Die Ästhetik Europas: Ideen und Illusionen 9783839433157

How has Europe been perceived throughout its varied history? This volume shows that Europe was not, and is not, just a p

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German Pages 206 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Zur Ästhetik Europas. Bilder und Geschichten
Die Bildungsreise als ästhetischer Modus der reflexiven Erfahrung europäischer Differenzhaftigkeit. Ein phänomenologisch-hermeneutischer Versuch
Seid umschlungen, Millionen!. Beethovens „Neunte“ und die Idee eines geeinten Europa
Europäische Bildung durch Musik
Wie Bach zum Europäer wurde
Theater als europäische Anstalt?. Ein kontinuierliches Missverständnis (Teil I)
Theater als europäische Anstalt?. Ein kontinuierliches Missverständnis (Teil II)
Islamisch-jüdisch-christlich-abendländische Bildstörungen. Bilder- und Blickverbote in Religion und bildender Kunst
Die Erfindung Europas in amerikanischen Museen
Amerikanisierung und Europa nach 1945:. Anpassung und Widerstand
Abbildungsverzeichnis
Verzeichnis der Autoren
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Die Ästhetik Europas: Ideen und Illusionen
 9783839433157

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Peter Bubmann, Eckart Liebau (Hg.) Die Ästhetik Europas

Ästhetik und Bildung | Hg. von Eckart Liebau und Jörg Zirfas | Band 10

Peter Bubmann, Eckart Liebau (Hg.)

Die Ästhetik Europas Ideen und Illusionen

Gefördert durch einen Druckkostenzuschuss der FAU.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2016 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Maren Manzl Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3315-3 PDF-ISBN 978-3-8394-3315-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Peter Bubmann

Einleitung  ..........................................................................  7 Jörg Zirfas

Zur Ästhetik Europas Bilder und Geschichten . . ....................................................  11 Leopold Klepacki

Die Bildungsreise als ästhetischer Modus der reflexiven Erfahrung europäischer Differenzhaftigkeit – ein phänomenologisch-hermeneutischer Versuch ..................  33 Eckhard Roch

Seid umschlungen, Millionen! Beethovens „Neunte“ und die Idee eines geeinten Europa ......  53 Christoph Richter

Europäische Bildung durch Musik .. ......................................  77 Konrad Klek

Wie Bach zum Europäer wurde .. ...........................................  93 André Studt

Theater als europäische Anstalt? Ein kontinuierliches Missverständnis (Teil I) ....................... 115 Clemens Risi

Theater als europäische Anstalt? Ein kontinuierliches Missverständnis (Teil II) ...................... 125 Ralf Frisch

Islamisch-jüdisch-christlich-abendländische Bildstörungen Bilder- und Blickverbote in Religion und bildender Kunst .. ..... 135

Hans Dickel

Die Erfindung Europas in amerikanischen Museen ................ 165 Gert Schmidt

Amerikanisierung und Europa nach 1945: Anpassung und Widerstand ...............................................  179 Abbildungsverzeichnis  ...................................................... 199 Verzeichnis der Autoren .................................................... 203

Einleitung Peter Bubmann

Die Ästhetik Europas – wie bitte? Der Titel provoziert und will herausfordern: Soll hier angesichts der mehrfachen europäischen Krisen (Finanzkrise, Griechenlandkrise, Flüchtlingskrise, Terror) die Ästhetik (und noch dazu singularisch) zu Hilfe geholt werden – und dies in Zeiten, in denen das politische Gebilde Europa zu zerbröseln droht? Besteht etwa die Hoffnung, dass, wo die Gefahr wächst, das Rettende in ästhetischer Gestalt naht? Oder ginge es andersherum am Ende um eine Ästhetik des formvollendeten Scheiterns und Untergehens? Weder das eine noch das andere soll hier verfolgt werden. Was in einer Ringvorlesung des Erlanger Interdisziplinären Zentrums für Ästhetische Bildung (IZÄB) an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg im Sommersemester 2013 vorgetragen wurde, verfolgt bescheidenere Ziele. Liest man im Titel den genetivus subjektivus, so ist einerseits zu fragen, welche Formen von Ästhetik in den Ländern Europas und ihrer Geschichte, in den verschiedenen Kulturinstitutionen Europas (von den Kirchen bis zu Kunsthochschulen) hervorgebracht wurden. Dann wäre nochmals zu differenzieren zwischen kulturellen und künstlerischen Gestaltformen, ästhetischen Konzeptionen und tragenden Institutionen. Das ergäbe zusammengenommen eine veritable Kulturgeschichte des Abendlandes. Auch das kann hier nicht vorgelegt werden. Deshalb kann dieser Fragehorizont nur exemplarisch und selektiv in diesem Band aufgegriffen werden: als Frage nach der Wirkung europäischer Kulturinstitutionen und einzelner Komponisten auf die Musik (Christoph Richter), als Frage nach der Wirkungsgeschichte Johann Sebastian Bachs in nationaler wie europäischer Rezeption (Konrad Klek), als Hinweis auf die hochfliegenden und oft genug enttäuschten Erwartungen an die Insti-

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tutionen des Theaters als „europäischer Anstalt“ (André Studt/Clemens Risi). Schon an diesen Beispielen wird jeweils deutlich, dass europäische Öffnungen und Vernetzungen gelegentlich ihren Kairos haben, oft jedoch die Rezeption großer Kunst und Kultur primär der Inszenierung des Nationalen dient – auch gegen die Intentionen der Urheber (wie es andersherum auch sein kann, dass vorgeblich primär national orientierte Komponisten wie Richard Wagner stark durch europäische Einflüsse bestimmt sind, wie Clemens Risi aufzeigt). So einfach lässt sich also die Urheberschaft Europas für europäische Kultur und Kunst nicht bestimmen. Nur scheinbar leichter fällt diese Bestimmung europäischer Kultur aus Übersee-Distanz: Wie sich (reiche) Nord-Amerikaner Europa ästhetisch zurechtlegen und wortwörtlich zusammenbasteln, weist Hans Dickel in seiner Analyse von Museen und Gebäuden in den USA auf. Dass solche Versuche der musealen Konservierung und künstlichen Konstruktion des vorgeblich typisch Europäischen wirksam sind, dürfte ohne Zweifel sein. Inwieweit darin tatsächlich Spuren einer gehaltvollen Ästhetik Europas sichtbar werden, muss hingegen kritisch hinterfragt werden. Wenn allerdings auch auf diese Weise keine klare Sicht auf die Ästhetik Europas zu gewinnen ist – bleibt dann am Ende mehr übrig als eine schlichte Addition nationaler Kulturen: Europa also als ästhetische Collage (wofür immerhin die ursprüngliche Idee des European Songcontest bzw. Grand prix d'eurovision Pate stehe könnte)? Clemens Richter hält hoffnungsvoll dagegen und unterstreicht, dass es in der Musikgeschichte immer wieder zu echten Lernprozessen und Begegnungen europäischen Ausmaßes gekommen ist. Ein anderer Zugang wählt die Lesart des genetivus objektivus (Jörg Zirfas): Wie wird Europa in ästhetischen Formen (Bildern, Mythen und Geschichten) dargestellt, wie wird es also zum Gegenstand/Objekt kultureller Prozesse und Sprachformen? Und was sagt dies über Europa aus? Die Frauengestalt Europa kommt so in den Blick, ebenso das Licht, das Wahrheit, Vernunft und Bildung erleuchten soll. Bilder und Metaphern wie das Haus und die Form der Europaflagge verweisen auf je unterschiedliche normative Einheitsvorstellungen. Die komplexe Kompositions- und Rezeptionsgeschichte der heutigen Europa-Hymne (Ode an die Freude aus der 9. Symphonie von Ludwig van Beethoven) legt selbst schon beredt Zeugnis ab von den Erwartungen und Projektionen, die sich um solche zentralen ästhetischen Symbole herum entwickeln (vgl. Eckart Rochs Beitrag). Diese Ode an die Freude wartet noch immer darauf, dass

Einleitung

sich ihr politisch nicht eben bescheidener, hochidealistischer semantischer Gehalt als Verheißung von Frieden, Freiheit und Freude erfüllen wird. Schon in der Analyse solcher zentraler Gestaltformen europäischer Symbolik lässt sich erkennen, dass die Phänomene europäischer Kunst und Kultur keine creatio ex nihilo sind. Sie zehren vielmehr gerade im Ansinnen, Europäisches in Gestalt zu fassen, häufig vom Bezug auf Fremdes und Außereuropäisches. Sowohl die Absetzung vom Orient als auch neuere Formen von Anti-Amerikanismus bilden einen Hintergrund ästhetischer Selbstverständigungsbemühungen in Europa. Gert Schmidt zeigt kontrapunktisch zu den anderen Beiträgen auf, wie stark Europa inzwischen durch den Einfluss amerikanischer Kultur geprägt ist. Bestimmt sich das genuin Europäische in Sachen Ästhetik demnach durch Subtraktion der amerikanischen Einflüsse? Und was wäre, wenn dann nichts mehr übrig bliebe? Dem Proprium europäisch-ästhetischer Vernunft in Wahrnehmung wie Gestaltung ist ein dritter Zugang dieses Bandes auf der Spur: Vielleicht liegt das Spezifische der Ästhetik Europas ja weniger in bestimmten Artefakten oder Kulturtechniken als in der Weise und Logik des Umgangs mit ihnen. Die Vielfalt der national entstandenen Kulturformen erweist sich in dieser Sicht nicht als Hindernis einer Ästhetik Europas, vielmehr gerade als ihr Ausgangspunkt und eigentlicher Gegenstand. Die Begegnung mit dem Anderen, Fremden, die Erfahrung von Differenz und Pluralität wird so zum konzeptionellen Kern des Europäischen auf dem Feld der Ästhetik. „Die“ Ästhetik Europas ist dann immer schon eine mehrfache: im Polylog der regionalen Kulturen und Künste, die die ästhetische Wahrnehmung anregen und herausfordern. Die Bildungsreise kann daher als Inbegriff eines ästhetischen Modus der reflexiven Erfahrung europäischer Differenzhaftigkeit beschrieben und empfohlen werden (Leopold Klepacki). Im Wechsel der Perspektiven auf Fremdes wie Eigenes ereignet sich kulturelle Bildung als Selbst-Entsicherung und als Selbst-Befremdung im Interesse an nachbarlicher Kultur. Auch Clemens Richter hebt darauf ab, dass es im Umgang mit Musik in Europa um eine Doppelaufgabe gehe: Gemeinsames zu finden bzw. zu schaffen. Und die Eigenart der nationalen Kulturen in der wechselseitigen Begegnung zu erschließen und voneinander zu lernen.

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Dass dabei allzu starre Fest-Stellungen und Fixierungen in der gegenseitigen Wahrnehmung zu lösen wären, ließe sich gut an einer bildkritischen, ja ikonoklastischen Spur innerhalb der Ästhetik bildender Kunst lernen, die den nahen Orient mit dem europäischen Kontinent verbindet: Ralf Frisch plädiert dafür, die „Kulturtechnik aufgeklärter Bildkritik und Bildskepsis“, also die „Unterscheidung zwischen Bild und lebendiger Wirklichkeit“ in der Tradition prophetischer Bildstörungen einzuüben, um so zu einer selbstkritischen Haltung gegenüber erstarrten Imaginationen zu gelangen und einen toleranten Umgang mit der Kritik an identitätsrelevanten Bildern zu pflegen. Dass in eine solche Empfehlung zur Fundierung interkultureller Versöhnung zugleich religiös-theologische wie ethische Motive verwoben sind, die sich jeder regionalen Einengung auf den europäischen Subkontinent verweigern, mag als Hinweis dafür dienen, dass auch die Ästhetik Europas von Voraussetzungen lebt, die auf ästhetischem Wege allein nicht reproduzierbar sind und die auch nicht allein an europäisches Terrain gebunden sind. So könnte sich am Ende erweisen, dass das Beste an der Ästhetik Europas gerade dasjenige ist, was universal und global zur Förderung von Humanität und Freiheit beiträgt. Damit aber erscheint nun doch der große, der universale Horizont als unausweichlich. Die Ästhetik Europas gewinnt ihre Bedeutung aus der und in der Auseinandersetzung mit eben jenen Traditionen, aus denen Europa als Idee und Gestalt hervorgegangen ist: insbesondere also den monotheistischen Religionen Vorderasiens, den antiken Philosophien und Rechtssystemen und all jenen Amalgamierungen mit den verschiedensten globalen Einflüssen, die diese Ursprünge in den vergangenen Jahrtausenden konflikthaft durchlaufen haben. Die Ästhetik Europas ist in allen ihren Erscheinungsformen als Ergebnis von Kämpfen um politische, ökonomische, religiöse, soziale, kulturelle Macht und Vorherrschaft von allem Anfang an divers, transkulturell, ungleichzeitig. Hier wird seit wenigstens dreieinhalb Tausend Jahren Globalisierung praktiziert. Das kann Hoffnungen, aber auch Befürchtungen wecken. Immerhin hat es zu großartiger Kunst und Kultur geführt.

Zur Ästhetik Europas Bilder und Geschichten Jörg Zirfas

E inleitung Dieses Buch trägt einen großartigen Titel, Die Ästhetik Europas – einen Titel, zu dem jedem von uns viele Gedanken durch den Kopf gehen und viele Bilder, Töne und Geschichten einfallen. Bilder aus der kulturellen Geschichte, aus der aktuellen medialen Realität oder – auch sehr bedeutsam – aus den eigenen ästhetischen Erfahrungen, die man z.B. durch Reisen in Europa gemacht hat. Auf den zweiten Blick allerdings wird man stutzig: Was kann und sollte eine Ästhetik Europas denn sein? Ist es überhaupt möglich, eine solche Ästhetik beschreiben oder rekonstruieren zu können? Auf welchen geographischen, historischen, kulturellen, religiösen, politischen oder ideellen Rahmen soll man sich beziehen, wenn man über die Ästhetik Europas spricht? Immerhin sprechen wir über zurzeit 46 Staaten, die ganz oder teilweise zu Europa gezählt werden. Und zudem: Ist es nicht schon vermessen, davon auszugehen, es gäbe die Ästhetik Europas, wenn sich die Ästhetik Deutschlands, ja Bayerns oder selbst die Ästhetik Frankens kaum skizzieren lässt? Und weiter lässt sich fragen: Was genau meint denn die Ästhetik Europas? Wir haben es hier zunächst einmal mit zwei Genitiven zu tun – einmal mit dem Genitivus subiectivus, der nun behaupten würde, dass Europa – wer oder was immer das auch sein mag – selbst eine Ästhetik hervorgebracht habe, so wie es verschiedene Rechtsvorstellungen, Demokratieverfahren oder ökonomische Strukturen hervorgebracht hat. Europa wäre Subjekt seiner eigenen Ästhetik, hätte seinen eigenen unverwechselbaren Stil im Konzert der Kontinente – ein durchaus schönes

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Bild. Allerdings müsste man bestimmen, wo und wie die kulturellen und ästhetischen Grenzen Europas verlaufen – ja, ob Europa überhaupt Grenzen hat oder es sich nicht auch und gerade in seiner Ästhetik durch eine Öffnung gegenüber dem Nicht-Europäischen auszeichnet. Und wir können die Ästhetik Europas im Kontext des Genitivus obiectivus verstehen, dann wird Europa zum Objekt der Ästhetik, dass heißt, Europa wird durch Theater, Bilder, Geschichten, Musik und Filme überhaupt erst hervorgebracht. Die Künste hätten uns also Europa quasi schmackhaft gemacht, denn sie wären es, die Europa sinnlich wahrnehmbar dargestellt oder hörbar gemacht haben, sie wären es, die die angenehmen und schönen und die nicht so angenehmen und unschönen Seiten Europas in Schriften, Bildern und Tönen reflektiert und diskutiert haben. Man käme dann auch zu einer schönen Idee, nämlich derjenigen, dass die Geburt Europas – auch und vielleicht historisch sogar überwiegend – aus dem Geiste der Künste erfolgt ist – und nicht, wie wir heute immer glauben oder glauben gemacht werden, aus dem Geiste des Finanzkapitalismus oder der politischen Vernunft. Wie dem auch sei – ich kann und werde diese sehr weitreichenden Fragen in diesem Text nicht beantworten können. Und zunächst werde ich eine weitere Frage stellen: Von wo aus lässt sich am besten über die Ästhetik Europas sprechen – von außen, als Nichteuropäer, von innen, als Europäer, oder von außen und innen, sozusagen als kultureller Grenzgänger? Ich schreibe hier und heute sozusagen von innen, als ein deutscher Europäer, was merkwürdig klingt, aber auf zwei weitere Probleme aufmerksam macht: Das Schreiben über die Ästhetik Europas ist immer nur thematisierbar in einem Rekurs auf denjenigen, der schreibt: Er schreibt damit auch über seine eigene ästhetische Perspektive. Und zweitens: Es gibt nicht den Europäer – selbst die Statistik oder die Hirnforschung hat ihn m.E. noch nicht erfasst –, sondern nur kulturell individuelle Europäer mit ihren mehr oder weniger eigenen ästhetischen Hintergründen. Und diese kulturell individuellen Europäer haben wohl alle ihren individuellen Blick auf die Ästhetik Europas. Vielleicht lassen sich diese vielen Blicke ja zu einer europäisch-ästhetischen Familienähnlichkeit (Wittgenstein) zusammenbinden, doch auch dieser Frage werde ich nicht nachgehen. Was ich hier präsentieren werde, ist zunächst ein Konjunktiv: Es sind Möglichkeiten, über die Ästhetik Europas ins Gespräch zu kommen. Die Ästhetik Europas entsteht mithin hier und jetzt aus dem Geiste des ästhetischen „Vielleicht“. Was könnte man also als Ästhetik Europas verstehen?

Zur Ästhetik Europas

Eine erste Möglichkeit besteht darin, die Kunst- und Kulturgeschichte zu Rate zu ziehen. Man muss hier beachten, dass man dabei die „schönen“ Künste wie das Theater, die Musik, die Literatur usw. und die ‚nützlichen‘ Künste wie Ernährung, Politik, Medizin oder Erziehung unterscheiden kann. Und vielleicht ist die Ästhetik Europas gerade auf dem Gebiet der nicht so schönen Künste weltgeschichtlich wesentlich wirkungsmächtiger geworden als auf dem Gebiet der sich gelegentlich auf einen sehr speziellen Expertenkreis beziehenden schönen Künste. Denkt man an die nützlichen Künste Europas, dann kann man an die Medizin erinnern, die schon in der Antike eine Lebenskunst war, an unterschiedliche Kultivierungstechniken, die sich im Mittelmeerraum mit dem Wein und seinem Genuss beschäftigen oder an die Gartenbaukunst, die mit ihren englischen und französischen Ausgestaltungen sehr spezifische ästhetische Erfahrungen ermöglicht. In einer zweiten Hinsicht können wir ideeller verfahren. Wir können uns theoretische Modelle der Ästhetik, der verschiedenen Künste, des Künstlers oder auch des Kulturpublikums vor Augen führen. Hier hat sich Europa – angefangen von der griechischen Mythologie bis hinein in die aktuellen postmodernen Debatten um Ästhetik – eine Fülle von Konzeptionen, Theorien, Einsichten, Perspektiven usw. auf ästhetische Sachverhalte erarbeitet. Man denke nur an die großartigen antiken Modelle der ästhetischen Muße, die religiösen Schönheitsideale des Mittelalters oder die Genieästhetik der Moderne. Oder man denke an die lateinischen Choräle, das Theater Shakespeares, an die Musik von Beethoven oder die Bilder von Picasso. In einer dritten lohnenswerten Hinsicht könnte man sich den ästhetischen Institutionen Europas widmen: Theater, Tempel, Kirche, Klöster, Schule, Oper, Kunstakademie, Fotolabor, Kino etc. Hier wäre also zu fragen, wo die Ästhetik Europas entsteht und wo sie ihre Wirkung entfaltet? Und man würde wohl auch zu der Einsicht kommen, dass jahrhundertelang die schönen Künste auch und gerade durch die „nicht so schönen“ Institutionen wie Schulen und Kirchen vermittelt worden sind. Auf die aktuelle Situation bezogen, könnte man vielleicht sagen, dass vieles, was wir über die Ästhetik Europas wissen, durch die Medien – sprich das Fernsehen und das Internet – in unseren Wissensfundus gelangt. Und schließlich lässt sich auch ein Zugang zur Ästhetik Europas dadurch bahnen, dass man an Bilder und Geschichten erinnert, in denen Europa einen, man könnte sagen, ohne diesen Anspruch sehr umfassend

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aufrecht zu erhalten, signifikanten Ausdruck erfahren hat. Insofern spreche ich über Ästhetik nicht im Sinne des ursprünglichen griechischen Begriffs der aisthesis, der sinnlichen Wahrnehmung von Europa. Und auch nicht über die Ästhetik als Theorie des Schönen oder der Künste. Mir geht es in diesem Text um eine Ästhetik als metaphorischen Zugang zu Europa, um Sinnbilder und Sinngeschichten, in denen sich Europa quasi verkörpert hat. Es geht um ästhetische Möglichkeiten, Europa darzustellen und zu verstehen, also um Europa oder Europäisches in einem ästhetischen Rahmen zu (re-)präsentieren. Und vielleicht ist ja diese Art der Darstellung insbesondere der Ästhetik und den Künsten sehr angemessen, die ja häufig als kreative Möglichkeitsräume verstanden werden. Dabei kommt eine kunsthistorische und kulturtheoretische Auseinandersetzung natürlich zu kurz. Denn die leitende Frage ist sehr einfach: Was „sehen“ wir oder was stellen wir uns vor (genauer müsste natürlich heißen, was stelle „ich“ mir mit meinem biographisch-wissenschaftlichen Hintergrund vor), wenn „wir“ über Europa nachdenken? Welche Bilder und Geschichten gehen uns dabei durch den Kopf? Hierzu werden jetzt einige Beispiele folgen, die kein Anrecht auf Vollständigkeit besitzen.

