. Papanek: Design für die reale Welt. Anleitungen

Den Begriff „ecological footprint“ prägte Mathis

für eine humane Ökologie und sozialen Wandel

Wackernagel 1994 in seiner Dissertation bei Prof.

(erste deutschsprachige Ausgabe), Kapitel „Was ist

William Rees an der University of British Columbia.

Design? Eine Definition des Funktionskomplexes“,

Club of Rome (Dennis und Donella Meadows): Limits

Wien/New York 2009, S. 19–40

to Growth, 1972 (dt. Grenzen des Wachstums),

21 Ebd., S. 44

S. 13

22 Die erneute Ausstattung von Frachtschiffen mit Se-

Fortschrittskritik hatte sich in den USA schon früh

geln würde die Hebelverhältnisse fundamental ver-

artikuliert: 1945 veröffentlichte Henry Miller den

ändern und wäre mit der heutigen Konfiguration von

Bericht The Air-Conditioned Nightmare (dt. Der kli-

Containerschiffen nicht zu vereinbaren. Ökologisch

matisierte Alptraum); 1964 erschien von Peter Blake

wäre die erneute Nutzung der Windenergie jedoch

God’s Own Junkyard. The Planned Deterioration of

notwendig und physikalisch möglich, woraus sich

American Landscape; 1970 von Alvin Toffler: Future

die Aufgabe ergäbe, einen neuen Container-kompa-

Shock (dt. Der Zukunftsschock. Strategien für die 6

aus Pappe“, in: Form. Internationale Revue (Köln),

tiblen Schiffstyp (samt Beladekran!) zu entwickeln.

Welt von morgen).

23 Wie Anm. 18

1947 erschien Rudofskys Buch Are Clothes Mo-

24 Vgl. Stewart Brand: „The Long Now“, in Whole Earth

dern? bei Paul Theobald, New York.

Catalog (30th Anniversary Celebration) Nr. 95/

Bernard Rudofsky: Sparta – Sybaris. Keine neue

1998, 2. Sektion, S. 3. Diese Jubiläumsnummer war

Bauweise, eine neue Lebensweise tut not. Salzburg/

in der 1. Sektion ein Reprint des WEC Nr. 1 (Herbst

Wien 1987, S. 8

1968) und versammelte in der 2. Sektion Stellung-

8

Vgl. Peter Blake: God’s Own Junkyard (wie Anm. 5)

nahmen zahlreicher Publizisten und Wissenschaftler

9

Rudofsky (wie Anm. 7), S. 9

10 Ebd. 11 Ebd., S. 111 f. 12 Lucius Burckhardt: „Design heisst Entwurf, nicht

zum Stand der Dinge im Jahr 1998. 25 Stewart Brand: „We Were as Gods“ (Impressum). In: wie Anm. 24, S. II 26 „Advocacy Planning“ war eine ab 1965 von Paul

Gestalt!“. In: Bazon Brock (Hrsg.): Lucius Burck-

und Linda Davidoff vorgeschlagene Planungsme-

hardt. Die Kinder fressen ihre Revolution (Text-

thode, bei der die Fachleute sich auf Gedanken und

sammlung). Köln 1985, S. 65

Wünsche der Betroffenen stützen, statt top-down

13 Lucius Burckhardt: „Design ist unsichtbar“, in H. Gsöllpointner/A. Hareiter/L. Ortner (Hrsg.): ­Design ist unsichtbar. Wien/Linz 1981, S. 13–20, hier S. 16

die Maßnahmen vorzusehen, die sie a priori für die richtigen halten. 27 Jochen Gros: „Halbfertigdesign. Auf der Suche nach Modellen und Beispielen für mehr Eigenarbeit“,

14 Ebd., S. 18

in: Gsöllpointner/Hareiter/Ortner (vgl. Anm. 13),

15 Lucius Burckhardt: „Der seine Bedürfnisse konsu-

S. 581–584, hier S. 582

mierend befriedigende Mensch zerstört sein Environment und das seiner Mitmenschen“ (Antworten zur Umfrage „Gute Form 1977?“, in: werk-archithese Nr. 4/1977, S. 6 16 Ebd.

351

X-29  Lebensstandard und Lebensqualität

In der Zivilisation galten Jahrhundertelang Lebensstandard und Lebensqualität als Synonyme, auch wenn es die Begriffe als solche nicht gab. Man kannte diffuse Befindlichkeiten wie Behagen in der Sicherheit oder Bedrohung in der Angst. Politische Krisen brachten für einige Zeit das Sicherheitsgefühl ins Wanken. War es wiederhergestellt, empfand man Lebensqualität und Lebensstandard wieder als Zwillinge. In Stichworten soll hier wiederholt werden, dass das Vierteljahrhundert nach 1945 – zuerst im Westen, dann auch im politischen Osten – für viele Menschen einen zuerst zögerlichen, dann einen langsam erstarkenden Wohlstand brachte: Reisen, Kühlschrank, Auto, Wasch­ maschine, TV, Tonbandgerät, Stereoanlage. Das mittelständische Leben nahm seinen beruhigenden Gang in die Saturiertheit hinein. Um 1970 entstanden Risse in dieser Vorstellung vom guten Leben. Fragen nach dem Wozu-das-alles? traten ins Bewusstsein, und die Parallelisierung von ­Lebensstandard und Lebensqualität wurde von der Nachkriegsgeneration ­angezweifelt. Die Infragestellung blieb allerdings in vielen Fällen im v ­ agen Bereich der Theorie („Man müsste …“) und beeinflusste mehr das Reden als das Verhalten. Die letzten Kapitel dieses Buches entstanden nach dem Anschwellen der weltweiten Covid-19-Pandemie. Plötzlich war der Himmel im Frühling 2020 fast vollständig frei von Kondensstreifen, da die Zivilluftfahrt nahezu vollständig eingestellt war. Virtuelle Konferenzen über Kontinente hinweg ersetzten den Business-Tourismus. Die Hoffnung keimte auf, dass zahlreiche Menschen die Qualitäten des Nah-Tourismus entdecken und von der Vorstellung Abstand nehmen würden, am Ende ihres Lebens jeden Winkel der Welt bereist zu haben. Je nachdem, ob man darauf hofft, daran zweifelt oder davon überzeugt ist, dass sich im Nachhinein nichts geändert haben wird, teilt man den optimistischen, den skeptischen oder den pessimistischen Blick auf die Welt. Im „ökologischen Fußabdruck“ haben wir heute eine nüchterne Messgröße für unseren Lebensstil, die den Vorzug hat, dass sie nicht alles auf die lange 352

Bank der Moral zu schieben gestattet. Der Begriff geht auf die Umweltkonferenz von Rio 1992 zurück, die „Nachhaltigkeit“ als Stichwort auf die Agenda setzte. Lesen wir demgegenüber Äußerungen von prominenten Kritikern des Wohlstandspfads zum Thema Umweltbewusstsein aus den 1970er-Jahren, sind wir enttäuscht, wie wenig sie damals über eine allgemeine Kritik am westlichen Lebensstil hinausgingen und wie wenig konkret ihre Kritik war. Unsere heutige Enttäuschung darüber ist das Zeichen, dass sich in dieser Hinsicht etwas getan hat. Die generelle Kritik, so berechtigt sie damals schon war, war nur die erste Stufe, der weitere Schritte folgen mussten. Wir haben heute Instrumente, um unser Verhalten zu quantifizieren, und wir haben Konzepte dafür, welches Verhalten wir anstelle des üblichen uns zu eigen machen könnten, sollten, müssten – nein: können, sollen und ­müssen. Das erwähnte Instrument des „ökologischen Fußabdrucks“ gibt uns Kennwerte: Es handelt sich um eine Bemessungsmethode, die 1994 von Mathis Wackernagel und dessen Doktorvater William Rees in Vancouver vorgeschlagen wurde, um die Umweltbelastung aus dem Verhalten einer Population, aus deren Produktion und Konsumption zu veranschaulichen. Er betrifft die Frage: „Wie viel biologische Kapazität des Planeten wird von einer gegebenen menschlichen Aktivität oder Bevölkerungsgruppe in Anspruch genommen?“ Jeder Mensch hat grundsätzlich eine Einheit an „globalen Hektaren“ Landwirtschaftsfläche zugute. Mehr nicht. Der Planet Erde, mit der natürlichen Reproduktionsrate seiner Ökosphäre, ist eine unveränderliche Messgröße, die Menschheit jedoch nimmt zu. Ein globaler Fußabdruck von 1,0 würde den Gleichgewichtszustand bezeichnen, der dann herrscht, wenn die Menschheit nicht mehr verbraucht, als die Erde an Lebensmitteln und Energieträgern hervorbringen kann. (Diese Pro-Kopf-Fläche wird folglich proportional zum Bevölkerungswachstum kleiner.) Von diesem Gleichgewicht ist die Menschheit weit entfernt, und zudem bestehen innerhalb der unterschiedlichen Populationen enorme Unterschiede. Ein US -Amerikaner, eine Russin oder ein Japaner beanspruchen zwischen dem Fünf- und dem Zehnfachen, eine Nordeuropäerin fast ebenso viel, ein Chinese das Vierfache, eine Brasilianerin oder ein Mexikaner etwa das Dreifache. Einzig eine Bewohnerin südlich der Sahara oder ein 353

Inder sind nahe am Wert 1 oder sogar darunter bis zum Minimum von 0,4. Von Ländern mit einem Wert kleiner als 1 zu sprechen bedeutet, dass sie indirekt die ökologische Schlemmerei der anderen finanzieren. Die Relation zwischen den wohlstandssüchtigsten und den ärmsten Volkswirtschaften – ihr spezifischer Ressourcenverbrauch – beträgt folglich etwa zwanzig zu eins, und innerhalb der einzelnen Volkswirtschaften kann er wegen des Wohlstandsgefälles auch erschreckend groß sein. Die Betrachtungsweise nach dem „ökologischen Fußabdruck“ ging indirekt aus der erwähnten UNO -Konferenz von Rio hervor, die sich vornahm, mit dem Begriff der Nachhaltigkeit (sustainability) Einfluss auf die Entwicklung, die Gestaltung, die Produktion und den Gebrauch von Gütern des Alltags zu nehmen. Wie aber lässt sich der ökologische Fußabdruck verkleinern? Durch „Reduzieren, Wiederverwenden, Rezyklieren“ der Stoffe (englisch die drei „R“: reduce, re-use, recycle), also erstens durch eine signifikante Verlangsamung und Verringerung des industriellen Stoffwechsels, durch längere Gebrauchszyklen, durch Reparieren satt Wegwerfen, zweitens durch ein Design, das auf ein effektives, der Natur abgeschautes Rezyklieren der Komponenten hin angelegt ist. Doch die Verlangsamung des Ressourcenumsatzes allein reicht nicht, der Umsatz muss von einem linearen Modell zu einem Kreislauf umgebaut werden. Dazu ist ein weiteres Modell entwickelt worden: Cradle-to-Cradle („Von der Wiege zur Wiege“). Ihm liegt folgender Gedankengang zugrunde: Das Ende der Lebensdauer eines Produkts darf nicht weiter ein Tabu sein, wie in der heutigen Welt des Verkaufs, sondern muss bei seiner Planung und Entwicklung und in der realen Produktion mitbedacht sein. Ist dies erreicht, ist der Begriff der „Lebensdauer“ nicht mehr adäquat, da nach dem Vorbild der Natur aus dem Abgelebten Neues entsteht. Konkret heißt das, dass ein kaputtes Produkt sich „abbauen“, sprich zerlegen lässt, sodass daraus ent­weder ­weiterhin funktionsfähige Komponenten oder wiederverwendbare Stoffe hervorgehen. Die metallurgischen Kenntnisse und praktischen Möglichkeiten zum Rezyklieren von Edelstahl oder Legierungen, selbst zum nachträglichen Trennen seiner Komponenten, um ein Beispiel zu nennen, sind heute lückenlos vorhanden. Bei anderen Materialverbindungen arbeitet man an der Lösung, sie schadstofffrei in den Verwertungskreislauf zurückzuführen. 354

Hingegen bedeutet das „downcycling“ von Materialien, etwa das Rezyklieren von Zeitungspapier zu Toilettenpapier, nur eine Zweitverwertung, ist aber kein wirklicher Beitrag zur (Auf-)Lösung des Abfallproblems. Die Voraussetzung dafür ist die lückenlos gewährleistete Trennbarkeit und die konsequente Unterscheidung zwischen der Ökosphäre (kompostierbare Stoffe) und der Technosphäre (wiederverwendbare Stoffe). Die Trennbarkeit innerhalb der Technosphäre bedingt auch die Möglichkeit, einen Gegenstand wieder in seine Ausgangsstoffe aufspalten können: eine hohe Hürde. In Deutschland propagierte Günter Horntrich seit den 1980er-Jahren ein konsequentes Designdenken in Kreisläufen. In der Schweiz setzte sich Walter R. Stahel mit seinem Genfer „Institut für Produktdauerforschung“ für das Thema ein.* Verfeinert, systematisiert und in industriellen Partnerschaften konkretisiert wurde der Ansatz der Kreislaufwirtschaft durch den Chemiker Michael Braungart und den Architekten William McDonough, wie sie in ihrem Buch Cradle to Cradle. Einfach intelligent produzieren („Von der Wiege zur Wiege“) darlegen. Von ihnen stammt auch die Bezeichnung Cradle-to-Cradle für die FundamentalAlternative zum linearen Verschleißprinzip „Von der Wiege zur Bahre“, dem bisherigen Denk- und Handlungsmodus.** Als Blaupause diente ihnen die Erkenntnis, dass der Mensch als einziges Lebewesen Abfall produziert, während dies Tiere und Pflanzen nicht tun. Die Population der Ameisen, an Biomasse angeblich das Vierfache der Menschheit, trägt dank ihres Riesenappetits im Gegenteil sehr tüchtig zum Abbau, genauer: zur Umwandlung der Abfallstoffe bei. Das Prinzip Cradle-to-Cradle sollte, konsequent durchgeführt, zu einer sukzessiven Entgiftung der Zivilisationen führen. Fragen, die sich aus diesem Konzept ergeben, sind intellektuell wie praktisch anspruchsvoll: Was bedeutet Cradle-to-Cradle in Zukunft für die materielle Obsoleszenz (wenn das Produkt kaputt ist), die technische Obsoleszenz (wenn die Technologie bessere Lösungen gefunden hat) und die modische Obsoleszenz (wenn ich mich nicht mehr trendy fühle)? Was wäre die bessere Lösung auf der Ebene der Technologie? Auch hier gilt es, umzudenken: Aus der herkömmlichen Fortschrittsformel „Mehr und mehr aus immer weniger“ wird werden ­ eniger“. Unser müssen: „Gleich viel oder etwas weniger aus noch sehr viel w mutmaßliches Befremden über diese Anforderung wird sich in Gelassenheit 355

wenden, wenn wir dabei erfahren, dass das Leben deshalb nicht ärmer wird. Wenn es uns gelungen sein wird, die empfundene Lebensqualität nicht mehr reflexhaft mit der Vorstellung des wachsenden Lebensstandards zu verbinden, werden wir dies als eine bewusstere Form des Genießens erleben, nicht als Verzicht.

*

Dagmar Steffen (Hrsg.): Welche Dinge braucht der Mensch? (Gießen 1995). Darin u. a. Walter R. Stahel: „Wirtschaftliche Strategien zur längeren und intensiveren Nutzung von Gütern“, S. 184–191

**

Michael Braungart, William McDonough: Cradle to Cradle. Einfach intelligent produzieren. Frankfurt a. M. 2003

356

30 Verweigerung und Hedonismus Die Postmoderne im Unterholz der Kulturtechniken

Die frühen Siebzigerjahre zeigen sich im Rückblick als eine merkwürdig charakterarme Zeit. Dies, nachdem die sixties ein wahres Feuerwerk von Ideen hervorgebracht hatten, die alle auf ihre Weise aus einer FortschrittsZuversicht kamen. Nach den erfolgreichen US -Mondmissionen folgte eine eigenartige Spannungslosigkeit und geistige Leere. Ist eine Zeit nur dann vital, wenn sie voller Kontroversen steckt? Seit dem späten 19. Jahrhundert war dies der Fall : Immer gab es Stoff für kulturelle und ästhetische Auseinandersetzungen: Ornament ja oder nein? Einzelstück oder Serie? Sachlichkeit oder Styling? Geschmackvoll oder geschmacklos? Um 1970 schien plötzlich einiges klar zu sein. Erfolgreiche Architekten bauten meistens in Stahl und Glas und Flachdach, Designer entwarfen gewohnheitsmäßig Stahlrohrmöbel. Die Autos wurden immer zuverlässiger, aber auch langweiliger. Eine Ausnahme war 1974 der erste VW „Golf“, nachdem der Volkswagen-Konzern den längst veralteten „Käfer“ mit dem Werbeslogan „und läuft – und läuft – und läuft“ jahrelang weiterproduziert hatte und nicht wahrnehmen wollte, dass der Konzern mit dieser Charakterfestigkeit auf den Abgrund zu lief. War nun der erste „Golf“ nicht der Beweis dafür, dass der Fortschritt endlich an sein Ziel gekommen war?1 Beim Durchsehen von Zeitschriften dieser Jahre begegnen uns Anzeigen für reizlose Bekleidungsstücke, klobige Möbel und unerfreuliche Lampen. Der Gestaltung fehlte in den frühen Siebzigern ein Stimulus, ein ideeller Fluchtpunkt. Da half es wenig, dass in dieser Zeit frühere Forderungen, etwa seitens des Werkbundes, in Erfüllung gingen und die Modernität sich weit in die Gesellschaft hinein verbreitete (Stichwort IKEA). Man durfte nun das Kochgeschirr vom Herd direkt auf den Tisch bringen, musste die Speisen nicht mehr in der Küche in eine Servierschüssel umfüllen. Dafür war das Kochgeschirr jetzt dekoriert – vermutlich des öftern mit abwechselnd braunen und orangen 357

Punkten und Quadraten –, die Filtermaschine für Kaffee orange oder braun. Den kreativen Unterdruck empfanden viele. Dies war die Situation, aus der die „Postmoderne“ hervorging. Sie war eine Autoimmunreaktion gegen eine schal gewordene second-hand-Moderne.2 Mischformen als Prinzip Erst im Nachhinein erscheinen viele Dinge klarer und zeigen sich in ihrer Symptomatik. Neben dem VW Golf kam kurz nach 1970 ein weiteres Auto auf den Markt, diesmal als eigenartiges Nischenprodukt: der Range Rover als zivilisierte Variante des ungehobelten Geländefahrzeugs Land-Rover. Hochgebaut, schwer, aber formal geglättet und zurückübertragen vom Dschungelpfad zur Nobilität der gepflegten Hotelvorfahrt, mit feinporigen Ledersitzen und Klimaanlage ausgestattet, war der Range Rover ein Vorläufer von Hy­ bridität. Was zuvor ein Entweder-oder war, wird nun zum Sowohl-als-auch: Geländegängigkeit und Repräsentation. Das Hybride wird fortan ein Erkennungszeichen der Postmoderne sein: die systematische Suche nach Kategorien, die bisher unerkannt zwischen den etablierten Einteilungen der Dingwelt geschlummert hatten. Der anfänglich als eine Kuriosität betrachtete Range Rover begründete das seit Jahrzehnten stattfindende Wettrüsten auf der Straße mit den seither immer stärker um sich greifenden massiven Sport Utiliy Vehicles (SUV ). Ein weiteres zeittypisches Beispiel war die Entwicklung der preisgünstigen Kunststoff-Armbanduhr „Swatch“, damals eine Verzweiflungstat der schweizerischen Uhrenindustrie gegen die übermächtig gewordene fernöstliche Konkurrenz der Quarzuhr mit Digitalanzeige. Ernst Thomke und ­Nicolas Hayek opferten den hehren Mythos der Uhrmacher mit der ins Auge geklemmten Lupe und brachten 1983 die von Industrierobotern zusammengebaute Uhr mit dem vertrauten kreisrunden Zifferblatt in verschiedenen Farben auf den Markt.3 Der wirkliche Erfolg setzte jedoch erst ein, als die Firmenleitung nach drei Jahren den Vorschlag der Grafiker Jean und Käthi Robert umsetzte, die zunächst als eher reizlos wahrgenommene Uhr in verschiedenen Linien anzubieten: elegant, sportlich, high-tech und keck-dekorativ. Erst dadurch wurde aus der Armbanduhr passend zur gerade getragenen 358