D ie F r au Also, wenn wir an Europa denken, denken wir zunächst an eine Frau – und an eine Verführung. Denn in der griechischen Mythologie war Europa der Name einer phönizischen Königstochter, Tochter des Agenor, König von Tyros, altgriechisch Εὐρώπη, die Zeus in Stiergestalt schwimmend nach Kreta entführte und dort verführte. Und auf dem Bild der „Casa di Giasone“ ist die Entführung gut zu sehen (Abb. 1). Der Begriff Eurṓpē – meist als Kompositum aus altgriechisch εὐρύς, eurýs, „weit“ und ὄψ, óps, „Sicht“, „Gesicht“ aufgefasst –, wird zu „der [Frau] mit der weiten Sicht“. Europa, das ist mythologisch und etymologisch also die „Weitsichtige“ – oder auch die (weniger schön) „Breitgesichtige“ – die zu einer Göttin wurde und eine Reihe von Kindern (Minos, Rhadamanthys, Sarpedon) geboren hat. Der Stier wurde als Sternbild des „Tauros“ an den Himmel versetzt. Und noch in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts hat Europa etwas Divenhaftes, wenn auch jetzt die kretische Göttin nunmehr als Luxusdame den Stier an der Leine hat – und wenn auch jetzt die Kosten

Zur Ästhetik Europas

Abb. 1: Da Pompeii, Casa di Giasone

für die Verführung sichtbar werden (Abb. 2): Europa, so scheint es, ist vor allem eines, nämlich teuer. Dieses Bild erinnert zum einen daran, dass das Geld bis ins 14. Jahrhundert hinein in Europa zur kultischen Sphäre gehörte und dasjenige bezeichnete, womit man Buße und Opfer erstatten bzw. entrichten konnte, zum anderen daran, dass der Stier mittlerweile wieder auf der Erde angekommen ist, ist er doch zum Symbol der Börse geworden und schließlich auch daran, dass sich mittlerweile die Geschlechterverhältnisse verändert zu haben scheinen.

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Abb. 2: Simplicissimus (1962)

D as L icht Ein zweites Bild, das man vielleicht mit Europa in Verbindung bringen kann, entstammt ebenfalls der Antike – es geht um Platon und sein „Höhlengleichnis“. Dieses Bild scheint mir deshalb von Belang, weil es eine europäische Lichtmetaphorik in Gang setzt, die mit der Aufklärung bis heute in ganz unterschiedlichen Formen des Wissens und der Wissenschaften prominent andauert. Wenn wir an Europa denken, so denken wir an das Sehen, die Sonne, das Licht, den Weg nach oben – und an die Bildung, die Wahrheit, die Vernunft und die Philosophie. Bei Platon heißt es im 7. Buch der „Politeia“ in der Übersetzung von Schleiermacher (514a–517a, 224–226): „Sieh nämlich Menschen wie in einer unterirdischen, höhlenartigen Wohnung, die einen gegen das Licht geöffneten Zugang längs der ganzen Höhle hat. In dieser seien sie von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkeln, so dass sie auf demselben Fleck bleiben und auch nur nach vorne hin sehen, den Kopf aber herumzudrehen der Fessel wegen nicht vermögend

Zur Ästhetik Europas

Abb. 3: Jan Saenredam: Plato’s Allegory of the cave (1604) sind. Licht aber haben sie von einem Feuer, welches von oben von ferne her hinter ihnen brennt. Zwischen dem Feuer und den Gefangenen geht obenher ein Weg, längs diesem sieh eine Mauer aufgeführt wie die Schranken [...]. Sieh nun längs dieser Mauer Menschen allerlei Geräte tragen, die über die Mauer herüberragen, und Bildsäulen und andere steinerne und hölzerne Bildern. [...] Auf keine Weise also können diese irgend etwas anderes für das Wahre halten als die Schatten jener Kunstwerke? [...] Wenn ihn einer mit Gewalt von dort durch den unwegsamen und steilen Aufgang schleppte und nicht losließe, bis er an das Licht der Sonne gebracht hätte, wird er nicht viel Schmerzen haben und sie ungern schleppen lassen?“

Wir haben hier ein grandioses ästhetisches Bild: Die Höhle als Metapher für die Gefangenheit in Meinungen, die Sonne für das Licht der Erkenntnis und das Hinaufsteigen als mühsamer Weg der Bildung; wir sehen aber zudem die Faulheit und Feigheit der Menschen und nicht zuletzt das Risiko der Philosophen und Pädagogen (Abb. 3):

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Abb. 4: Europa bei Nacht „Würde man ihn nicht auslachen und von ihm sagen, er sei mit verdorbenen Augen von oben zurückgekommen und es lohne nicht, dass man auch nur versuche hinaufzukommen; sondern man müsse jeden, der sie lösen und hinaufbewegen wollte, wenn man seiner nur habhaft werden und ihn umbringen könnte, auch wirklich umbringen?“

Eine Ästhetik der Aufklärung ist immer auch eine Ästhetik des Risikos – was auch und gerade die Künste immer wieder betont haben; denn die Künste führen dazu, die Welt mit anderen Augen zu sehen und mit anderen Ohren zu hören. Die Ästhetik Europas hat also auch ihre gefährlichen Seiten – was die Künstler, Pädagogen und Philosophen immer wieder leidvoll erfahren mussten.

D as H aus Nun gibt es eine weitere Metaphorik Europas, die man vielleicht eine politisch-räumliche nennen könnte, und die mit dem Bild von Europa als „Haus“ oder als „Festung“ einhergeht. Obwohl Europa – wie fast alle Teile der Welt – in einem hohen Maße ein Migrationsraum war und ist – von Außenmigration, aber auch von Binnenmigration –, suggeriert zunächst das Bild des Hauses und stärker das der Festung eine Politik der Abschottung, eine restriktive Einwanderungs- und Migrationspolitik, die mit den

Zur Ästhetik Europas

Abb. 5: Harm Bengen: Das Haus Europa oftmals konstatierten Globalisierungsbewegungen oder auch dem selbst attestierten humanen Auftrag Europas in einem merkwürdigen Kontrast steht. Dabei wirkt „Europa bei Nacht“ durchaus einladend und man sich vorstellen, an einem der vielen erleuchteten Punkte nicht nur einen Abend zu verbringen (Abb. 4). Und natürlich, daran muss auch erinnert werden, gibt es ein Europa der Gastlichkeit und der Gastfreundschaft mit je eigenen Traditionen und Ritualen, die sich vom antiken Griechenland über das Juden- und Christentum bis hin zur höfischen und bürgerlichen Gesellschaft verfolgen lassen und die ihre je eigenen Ästhetiken haben. Dennoch: Es ist wohl kein Zufall, dass schon der griechische Begriff „xenos“ sowohl für den Fremden, als auch für den Gast steht. Interessant in diesem Zusammenhang ist der Sachverhalt, dass die ersten Fremden Europas Frauen waren – die Danaiden, in Ägypten geborene Frauen griechischer Abstimmung, die in Argos Schutz suchen. Wie die Geschichte weitergeht, kann man bei Aischylos in den Hikétides (Die Schutzflehenden) nachlesen. Und weiter: Häuser haben nicht nur Außengrenzen, sie haben auch ihre Stockwerke und ihre verschiedenen Zimmer. Und man kann sich schon fragen, wer in Europa im Erd-, oder Dachgeschoss, im Keller oder im Gartenhaus wohnt – oder ob man europäische Nationen und Kulturen funktional aufteilen sollte: die Franzosen in die Küche, die Deutschen ins Wohnzimmer, die Italiener ins Kinderzimmer usw. (Abb. 5).

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Abb. 6: Michelangelo: Christ on the Cross, drawn in black chalk (1539/41)

D as C hristentum Eine weitere wichtige und bis heute bedeutsame Dimension Europas ist die christliche Religion, zu der sich z.Zt immer noch 75% aller Europäer bekennen. Neben dem Judentum, dem Europa eine Fülle an ästhetischen Ideen und Modellen und eine Fülle an bedeutsamer Kunst (etwa in Musik und Literatur) und Alltagskultur (etwa in Ritualen und im Humor) verdankt, hat das Christentum ebenfalls eine ganze Reihe von literarischen, ikonischen, theatralen und musikalischen Ästhetiken erzeugt, deren vielleicht wirkungsmächtigste mit den anthropologischen Gegebenheiten von Geburt und Tod zu tun haben. Hierbei kann und muss man wohl auf die christliche Dialektik des Todes eingehen, versinnbildlicht in der Figur von Christus am Kreuz (Abb. 6). Die europäische Todesversessenheit – wie sie gelegentlich genannt wird – korrespondiert im Christentum mit dem Gedanken einer Lebens­ besessenheit, die wiederum im Bild des ewigen Lebens aufgehoben ist. Und das Christentum hat lange gebraucht, um die selbst mitverschuldete

Zur Ästhetik Europas

Abb. 7: Geburt Christi (rumänische Ikone) abendländische Geburtsvergessenheit zu überwinden; gerade in der Moderne – ist noch einmal verstärkt – an die Bedeutung der Geburt und des Kindes erinnert worden (Abb. 7). Das Bild vom Kind in der Krippe ist ein entscheidender Grund für die pädagogische Wertschätzung des Kindes in der Moderne, die u.a. auch zur Erfindung der bürgerlichen Weihnachtsfeier geführt hat. Das heilige Kind liegt dementsprechend nicht mehr nur in der Krippe, sondern steht buchstäblich vor dem Weihnachtsbaum. Es wäre ein lohnenswertes Unterfangen, die mit dem Tod und der Geburt verbundenen europäischen Ästhetiken der Vergänglichkeit und der Ewigkeit noch eingehender zu untersuchen.

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Abb. 8: Albrecht Dürer: Melencolia (1514)

M enschenbilder Mit der Religion über Jahrhunderte eng verbunden sind die europäischen Menschenbilder. Holzschnittartig lassen sich zwei Bilder herausstellen: der homo tranquillus und der homo faber bzw. die vita contemplativa und die vita activa. Mit dem ersten Bild verbinden sich Theorien und Praktiken der Muße, der Betrachtung, der Versenkung und auch der Mystik. Selbst der Wissenschaftler findet sich in diesem Kontext wieder – häufig mit einem melancholischen Anstrich versehen – wie etwa bei dem bekannten Bild von Dürer (Abb. 8). Mit dem zweiten Bild ist der arbeitende Mensch angesprochen. Ein Bild, das sich über die Klöster – Stichwort: ora et labora – und die Reformation – die die Arbeit nicht als Beruf, sondern als Berufung verstand – verbreitet und dann in der Aufklärung im 18. Jahrhundert seine wirkmächtige moderne Bedeutung gewinnt. Dagegen war Arbeit Jahrhunderte lang als Notwendigkeit, Unbequemlichkeit, Schmerz und Erschöpfung verstanden worden. Mittlerweile, und daran haben auch Marx und der

Zur Ästhetik Europas

Abb. 9: Held der Arbeit Kommunismus ihren Anteil, nehmen wir allerdings Arbeitszeitverkürzungen als Bedrohung (!) wahr. Und so verwundert es nicht, dass die Zeit der Arbeitshelden nicht lange zurückliegt (Abb. 9). Der Ehrentitel „Held der Arbeit“ wurde seit 1950 in der DDR für bahnbrechende Taten für den Auf bau und den Sieg des Sozialismus in der Volkswirtschaft verliehen. Insbesondere für die geleistete Arbeit in der Industrie, der Landwirtschaft, dem Verkehr oder dem Handel oder für wissenschaftliche Entdeckungen oder technische Erfindungen. Man konnte sich mit Arbeit nunmehr schmücken.

D ie G lobalisierung Europa, das war und ist immer noch ein ästhetisches Projekt der Zivilisierung und Kultivierung der Welt. Europa ist insofern ein Projekt, das auf die Zukunft bezogen ist, ein Programm, das mit der Globalisierung verknüpft ist: Europa hält sich – man denke auch an die Fragen der Demokratie und der Menschenrechte – für die historische und zivilisatorische Avantgarde (Abb. 10). Spätestens seit 1492, der Entdeckung Amerikas, hat sich Europa zunehmend als Ort der Weltkulturalisierung verstanden; europäischer Geschmack, europäische Zivilisationsformen, europäische Kultur sollten global Beachtung finden. Die unrühmlichen Höhepunkte dieses vermessenen Anspruchs kann eine Geschichte des europäischen Kolonialismus mühelos nacherzählen. Heute haben wir die Debatten um das alte Europa und die neue Welt, die Diskussionen um den durch Europa initiierten

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Abb. 10: Theodor de Bry: Columbus landing on Hispaniola, Dec. 6, 1492; greeted by Arawak Indians (1594) Fortschritte nicht nur in Bezug auf politische, wirtschaftliche oder ökologische Reformen und im Hinblick auf die Menschenrechte, sondern auch in ästhetischer Hinsicht, wenn etwa von angemessenen Darstellungen verschiedenster Sachverhalte oder von den Entwicklungen in den Künsten die Rede ist. Europa hat sich oftmals – und bis heute – als Beispiel verstanden, sozusagen als Beispiel aller Beispiele: Es ist beispielhaft, weil es das Allgemeine darstellt (darstellen will) und es ist beispiellos, weil keine Kultur der europäischen gleichkommt (gleichkommen kann). Doch vielleicht ist ja dieses „alte“ Europa seinem Ende nahe, während uns das „neue“ Europa noch bevorsteht? Wir müssen aber konstatieren, dass nicht nur der Geschmack Europas in der Welt mittlerweile eine Rolle spielt, sondern dass sich unser „deutscher“ Geschmack europäisiert und unser „europäischer Geschmack“ mittlerweile globalisiert hat (Abb. 11).

Zur Ästhetik Europas

Abb. 11: Europa-Grill In diesem Sinne sprechen wir von einer transkulturellen Ästhetik, die unterschiedliche Ästhetiken aus unterschiedlichen Kulturen munter miteinander kombiniert und verschmilzt. Und auch in Europa selbst findet man aktuell wie historisch eine Melange aus diversen kulturellen Strömungen, die integrativ oder auch dissonant auf einander bezogen werden. Solche Melangeerfahrungen kann man nicht nur in Museen oder Kinosälen machen, sondern man kann sie sich buchstäblich an Imbissständen einverleiben: Hier gibt es Europa zum Snacken.

D ie E inheit Auch die Idee der Einheit Europas bildet eine eigene Ästhetik aus. Auf die räumliche Ästhetik in diesem Zusammenhang sind wir schon kurz eingegangen; und auch die in jüngster Zeit in die Bredouille geratenen Euronoten sind dem Gedanken einer integrativen Ästhetik geschuldet. Ein prominentes Bild, das ja auch unser Plakat für die Ringvorlesung und den entsprechenden Flyer schmückt, ist die Europaflagge – der Sternenkreis (Abb. 12). In der amtlichen Erläuterung des Beschlusses des Ministerkomitees des Europarates vom 9. Dezember 1955 zur Annahme dieser Flagge wird Folgendes zur Symbolik ausgesagt:

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Abb. 12: Die Europaflagge „Gegen den blauen Himmel der westlichen Welt stellen die Sterne die Völker Europas in einem Kreis, dem Zeichen der Einheit, dar. Die Zahl der Sterne ist unveränderlich auf zwölf festgesetzt, diese Zahl versinnbildlicht die Vollkommenheit und die Vollständigkeit. […] Wie die zwölf Zeichen des Tierkreises das gesamte Universum verkörpern, so stellen die zwölf goldenen Sterne alle Völker Europas dar, auch diejenigen, welche an dem Aufbau Europas in Einheit und Frieden noch nicht teilnehmen können.“1

Europa, das machen diese Überlegungen deutlich, ist zumindest ästhetisch schon vollständig und vollkommen. Insofern lässt sich die Flagge etwa für die politischen Repräsentanten Europas als eine explizite Aufforderung verstehen, der ästhetischen Vorstellung die politische Realisierung nachfolgen zu lassen. Es scheint so zu sein und ist damit wohl kein Zufall, dass hier Schiller im Spiel ist, der in seinen Briefen zur Ästhetischen Erziehung von 1795 schon davon gesprochen hatte, dass der Weg in die Freiheit nur über die Schönheit erfolgen kann (2. Brief, S. 142). Geht man nun davon aus, dass die Flagge in der jetzigen Form ästhetisch perfekt ist, wundert es einen nicht, dass die falschen Europaflaggen stark kritisiert werden. Falsche Europaflaggen sind solche, auf denen die Sternenspitzen nach unten zeigen, in denen sie nicht parallel nach oben zeigen, und in der sie nicht in den gleichen Positionen stehen wie die Stunden am Zifferblatt einer Uhr.

1 | https://de.wikipedia.org/wiki/Europaflagge (Abruf 25.11.2015).

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Abb. 13: Carlo Dolci: Madonna in Glory (1670) Es gibt aber wohl noch eine andere implizite, nämlich christliche Symbolik der Europafahne, auf die man noch kurz zu sprechen kommen sollte; ggf. hat sich der Europarat auch von der Offenbarung des Johannes inspirieren lassen, in der eine Krone von zwölf Sternen beschrieben wird. „Und es erschien ein großes Zeichen am Himmel: Eine Frau, mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen“ (Offenbarung des Johannes 12,1) (Abb. 13). Da die Zahl zwölf im europäischen Denken eine ganze Reihe Spuren hinterlassen hat – von den zwölf Stämmen Israels bis hin zu zwölf Stunden am Tag –, kann man sich vorstellen, dass auch die entsprechenden Ästhetiken hier sehr vielfältig sind. Eine möchte ich noch nennen: die Europaflagge könnte durchaus auch mit dem in der Apokalypse genannten Sternenkranz zusammenhängen.

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E ine Ä sthe tik des G r auens Fasst man die bisherigen, sehr kursorischen Beispiele und Überlegungen zusammen, so ergibt sich eine Metaphorik Europas, die folgende Elemente enthält: Fruchtbarkeit, Licht, Sicherheit, Leben, Aktivität, Zukunft, Einheit und Vollständigkeit. Man könnte sagen, dass – ästhetisch betrachtet – Europa ein sehr starkes Bild von sich selbst abgibt. Wir haben zwar auch über das Risiko, die Restriktion, die Mühen der Arbeit, über Kolonialisierung und Apokalyptik gesprochen, doch insgesamt erscheint Europa in den bisherigen Ästhetiken als ein ästhetisches Projekt par excellence. Oder schlicht: Europa ist einfach schön. Daher soll hier – kurz und knapp – auch noch an eine andere Tradition erinnert werden, die wir vielleicht zusammenfassend eine europäische „Ästhetik des Grauens“ nennen können. Einige short cuts dieser ästhetischen Geschichte sind: der Brudermord am Anfang der Menschheitsgeschichte, bei dem Kain Abel erschlägt; die homerische Ilias und die attischen Tragödien; das Buch Hiob; Dürers Apokalyptische Reiter; Picassos Guernica; das Melodram von Schönberg A Survivor from Warsaw for Narrator, Men's Chorus and Orchestra (op. 46), Lanzmanns Shoa oder Hanekes Das weiße Band – alles künstlerisch eindrucksvolle Beispiele für eine andere europäische Ästhetik – für eine, die den Gewalttaten und den Grausamkeiten gewidmet ist. Und die Liste dieser Beispiele ist lang. Ein Beispiel einer europäischen Ästhetik des Grauens möchte ich ihnen nicht vorenthalten. Nicht, um einem Diktat der Vollständigkeit zu folgen, und auch nicht, um meine oder ihre Neugier am Bösen zu bedienen, sondern einfach deshalb, weil ich diesen Roman für zentral halte, um zu ahnen – von Verstehen oder Erklären möchte ich hier nicht sprechen – ,also um zu ahnen, was Menschen die Konzentrationslager der NS-Diktatur erlebt haben. Das Beispiel stammt aus Primo Levis Buch Ist das ein Mensch? (1958: 107f.), ein Buch, das seinen Erlebnissen vom Februar 1944 bis zu Befreiung des Vernichtungslagers im Januar 1945 gewidmet ist. Levi beschreibt in diesem Ausschnitt eine bestimmte Personengruppe, nämlich die Muselmanen – und merkt an, dass die Lagerveteranen aus ihm unerfindlichen Gründen die schwachen, untauglichen und selektionsreifen Häftlinge so benannt haben (105).

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„Wer es nicht fertig bringt, Organisator, Kombinator, Prominenter zu werden (welch grauenvolle Beredsamkeit der Ausdrücke!), der endet bald als Muselmann. Einen dritten gibt es im Leben, und da ist er sogar die Regel; aber im Konzentrationslager gibt es ihn nicht. […] Das Leben der Muselmänner ist kurz, doch ihre Zahl ist unendlich. Sie, die Muselmänner, die Verlorenen, sind der Nerv des Lagers: sie, die anonyme, die stets erneuerte und immer identische Masse schweigend marschierender und sich abschuftender Nichtmenschen, in denen der göttliche Funke erloschen ist, und die schon zu ausgehöhlt sind, um wirklich zu leiden. Man zögert, sie als Lebende zu bezeichnen; man zögert, ihren Tod, vor dem sie nicht erschrecken, als Tod zu bezeichnen, weil sie zu müde sind, ihn zu fassen. Sie bevölkern meine Erinnerung mit ihrer Gegenwart ohne Antlitz; und könnte ich in einem einzigen Bild das ganze Leid unserer Zeit einschließen, würde ich dieses nehmen, das mir vertraut ist: Ein verhärmter Mann mit gebeugter Stirn und gekrümmten Schultern, von dessen Gesicht und Augen man nicht die Spur eines Gedankens zu lesen vermag.“

Es ist nicht leicht, nach diesen Zeilen wieder in eine Diskussion der Ästhetik Europas zurückzukehren. Und Jahrhunderte lang gab es ja auch die europäischen Debatten darüber, ob sich die Künste überhaupt mit dem Bösen, dem Hässlichen und dem Inhumanen auseinandersetzen sollten. Doch eine Ästhetik Europas hat sich auch des Theaters der Grausamkeiten (Artaud) gewidmet, und ist damit vielfach nicht dem Programm l'art pour l'art, sondern dem Programm l'art pour l'homme gefolgt.

D er O rient Der Text hat begonnen mit der Schwierigkeit, eine Ästhetik Europas identifizieren zu können. Darauf möchte ich jetzt noch einmal zurückkommen. Und zwar zunächst in geographischer Perspektive, die uns deutlich macht, dass Europa nicht selbstständig ist, sondern ein Erdteil, der sich über das westliche Fünftel der eurasischen Landmasse erstreckt. Europa ist, geographisch betrachtet, ein Subkontinent, der mit Asien zusammen den Kontinent Eurasien ausmacht. Etwas lyrischer formuliert, Europa ist auf Asien verwiesen.

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Abb. 14: Eingang in den Harem des Topkapi Palasts Und ist nicht das Abendland, das Land der untergehenden Sonne, auf das Morgenland, das Land der aufgehenden Sonne, nicht nur ästhetisch verwiesen, sondern sogar angewiesen? Auch die Ästhetik des Orients ist in die Ästhetik Europas eingegangen; und sie geht auch aktuell immer noch in sie ein, wenn auch oftmals in negativer Form: Man denke hier an die Ästhetik des IS-Terrrors. Während der Orient heute oftmals schlicht als „naher Osten“ definiert wird, galt er doch seit dem Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert hinein als Land der „Orientierung“. Man denke an die mittelalterliche Überlieferung der Künste und der Philosophie durch die Araber, Goethes West-Östlichen Diwan oder in kritischer Perspektive auch an Rushdies Satanische Verse. Mittlerweile sind wir durch die Orientalismusdebatte darüber belehrt worden, dass das westliche Bild des Orients voller unbewusster Vorurteile und Verzerrungen ist, und sich mehr der Konstruktion und der Phantasie als der Realität verdankt (Abb. 14). Dennoch, und trotz der mit dem Orient häufig verbundenen kompensatorischen Phantasien der Europäer: Wenn man, um sich auf sich selbst zu beziehen, immer schon Abstand von sich gewonnen haben muss (was u.a. auch eine wichtige ästhetische Einsicht darstellt), so setzt Reflexion, auch diejenige auf die eigene Ästhetik, Distanz voraus. „Die“ Ästhetik

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Europas ergibt sich nicht aus einer reinen positiven Bezugnahme auf sich selbst, sondern auch aus ihren Bezugnahmen, ihren Anknüpfungen, Differenzen und Oppositionen zu anderen Ästhetiken und durch die Bezugnahme dieser anderen Ästhetiken auf eigene Vorstellungen und Gegebenheiten des Ästhetischen. Das heißt, dass „die“ Ästhetik Europas nie einen einzigen Ursprung, sondern mindestens zwei hat – einen, den sie im Selbstbezug und einen, den sie im Fremdbezug gewonnen hat. Vergessen wir also den Orient nicht, wenn wir über die Ästhetik Europas reden!

L iter atur Derrida, Jacques (1992): Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa. Frankfurt a.M. Fontana, Josep (1995): Europa im Spiegel. Eine kritische Revision der europäischen Geschichte. München. Hünnekens, Ludger/Winzen, Matthias (Hg.) (2002): Dissimele. Prospektionen: Junge Europäische Kunst. Baden-Baden. Levi, Primo (1999): Ist das ein Mensch? Ein autobiographischer Bericht. 8. Aufl. München. Literaturen. Das Journal für Bücher und Literatur (2003): Europa – Schöne alte Welt. Heft 7/8. Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie (1994): Europa – Raumschiff oder Zeitenfloß. Band 3, Heft 2. Berlin. Platon (1982): Politeia. Sämtliche Werke Band 3. Hg. von Walter F. Otto, Ernesto Grassi, Gert Plamböck. Reinbek, S. 67–310. Schiller, Friedrich (1984): Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Ders.: Über das Schöne und die Kunst. Schriften zur Ästhetik. Hg. v. G. Fricke u. H.B. Göpfert. München, S. 139–230. Sievernich, Gereon/Budde, Hendrik (Hg.) (1989): Europa und der Orient 800–1900. Gütersloh/München: 1. Band: Ausstellungskatalog. 2. Band: Lesebuch zur Ausstellung. (28. Mai–27. August 1989. Eine Ausstellung des 4. Festivals der Weltkulturen Horizonte '89 im Martin-Gropius-Bau, Berlin). Viefhoff, Reinhold/Segers, Rien T. (Hg.) (1999): Kultur, Identität, Europa. Frankfurt a.M.

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Zirfas, Jörg/Klepacki, Leopold et al. (2009–2014): Geschichte der Ästhetischen Bildung. Band 1–3: Paderborn u.a.

Die Bildungsreise als ästhetischer Modus der reflexiven Erfahrung europäischer Differenzhaftigkeit Ein phänomenologisch-hermeneutischer Versuch Leopold Klepacki

Das Prinzip der Bildungsreise als einen spezifisch ästhetischen Modus aufzufassen mag auf den ersten Blick doch sehr traditionell und bildungsbürgerlich erscheinen: Die Bildungsreise als Form des Reisens für und von Menschen, die sich an der Kunst und Kultur anderer Länder erfreuen und erbauen möchten und der Typ des Bildungsreisenden als soziales Distinktionsmuster, bei dem es darum geht, sich abzuheben – aber von wem eigentlich? Vom Wellness-Urlauber? Vom Ballermann-Strandlieger? Vom Aida-Kreuzfahrer? Oder gar generell von all denen, die sich das Prinzip der Bildungsreise als gesellschaftliches Distinktionsprinzip nicht zu Eigen machen können, da ihnen die legitime Macht fehlt, Bildung definieren zu können? Verkörpert der Bildungsreisende damit nicht ein ha­ bituelles Muster, das den bürgerlichen Manifestationsprozess der „feinen Unterschiede“ (Bourdieu) und damit die Affirmation bürgerlicher Hochkultur stützt? Nun, zumindest macht es den Anschein. Ob wir den Bildungsreisenden allerdings systematisch bzw. grundsätzlich als Bildungsbürger in seiner traditionellen Ausformung zu identifizieren haben, muss angesichts pluraler, individualisierter und enttraditionalisierter spät- bzw. postmoderner Strukturen einigermaßen angezweifelt werden.

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Idee und Praxis des Bildungsreisens wären angesichts dessen somit nur adäquat zu verstehen, wenn man sie in ihrer historischen Situiertheit sowie in ihrer kulturell-sozialen Gerahmtheit und damit in ihrer – zumindest anzunehmenden – prozessualen und kontextuellen Wandelbarkeit in den Blick nimmt. Da dies jedoch den Rahmen eines Sammelband-Artikels deutlich sprengen würde, soll hier im Folgenden vielmehr eine Spurensuche nach der eventuellen Zeitgemäßheit einer vielleicht unzeitgemäß wirkenden Idee unternommen werden: Legt man eine nicht-affirmative Bildungsidee an das Prinzip der Bildungsreise an, so könnte man den Bildungsreisenden durchaus als einen Menschen verstehen, der sich im positivsten Sinne eines „delectare et prodesse“ an noch nicht gesehenen Ländern, Menschen und Dingen erfreut, ein Interesse an diesen pflegt und sich in Situationen begibt, in denen er sich von der Fremdheit der Kontexte anregen lässt, um seine eigenen Horizonte zu erweitern, seine bestehenden Meinungen zu verändern, und der sich somit in einer offenen Haltung der Welt gegenüber übt. Diese Haltung – so zumindest die hier aufgestellte These – steht in enger Verbindung mit dem Prinzip des Ästhetischen – nicht als einer Kunstlehre, sondern als Prinzip des bewussten und reflexiv-thematischen Wahrnehmens von In-Erscheinung-Tretendem, d.i. sinnlicher Phänomene (vgl. Seel 2003). Der Bildungsreisende möchte das ihm in Erscheinung tretende Fremde produktiv wahrnehmen und subjektiv verarbeiten. So zumindest die hier vorläufig festgeschriebene Ideal-Idee. Angesichts dessen, was in der Überschrift zu diesem Artikel als Objekt der Erfahrung formuliert wurde, nämlich die Differenzhaftigkeit Europas, erscheint die hier eröffnete Haltung des Bildungsreisenden vielleicht nun doch weniger anachronistisch als vielmehr seltsam aktuell, da sie in gewisser Hinsicht auf eine Ambivalenz des „Projektes Europa“ zu verweisen vermag. Versteht man nämlich mit Heinz Duchardt (2010: 1) unter dem „Modell Europa“ „eine vor der Folie von Nationalismus, Staatenrivalität und verheerenden Konflikten im 20. Jahrhundert bewusst herbeigeführte Entscheidung, unter dem beherrschenden Label der Friedenspolitik einen Organismus zu schaffen, dem wirtschaftlicher Wohlstand, soziale Gerechtigkeit, eine

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hohe Wertschätzung der Menschen- und Freiheitsrechte, die parlamentarische Demokratie als verbindliche Staatsform und ein Mindestmaß an gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik eignen“,

dann ist es offenbar naheliegend, Europa als Prinzip eines sich „ständig verdichtenden Raums und Staatenbundes, dessen Mitglieder ein hohes Maß an gesellschaftlicher Homogenität und Solidarität aufweisen und den Krieg gegeneinander als Konfliktlösungsmöglichkeit ausgeschlossen haben“,

aufzufassen. Allerdings wird nach Duchardt „im allgemeinen Sprachgebrauch [...] sicher [auch] jenes politische Europa gemeint, das [...] auch viel Kritik auf sich zieht, die mit Schlagworten wie ‚Europamüdigkeit‘, ‚Eurosklerose‘ oder ‚Eurokratie‘ hier nur angedeutet werden kann“.

Erweitert man diese Feststellung Duchardts nun in einer kulturtheoretischen Art und Weise, dann ist zu konstatieren, dass der Prozess der europäischen Vereinigung bzw. der europäischen Zusammenführung zugleich immer auch einen Vorgang des Aufdeckens bzw. emergenten Aufscheinens von Differenzen bedeutet, den es produktiv zu wenden bzw. den es zu bewältigen gilt. Die mit der europäischen Verflechtung einhergehende Vereinheitlichung beinhaltet immer auch das Prinzip der Diversifizierung von Bezugssystemen menschlichen Denkens und Handelns. Die Folge ist eine Komplexitätssteigerung des Lebens, die sich in kulturellen Unübersichtlichkeiten, Hybridphänomenen, Kontingenzen und Relativismen äußert, die allesamt grundsätzlich zu Verunsicherungsnötigungen des einzelnen Menschen werden können. Regressive, nationalistische, rassistische und fundamentalistische kulturelle Tendenzen sind sodann die Kehrseite europäischer Einheit. Vielleicht mag es an dieser Stelle nun doch sehr idealistisch wirken, wenn hier angesichts dieser Herausforderungen der Versuch unternommen werden soll, das Prinzip einer ästhetisch verstandenen Bildungsreise – und nur diese Perspektive soll hier eingenommen werden – als Möglichkeit der produktiven Differenzbearbeitung zu entfalten. Es soll aber im Folgenden ausdrücklich nicht darum gehen, das Prinzip der Bil-

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dungsreise als ein kulturelles Allheilmittel zu postulieren. Vielmehr soll in einer bildungstheoretischen Perspektive systematisch danach gefragt werden, inwiefern das Reisen einerseits als ein spezifisches Bildungsprinzip bzw. ein spezifischer Bildungskontext beschrieben werden kann und inwiefern sich andererseits aus dem Umstand des Reisens spezifisch ästhetische Bildungsmöglichkeiten bzw. Bildungsanlässe ergeben, die eventuell die Komplexität und Differenzhaftigkeit dessen erfahrbar werden lassen, was als Europas kulturelle Identität (vgl. Fuhrmann 2002) oder als Ästhetik des europäischen Abendlandes (vgl. z.B. Schüller 2013) in einem allgemeinen Sprachgebrauch allzu häufig als allzu homogen erfasst wird, womit die Möglichkeit unterminiert wird, den europäischen Vereinigungsprozess über eine produktive, kulturell-ästhetisch begründete, reflexive innere Differenzbearbeitung weiter voranzutreiben. Zu diesem Zweck sollen im weiteren Verlauf drei Fragen erörtert sowie in einem vierten Schritt der Versuch unternommen werden, strukturelle Potentiale des Prinzips Bildungsreise hinsichtlich der oben angeführten Herausforderungen zu skizzieren: 1. Was kann allgemein unter dem Begriff Bildungsreise verstanden werden? 2. Inwiefern kann Reisen als eigenständiges Bildungsprinzip beschrieben werden? 3. Inwiefern kann durch das Reisen eine ästhetische Perspektive auf die Welt eingenommen werden? 4. Die Bildungsreise als Prinzip der ästhetischen Differenzerzeugung

1. Was kann allgemein unter dem Begriff Bildungsreise verstanden werden? Natürlich erscheint es als – gelinde gesagt – ambitioniert, die Beleuchtung des semantischen Konstrukts „Bildungsreise“ auf einer systematischen Begriffsklärung aufzubauen. Angesichts der offenbaren Unmöglichkeit einer umfassenden theoretisch-systematischen Begriffsbestimmung oder einer historisch-etymologischen Rekonstruktion bzw. einer Diskursgeschichte des Begriffes soll hier in der Beschränkung auf eine Eröffnung zentraler Perspektiven, Verständnisse und Abgrenzungen auch nur das angedeutet werden, was Reinhart Koselleck (2006: 99) als Analyse von „Konvergenzen, Verschiebungen oder Diskrepanzen des Verhältnisses

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von Begriff und Sachverhalt“ beschrieben hat. Dieser Leitlinie folgend, soll es im Folgenden also darum gehen, Begriff und Phänomen der Bildungsreise so in einen wechselseitigen Bezug zueinander zu bringen, dass sich sowohl die sach- bzw. phänomenbezogene Deutungsmacht von Begriffsbildungen zeigen lässt als auch die Möglichkeit eröffnet wird, Begriffe als irreduzible Faktoren des Fassens bzw. Begreifens von Realitäten zu verstehen (vgl. ebd.). Auf den ersten Blick mag es überflüssig erscheinen, aber die grundlegendste Frage, die es zunächst einmal zu beantworten gilt, wenn man sich auf die Spur dessen begeben möchte, was allgemein als Bildungsreise aufgefasst werden kann, ist die Frage danach, was eigentlich eine Reise ist und was man tut, wenn man reist. Die erste Teilfrage bezieht sich dabei auf die Klärung eines Phänomens, die zweite Teilfrage darauf, einen bestimmten menschlichen Tätigkeitsmodus zu erfassen. Gerade weil eine allgemeine begriffliche Idee des Phänomens „Reise“ als bekannt vorausgesetzt werden kann bzw. muss, erscheint es in begriffstheoretischer Hinsicht von grundsätzlicher Notwendigkeit, den Begriff in seinen semantischen Konnotationen, alltagssprachlichen Verschleifungen und diskursiven Aufladungen trennscharf und systematisch zu diskriminieren, um darüber das Phänomen differenziert fassbar zu machen. Um nun das Allgemeine aufgreifen zu können und es einer differenzierenden Analyse bzw. einer zergliedernden Auslegung unterziehen zu können, bedarf es aber eines konkreten, auszudeutenden Gegenstandes. Der Spur des Allgemeinen folgend, erscheint es naheliegend, zunächst auf diejenige Quelle zu rekurrieren, die heute stellvertretend für das Prinzip der schnellen Information steht: Wikipedia. Der Artikel „Reise“ in Wikipedia (Abruf 2.6.2015) liefert folgende Definition: „Der Begriff Reise bedeutet im Sinne der Verkehrswirtschaft die Fortbewegung einer oder mehrerer Personen über eine längere Zeit zu Fuß oder mit öffentlichen oder nichtöffentlichen Verkehrsmitteln außerhalb des Wirtschaftsverkehrs, um ein angestrebtes einzelnes Ziel zu erreichen oder mehrere Orte bis zur Beendigung der Fahrt am Ausgangsort kennenzulernen (Rundreise). Im fremdenverkehrswirtschaftlichen Sinne umfasst eine Reise sowohl die Ortsveränderung selbst als auch den Aufenthalt am Zielort.“

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Auch wenn diese Definition aus einer Perspektive heraus formuliert ist, die eher in einer Distanz zu ästhetischen bzw. bildungstheoretischen Fragen steht, nämlich derjenigen der Verkehrswirtschaft, so ergibt sich doch auf den ersten Blick ein augenscheinlich schlüssiges Bild von Reise. Menschen, nicht Güter, begeben sich – mit welchem Fortbewegungsmittel auch immer – für einen längeren Zeitraum an einen anderen Ort. Allerdings sagt diese Definition nichts darüber aus, was „länger“ bedeutet und sie macht keine Aussage darüber, ob die Entfernung des Ziels ausschlaggebend dafür ist, ob ein Ortswechsel als Reise erachtet wird oder nicht. Das, was allgemein als Reise bezeichnet wird, scheint offenbar nicht nur von der Tatsache des Ortswechsels, sondern auch von Fragen der Dauer und der Entfernung abhängig zu sein. In diesem Sinne könnte man z.B. sagen, dass Reisen einen temporären Ortswechsel in einen tendenziell fremdartigen, also eine gewisse räumliche, soziale, kulturelle usw. Distanz bzw. Differenz auf bauenden Kontext, meint, bei dem jedoch die Perspektive der Rückkehr erstens fest eingeplant ist und zweitens die Dauer der Abwesenheit so bemessen ist, dass eine tendenziell ungebrochene biographische Anschlussmöglichkeit in dem Kontext möglich ist, in dem man die Reise angetreten hat, also im sog. heimischen Kontext. Das Reisen betont damit gleichermaßen eine spezifische Prozesshaftigkeit und Temporalität wie auch bestimmte situative Handlungsweisen und das Erreichen spezifischer (geographischer und ideeller) Ziele sowie das Einhalten bestimmter rahmender Parameter. Geht man nun einen Schritt weiter, dann könnte man sagen, dass der Begriff Bildungsreise vor diesem Hintergrund eine spezifische inhaltliche und formale Präzisierung des Begriffes Reise darstellt und damit auf eine bestimmte Kategorie von Reise bzw. auf ein bestimmtes Reisephänomen verweist. Somit gibt es beinahe zahllose Anlässe bzw. Formen von Reisen: Urlaubsreise, Geschäftsreise, Pilgerreise, Forschungsreise, Entdeckungsreise, Künstlerreise, Bäderreise, Städtereise usw. All diese Formen unterscheiden sich teilweise sehr stark hinsichtlich ihrer Ausgestaltungsformen, ihrer Zeitdauern und v.a. hinsichtlich der Intentionen der Reisenden bzw. der Zuschreibungen an die spezifischen Qualitäten einer Reise. Entspannung, Erholung, Befriedigung von Neugier, persönliche Weiterentwicklung, ökonomischer Nutzen, all das können Gründe für den Antritt einer Reise sein. Sind bzw. waren beispielsweise Pilger-

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und Forschungsreisen eher beschwerlich, ja manchmal sogar gefährlich, so sollen touristische Pauschalangebote den Reisenden eher von allen Sorgen, Problemen und Anstrengungen entheben. Es ist hier nun nicht der Platz, all diese Formen des Reisens im Einzelnen zu analysieren, aber es zeigt sich bereits an diesem kurzen Abriss, dass das Reisen nur dann fundiert und differenziert zu beschreiben ist, wenn man sowohl die Gründe bzw. die Motive genauer untersucht, weshalb eine Reise angetreten wird, als auch die Modalitäten und Rahmenbedingungen in den Blick genommen werden, die überhaupt erst dazu führen, dass ein Ortswechsel als Reise zu bezeichnen ist. Auch müsste man den Begriff Reise noch näher von verwandten Begriffen abgrenzen, wie z.B. dem Begriff Fremdenverkehr oder dem Begriff Tourismus. Hierzu wäre es aber wiederum nötig, Entwicklungslinien und Entwicklungskontexte der einzelnen Reiseformen in den Blick zu nehmen, um sie trennscharf erörtern zu können. Eine mittelalterliche Pilgerreise, die Grand Tour junger Adliger des 17. und 18. Jahrhunderts, die Forschungsreisen Alexander von Humboldts oder Charles Darwins, die berühmten Künstlerreisen nach Italien oder eine Schiffsreise auf der „Aida“ sind nicht einfach ohne die jeweiligen historischen, kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen des Reisens zu verstehen. An dieser Stelle mag es jedoch zunächst genügen, die Bildungsreise als eine Sonderform des Reisens aufzufassen, deren Zweck in der Bildung liegt. D.h., die Motive für eine Bildungsreise sind zunächst in bestimmten subjektiven Bedürfnissen bzw. Absichten des Reisenden zu suchen. Der Bildungsreisende wäre von daher jemand, der eine Reise explizit mit dem Ziel antritt, sich zu bilden. Bezieht man diesen Aspekt nun noch einmal auf das, was bisher allgemein über das Wesen des Reisens ausgesagt wurde, dann könnte man konstatieren, dass jede Reise eine wie auch immer geartete Bildungswirksamkeit besitzt, „denn allein das bloße Hinaustreten aus der gewohnten Umgebung eröffnet neue Sichtweisen. Selbst ganz banale Dinge, wie das Umrechnen in eine andere Währung, das passive Hören fremder Sprachen oder das Kennenlernen fremder Sitten und Bräuche erweitert […] den eigenen Horizont […] Selbst innerhalb Europas sind sehr unterschiedliche Verhalten zu beobachten“ (Elis 2004: 7).

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Bräuche und Sitten, Rituale und Umgangsformen, Esskultur, Wohnkultur, Kleidung, Traditionen, Verhalten im Straßenverkehr, Preisgefüge, Gepflogenheiten des Trinkgeldgebens usw. usf. – wem würde hierzu nicht ein befremdendes und differenzerzeugendes Erlebnis während einer Reise in den Sinn kommen? Also könnte man sagen: Reisen bildet! Sind dann alle Reisen auch Bildungsreisen? Meines Erachtens nicht unbedingt, da es sehr stark auf die Perspektive des Reisenden anzukommen scheint. Für einen Bildungsreisenden wären befremdende, krisenhafte Erlebnisse keine unangenehmen Begleiterscheinungen, sondern vielmehr Kern der subjektiven Bedeutung der Reise. Allgemein gesagt, wäre eine Bildungsreise also mit dem expliziten Vorhaben verknüpft, etwas über das Fremde zu erfahren, sich mit dem Anderen, dem Unbekannten oder dem Ungekannten auseinanderzusetzen, dieses auf sich wirken zu lassen und es sich – so weit es geht; es funktioniert nicht immer und v.a. nicht gänzlich, es verbleibt stets ein fremder Rest – auch anzueignen und auf sich zu beziehen. Eine Bildungsreise wäre in dieser Perspektive eben nicht gleichzusetzen mit dem Absolvieren eines Kulturprogramms, sondern würde eher eine subjektive und reflexive Haltung im Sinne einer thematischen Einstellung zu derjenigen Welt bedeuten, die man bereist.

2. Inwiefern kann Reisen als eigenständiges Bildungsprinzip beschrieben werden? Bildungsprozesse sind allgemein als reflexiv-kritische Vorgänge der Selbst- und Weltbildung zu beschreiben. Sie sind also sowohl als tätige, performativ-leibliche Einwirkung eines sich bildenden Subjekts der Welt gegenüber wie auch als Verarbeitung von Ein- oder Abdrücken einer auf dieses Subjekt wiederum einwirkenden Welt zu verstehen. Das Ergebnis auf Seiten des Subjekts besteht dann in der Transformation von Haltungen, Handlungs- und Wahrnehmungsmustern, das Ergebnis auf Seiten der Welt in Produkten und Prozessen unterschiedlichster Art – Artefakte, Ideen, Strukturen etc. Bildungsprozesse können somit nur verstanden werden, wenn man drei Aspekte in ihrer wechselseitigen Verschränktheit in den Blick nimmt, nämlich erstens die Menschen, die sich bilden, zweitens die Dinge, an denen sich ein Mensch bildet bzw. die bildend wirksam werden, und drittens die Vorgänge und Resultate der kritischen Reflexion dieser Verhältnisse (vgl. z.B. Dörpinghaus/Poenitsch/Wigger 2009: 9ff.).