Kleidung ein Accessoire. Der rasche Wechsel der Kollektionen, die während Jahren vom Designerteam Robert gestaltet wurden, bald auch von ausgewählten Künstlern (etwa von Alessandro Mendini oder Keith Haring), erzeugte viel Aufmerksamkeit und einen aktiven Sammlermarkt. Auch die Swatch war hybrid in ihrer Verbindung von traditioneller Grundform und modischer Aktualität. Und sie stand für ein weiteres Hauptmerkmal der Postmoderne: die Pluralität der Möglichkeiten. Auch dazu gibt es ein Beispiel aus der Automobilwelt: der Renault „Espace“ (1984) mit geräumigem und variablem Innenraum mit sieben zum Teil dreh- und herausnehmbaren Sitzen und einer Karosserie aus Verbundwerkstoffen.4 Die Idee der Multifunktionalität und Variabilität aus den 1970er-Jahren verband sich nun mit dem postmodernen Interesse am Nichtfestgelegten und Uneindeutigen. Der Begriff Postmoderne entstand in der Philosophie (in Kürzestform: Nietzsche verdrängt Marcuse, ein gepflegter Amoralismus tritt an die Stelle der Kritischen Theorie) und gelangte von dort als invasiver Neophyt in die Umweltgestaltung.5 In der Architektur war die Postmoderne an ihrem Repertoire von zeichenhaften, bald feierlichen, bald ironischen Würdeformen leicht zu erkennen, was ihrem hemmungslosen Missbrauch durch unkritische Nachahmer als Neo-Historismus Tür und Tor öffnete und vielfach mit vermeintlich geistreichen Formzitaten eine Spur der Verwüstung in Städten und Agglomerationen hinterließ. Was die postmoderne Möbelgestaltung betrifft, war sie weitgehend ein niederschwelliger Ableger der Architektur. Ein Möbel zu entwerfen, wenn es nur um neue Formen geht – ungeachtet seiner Fertigungsgerechtigkeit oder der Gebrauchsqualitäten –, ist nicht besonders anspruchsvoll. Davon machte die Zeit reichlich Gebrauch. Und im Industriedesign? Da ist der Einfluss der Postmoderne weniger offensichtlich und selektiver: Niemand wird je – abgesehen von der Außenbemalung – ein postmodernes Flugzeug gesehen haben. Trotz der etwas sarkastischen letzten Zeilen ist jedoch anzuerkennen: Die Postmoderne war wichtig und wertvoll. Wie das? Design als Software Die Zweifel an der Allgemeingültigkeit der funktionalen Rezepte waren berechtigt. Der Deutsche und der Schweizerische Werkbund beklagten die um 359

sich greifende Sterilität einer Umwelt aus Wohnblöcken mit eigenschaftslosem Grün dazwischen. Dass die blutleere Anwendung moderner Prinzipien sich gestalterisch in Sinnesarmut äußerte, war unübersehbar. In Großbritannien mit seinen New Towns hatte sich das Manko noch früher manifestiert. Die junge Gruppe Archigram hatte schon 1963 mit der Ausstellung „Living City“ auf sich aufmerksam gemacht, deren Aussage sich wie ein Programm für die Postmoderne ausnimmt: „In der Living City ist der Mensch das ultimative Subjekt und derjenige, der die Voraussetzungen schafft. Das Thema wird interpretiert, indem Evokationen, Akzentuierungen und Simulationen der Stadtlebens gezeigt werden und nicht eine Schau aus aufgezwungenen Formen. Das präsentierte Bild ist ein totales, wie ein Film.“6 Und tatsächlich deutet es auf eine cineastische Art der Betrachtung, wenn es weiter heißt: „In der Living City ist alles wichtig, von der trivialen Geste, mit der einer eine Zigarette anzündet, bis zu der klaren Tatsache, dass sich zwei Millionen Menschen täglich in ihr bewegen. […] Wenn es regnet in der Oxford Street, so ist die Architektur kaum wichtiger als der Regen, überhaupt ist es das Wetter, das den Rhythmus, das Pulsieren des städtischen Lebens vor allem anderen und zu jeder Zeit bestimmt. Gleichsam ist auch jeder Zeitpunkt gleichwertig im geteilten Erlebnis. Die Stadt lebt gleichermaßen in der Vergangenheit und in der Zukunft und auch in der Gegenwart, wo wir uns befinden.“7 Diese Sichtweise wurde zu einem Vorläufer für die „totalisierende“ Perspektive, die, im Kontrast zur Praxis des routinierten Professionalismus mit beschränkter Haftung, eine Antwort zu sein versprach auf die Krise des Fortschrittsbegriffs nach den erfolgreich abgeschlossenen Mondlandungen. Taugt aber eine solche Sichtweise auch als eine Anleitung zum Entwerfen? Lässt sich die Living City, lässt sich „das Leben“ entwerfen? Die Voraussetzungen dazu wohl schon. Wenn die Art und Weise des alltäglichen Lebens beim Entwerfen mitbedacht wird – und das müsste die Bedingung bei jedem Entwurf sein – verändert sich ein Entwurf. Von Louis I. Kahn ist der Satz überliefert: „by order I do not mean orderliness“ – eine Ordnung soll mehr sein als Ordentlichkeit, nämlich ein Gefüge, das von der Gesellschaft aufgenommen und weitergewebt wird.8 Christopher Alexanders Analyse „Eine Stadt ist kein Baum“ („A City is Not a Tree“, 1965), Robert Venturis Buch Complexity and 360

Contradiction in Architecture (1966) und seine nachfolgende Studie ­Learning From Las Vegas (mit Denise Scott Brown und Steven Izenour, 1972) suchten der Gefahr der Menschenfeindlichkeit, die im Purismus liegt, zu ent­gehen und fanden die Antwort in einem Gefüge, das gerade wegen seiner vielfältigen „Verunreinigungen“ wirksam war.9 Venturis erstes Buch erschien paradoxerweise als erster Band einer Publikationsreihe des Museum of Modern Art, des Gralshüters der westlichen Avantgardebewegungen schlechthin. Dies vermutlich dank des Einsatzes des Kuratoriums-Mitglieds Philip Johnson, der zuvor wegen eines grundsätzlichen Konflikts mit Mies van der Rohe – dessen Anlass Mies’ Purismus war – gebrochen hatte. Die Postmoderne im Design stützte sich wesentlich auf entsprechende Debatten in der Architektur, von denen hier nur kursorisch die Rede sein kann. Venturi schreibt: „Die Doktrin ‚weniger ist mehr‘ (Less is More, Mies van der Rohe) verurteilt Vielschichtigkeit und rechtfertigt nur das Unbedingte mit dem Zweck des reinen Ausdrucks. Sie erlaubt dem Architekten [lies: Designer], maximal selektiv zu sein in der Frage, welche Probleme er zu lösen gedenke. Doch man kann andere wichtige Gesichtspunkte nur um den Preis ausschließen, die Architektur [Gestaltung] von der Lebenserfahrung und von den Bedürfnissen der Öffentlichkeit abzuschneiden. […] Weniger ist langweilig (Less is a bore).“10 Das war ein mutiges Statement mit deutlichen Überschneidungen mit dem von Archigram. Ein weiterer Repräsentant der Epoche war der Mailänder Architekt Aldo Rossi. Er sprach in offensichtlichem Gegensatz zu „1968“ freimütig wieder von Architektur als einer Kunst, konterkarierte dabei jede soziologische Fragestellung und versammelte damit einen wichtigen Teil der kritischen Studentenschaft hinter sich – und das hieß: weg von der Schreibmaschine, zurück an den Zeichentisch. Auch hier lässt sich das Wort „Architektur“ durch „Gestaltung“ ersetzen. Rossis Maxime liest sich allerdings wie ein Widerspruch zu Venturi: „Ich denke, dass der erste und wichtigste Grundsatz im Beharren auf einigen wenigen Themen besteht: Der Künstler (und der Architekt im Besonderen) muss ein zu entwickelndes Thema auf einen Schwerpunkt hin bearbeiten; er muss innerhalb der Architektur Entscheidungen treffen und versuchen, dieses Problem zu lösen. Dieses Beharren auf einigen wenigen 361

Themen ist auch das augenfälligste Zeichen für den Wert und die autobiografische Kohärenz eines Künstlers. […] Hätten wir in der Tat die Geschichte der jüngsten Architektur zu schreiben, dann müsste gerade aufgrund dieses ständigen Von-vorn-Beginnens, das stets ein Zeichen von Mittelmäßigkeit ist, vom Elend der Architektur die Rede sein.“11 Rossi opponiert damit gegen den Selbstbetrug der angeblich spezifischen, im Effekt aber stereo­t ypen Lösung. Wenn Venturis Überzeugung eine soziologische Dimension hat, ist die von Rossi architektonisch und neoklassisch. Das Fortschritts-Narrativ wurde noch von weiteren Seiten herausgefordert: durch den partizipativen Ansatz eines John Habraken und den performativen eines Cedric Price. Betreffen diese Namen primär die Architektur, überschreitet die bereits erwähnte Gruppe Archigram mit ihrem Interesse für die Frage, was „das Leben“ mit einem Entwurf macht, am deutlichsten die ohnehin weiche Grenze zum Design. Das Archigram-Projekt „Control and Choice“ schlug 1967 ein technoides, durch verschiedene „Roboter“ unterstütztes Wohninterieur vor, dessen einzelne Bereiche – Wohnen, Kochen, Essen, Schlafen – in einer räumlich elastischen Beziehung zueinander stehen sollten, wobei die Außengrenzen der Wohn-unit nicht mehr starr sein durften. Archigrams Vorschlag: „Wenn Rita ihre Ruhe haben will, steuert sie ihre Kapsel in einen entfernteren ­Orbit“ („If Rita wants to be on her own, she moves her capsule in a more remote space“).12 Archigram erweiterte das Set an Benutzungsmöglich­keiten durch die Technologie. Das von der Weltraumfahrt inspirierte Vokabular ist die Sprache einer erweiterten Freiheit der Denk- und Handlungsoptionen. Symptomatisch an diesem utopischen Konzept ist der Gedanke der instantaneousity. Dieses „Gerade-jetzt!“ oder „Subito!“ war das Zeichen für den gewachsenen hedonistischen Appetit und dafür, dass die Wohlfahrts-Dankbarkeit der Vorkriegsgeneration am Ende ihrer bestimmenden Wirkung angekommen war. Der gemeinsame Nenner von Archigram, Venturi und Rossi liegt in der ­Distanzierung von einer degenerierten Routine. Zusammen mit einer scharfen Kritik am Kommerz setzte das Merkmal der inhaltlichen und methodischen Heterogenität den Kontrapunkt zur flachgebügelten Moderne. Versucht man, die Gestalt dieser Postmoderne zu erfassen, führen die unterschiedlichen t­ herapeutischen Ansätze deswegen zu Schwierigkeiten, weil ihr ein 362

Abb. 165: Archigram: ­Projekt „Control & Choice“ für die Biennale des ­Jeunes, Paris, 1967. Die Wohnung gesehen als ein elastisches Setting von nach Lust und Laune gegeneinander beweg­ lichen Funktionszonen.

Knochengerüst fehlt. Archigram spricht zu Beginn vom schwer planbaren ­Atmosphärischen der Stadt, wenig später von einem technisch unterstützten Lebensstil; Venturi spricht vom erfinderischen Reiz des Fehlerhaften und Rossi von einer konsistenten Typologie und Morphologie. Pluralismus war das Wesen der Postmoderne. Ihr Motiv war in der Summe nicht Fixierung und Verfestigung, vielmehr Infragestellung und Relativierung. Der Anta­gonismus der wichtigsten Akteure schadete ihr nicht, im Gegenteil, er nährte sie, da ihr Aggregatszustand fluid war. Die Postmoderne ist nicht ein Stil, vielmehr ein Bündel von Alternativen zur langweilig gewordenen Haupt­er­zählung. Skepsis und Auflehnung Der Übergang von Konsumskepsis zu offener Konsumkritik (und danach weiter zur Stil-Provokation) lässt sich im Œuvre von Ettore Sottsass klar 363

nachvollziehen. Er lehnte sich ab 1970 gegen die Kommerzialisierung des italienischen Designs in Wirtschaft und Gesellschaft auf und nannte seinen neuen Ansatz „Conterdesign“, was er so begründete: „Das Conterdesign ist Verdruss oder besser noch Überdruss, vielleicht auch Hoffnungslosigkeit oder vielleicht Sich-Lustigmachen oder vielleicht nur das Ergebnis des Wissens um das, was in Worten und Taten um das Design geschieht. Dieses Design wird eine immer gewichtigere Angelegenheit, immer engagierter und verbrauchter, aufgebauschter und aufgeblähter. Und vor allem wird es für alle eingesetzt, für Akteure und Zuschauer, Designer und Produzenten, Verkäufer und Verbraucher. Somit ist das Conterdesign nicht eine Methode, sondern eine Form des Bewusstseins, eine Art des Fühlens und des Wissens darum, dass der Mechanismus, so wie er gegenwärtig funktioniert, nicht ideal ist.“13 Sottsass’ Beitrag für die Ausstellung Italy: The New Domestic Landscape 1972 in New York wurde zum Manifest seiner Verweigerung. Er unterlief konsequent und im Unterschied zu seinem Kollegen Joe Colombo die gewohnte Attitüde des Designers, von dem man positive, „konstruktive“ Problem­ lösungen erwartete, und stellte in einer zufällig scheinenden Anordnung absichtlich reizarme Kunststoffboxen mit variabler Innenausstattung auf ein Podest: Raummodule von Kühlschrankgröße, die als Sanitär- oder Kocheinheit, als Kleiderschrank oder Bürosekretär dienen konnten. Sein schriftliches Statement dazu war schroff, fast resignativ und lässt sich als Programm des „­Radical Design“ lesen: „Ich will unmissverständlich ausdrücken, dass das Ziel des Projekts keineswegs darin bestand, ein ‚Produkt‘ zu machen – vielmehr, Ideen zu statuieren und zu provozieren. Es ging mir überhaupt nicht darum, Mobiliar oder ein elegantes, nettes, anrührendes oder amüsantes Environment zu entwerfen. Und noch weniger ging es mir darum, ruhige Dinge zu entwerfen, welche dem Besucher ebenso ruhig und zufrieden in seinem eigenen seelischen oder kulturellen Status quo zu verharren erlauben (der ja in Wirklichkeit vielleicht extrem komplex ist). Ich machte wahrscheinlich das pure Gegenteil davon. Die Form ist überhaupt nicht nett. Es ist eine PlastikOrgie – Plastik, das ich als Material gesehen habe, um uns von dieser ganzen Kette aus Verstrickungen rund um das Besitzstreben zu trennen. Ich spreche vom Besitz von Gegenständen, vom Vergnügen, etwas Kostbares zu besitzen, 364

Abb. 166: Ettore Sottsass: Projekt für die Ausstellung Italy: The New Domestic Landscape, New York 1972. Eine melancholische Absage an die Bedeutung der gestalteten Objekte als ­objets de désir und der ­radikale Versuch, den ­Gebrauchsnutzen in den Vordergrund zu stellen.

sei es, dass es aus kostbarem Material besteht, dass es eine kostbare Form hat, dass es schwierig herzustellen war, heikel sein kann etc. […] Um dies alles einfacher auszudrücken: die Idee war, Einrichtungsstücke zu machen, gegenüber denen wir so gleichgültig bleiben, so uninteressiert und nicht von ihnen angesprochen, dass die Form, zumindest der Absicht nach, mit der Zeit ausbleicht und verschwindet.“14 Wir müssen bis in die 1920er-Jahre zu den Brüdern Georg und Hans Schmidt und zu Hannes Meyer zurückgehen, zu fast wörtlichen Formulierungen mit der Bedeutung, sich nicht von materialistischen Werten bestimmen und von Ästhetik trunken machen und forttragen zu lassen, um auch dort diese Absicht zu finden.15 Das intellektuelle Interesse, auf das diese Position stieß, leitete die Postmoderne im Design ein. Adolfo Natalini von „Superstudio“, Sottsass’ Mitstreiter im Contradesign, bezeichnete jedoch zehn Jahre später das Manifest der New 365

Yorker Ausstellung als Fanal des Contradesigns: „Diese Feier war zugleich – wie immer – das Begräbnis der ganzen Sache. Im darauffolgenden Jahr zum Beispiel fanden wir es sehr frustrierend, weiterhin solche Objekte herzustellen, die allein Prototypen waren, Kunstwerke, ohne Bezug zum wirklichen Markt oder zur realen Produktion.“16 Die Idee einer grundsätzlichen Kritik lebte allerdings im 1976 gegründeten Studio Alchimia fort. Wieso eigentlich noch immer Italien, wieso immer wieder Italien? Weil „Design“ im Sinn von „Formgebung“ mehr mit Italien assoziiert wurde als mit jedem anderen Land, vielleicht mit Ausnahme Japans. „The Italian idea“ war ein exportfähiges Erfolgsmodell.17 Natalini bezeichnet Mario Bellini, Achille Castiglioni und Marco Zanuso neben vielen anderen als Gestalter, die mit ihren Entwürfen weniger eine eigene Suche (Forschung, ricerca) verfolgten, als dass sie ideelle Impulse der Hersteller in marktfähige Produkte umzusetzen wussten, deren Ideenarmut er kritisierte.18 Die Italiener selber wagten den Bruch mit dem Erfolgsmodell: Wenn das Neue nicht mehr aus der eigenen Substanz nach außen drängt, sondern herbeigelockt werden muss; wenn es nicht einem Mangel entspringt, sondern den Überfluss vermehrt, dann muss man dagegenhalten. In dieser Frage entzweite sich die italienische Gestalter-Szene; die einen setzten ihre Arbeit als – im weiteren Sinn gesprochen – Dienstleister für die Industrie fort, die anderen wiesen diese Rolle nunmehr von sich und gingen in den „Untergrund“, der sich allerdings bald als hell erleuchtete Bühne erweisen sollte. Studio Alchimia und Memphis Das Studio Alchimia wurde 1976 von Adriana und Alessandro Guerriero gegründet und erhielt 1978 mit dem Zuzug von Alessandro Mendini wichtige Verstärkung, 1978 schlossen sich unter anderen Ettore Sottsass, Andrea Branzi sowie Trix und Robert Haussmann aus Zürich der Gruppe an. Aus dem Studio gingen keine Produkte hervor, die man im Laden kaufen konnte, vielmehr waren sie Materialisierungen von Konzepten, die durch Ausstellungen und Publikationen Bekanntheit erhielten. Mendinis Sessel „Proust“ war üppig verschnörkelt und mit einem pointillistisch bemalten Bezugsstoff bezogen. Eine Hommage an den kosmischen Reichtum von Prousts Sprache? 366

Abb. 167: Alessandro Mendini/Studio Alchimia: handbemalter Fauteuil „Proust“, 1978: Ein entwerferischer Rückkommensantrag auf die Wonnen des Ornamentierens und eine Hommage an die vieldimensionale Erzählund Schattierungskunst eines Marcel Proust.

Vielleicht. Doch Alchimia wollte nicht einen Sinn in verschlüsselter Form transportieren. Im Gegenteil sollten die Entwürfe sich jeglicher Erklärung verschließen, indem sie so weit wie nur möglich die Konturen eines jeden „Entwurfs“ abstreiften und sich jeden Gedanken an eine belastbare Brauchbarkeit versagten.19 Mendini ging am weitesten darin, das, was man gemeinhin unter „projektieren“ verstand, des hehren Sinns zu entkleiden. Er und seine Gruppe bemalten und ergänzten Möbel aus dem Trödelladen mit Bildmotiven aus der Kunstgeschichte, besonders von Kandinsky, und dementierten durch deren mutwilligen Gebrauch – wenn nicht sogar demonstrativen Missbrauch als freche Applikation – Kandinskys These vom „Geistigen in der Kunst“. Der ritualisierte Umgang mit dem Unreinen gab dem Studio Alchimia sein Profil und erweist diesen Namen als sehr bewusst gewählt, da es stets das Ziel der Alchimisten war, aus Dreck Gold zu machen. „Kontaminieren bedeutet, die abgezirkelten und geschützten Dinge der ‚unverseuchten‘ Dinge zu verlassen und diese in einem neuen Umfeld miteinander interagieren zu lassen, um zu unerwarteten und interessanten Ergebnissen zu gelangen“, sagt Mendini.20 Die Klimax dieser Absicht war Mendinis Projekt mobile infinito (unendliches Möbel): Möbelstücke, etwa Tische, jenseits jeder konstruktiven Logik und 367

voller Abscheu gegenüber Brauchbarkeitserwartungen geschaffen, bizarre Objekte mit dekorativen, dank Magneten beweglichen Schnörkeln. Mendini schrieb dazu: „Ich möchte versuchen, mir ein Möbel vorzustellen, das ich auf Grund einer Konvention als unendlich bezeichnen werde. In seiner Unabgeschlossenheit wird es unendliche Formen haben können, unendliche Phasen, unendliche Zeiten, unendliche Erzählungen, unendliche Gedanken, unendliche Ausdehnungen, unendliche Absenzen. […] Ich kann nicht sagen, ob das unendliche Möbel schön oder hässlich ist, ob nützlich oder unnütz, ob es einem Mikro- oder ob es einem Makrokosmos angehört; das spielt keine Rolle: Es ist unendlich. Im Übrigen ist das unendliche Möbel vielleicht nicht einmal ein Möbel oder eine Architektur, vielmehr die Gelegenheit, der Vorwand und die Erfahrung, ein unendliches Projekt zu machen, eines das über die Begrenzungen des Projekts selber hinausgetrieben wird, wie der Fischer, der seine Leine einholt, ohne zu wissen, was er herausziehen wird.“21 Das wichtigste Wort in diesem hochspekulativen, aber auch inspirierenden Text ist „Projekt“ (progetto), für Mendini so etwas wie die Achillesferse des Menschen mit seinem Drang zur trügerisch teleologischen Kreativität. In einem wenig später entstandenen Statement charakterisierte Mendini das Entwerfen noch expliziter, als er schrieb: „Wie kann man heute den neuen Designer beschreiben? Denken wir zurück an den klassischen Designer. Er hat mit Vorstellungen und Ideen von Synthese, Originalität, Festigkeit und Abstraktion seine Projekte erarbeitet. Der klassische Designer war und ist sozusagen ein männlicher Designer. Form, Poetik, Stil, Geschichte, soziale und politische Aussichten sind die Maßstäbe, auf die er sein Schicksal als Schöpfer von Wohnraum aufgebaut hat. Jenem kalten und leeren Raum, in den dann die Frau getreten ist. Und sie hat ihn regeneriert, zerschlagen, aufgelockert, geschmückt, weicher und neu gestaltet, hat andere Wahrheiten, andere Präsenzen, andere Labyrinthe von Leben und Tod darin eingeführt. […] Einrichten ist eine natürliche Geste, bevor es zum Projekt wird. […] Die Privat­wohnung als persönliche Kulisse, als letztes Symbol der eigenen Wahlfähigkeit, als Raum ohne Homogenität, als Anhäufung von Gegenständen, als Urwald, als Gewirr von Abenteuern und projektfeindlichen Leidenschaften. Sozusagen der Zauber des ‚weichen‘ Projekts gegenüber der zur Schau 368

Abb. 168: Alessandro ­Mendini/Studio Alchimia: Mobile infinito, Schrank, 1981. Ein anderer Ansatz, der Gefahr einer verengten professionellen Logik die Überraschungsmöglich­ keiten der losgelassenen Anarchie gegenüberzu­ stellen.

gestellten Sicherheit des ‚harten‘ […] Projekts.“22 Auch wenn das Stichwort nicht fällt, geht es Mendini um Gestaltung als software. Ist dies vielleicht der Passapartout zur Postmoderne überhaupt? Sottsass Vorschlag im Museum of Modern Art, zehn Jahre zuvor, lässt sich auch so benennen. Und – wenn auch weniger radikal – war dies ebenso der Sinn in der oben zitierten Passage von Archigram: Das „Leben“ macht seine eigene Sache aus Gestaltung. Gegenüber mobile infinito waren die Stücke der ersten Memphis-Kollektion geradezu marktgängig. Von den beiden Konzepten Alchimia und Memphis war Alchimia das frühere und Memphis die „Sezession“, was an den zunehmend divergierenden Ansichten der beiden Köpfe Mendini und Sottsass über den Radikalitätsgrad ihrer Designkritik lag; Sottsass wollte sich im Gegensatz zu Mendini der Produktion nicht kategorisch verweigern. Memphis konstituierte sich ziemlich spontan als eine Gruppe von experimentierfreudigen Gestalterinnen und Gestaltern aus Italien, Frankreich, Japan. Sottsass als der deutlich Älteste und Renommierteste verlieh ihr mit seiner Stimme Gewicht. Der gruppo Memphis stellte sich Ende 1980 mit der ersten Kollektion vor und eroberte schlagartig die Aufmerksamkeit der Galerien und Zeitschriften. Im Unterschied zu den schroffen und im Grunde anarchistischen Bricolagen von Alchimia handelte es sich bei Memphis doch 369

Abb. 169: Martine Bedin/ Memphis: Bodenlampe „Super“, 1981. In den ­Augen des Autors die ­charmanteste Arbeit aus dem Gruppo Memphis, geistreich und hintersinnig.

um ausgearbeitete Entwürfe, auch wenn diese absichtliche Schläge in die Magengrube des guten Geschmacks waren.23 Harte Kanten, gemildert durch Pastellfarben, platte Kunstharzbeschichtungen mit ordinären Dekors, windschiefe Linien, überhohe Sockelplatten, staksige Tischbeine und die zeichenhaft ignorante Art konstruktiven Fügens waren Erkennungsmerkmale von Leuchten, Tischen, Betten, Stühlen und Regalen. Der charmante Clou war das seilbewehrte Podest als mit Tatami belegter Boxring, eine Parodie auf die Sitzgruppe, so in der Wohnung Karl Lagerfelds in Monte Carlo – sozusagen dem Apex von Memphis. Sottsass’ Status sorgte für einen sofortigen Impakt auf der Szene, war allerdings umgekehrt der Grund dafür, dass seine eigene elegische Grundstimmung dem Design gegenüber, seine tiefe Skepsis im ­lärmigen Amüsement des Kulturbetriebs vollständig untergingen und vom subversiven Vorhaben fast nur Jux und Allotria (und Auktions-Höchstpreise) übrig blieben. So hatte Memphis den gegenteiligen Effekt für Sottsass als den erhofften; Was so anti-institutionell wie nur möglich sein sollte, wurde in kürzester Zeit zur Institution, zu dem also, was er verabscheute.24 Die Dialektik der antiautoritären Geste, die vom Publikum zum neuen Modell für Autorität erwählt wird, bewahrheitete sich hier einmal mehr. Wir haben eine spätere Erinnerung von Jasper Morrison, der dem Eclat der Memphis-Première 370

Abb. 170: Ettore Sottsass: Schale auf Untergestell, um 1985. Die Stahlrohre bestehen aus verschweißten Abschnitten; weder die Reduktion aufs Sinnvoll-Notwendige noch eine herstellungstechnische Ökonomie waren das Ziel.

als Zeitzeuge beiwohnte und mit den folgenden Worten an das Ereignis von 1981 zurückdenkt: „Ich war damals in Mailand. Ich erinnere mich an eine Art von kaltem Schweiß anlässlich der Eröffnung. Ich ging jedes Jahr mit fast religiöser Hingabe an die Möbelmesse, und diese Memphis-Eröffnung – ich weiß nicht mehr, wie es mir überhaupt gelang, in die Galerie hineinzukommen, doch ich schaffte es, und ja, ich weiß noch, wie ich geschockt und in Panik war und dachte: ‚zu spät, nun ist es bereits passiert!‘ […] Es war das eigenartigste Gefühl: Einerseits war man von diesen Objekten abgestoßen, zumindest ich war es, doch anderseits fühlte man sich durch diesen totalen Regelbruch schlagartig befreit. Es war sehr verwirrend, ich kam ans Kingston College in London zurück und machte sofort mein erstes und einziges Memphis-Stück. Welches heute, wie ich hoffe, für immer und ewig aus der Welt verschwunden ist.“25 Retour à l’ordre Ein Sachverhalt droht beim Rückblick auf die Postmoderne der Achtzigerjahre unterzugehen. Von der letztlich anarchistischen Richtung von Alchimia und Memphis unterscheidet sich der „Neoklassizismus“ von Aldo Rossi deutlich, der namentlich von den rationalistischen Tessiner Architekten weitergetragen 371

wurde. Beide Richtungen strahlten von Mailand aus. Der erfolgreichste der Tessiner, Mario Botta, spricht wie Rossis Apostel, wenn er sagt: „Jede Form, die wir entwerfen, muss in gewisser Weise der Vergangenheit angehören. Auch wenn wir etwas Gegenwärtiges schaffen, bedürfen wir der Archetypen, bedürfen wir elementarer Formen, bedürfen wir ­bestimmter formaler ­Elemente, die zu uns von der Vergangenheit reden. Ich glaube nicht, dass es irgendeinen heutigen Gegenstand gibt, der anders als durch seine Geschichtlichkeit zu uns sprechen möchte.“26 Ebenso sein Kollege Ivano Gianola, der zwar keine Möbelmodelle für die Industrie schuf, sondern nur selbstgenügsame Einzelstücke: „Angesichts der Bedeutung, die Möbel in einem Raum haben, ist es für mich entscheidend, einzelne Stücke zu entwerfen, die ihn mit ihrer Gegenwart beherrschen. Ich vergleiche diese Stücke unwillkürlich mit einem Gebäude, mit seinen Beziehungen zwischen Sockel, Wand und Dachkranzabschluss, mit seinen Proportionen und seinen Beziehungen zwischen voll und leer. […] Die einzelnen Stücke erscheinen monumental durch die Struktur aus massivem Holz, die in klassischer Weise proportioniert und durch die Fugenlinien geordnet ist.“27 Und ein weiterer Tessiner, Livio V ­ acchini, sagt: „Ich betrachte die Möbel in einem Raum so, wie ich die Paläste und die Häuser einer Stadt betrachte.“28 Wie verhalten sich die Wörter zu den Dingen? Bottas Erwähnung der „Geschichtlichkeit“ und seine eigene Entwurfsvorliebe lassen neben Rossi auch an Le Corbusier denken, der am antiken Rom die geometrischen Formen der Monumente bewunderte („Tout est sphères et cylindres“) und dies in seine eigenen Entwürfe – auch von Möbeln – einfließen ließ. In ihrer Liebe zur Geometrie sind Bottas Möbel zudem überraschend nahe am Bauhaus Weimar. Und diese Vorliebe, die das Bauhaus als stilistischen Steinbruch benutzte und sich oft in der Verwendung der Grundfarben Gelb, Blau und Rot, ergänzt um Grau und Schwarz zeigt, wird auch bei vielen anderen Entwürfen dieser postmodernen Jahre erkennbar. Auch die Schweizer Gestalter Trix und Robert Haussmann bezogen sich mit ihren „Lehrstücken“ auf die Geschichte, insbesondere auf die „concetti“ des Manierismus. Das in den 1970er-Jahren nördlich der Alpen neu entflammte Interesse an der Architektur Palladios und die Manierismus-­Studie von 372

Abb. 171: Trix und Robert Haussmann: Lehrstück II: „Störung der Form durch die Funktion“, 1977. Das Belegstück für eine geschichtsbewusste und Funktionalismus-kritische Beschäftigung insbesondere mit der Welt des italienischen Manierismus.

­Gustav René Hocke (Die Welt als Labyrinth, 1957) veranlassten sie zum Entwurf geistreicher Objekte zwischen Architektur und Design in handwerklich perfekter Umsetzung.29 Ein Schreibtisch mit marmorierten Oberflächen „spielte“ Bogenbrücke, eine Stele mit schwenkbaren Laden „verkörperte“ eine dorische Säule und ein Spiegelschrank war so gekonnt mit Holzfurnieren belegt, dass deren unterschiedliche Helligkeiten und Farb­abstufungen ein ­geknotetes Tuch vortäuschten, dessen Ränder zudem in exakt derselben Ebene in die Spiegelflächen übergingen. Dieses virtuose Spiel mit der Wahrnehmung brauchte ein aus der Geschichte kommendes zeichenhaftes „Bildwissen“, das im Möbelobjekt, beziehungsweise in dessen Wahrnehmung, spontan aufgerufen, aktiviert und in ein erstauntes Verständnis gewendet wird. Ihre eigene Bezeichnung als „manierismo critico“ benennt die Wichtigkeit Italiens und seiner überreichen Kulturgeschichte für das Anschauungsmaterial dieser didaktischen „Lehrstücke“ für die beiden Gestalter. Sie stellten fest: „Im Gegensatz zur modernen Malerei und Skulptur, die manieristisches Erbe in vielen Richtungen weiterentwickelt haben, hat die moderne Architektur damit nie viel im Sinn gehabt. Ihre Pioniere haben im Kampf 373

gegen eine sinnentleerte Ornamentik […] viele Ausdrucksmittel über Bord geworfen, die vorher Jahrhundertelang geübt und tradiert wurden. […] Unser Exkurs in die Vergangenheit machte uns bald klar, dass es kaum Neues zu erfinden, wohl aber vieles neu zu interpretieren und neu zu formulieren gebe.“30 Einige der dafür gewählten Gestaltungsmittel waren etwa die Materialverfremdung, das Schaffen von illusionärem Raum beziehungsweise Körperveränderungen durch Spiegelung oder mit malerischen Mitteln, zudem die Erstellung räumlicher Anamorphosen als „gebaute Perspektiven“. Der französische Designer Philippe Starck ist der wohl bei Weitem umsatzstärkste Exponent postmoderner Gestaltung. International berühmt wurde er 1981 mit dem Auftrag des eben gewählten Staatspräsidenten François Mitterrand, die Privaträume im Elysée-Palast mit seinen Entwürfen zu möblieren. Schon der Name „Elysée“ wäre ja eigentlich auch ironisch zu verstehen, was jedoch zuvor niemand bemerkt zu haben scheint. Starck merkte es – Mitterrand auch? – und fand mit seinen Möbeln witzige Lösungen, die das menschliche Geltungsbedürfnis so fein persiflierten, dass sie doch nicht als eine Demaskierung wirkten. Da sieht etwa ein Fauteuil von vorne breit ausladend aus, und seine Flanken zeigen den Hohlraum her. Ein Zweifel bleibt, ob dies tatsächlich als ein Spiel mit der Ironie gemeint war oder ob es sich nicht doch um ein Spezifikum der französisch-höfischen Repräsentationskultur handelte, um ein geübtes Spiel mit Würdeformen, bei dem die monarchistische Attitüde des sozialistischen Präsidenten wegironisiert wurde und im Kern zugleich die ersehnte Selbstbestätigung erhielt. Diese Subtilität erreichte Starck nicht immer; seine Zitruspresse „Juicy Salif“ ist ein dreistes Stück an Disfunktionalität, hält sich aber seit Jahrzehnten auf dem Markt. Insgesamt kann Starck mit seinem üppig-vielfältigen Œuvre als der Gestalter gelten, der den Begriff des postmodernen Designs am stärksten geprägt hat. Neben Möbeln schuf er auch ein – wenig erfolgreiches – Motorrad für den italienischen Hersteller Aprilia (1995), Schreibgeräte und Geräte für Unterhaltungselektronik. Der TV-Empfänger „Jim Nature“ für die deutsche Firma Saba (1994) besaß ein Gehäuse aus Sägespan-Schalen und empfahl sich als ein Vorschlag für eine neue, noch unvertraute Ästhetik unter dem Vorzeichen einer Kreislauf-Wirtschaft. In all diesen Fällen wurde der Starname 374

Abb. 172: Ron Arad: Rover Seat, 1981. Die mutwillige Kombination von einem hochwertigen Autositz des damals nicht mehr produzierten Modells Rover 2000 und dem massiven Rohrgestell sorgte gerade wegen ihrer nicht vorhandenen Harmonie für viel Aufsehen und Beifall.

Abb. 173: Ron Arad: „­Concrete Stereo“, 1985. Der nicht eben naheliegende Impuls, die Komponenten einer Stereoanlage in Beton einzugießen, verhalf bisher noch jedem einzelnen der zwölf Exemplare dieser Manifestation von Eigensinn zu AuktionsHöchstpreisen.

des Designers als Zugpferd und seine Gestaltung zeichenhaft eingesetzt. Die Rezyklierbarkeit des TV-Gehäuses ist idiomatisch herausgestellt, wohl eher ein Fingerzeig ans Publikum und ein Zeichen zum Umdenken als ein Tatbeweis des Umhandelns. 375

Abb. 174: Philippe Starck: TV-Empfänger „Jim Nature“ für Saba, 1994. Die Verwendung von gebundenen Sägespänen für das Gehäuse gibt vorerst auf der visuellen Ebene das ­Signal für ein vermehrtes umweltgerechtes Denken in der Industrie und im ­Konsum.

„Neue deutsche Welle“ Auch in der Bundesrepublik Deutschland reagierten nicht wenige Gestalter auf die Anregungen aus Mailand, auf die Aufforderung zum Ungehorsam, und traten mit „wohnsinnigen“ Kreationen an die Öffentlichkeit, die jeden Gedanken an eine entwerferische Logik im Keim erstickten. Einige Namen dieser Ateliers tragen die Signatur einer antiprofessionellen Ironie: „Kunstflug“, „Stiletto“, „Bellefast“, „Studio Dada“, „Totem“; in Berlin gab es die „Galerie Stilbruch“. Die ihnen gemeinsame Stoßrichtung war der Protest gegen die Persönlichkeitsarmut und den Fantasieverzicht der typischen deutsch-rechtschaffenen Konsumgüter. 1982 fand in Hannover die Ausstellung Provokationen – Design aus Italien. Ein Mythos geht neue Wege statt und machte Parallelphänomene in der BRD sichtbar oder stimulierte sie. Der Kritiker François Burkhardt schrieb dazu: „Neue Produkte, wie sie uns hierzulande vertraut sind, haben einen so hohen Grad an Neutralität in der Gestaltung erreicht, sind so austauschbar und beliebig geworden, dass sie jede symbolische Kraft, jede Assoziation und jede Bindung verlieren und gegenüber den menschlichen Bedürfnissen defizitär werden. Dies können auch hohe technologische Vorteile nicht kompensieren.“31 Die Gestaltung von Möbeln und Wohngegenständen – anderes kam im Spektrum der deutschen Vorschläge kaum vor – sollte wieder mit „emotionalen Werten“ versehen, die Bildlosigkeit des 376

Designs kaltblütig überwunden werden. Die Skala dieser neuen Bildhaftigkeit reichte von konzeptioneller Subtilität bis zur hemmungslosen Krudheit. Ein Beispiel für Ersteres mag das „verspannte Regal“ von Pentagon sein (Wolfgang Laubersheimer, 1984), für Letzteres die zahlreichen Sessel von Sieg­ ichiel Syniuga, die heute als Kunstobjekte gehandelt werden. Denfried M noch zeichnet sich bei den Arbeiten aus dieser informellen Avantgarde (fast ausschließlich Männer) ein zeittypisches Sittengemälde ab. In ihrem Habitus wählten die Akteure teilweise provokative sprachliche Formulierungen. Die Gruppe Stiletto zum Beispiel nannte sich eine „Praxis für Gestaltungsschäden“ und gab sich das Motto „Kraft durch Design“. Was mit emotionalen Anteilen angereichertes Design sein wollte und mit Mut zum Kalauer propagiert wurde („Sein oder Design“), war in vielen Fällen jedoch nichts für schwache Nerven und schon gar nicht für heikle Rücken. Konstruktions-Akrobatik Es wäre irreführend, nur solche ikonoklastischen oder von einer Grundskepsis geprägten Ansätze mit dieser Epoche zu assoziieren. Es gab auch eine Gruppe technikbegeisterter Entwerfer mit ihrer Linie des high-tech-­ Designs. Fritz Hallers USM -System, eine zurückhaltende Variante davon, ent­w ickelte sich zu einem Großerfolg. In Norman Fosters Laufbahn war das Renault ­Centre, die britische Niederlassung in Swindon, ein folgenreicher Abb. 175: Norman Foster: Tisch für die Renault-­ Niederlassung in Swindon/ England, 1983. Foster­ ­inszeniert an einem im Grunde niedrigkomplexen Gegenstand (Tisch) den dynamischen Kräftefluss mit Kragarmen, Schubstreben und der überartikulierten Justierbarkeit der Füße.

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Auftrag. Foster entwarf dafür auch das Mobiliar und gab dem Untergestell des Arbeitspultes den Charakter eines vielgelenkigen Tragwerks mit Streben und Gummi­u nterlagen für die Glasplatte. Es versinnbildlicht das Prädikat high tech exakt: als Bemühung um eine hoch artikulierte Konstruktion, die zur Form gemacht wird. Ein Vergleich soll die Bedeutung einer spezifischen Idiomatik – die in ihren heterogenen Erscheinungsformen für dieses ganze Kapitels gilt – veranschaulichen: Als Jean Prouvé 1943 einen Esstisch entwarf, verband er ein hölzernes Tischblatt demontierbar mit dem Untergestell aus leicht schräg gestellten Beinen aus Holz, die untereinander durch ein gegabeltes Metallrohr verbunden waren (→ Abb. 101) . Durch die Verschraubung der Beine mit der Unterseite des Tischblattes wurde das Möbel stabil. Prouvé

Abb. 176: James Dyson: Beutelloser Staubsauger nach dem Zyklon-­ Trennungsprinzip, 1979. Der Ingenieur Dyson durchbrach nach unzähligen mühevollen Versuchen die selbst­ verständlich gewordene Annahme, ein Staubsauger brauche einen ­Sammelbeutel für den Schmutz.