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Bildung konstituiert sich also im Dazwischen von Subjekt und Welt, leiblicher Spontaneität und sinnlicher Rezeptivität, theoretischem Erkennen und praktisch-performativem Tun. Sie ist als reflexiv-kritischer Vorgang zu beschreiben, der als transformativer Veränderungsprozess krisenhafte Spannungen erzeugt (vgl. z.B. Koller 2012). Daraus folgen subjektive Differenzerfahrungen: Die Welt wird fremd und neu und das Subjekt wird sich selbst fremd und neu. Selbst- und Weltbefremdung sowie Selbst- und Weltverknüpfung führen damit zu einem Vorgang der gegenseitig verschränkten Selbst- und Welterschließung (vgl. z.B. Klafki 1959). Erachtet man nun Bildung somit als Prozess und Resultat der Herstellung eines aktiven und progressiven Selbst- und Weltverhältnisses im Sinne einer reflektierten Praxis der durch Krisen motivierten Subjektivierung von Welt und fokussiert man das Prinzip des Reisens auf die Bereitung der Möglichkeit einer aktiven Erfahrung von Differenzen und Alteritäten, von Andersartigkeit und Fremdheit in der Welt (vgl. Bödeker et al. 2004), dann besteht tatsächlich die Möglichkeit, Reisen als ein strukturell eigenständiges Bildungsprinzip zu beschreiben. Wenn Bildung ein Prinzip ist, das nicht nur das Erlernen von Wissens- und Könnensformen, von Werthaltungen und Einstellungen bedeutet, sondern das vielmehr komplexe und ganzheitliche Vorgänge und Ergebnisse einer bewussten Wechselwirkung zwischen Ich und Welt als einer fortwährenden Transformation von grundlegenden Mustern des subjektiven Selbst- und Weltverhältnisses meint, dann wäre Reisen in der Tat eine paradigmatische Form der Selbst-Bildung. Das Reisen, verstanden als aktives Prinzip der Erschließung anderer und damit differenter Realitäten, wäre im Kern darauf hin ausgerichtet, dass Menschen ihre eigenen Deutungsmuster von Welt, Kultur, Natur usw. mit neuen Eindrücken konfrontieren bzw. kontrastieren, die zu neuen Perspektiven führen. Reisen könnte also verstanden werden als Vorgang des Auf brechens bestehender subjektiver Verstehensmodalitäten von Selbst und Welt. In diesem Sinne würde das Prinzip des Reisens nicht nur, wie häufig dargestellt, einen Prozess der Erfahrung von Differenzen in Gang setzen, sondern das reisende Subjekt, das sich als Bildungsreisender versteht, würde selbst aktiv diese sich eröffnenden Differenzen aufsuchen. Bildungs-Reisen kann somit idealiter als ein Prinzip aktiver, willentlicher und reflektierter sozialer, kultureller usw. Differenzerzeugung beschrieben werden. Entscheidend ist hierbei, dass das Prinzip des

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Reisens dazu führt, dass sich der Reisende in eine Distanz zu den geographischen, kulturellen, sozialen usw. Referenzrahmen seines alltäglichen Lebens begibt. Tendenziell ist die Herstellung dieser Abständigkeit von der Alltagswelt ein geradezu zwangsläufiger Mechanismus zur Dekonstruktion der Funktionalität unbewusster Handlungs-, Denk- und Wahrnehmungsmuster, da der Rahmen, auf den die Funktionalität ausgerichtet ist, tendenziell verschoben wird. In vielerlei praktischer Hinsicht sind damit Komplikationen, Missverständnisse, Verwirrungen, Kollisionen, ja sogar Ängste verbunden. In bildungstheoretischer Hinsicht jedoch würde sich hier etwas zeigen, das eine grundlegende Transformation individueller Perspektiven auf das Selbst, die Kultur und die Welt notwendig macht. Anders ausgedrückt kommt hier deutlich dasjenige Potential von Bildungsprozessen zum Tragen, das als Transformation bestehender Subjekt-Welt-Konfigurationen im Sinne einer Bearbeitung oder Verarbeitung solcher Erfahrungen verstanden werden kann, die sich der einfachen Einordnung in vorhandene Welt- und Selbstentwürfe widersetzen (vgl. Kokemohr 2007: 21). Bildung ist dabei zu verstehen als „Bezugnahme auf Fremdes“, d.h., auf etwas, das „jenseits der Ordnung ist, in deren Denkund Redefiguren mir meine Welt je gegeben ist“ (ebd.). In Anlehnung an die Topographie des Fremden von Bernhard Waldenfels wäre hier das Fremde als etwas zu denken, das sich zeigt, „indem es sich uns entzieht“ (vgl. Waldenfels 1997: 42). In dieser Perspektive generieren sich nach Rainer Kokemohr die Anlässe für Bildungsprozesse im Sinne ebendieser Behandlung „subsumtionsresistenter Erfahrung“ (Kokemohr 2007: 21) in konkreten Handlungsproblemen. Als Handlungsproblem gedacht, macht die widerständige Erfahrung „einen Bildungsprozess möglich, der in der Achtung der Fremdheit des Anderen ein Welt- und Selbstverhältnis entwirft, in dem sich das Handlungsproblem lösen kann“ (a.a.O.: 25). Eine Bildungsreise wäre somit in dieser Perspektive nicht nur dann, wenn sich Menschen explizit mit Kunst, Architektur, Brauchtum usw. eines Landes oder einer Region auseinandersetzen, sondern insbesondere immer dann, wenn eine Person eine Reise mit dem Ziel antritt, sich selbst in differenzerzeugende Kontexte zu begeben. Es würde dementsprechend sodann auch weniger bzw. nicht notwendigerweise um das Absolvieren eines Kulturprogrammes gehen, als vielmehr um die Realisierung einer bestimmten Haltung den Erscheinungen der Welt gegenüber. Diese Haltung kann mit den Worten Wilhelm von Humboldts beschrieben werden als „Verknüpfung des Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten

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und freiesten Wechselwirkung“ (Humboldt 2008: 850). Das Ziel des Bildungsreisenden würde sodann darin bestehen, „soviel Welt, als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden“ (ebd.). Dass diese Welt, die sich uns während einer Reise eröffnet, eine tendenziell fremde ist, wurde bereits gesagt. Dass diese tendenzielle Fremdheit das spezifische Bildungspotential einer Reise darstellt, dürfte bis zu diesem Punkt auch verständlich geworden sein. Darauf, dass die Subjektivierung dieser Welt jedoch auch Grenzen hat, wurde ebenfalls bereits hingewiesen. Wichtig erscheint deshalb an dieser Stelle noch einmal ein genauerer Blick auf das Fremde. Bernhard Waldenfels (1997: 87) unterscheidet hier zwischen einer alltäglichen oder normalen Fremdheit innerhalb einer Ordnung, einer strukturalen Fremdheit, die alles betrifft, was außerhalb einer bestimmten Ordnung angesiedelt ist und einer radikalen Fremdheit, die außerhalb jeder Ordnung ist. Das Maß der Fremdheit, d.h., die Differenz, die sich zwischen einem Phänomen und einem erfahrenden Subjekt in einer konkreten Situation eröffnet, ist damit zugleich auch das Maß dafür, wie sehr sich ein Phänomen oder Ereignis der Subsumtion unter bekannte Muster des Selbst-Welt-Verhältnisses widersetzt. D.h., der Grad dessen, wie stark sich das Fremde in seiner Erscheinung den Handlungs-, Denk- und Wahrnehmungsmustern des Subjekts entzieht, ist ausschlaggebend dafür, in welchem Maß bzw. inwiefern oder ob der Mensch Möglichkeiten findet, das Fremde subjektiv anzueignen und dabei zugleich mimetisch zu transformieren, sprich in welchem Maß bzw. inwiefern oder ob Anknüpfungspunkte für die Be- und Verhandlung einer Fremdheitserfahrung ausgemacht werden können. Insofern könnte man sagen, dass das Bildungs-Reisen als Tätigkeit auch erlernt und geübt werden muss. Das Bildungs-Reisen wäre somit im Kern immer als Aufgabe für das Subjekt zu verstehen, die es zu bewältigen gilt, deren Bewältigung aber immer auch scheitern kann.

3. Inwiefern kann durch das Reisen eine ästhetische Perspektive auf die Welt eingenommen werden? Geht man davon aus, dass der Mensch grundsätzlich drei Weltzugangsmöglichkeiten besitzt, nämlich eine theoretische, eine praktische und eine sinnliche, dann würde das Reisen zunächst einmal hauptsächlich praktische und sinnliche Weltzugänge eröffnen. Das erscheint einsichtig, da die konkrete Durchführung einer Reise ein körperliches Handlungsgeschehen darstellt und die neuen bzw. anderen Weltkontexte während

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der Reise dem Reisenden sinnlich in Erscheinung treten. Natürlich hat eine Reise auch theoretische Implikationen und das nicht nur, wenn man sich z.B. vor Beginn einer Reise über das Ziel informiert oder wenn man Reiseführer studiert und Reiserouten plant. Auch während der Reise stellen sich immer wieder Situationen des Nachdenkens ein. Doch die eigentlichen Potentiale einer Reise als Bildungsreise ergeben sich natürlich durch die Tatsache, dass man die Reise tatsächlich unternimmt, sie also praktisch vollzieht. D.h. dass man sich fremde Welten aktiv körperlich erhandelt und sinnlich-kognitiv erfährt und dass man die damit verbundenen Erscheinungen idealerweise reflexiv verarbeitet. Insofern können Reisen als besondere Handlungs- und Wahrnehmungssituationen aufgefasst werden, da sich dem Reisenden Handlungs- und Wahrnehmungskontexte stellen, die in seiner Alltagsumwelt nicht bzw. nicht so existent sind. Ein in bildungstheoretischer Hinsicht entscheidender Aspekt ist hierbei der Umstand, dass der Reisende nicht nur den Blick auf Fremdes richtet, sondern dass er es mit dem Blick des Fremden wahrnimmt. Der Reisende besitzt also auf die Erscheinungen der Welt eine besondere Perspektive, die denjenigen Personen, die in ihren Alltagsrahmungen verhaftet sind, verschlossen ist. Das Erscheinende erhält durch den fremden Blick eine besondere sinnliche Relevanz, da es als Erscheinendes in seiner Erscheinungshaftigkeit wahrgenommen wird. Der Modus der sinnlichen Wahrnehmung selbst rückt dadurch mehr ins Bewusstsein. Das Prinzip der fremden Wahrnehmung führt demnach dazu, dass Erscheinungen, wie z.B. Natur, Architektur, Kleidung, aber auch soziales Verhalten und Handlungsweisen verstärkt auf einer phänomenalen Ebene behandelt werden. Etwas tritt mir in Erscheinung – exakt dieser Umstand vermag eine ästhetische Situation zu generieren (vgl. Seel 2003). „In einer Situation, in der ästhetische Wahrnehmung wachgerufen wird, treten wir aus einer allein funktionalen Orientierung heraus. Wir sind nicht länger darauf fixiert (oder nicht länger allein darauf fixiert), was wir in dieser Situation erkennend und handelnd erreichen können. Wir begegnen dem, was unseren Sinnen und unserer Imagination hier und jetzt entgegenkommt, um dieser Begegnung willen“ (Seel 2003: 44).

Dass dieses Etwas natürlich nicht nur eine erscheinungshaft-phänomenale Seite, sondern auch eine semantische, also bedeutungshafte Dimension aufweist, muss an dieser Stelle betont werden. Doch scheint es in der

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Perspektive der Wahrnehmung des Fremden so zu sein, dass es zunächst einmal die Erscheinung der erscheinenden Oberfläche von etwas ist, das Aufmerksamkeit, Interesse, Befremden, Verunsicherung usw. evoziert, da etwas wahrgenommen wird, das nicht in vorhandene Muster passt, das nicht in bereits kategorisierte Ordnungen eingefügt werden kann, und dass dann erst, sozusagen genau darauf auf bauend, Versuche einer hermeneutischen Deutung bzw. eines ordnenden Verstehens dessen, was da als Phänomen in Erscheinung tritt, unternommen werden. Der Modus der ästhetischen Wahrnehmung würde sich dementsprechend durch ein Gewahrsein für Gegenwärtigkeit auszeichnen. In Anlehnung an Hans-Ulrich Gumbrecht (2004: 17ff.) könnte man somit an dieser Stelle sagen, dass ästhetische Wahrnehmungen und ästhetische Situationen zunächst auf die Erzeugung und das Vernehmen von phänomenaler Präsenz ausgelegt sind, aber genau dadurch auch Sinn­effekte produzieren. Das Ästhetische wäre demnach ein „Ort“, an dem das Materiell-Sinnliche und das Hermeneutisch-Sinnhafte so in eins fallen, dass sich Wahrnehmung und Bestimmung von etwas als etwas in einem oszillierenden bzw. interferenten und interdependenten Verhältnis befinden. Dieses Spanungsverhältnis wiederum könnte schließlich als konstitutives Begründungsmoment des oben beschriebenen (Selbst-) Thematischwerdens des Subjekts in ästhetischen Situationen erachtet werden. Wenn nun diese sinnliche Auseinandersetzung mit den Dingen, die uns in der Welt in Erscheinung treten, zu einem Selbstzweck wird, d.h., wenn wir dem, was da unseren Sinnen begegnet, um der Wahrnehmung willen begegnen, dann würden wir uns in einer ästhetischen Situation befinden. Ästhetische Wahrnehmungen sind nach Seel somit eine grundsätzliche Form menschlichen Weltzugangs, die ihre Gelegenheiten überall finden kann: „Die Domäne des Ästhetischen ist kein abgegrenzter Bereich neben den anderen Lebensbereichen, sondern eine unter anderen Lebensmöglichkeiten“ (Seel 2003: 44). Nach Martin Seel sind ästhetische Situationen also immer dann existent, wenn man aus funktionalen Lebenszusammenhängen heraustritt und sich durch das Prinzip der zweckfreien Wahrnehmung einer Erscheinung selbst gewahr wird. Ästhetische Wahrnehmungssituationen könnten in dieser Perspektive also als Kontexte der subjektiven Selbstvergegenwärtigung beschrieben werden.

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4. Die Bildungsreise als Prinzip der ästhetischen Differenzerzeugung Geht man nun abschließend noch einmal zurück zur Idee der Bildungsreise als Prinzip der intentionalen Selbstbefremdung im Sinne einer aktiven Differenzerzeugung zwischen dem reisenden Ich und einer sich diesem Ich eröffnenden fremden Welt, dann wären der ästhetische Weltzugangsmodus allgemein und die Auseinandersetzung mit ästhetischen Objekten im Besonderen während einer Reise durchaus als ein Schlüssel für die Erfahrung von Alteritäten und Identitäten in der Welt zu erachten. Der die Welt ästhetisch erfahrende Bildungsreisende würde folglich versuchen, das Fremde wahrzunehmen, es reflexiv auf sich zu beziehen und es dementsprechend in seiner graduellen Fremdheit zu lesen. Im Thematischwerden der auf das erscheinende Fremde gerichteten Sinnlichkeit würde sodann die Vielheit am eignen Leib, also in der eigenen und durch die eigene fremde Existenz, erfahrbar werden. Der subjektive Blick auf das Fremde der Welt sowie der subjektive Blick des Fremden auf die Welt verweisen somit auf Wahrnehmung als aktives Prinzip, das einerseits ein Bewusstsein für die Welt begründet und das andererseits das wahrnehmende Subjekt in eine erfahrbare Relation zu dieser Welt setzt. Die Perspektive des Reisenden auf das Fremde wird damit zu einem zentralen Bezugspunkt der subjektiven Welterfahrung. Und diese Perspektive ist stets bedingt durch die Wahrnehmungs-, Handlungs- und Denkmuster ebendieses Reisenden. Der Reisende gibt sich somit immer auch als Mensch zu erkennen, der das Fremde mit seinen eigenen individuellen, sozialen und kulturellen Lebenshintergründen und -erfahrungen, Werthaltungen und Einstellungen filtert und wertet. Der Blick des Reisenden ist damit nicht objektiv oder gar wertneutral, vielmehr ist er stark subjektiv und unhintergehbar an subjektive (Prä-) Konzepte von Selbst und Welt, von Eigenheit und Fremdheit, von Identität und Alterität usw. gebunden. In bildungstheoretischer Hinsicht bedeutet reisen also nicht nur das Kennenlernen anderer Länder, Menschen, Kulturen usw. im Sinne einer Ausdifferenzierung bzw. Erweiterung von Kenntnissen und Wissensformen über die Welt, sondern das Reisen ermöglicht insbesondere auch eine Sensibilisierung für die Vielheit und Andersheit der Welt. Reisen als Bildungsanlass zu sehen heißt, ein Interesse am Fremden zu kultivieren, sich auf Befremdendes einzulassen und sich selbst über die Relation zu

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dieser Fremdheit neu zu verstehen. In dieser Perspektive wäre eine Bildungsreise immer auch ein Versuch des Auffindens von Identität angesichts pluraler Alteritäten. In diesem Verständnis bedeutet Reisen „immer das Überschreiten der Grenzen der eigenen Lebenswelt. Der Reisende verlässt die eigene Lebenswelt, überschreitet den vertrauten Kulturzusammenhang, konfrontiert sich mit einer anderen Wirklichkeitsordnung. Reisen konstituiert die Differenz zwischen ‚Heimwelt‘ und der ‚Fremdwelt‘ (E. Husserl)“ (Bödeker 2004: 295).

Der Reisende begibt sich dadurch absichtlich in ein Spannungs- und Differenzverhältnis zur Welt, das wiederum Auswirkungen auf die Erfahrung seiner eigenen Existenz hat. Reisen eröffnet demnach einen Zwischenraum, der den Reisenden in einen schwellenförmigen Übergangszustand versetzt: der Reisende ist nicht mehr (ganz) Teil seiner Heimwelt, aber auch (noch) nicht integrierter Teil der bereisten fremden Welt. Dieses Dazwischen-Sein ist es schließlich auch, das zu einer Erfahrung phänomenaler Präsenz führt. Der Reisende nimmt sich selbst sowie die ihn umgebende Welt in ihrer konkreten Erscheinungshaftigkeit wahr und setzt sich dazu in Bezug. Der Reisende befindet sich damit in einem dezidiert ästhetischen Modus der Selbst- und Welterfahrung. Doch wo hört diese lebensweltliche Heimwelt eigentlich auf und wo beginnt die fremde Welt? Nimmt die Fremdwelt dort ihren Anfang, wo eine andere Sprache gesprochen wird? Beginnt sie dort, wo andere Traditionen, Sitten und Gebräuche wirksam sind? Oder dort, wo Landschaft und Architektur anders sind? Oder dort, wo ein anderes Land beginnt? Was meint „anders“? Was ist der Referenzrahmen für „anders“? Wo verläuft diese Grenze zwischen dem, was als das Eigene und Bekante und dem, was als das Fremde und Unbekannte wahrgenommen und erfahren wird? Hans Erich Bödeker (2004: 297) verweist in diesem Kontext darauf, dass Fremdheit keine Eigenschaft bzw. keine objektive Größe ist, sondern ein relationales Prinzip darstellt, das sich in der Erfahrung der Nicht-Zugehörigkeit, der Nicht-Vertrautheit, der Unkenntnis von Gegebenheiten usw. ausdrückt. Diese Erfahrung scheint sich immer dann bei einem Menschen einzustellen, wenn das Vertraute, Gekannte oder Bekannte verlassen wird, also wenn die subjektive Grenze der Heimwelt überschritten wird. Das, was als fremd erfahren wird, erscheint demnach

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subjektiv, aber auch historisch, kulturell und sozial wandelbar. Das Überschreiten staatlicher Grenzen ist hierbei oftmals ein wichtiger Markierungspunkt, da sich z.B. rein formal Differenzen in juristischer, sprachlicher, verkehrstechnischer usw. Hinsicht eröffnen. Entscheidend hierbei ist, dass derartige Fremdheitserfahrungen immer auch dazu führen, dass das Eigene wieder ins Bewusstsein gelangt. Grenzüberschreitungen bewirken damit auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Identität, die sich immer nur in Anbetracht des Anderen beschreiben lässt. Das Bewusstwerden der Teilhabe an kollektiven Identitäten ist hierbei von besonderer Bedeutung. Gerade in Zeiten der radikal intensivierten Mobilität von Menschen sowie der verdichteten weltweiten Kommunikation, also in Zeiten verstärkter transnationaler und transkultureller Verflechtungen, in denen sich traditionale, regionale und lokale Strukturen einerseits angesichts globalisierter Zusammenhänge aufweichen und andererseits aber auch wieder verstärkt in den Blick genommen werden (vgl. Liebau 2011: 141) wird die Frage nach der Relevanz erfahrbarer Identität in subjektiver und kollektiver Hinsicht relevant. Insbesondere das Prinzip der kulturellen Identität wird hierbei zu einer befragenswerten Kategorie, da kulturelle Identitäten weder starr, noch eindeutig, noch allgemeingültig sind. Ganz im Gegenteil, sie sind historisch wandelbar und damit stets als historisch geprägt zu behandeln; die verstärkten bzw. beschleunigten transkulturellen Verflechtungen der Jetztzeit sind hierfür ein deutliches Indiz (vgl. Göhlich et al. 2006: 7ff.). Bezogen auf die eingangs skizzierte strukturelle Ambivalenz des europäischen Vereinigungsprozesses heißt das, dass beispielsweise der Wegfall der innereuropäischen Grenzen einerseits gerade nicht dazu geführt hat, dass mit diesem formalen Akt auch innereuropäische kulturelle Differenzen aufgehoben wurden. Andererseits ist der Vorgang dennoch von immenser Bedeutung für die Konstitution einer modernen europäischen Identität: Er führt nämlich vor Augen, dass die Idee in sich abgeschlossener, homogener kultureller Lebensräume eine Fiktion ist – und schon immer war. Die simple dualistische Trennung von Heimwelt und Fremdwelt scheint hierbei für den einzelnen Menschen fragwürdig zu werden. Identität und Alterität müssen neu ausgehandelt werden. Ob „das Europäische“ sodann das Eigene oder das Fremde darstellt, ist eine Frage des Bezugsrahmens, der Orientierung und der subjektiven Wahrnehmung.

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Natürlich, es gibt die großen europäischen Traditionen in Kultur, Kunst, Ästhetik, Geistesleben, in philosophischen Ideen und in politischen Systemen und natürlich lässt sich hierüber auch eine europäische Identität beschreiben, aber gleichzeitig erscheint Europa immer dann, wenn man diese großen Traditionen entfaltet, zugleich als heterogen, als different und v.a. als wandelbar. Es ist hier nicht der Platz, einen historisch-kritischen Überblick über die Geschichte des Europa-Gedankens zu geben, aber – und das würde ein Blick in die kulturelle, gesellschaftliche, finanzielle und politische Gegenwart Europas auch bekunden – es ist deutlich, dass weder eine monistische Idee von Europa noch die einseitige Proklamation eines pluralistischen und heterogenen Europas angemessen erscheint (vgl. z.B. Fuhrmann 2002). In diesem Sinne würde sich z.B. die Ästhetik Europas natürlich in den großen Formen äußern, die Europa seine kulturelle, historische, soziale und künstlerische Gestalt verleihen: In Denkformen, in Ideenformen, in Architekturformen, in Kultur- und Kunstformen, in Lebens- und Gesellschaftsformen, in rituellen und religiösen Formen usw. Doch diese Formen sind weder statisch noch in sich einheitlich durchstrukturiert noch eindeutig festlegbar. Sie sind wandelbar und vielschichtig. Die Ästhetik Europas wäre demnach nur dann zu fassen, wenn man Einheit und Differenz dieser Formen vor dem Hintergrund ihrer je historischen Geprägtheit wechselseitig und reflexiv aufeinander bezieht. Man kann dies beispielsweise an der Problematik der großen europäischen Epochen und Kunststile sichtbar machen. Zweifelsohne ist die Ästhetik Europas geprägt durch das, was das Mittelalter, die Renaissance, der Barock, die Romantik usw. an ästhetischen Ideen, Konzepten und an ästhetischen Realisationen in Architektur, bildender Kunst, Literatur, Theater usw. hervorgebracht haben. Aber von dem europäischen Mittelalter, der europäischen Renaissance oder der europäischen Romantik zu sprechen hieße, die Vielschichtigkeit, die Komplexität und damit die Pluralität innerhalb dieser Strömungen oder Epochen zu egalisieren und ihnen damit das zu nehmen, was sie je ausmacht. Nicht zuletzt muss hier v.a. auch die Ungleichzeitigkeit der Epochen in den verschiedenen Ländern Europas mit in Betracht gezogen werden. Ist bereits im Italien des ausgehenden 13. Jahrhunderts die Entfaltung der Renaissance-Ideen zu bemerken und kann man dort bereits zu dieser Zeit mit Künstlern wie Dante, Cimabue und Giotto oder auch mit einer Veränderung in der Architektur den Beginn der Renaissance-Kunst wahrnehmen, so ist beispielsweise die Hochzeit

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der Renaissance-Kunst in Deutschland erst seit Ende des 15. Jahrhunderts mit Dürer, Cranach oder Holbein festzumachen. Daraus resultieren nicht nur unterschiedliche ästhetische Variationen, vielmehr sind in den verschiedenen Ästhetiken unterschiedliche Zeithintergründe, Ideen, Selbstund Weltbilder der Menschen enthalten, die es wahrzunehmen gilt. So ist es auch zunächst unstrittig, dass der Barock die ästhetische Form des europäischen Absolutismus darstellt und er dementsprechend v.a. architektonisch in weiten Teilen Europas präsent ist. Dem Barock als Form ging es um die Repräsentation von Macht und Bedeutung. Schlösser wie Versailles, das Schloss Belvedere in Wien oder die Würzburger Residenz künden davon. Dennoch zeigen sich innerhalb Europas Differenzen in den Formsprachen, die auf Unterschiede in den dahinter liegenden Weltkontexten, Ideen und Überzeugungen verweisen. Man könnte dies z.B. sehr gut an den Unterschieden zwischen den katholischen Varianten und den protestantischen Varianten des Barock, wie sie z.B. im nördlichen Europa zu finden sind, verdeutlichen. Bereits dieser sehr verkürzte und holzschnittartige Blick auf die kulturhistorische Gebundenheit der Ästhetik Europas zeigt, dass die Ästhetik Europas zweifelsohne erfahrbar ist, sie jedoch stets als eine Ästhetik pluraler Einheit verstanden werden sollte. Ein Bildungsreisender könnte nun – wenn man die hier entfaltete Idee der ästhetisch begründeten bzw. ästhetisch verstandenen Bildungsreise noch einmal heranzieht – all diese Spannungsverhältnisse fruchtbar machen. Er könnte versuchen, das sich ihm eröffnende Wechselspiel von ästhetischer Einheit und Pluralität in Europa in seiner befremdenden Vielheit zu erfassen und er könnte den Anspruch an sich stellen, dies reflexiv auf sich zu beziehen, um eine differenzierte Idee von kultureller Identität generieren zu können. Im gleichen Maß bestünde sodann auch die Möglichkeit für den – sich dezidiert in schwellenförmige Übergangszustände bringenden – Bildungsreisenden, Europa zugleich mit der Brille des Fremden und des Einheimischen wahrzunehmen und so angesichts des Differenten kulturelle Verflechtungen, Spiegelungen und Hybridisierungen in Europa zu erfahren. Eine Bildungsreise könnte dadurch schlussendlich in der Tat aufzeigen, dass kulturelle Fremdheit bzw. kulturelle Identität jeweils dort beginnt, wo man sich konkret, also situativ-handelnd, als kulturell außenstehend bzw. als kulturell dazugehörig erfährt. In diesem Sinne könnte eine Bildungsreise, die programmatisch auf die reflexive Erfahrung des

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differenzhaft In-Erscheinung-Tretenden abzielt, auch das behandelbar und reflektierbar machen, was uns im Alltag zugleich als aufzubrechende kulturelle Problemstruktur und als funktionaler, oft unterschwelliger Mechanismus zur Ordnung und Vereinfachung einer unübersichtlichen Welt erscheint, nämlich das Prinzip kultureller Stereotypisierungen, Etikettierungen und Pauschalisierungen. Eine Bildungsreise würde in dieser Perspektive sowohl vielschichtige Verknüpfungen zwischen Ich und Welt ermöglichen als auch umfassende kulturelle Reflexionsprozesse in Gang setzen können. Und dies wiederum könnte durchaus als ein je individueller Beitrag zum Projekt des geeinten bzw. des zu einenden Europas verstanden werden.

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Seid umschlungen, Millionen! Beethovens „Neunte“ und die Idee eines geeinten Europa Eckhard Roch

Im ersten Blumenstück von Jean Pauls Roman Siebenkäs hat der Held einen beklemmenden Traum. Er träumte, er sei auf einem Gottesacker. Flac­kerndes Licht dringt durch die Scheiben der Friedhofskirche. Nach altem Glauben stehen um Mitternacht die Toten aller Jahrhunderte aus den Gräbern auf, um des Erlösers zu harren. Da sinkt plötzlich eine edle Gestalt mit unsagbaren Schmerz von oben auf den Altar nieder. Es ist Christus, der Erlöser selbst. „Christus!“ riefen die Toten. „Ist kein Gott?“ Und Christus antwortete: „Es ist kei­ner.“ Und er erzählt, wie er durch die Welten ging, durch die Milch­straßen und Wüsten des Himmels flog, aber Gott nicht fand. „Als er aufblickte nach dem göttlichen Auge, da starrte ihn die unermeßliche Weite mit einer leeren Augenhöhle an, und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich. – Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten!“

Und die Toten warfen sich vor Christus nieder und riefen: „Jesus! haben wir keinen Vater?“ Jesus aber antwortete unter strömenden Tränen: „Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater.“ Da kreischten die Misstöne heftiger, und die Riesenschlange der Ewigkeit wand sich um die Natur und drückte zermalmend die Welten zu einer Gotte­sackerkirche zusammen, und alles wurde eng, düster und bang.

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Ein letzter gewaltiger Glockenschlag drohte die Welt bersten zu lassen – doch da erwacht der Träumer, weinend vor Freude, dass alles nur ein Traum war und er seinen Gott wieder anbeten darf, und friedliche Töne der Natur umfließen ihn wie von fernen Abend­glocken (Paul 1959–1963: 393–402). Beklemmender als Jean Paul in dieser Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab wird sich das Lebensgefühl zur Zeit der dämmernden Aufklärung wohl kaum schildern lassen (vgl. Roch 1998: 38–55). Und unmissverständlicher lässt sich auch die Kritik am Rationalismus nicht artikulieren, dessen Anhänger – nach Jean Pauls Worten – als „Tagelöhner der kritischen Philosophie“ das Dasein Gottes so kaltblütig und kaltherzig erwägen, als ob vom Dasein des Kraken und Einhorns die Rede wäre. Jean Paul schreibt seine Schreckensvision in den Jahren 1796/97 und gibt damit ein Bild der Lebensproblematik des Menschen im Europa seiner Zeit. Der Rationalismus der Aufklärung hat eine Kehrseite, will die Rede des toten Christus besagen: Der Mensch hat in der säkularisierten Welt nicht nur Gott, sondern auch den Zusammenhang mit der Gesellschaft und sich selbst verloren. „Starres, stummes Nichts! Kalte, ewige Notwendigkeit! Wahnsinniger Zufall! [...] Wie ist jeder so allein in der weiten Leichengruft des Alles! Ich bin nur neben mir – O Vater! o Vater! wo ist deine unendliche Brust, daß ich an ihr ruhe? – Ach wenn jedes Ich sein eigner Vater und Schöpfer ist, warum kann es nicht auch sein eigner Würgengel sein? [...] Ist das neben mir noch ein Mensch?“ (Paul 1959–1963: 270)

so klagt Christus in der Vision. Was Jean Paul hier mit dichterischem Gespür für die Zeichen der Zeit beschreibt, ist die soziale Folge der Säkularisation. Mit dem Verlust Gottes als oberster Steuerungsinstanz der Gesellschaft wurde das Zusammenleben der einzelnen Individuen zum kommunikativen Problem. Zwar war der Mensch nun geistig frei und nur noch sich selbst verantwortlich. Die menschliche Vernunft sollte alles regeln. Aber dieses Prinzip der Freiheit barg in sich auch eine Gefahr – die Gefahr eines Kampfes aller gegen alle. Das Ideal der Brüderlichkeit, das dem entgegenwirken sollte, ließ sich zwar postulieren, stand gerade unter den realen Bedingungen der Freiheit und Gleichheit aber in weiter Ferne. Der soziale Strukturwandel setzte die zuvor geltende Ordnung außer Kraft, ohne zugleich eine neue

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Ordnung an ihre Stelle zu setzen. Man kann die französische Revolution, welche nicht nur die religiöse, sondern auch die politische Steuerungsinstanz ja entmachtet hatte, als ein gigantisches Umkippen der zu­vor vertikalen Sozialstruktur in die Horizontale verstehen. Ganz gleich, ob die Aufklärung unter deistischem oder materialistischem Vorzeichen geschah, die Konsequenz für die soziale Ordnung war dieselbe. Die zuvor hier­archisch geregelten Verhältnisse wurden nun in der Horizontalen zum exi­stentiellen Problem. Das einsame Ich sah sich plötzlich mit dringender Not­wendigkeit auf das Du, den „Bruder“ verwiesen, der ihm für die verlo­rene Transzendenz, das Gefühl von Ganzheit und Geborgenheit einstehen musste. Brüderlichkeit ist ein Transzendieren zum Du, der Versuch, die Gottes­nähe durch Seelennähe der Individuen zu ersetzen. Gerade an dieser kommunikativen Aufgabe aber scheitert der Rationalismus der Aufklärung. Ein bloßer Händedruck bedeute mehr als der bündigste Syllogismus, formuliert Karl Philipp Moritz treffend in seinem allegorischem Roman Andreas Hartknopf (Moritz 1786: 64). Die aufklärerische Glücksverheißung bleibt abstrakt und wird von den Empfindsamen schließlich als verlogene Ideologie entlarvt. Moritz geißelt im Hartknopf unverhohlen den Geist der Aufklä­rung. Im zweiten Teil des Romans Andreas Hartknopfs Predigerjahre, der 1790 veröffentlicht wurde, glaubt man eine direkte Kritik an Schillers Ode herauszuhören, wenn es vom „Weltreformatoren“ und „Kosmopoliten“ Hagebuck heißt: „Der einzelne Mensch war ihm, wie nichts – den unversehens in einen Graben zu stoßen, und in den Arm zu kneifen, indem er sich stellte, als ob er ihn brü­d erlich unterfaßte, daraus machte er sich nichts – aber die ganze Menschheit konnte er liebevoll umfassen – gegen die schlug sein Herz, wie er sagte, mit mächtigen Schlägen.“ (Moritz 1963: 29)

Gegenüber solch falscher Welterotik wendet sich die Zeit der Empfindsam­ keit der Urzelle aller menschlichen Kommunikation, der menschlichen Zwei­erbeziehung zu. Wie konnte es kommen, dass das Du vom Ich getrennt wurde, da doch beides von Gott kommt, fragt der Maler Philipp Otto Runge: Ist es nicht da­durch, dass der Mensch seine eigene Seligkeit wissen wollte? Das aber sei die Wissenschaft, die Frucht vom Baum der Erkenntnis (vgl. Runge 1981: 130).

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Die berühmte Parole der französischen Revolution von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ war also nicht nur die Formulierung eines hohen Ideals, sondern die Folge und zwingende Notwendigkeit unter den Verhältnissen einer säkularen, führerlosen Gesellschaft. Nach dem Fall der alten Ständeordnung wurde die Regelung der Verhältnisse in der Horizontalen der Gesellschaft zum grundlegenden Problem. Aber die Brüderlichkeit erwies sich als eine Aufgabe, die so leicht nicht zu lösen war. Treffend formulierte Jean Jaques Rousseau 1762 in seinem Gesellschaftsvertrag: „Wie findet man eine Form des Zusammenschlusses, welche die Person und die Habe jedes Mitglieds mit der ganzen gemeinschaftlichen Stärke vertei­d igt, und durch die gleichwohl jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und ebenso frei bleibt, wie er war?“ (Rousseau 1982: 280)

Könnte und sollte das nicht auch einer der Grundsätze einer europäischen Ordnung sein? Die Realität sah freilich anders aus: „Jetzt aber herrscht das Bedürfniß, und beugt die gesunkene Menschheit unter sein tyrannisches Joch. Der Nutzen ist das große Idol der Zeit, dem alle Kräfte fronen und alle Talente huldigen sollen“.

Diese Einschätzung der Lage stammt aus dem zweiten der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen von Friedrich Schiller aus dem Jahre 1793 (Schiller 1962: 311). Knapp zehn Jahre zuvor war Schiller in seiner Ode An die Freude noch weitaus optimistischer gewesen: „Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium, Wir betreten feuertrunken Himmlische, dein Heiligthum. Deine Zauber binden wieder, was der Mode Schwerd getheilt; Bettler werden Fürstenbrüder, wo dein sanfter Flügel weilt.“

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Die Freude als menschheitsverbrüderndes Band? Schiller veröffentlichte die erste Fassung seiner Freudenode in der Zeitschrift Thalia 1786. Das Gedicht fand schnell Verbreitung. Aber Schiller zweifelte später selbst an seiner Aussage. An Christian Gottfried Körner schrieb er am 21. Oktober 1800: „Die Freude ist meinem jetzigen Gefühl durchaus fehlerhaft. Weil sie aber einem fehlerhaften Geschmack der Zeit entgegen kam; so hat sie die Ehre erhalten, gewißermaaßen ein Volksgedicht zu werden.“ (Schiller 1961: 206f.) Der fehlerhafte Geschmack der Zeit! Damit ist wohl das Geselligkeitsideal des 18. Jahrhunderts gemeint, in dem vor allem auch das gemeinsame Musizieren, das Singen in geselliger Runde mit „Wein, Weib und Gesang“ eine wichtige Rolle spielte. In Johann Adam Hillers erfolgreichem Singspiel Die Jagd (1770) beispielsweise verbrüdert sich das Volk mit dem (freilich unerkannten) König beim gemeinsamen Singen, und der König schlichtet weise die Zwistigkeiten zwischen Adel und Bürgertum. Bettler werden Fürstenbrüder! Auch Schillers Freudenode huldigt diesem Geselligkeitsideal des 18. Jahrhunderts, ja sie trägt durchaus Züge eines geselligen Trinkliedes, wenn es z. B. heißt: „Freude sprudelt in Pokalen, in der Traube goldnem Blut.“ und: „Brüder fliegt von euren Sitzen, wenn der volle Römer kraißt, Laßt den Schaum zum Himmel sprützen: Dieses Glas dem guten Geist.“ (Schiller 1943: 171)

Ist diese Freude nur eine Folge des Weinrausches? Da mag viel Galgenhumor, der die bittere Realität mit süßem Wein hinunterzuspülen sucht, im Spiele gewesen sein. Aber mit dem weinseligen Freudentaumel in geselliger Runde war den ernsten Themen wie Arm und Reich, Einsamkeit und Brüderlichkeit oder Krieg und Frieden, von denen das Gedicht handelt, nicht wirklich beizukommen. Es ist daher auch vermutet worden, Schiller habe mit Freude eigentlich „Freiheit“ gemeint. Das würde dann freilich nicht zu den kreisenden Weinpokalen passen. Zudem wurde der Topos der drei Ideale der französischen Revolution liberté – égalité – fraternité erst im Jahre 1792 geprägt (Lühning 1989: 105).

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Schillers Gedicht war im Jahre 1823, als Beethoven sich zum Chorfinale seiner Neunten entschloss, also eigentlich schon veraltet. Die Utopie der Empfindsamkeit, das Du mit dem Ich zu verbinden und das Geselligkeits­ ideal des 18. Jahrhunderts waren um diese Zeit längst gescheitert. Die revolutionären, aufklärerischen Ideale von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit waren in der Restauration des Kaiserreiches erstickt. Das Gedicht entsprach also nicht mehr dem Geist der Zeit. Wenn Beethoven sich dennoch um 1823 gerade zur Vertonung dieses Textes entschloss, so erscheint das wie ein bewusster Rückgriff auf die Ideale der Aufklärung und Empfindsamkeit. Beethovens aufklärerische Gesinnung ist gelegentlich bezweifelt worden, deshalb scheint es angebracht zu sein, seine Stellung zur Aufklärung kurz zu beleuchten. Beethovens Lehrer in Bonn war bekanntlich Christian Gottlob Neefe (Abb. 1), der ihn nicht nur musikalisch unterrichtete, sondern auch um seine geistige Bildung besorgt war. Er gab ihm Dichtungen von Herder, Klopstock, Goethe, Schiller, Homer und Platon zu lesen, deren Einfluss sich im gesamten Werk Beethovens finden lässt. Neefe war ab 1781 Mitglied des geheimen Ordens der Illuminaten und 1783 bis 1785 (dem Jahr der Auflösung des Ordens) sogar deren Lokaloberer in Bonn. Ende 1787 gehörte er zu den Gründern der sog. Lesegesellschaft in Bonn. Beethoven war aufgrund seines jugendlichen Alters zwar nicht Mitglied dieser Gesellschaft, dürfte aber die dort vorhandenen revolutionären Schriften zumindest teilweise gekannt haben. Wahrscheinlich hörte er auch Vorlesungen bei dem Revolutionär Eulogius Schneider. Schneider war ein Aufklärer mit abenteuerlichem Lebenslauf. Er brachte es vom Priester und Prediger über den Professor der schönen Künste bis zum aktiven Jakobiner und endete schließlich selbst auf der Guillotine. 1789, im Jahr des Sturmes auf die Bastille, war Schneider Professor für Literatur und Schönen Künste an der Universität Bonn (Stahl 2009: 15) (Abb. 2). Durch Vermittlung Neefes und möglicherweise auch Schneiders entstand schon in Beethovens Bonner Zeit (März 1790) seine erste bedeutende Komposition, die auf das politische Tagesgeschehen Bezug nahm: Die Trauerkantate auf den Tod Josephs II. für Solostimmen, Chor und Orchester, WoO 87. Der tiefe Ernst dieser Komposition zeigt, in welchem Maße die Ideale dieses aufgeklärten Fürsten für Beethoven eine Herzensangelegenheit waren. Die Kantate beginnt mit einem Aufschrei über den Tod des auf-

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Abb. 1: Christian Gottlob Neefe (1748–1798)

Abb. 2: Eulogius Schneider (1756–1794)

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geklärten Fürsten: „Tot, stöhnt es durch die öde Nacht.“ Das später für Beethoven so wichtige Motto „Aus Nacht zum Licht“ findet sich schon in dieser Kantate, und zwar in der Nr. 4, dem Chor Da stiegen die Menschen ans Licht, welcher die auf Joseph II. gerichteten Hoffnungen beschreibt. Die gleiche Melodie sollte später noch, im Finale des Fidelio, die Befreiung der Gefangenen aus dem Kerker Pizarros symbolisieren. Ähnliche Hoffnungen wie auf Joseph II. wurden von aufgeklärten Künstlerkreisen anfänglich auch auf Napoleon gesetzt. Beethovens Sympathie für Napoleon, die später mit dessen Kaiserkrönung ins Gegenteil umschlug, ist im Zusammenhang mit der ursprünglich geplanten, später zerrissenen Widmung der Eroica bekannt. Nach der Befreiung vom Napoleonischen Joch richtete sich die Hoffnung aufgeklärter Kreise zunächst auf den Wiener Kongress, der vom 18. September 1814 bis 9. Juni 1815 tagte. Aus Anlass der Inthronisation Kaiser Leopolds II. komponierte Beethoven schon im September 1814, gewissermaßen als Gegenstück zur Trauerkantate, die Kantate Der glorreiche Augenblick (WoO 88). Der von Carl Bernard bearbeitete Text Aloys Weißenbachs lässt die auf Wien, das damals immer noch als Zentrum des Heiligen römischen Reiches deutscher Nation verstanden wurde, projizierten Ideale erkennen, wobei durchaus schon Motive aus dem Schlusschor der Neunten anklingen. Hier die wichtigsten Gedanken des Textes in Stichworten: „Europa steht! [...] du der Städte Königin, Vienna [...] Heil Vienna dir und Glück zum Bunde friedlicher Brüder sich die gelöste Menschheit küsst [...] Welt! Dein glorreicher Augenblick [...] nach meine[s] Kaisers Rechten greifen die Herrscherhände all, einen ewigen Ring zu flechten [...] O Volk, das gross getragen das blutige Geschick [...] kein Herz ist nah, das nicht sein Landesvater segnet [...] und diesen Glanz, und diesen Gloriebogen hat Gott in unserm Franz um eine ganze Welt gezogen.“ (Stahl 2009: 25f.)