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führte die Kräfte zu einem logischen Ganzen zusammen. Auch Foster tut das. Doch wenn zwei dasselbe tun, ist es nicht dasselbe: Wo Prouvé die Konstruktion technisch auf Ökonomie hin entwickelt – wie es während des Krieges ohnehin geboten war –, tut Foster es expressiv, programmatisch und technoid. Auch seine Hypermoderne ist postmodern. Jedes Detail ist überdeutlich artikuliert und high-tech in Szene gesetzt, die Justierbarkeit der Füße etwa herausgestellt wie bei einem Präzisionsmikroskop. Ist ein solcher Vergleich überhaupt statthaft? Wohl schon, denn er macht die Unterschiede im auf den ersten Blick Ähnlichen erkennbar und damit auch die Tatsache, dass Ideen aus einem gemeinsamen Ursprung kommen mögen, um sich zeitbedingt in ihre eigene ­R ichtung zu entwickeln. Als sich Ende 1989 nach dem Hochziehen des Eisernen Vorhangs vielfach eine Euphorie über die überwundene Teilung Europas ausbreitete, stimmte E ­ ttore Sottsass nicht in den Chor der Stimmen ein, die in diffuser Weise ein Ziel erreicht sahen, bei dem auch die Gestaltung eine Art von eschatologischer Erfüllung finden würde. Stattdessen gab Sottsass in einer Umfrage des Design Report zum Thema „Das Haus Europa“ dies zu bedenken: „Nur die Idee von Geschichte als einer permanenten Konstruktion programmatischer Figuren, die schon für sich selbst Destruktionen und Modifikationen vorher­ sehen, scheint plausibel. Die Idee von Geschichte als einem permanenten Recycling von Ideen, als permanente Auseinandersetzung, als eine fließende Diskussion ohne endgültige Definitionen, als eine Debatte mit andauernder Verschiebung – nur diese Idee von Geschichte ermöglicht es mir, eine zeit­ gemäße Funktion in Design und Architektur zu finden.“32

379

Anmerkungen

11 Aldo Rossi: Texte zur Architektur, Lehrstuhl A. Rossi ETH Z, Heft 4, Zürich 1972, S. 28

12 Archigram: „Control & Choice“. In: Wie Anm. 6, S. 200–205 1 Der VW Golf war in konzeptioneller Hinsicht kein ­primeur: Frontantrieb, Heckklappe und fünf Türen gab es auch bei anderen Marken (Renault, Simca, gendes Statement für eine neue Zeit. Gestaltet war

Domestic Landscape. New York 1972, S. 162.

wandelt als unsere Bauwerke, […] zerstört es täglich

wurde dazu erst nach etwa zwei Jahren.

die Illusion, ein Bauwerk habe einen anderen Cha-

Die weltpolitische Lage war reich an Konflikten.

rakter auszudrücken als den gleichgültigsten, den

Stichworte zur Zeitgeschichte: 1960er: Raumfahrt,

wir ihm überhaupt zu geben vermögen.“ in Ders:

Berliner Mauerbau, Kubakrise, Ermordung Präsi-

„Das Bauen ist nicht ‚Architektur‘“. In: Das Werk

Bruder Robert und von Martin Luther King,

In: Rolf-Peter Baake/Uta Brandes/ Michael Erlhoff

Sechstagekrieg, Prager Frühling und dessen Nie-

(Hrsg.): Design als Gegenstand. Der neue Glanz der

brachten die neue Ostpolitik Willy Brandts, Pinochet-Diktatur in Chile, Jom-Kippurkrieg und Erdölkrise, damit die erste Rezession seit 1945, Nelkenrevolution in Portugal, Nixons Sturz, das Ende der Franco-Diktatur in Spanien, dafür die Diktatur in Argentinien, den „Deutschen Herbst“, Brigate RosseTerror in Italien. Das technische Konzept der „Swatch“ wurde von den Ingenieuren Elmar Mock und Jacques Müller entwickelt. Der nachmalige Renault Espace wurde seit 1978

Design Conference in Aspen 1981, kuratiert von Serge Chermayeff. 18 Adolfo Natalini, in: Baake/Brandes/Erlhoff (wie Anm. 16), o. S. (S. 93) 19 Die Bemalung des Stoffs machte klar, dass es sich um ein Bild-Manifest handelte und nicht um ein gebrauchsfähiges Möbelstück. 20 Alessandro Mendini, in: Peter Weiß (Hrsg.): Alessandro Mendini. Design, Projekte, Bauten. Mailand 2001, S. 23 21 A. Mendini: „Mobile infinito“. In: Peter Weiß (Hrsg.):

fahrung in der Kunststoff-Verarbeitung. Formale

Alessandro Mendini – Entworfene Malerei – Gemalte

­serienreifen Entwurf und integrierte ihn in seine ­Modellpalette. Vgl. auch Paul Feyerabend: Irrwege der Vernunft. Frankfurt am Main 1989

Entwürfe. Ahlen 1997, S. 137–139 22 Alessandro Mendini: „Im Februar 1983“. In: Baake/ Brandes/Erlhoff (wie Anm. 16), o. S. (S. 88–90, hier S. 88) 23 Der Name „Memphis“ assoziiert nicht nur das pries-

A Guide to Archigram/Ein Archigram-Programm

terliche Ägypten, sondern auch „Graceland“, den

1961–1974. London/Wien 1994, S. 73

plebejischen Prunk in Elvis Presleys Anwesen in

7

Ebd, S. 78

9

Oscar Newman: CIAM ’59 in Otterlo. Stuttgart

9

Dinge. Berlin 1984, o. S. (S. 91) 17 „The Italian Idea“ war das Thema der International

von Matra entwickelt, einer Firma mit großer Er­ ­Gestaltung: Antonis Volanis. Renault übernahm den

6

5/1927, S. 139–142 16 Adolfo Natalini: „Aus einem Gespräch – 4.2.1983“.

­Chruschtschow-Sturz, Beginn des Vietnamkriegs, derschlagung, Mondlandungen. Die 1970er-Jahre

5

Übers C. L. 15 Vgl. Hans Schmidt: „Weil das Leben sich rascher

hieb ein durchschlagender Publikumserfolg und

dent Kennedys, wenige Jahre später von dessen

4

bar. Wien/Linz 1981, S. 123 14 E. Sottsass, in: Emilio Ambasz (Hrsg.): Italy: the New

Schäfer. Er war – wie der BMC Mini – nicht auf An-

3

Hareiter/Laurids Ortner (Hrsg.): Design ist unsicht-

­Innocenti); für Volkswagen war er aber ein überzeuer von Giorgetto Giugiaro, assistiert von Herbert

2

13 Ettore Sottsass, zit. in Helmut Gsöllpointner/Angela

Memphis/Tennessee. 24 Silvia Giacomoni/Attilio Marcolli (Hrsg.): Gespräch

1961, S. 206

mit Ettore Sottsass, in: Italienische Designer. Inter-

Komplexität und Widerspruch in der Architektur:

views, Werkübersichten. München 1990, S. 242–

Bauwelt Fundamente 50; Lernen von Las Vegas: Bauwelt Fundamente 53 10 Robert Venturi: Complexity and Contradiction in ­Architecture, S. 24 f. Übers. C. L.

380

248 25 Jasper Morrison, in: Charles Arthur Boyer/Federica Zanco (Hrsg.): Jasper Morrison. Paris 1999, S. 48 f. (Übers. aus dem Engl. C. L.)

26 Mario Botta: „Objets récents“. In: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte, Bd. 45 (1988), Nr. 1, S. 43 ff. 27 Ivano Gianola: „Möbel“. In: Archithese 1/1983, S. 47 28 Livio Vacchini: „Möbel“. In: Archithese 1/1983, S. 46 29 Gustav René Hocké: Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der europäischen Kunst. Hamburg 1957 30 Robert Haussmann: „Manierismo critico“. In: Fredi Fischli/Niels Olsen (Hrsg.): Trix und Robert Haussmann. Zürich 2012, S. 29–31 31 François Burkhardt, in: Volker Albus/Christian Borngräber (Hrsg.): Design-Bilanz. Neues Deutsches Design der 80er Jahre in Objekten, Bildern, Taten und Texten. Köln 1992, S. 243 32 Ettore Sottsass: „Die gute Form betört mich nicht“. In: Design Report 14, Frankfurt a. M. 1991

381

X-30 „Non-Intentional-Design“?

Wer erinnert sich nicht daran, wie wir als Kinder einen umgedrehten Tisch mit Tüchern verhängt und uns so ein Zelt gemacht haben? Dass wir Gegenstände unter den Teppich legten und aus diesem eine gewellte Landschaft machten, wo wir dann Spielzeugautos den Hang herunterrollen lassen konnten? Dass wir einen Schuhkarton zu einem Bett für die Puppe umerklärten? Nur ist das kurz nach der Jahrtausendwende dafür eingeführte Label NonIntentional Design* (NID) merkwürdig irreführend. Es soll dieses Phänomen des „Umwidmens“ durch Gebrauch bezeichnen, verdunkelt mit diesem Adjektiv jedoch seine Absicht: den Umstand zu würdigen, dass Design nicht nur das ist, was von Designern entworfen wird, sondern auch, was Benutzer daraus machen. Die Abbildung 177 auf Seite 388 ist ein Dokument für diesen Befund. Wer unter Design das Mittel zum Zweck des Gebrauchs sieht, wer den Benutzern die Zwecke nicht vorschreiben will, wird anerkennen, dass die lesende Lady in der Schubkarre ihren Gegenstand höchst eigenwillig, also ganz und gar intentional benutzt. Im Gebrauch liegt der Ursprung des Designs, in der Suche nach Brauchbarkeit eines bestimmten Materials, in der Frage: Welches Mittel lässt mich diesen oder jenen Zweck erreichen? Zweckerfüllung ist das Zentralmotiv von ­Design. Der Tatbestand führt uns zum Anfang zurück: Ein Gegenstand wird in seiner Eignung für einen bestimmten Zweck erkannt. Ein krumm gewachsener schlanker Baum eignet sich für die Zurichtung als Schiffskiel, aus Schilf können wir eine Trage machen, aus Tonerde ein Gefäß. Die Design-Frühgeschichte spiegelt sich in Problemlösungen dieser Art. Am Anfang des Designs stand das Prinzip Do-it-yourself. Erst mit der Herausbildung von Gesellschaft entwickelte sich die Arbeitsteilung in Entwerfen/Herstellen und Gebrauch. Die Materialkenntnisse nahmen mit der Zeit ebenso zu wie die Möglichkeiten, das Material zu verarbeiten. So wurde ein Handwerkerstolz – Liebe zum Material und zum eigenen Können – ebenso zur Triebkraft wie andererseits der Besitzerstolz. ­Dasselbe gilt vom Streben nach Ästhetik: Es begleitet den 382

Herstellungsprozess, ist somit im Gegenstand enthalten (bleibt dabei im Bewusstsein der Entwerferin, des Entwerfers) und verdoppelt sich durch den Akt des Erwerbs. Eine ideelle und interessegesteuerte Vorstellung über den ­Gebrauch des Gegenstandes und über seinen Wert ist beiderseits am Werk. Der britische Designer Tom Dixon veröffentlichte im Jahr 2000 das Buch ­Rethink, in dem er das Thema auf eine anregende und entspannte Art behandelte. Ihm verdanken wir auch das Bild der eigenwilligen Leserin. Dixon ­dokumentiert im Buch auch die Hüttchen zur Aufbewahrung von Angelgerät, die in Northumberland (Nordengland) aus den Bugpartien von ausgedienten ­F ischerbooten gebildet sind: auch das ein Beispiel für geschärfte Aufmerksamkeit und für Intentional Design durch die Nutzer

(→ Abb. 164).

Zur Haupt-

sache richtet sich Rethink ans Publikum, indem es Anregungen macht, wie sich beim Wohnen durch Ausweichen auf preiswerte Ersatzgegenstände die gewünschte Funktion mit geringem finanziellen Aufwand erreichen lässt: Anregungen, wie sich das eigene Bewusstsein für den beabsichtigten Zweck und die geeigneten Mittel schärfen lässt.

*

Uta Brandes, Michael Erlhoff: Non Intentional ­Design. Berlin 2006

383

31 Ein erster Blick auf das dritte Jahrtausend (Nach der Postmoderne oder Moderne. Version X?)

Im zeitlichen Abstand von wenigen Jahrzehnten gibt uns der Blick in den Anzeigenteil von Zeitschriften überraschende Perspektiven frei auf Fragen, die wir gar nicht gestellt haben: Die Anzeigen von früher gestatten gar einen Einblick ins Unterbewusstsein früherer Gestaltungsprozesse. Mit den Konditionierungen und dem Geschmack von heute blicken wir auf ganz andere Farbkombinationen, Frisuren und Bekleidungsstile, und was in den Anzeigen nur Zugabe und Hintergrund war, wird nun beinahe mehr zur Signatur einer Zeit als die Waschmaschine selbst, der die Anzeige galt. Erst im Rückspiegel nehmen wir die Ober- und Untertöne von damals wahr: die Materialien und andere Begleitphänomene der Einrichtung.1 Dass wir uns – oft ohne es selbst wahrzunehmen – ändern, wenn wir mit der Zeit gehen, wussten bekanntlich schon die alten Römer. Was um 1980 oder 1990 trendy war, liegt hinter uns: die Buntheit, die formale Emphase vieler der damals neuen Objekte. Auch die Wichtigkeit der Objekte für den alltäglichen Gebrauch unterliegt dem Fortgang der Zeit. Für Fotoapparate und Stereoanlagen wird heute nicht mehr geworben, hingegen für sogenannte immaterielle Dienste und services: Breitbandanschlüsse, Onlinehandel, Krankenkassen. Die technologische Entmaterialisierung äußert sich in der aktuellen Werbung in sparsamen Verweisen auf die im Vergleich zu früher luftige Einrichtung: Die Frau im Bild, die mit aufgeklapptem Laptop auf dem Schoß bequem auf dem Sofa wohnt und arbeitet (und für einen Provider wirbt), vermittelt uns das Bild eines gelassenen und souveränen Lebens. Die Zeit seit der Jahrtausendwende hat sich bisher, anders als 1980 die Postmoderne, noch keine Apostrophierung als -ismus verliehen. Wenn eine Gegenwart von einer solchen Selbstetikettierung absieht, die stets auch eine Schematisierung bedeutet, ist das kein schlechtes Zeichen. Wir finden uns – wie die meisten Gegenwarten zuvor – in unserer eigenen Zeit wie inmitten einer 384

Galaxie, umgeben von allen Facetten und Irritationen, Ähnlichkeiten und Unterschieden, scheinbaren und realen Gegensätzen und Widersprüchen. Einen Blick von außen haben wir nicht. Was wir hinsichtlich der Gestaltung sehen können: dass der Stellenwert von Design seit den 1990er-Jahren gestiegen ist und damit auch das allgemeine Bewusstsein von dessen Bedeutung. Design ist viel stärker als vor der Postmoderne im öffentlichen Bewusstsein und wird vom Medien- und Kulturbetrieb als eine kunstaffine Domäne bewirtschaftet: in Publikumszeitschriften, mit Ausstellungen, in Auktionskatalogen, mit eng bemessenen Zeitfenstern für den Verkauf von Vintage-­ „Designermöbeln“ und durch beeindruckend orchestrierte Preisverleihungen. Dabei hat sich auch die Vorstellung verändert, die sich die Öffentlichkeit von Design macht. Sie hat sich vom Bild des „schmissigen Gestaltens“ wegbewegt und sieht zunehmend die Gestalterinnen und Gestalter auch in der Verantwortung für eine verbesserte Umweltfreundlichkeit der Produkte. In der Heterogenität und Pluralität der Phänomene dauert die „Postmoderne“ unvermindert an, auch wenn die Stilistik der Entwürfe nicht mehr die der historisch gewordenen Achtzigerjahre ist. Die Gegenwart ist jedoch ebenso fragmentiert wie die zurückliegende Postmoderne der Siebziger und Achtziger. Wir stehen zu Beginn des dritten Jahrtausends in einer aktualisierten Postmoderne, in welcher der Handel global hin- und herflutet und Nationalstaaten miteinander im Wettstreit oder im Konflikt stehen. Was unsere Ziele betrifft: Ob die Bezeichnung Postmoderne.2 oder Moderne.X sein soll, nicht darauf kommt es an, sondern auf die hergestellte Wirklichkeit. Der Weg zum Ziel der Klimaneutralität noch in diesem Jahrhundert würde sich als Weg zu einer umfassend sanierten Moderne erweisen. Design in vielerlei Erscheinungsformen würde daran beteiligt gewesen sein. Werden im Design der jüngsten Vergangenheit und der aktuellen Gegenwart Charakteristiken erkennbar und lässt sich trotz seiner Heterogenität und Fragmentierung eine Physiognomie der letzten zwei Jahrzehnte ausmachen? – Hier der Versuch einer Bestandsaufnahme. Die Erweiterung des Begriffs Design über die Formgebung hinaus brachte einen beträchtlichen Bedeutungszuwachs mit sich. Davon profitierten die Designer, die nun zunehmend als Regisseure von Manifestationen und Attitüden 385

in Erscheinung traten. Die Bezeichnung „Kreativwirtschaft“ weist den Gestalterinnen und Gestaltern eine treibende Funktion zu. Die Beziehungen zwischen den Designern und den Produzenten wurden vielfältiger, internationaler. Bis in die Siebzigerjahre hatte eine axiale Verbindung bestanden: Entweder hatten Designer einen Entwurf, für den sie den Hersteller bereits kannten oder ihn suchten, oder umgekehrt beauftragte ein Hersteller seine bewährten Designer mit dem Entwurf. Beide, Designer und Hersteller, kamen meist aus der gleichen Weltgegend, Japaner arbeiteten für Japaner, Skandinavier für Skandinavier. Im Zeichen der Globalisierung öffnete sich der Fächer. Beide, Designer wie Unternehmer, gewannen im Verbund miteinander an Prominenz. Beide wirkten auf einer zunehmend internationaleren Bühne. Die Marketingabteilungen großer Firmen analysierten den Publikumsgeschmack in anderen Regionen als dem heimischen Markt und richteten vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus Testmärkten die Produkte international aus.2 So bezogen die Unternehmen nun auch prominente Gestalter internationaler Provenienz in Planung, Entwicklung und Lancierung neuer Produkte ein. Voraussetzung dazu war in vielen Fällen die Bekanntheit der Designerin, des Designers. Vor diesem Hintergrund einer konsolidierten Akzeptanz von Design werden nun zunehmend hochspekulative Experimente entwickelt und publiziert, ohne dass der Anspruch an ein ausgereiftes Produkt dahinter stünde: ein Fauteuil aus formgerecht verschnürten Stofflumpen (Jurgen Bey), ein Hocker aus aufgeblasenem Blech, vorbereitet wie eine Papiertüte und mit Pressluft geformt (Oskar Zieta). Andere Ideen werden bis zum Stadium eines Produkts ausgearbeitet, etwa der Schnursessel von Marcel Wanders (→ Abb. 183) . Die Gestalt des Designers personifiziert die Kreativität. Seine Experimentierbereitschaft an sich ist bereits eine Kreativitätsressource, über die man sprechen will. Hochschulen, Ausbildungsstätten grundsätzlich und deren Image von open-mindedness spielen dabei eine Rolle. Stilistik Der Blick auf die formale Erscheinung von Dingen vermittelt eine leichtfassliche Vorstellung einer Zeit. War in den 1980er-Jahren Design in stilistischer Hinsicht oft voller Bedeutung, bisweilen überreizt bis zur Exaltation, zudem 386

noch in der rotzigsten Attitüde didaktisch sich ereifernd, ist dies heute anders. Die Lust an der dekonstruierenden Provokation ist erlahmt. Einrichtungshäuser wie IKEA und Muji haben viel für die Verbreitung einer schlichteren Produktsprache getan. Der Erfolg von einflussreichen Designern heute liegt nicht zuletzt darin, dass sie auf der Spur einer unaufdringlichen Formensprache ihre Entwürfe mit einer subtilen Anmutungsqualität ausstatten: Tom Dixon, Jasper Morrison, Naoto Fukusawa, Kenya Hara, Konstantin Grcic, Hella Jongerius, in der oder aus der Schweiz sind unter anderen Yves Béhar, Alfredo Häberli, Christophe Marchand, Jörg Boner, Stefan Irion oder das Atelier Oï Exponenten dieser Auffassung. Tom Dixons bereits erwähntes Buch Rethink (erschienen 2000, → X-30) ist ein Dokument der wiedergewonnenen Gelassenheit. In der Vorbemerkung weist Dixon – damals Chefdesigner des Einrichtungshauses Conran Ltd. – den Weg zu einer anderen Haltung gegenüber dem Design als dem der vorgeschriebenen Bewunderung. Er schreibt: „Rethink handelt von einem anderen Blick auf die Welt der Gegenstände: Ein Versuch, die verborgene Schönheit im Gewöhnlichen aufzufinden. Ein Licht zu werfen auf Zweckmäßigkeit, selbst da, wo sie so nicht beabsichtigt war. Bisweilen die Zähmung des industriellen Artefakts für den häuslichen Gebrauch. Aber dies immer mit offenen Augen.“3 Dixon blickt von der Gebrauchstüchtigkeit her und aus der Sicht der Benutzer auf das Thema. Rethink richtet sich ans Publikum und macht Anregungen, wie sich beim Wohnen oder bei der Arbeit durch Ausweichen auf preiswerte Ersatzgegenstände die gewünschte Funktion mit viel weniger Geld erreichen lässt als auf konventionelle Weise. Dixon gibt Anregungen zum eigenkreativen Flanieren durch die Topografie der Dinge. Zur Fotografie der lesenden Frau in der Schubkarre schreibt er: „Großes Vergnügen bereitet es zu sehen, wenn Menschen eine bestehende Technologie oder ein Objekt neuen Funktionen anpassen. Wozu noch einen weiteren Stuhl-Stil oder eine weitere Form kreieren, wenn etwas mit ursprünglich einem anderen Verwendungszweck diese Sache ebensogut tun kann?“4 In eine verwandte Richtung ging die 2007 gemeinsam von Naoto Fukusawa und Jasper Morrison kuratierte Ausstellung Supernormal anlässlich der Mailänder Möbelmesse: eine Reverenz an Gegenstände – anonymen oder von 387

Abb. 177: Eigenwilliges Umfunktionieren des Gegenstandes: Die Frau sucht eine Sitzgelegenheit und findet sie im dafür ungewohnten Objekt, dessen Potenzial sie jedoch erkannt hat. (Dixon, Rethink)

anderen Designern gestalteten –, die sich nicht aufspielen, sondern einfach zuhanden sind, wenn man sie braucht, und die ansonsten be­scheiden im Hintergrund bleiben.5 Etwa: Bialetti Moka Express, Salatsieb, Flaschenöffner, Schraubenschlüssel, Filzpantoffeln. Die Kuratoren fragten dabei: „Weshalb versagen so viele Dinge im Alltagstest? Warum ist das Normale am Verschwinden, und wenn es verschwunden ist, wodurch es ersetzen? Ist Schönheit einfach eine Frage des Aussehens, oder könnte es damit mehr auf sich haben, als das Auge sieht? Was macht etwas zu einem guten Gegenstand, und wie kommt es, dass bestimmte Gegenstände mit der Zeit immer besser werden?“6 Auch dies sind andere Töne, es geht nicht um Neuheit und nicht darum, aufzufallen, sondern um eine von Semantik und Semiotik entlastete Brauchbarkeit. Im Untertitel hieß es: Sensations of the Ordinary.7 Die Gegenstände sind frei von Rhetorik und werben nicht andauernd um die Blicke ihrer Eigentümer und die Aufmerksamkeit von deren Besuchern, sondern sind für den „zerstreuten Gebrauch“ da, der für Walter Benjamin eine positive Eigenschaft war, weil er den Kopf für anderes frei lässt.8 Diese Selbstbescheidung steht in markantem Kontrast zum Diskurs- und Ausdrucksdrang des zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts, besonders was das Mobiliar betrifft. Doch in erster Linie war der Achtzigerjahre-Stil einfach zu anstrengend, war im Alltag der Appetit auf dessen Art von Diskursivität begrenzt. (Gut möglich, dass im Bereich der technischen Geräte bei den wohlhabenden Teilen 388