War mit dem Kaiser Franz ein Ersatz für den „gütigen Vater“ gefunden, würde er die Erwartungen erfüllen, die Völker einen und den Frieden sichern können? Die dritte Strophe des Chores formuliert genau diese Erwartung: „Viele entzückte Völker steh'n rufend zu der herrlichen kronengeschmückten,

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Abb. 3: Kaiser Franz I. im Krönungsornat (um 1805/10) lichtumflossenen Gestalt: Steh' und Halt! Gib der großen Völkerrunde auf den Anruf Red' und Kunde.“

Das war um 1814 freilich nur noch reines Wunschdenken, denn die K&K-Monarchie hatte im Zuge der Machtpolitik Napoleons nicht nur einen Großteil ihrer Territorien, sondern auch ihre europäische Vormachtstellung unwiederbringlich verloren. Der prächtige Krönungsornat des Kaisers glich mehr einer Maskerade, als das er wirkliche Macht repräsentierte (Abb. 3). Die Kantate gehört – trotz einiger Schönheiten – sicher nicht zu Beethovens großen, mit Herzblut geschriebenen Kompositionen. Aber in den Jahren nach dem Kongress finden sich bereits erste Skizzen zur 9. Symphonie! Wie es um Beethovens politische Gesinnung kurz nach dem Kongress wirklich aussah, lässt ein Brief vom 15. Februar 1815 an Franz von Brentano erkennen:

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„ – was mich anbelangt so ist geraume Zeit meine Gesundheit erschüttert, wozu denn auch unser StaatsZustand nicht wenig beyträgt“ (Beethoven 1996: 26).

„Unser Staatszustand“: das war das Metternich-Regime, welches den verlorenen Zusammenhalt des Staates nur noch durch ein System der Repression und Bespitzelung notdürftig aufrechterhalten zu können glaubte. Beethovens Konversationshefte belegen, dass der Komponist an der politischen Diskussion regen Anteil nahm, so wenn Czerny ihn im Sommer 1822 durch den Eintrag warnen muss: „Ein andersmal – gegenwärtig ist der Spion Haensl hier“ (Köhler 1972a: 333). Carl Bernard schrieb im März 1820 an Beethoven: „Czerny hat gesagt, Sie wären ein zweyter Sand, sie schimpften über den Kaiser, über den Erzherzog, über die Minister. Sie würden noch an den Galgen kommen“ (Ebd.: 339). – Das also ist in groben Umrissen der Kontext, in dem Beethovens Neunte, insbesondere sein Chorfinale mit Schillers Freuden-Ode entsteht. Das Gedicht Schillers hat Beethoven zeitlebens fasziniert. So ist schon aus dem Jahre 1798 eine Skizze zum Vers: „Muß ein lieber Vater wohnen“ überliefert. Das war offenbar der Gedanke des Gedichtes, der ihn am meisten beschäftigte und der zur Zeit der Komposition immer noch von zentraler Bedeutung war. 1820 notierte Beethoven: „das Moralische Gesez in unß u. der gestirnte Himmel über unß Kant!!!“ (Köhler 1972b: 235) In diesem Sinne wird wohl auch das immer wieder exponierte „muß ein lieber Vater wohnen“ zu interpretieren sein – als kategorischer Imperativ. In welcher Form die Komposition umzusetzen sei, stand zunächst jedoch noch nicht fest. Im Sommer 1812 findet sich zwischen Arbeiten zur 8. Symphonie die Notiz: „Freude schöner Götterfunken Tochter Ouvertüre ausarbeiten“ (Stahl 2009: 34). War hier an die Ouvertüre zu einer Kantate oder gar an eine Konzertouvertüre gedacht? Die folgenden Jahre waren für Beethoven eine schwere Zeit. Der Brief an die „Unsterbliche Geliebte“ fällt in diese Periode, später der Streit um den Neffen Karl. Der Komponist der Eroica beschäftigte sich währenddessen mit der Bearbeitung Schottischer Lieder! Beethovens einstige Schaffenskraft schien am Ende zu sein. Aber wie nach einem längeren Kräfte­ stau tritt er plötzlich mit zwei ungeheuren Werken an die Öffentlichkeit. 1823 vollendet er die Missa solemnis op. 123, deren Bitte um inneren Frieden nach den Schreckensfanfaren des Agnus Dei in unmittelbarer Nähe zur Neunten op. 125 (1823 bis Anfang 1824) steht.

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Mit ersten Plänen zur Komposition einer neuen großen Symphonie trug sich Beethoven schon im Frühjahr 1822, also noch während der Arbeiten an der Missa. Über Ferdinand Ries ließ er bei der Harmonie-Gesellschaft nach einem Kompositionsauftrag anfragen. Der Gedanke, Schillers Ode zu vertonen, reicht jedoch schon in das Jahr 1792 zurück. So schrieb Bartholomäus Fischenich am 26. Jan. 1793 von Bonn aus an Charlotte Schiller: „Er [Beethoven] wird auch Schillers Freude und zwar jede Strophe bearbeiten“ (Thayer 1917: 303). Es handelte sich also offenbar um den Plan zu einer strophischen Komposition, vergleichbar der Lied-Vertonung der Ode von Franz Schubert aus dem Jahr 1815 („An die Freude“ D 189). Beethovens ursprüngliches Vorhaben sah also ganz anders aus, als das spätere Chorfinale der Symphonie mit seiner gezielt interpretatorischen Versauswahl. Diese Auswahl lässt Beethovens Intention eindeutig erkennen. Sein Thema ist das humanistische Ideal einer großen Menschheitsverbrüderung, aber nicht im Sinne der aufklärerischen „Vernunft“ (an diese glaubte Beethoven um diese Zeit wohl nicht mehr), sondern unter der Obhut des „liebenden Vaters“, der überm Sternenzelt wohnen muss. Es ist die beklemmende Erkenntnis von Einsamkeit und Gottesferne, die Beethoven bewegt, ein Schreckensbild, wie es Jean Pauls eingangs geschilderten Alptraum beschrieb. Erste Skizzen zur Freudenmelodie sind vermutlich im Frühjahr 1823 entstanden. Im Januar 1823 schrieb Beethoven in ein Konversationsheft: „Vieleicht hat Karl [gemeint ist Beethovens Neffe] Schillers Gedichte“ (Köhler 1976: 334). Wenig später entschied sich Beethoven für das Chorfinale, und er notierte die ersten vier Takte der Freudenmelodie. Diese Freudenmelodie, so schlicht und allerweltsmäßig sie erscheint, hat übrigens ein wohl kaum zufälliges Vorbild: in den Takten 23 und 24 des Misericordias Domini KV 222 von Wolfgang Amadeus Mozart aus dem Jahre 1775 ist sie deutlich zu hören. Dieses Mozart-Zitat scheint deshalb bedeutsam, weil es abermals die religiöse Intention von Beethovens Symphonie-Konzeption bestätigt: Die Barmherzigkeit Gottes gehört zu den zentralen Inhalten der gesamten Symphonie, welche im Finale zu ihrer eigentlichen Lösung gelangen. Ähnlich der Fünften gehört die Neunte ja zum Typus der sog. Final-Symphonie. Dem Finale gehen bekanntlich die drei Sätze Allegro, Scherzo und Adagio voran, und auch der Finalchor wird durch einen instrumentalen Teil eingeleitet. Schon in einem relativ frühen Stadium der Komposition

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stand für Beethoven fest, dass diese Einleitung aus dem thematischen Material der vorangegangenen Sätze bestehen sollte. Weiterhin plante er, die Verbindung zwischen Einleitung und Chor durch ein Rezitativ herzustellen. Die Umsetzung dieser Idee allerdings bereitete Beethoven einige Schwierigkeiten. Der Musiker Beethoven, der durch seine intensive Arbeit mit musikalischen Skizzen bekannt ist, rang auch bei diesen Worten um eine geeignete Formulierung wie die folgenden Varianten belegen: „Nein dieses würde unß erinnern / an unsern verzweifl /voll. Zu. (Zustand?) Heute ist ein feierlicher Tag / meine Fru (Freunde?) dieser sei gefeiert / durch/mit Gesang und (Tanz?Scherz?) / O nein dieses nicht etwas / ist es was ich fordere /andres gefäl-lig [...] Dieses ist es ha es ist nun gefunden Ich / selbst werde vorsingen Freude schöner.“ (Thayer 1923: 27–30)

Schließlich entschied er sich für das bekannte: „O Freunde, nicht diese Töne! Sondern lasst uns angenehmere anstimmen und freudenvollere!“ Offenbar war es Beethoven darum zu tun, die Freudenmelodie in einen deutlichen Gegensatz zu den Sätzen 1–3 und zur Instrumentaleinleitung des Finales zu stellen. Auf die unangenehmen, unerfreulichen, tragischen Töne des Lebens sollte das Chorfinale an die Freude folgen. Dem überleitenden Rezitativ geht gewissermaßen ein orchestraler Aufschrei, der Akkord f – a – cis – e – g – b voraus, ein Misston, der an Jean Pauls Alptraum erinnern mag. Die kompositorische Idee dieses Chorfinales wurde von jeher als Kühnheit empfunden und hat gewiss nicht wenig zur Popularität des Werkes beigetragen. Die Kritik reagierte freilich eher ablehnend: Das Ganze sei – so der berühmte Wiener Kritiker Eduard Hanslick – eine „ästhetische Ungeheuerlichkeit“. Denn der Chor stimme mit dem instrumentalen Teil der Symphonie nicht zusammen (Hanslick 1965: 50). Nun, das sollte er ja auch nicht! Im genannten Akkord f – a – cis – e – g – b treffen gewissermaßen zwei Klänge aufeinander, der übermäßige Akkord f – a – cis und der verminderte Akkord e – g – b. Die Kombination von Instrumentalmusik und Finalchor war bei Beethoven an sich gar nicht so neu: Das Chorfinale der Neunten hat nämlich einen „kleineren“ Vorgänger in Beethovens Chorfantasie op. 80. Beethoven selbst weist anlässlich der geplanten Symphonie gegenüber dem Verlag B. Schotts Söhne in einem Brief vom 10. März 1824 auf diese kleinere Schwester hin:

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„eine neue große Sinfonie, welche mit einem Finale (auf Art meiner Kla­ wier-Fantasie mit Chor 4) jedoch weit größer gehalten mit Solo's u. Chören von Singstimmen die worte von Schillers unsterbl. bekannten lied an die Freude schließt“. (Beethoven 1997: 278)

Rein formal bestehen tatsächlich einige Parallelen zwischen diesen beiden Werken. Auch in der Chorfantasie erklingt das Thema des Chores zuerst rein instrumental. Doch erscheint hier der Chor durchaus als die logische Konsequenz des Vorangegangenen: Klavierfantasie → Orchesterteil → Chorteil. Einen Gegensatz zwischen Instrumentalteil und Chor wie in der Neunten baut Beethoven in der Chorphantasie jedoch nicht auf. Wenn Hanslick in der Kombination von Instrumentalteil und Chorfinale nur eine ästhetische Ungeheuerlichkeit erblicken konnte, so deutete sein großer Gegenspieler Richard Wagner das Chor-Finale umgekehrt als logische Konsequenz einer Entwicklung der Instrumentalgattung Symphonie, die er mit der Neunten an einem nicht mehr zu überbietenden Höhepunkt angekommen sah. Was sollte auf diese Symphonie noch folgen? Beethoven selbst schien laut Wagner hier an eine Grenze des Ausdrucksvermögens gelangt zu sein, welche nur dadurch zu überwinden war, dass er im Finale der Neunten zum Wort griff. Wagner verband damit seine eigene Vorstellung von der Einheit der Künste im musikalischen Drama, in welchem die instrumentale Gattung der Symphonie dialektisch aufzuheben sei. Wie Columbus über den Ozean in unbekannte Weiten vordrang und endlich neues Land vor sich sah, so sei Beethoven über das unendliche Meer der absoluten Instrumentalmusik geschifft, bis er schließlich im Schlusschor der Neunten wieder neues Ufer und festen Boden gewann. Rüstig habe er den Anker ausgeworfen, und dieser Anker war das Wort. „Dieses Wort war: – ‚Freude!‘ Und mit diesen Worten ruft er den Menschen zu: ‚Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuß der ganzen Welt!‘ – Und dieses Wort wird die Sprache des Kunstwerkes der Zukunft sein.“ (Wagner [1911]: 96)

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So weit Wagners Mythos von der Erlösung der absoluten Musik durch das Wort im Finale der Neunten Symphonie Beethovens, das für ihn unmittelbar in sein „Kunstwerk der Zukunft“1 mündet. Mag diese Deutung dahingestellt bleiben, aber einen „erlösenden“ Gegensatz zwischen dem instrumentalen Teil und dem Chorfinale baut Beethoven, vermittelt durch das Rezitativ sehr wohl auf. Etwas Neues, Angenehmeres und Freudenvolleres soll nach den Kämpfen des instrumentalen Dramas beginnen. Ist die Ode also so etwas wie eine Negation der Negation, und muss Beet­ hoven deshalb zum Text greifen, weil Musik allein eine solche Negation schlechtweg nicht ausdrücken kann? Jenseits aller ideologischen Vereinnahmung für sein Gesamtkunstwerk kam Wagner diesem Gedanken schon sehr nahe, wenn er am 7. Juni 1855 an Franz Liszt [im Zusammenhang mit dessen Dante-Symphonie] schrieb: „Der letzte Satz mit den Chören [ist] entschieden der schwächste Theil, er ist bloß kunstgeschichtlich wichtig, weil er uns auf sehr naive Weise die Verlegenheit eines wirklichen Tondichters aufdeckt, der nicht weiß, wie er endlich (nach Hölle und Fegefeuer) das Paradies darstellen soll.“ (Wagner 1988: 204)

Zweifellos hat auch Beethoven mit seinem Chorfinale eine Konzeption quasi „dall Inferno al Paradiso“ vorgeschwebt, die sich auf eine lange Tradition berufen konnte. Sie reicht bis auf die Offenbarung des Johannes zurück. Das Chorfinale repräsentiert so etwas wie das „neue Lied“, welches die zur Seligkeit Auserwählten der Apokalypse dem Herrn (Off b. 14,2) singen. Und wahrhaft apokalyptische Töne sind es ja, welchen der Sänger des Rezitativs, einem Posaunenengel gleich, Einhalt gebietet. Eine neue, paradiesische Zeit bricht nach dem Fall Babylons an. Auch das Finale der Neunten Symphonie Beethovens ist ein großes Fest, nicht nur das Fest einer Nation, sondern das Fest der Menschheit – ein Fest, in dem sich eine neue, erlöste Gesellschaft versammelt. Der letzte Satz soll – wie der Musikwissenschaftler Wilhelm Seidel in seinem Beitrag der Beethoveninterpretationen – bemerkt, einem Prinzip der Musik Geltung verschaffen, welches gerade Beethoven mit seiner 1 | Bei Wagner ein Kunstwerk, das nicht nur die Einheit der Künste postuliert, sondern auch grundlegend veränderte soziale und kulturelle Verhältnisse voraussetzt.

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Dramatisierung der Gattung Symphonie seit der Eroica, ja sogar der Gattung Messe in der Missa solemnis, grundsätzlich in Frage gestellt hatte – das Prinzip der Delektabilität, der Freude (Seidel 1996: 256). Deutsche Komponisten hatten schon im 18. Jahrhundert begonnen, die Delektabilität der Musik der Wahrheit ihres Ausdrucks zu opfern. Ein sozialkritischer Geist bemächtigte sich der Musik, bei keinem Komponisten aber so entschieden wie bei Beethoven. Beethovens Musik bewegt – mit E.T.A. Hoffmann zu reden – „die Hebel der Frucht, des Schauers, des Entsetzens, des Schmerzes“ (Hoffmann 1810: Sp. 633), nicht aber der Freude. Das Finale unternimmt nun aber laut Seidel den Versuch, den anderen drei Sätzen, die er im Finale eingangs nochmals zitiert, ein neues Prinzip der Freude entgegenzusetzen. Diese Freude ist aber nicht mehr – wie noch bei Mozart – die natürliche Eigenschaft des Schönen, des Spiels mit Tönen und Klängen. Sie ist vielmehr das Produkt einer kompositorischen Leistung. Sie ist die Errungenschaft musikalischer Arbeit; daraus erwächst auch ihr moralischer Anspruch (vgl. Seidel 1996: 256). Der Stilbruch des Finales, den Hanslick kritisierte, ist somit das zentrale Ereignis der Symphonie überhaupt. Ohne diesen Stilbruch hätte Beethoven die Projektion einer menschenfreundlichen Zukunft nicht in Töne fassen können. In diesem Sinne schrieb Claude Debussy über die Neunte: „Eine überströmende Menschlichkeit sprengt die herkömmlichen Grenzen der Symphonie; sie bricht aus seiner freiheitstrunkenen Seele hervor [...]: daher dieser tausendstimmige Anruf seines Genius an die niedrigsten und ärmsten seiner Brüder. Ist er von ihnen gehört worden? Beunruhigende Frage.“ (Debussy 1974: 34)

Den Optimismus des Finales – so konstatiert Wilhelm Seidel weiter – hat die Geschichte grausam widerlegt. Damit hänge es zusammen, dass man die großen Worte, die großen Gesten, das große Pathos, die hinreißende Dynamik, die das Finale prägen, wohl für die Dauer ihrer Darbietung mit vollzieht, dabei aber nie vergisst, dass man einen geschichtsphilosophischen Entwurf nachlebt, der sich nicht bewahrheitet hat (Seidel 1996: 270f.). Schillers Text und noch Beethovens humanistisches Finale haben laut Seidel aber auch noch eine Kehrseite: Welche Freiheit lassen Schiller und Beethoven denen, die sich nicht auf die große Verbrüderung einlassen, die anderen, die sich nicht gleichmachen, nicht umarmen lassen wollen?

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Oder zugespitzt gesagt: Wie geht die große Menschengemeinschaft mit ihren Gegnern um? Schiller hat sie nur des Raumes verwiesen. Beethoven bekriegt sie sogar. – Gemeint ist die sog. Türkenmusik des alla marcia Teiles zum Text des Tenorsolos: „Froh wie seine Sonnen fliegen [...] laufet Brüder eure Bahn!“ Das stimmt bedenklich. Und so muss es nach Seidel nicht verwundern, dass viele den Ausgang wählen, den ihnen Schiller weist und weinend gehen. Denn auch ihre Musik, die türkische, die andere Musik, habe eine ganz eigene Attraktivität (Seidel 1996: 271). Das Finale der Neunten birgt somit die Gefahr aller Gesellschaftsentwürfe, die glauben, im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein. Und so ist diese Symphonie denn auch gerade von diktatorischen Systemen stets in diesem einseitigen Sinne aufgefasst und missbraucht worden. „Mit Politik kann man keine Kultur machen, aber vielleicht mit Kultur Politik“ (Heuss 1951: 18). Dieser Ausspruch, er stammt von Theodor Heuss, dem Bundespräsidenten zur Zeit Konrad Adenauers, trifft auch auf die Neunte Beethovens zu. Aber diese Symphonie ist heute nicht mehr Beethovens Symphonie d-Moll op. 125 – sie ist „die Neunte“. Das heißt, sie hat eine Geschichte in sich aufgenommen – die Geschichte Europas. Im Verlauf dieser Geschichte wurde sie zu den unterschiedlichsten Zwecken instrumentalisiert: „Mit der IX. auf die Barrikaden, mit der IX. an die Front, mit der IX. gut ins neue Jahr, mit der IX. die Völkerfreundschaft besiegeln, mit der IX. das Deutschtum bekräftigen, mit der IX. Europa besingen.“

Die Neunte erklang anlässlich der Verkündigung von Stalins Verfassung und anlässlich der Gründung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, der SED (Stähr 1994: 263). Während der Zeit des kalten Krieges und der deutschen Spaltung entbrannte gerade an der Neunten ein regelrechter Erbstreit: Der Riss ging nicht nur durch das geteilte Land mit seinen ganz unterschiedlichen Ansprüchen auf Beethoven und sein Werk, sondern buchstäblich durch die Partitur der Neunten selbst: Nach dem Krieg lagerte ein Teil des Auto­ graphs nämlich in der DDR, ein anderer Teil aber in der Bundesrepublik. Der Riss führte genau durch die kontrapunktische Verflechtung der beiden Phrasen „Freude, schöner Götterfunken“ und „Seid umschlungen Millionen“, da wo die Alt-Stimmen „Diesen Kuß der ganzen Welt“ (Finale

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T. 697–700) singen! (Stahl 2009: 45) Ausgerechnet diese Stelle also war es, die hier zum wahren Judas-Kuss geriet! Erst 1997 konnten die verstreuten Teile der Partitur wieder zusammengefügt werden. Dabei hatten sich die Ideologen aller Couleur stets bemüht, den Einheitsgedanken in Beethovens Musik hervorzukehren und das Neue Lied des Chorfinales für sich zu reklamieren: „Mit heiliger Freude dürfen wir feststellen: heute ist die Zeit gekommen, in der sich Beethoven erfüllt, heute sind seine Werke Allgemeingut geworden, nicht nur der Musiker, nicht nur der Intellektuellen, sondern des ganzen Volkes“,

verkündete der Völkische Beobachter vom 26. März 1937 (Skopik 1937: o. S). Ganz ähnlich argumentierten die SED-Ideologen der DDR, welche meinten, erst im Sozialismus sei die Zeit angebrochen, in dem Beethovens Ideale verwirklicht würden. Und natürlich kehrten auch sie die große Volksgemeinschaft hervor: „Die Ehrung Beethovens ist Sache des ganzen Volkes“, war im SED-Blatt Neues Deutschland am 5. Dez. 1970 zu lesen. Ausgerechnet die Veranstalter des Bonner Beethovenfestes 1977 setzten diese Parole mit einer großen Massenveranstaltung in die Tat um. Aus 6000 Kehlen erklang Beethovens Hymne an die Freude über dem Marktplatz in Bonn (Bonner General-Anzeiger vom 28. März 1977: zitiert nach Stahl 2009: 107). Die Definition des Humanismus unterschied sich in Ost und West an sich wenig. Der humanistische Gedanke stand für die Silvester-Aufführungen hüben wie drüben. Auch Anekdoten über die Begeisterung der Staatsoberhäupter in Ost und West von der Neunten wurden verbreitet, und sie unterschieden sich kaum voneinander: Hier ein Beispiel aus der DDR: „Eine besondere Freude bereitet Walter Ulbricht der Besuch eines Konzerts am Silvesterabend. Auch das hat er von seinen Eltern geerbt, die ihn Silvester in die Neunte Symphonie von Beethoven mitnahmen.“ (Offen für alles Gute und Schöne, in : Der Spiegel, 13, H. 41 (1959): zitiert nach Stahl 2009: 111)

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Wie rührend! Und hier ein Beispiel aus der Bundesrepublik: „Wenn Ludwig Erhard das Regierungsgeschäft wieder einmal zu sehr mitgenommen hat, pflegt er Westrick zu einer Flasche Wein und zum Anhören von Beethovens IX. Symphonie einzuladen“ (Schröder 1964: 30).

Immerhin schien Ludwig Erhard instinktiv gespürt zu haben, dass die Ode an die Freude ursprünglich ein Trinklied war! Um mit Musik Politik zu machen, musste man sie nicht verstehen, ja musste sie nicht einmal hören, es reichte, über sie zu reden oder zu schreiben. Was ist es eigentlich, was gerade die Neunte als Projektionsfläche für die unterschiedlichsten ideologischen Interessen und Ideale so geeignet erscheinen lässt? Ihre einzigartige Größe, welche die Komponisten nach Beethoven, insbesondere Richard Wagner in eine Krise des Komponierens stürzen ließ, ist es gewiss nicht. Wohl aber ist es der hymnische Charakter der berühmten sechzehn Takte, deren volkstümliche Eingängigkeit beim Publikum eine Wiedererkennbarkeit und hohe Sympathie ermöglichte. Mit anderen Worten: die Symphonie wurde nie als ganze rezipiert. Ihre Popularität beruht vielmehr auf einer – unzulässigen – Vereinfachung, der Reduktion auf die „Freudenmelodie“. Den absoluten Höhepunkt einer solchen Reduktion erreichte wohl der spanische Sänger Miguel Rios mit seinem Song of Joy. Er schaffte es 1970, 24 Wochen in der deutschen Hitparade zu bleiben, davon sieben Wochen sogar auf Platz 1. Der Welthit verkaufte sich 7 Millionen mal. Beethoven war endlich auch in der Musikindustrie angekommen! (Stahl 2009: 130) Dabei ist ein merkwürdiges Rezeptionsphänomen zu beobachten: Es erklingt „Come sing a Song of Joy“ und der Hörer glaubt, Beethovens Neunte zu hören! Aber diese Popularität der Neunten beruht eigentlich auf einer Täuschung oder einem Missverständnis, wie es dem Nato-Oberbefehlshaber Lyman Lemnitzer in besonders peinlicher Weise passierte. Als die Freudenmelodie bei der Grundsteinlegung des neuen Militärhauptquartiers in Casteau (Belgien) erklang, erhob der Vier-Sterne-General die Hand zum Salut. Offenbar hatte er diese Musik für die belgische Nationalhymne gehalten! (Deutsche Töne, in: Der Spiegel, 21, H. 45 (1967): zitiert nach Stahl 2009: 112)

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Tatsächlich wäre die Freudenmelodie schon einmal beinahe zur National-Hymne der Bundesrepublik avanciert. Bei den olympischen Winterspielen 1952 in Oslo entstand die peinliche Situation, dass man nicht wusste, welche Nationalhymne für die gesamtdeutsche Mannschaft zu spielen sei. Da die DDR vom olympischen Komitee nicht als selbständiger Staat anerkannt wurde, wählte man die Freudenmelodie als unverfängliche Notlösung. Das „Deutschlandlied“ erschien nicht nur den Ostdeutschen, sondern auch vielen Westdeutschen nach dem Krieg problematisch, daher erwog man nach dieser olympischen Erfahrung, die „Ode an die Freude“ überhaupt als bundesdeutsche Nationalhymne zu verwenden (Ebd.). Die Ersatzlösung der Neunten für eine gemeinsame Nationalhymne wurde übrigens in der Süddeutschen Zeitung vom 14. Februar 1952 sarkastisch kommentiert: Es sei bedauerlich, dass nur der Anfang gesungen wurde, denn erst im zweiten Vers werde die Eignung des Gedichtes für sportliche Veranstaltungen offenbar: „Wem der große Wurf gelungen..., mische seinen Jubel ein.“ (Das Streiflicht, Süddeutsche Zeitung vom 14 Februar 1952: zitiert nach Stahl 2009: 113) Später wurde überlegt, die Melodie des Deutschlandliedes mit einem neuen Text zu versehen: „Deutschland, dir bin ich ergeben, denn Du bist mein Vaterland; Alles Sinnen, Schaffen, Streben ist dir innig zugewandt. Einigkeit und Recht und Freiheit für das Deutsche Vaterland. Danach lasst uns alle streben brüderlich mit Herz und Hand.“ (Stahl 2009: 115) 2

Aber auch dieser Versuch setzte sich nicht durch. Immerhin bewies man schließlich doch noch so viel Geschichtsbewusstsein, angesichts der wechselhaften Geschichte der Neunten Symphonie im Nationalsozialismus und Stalinismus vom Vorhaben der Freudenmelodie als neuer Nationalhymne abzusehen.

2 | Man beachte die Ähnlichkeit der DDR-Nationalhymne auf den Text von Joh. R. Becher, komponiert von Hanns Eisler! Dieser Text ließe sich nicht nur auf die Melodie von Beethovens Freudenode und Haydns Kaiserquartett, sondern auch ohne weiteres auf die Melodie der DDR-Hymne singen!

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Doch diese Skrupel mit der Freudenmelodie scheinen doch nur ein typisch deutsches Phänomen zu sein. International bestehen sie nicht. Der Generalsekretär der UNESCO, Jaim Torres Bodet, hob 1952 im Plenarsaal des Bundeshauses in Bonn bei seiner Rede am 14. Januar 1952 die Bedeutung der Neunten für die Völkergemeinschaft nach dem Krieg hervor: „Nach einem furchtbaren Krieg bot das deutsche Vaterland, zu Tode getroffen, zerrissen, wohl nur einen Anblick des Elends und der Vereinsamung. Seine Wunden sind auch heute noch nicht alle geschlossen, es leidet noch immer unter zahllosen Spaltungen und Widersprüchen. [...] Nicht umsonst antworten die Massen mit außergewöhnlicher Inbrunst auf den Hymnus ‚Seid umschlungen, Millionen‘. [...] Möge künftighin dieser Appell Deutschlands Geschicke leiten, wie er den unerschütterlichen Willen aller Völker zu Ausdruck bringt, die sich nach Licht und Frieden sehnen.“ (Manuskript Beethoven-Haus Bonn: zitiert nach Stahl 2009: 123)

Im April 1959 feierte der Europarat seinen 10. Jahrestag mit der Neunten und 1972 wurde die Freudenmelodie zur offiziellen Hymne der Europäischen Union. Auch in internationalem Rahmen machte die Neunte somit eine politische Karriere. Was als „Europa-Hymne“ von Beethovens Neunter bzw. deren gewaltigem Finale jedoch übrigbleibt, demonstriert ohrenfällig eine rein instrumentale Version dieser Hymne für Blasorchester und Streicher. Sie stammt von keinem geringeren als Herbert von Karajan. Was macht dieses Stück zur „Hymne“? Seine Simplizität, seine eingängige Kürze? Seine unreflektierte Naivität? Das Volk braucht klare einfache Worte, einfache Melodien! Stimmt das – wirklich? Die Volkstümlichkeit des Freudenthemas wurde in Ost und West von jeher betont. Hans Heinz Stuckenschmidt leitete daraus 1970 gerade die hymnische Potenz der Symphonie ab: „Das Freudenthema der 9. Sinfonie ist wahrhaft ein ‚Nichts‘ an höherer Kunst, ein fast automatischer Reflex von Singweisen, wie sie das Volk pflegt und wie sie in Nationalhymnen gelegentlich mit semantischer Kraft aufgeladen werden können.“ (Stuckenschmidt 1970: 5)

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Es verwundert daher auch gar nicht, wenn Herbert von Karajan in seiner Bearbeitung der Freudenmelodie gerade diesen Ton anstimmt. Die Freudenmelodie für Blasorchester! Dazu kann man zwar nicht unbedingt mehr singen, aber trefflich marschieren! Hymnen sind ursprünglich Lobgesänge an die Gottheit. Nicht nur im Sinne kniefälliger Verehrung, sondern auch als suggestive Projektionen von Idealen und Wünschen. Ist die Idee des Vereinten Europa so etwas wie die Ersatzgottheit unserer Zeit? Beethovens Symphonie und auch ihr Schlusschor ist jedoch keine Hymne, kein Loblied. Es ist vielmehr ein gewaltiges Drama, das vom Ringen der Menschheit um ein menschenwürdiges Leben in Freiheit und friedlicher Gemeinschaft handelt. Beet­ hovens Textauswahl und seine Musik zeigen, dass dieses Leben – mit Goethe zu reden – täglich neu erobert werden muss. Und Beethoven weiß um die Gefahren dieses Kampfes. Die in extrem hoher Lage geführten Gesangsstimmen, die ans Schreien grenzen, der enorme orchestrale Aufwand, das alles zeugt von der gewaltigen Anstrengung, die hier vonnöten ist. Vor allem aber ist Beethovens Finale eine großartige Beschwörung des liebenden Vaters überm Sternenzelt, der da wohnen muss, weil sonst der ethische Maßstab alles Irdischen fehlt. Sein Finale ist kein hymnischer Lobpreis des Bestehenden, es ist vielmehr ein Appell an die Menschheit, eine Aufforderung zum menschlichen Handeln, die heute mehr denn je ihre Gültigkeit hat. „Seid umschlungen, Millionen! Brüder über'm Sternenzelt muß ein lieber Vater wohnen!“

Eine Konfrontation dieses Beethovenschen Ideals mit der europäischen Wirklichkeit unserer Tage sei dem eigenen Urteil eines jeden einzelnen anheimgestellt. Nur ein kleiner Denkanstoß sei dazu gegeben. Die schematische Darstellung der Europäischen Union als Gebäude ist – von Zeit zu Zeit aktualisiert – im Internet zu finden (Abb. 4). Das Gebäude hat drei Säulen und sogar ein Dach darüber – aber wird das für eine Bewältigung der anstehenden sozialen, ökonomischen und religiösen Probleme ausreichend sein? Die Zukunft wird zeigen, was Europa singen wird – das alte Lied von Macht, Reichtum und Krieg oder das verheißene „Neue Lied“ von Frieden und Freude der Neunten Symphonie.

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Abb. 4: Die europäische Union

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Seid umschlungen, Millionen!

Köhler, Karl-Heinz u. a. (Hg.) (1972): Ludwig van Beethovens Konversationshefte, Bd. 1, H. 9, Leipzig, S. 333. Zitiert nach Stahl 2009, S. 32. Köhler, Karl-Heinz u. a. (Hg.) (1972): Ludwig van Beethovens Konversationshefte, Bd. 1, H. 9, Leipzig, S. 339. Zitiert nach Stahl 2009, S 32. Köhler, Karl-Heinz u.a.(Hg.) (1972): Ludwig van Beethovens Konversationshefte, Bd. 1, H. 7, Leipzig, S. 235. Zitiert. nach Seidel, Wilhelm (1996): Neunte Symphonie op. 125, in: Riethmüller, Albrecht / Dahlhaus, Carl / Ringer, Alexander L. (Hg.): Beethoven. Interpretationen seiner Werke. Laaber2 1996, S. 253–271. Köhler, Karl-Heinz u. a. (Hg.) (1976): Ludwig van Beethovens Konversationshefte, Bd. 2, H. 21, Leipzig, S. 334. Zitiert nach Stahl 2009, S 37. Lühning, Helga (Hg.) (1989): Beethoven zwischen Revolution und Restauration. Bonn. Moritz, Karl Philipp (1786): Andreas Hartknopf. Eine Allegorie. Berlin. Moritz, Karl Philipp (1963): Andreas Hartknopfs Predigerjahre (1790), Faks.-Druck der Originalausgabe, hg. von Hans Joachim Schrimpf, Stuttgart. Paul, Jean (1959–1963): Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs, Erstes Blumenstück: Rede des toten Christus, in: Miller, Norbert / Lohmann, Gustav (Hg.): Jean Paul, Werke. 1. Abt., Bd. 2, München, S. 393–402. Roch, Eckhard (1998): Trost der Musik. Der ästhetische Paradigmenwechsel zwischen Aufklärung und Romantik, in: Kolleritsch, Otto (Hg.): Das gebrochene Glücksversprechen – Zur Dialektik des Harmonischen in der Musik (Studien zur Wertungsforschung 33). Wien / Graz, S. 38–55. Rousseau, Jean-Jacques (1982): Sozialphilosophische und Politische Schriften. Vom Gesellschaftsvertrag. München. Runge, Philipp Otto (1981): Brief an Johann Heinrich Besser in Hamburg, 3. April 1803, in: Betthausen, Peter (Hg.): Runge, Schriften. Berlin, S. 130–131. Schiller, Friedrich (1943): Ode an die Freude, in: Petersen, Julius (Hg.): Schillers Werke, Nationalausgabe, Bd. 1, Gedichte. Weimar, S. 169–172. Schiller, Friedrich (1961): Brief an Christian Gottfried Körner, in: Blumenthal, Liselotte (Hg): Schillers Werke, Nationalausgabe, Bd. 30, Briefwechsel. Weimar 1961, S.206–207. Zitiert nach Stahl 2009, S. 39.

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Schiller, Friedrich (1962): Zweiter Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen, in: Wiese, Benno (Hg.): Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 20, Philosophische Schriften. Erster Teil. Weimar, S. 310–312. Schröder, Dieter (1964): Der Hauch des Eises ist gewichen, in: Der Spiegel, 18 (1964). Zitiert nach Stahl 2009, S. 111. Seidel, Wilhelm (1996): Neunte Symphonie op. 125, in: Riethmüller, Albrecht / Dahlhaus, Carl / Ringer, Alexander L. (Hg.): Beethoven Interpretationen seiner Werke. Laaber, S. 256–271. Skopik, E.: Beethoven zum Gedächtnis, Völkischer Beobachter vom 26. März 1937. Zitiert nach Stahl 2009, S. 107. Stähr, Wolfgang (1994): IX Symphonie in d-Moll, op. 125, Analyse und Essay, in: Ulm, Renate (Hg.): Die 9 Symphonien Beethovens. Kassel, S. 246–263. Stahl, Christina M (2009).: Was die Mode streng geteilt? Beethovens Neunte während der deutschen Teilung. Mainz. Stuckenschmidt, Hans Heinz (1970): Beethoven heute: Gedanken zu einem zeitgemäßen Beethoven-Bild, in: Deutsche Welle/Öffentlichkeitsarbeit: Beethovenjahr 1970: eine Hörfunkreihe der Deutschen Welle. Köln. Zitiert nach Stahl 2009, S. 130. Thayer, Alexander Wheelock (1917): Ludwig van Beethovens Leben, Bd. 1, Leipzig. Thayer, Alexander Wheelock (1923): Ludwig van Beethovens Leben, Bd. 5, Leipzig. Wagner, Richard [1911]: Das Kunstwerk der Zukunft, in: Ders: Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 3. Leipzig, S. 42–178. Wagner, Richard (1988): Brief an Franz Liszt vom 7. Juni 1855, in: Bauer, Hans-Joachim / Forner, Johannes (Hg.): Richard Wagner. Sämtliche Briefe, Bd. 7, Briefe März 1855 bis März 1856. Leipzig, S. 203–209.

Europäische Bildung durch Musik Christoph Richter

V orbemerkung Das Ziel oder wenigstens der Wunsch der europäischen Länder und der in ihnen lebenden Menschen ist es, als friedliche Gemeinschaft und in gegenseitigen Anregungen für ein gutes gemeinsames Leben zusammen zu leben. Die Voraussetzung hierfür – das ist die These meiner Überlegungen – ist die Balance zwischen Eigenständigkeit und Individualität der Völker, Länder und Menschen auf der einen und der Gemeinsamkeit, der gegenseitigen Achtung, dem gegenseitigem Verständnis, der gegenseitigen Hilfe, dem Gefallen aneinander und Interesse füreinander auf der anderen Seite. Die Grundlagen und Voraussetzungen für die Annäherungen an diese Ziele finden sich in einer Lebensgestaltung, welche diese Balance in der Kultur, in der Religion oder Weltanschauung, in der Bildung und im alltäglichen Leben erfüllt. Das gilt vor allem deshalb, weil immer wieder die Neigung durchschlägt, in den Bereichen Außenpolitik, Wirtschaft und Finanzen eigene nationale Ziele zu verfolgen oder gar andere Länder zu nötigen und zu belehren. (Als Erinnerung: Für Aristoteles war Geld nur als Tauschmittel ein sinnvoller Gegenstand, nicht als Selbstwert, und als Lebenskonzept; Aristoteles Eth. Nic. V, 1133, a 19–b 9) Auffällig und zugleich ärgerlich ist die Unterwerfung der Bildungsund Erziehungsbemühungen unter die wirtschaftlichen Ziele und Interessen der Europapolitik und –planung. Ich zitiere hierzu einige Sätze aus der Lissabonvereinbarung, in der es um Schlüsselkompetenzen der Bildungsplanung geht:

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„Die Lissabon-Strategie zielt darauf ab, Europa zum ‚wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen‘. Dabei wurde bestimmt, wie die Systeme der Bildung und Ausbildung dazu beitragen können, diese Zielvorstellung zu erreichen.“ (meNet Lernergebnisse in der Musiklehrerausbildung: 10 f.)

Von der Notwendigkeit einer Balance zwischen europäischer Gemeinschaft und individual-nationaler Eigenständigkeit ist hier keine Rede. Ziel der folgenden Überlegungen ist es, im kleinen Bereich der Musik und des Umgangs mit ihr (z. B. beim Musizieren) Möglichkeiten dieser Balance aufzuzeigen, und auch darauf hinzuweisen, wie selbst ein so kleiner Bereich wie die Musik Wirkung auf andere Lebensbereiche deutlich machen kann.

W ie klingt E uropa – I? Einleitend nehme ich diese programmatische Frage auf, indem ich Überlegungen zum Zustand, zu den Wünschen und vor allem zu den Voraussetzungen einer kulturgeleiteten Europa-Union anstelle. Meine Überlegungen sind so etwas wie eine Komposition in drei Sätzen, mit den Überschriften „In fremden Ländern und Völkern“, „Aus alten Zeiten“, und „Hoffnungsvolle Improvisationen“. Die Politik der Europa-Union wird seit ihrem Bestehen vor allem von den Bereichen und Interessen der Wirtschaft, der Finanzen und vom Aufbau außenpolitischer Vereinigungsstrukturen wahrgenommen und dominiert. Dass Konzepte und Probleme dieser Bereiche zurzeit im Vordergrund der Aktivitäten stehen, liegt auch daran, dass andere Bereiche nur als „Querschnittsaufgabe für alle Politikbereiche der EU“ apostrophiert werden.1 Diese anderen Bereiche werden in den EU-Verträgen unter den Fragen nach Bildung, Lebensweisen der Jugend, Forschung, Medien und anderen als ‚Kultur‘ zusammengefasst.

1 | Als „Kulturförderung“ nach Artikel 128 des Maastricher und nach Artikel 167 des Lissabonner Vertrags, Kulturagenda vom November 2007 des Ministerrates.

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Diese unklare Formulierung lässt sich in zwei Tendenzen interpretieren. Entweder werden die Querschnittsaufgaben als marginale Zutaten und Events und als so etwas wie ‚Kunst am Bau‘ verstanden, für die alle oder keiner zuständig sind bzw. ist. Oder sie sollen und müssen – vor allem die Kultur und die Bildung – eine elementare Grundlage für alle anderen Bemühungen der Einigung bilden. Tatsächlich jedoch ziehen sich die mächtigen außenpolitischen EU-Architekten darauf zurück, anderen den kulturellen Ausbau und die kulturgeleitete Inneneinrichtung des riesigen EU-Gebäudes zu überlassen. Das sieht man daran, dass im Brüsseler Mammutunternehmen die Bereiche Kultur und Bildung sich ausdrücklich auf Projektförderung beschränken, also auf die finanzielle oder logistische Förderung von Anträgen interessierter und kompetenter Organisatoren der einzelnen Länder oder länderübergreifender Institutionen. Das hat Nachteile und Vorteile. Die Nachteile bestehen im Gießkannenprinzip, im Prinzip der Förderung guter Beziehungen oder in interessengeleiteter Vereinzelung, getrieben von der Hoffnung, es werde sich aus einzelnen beliebigen Projekten eine Einheit von selbst ergeben. Diese Art von Einheit würde vielleicht in betriebsamer Kommunikation bestehen, ohne zu fragen, wie ‚Kultur und Bildung‘ wirklich Einfluss auf politisches, ökonomisches und finanzielles Handeln geltend machen können. Ich nenne dies den sorglosen kulturellen Europa-Optimismus. Der Vorteil hingegen kann darin gesehen werden, dass nicht Behörden, nicht nationale Interessen und ihr Ausgleich, nicht Kulturtourismus-Denken, nicht nur der Glaube an freundliche internationale Begegnungen als schmückende Zutaten den politischen Alltag erheitern, sondern dass Kultur und Bildung von denen bedacht und verwirklicht werden, die sich über die grundlegende Wichtigkeit Gedanken machen – anthropologisch, interkulturell, ethnologisch, kulturphilosophisch – und von solchen Menschen, die etwas davon verstehen. In beiden Fällen, bei den scheinbaren Nachteilen wie Vorteilen sollte zunächst Klarheit darüber herbeigeführt werden, wie die Bereiche der Kultur und der Bildung mit den scheinbar wichtigeren Bereichen, die sich mit Verfassungen, Wirtschaft, Finanzen, Freizügigkeit der Lebens- und (ht tp://menet.mdw.ac.at/menetsite/Medien/meNetLearningOutcomes.pdf ) (Abruf: 19.1.2016).

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Arbeitsorte beschäftigen, zusammenhängen oder sogar gegenseitig von einander abhängig sind. Dazu muss man freilich wissen oder zumindest bedenken, was Kultur und Bildung bedeuten, für die einzelnen Menschen, für das Zusammenleben in Regionen, Landschaften und Traditionen, für die Geschichte und das Selbstverständnis von Ländern. Ich beschränke die folgenden Überlegungen auf den kleinen Bereich der Musik und der musikalischen Bildung.