Abb. 178: Auch ein Artikel des typischen Spitalbedarfs, ein Sichtschutz im Krankenzimmer, kann sich als preiswerte Alternative zum teuren Wandschirm auch für die Wohnung eignen. Plädoyer für eine geistig unabhängige, eigenständige Analyse der tatsächlichen Bedürfnisse. (­Dixon, Rethink)

der Gesellschaft, die zugleich Wohnungsmieter sind, ein weiterer Umstand eine Rolle spielt: Geräte, die vor einigen Jahrzehnten noch individuell erworbenes Eigentum waren, wie Kühlschrank, Waschmaschine, Geschirrspüler, je nachdem auch der Kochherd, sind nun Teil der Wohnungsinstallation, den Bewohnern zur Verfügung gestellt und unterliegen nicht mehr unmittelbar dem Besitzdenken.) Klassiker Zur größeren Gelassenheit gehört auch, dass im Bereich der Inneneinrichtung die Möbelklassiker der 1920er-Jahre ihre Autorität von Jahr zu Jahr zu festigen vermochten. Sie sind zugleich historisch und überhistorisch, keineswegs retro, zeitgenössisch auch nach bald 100 Jahren.9 In eine ähnliche Position sind mittlerweile auch Mobiliar und Lampen aus den Fünfzigerjahren aufgestiegen, und die Sechziger sind dabei, es ihnen gleichzutun. Die Zeit wird auch in Zukunft eine Richterin über das Wichtige und das Leichtgewichtige sein.10 Substanzielles hat sich durch all die Jahre bestätigt – nicht durch die Zeit selbst, sondern durch den Charakter und die Überzeugungskraft, die diesen Gegenständen geblieben beziehungsweise zugewachsen ist – und damit auch ihrem Prestige. Während die Gestaltung und technische Konfiguration von Autos und Flugzeugen sich in 100 Jahren unablässig erneuerte, sodass kaum ein Bereich unangetastet blieb, konnten 389

Abb. 179: Ronan und Erwan Bouroullec: Sofa „Alcove Highback“ als Besprechungszone im Großraumbüro, 2006–2008. Dass eine neue Art von Möbel entsteht, ist selten. In ­diesem Fall kann davon ­gesprochen werden: ein Möbel als Übergangsobjekt zur Architektur.

niedrigkomplexe Gegenstände wie Möbel ihren Status behaupten. Ihr erlauchter Club kennt keinen countdown – keine ablaufende Zeit, nur mehr eine hinzukommende. Zur generell stabilen Typologie im Bereich des Mobiliars scheint auch zu passen, dass im Lauf der Jahrzehnte kaum neue Möbeltypen hinzugekommen sind, abgesehen vielleicht von all den Versuchen, die wachsende A ­ nzahl von CDs oder DVDs unterzubringen – Umsetzungen, die nun aber im Zeichen des cloud-computing und des streaming bereits wieder auf dem Rückzug sind. Typologische Veränderungen in der Möblierung gibt es wenige. Sie treten nicht auffällig in Erscheinung. Veränderungen spielen sich u ­ ndercover ab: So ist die Wohnwand, das Faszinosum von 1970, heute ein aus der Zeit gefallenes Relikt in der Stube von Senioren. Ganz verschwunden ist die Musiktruhe: Verschwinden ist ein unauffälliger Vorgang. Und das erstmalige Auftreten? Es gibt Fälle – nicht sehr zahlreiche –, wo ein Gegenstand nicht mit einem Knall plötzlich da ist, aber auf eine sanft-nachdrückliche Art etwas überraschend Neues vorstellt. Ein solcher Fall ist das Sofa „Alcove High­back“ der französischen Brüder Ronan und Erwan Bouroullec, das mit seinen senkrecht hochgezogenen textilen Wänden eine Raumzelle in Großraumbüros schafft, die sich gut für Besprechungen im kleinen Kreis eignet, eine Kleinarchitektur, die Sitzkomfort und eine diskrete Abschirmung gewährt. Erwan Bouroullec sagte in einem Gespräch: „Besonders während der Achtziger- und 390

Neunzigerjahre wollte man immer viel zu definitive Konzepte entwickeln. Alle Objekte waren formvollendet, autonom, in sich geschlossen. Wenn Sie eine Vase kaufen gingen, dann war sie in sich so ausgeformt, als definiere sie allein das Interieur Ihrer ganzen Wohnung. Es gibt eine Art Terror des Hyperdesigns. Es besteht immer die Gefahr, dass jedes Objekt zu einem Fetisch wird.“11 Eine solche Aussage, etwa von Ettore Sottsass, wäre dreißig Jahre zuvor als Äußerung eines Unangepassten aus dem Rahmen gefallen. Nun aber war sie zeitgemäß. Es ist eine Kunst, mit einem Entwurf die Balance von Unauffälligkeit und Interessantheit zu finden. Neben den bereits erwähnten Tom Dixon, Jasper Morrison, Naoto Fukusawa bemühen sich etwa auch Terence Conran, Kenya Hara oder Hella Jongerius um ein solches Gleichgewicht. Die niederländische Designerin Hella Jongerius und ihr Studio „­Jongeriuslab“ schuf 2007 das Sofa „Backpack“, mit dem Altvertrautes und Überraschendes leise ein Zwiegespräch führen (→ Abb. 180) . Altvertraut, ja archetypisch sind die einzelnen Teile: Die Polsterung über dem Rahmen mit der messingenen Polsterernagel-Reihe, die Füße und die Rückenlehne. Überraschend sind die unterschiedlichen Dessins der Stoffe und das angeschnallte weiche Kissen, die geistreichen Asymmetrien, vor allem aber das zweite Möbelelement, das je nachdem als Kopfteil, als Hocker oder als Ottomane zu benutzen ist. Seine rot gestrichenen Füße markieren gegenüber dem Hauptteil die Differenz innerhalb der Zusammengehörigkeit. Dass ein solcher Entwurf zwanzig Jahre früher hätte gemacht werden können, ist kaum vorstellbar. Alles belehrendDiskursive der Dekonstruktionen der Achtziger geht diesem Entwurf ab, dafür spielt er subtil mit der Nichteindeutigkeit. Hella Jongerius sagt „Perfektion ist einfach langweilig“, und illustriert dies so: „Ich bin eine Tüftlerin, Prozesse sind mir wichtig, Sobald etwas zu einem fertigen Produkt wird, verliere ich das Interesse. […] Und ich bin überzeugt, dass es kein Gestaltungsziel sein darf, ein zeitloses Produkt zu machen, genauso wenig, wie es darum geht, möglichst originell zu sein. Die Verantwortung des Designers liegt dar­ ­i n, mit Qualität, Material und Machart zu verführen. Und ich spiele mit bewährten Archetypen wie dem Sofa und bringe sie in eine zeitgemäße Form.“12 Zu ihrem Verständnis von Farbe und Farbgebung sagt sie: „Wenn wir von einer einzelnen Farbe sprechen, achte ich vor allem auf ihre Vielschichtigkeit. 391

Abb. 180: Hella Jongerius: Sofa „Backpack“, 2007. Hella Jongerius hat ein ausgeprägtes Sensorium für Nuancen und dosierte Irritationen. Ihr Umgang mit Farben lenkt die Wahrnehmung und damit auch den Gebrauch auf eine sanfte Weise.

Diese hat mit den Farbpigmenten und den Rezepten zu tun und führt im besten Fall dazu, dass verschiedene Betrachter in derselben Farbe verschiedene Farbtöne wahrnehmen. Ein Rot kann gleichzeitig also auch als Orange oder Braun gesehen werden. Das macht eine Farbe lebhaft und reich. Nach diesen Qualitäten suche ich.“13 Ein Interesse für nur schwer dingfest zu machende Nuancen ist die Signatur dieser Zeit. Jasper Morrison entwarf ein Hänge-Rack für Hängemäppchen, das aus zwei X-förmigen Kunststoffelementen besteht, die mit vier ­extrudierten Aluminiumprofilen zu einem Rahmen zusammengesteckt sind. Einfacher geht’s nicht, und doch ist auch dies nicht banal, ist auch in d ­ iesem minimalen Material- und Formaufgebot ein Gedanke wirksam. Die X-Elemente verweisen in ihrer Erscheinung auf unsere Angewohnheit, uns Wichtiges durch Ankreuzen aus der Unübersichtlichkeit hervorzuheben. Die ­Subtilität dieser Idee ist zeittypisch und bezeichnet die Differenz zur hohen Zeit der Postmoderne. Morrison erinnert mit den folgenden Worten an seine Anfänge als Gestalter, nach denen er rasch Erfolg hatte: „Als ich einmal in Berlin an einem Haushaltwarengeschäft vorüberging, damals noch im Glauben, dass gute Ideen auf der Straße zu finden seien und nicht auf einem leeren Blatt Papier, sah ich dort einen Stapel Blumentöpfe, die der Größe nach aufeinandergetürmt waren, und ich hatte den Einfall, sie als Basis eines Tischchens 392

Abb. 181: Jasper Morrison: Hängeregistratur für Magis (Italien), 1998. Mit sparsamsten Mitteln erreicht Morrison auch bei einem nichtglamourösen Gegenstand eine besondere Ausstrahlung von Interesse und formaler Sorgfalt.

zu verwenden. Ich machte damals zahlreiche solcher ‚ready-mades‘, um damit irgendwie die industrielle Produktion zu imitieren. Ein anderes Beispiel war ein Kleiderständer aus einem Lüftungsrohr, in das ich oben und unten den Fuß eines ausgedienten Stahlrohr-Bürostuhls einsteckte, dessen RohrEnden ich mit Korkzapfen verschloss. Es war dies alles sehr poetisch und bedeutungsvoll zu jener Zeit.“14 Die Selbstkritik, die in diesen Worten aufscheint, ist auch eine Kritik an der zeitgeistigen Unbekümmertheit von damals. Ernsthaftes Entwerfen ist mehr als bloß das Fixieren von flüchtigen Einfällen. Die Frage nach ganz neuen Dingen der letzten zwanzig, dreißig Jahre ergibt eine etwas karge Ausbeute: Es sind wenige an Zahl, doch an Bedeutung Schwergewichte, an erster Stelle wohl das Smartphone, das als Mobiltelefon getarnt auf uns gekommen ist und seine Andersartigkeit für viele erst nach und nach preisgegeben hat. Zu seinen Enthüllungen gehört das Internet der Dinge. Das Internet der Dinge, die Onlineverbindung von Geräten mit dem Zweck ihrer Kommunikation untereinander, steht wohl erst am Anfang. Parallel dazu ist das materielle Verschwinden bestimmter Dinge als folgenreicher Vorgang zu erwähnen, etwa der Rückzug der eben erwähnten Compactdisc oder der Film-DVD, die durch die Datenübermittlung ersetzt wurden.15 Auch hier droht die Tatsache unterzugehen, dass es sich dabei nicht allein um eine Angelegenheit der Technologie handelt, sondern auch um eine Veränderung der kulturellen Physiognomie in der Gesellschaft. Denn hinter dem technischen Vorgang stellt sich über die hier behandelte Materie der 393

Abb. 182: Jasper Morrison: Porzellan-Service „Moon“ für Rosenthal, 1997. Nicht Kugel, nicht Würfel, nicht Kegelstumpf, sondern etwas anderes, das nicht ein Zwischending ist und für das es keine Bezeichnung gibt, doch die Teile des ­Service stehen in einem konsistenten formalen ­Dialog.

Produktgestaltung hinaus auch die Frage nach den künstlerischen Absichten, die etwa ein Musik-Album zu mehr mach(t)en als zu einer Abfolge einzelner Stücke, nämlich zu einem künstlerisch geformten Statement. Fällt das damit verbundene Kolorit beim Streamen einzelner Stücke einfach weg, oder werden solche Qualitäten durch entsprechende Interventionen aufgefangen und ins Produkt zurückgespeist? Wer nicht auf der kulturpessimistischen Seite steht, wird mit der Zeit bejahende Antworten auf diese Frage erhalten. Generell lässt sich konstatieren: Die Gegenwart ist weniger durch neue Dinge gekennzeichnet als durch die Erneuerung von Dingen. Zum Beispiel: Tretroller werden elektrifiziert, wodurch sie zu „Stehrollern“ werden, der Induktionsherd ersetzt den konventionellen Elektroherd mit Glaskeramikober­fläche, der seinerseits den traditionellen Elektroherd verdrängt hatte. Äußerst folgenreich ist der Ersatz von Bedienungsknöpfen und -schaltern durch das Bedienungstableau als Interface, bei dem die Wischbewegung mit dem Zeige­ finger eine neue Wortbedeutung mit sich gebracht hat: Wir wischen das Gewünschte zu uns heran und scheuchen nicht mehr das Unerwünschte von uns weg. Diese neue technische Konfiguration des Interface hat zahlreiche 394

Abb. 183: Marcel Wanders/ Droog Design: „Knotted Chair“, Sessel aus geknüpfter Aramidfaser mit Karbon-Kern, 1996. Die Krümmung ergab sich dadurch, dass das Geflecht im hängenden Zustand aushärtete und damit auf Druck belastbar wurde.

Gegenstände flächiger werden lassen.16 Nichts macht dies anschaulicher als der Blick in ein heutiges Airbus-Cockpit im Kontrast zu einem solchen der Boeing 707 von 1960 mit deren Gepränge von Rundanzeigen. 3-D-Druck Die Digitalisierung, das Thema des Kapitels 28 und der nachfolgenden Refle­ xion X-28, ist hier um eine wichtige Facette zu ergänzen: um den 3-D-Druck und seine Folgen. Er geht auf Patente in den 1980er-Jahren zurück, begann zu­ nächst als „Stereolithografie“ – ein Verfahren im Modellbau – und entwickelte sich weiter als „additive Fertigung“ oder „generatives Verfahren“ immer stärker in die Richtung einer eigentlichen Fabrikationsmethode für kleine Stückzahlen, mit der sich auch hochbeanspruchbare Teile – etwa Ersatzteile für nicht mehr produzierte Maschinen – fertigen lassen.17 Auch Verkleidungen von Maschinen lassen sich mit diesem Verfahren leichter als zuvor herstellen. Die Digitalisierung macht es möglich, auf einfachem Weg Handskizzen computergeneriert in dreidimensionale Modelle umzusetzen, von wo aus sich sogar Konstruktionspläne und operative, topologisch praktikable 395

Fertigungsabläufe entwickeln lassen. Dass damit meist eine Zeitersparnis – und damit ein Produktivitätsgewinn – verbunden ist, liegt auf der Hand. Die Zusammenhänge von Funktion, Material, Formbestimmung und Herstellungsmethode, die sich in 200 Jahren gegenüber der vorindustriellen Zeit immer mehr aufgefächert und spezifiziert („vertikalisiert“) hatten, werden bei der additiven Fertigung wieder gelockert: Im Grunde ist mit ihr die Herstellung einer jeden Form technisch möglich. Was dies bedeutet, ist noch nicht absehbar. Immerhin scheint es, dass die totale Enthemmung des Designs und der Schritt von der leicht gemachten Gestaltung zur Zerstaltung uns erspart bleibt (oder sich gegebenenfalls durch den Tatbestand des Einzelstücks selbst marginalisiert). Auf der professionellen Ebene lassen sich hochkomplexe Zusammenhänge in kürzerer Zeit als in der „analogen“ Zeitrechnung bewältigen. Das bedeutet auch, dass die relative Leichtigkeit dieser Bewältigung zu einem Bedürfnis nach gesteigerter Komplexität führt. Inwieweit dieses Bedürfnis vernünftig ist, bleibt fraglich.18 Fest steht: Auf der privaten Ebene kann der 3-D-Druck dazu führen, dass jede Privatperson auch zur Produzentin von Dingen wird. Wer bis dahin nicht auf die Idee gekommen wäre, Teetassen aus Ton selber zu formen, kann dies jetzt mit dem 3-D-Drucker tun. In furchterregende Bereiche tritt die Welt durch die Möglichkeit ein, Do-ityourself-Schusswaffen herzustellen. Doch eben: Technologische Erfindungen pflegen nicht mit der Frage nach ihrer Verantwortbarkeit gemacht zu werden. Als um die Jahrtausendwende in Schweden die Designerinnen Sofia Lagerqvist und Anna Lindgren für ihr Studio Front mit einer Taschenlampe eine Stehlampe und einen imaginären Stuhl in den Raum zeichneten, worauf die von mehreren Kameras stereometrisch erfassten und vektorisierten Lichtbahnen in Kunststoff als ein stuhl- und lampenähnliches Gebilde ausgedruckt wurden, war das eine überaus effektvolle Inszenierung der kommenden Möglichkeiten; die Fachwelt sprach von einer methodischen Sensation. Allerdings: Wegen der Leichtigkeit, mit der sich auf diesem Weg von der Skizze zum Produkt kommen lässt, ist vielleicht wieder einmal die Ermahnung des alten Gottfried Semper angezeigt, die da lautete: „Der Überfluss an Mitteln ist immer eine Gefahr für die Formgebung“ (→ Kap. 4, Band 1) . Ob 396

Abb. 184: Front (Sofia ­Lagerqvist, Anna Lindgren): Diese Demonstration für die Methode des 3-DDruckens machte kurz nach der Jahrtausendwende ­Furore. Zu erkennen sind die Kameras als Grundlage für die dreidimensionale Modellierung.

nicht im 21. Jahrhundert die Mühelosigkeit des Vorgangs solche Überlegungen in die Ewigen Jagdgründe der Designethik abdrängt? Im schwedischen Experiment stand jedoch nicht das Produkt im Fokus, sondern das generative Verfahren selbst. Dass über den spektakulären Effekt hinaus das 3-DDrucken auch als Weg zur individualisierten Produktion gesehen wird, etwa um einen exakt der individuellen Körperform angepassten Stuhl zu fertigen, wirft die Frage nach dem Sinn auf. Da gilt es zu unterscheiden: Was aus medizinischer Sicht für körperlich Eingeschränkte vorteilhaft sein kann, ist in anderen Fällen nicht besser, nur anders. Wer will schon immer auf demselben Stuhl sitzen? Im Zug der Moderne waren die Gegenstände zunehmend unter dem Gesichtspunkt des Universellen, des gemeinsamen Nenners gesehen, gestaltet, hergestellt und eingesetzt worden. „Gleiche Gegenstände für gleiche Bedürfnisse“: Dies war sinngemäß die Maxime der Avantgarde von 1925, von ­Gropius, Le Corbusier, Lissitzky und Stam (→ Kap. 14–16, Band 1) . Als Kontrast zu diesem überaus bewährten und praktikablen elastischen Verhältnis zwischen dem Gegenstand (im Singular) und seinem Gebrauch (im Plural: durch die Benutzergruppe) bietet sich heute die Möglichkeit der leicht gemachten Individualisierung an, ein Stichwort, das ein neues und verpflichtendes Verhältnis zwischen der Person und ihrer Dingwelt stiften soll. Doch dazu gibt es auch andere Möglichkeiten.

397

Individualisierung, Verpersönlichung Wo der primäre Konsumbedarf gedeckt ist wie in all den wohlhabenden Gesellschaftssegmenten dieser Welt, hat das unpersönliche Serienprodukt, das die Avantgarde von 1925 zum einzig zeitgemäßen Gebrauchsgegenstand erklärte, erheblich an Strahlkraft eingebüßt. Die saturierte Gesellschaft sucht ihr Heil in einer re-personifizierten Beziehung zwischen dem Individuum und den Gegenständen, die ihnen ihren gesellschaftlichen Status versichern sollen. Der 3-D-Druck ist ein eher argloser Weg zu diesem Ziel. In die Sphäre der Geschäftstüchtigkeit gehört hingegen die Methode der künstlichen Verknappung des Angebots und der routiniert bewirtschafteten Torschluss­panik durch den Hinweis auf die „begrenzte Auflage“ (limited edition) – eine Praxis, wie man sie aus dem Kunsthandel kennt. Wie dort haben die Anbieter in der Preisgestaltung weitgehend freie Hand, weil die Kaufkraft der Klientel in dieser Kategorie preistreibend ist. Möglichst wenige Exemplare von etwas, das erzeugt Aufmerksamkeit und Exklusivität. Die Dinge der gewohnten unlimitierten Verfügbarkeit zu entziehen, macht dem Zielpublikum Beine. Das Attribut „exklusiv“ will ja im Grunde „inklusiv“ bedeuten – insofern, als es d ­ arum geht, sich gegenseitig der Zugehörigkeit zu seinesgleichen zu versichern. Ein Beispiel dafür war die inszenierte Wiederbelebung der Automarke Bugatti durch den Volkswagen-Konzern, der 2005 einen Supersportwagen mit Tausend PS in einer nummerierten Auflage von 100 Stück zum pauschalen Stückpreis von einer Million Euro in die kostbar ausgeschlagene Marktnische stellte. Doch auch das exakte Gegenteil zum Prinzip von limited edition mit ihrer Demonstration von roher Kaufkraft findet Aufmerksamkeit: das Prinzip von open access und open source als einer konvivialen Möglichkeit des Teilens. Enzo Mari war 1974 ein Vorläufer mit seiner „proposta per un’ progettazzione“ (→ Kap. 23) .

Was damals für viele ein ausgefallener Gedanke war – durch freige-

big zur Verfügung gestellte Baupläne für einfach konstruierte Möbel den Detailhandel mit seinen hohen Gewinnmargen zu umgehen – findet um 2020 noch immer Unterstützer, auch wenn der Reiz des Projekts eher in seiner Subversivität als in der Wahrscheinlichkeit liegt, dass unbemittelte Kunden die Idee aufgreifen. Der Whole Earth Catalog hatte das open-source-Prinzip 398

vorgespurt (→ Kap. 29) . Im erweiterten Sinn bedeutet es das freie Zurverfügungstellen von Informationen und Wissen. Dieses Prinzip könnte der Soziosphäre um die Gegenstände herum wertvollen Sauerstoff zuführen. „Storytelling“ Der im Westen vorherrschende Wunsch nach Individualität drückt sich zuallererst in den Gegenständen aus, mit denen man sich zu Hause umgibt. Die Besonderheit einer Inneneinrichtung manifestiert sich in der persönlichen Kombination ihrer seriell hergestellten Objekte. Darüber hinaus zeigt sich ein Interesse an Besonderheiten, an Gegenständen mit einem Vorleben, die deshalb einen speziellen Status genießen. Unter dem Stichwort Storytelling geht es um eine persönlich artikulierte Beziehung zwischen Eigentümern und Gegenständen, ausgestattet mit persönlicher Bedeutung und Geschichte. Bei einem Objekt aus dem Trödelladen kennen wir seine wirkliche Geschichte zwar nicht, erkennen aber das Vorleben an den Gebrauchsspuren und lassen uns zu Fantasien darüber anregen. Oft sorgt allein das Alter eines Gegenstandes dafür, dass er uns als Solitär begegnet, da die meisten anderen Exemplare der Serie bereits verschwunden sind. Ein besonders prägnantes Beispiel für Storytelling avant la lettre waren die Umhängetaschen der beiden Brüder Daniel und Markus Freitag. Ursprünglich waren sie ganz anders gedacht. Die Brüder wollten eigentlich nur einen wetterfesten Transportbehälter für Fahrradkuriere entwerfen und kamen beim Prototyp auf den Gedanken, dafür das Material einer ausgedienten Lastwagenplane zu verwenden. An der Reaktion ihrer Freunde erst erkannten sie, was für einen Fund sie gemacht hatten. Im Englischen gibt es dafür den Begriff „Serendipity“ – eine Idee, auf die man durch Zufall stößt. Hier war es das Material mit den angeschnittenen Buchstaben und den individuellen Farbkombinationen – Fragmente einer Lkw-Plane, die zuvor jahrelang bei Wind und Wetter kreuz und quer durch den Kontinent gefahren war. Das Abgenutzte wurde zur charismatischen Grundlage der ganzen Serie. Die Ausschnitte von Schriftzügen und die Farbkombinationen verkörperten den ­Zufall und das Ungeplante. Dies machte bei identischer Grundform jede Tasche zum Unikat, das sich aus dem Hintergrund des Funktionellen gelöst 399

Abb. 185: Kenneth Grange: London Taxi, 1997. Damit gelang Grange ein sanftes Remake der für London stilprägenden Taxis: Beispiel für die geschickte Hand­ habung des wertvollen ­Erscheinungsbildes einer ­touristischen Metropole.

hatte und zu einer neuen Wirklichkeit geworden war. Jedes Stück trug seine eigene Signatur des langjährigen Unterwegsseins. Bei der Wahl ihrer Tasche lassen die Kunden ihre eigenen Urteile spielen.19 Andere Beispiele für Storytelling sind etwa Ex-Kinosessel, ausgemusterte Flugzeugsitze zu Hause oder schmale Trolleys, aus denen die Stewardessen früher den Fluggästen Mahlzeiten gereicht hatten, Ex-Weltreisende aus Leichtmetall, die nun im Wohnraum stehen. Sie, die Sitze, Musikboxes, Flipperkästen, Reklame-Leuchtschriften und Ladenbeschriftungen sind Spolien der modernen Zivilisation ähnlich wie vor zweihundert Jahren ein Öllämpchen oder eine Tonscherbe aus Attika in der Stube des Bildungsbürgers. Einen bedeutenden Unterschied zwischen dem Öllämpchen und dem Flugzeugsitz gibt es jedoch: Letzterer kommt nicht aus einer entlegenen, sondern aus einer nahen Vergangenheit, die wir der kurzen Lebenszyklen der technischen Zivilisation und des raschen Verschleißes ihrer Bestandteile wegen zwar als zurückliegend empfinden, jedoch mit eigenen Erinnerungen zu verknüpfen vermögen. Storytelling ist ein Phänomen sozialpsychologischer und ökonomischer Art. Es ist eine Reaktion auf die oft als gesichtslos und anonym erlebte Gegenwart der allzeit verfügbaren Konsumgüter in der Überflussgesellschaft. Sie sind das eigenkreative Gegenteil zur Bereitschaft vieler, sich von einem Influencer

400

Orientierung im Labyrinth der Warenreligion zu holen wie von einem Hohepriester der Idolatrie. In einem unproblematischen Sinn ebenfalls zum Storytelling gehört die umsichtige Pflege eines altgewohnten Erscheinungsbildes, eines Images mit positiver Ausstrahlung. Ein Beispiel dafür war die klug dosierte Modernisierung der Londoner Taxis, die seit 1959 grundsätzlich unverändert ausgesehen hatten. 1997 brachte der Hersteller, London Taxi Company, das Modell TX her­ aus, bei dem Kenneth Grange es verstanden hatte, die lieb gewordene Reizlosigkeit des Vorgängers durch eine subtile Neugestaltung zu überwinden, ohne dabei das Londoner Kolorit preiszugeben. Die vertraute Konfiguration – ein Alleinstellungsmerkmal dieser Metropole – wurde gefälliger und behielt doch den gewünschten Grad an Traditionsverhaftung: ein schönes Beispiel für die bewusste Arbeit an einer spezifischen Produktidentität. Kenneth Grange als einer der Partner von „Pentagram“

(→ Kap. 25)

konnte dabei auf eine lange Er-

fahrung in der Modellierung von Erscheinungsbildern zurückgreifen. „Umwelt“ Die wichtigste Veränderung des Designbegriffs in den letzten drei Jahrzehnten betrifft die Rolle der Gestalterinnen und Gestalter beim Übergang zu einer umweltgerechten Lebensweise. Damit ist der Blick unter die Oberfläche im doppelten Wortsinn gemeint: hinter die sichtbare Oberfläche der Dinge und über ihre Dinglichkeit hinaus auf ihre Auswirkung auf die Umwelt. Wurde Gestaltung nach dem Krieg mehr und mehr unter dem Stichwort der „Verschönerung“ populär, ist heute ihre zunehmend anerkannte Rolle vielmehr die der Mitwirkung bei der Umgestaltung der technischen Zivilisation zu einer umweltgerechten, also nachhaltigen Produktions- und Lebensweise: die größte Aufgabe von allen denkbaren im Bereich von Design. Die ­i ndustrielle Revolution hatte sich ereignet, der Umbau der Wirtschaft zu einer umweltgerechteren Form des Produzierens muss bewältigt werden. Der Begriff design thinking bekommt erst vor diesem Hintergrund eine Berechtigung, die ihn über die früheren Epochen hinaushebt. Komplexe, aus zahlreichen spezifischen Materialien bestehende Gegenstände verlangen nach einem Wissen sowohl über das Verhalten dieser Materialien während der 401

Lebensdauer der Gegenstände – als auch darüber hinaus. Die Frage nach der Sozial- und Umweltverträglichkeit eines Entwurfs wird zunehmend nur mehr von transdisziplinär zusammengesetzten Teams beantwortet werden können. Zum Beispiel waren der Chemiker Michael Braungart und der Architekt William McDonough mit ihrer Firma an der Entwicklung von Flugzeugsitzen mit kompostierbaren Stoffbezügen beteiligt.20 Das ist zwar nur ein sehr kleiner Teil eines Flugzeugs, aber beim erwähnten Umbau wird es auch dar­ auf ankommen. Unter „Umwelt“ verstand man noch um 1980 die nähere Lebensumgebung: die Region, in der man sich täglich bewegte oder vielleicht das eigene Land. In den letzten 30 Jahren begann sich nach und nach die Erkenntnis durchzusetzen, dass Umwelt die eierschalendünne Haut ist, die als Ökosphäre die Abb. 186: Anna Blattert, Daniel Gafner (in der Gruppe Postfossil): „First light“, Stehleuchte mit Stromerzeugung aus einer Mechanik mit Ge­ wichtsaufzug, 2008. Erinnerung und Neubelebung eines alten mechanischen Prinzips; ein Funktionszyklus dauerte bereits ­immerhin acht Minuten.

402

Abb. 187: Lucy Hughes: „MarinaTex“, innerhalb wenigen Wochen kompostierbare Lebensmittelfolie aus Fischabfällen. Abschlussarbeit und Forschungserfolg einer Londoner ­Designstudentin und preisgekrönte Wettbewerbseingabe für den Dyson Award 2019.

Erdkugel umgibt und alles Leben auf ihr ermöglicht. Auch dieser shift des Umweltbewusstseins ist ein Effekt der Globalisierung. Die Erkenntnis, dass über der Antarktis ein rasch wachsendes Loch in der schützenden Ozonschicht der Atmosphäre entstanden war, überstieg in den 1980er-Jahren die Wirkung einer besorgten Prognose von Spezialisten, löste in ihrer Unmittelbarkeit Alarm aus und mobilisierte die Staatengemeinschaft. Dies führte 1987 zum „Montrealer Protokoll“ und 1992 zur ersten großen Umweltkonferenz von Rio de Janeiro.21 „Rio“ setzte den Begriff der „Nachhaltigkeit“ (­sustainability) auf die Agenda. Von zwei seither entwickelten und einander ergänzenden Ansätzen, der Bemessungsmethode einer wirtschaftlichen Aktivität hinsichtlich ihres „ökologischen Fußabdrucks“ und der konsequenten Kreislaufwirtschaft nach dem Prinzip „Von der Wiege zur Wiege“ (from cradle to cradle), war schon die Rede (→ X-29) . Michael Braungart und William M ­ c­Donough, die Promotoren des Letzteren, legen dar, dass downcycling von Materialien – etwa das Rezyklieren von Zeitungspapier zu Toilettenpapier – keinen echten Beitrag zur Lösung des Abfallproblems bedeutet, da es für das Material nur einen zweiten Zyklus erbringt, aber keinen Kreislauf begründet. Ein eindrücklicher E ­ rfolg für ein zukunftsfähiges design thinking gelang hingegen 2019 der britischen Designstudentin Lucy Hughes mit ihrer Idee für ihre Abschlussarbeit, aus Fischabfällen eine kompostierbare Frischhalte­folie für Lebensmittelverpackungen zu entwickeln. Dieses Ziel erreichte sie, nicht zuletzt, indem sie auch frei zugängliche – open-source – Informationen verknüpfte. Es 403

handelt sich dabei um ein upcycling, wofür sie 2019 den Dyson Award erhielt und ihre eigene Firma gründete, die nun die Folie unter dem Namen „MarinaTex“ produziert.22 Mit einer Frischhaltefolie lässt sich zwar nicht das große Unheil aufhalten, ebenso wenig wie mit kompostierbaren Sitzbezügen, vielleicht aber mit der Unerschrockenheit, die es verlangt, sich auf eigene Faust an ein Problem zu machen, bei dem man eher die Schlagkraft von big money und vielköpfigen Spezialisten-Teams erwarten würde. „Postfossile Wende? “ Die Covid-19-Pandemie des Jahres 2020 wird als eine Zäsur in die Geschichte eingehen. Sie führt den hoch entwickelten Volkswirtschaften die Grenzen der selbstverständlich gewordenen Vorstellung vom global in allen Richtungen frei flutenden Menschen- und Warenverkehr vor Augen. Diese mentale Veränderung ist seit Jahren begleitet von einer zunehmenden Dringlichkeit an Bemühungen, die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern zu verringern, um die gesetzten Klimaziele zu erreichen. Die Elektromobilität, jahrzehntelang eine fernliegende Utopie, deren Stunde nie zu kommen schien, scheint nun doch auf den Weg gebracht. Der Wirkungsgrad bei der Fortbewegung – das Verhältnis von investierter zu resultierender Energie – wird sich dadurch verbessern. Um wie viel? Es macht jedenfalls den Anschein, dass der peak of oil bald hinter uns liegt und die Förderung fossiler Energieträger zurückgeht. Sollte sich mit diesem statistischen Kulminationspunkt tatsächlich eine Energiewende verbinden, muss dennoch enorm viel geschehen. Geschieht es bereits? Wenn immer mehr Menschen mit dem E-Bike zur Arbeit fahren statt im eigenen Auto, ist das eine gesellschaftliche Errungenschaft. Nicht hingegen, wenn sie im E-Bike zur Arbeit fahren statt wie zuvor mit dem normalen Fahrrad. Wie auch immer: Die Frage nach der Herkunft der Elektrizität und damit ihrer ökologischen Qualität entscheidet über den versteckten Wert der Energiewende. Die Frage „Mit welchem Transportmittel will ich unterwegs sein?“ ist ein wichtiger Schritt. Dass 2015 mit dem Solarflugzeug „Solar Impulse“ des Technologie-Pioniers Bertrand Piccard erstmals ein Flugzeug die Erde umrundete – ein überaus heikles und aufwendiges Unterfangen –, ist eine bedeutende Wegmarke und ein Signal – fragt sich nur, wofür. Denn die 404

technischen Herausforderungen und der logistische Aufwand für diese exploratorische Pionierleistung waren enorm. Immerhin: Ein Flugzeug umrundete die Welt, ohne einen Liter Treibstoff zu benötigen.23 Es war dies der eindrückliche Beweis einer längst bekannten Tatsache: Dass sich mit Sonnenenergie im Grunde (fast) alles bewerkstelligen lässt. Dies bewiesen zu haben, darin liegt die Leistung – und ein erhebliches Mobilisierungspotenzial, auch wenn noch nicht absehbar ist, wohin dies führt. Eine umweltneutrale Zivilluftfahrt wird es nicht sein können. Auch soll man sich bezüglich des Entwicklungstempos keinen Illusionen hingeben: Bereits 1979 hatte der „Gossamer Albatross“, ein muskelgetriebenes Leichtflugzeug des Teams um den amerikanischen Ingenieur Paul MacCready, den Ärmelkanal überflogen, nur zwei Jahre später ein Flugzeug desselben Teams mit Solarzellen eine acht Mal so lange Strecke von Frankreich nach England bewältigt. Zwischen diesen frühen Erfolgen und „Solar Impulse“ liegen fast vier Jahrzehnte. Eine Übertragung solcher Erfolge auf den Massentourismus ist schwerlich vorstellbar. Im Automobilbau hingegen hat die Dynamik der Veränderung in Richtung E-Mobilität eine rasche Gangart aufgenommen. Die Lade-Infrastruktur für Autos wird zusehends dichter. Da wird es entscheidend sein, wie die Weichen gestellt werden: Welcher Strom kommt in die Batterie? Auch das Problem der beträchtlichen Masse an Akkus, die E-Autos mit sich herumtragen – beim Spitzenmodell der Marke Tesla 600 Kilogramm, was sowohl unter dem Gesichtspunkt des Ressourcenverbrauchs, der Gesamtenergiebilanz als auch der Unfallsicherheit buchstäblich gravierend ist –, verdient mehr Aufmerksamkeit.24 Der Maßstab des ökologischen Fußabdrucks will auch an die für die Herstellung eines jeden beliebigen Gegenstandes aufgewendete Energie angelegt sein. Design betrifft den gesamten Komplex rund um die Dinge herum: die Suche, Entwicklung und Verarbeitung von Materialien, die Herstellungs­prozesse, die Gebrauchsformen durch die Gesellschaft oder die Individuen. Da fügt sich das Kriterium der Umweltgerechtigkeit nahtlos ein. Ist es vielleicht sogar der Schlussstein, der das Gewölbe einer Designtheorie schließt?

405

Anmerkungen

17 Die Rede ist auch von der Möglichkeit, durch das ­generative Verfahren an den Patienten angepasste künstliche Hüftgelenke einzusetzen. Dazu ist es ­wegen der mechanischen Beanspruchung für die

1

Dem Wandel unterworfen sind auch die Textmenge, die grafische Gestaltung, die visuelle und sprachli-

2

che Rhetorik überhaupt.

ten entstanden, bei denen die Komplexität jedoch als

Die Firma IKEA wählte 1970 als Testmarkt für ihre

solche gesucht war und sich nicht aus innerer Not-

geplante Expansion nach Mittel- und Südeuropa die Schweiz; der Schweizer Uhrenkonzern SMH 1982 für die Swatch die US-Ostküste. 3

Tom Dixon: Rethink. London 2000, S. 6

4

Ebd., S. 22

5

Naoto Fukasawa/Jasper Morrison: Supernormal. Sensations of the Ordinary, CH-Baden 2008.

6 Ebd., Text auf der Rückseite des Einbands 7

Der Untertitel The Sensations of the Ordinary war nicht neu und bereits in den Siebzigerjahren als

Freeway Bags. CH-Baden 2001 20 Vgl. Michael Braungart/William McDonough: Cradle to Cradle. Einfach intelligent produzieren. Berlin 2003, S. 137–142 21 Im Montrealer Protokoll wurde unter anderem das Verbot von FCKW-Treibhausgasen (aus Sprühdosen und in Isolierschäumen) formuliert. 22 Beispiele für downcycling sind das Rezyklieren von Altpapier zu Haushaltpapier oder Toilettenpapier,

Der Alltag gewählt worden. Das Museum für Gestal-

von Pet-Flaschen zu Bodenlumpen oder von vulkani-

tung Zürich hatte 1987 die Ausstellung Unbekannt –

siertem Gummi zu einem Zuschlagsstoff von Boden-

veröffentlicht.

belägen. 23 Das gesamte „Solar-Impulse-Projekt“ verschlang

Walter Benjamin, in: „Das Kunstwerk im Zeitalter

insgesamt beträchtliche Energiemengen, doch sind

seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (1935).

diese dem ideellen Gehalt der erfolgreichen prototy-

Ausg. Frankfurt a. M. 1966, S. 40 f. 9

wendigkeit aufdrängte. 19 Lars Müller (Hrsg.): Freitag. Individual Recycled

Untertitel der in Zürich erscheinenden Zeitschrift

Vertraut gezeigt und den gleichlautenden Katalog 8

­additive Fertigung noch zu früh. 18 In der Architektur sind dadurch hochkomplexe Bau-

Modelle von Le Corbusier/Perriand/Jeanneret, Mies van der Rohe, Breuer, Aalto, Gray, Poulsen, Prouvé. Spätere Reeditionen von Wright und Mackintosh ­bilden eine etwas andere Kategorie.

10 Hier sind etwa zu nennen: Eames, Bill, Nelson, Bertoia, Saarinen, Noguchi, Jacobsen, Baltensweiler, Gras 11 Daniel Binswanger: „Das Lego-Prinzip“ (Interview mit Erwan Bouroullec). In: Das Magazin Nr. 15/2007, S. 42–49 12 Hella Jongerius in einem Interview: „Perfektion ist einfach langweilig“. In: Z- Die schönen Seiten (NZZ Magazin), Mai 2009, S. 26 13 Ebd., S. 28 14 Jasper Morrison: Everything but the Walls. CH-­ Baden 2002, S. 11. (Übers. C. L.) 15 Dass durch eine neue Technologie die ihr vorangegangene nicht vollends ersetzt wird, wurde in dieser Publikation wiederholt erwähnt. 16 Vgl. dazu: „Sobeks Sensor oder Wittgensteins Griff? Das Wohnhaus Sobek/Haus Margarete Stonborough Wittgenstein“. In: Arch+ Nr. 157, Aachen 2001, S. 24–98

406

pischen Pioniertat gegenüberzustellen. 24 600 Kilogramm Akkus entsprechen fast der Masse eines Kleinwagens.

Epilog: Der Gegenstand als Träger von Ideen

Hier endet diese Studie über die Schwerkraft von Ideen. Ihr Ziel, auf ein paar hundert Seiten und mit wenigen hundert Abbildungen eine Darstellung zu ­geben über einige hundert Jahre (wenn man den Prolog dazunimmt: einige tausend) menschlicher Aktivitäten in den gestalterischen Sphären, in der Trillionen von Megatonnen an Gütern hergestellt und zur Welt gebracht wurden: Ist es erreicht oder verfehlt? Es ist an den Leserinnen und Lesern, sich dazu eine Meinung zu bilden. Dem vorliegenden Doppelband liegt die Entscheidung zugrunde, sich auf Design in der dritten Dimension zu beschränken und die Darstellung nicht mit der Frage nach dem Umgang mit abbildhaften Repräsentationen zu ver­ mischen, also das zweidimensionale Design der Gebrauchsgrafik und der Werbung auszuklammern. Ebenso war es eine Entscheidung für das Verständnis von Design primär als Mittel zum Gebrauchszweck und nicht als Medium der Selbstrepräsentation. Ganz trennen lassen sich die beiden Sphären ohnehin nicht. Doch zwei Kategorien, in der sie innig miteinander verbunden sind, Bekleidung und Schmuck, kommen im Buch nicht vor. Wer mehr zu „Style and Design“ erwartet hat, wird wohl enttäuscht sein, aber dazu finden sich andere Quellen. Spricht die Studie genügend von Wohnaccessoires? (Zu wenig.) Zu viel oder zu wenig von Möbeln? Zu wenig oder zu viel von Autos? Gerade recht viel von Lampen? Und von den Materialien? Von Herstellungsprozessen? Vom Erfinden eines Gegenstandes und von der Suche nach seiner Form? Als in den 1970er-Jahren kurz hintereinander mehrere Voyager-Weltraumsonden auf den Weg in den interstellaren Raum geschickt wurden, gab die NASA ihnen vergoldete kreisrunde Scheiben mit Botschaften an allfällige

fremde Lebewesen mit: Bilder, Töne, Musik, wissenschaftliche Formeln, Grußbotschaften. Werden sie irgendwann auf einen Empfänger treffen? Und wird der oder die oder das Außerirdische in irgendeiner Zukunft hinter der geometrischen Form der Kreisscheibe von 30 Zentimetern Durchmesser auch 407

die Inhalte decodieren? Wird „man“ ihrer abstrakten Geometrie anmerken, dass es sich um Botschaften handelt? Dass die Scheibenform einen Inhalt birgt? Werden „sie“ merken, dass „man“ die Scheibe abspielen kann, werden sie sie abspielen können und im richtigen Tempo? (Während notabene wir armen Irdischen heute nach wenigen Jahren unsere Geräte nicht mehr aktualisieren können.) Ob dieses Ansinnen naiv ist oder ein Ausdruck menschlicher Hybris, lässt sich nicht entscheiden. Wahrscheinlich beides. Verglichen mit einem solchen Versuch, über eine unvorstellbare räumliche und zeitliche Entfernung und einen Abgrund an statistischer Unwahrscheinlichkeit hinweg eine Kommunikationsbrücke zu bauen, ist das Design eine simple Angelegenheit mit einem äußerst hohen Anteil an einer anerkannten Allgemein-Verbindlichkeit. Wir Menschen machen und brauchen Dinge, legen uns zum Schlafen nieder, stehen auf und machen uns wieder ans Tageswerk. 1977 waren die Datenträger der Voyager-Raumsonden analog und der Langspielplatte nachempfunden, 2019 bei der Raumsonde Galileo war es bereits eine CD mit sehr hohem Speichervolumen. Das, wofür Technikingenieure und Gestalter eine Handvoll Jahre brauchten, wofür die Sonden für den Know-how-Transport womöglich hunderttausende von Jahren brauchen werden, wirkt sich auf der Ebene des Designs aus: Die Außerirdischen brauchen also – v ­ orausgesetzt, sie interessieren sich für unsere interstellare Post – bereits zwei sehr unterschiedliche Abspielgeräte. Wir Menschen nehmen uns wichtig, haben uns seit je wichtig genommen. Wir rodeten den Urwald (und tun es noch), bauten Städte und Straßen, die sie verbinden, Fahrzeuge für die Straßen, für den Luftraum Flugzeuge, Schiffe für das Wasser, und in den Häusern der Städte und Dörfer leben die Milliarden von Menschen, die ohne Artefakte nicht leben könnten, anders als die Tiere.

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411

Personenregister

Boeri, Cini 168, 179 Boner, Jörg 387 Bonetto, Rodolfo 133 Bonsiepe, Gui 345

Aalto, Alvar/Aino 257, 259–261, 267, 270 Adorno, Theodor W. 106 Aicher, Otl 34, 78, 117–120, 125–126, 129, 132 Albini, Franco 43, 168, 181 Alexander, Christopher 360 Altdorfer, Huldreich 81 Ambasz, Emilio 188 Anders, Günther 330 Arad, Ron 350, 375 Arens, Egmont 74 Arnio, Eero 269 D’Ascanio, Corradino 170–171 Asplund, Gunnar 234, 256 Atelier Oï 387 Aulenti, Gae 168, 216 Babbage, Charles 308–309 Banham, Reyner 128, 132, 247 Barrault, Jean-Louis 215 Barthes, Roland 34, 70 Bartsch, Ekkehard 159 Baylis, Trevor 249 Beck, Henry C. 237 Bedin, Martine 370 Beecher, Harriet/Catharine 27 Béhar, Yves 387 Bel Geddes, Norman 10, 15–17, 31, 73, 114, 303 Bellini, Mario 168, 366 Benjamin, Walter 36, 38, 388 Bense, Max 102 Bergsten, Carl 256 Bernadotte, Sigvard 253 Berners Lee, Tim 327 Berthier, Marc 216 Bertoni, Flaminio 211 Bey, Jurgen 386 Bialetti, Alfonso 41 Bianconi, Fulvio 168, 170 Bijvoet, Bernhard 199 Bill, Max 76, 94–108, 110, 114, 118–122, 125–128, 166, 183 Bischof, Werner 293 Black, Misha 228, 232–233, 243 Blattert, Anna 402 Boehnisch, Gerd 154

412

Borsani, Osvaldo 168, 179–180 Botta, Mario 372 Boulanger, Pierre-Jules 211 Bourke-White, Margaret 20 Bouroullec, Erwan/Ronan 390 Brand, Stewart 346–347 Braun-Feldweg, Wilhelm 91–92, 94, 409 Brandt, Marianne 142, 144 Braungart, Michael 355, 402–403 Breuer, Marcel 229, 332 Burckhardt, Lucius/Annemarie 130, 336, 339–342, 347 Burkhardt, François 376 Bush, Vannevar 325–326 Caccia-Dominioni, Luigi 44, 166 Cailliau, Robert 327 Carwardine, George 230, 240–241, 249 Cassandre, A.M. 198–199 Castelli Ferrieri, Anna 168, 179, 184–185 Castiglioni, Achille/Pier Giacomo 43–44, 166, 168, 180, 182–183, 366 Castiglioni, Livio 43–44 Chareau, Pierre 196, 199, 201–202 de Chardin, Teilhard 204 Chermayeff, Serge 226, 228 Citroën, André 211 Clark, Kenneth 230 Coates, Wells 228 Colombo, Joe C. 185, 188, 364 Conrad, Michael, 133 Conran, Terence 216, 235–236, 391 Cooper, Jacques 217 Le Corbusier 16, 53, 201, 203, 267, 288, 372, 397 Courbet, Gustave 344 Czemper, Karl-Achim 132 Dal Co, Francesco 174 Damskij, Abram 58, 60 Danese, Bruno/Jacqueline Vodoz 182–184 Day, Lucille 239 Decho, Ilse 148–149 Decursu, Giorgio 185 Dexel, Walter 48 Dietel, Karl Clauss 149, 153–158 Dixon, Tom 382, 387–389, 391

Doblin, Jay 112

Guerriero, Adriana/Alessandro 366

Dohner, Donald 10, 20–21

Gugelot, Hans 31, 121–122, 124, 133, 150, 316

van Doren, Harold 10, 22 Dreyfuss, Henry 10–12, 16, 22, 26, 30, 33, 35, 72, 74, 130

Habraken, John 362

Dryden, Helen 11

Häberli, Alfredo W. 387

Ducci, Teo 168–169, 175

Haller, Fritz 377

Dyroff, Wolfgang 150

Hara, Kenya 387, 391

Dyson, James 249, 378

Hassenpflug, Gustav 193 Haussmann, Helen 103

Eames, Charles/Ray 34, 77, 113

Haussmann, Trix/Robert 372–373

Ehrlich, Franz 143, 146–147

Held, Marc 216

Ehrlich, Mauritius 80–81

Henningsen, Poul 264

Eichler, Fritz 121

Herbst, René 202–203

Engelbart, Douglas C. 324

Hermant, André 204–205

Eno, Brian 346

Hildinger, Paul 123

Ericson, Estrid 261

Hirche, Herbert 193

Esslinger, Hartmut 325

Hirdina, Heinz 149 Hitler, Adolf 44–51, 63

Farina, Battista “Pinin”: s. Pininfarina

van Hoboken, Anthony 131

Fayolle, Denise 216

Hocké, Gustav René 373

Finsler, Hans 108, 112

Hollerith, Herman 311

Fischli, Hans 82

Horiuki, Yoshisada 251

Ford, Henry 18, 130

Horn, Rudolf 159

Foster, Norman 241, 377–379

Horntrich, Günter 355

Franck, Kaj 257, 267–269

Hughes Lucy 403–404

Frank, Josef 260–262

Hurley, Neil P. 321

Franklin, Benjamin 7, 113 Frederick, Christine 28–29, 250

Irion, Stefan 387

Freitag, Daniel/Markus 399

Issigonis, Alec 242–244

Friedlaender, Marguerite 143

Ive, Jonathan 121

Fukusawa, Naoto 387, 391 Fuller, R. Buckminster 68, 71–72, 83, 87–88

Jacobsen, Arne 257, 264–267 Jahny, Margarete 144

Gafner, Daniel 402

Jaray, Paul 50

Gardella, Ignazio 169–170, 192

Jeanneret, Pierre 81, 193, 203, 288

Gatti, Piero 187

Jobs, Steve 121, 323

Gestetner, Sigmund 9–10

John, Erich 150–151, 155

Gianola, Ivano 372

Johnson, Philip 361

Giedion, Sigfried 27, 30–31, 33, 99, 198, 255, 259–260,

Jongerius, Hella 387, 391–392

270

Juhl, Finn 263–264

Giese, Horst 148 Gordon, Theodore J. 318

Kåge, Wilhelm 257

Grange, Kenneth 242, 244–246, 401

Kahn, Louis I. 360

Gras, Bernard-Albin 200–201

Kamprad, Ingvar 271–272

Gray, Eileen 195, 199, 201, 208–209

Kazumie, Masaru 282, 292

Grcic, Konstantin 387

Kersting, Walter Maria 50

Gregotti, Vittorio 174, 178

Kienzle, Wilhelm 81, 193

Gropius, Walter 128, 285, 397

Kjaerholm, Poul 264, 266

Gros, Jochen 348–350

Kleist, Heinrich von 35, 324

413

Klint, Kaare 257, 264

Meyer, Hannes 48, 365

Kosugi, Jiro 297–298

Mies van der Rohe, Ludwig 97, 106, 114, 285, 304, 361

Kralj, Niko 193

Moeckl, Ernst 127

Kramer, Ferdinand 193

Mollino, Carlo 168

Kuhler, Otto 10–11

Mondrian, Piet 284

Kuramata, Shiro 193

Morrison, Jasper 243, 370–371, 387, 391–394

Kuwasawa, Yoko 292

Moulton, Alex 240–242, 242 Müller, Jacob 82, 193

Lagerfeld, Karl 193, 370

Mumford, Lewis 7, 9

Lagerqvist, Sofia 396–397

Munari, Bruno 183

Lamm, Lora 175

Mussolini, Benito 40–45

Lancia, Vincenzo 42 Larsson, Carl 255

Natalini, Adolfo 365–366

Laubersheimer, Wolfgang 377

Nelson, George 13, 292

Lefèbvre, André 211–212, 250

Nizzoli, Marcello 43, 104, 167, 175, 178, 181, 185–187

Legler, Franco 93

Noguchi, Isamu 292–293

Licklider, Joseph C.R. 324

Noyes, Eliot 316, 320

Lindgren, Anna 396–397

Nurmesniemi, Annti/Vuoko 267

Lissitzky, El 53–54, 397 Loewy, Raymond 8–12, 17, 19, 21, 33, 35–36, 73–74, 76, 93, 108–109, 113, 195, 204, 215, 238–239

Oestreich, Dieter 92–94 Oka, Hideyuki 289

Lohse, R. P. 293

Olivetti, Adriano/Camillo 42, 167

Lomazzi, Paolo 185, 188

Opsvik, Peter 254

Loos, Adolf 261 Lovelace, Ada 309–310, 330

Packard, Vance 109

Lyons, William 243

Pagano, Giuseppe 43, 174, 181 Panton, Verner 93, 264, 266

Magès, Paul 211

Paolini, Cesare 187

Magistretti, Vico 168, 180, 192

Papanek, Victor 78, 336, 342–347

Magnelli, Aldo 43

de Pas, Jonathan 185, 187

Maldonado, Tomás 129, 152, 174

Pauchard, Xavier 200

Malewitsch, Kasimir 284

Paulin, Pierre 222

Mallet-Stevens, Robert 201–202

Peach, Harry 224

Malmsten, Carl 257

Perriand, Charlotte 193, 195, 203, 288, 294

Mantelet, Jean 214–215

Persico, Edoardo 42

Manzù, Pio 132–134

Peters, Jürgen 150

Marchand, Christophe 387

Pevsner, Nikolaus 228, 232, 237

Mari, Enzo 168, 183–184, 189, 349, 398

Piccard, Bertrand 404

Marinetti, Filippo Tommaso 39–40

Pick, Frank 236

Mathieu, Joseph 200

Pininfarina, Battista 43, 172–173, 299

Mathsson, Bruno 257–258

Ponti, Giò 43, 177–178, 181

Massonet, Henri 222

Porsche, Ferdinand 51

McCready, Paul 405

Price, Cedric 362

McDonough, William 355, 402–403

Priestman, Jane 239

McHale, John 318

Prokopé, Ulla 269

Meadows, Dennis/Donella 334–336

Prouvé, Jean 196, 202–203, 205–208, 250, 378

Mendini, Alessandro 174, 189, 359, 366–369, 371 Meneguzzo, Franco 183

Quant, Mary 244

Mennesson, Marcel 210

Quarella, Doris 115

414

Race, Ernest 235

Tallon, Roger 195

Rams, Dieter 121–122, 163–164, 246

Tanizaki, Junichiro 284–287, 300

Read, Herbert 104, 232, 247

Tapiovaara, Ilmari 267

Renn, Ludwig 145

Tatlin, Wladimir 53

Riemerschmid, Richard 339

Taut, Bruno 255, 282, 286–288, 292

Rietveld, Gerrit 34

Taylor, Frederick W. 28

Riezler, Walter 46

Teague, Walter D. 10, 15, 20, 23, 33

Rittel, Horst 131–132

Teodoro, Franco 187

Rizzatto, Paolo 180

Thonet, Michael 251

Robert–Durrer, Jean/Käthi 358–359

Travasa, Giovanni 178

Rodtschenko, Alexander 53

Turing, Alan 72, 312–313

Roericht, Nick 144 Rogers, Ernesto N. 174

d’Urbino, Donato 185, 188

Roosevelt, Franklin D. 19, 72 Rosselli, Alberto 174, 186

Vacchini, Livio 372

Rossi, Aldo 361–362, 371–372

Vassos, John 10, 74

Roth, Alfred 255–256

Venini, Paolo 168–169

Rudofsky, Bernard 281, 303, 336–339, 342

Venturi, Robert 361–363

Rudolph, Lutz 153–158

Viénot, Jacques 213

Russell, Gordon 229, 233

Vitruv 100

Russell, W. H. 227 Wackernagel, Mathis 351, 353 Saarinen, Eero 97, 106, 108

Wagenfeld, Wilhelm 148

Sakakura, Junzo 288

Wanders, Marcel 386, 395

Sant’Elia, Antonio 40

Wegner, Hans J. 264

Sapper, Richard 93, 181

Weiss, Reinhold 131

Sarfatti, Gino 180

Wiener, Norbert 316

Sarpaneva, Timo 267, 269–270

Wirkkala, Tapio 267

Sason, Sixten 272–273

Wozniak, Stephen 323

Scheidegger, Ernst 96

Wright, Frank Lloyd 278

Schivelbusch, Wolfgang 51

Wright, Russel 292

Scholl, Inge/Geschwister Scholl 117–118 Schwagenscheidt, Walter 125–126

Yanagi, Soetsu 279, 283, 294

Scott Brown, Denise 361–363

Yanagi, Sori 288, 293–295

Scott, Douglas 237–239, 243 Seeger, Mia 47

Zanuso, Marco 93, 168, 178–179, 181

Selmanagić, Selman 83, 142, 147

Zavanella, Renzo 172

Shand, P. Morton 229, 231

Zeischegg, Walter 134

Sottsass, Ettore 167, 185, 187, 189, 391

Zieta, Oskar 386

Stabler, Harold 227–228

Zuse, Konrad 312

Stahel, Walter R. 355 Stam, Mart 142–146, 397 Starck, Philippe 374–376 Stepanowa, Warwara 53 Stevens, Brooks 74 Straub, Marianne 239 Strinning, Karin/Nisse 271 Swainson, Ann 13 Syniuga, Michiel 377

415

Sachregister

Brionvega 181 Bügeleisen 24, 29, 31, 48, 66, 131, 246 Bühnenbild/Szenografie 12–15, 72–73 Burg Giebichenstein 142, 159

Additive Fertigung 395 Aerodynamik 53, 56, 76, 132, 201, 273 Ästhetik, Aisthesis 8, 29, 34–35, 38–39, 75–76, 98, 101–104, 106–107, 110, 112–115, 186, 197– 200, 203–204, 213, 224, 229, 253, 284–286, 292, 303–304, 337, 343–344, 349, 365, 374, 382 Ästhetisierung 35, 38, 204–205, 221 Akari 292–293 (Studio) Alchimia 366–369, 371 Algorithmus 310, 331 Aluminium 24, 60, 65–69, 80, 105–108, 168, 214, 294–295, 392 Anglepoise-Leuchte 230, 240, 249 appeal, appealing 20, 24, 29, 36, 98 Apple Corp. 322–324, 342 Arabia 267–268 Archigram 244, 360–363, 369 Architectural Design 317–321, 334 Arflex 179, 191 Armbanduhr 65, 358 Arpanet 316, 324 Arteluce 180 Art déco 18–19, 30, 41, 49, 54, 198, 201, 226 Artek 259–260, 267 Artemide 180, 191 Arts & crafts 130, 224, 226–227, 278 Asahi/Asahi Pentax 288, 290–291 Atelier Oï 387 Austauschbarkeit (von Teilen) 158 Automatisierung 26–27, 318–320, 329 Bakelit 23, 50, 63, 69, 228 Bar-Code 329, 333 Bauhaus (Weimar/Dessau) 55, 82–83, 103, 116, 119– 120, 125–128, 130, 142–143, 145–146, 159, 240, 292, 344, 372 Bel design 178, 181–182 Big data 332 Biotechnik 52 Blue Jeans 84 BMC Mini 155, 242–244

Braun AG 121, 124–125 Bricolage 181, 222–223, 369

416

Canon 291 Caravelle (Flugzeug) 196, 205, 213 Casabella 174 Cassina 177, 180 Chiavari (Möbel) 177–178 Chromnickelstahl 68, 87 CIAM 229, 259

Citroën 61, 155, 204–207, 210–211, 221, 223 Club of Rome 334–336 Common sense 235–238, 240, 242, 249, 266 Compact Disc/CD 292, 296, 331, 390, 408 Compasso d’Oro 97, 175, 178 Computer 72, 164, 308–327, 330, 345–346, 395 (consumer’s) convenience 24–25, 27, 339 Conran Ltd. 387 Contax 290–291 Conterdesign 364 Covid-19-Pandemie 303, 352, 404 cradle to cradle 354–355, 403 Dampfkochtopf 79, 199 Danese 182–184, 191 Das Neue Frankfurt 145 Den Permanente 263 Design (Begriff) 53, 333–347 Design Council 233 Design Research Unit 232 Design Thinking 401, 403 De Stijl 34 Deutsche Werkstätten Hellerau 83, 147, 159 Deutscher Werkbund DWB 47, 95, 167, 336, 339, 359 Die Form 229 Die gute Form SWB 96–112 Digitalisierung 87, 306–308, 316, 395 Do-it-Yourself 222, 347, 382 Domus 41, 174, 177 Du Pont Nemours 70–71 Duroplaste 69, 92 Dymaxion World Map 72–73 Eastman Kodak 10, 15, 25, 121, 133, 135, 150, 322 Eisenbahn 10, 12, 16, 45, 58, 69, 80–81, 141, 172, 217, 233, 277, 321 Electrolux 16–17, 253, 273

Elektronenröhre 311, 313, 315–316, 326 ENIAC 313–314

Industrial Design 8–10, 15–20, 30, 37, 186, 199, 232– 234, 238, 245, 292

Ephemerisierung 312

Inox (-Stahl) 14, 69

Ergonomie (Benutzerfreundlichkeit) 24, 74, 241

Internet 324–326, 393

L’Esprit Nouveau 195, 204

Internet der Dinge 393 Inuit 342, 345

Fahrrad 55, 240–241, 249, 277, 297, 399, 404

Isokon 229

Fantasie 16, 80, 164, 167, 193, 209, 317, 331, 376,

Ist-/Soll-Zustand 131, 138–139

399 Faschismus 38–44, 63, 161–166, 177, 188 Fertigungsgerechtigkeit 99, 359 Festival of Britain 234

Japan 65, 70, 79, 117, 187, 218, 258, 263, 269–270, 278–300, 303–305, 325, 339, 353, 366, 369 Jeep 74–75, 87

Fiat 41, 43–45, 58, 173 Flechtwerk 293

Kenwood 246

Flüssigkristall 321

Kinderdorf Pestalozzi 82–83

form+zweck 148, 159

Klimaneutralität 385

Formalismus 53

Know-how 56, 100, 171, 202, 242, 408

Formes utiles 95, 97, 203–205

Kochherd 13–14, 18, 24, 66, 90, 389

Formgebung 23, 108, 130, 165, 167, 204, 206, 244,

Kodak, s. Eastman Kodak

266, 268, 298, 366, 385, 396

Kontraproduktivität 276–277, 341

Formidee 98–99, 240

Kreativwirtschaft 386

Fortschritt 11, 21, 25, 60, 71, 130, 143–146, 158,

Kreislaufwirtschaft 354–355, 403

189, 201–202, 205, 209, 298, 320, 326, 376,

Küche 7, 18, 22, 27, 29, 65–66, 87, 196, 250, 357

344–346, 355, 357, 360, 362

Kühlschrank 18, 24, 29–31, 66,169, 352, 389

Fortschritt-Skepsis 337–338, 341, 345, 350, 352

Künstliche Intelligenz 329–332

Fortune 14, 21, 72, 113, 315

Kunsthandwerk/Kunstgewerbe 42, 168, 177, 189,

Fritz Hansen 265–266 Frogdesign 325 Funktionalität, Funktionalismus 11, 17, 20, 34–35, 100–101, 104, 196, 204, 236, 359 Futurismus 39, 44–45, 165–166

203, 205, 252, 255–256 Kunststoff 21, 23, 34, 69–71, 91, 108, 122, 132–135, 158, 160, 179, 181, 183–184, 187, 193, 211, 215–216, 267, 293–294, 344, 358, 364, 380, 392, 396

Gesamtkunstwerk 261, 264

Lancia 42, 173–174

Good Design 95, 97–98

La Rinascente 97, 175

Greyhound Co. 18–19

Lebensqualität 352–356

(Die) gute Form 36, 77, 94–109, 112, 118, 151, 178,

Lebensstandard 118, 352–356

340

Life 20, 29, 65–68, 70, 73, 75–76 Linienführung 43, 90, 114, 151, 163–164, 173, 186,

Halbfertigdesign 348–349

198, 231

Hasselblad 253, 273

Lochkarte 25, 310–311, 313

Haushaltführung (wissenschaftliche) 28

Lockheed Constellation 69, 93

Herman Miller, Inc. 14

London Transport 229, 236–239, 243

Hochschule für Gestaltung Ulm (HfG) 96, 102, 106, 116–135, 138–141, 150, 153, 246, 349 Hybridität 358

Manierismo critico 373 Mazda 297–298 (gruppo) Memphis 193, 369–371

IBM 315–316, 320, 347

Mikroprozessor 312, 329

Iittala 267–270

Minolta 290–291

IKEA 144, 269–272, 357, 387

mobile infinito 367–369

417

Mobiliar/Möbel 8, 15, 34, 39, 40–41, 46–49, 55, 62,

Repräsentation, Repräsentativität 122, 358, 374

68, 70, 77, 81–82, 95, 113, 122, 124, 142–147, 166–169, 178–185, 192–193, 200, 205–209,

Saab 253, 272–273

216, 223–229, 235, 250, 252–273, 281, 288–

Sacco 187, 194

295, 338, 357–359, 367–378, 385, 389–391,

Schreibmaschine 31, 42–43, 50, 90, 96, 99–100, 113–

398, 407 Modularität 154, 156–159

114, 158, 167–168, 186–187, 193, 230, 316, 321–322, 347, 361

Montrealer Protokoll 403

Schweizerischer Werkbund SWB 95–97, 103–108, 359

Moulinex 196–197, 214–215

Serendipity 399

Muji 284, 300, 387

Shinkansen 218, 296

Museum of Modern Art NYC 77, 95, 97, 188, 336, 361,

Skepsis 189, 250, 337–339, 350, 363, 370, 377

369

Smartphone 306, 308, 314, 321, 323, 326, 331–332, 393

Nachhaltigkeit 353–354, 401, 403

Solar Impulse 404–405

Nähmaschine 48, 105–106, 121–122, 178, 334

Sonnenenergie 71, 405

Nationalsozialismus 38–42, 46–53, 63, 145

Sony 295–296

Netzwerk/Network 316, 319, 322, 324–325, 346

Sozialistischer Realismus 56, 145–147

(Neue) Sachlichkeit 36, 48, 57, 60, 78, 92, 98, 133,

Sozialverträglichkeit 276, 402

148, 198, 225, 304, 357

Sparschäler 80

Normandie (Schiff) 196, 201–202

Stahlrohrmöbel 55, 200, 206, 212, 225, 260, 393

Nylon 66, 70–71

Stalinismus 38, 40, 53–60, 145–148 Standard 24, 29–30, 55, 147, 171, 241, 249, 291,

Ökologischer Fußabdruck 138, 334, 352–354, 403, 405 Ökosphäre 353, 355, 402

298–299, 312, 333 Staubsauger 16–17, 21, 29–30, 35, 66, 204–205, 249, 273, 277, 329, 378

Offenes Prinzip 157–159, 349

Stromlinienform 30, 63, 144, 170, 201, 237, 298

Olivetti (Ivrea) 42–43, 104, 113, 167–168, 178, 186–

Stile Industria 174–175, 185

187 Open access/open source 347, 398, 403

Storytelling 399–401 Streamlining, Streamliner-Züge 10–12, 69, 100 Styling 8, 21, 30, 33–36, 75, 165, 357

Pattern 190, 279, 281, 283–284, 330, 342

Svenskt Tenn 261–262

Pentagram 232, 244–246, 401

Swatch 358–359

Personal Computer PC 321–326, 346

Synthese 43, 92, 204, 332, 368

Photovoltaik 88

Systemdesign 124–125, 316

Pininfarina 173–174, 299

Systemgrenze 138–139

Plattenspieler 121, 124–125, 144, 180, 293 Poiesis 115, 349

Taktfahrplan 340–341

Polyurethan 70, 179

Tatami 279, 281, 283, 286, 288, 294, 370

Postfossil (Gruppe) 402

Technologie 56, 63, 65, 71, 75, 87–89, 126, 291, 299–

Postmoderne 133, 350, 358–371, 384–385, 392 Prinzipien-Idee 240 Prisunic 215–216

300, 313, 330–331, 344, 355, 362, 387, 393, 404 Technosphäre 355 Telefon (-apparat, -netz) 30–31, 35, 67, 90–91, 178,

Radical Design 364 Radio 18, 29–31, 40, 44, 48–51, 63, 66, 69, 75, 107,

205, 311, 313, 318–322, 327, 393 TGV 216–218, 296

121–126, 144, 148, 150, 153–154, 166, 180–

Tolix 197, 200, 221

181, 228, 231, 249, 293–296, 313, 321

Toyota 297, 299

Rassegna 174 Renault 155–156, 212–214, 221, 223, 298, 359

418

Transistor 294–295, 312, 315

Triennale di Milano 41, 96, 110, 179, 182, 191, 262, 267, 269

Abbildungsnachweise – Band 2 (Zahlen sind Abbildungsnummern)

TV/Fernseher 73, 121, 124–125, 150, 180–181, 296,

306, 321, 323, 352, 374–376 Umweltverträglichkeit 138, 276, 349, 401–402

1–2: Privatsammlung / 3: Werk, 5-1946 / 4: Dreyfuss,

Union des Artistes Modernes UAM 201, 203–209

Designing for People / 5: Giedion, Die Herrschaft der

Utilitarismus 197, 209, 214

­Mechanisierung / 6: Dreyfuss, op. cit. / 7: © Norman Bel Geddes Collection, Harry Ransom Humanities Research

Vélosolex 196, 209–210

Center, University of Texas at Austin / 8–9: David Phillips,

Verteilungsgerechtigkeit 334

Chicago / 10: © Meredith Corporation/Shutterstock / 11:

Vespa 79, 93, 170–171, 191–192

Van Doren, Industrial Design (1940) / 12: Privatsamm-

Visuelle Kommunikation 118–119, 129, 173, 232

lung / 13: Fortune 1939 / 14: Werk 5-1946 / 15: Privat-

Vitra 266

archiv / 16: Dreyfuss, op. cit. / 17: wie Abb. 7 / 18: De

Volksempfänger 50–51

Noblet, Design / 19: Archivio Fiat / 20: Dexel, Hausgerät,

Volkswagen 50–52, 78–79, 94, 133, 212, 357–358

das nie veraltet / 21: Selle, Geschichte des Designs in

Volvo 253, 273–274

Deutschland / 22: Deutsche Technik, 11-1938 / 23: Lis-

Vorratserfindung 68

sitzky, Vestsch 1-1922 / 24: Loewy, Locomotive / 25: L’Architecture d’aujourd’hui 8-1935 / 26: Dünnebier/

Wabi–Sabi 287

Kittler, Personenkraftwagen sozialistischer Länder / 27:

Walkman 296

Lavrentiev/Nasarow, Russisches Design. Tradition und

Warenästhetik, Warenreiz 18–20, 29, 35–37, 197, 253

Experiment 1920–1990 / 28: Kulinaria, Moskau 1951 /

Waschmaschine 15, 25–31, 66, 90, 352, 384, 389

29: © Meredith Corporation/Shutterstock / 30: Privat-

Wchutemas/Wchutein 55, 58

archiv / 31: © Meredith Corporation/Shutterstock / 32:

Werk (Zeitschrift) 81, 93–94, 96

Pulos, American Design Ethic / 33: Anzeige, Life (1943) /

Werkbund 8, 42, 67, 99, 107, 130, 203, 224, 255, 357

34: © Meredith Corporation/Shutterstock / 35: © Eames

Whole Earth Catalog 346–347, 398

Office LLC / 36: © Museum für Gestaltung Zürich (MfGZ-

Wohnbedarf AG 61, 124, 226, 259, 293

ZHdK) / 37: Bill, Wiederaufbau / 38: Werk 4-1945 / 39:

Wohnhilfe (-Genossenschaft) 82–83

Halter/Andritzky, Vom Bauhaus bis Bitterfeld. 41 Jahre

Wohnlandschaft 160, 188, 364–365

DDR-Design / 40: Anita Niesz © Fotostiftung Schweiz /

Women’s Engineering Society 239

41: Braun-Feldweg, Gestaltete Umwelt / 42: Werk

World Wide Web 322, 326–327

6-1953 / 43: Bill, Form / 44: Werk 6-1953 / 45: © Archiv Ernst Scheidegger, Zürich/ 46: © MfGZ-ZHdK / 47:

Zanotta 182, 191

© 2021, ProLitteris, Zurich / 48: Bill, Form / 49: Privat-

Zeiss (Zeiss Ikon) 50, 141, 154, 290–292

archiv / 50: Bill, Form / 51: Rüegg/Wieser, Hans Bell-

Zen 279, 281, 286

mann / 52: Foto © Stan Ries, NYC / 53: Thuma, Schönheit

Zeppelin-Luftschiff 50

der Technik / 54: © HfG-Archiv, Museum Ulm / 55: Pri-

„Zerstaltung” 36, 396

vatarchiv / 56: Bauen+Wohnen 11-1957 / 57: Schulz,

Zivilisation 7–8, 49, 129, 352–355, 400–401

Grauzonen – Farbwelten / 58: © 2021, ProLitteris, Zu-

Zweiter Weltkrieg 13, 15, 26, 29, 38–39, 49, 57–59,

rich / 59–65: © HfG-Archiv, Museum Ulm / 66–69: Hir-

65–84, 86–95, 101, 116–118, 141, 158, 170,

dina, Gestalten für die Serie. Design in der DDR 1949–

188, 198, 211, 214, 226–228, 232–239, 254,

1985 / 70: Höhne, DDR-Design / 71–74: Hirdina, op.

262, 272, 288, 291–295, 312–313, 330, 379,

cit. / 75–77: © Archiv Dietel / 78: Scodeller, Il progetto

401

della luce: Livio, Pier Giacomo e Achille Castiglioni / 79: Lichtenstein / 80: © 2021, ProLitteris, Zurich / 81: Ambasz, Italy – The New Domestic Landscape / 82: Lichtenstein/Engler, Stromlinienform / 83: Lohse, Neue Ausstellungsgestaltung / 84: De Giorgi, 45–63. Un museo del disegno ­industriale in Italia / 85: Archivio Fiat–Lancia /

419

86–87: De Giorgi, op. cit. / 88: Breuer, Die 60er / 89: Am-

© Vitra-Museum / 176: © Dyson Ltd. / 177–178: Dixon,

basz, op. cit. / 90: Casciani, Arte Industriale / 91: © Kar-

op. cit. / 179: © Vitra AG / 180: © Jongeriuslab / 181–

tell s.p.a. / 92: Shapira, Design Process Olivetti / 93: Pa-

182: © Studio Jasper Morrison / 183: © Studio Marcel

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Wanders / 184: © Front Design / 185: © Ender Salih,

designer / 95: Guidot/Jousset, Les bons génies de la vie

London / 186 © Gruppe Postfossil / 187: © Marinatex

domestique / 96: Privatarchiv / 97: L’Architecture d’au-

Ltd.

jourd’hui 8-1935 / 98: Rassegna 26 (1979), Il Progetto del mobile in Francia, 1919–1939 / 99–100: Hermant, Formes utiles / 101: © Vitra-Museum / 102–103: Archives Citroën / 104: Privatarchiv / 105: Renault (Suisse) SA / 106: Leymonerie, Le temps des objets / 107: Privatarchiv / 108: Read, Art and Industry / 109–110: MacCarthy, British Design Since 1880 / 111: Read, op. cit. / 112: Privatarchiv / 113: Albus/Kras/Woodham, Design! Das 20. Jahrhundert / 114–115: MacCarthy, op. cit. / 116: Pevsner, Architektur und Design / 117: © London Transport / 118: Hadland, The Moulton Bicycle / 119: British Leyland Archives / 120: Sparke, Design im 20. Jahrhundert / 121: Gibbs, Pentagram: The Compendium / 122: https://de.wikipedia.org/Carl_Malmsten / 123: Widman/Winter, Bruno Mathsson / 124: Lichtenstein / 125: © ­Iittala / 126: Hedqvist, Josef Frank / 127: © Vitra-­ Museum / 128: Privatarchiv / 129–130: © Iittala / 131: © ­Vitra-Museum / 132: Archiv Saab AB / 133: © Hasselblad / 134: Rudofsky, The Kimono Mind / 135: Form. Internationale Revue 12-1959 / 136: Lichtenstein / 137: Oka, How to Wrap Five Eggs / 138: Oka, op. cit./Blaser, Japan: Raum und Gerät / 139: De Michelis, Design giapponese – Una storia dal 1950 / 140: © Nikon Corporation / 141: © Stiftung Richard Paul Lohse, Zürich / 142:

Dank

Privatarchiv / 143–144: De Michelis, op. cit. / 145: Albus/Kras/Woodham, op. cit. / 146: © Mazda Motor Corporation / 147: De Michelis, op. cit. / 148: Tomlinson’s Encyclopaedia of Useful Arts / 149: Bürdek, Der Apple

Mein großer Dank geht an Elisabeth Blum, Mitglied des

Macintosh / 150: Fortune 5-1959 / 151: Architectural

Herausgebergremiums der Bauwelt Fundamente und die

Design 5-1967 / 152–153: Architectural Design

zuständige Lektorin der vorliegenden Publikation. Dank

2-1967 / 154: © IBM Switzerland / 155: Siepmann,

ihrer Anregung entstand aus einem noch offenen Schreib-

­Alchimie des Alltags / 156: Albus/Kras/Woodham, op.

prozess das Vorhaben einer zweibändigen Publikation für

cit. / 157: Architectural Design 5-1967 / 158: Meadows,

die stolze Buchreihe der Bauwelt Fundamente. Folgenden

Limits to Growth / 159: © The Bernard Rudofsky Estate

Freunden und Gesprächspartnern bin ich für die kritische

Vienna, 2021 ProLitteris, Zurich / 160: Rudofsky,

Lektüre einzelner Kapitel und für die daraus folgenden Er-

Sparta/Sybaris / 161–162: Papanek, Design for the Real

mutigungen und Anregungen zu Dank verpflichtet: Hans

World / 163: Whole Earth Catalog, Nr. 2, 1969 / 164:

Rudolf Bosshard, Werner Durrer, Franz Engler, Benno und

­Dixon, Rethink / 165: Peter Cook © Archigram Archives /

Jacqueline Fosco Oppenheim, Hansrudolf Frey, Eduard

166: © 2021, ProLitteris, Zurich / 167–168: Weiß, Ales-

Kaeser, Joachim Krausse, François Renaud, Arthur

sandro Mendini / 169: Baake/Brandes/Erlhoff, Design als

­Rüegg, Caspar Schwabe, Klaus Vogt, Angela und Jürg

Gegenstand / 170: © 2021, ProLitteris, Zurich / 171: ©

Willimann. Katharina Kulke vom Birkhäuser-Verlag danke

gta Archiv ETH Zürich, Trix und Robert Haussmann / 172–

ich für die zuverlässige Betreuung der gestalterischen und

173: © Studio Ron Arad / 174: © MfGZ-ZHdK / 175:

herstellungstechnischen Belange der beiden Bände.

86–87: De Giorgi, op. cit. / 88: Breuer, Die 60er / 89: Am-

© Vitra-Museum / 176: © Dyson Ltd. / 177–178: Dixon,

basz, op. cit. / 90: Casciani, Arte Industriale / 91: © Kar-

op. cit. / 179: © Vitra AG / 180: © Jongeriuslab / 181–

tell s.p.a. / 92: Shapira, Design Process Olivetti / 93: Pa-

182: © Studio Jasper Morrison / 183: © Studio Marcel

panek, Design for the Real World / 94: Pedio, Enzo Mari

Wanders / 184: © Front Design / 185: © Ender Salih,

designer / 95: Guidot/Jousset, Les bons génies de la vie

London / 186 © Gruppe Postfossil / 187: © Marinatex

domestique / 96: Privatarchiv / 97: L’Architecture d’au-

Ltd.

jourd’hui 8-1935 / 98: Rassegna 26 (1979), Il Progetto del mobile in Francia, 1919–1939 / 99–100: Hermant, Formes utiles / 101: © Vitra-Museum / 102–103: Archives Citroën / 104: Privatarchiv / 105: Renault (Suisse) SA / 106: Leymonerie, Le temps des objets / 107: Privatarchiv / 108: Read, Art and Industry / 109–110: MacCarthy, British Design Since 1880 / 111: Read, op. cit. / 112: Privatarchiv / 113: Albus/Kras/Woodham, Design! Das 20. Jahrhundert / 114–115: MacCarthy, op. cit. / 116: Pevsner, Architektur und Design / 117: © London Transport / 118: Hadland, The Moulton Bicycle / 119: British Leyland Archives / 120: Sparke, Design im 20. Jahrhundert / 121: Gibbs, Pentagram: The Compendium / 122: https://de.wikipedia.org/Carl_Malmsten / 123: Widman/Winter, Bruno Mathsson / 124: Lichtenstein / 125: © ­Iittala / 126: Hedqvist, Josef Frank / 127: © Vitra-­ Museum / 128: Privatarchiv / 129–130: © Iittala / 131: © ­Vitra-Museum / 132: Archiv Saab AB / 133: © Hasselblad / 134: Rudofsky, The Kimono Mind / 135: Form. Internationale Revue 12-1959 / 136: Lichtenstein / 137: Oka, How to Wrap Five Eggs / 138: Oka, op. cit./Blaser, Japan: Raum und Gerät / 139: De Michelis, Design giapponese – Una storia dal 1950 / 140: © Nikon Corporation / 141: © Stiftung Richard Paul Lohse, Zürich / 142:

Dank

Privatarchiv / 143–144: De Michelis, op. cit. / 145: Albus/Kras/Woodham, op. cit. / 146: © Mazda Motor Corporation / 147: De Michelis, op. cit. / 148: Tomlinson’s Encyclopaedia of Useful Arts / 149: Bürdek, Der Apple

Mein großer Dank geht an Elisabeth Blum, Mitglied des

Macintosh / 150: Fortune 5-1959 / 151: Architectural

Herausgebergremiums der Bauwelt Fundamente und die

Design 5-1967 / 152–153: Architectural Design

zuständige Lektorin der vorliegenden Publikation. Dank

2-1967 / 154: © IBM Switzerland / 155: Siepmann,

ihrer Anregung entstand aus einem noch offenen Schreib-

­Alchimie des Alltags / 156: Albus/Kras/Woodham, op.

prozess das Vorhaben einer zweibändigen Publikation für

cit. / 157: Architectural Design 5-1967 / 158: Meadows,

die stolze Buchreihe der Bauwelt Fundamente. Folgenden

Limits to Growth / 159: © The Bernard Rudofsky Estate

Freunden und Gesprächspartnern bin ich für die kritische

Vienna, 2021 ProLitteris, Zurich / 160: Rudofsky,

Lektüre einzelner Kapitel und für die daraus folgenden Er-

Sparta/Sybaris / 161–162: Papanek, Design for the Real

mutigungen und Anregungen zu Dank verpflichtet: Hans

World / 163: Whole Earth Catalog, Nr. 2, 1969 / 164:

Rudolf Bosshard, Werner Durrer, Franz Engler, Benno und

­Dixon, Rethink / 165: Peter Cook © Archigram Archives /

Jacqueline Fosco Oppenheim, Hansrudolf Frey, Eduard

166: © 2021, ProLitteris, Zurich / 167–168: Weiß, Ales-

Kaeser, Joachim Krausse, François Renaud, Arthur

sandro Mendini / 169: Baake/Brandes/Erlhoff, Design als

­Rüegg, Caspar Schwabe, Klaus Vogt, Angela und Jürg

Gegenstand / 170: © 2021, ProLitteris, Zurich / 171: ©

Willimann. Katharina Kulke vom Birkhäuser-Verlag danke

gta Archiv ETH Zürich, Trix und Robert Haussmann / 172–

ich für die zuverlässige Betreuung der gestalterischen und

173: © Studio Ron Arad / 174: © MfGZ-ZHdK / 175:

herstellungstechnischen Belange der beiden Bände.