W ie klingt E uropa – II? Die musikalische Kultur- und Bildungsförderung hat allen Grund, auf ihre Vielfalt, auf ihre Lebendigkeit und auf ihre Erfolge stolz zu sein. Auf sie kann verheißungsvoll das aufgebaut werden, was ich soeben gefordert habe. Beispiele, von denen einige mehr das Musikleben und andere mehr die Musikpädagogik betreffen, können das verdeutlichen. 1) Seit einigen Jahren trifft sich alljährlich die Konferenz der Rektoren und Präsidenten der europäischen Musikhochschulen oder Konservatorien. Ihre Themen sind die Vergleichbarkeit und Anerkennung der Studiengänge und der Abschlüsse; die Möglichkeiten eines zumindest europäischen Studienplatzwechsels; gegenseitige Konzertreisen. Die Beschlüsse dieses Gremiums eröffnen den Beteiligten länderübergreifende Studien. Auf diese Weise können die unterschiedliche Art des Musizierens, des Übens, des musikalischen Denkens und der Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden kennen gelernt, übertragen und erweitert werden. Auch gibt es die Chance, besondere Schwerpunkte einzelner Länder zu erproben, für welche bestimmte Ausbildungsstätten bekannt sind: der Jazz, die historische Musikpraxis und die Orgelkunst in Holland, Gesang und Chorleitung in England, elementare Musikerziehung im Orff-Institut in Salzburg, vielleicht die Musiktheorie und das Ensemblespiel in Deutschland; enge Beziehungen zwischen der Musikpädagogik und dem allgemeinen Musikleben in Finnland sowie die äußerst interessanten Spielarten der jungen Kammermusikensembles. Einen zusätzlichen Anreiz für Instrumentalstudien bieten bestimmte Instrumentallehrer und -virtuosen an. 2) Diese Horizonterweiterungen werden unterstützt durch verschiedene Austauschprogramme, welche die Mobilität von Schülern und Studierenden fördern sollen: das Erasmus-Programm für Studierende und

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Dozenten; das Comenius –Programm für Schülerinnen und Schüler. Das Erasmus-Programm sorgt nicht nur für das gegenseitige Kennenlernen von Kommilitonen und Dozenten aus verschiedenen Ländern und das gemeinsame Arbeiten mit ihnen. Es bietet auch die Gelegenheit, ein Land, seine Gebräuche, sein Musikleben und andere Lebensweisen kennen zu lernen; kennen zu lernen, wie andere denken, fühlen und handeln und eine Zeit lang an diesem allen teilzunehmen. 3) Die europäischen Orchester und andere Musiziergruppen – die professionellen und die Jugendorchester – bieten intensive Begegnungen und gemeinsames Tun an. Sie zeigen sich an der Art, spieltechnisch, darstellend und interpretierend mit Musik umzugehen – am selben Pult sitzend, in der verbindlichen Kommunikation einer Combo, eines Streichquartetts oder in einem Chor. Sie verwirklichen sich in unmittelbarer Nähe und in den wünschenswerten spontanen Aktionen und Reaktionen als Übereinstimmung, als Neuland und Alternativen, als Ergänzungen, als andere Erlebnis- und Verstehensweisen. Sie bieten ein ungeplantes, natürliches Lernen der Beteiligten auf individuelle und selbstverständlich wirkende Weise. Der Reichtum an europäischen Orchestern, anderen Musikgruppen und Chören verdiente eine eigene Darstellung. Man kann diesen Reichtum gliedern nach der zumeist oberflächlichen Event- und Festivalkultur und nach jenen Musikreisen, als deren Ziele das Kennenlernen des Fremden und zunächst Unverständlichen, die Kommunikation und das gegenseitige Verständnis für die Kultur und Bildung anderer Länder (auch außerhalb Europas) gelten können. An drei Beispielen seien dieser Reichtum und ihre Verständigungschancen angedeutet:

A) Musizieren im „Mahler-Chamber-Orchestra“ Mir sind neue, demokratisch erweiterte und länderspezifische Arten des gemeinsamen Musizierens besonders in dem berühmten „Mahler-Chamber-Orchestra“ (MCO) begegnet, das ja inzwischen zu den besten Orchestern der Welt gehört. Je nach Projekt spielen jeweils ca. 10–100 Musiker zusammen in vielen verschiedenen Ländern. In kürzeren oder längeren Arbeitsphasen bilden sich verbindliche und an höchst schwierigen Aufgaben orientierte Gemeinschaften. Sie arbeiten unter der Leitung international bekannter Dirigenten und mit Solist/innen aus aller Welt.

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Sie reisen aus fast 20 Ländern an, teilen ihren Alltag, die Proben (in denen alle mitreden dürfen) und den Ernstfall der Konzerte oder Opern. Viele von ihnen musizieren auch in Kammermusikformationen zusammen. Auf diese Weise findet eine verdichtete Intimität und Individualität des gemeinsamen Lebens und Musizierens statt, in dem Musiker aus vielen Ländern immer wieder eine Zeit lang zusammen leben, sich immer besser kennen lernen, mit den unterschiedlichen Lebens-, Denk- und Musizierweisen immer besser bekannt werden und so einen verlässlichen Freundschaftskreis ausprägen. In dieser Art künstlerischer Arbeit gibt es viel Außermusikalisches, den Alltag betreffendes zu regeln. Man könnte ihr Musizieren eine Insel demokratischen Lebens nennen. Manche Arten und Modalitäten des Musizierens bringen die Teilnehmer in Zweitberufen ein – in anderen Orchestern, in Kammermusik-Ensembles, bei ihrer Unterrichtstätigkeit in Musikhochschulen oder Musikschulen. Außer den Sinfoniekonzerten, den Opern und der Kammermusik verbindet die Mitglieder des Orchesters ihre hochqualifizierte Musizierpraxis in den Gebieten des Jazz, der Improvisation, der experimentellen und der neuesten Musik. Man kann dieses weite Konzept des gemeinsamen Musizierens als eine europäische, internationale Werkstatt eines neuen Modells für das aktive Musikleben verstehen – in einer Lebensgemeinschaft, in welcher Geld und Wirtschaft nicht die höchste glückbringende Bedeutung haben.

B) Singen in der „Communité de Taizé“ Als zweites Beispiel für viele andere erwähne ich die Musikpflege im ökumenischen burgundischen Kloster Taizé. In den Anfangsjahren der Communauté, die ich miterleben durfte, bildeten sich ein liturgischer Lied- und Chorgesang und eine Orgelkunst heraus, in einer Mischung aus mittelalterlichen Klängen und Formen und – andererseits – der spätromantischen französischen Orgelkunst. Diese frühen Taizé-Lieder wurden weit über die Grenzen Burgunds hin als eine gemeinsame liturgische Musiksprache beliebt. Sie werden vielerorts in den europäischen Ländern gesungen. Über die religiös-europäische Musikgemeinschaft hinaus nahmen die liturgischen Gesänge der zunächst protestantischen Glaubensgemeinschaft Ideen, Traditionen und neue Weisen auf, in die Einflüsse aus vielen Ländern einflossen. Andererseits wurden – vor allem in den riesigen Sommercamps in Taizé selbst und bei den großen jähr-

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lichen Treffen in europäischen Metropolen – Lieder aus vielen Ländern gemeinsames Liedgut und Verständigungsmittel. In der religiösen wie in der weltlichen Musik bekommt das Singen (auch in vielen Heimatgemeinden) europäischen Charakter, der Zeugnis von Gemeinschaft und Verständigung wurde und in den Alltag hineinwirkt.

C) Musik in Religion und Kirchengemeinschaften Solche musikbezogenen Einrichtungen gibt es inzwischen in großer Menge und hoher Qualität. Sie bilden im großen europäischen Getriebe geistige, künstlerische und gesellige Inseln, die zunehmend zu einer europäischen Kultur der Balance beitragen. So gibt es in vielen europäischen Ländern viele und verschiedene Traditionen, die lange gewachsen sind und das gesellschaftliche Leben weit über das Gemeindeleben hinaus prägen. Das betrifft sowohl das Liedgut und die Kirchenmusik als auch die Verbundenheit mit der je speziellen Geschichte und vor allem die Arten und Gelegenheiten des Musizierens. Das betrifft auch die neue Kirchenmusik und ihre Gebundenheit an Lebensweisen und Lebensgefühle der Menschen in den verschiedenen Ländern. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang unter anderem die Werke von Penderecki, Ligeti, Messiaen, Pärt und Gubaidulina, die ja über die Musik hinaus Ausdruck verschiedener allgemeiner Verhaltensweisen sind, in Bereichen der Meditation, der Klanglichkeit, der Programmatik.

W ie klingt E uropa – III? E in kurzer , andeutender B lick zurück Das Europa, um dessen Einheit sich seine Bewohner und Regierungen bemühen, hat sich auf einem langen und mühevollen Weg zu einem Erdteil aus vielen Nationalstaaten entwickelt – von der Auflösung des großen Römischen Reiches, die mit der Völkerwanderung und kriegerischen Auseinandersetzungen verbunden war, über wechselhafte und wechselnde Gebilde bis zu den modernen Nationalstaaten, die heute um eine Union bemüht sind. Diese Staatsgebilde sind durch viele Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten geprägt und charakterisiert.

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Was ihre Musik und ihr Musikleben betrifft, gibt es bis heute keine Geschichtsforschung und –schreibung. Gäbe es eine spezielle vergleichende Geschichte der Musik und des Musiklebens der europäischen Völker und ihrer gegenseitigen Beziehungen, so müsste sie mindestens drei Aspekte berücksichtigen: die Gemeinsamkeiten, Verwandtschaften und Übereinstimmungen, die Ähnlichkeiten und die Verschiedenheiten und Fremdheiten.2 Die Unterschiede und die Fremdheiten der Musikkultur beruhen auf verschiedenen, auch außereuropäischen Quellen und haben ihre Ursachen in den großen Wanderbewegungen, in den Eroberungszügen und Kriegen, den Umbauten der Staatsgebilde durch Vererbungen, durch Vermischungen der Völker und Ethnien, aber auch in den landschaftlichen Rückzugsgebieten kultureller Entwicklungen. Diese Vielfalt, die eine reiche Quelle für die Musikkultur bildete, wurde jedoch weitgehend verschüttet durch die Dominanz und die Vereinheitlichung der Kirchenmusik seit dem Mittelalter. Einen bedeutsamen Einfluss auf die gemeinsame oder fremde Musikkultur ergab sich auch aus Veränderungen der Religionen, der Konfessionen und der ihnen zugrunde liegenden musiktheologischen Thesen und Gedanken.3 (Vgl. Wörner 1993: 62–63; Ambros 1878: 148–204) Die Vernachlässigung, ja man kann sagen: die Unterdrückung der musikkulturellen Eigenheiten des entstehenden europäischen Völkergemischs, ist weitgehend auf die Gleichschaltung der christlichen Religionspolitik seit dem Mittelalter zurück zu führen. Karl der Große wollte, auch mit Hilfe der Kirche und auf dem Wege der Christianisierung heidnischer Völker, eine Art Union des fränkischen Reiches erreichen. Sein Ratgeber, der Gelehrte Alkuin, richtete zu diesem Zweck Schulen ein, in denen gregorianische Musik „zur Verbreitung und Erhaltung der römischen Liturgie“ gelehrt und gelernt wurde (Pfarrschulen, Domschulen, Stiftsschulen, Klosterschulen) (Schünemann 1918: 1–24).

2 | Eine Ausnahme bildet: August Wilhelm Ambros, Geschichte der Musik, Zweiter Band, Breslau 1864, S. 275–306. 3 | Ein bekanntes und wirkungsvolles Ereignis waren die Diskussionen und Beschlüsse des Trientiner Konzils (1545–1563).

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Die Vereinheitlichung der Musik und die damit verbundenen Einschränkungen der heidnischen Vielfalt der Musik griffen insofern auf die weltliche volkstümliche wie die höfische Musik über, als das Kompositionswesen, die Musiktheorie und das Musizieren ebenfalls von der religiösen Musik angeregt oder sogar dominiert wurde. Auch die Entwicklung des Musikerstandes bekommt europäisch-einheitliche Züge. Musiker aus vielen Ländern und Ethnien wurden an den höfischen und klerikalen Höfen angestellt und wechselten häufig von Hof zu Hof, von Bischofsitz zu Bischofsitz. Es entstand so etwas wie eine Virtuosen-Börse, in der die Höfe versuchten, die besten Künstler an sich zu ziehen. In der Zeit der Renaissance jedoch wird es üblich, außer der Kirchenmusik nationale Volks- und Bauernmusik als Anregung und Grundlage für die Musik der höfischen und klerikalen Gesellschaft sowie auch der kommunalen und universitären Musik zu entdecken und nutzen. Die barocken Tänze, die Variationsformen und das virtuose Musizieren gehen aus dem großen Schatz der Bauerntänze, der Straßenmusik (Passacaglia) und der Improvisationskunst hervor. Auch die Oper (vor allem die opera buffa) nimmt Liedgut und Tänze aus der Volkspraxis auf. Und im 19. Jahrhundert wird die Anknüpfung an die musikalische Volkskunst (Volkslieder, Volkstänze, Kinder- und Wiegenlieder, der protestantische Choral) vielfach zur kompositorischen Norm oder gar zur Ideologie. 4 Im Zusammenhang von Überlegungen zum Thema „Klangraum Europa. Wie (Kirchen-)Musik Europa verbindet“ sind die kompositorischen Konzepte von Antonín Dvořák, Leoš Janáček und vor allem Béla Bartók zu nennen, weil ihr Denken und ihre Konzepte nicht nur Folgen für das Komponieren auf der Grundlage nationaler Eigenarten hatten, sondern auch für die Art des Musizierens. Über die Betrachtung der Musik und des Musizierens hinaus erlauben sie Einblicke in ähnliche oder unbekannte Lebensweisen, in verschiedene musikalische Musizierweisen und Spieltechniken und in verschiedene musikbezogene Kommunikationsweisen. Das wird besonders deutlich durch die ethnologischen Forschungen Bartóks und Kodálys, die zum Ziel hatten, die elementaren Grundlagen nationaler Musik und nationalen Musizierens freizulegen, 4 | Vgl. die Überlegungen und die Praxis der verschiedenen Liederschulen, verbunden mit den Namen Schultz, Herder, Zelter, Brahms, Bruckner bis zu Mahler und zu den Komponisten der musikalischen Jugendbewegung.

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als Bedingung einer neuen und eigenen Musik, die sich von den Einflüssen der italienischen, französischen und deutschen Musik mehrerer Jahrhunderte zu befreien suchte.5 In dieser ethnologischen Forschung kamen auch außermusikalische Traditionen und Lebensweisen zum Vorschein, für welche die Musik als Symbol und Dokument von Lebensweisen in Europa verstanden werden kann – über die Art des Trauerns, über die Festkultur, über das Leben miteinander und über die mühevolle Arbeit.

D er B eitr ag national- europäischer M usik zur E nt wicklung europäischer B ildung Wie für alle Bereiche der Europäischen Union gilt auch im Umgang mit der Musik – idealtypisch formuliert – die ausbalancierte Doppelaufgabe: • Gemeinsamkeiten finden und schaffen; • die Eigenart aller Länder ehren, sie zu verstehen versuchen und von ihnen lernen Musikalische Bildung in Europa zeigt sich in zwei Weisen: A) in der europäischen Musik; B) in den gemeinsamen und in den national geprägten Weisen des Musizierens.

zu A) Der mögliche Beitrag der Musik (überhaupt der Kunst) zu einem gemeinsamen Europa in der oben angedeuteten Balance zwischen Gemeinsamkeit und spezieller Eigenheit könnte darin bestehen, ihre einfachen und elementaren Grundlagen als musikalischen Nationalcharakter aufzuspüren, z. B. in der Volksmusik, in ihren vielfachen Kontexten und in ihren 5 | Genannt seien die elementaren Werke Bartóks: die begleiteten Bauernlieder, der sechsbändige Mikrokosmos für Klavier, die Duos für zwei Geigen und sein Vortrag „Vom Einfluss der Bauernmusik auf die Musik unserer Zeit“ (in: Béla Bartók, Weg und Werk, hg. von Bence Szabolcsi, Kassel 1957, S. 168–173); die Sing- und Liederschule von Zoltán Kodály; die Bemühungen Antonín Dvořáks, eine amerikanisch-nationale Musik zu begründen (Sinfonie „Aus der neuen Welt“, das amerikanische Streichquartett „The American Flag“).

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Lebens- und Handlungsweisen. Hinter dem jeweils unterschiedlichen musikalischen Nationalcharakter verbergen sich nämlich allgemeine und elementare Strukturen und Ausdrucksweisen, die in jedem Volk zu finden sind: in der Bauernmusik der Balkanländer, die Béla Bartók und Zoltán Kodály gesammelt und analysiert haben, und die gleichsam als charakteristische allgemeine Verhaltens- und Lebensweisen zu hören und zu verstehen sind; • in den alten nordischen Liedern, die vielfach von Wehmut und Traurigkeit bestimmt sind, welche die typischen Landschaften beschreiben und das karge Leben in ihnen; • in den heiteren Rhythmen der Tänze aus den Mittelmeerländern, • in den altfränkischen Balladen über menschliche Schicksale und über Reisen ins Unbekannte.



Sie alle verbergen und verdeutlichen allgemeine Gedanken, Empfindungen und Symbole menschlicher Lebensweisen. In ihren musikalischen Strukturen, Ausdrucksweisen und Stimmungen zeigen sich sowohl das National-Eigene als auch des Gemeinsame-Humane.6 Zur kulturellen Bildung durch Musik gehört, die Kontexte der nationalen Musik aufzudecken und miteinander zu vergleichen – im Sinne der oben beschriebenen Balance als Grundlage einer geistigen Europäischen Union – nämlich ihre Landschaften, ihr Klima, ihre Ausprägungen religiösen Lebens, ihre gesellschaftlichen Strukturen, ihre Geschichte, ihr Geschlechterumgang, ihre Erziehung und ihr Familienleben. Alle diese Facetten ihrer Lebensweisen werden auch und auf besondere Weise durch Musik offen gelegt und lebendig gemacht. Das Besondere der Musik als Aufklärungsmittel und als Weise, den Charakter eines Volkes (einer Na6 | Johann Gottfried Herder hat den nationalen wie auch den übergreifend humanen Sinn der Volkslieder in den Kommentaren zu seinen Volksliedsammlungen herausgestellt, z. B. in: Stimmen der Völker in Liedern, Tübingen 1807; Stuttgart 1975, siehe auch: Johann Gottfried Herder: Music, an Art of Humanity, New York 1994, S. 41–50 (The German Library, Vol. 43). Beachte auch: Alexander Cvetko, ... durch Gesänge lehrten sie ... Johann Gottfried Herder und die Erziehung durch Musik. Frankfurt 2006 (Beiträge zur Geschichte der Musikpädagogik). Bei Cvetko findet sich eine ausführliche Bibliographie der Werke von Herder (S. 422–424).

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tion) lebendig zu machen, liegt in dem Phänomen, dass die Musik nicht über den Weg der Sprache und der bewussten Kognition zu uns spricht und uns berührt, sondern direkt unser Gemüt und in unsere Seele trifft (siehe den folgenden Exkurs).

E xkurs Um diese Besonderheit zu erörtern, sei an jene alte Diskussion erinnert, die seit vielen Jahren immer wieder aufgenommen wird – von Jean Baptiste Dubos über Charles Batteux, vor allem aber von Johann Gottfried Herder, später kommentierend durch Bernhard Seuffert und in unserer Zeit von Carl Dahlhaus, Christian Zimmermann bis neuerdings in der Schrift über die Musikästhetik und die Musikpädagogik Herders von Alexander Cvetko (vgl. Cvetko 2006). Für Herder hat Musik das Vermögen, „unmittelbar zum Herzen zu wirken“, d.h. ohne die Notwendigkeit von Kognition und sprachlichem Bewusstsein. Darin liegt ihre besondere Stellung unter den Künsten. Physiologisch ist dies darin begründet, dass das hörbar Klingende direkt durch das Ohr und durch die Haut in den Körper eindringt und dort das Innerkörperliche zu Wahrnehmungen, Bewegungen, Gedanken anregt und den Körper in Bewegung versetzt.7 Der Sprache hingegen fehle „der unmittelbare Zugang zur Seele“ (Cvetko 2006: 35 u. 45). Zum Unterschied zwischen Sprache und Musik zitiert Herder Batteux: „Das Wort belehrt, überzeugt uns, ist das Werkzeug der Vernunft; doch der Ton und der Gestus sind die Werkzeuge des Herzens. Sie erschüttern, gewinnen und überreden uns. [...] Der Ton und der Gestus erreichen das Herz unmittelbar und ohne Umweg.“ (zitiert nach Cvetko 2006: 41)

7 | Mit diesen Phänomenen beschäftigen sich die Hörpsychologie und die Gehörphysiologie. Eine neuere Zusammenfassung des Hörens und der Hörwahrnehmung findet sich in der Schrift von Manfred Spitzer „Musik im Kopf“, Stuttgart 2002, vor allem in den Teilen I: Musikhören und II: Musik erleben.

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Sich dies klar zu machen, ist für den Umgang mit Musik von Bedeutung. Musik ist nach dieser Auffassung nicht eine ‚Magd‘ (nicht eine serva) sondern eine ‚Herrin‘ (eine padrona) der religiösen Erfahrung.8 Verben der Aktivität und Bewegung vermögen diesen direkten ‚Einfluss‘ des Klingenden auf Körper und Geist plausibel machen: die Musik berührt, bewegt, dringt ein, setzt in Gang, betrifft u.a. Wer Musik hört, musiziert oder erfindet, wird gleichsam zu ihrem Gefäß oder Instrument. Was sie verkündet, nimmt der Mensch als Rolle oder Verhaltensweise an (Traurigkeit, Freude, Zuversicht, Hoffnung, Mut, Ergebenheit). Dies bezeugen die rhetorische Musik in den Bachschen Passionen; Trommelmusik aus afrikanischen Stämmen; Meditationen wie jene in der Musik von Arvo Pärt oder indische Raga-Improvisationen; Lobgesänge der islamischen Sufi-Sekte und andere Beispiele der ‚Weltmusik‘. Auf diese Weise leisten die Musik und das Musizieren einen auf andere Weise nicht zu ersetzenden Beitrag zur Verwirklichung der Kommunikation zwischen Menschen und Ländern und zur elementaren seelischen Grundlage gemeinsamen Lebens, auch für die Beziehung zwischen dem Fremden und dem Gemeinsamen.

zu B) Die Arten des Musizierens lassen sich auf zwei Weisen beobachten und vergleichen: bei gegenseitigen Besuchen musizierender Menschen und Gruppen von Land zu Land – Was spielen sie, und wie spielen sie? –, und beim gemeinsamen Musizieren mehrerer Musiker aus verschiedenen Ländern. Für beide Arten gibt es zahllose Beispiele: den gegenseitigen Austausch von Laien- und Profi-Orchestern, Kammermusikgruppen, Chören und einzelnen Musikern. In Besuchs- und Austauschkonzerten lässt sich hören und beobachten, wie emotional, intellektuell, genau oder mehr al fresco spielend musiziert wird, mehr einheitlich oder am vielfarbigen Klang ausgerichtet. Den Hörer/innen begegnen mehr

8 | Diese Auffassung entspricht die in seiner Schrift zur „Seconda Prattica“ vertretene Auffassung „L'oratione sia padrona dell'armonia e non serva“ – erörtert u.a. in: Jacques Handschin; Musikgeschichte im Überblick. Basel 1948, S. 278–288. Siehe auch die „Geschichte der Musik im Zeitalter der Renaissance“ von August Wilhelm Ambros, Band IV, Leipzig 1878, Kapitel Monteverdi, S. 353–406.

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ausgelassen-schwungvolle und mehr streng strukturell ausgerichtete Interpretatio­nen. Den Musizierenden kann es mehr auf scharf abgezirkelte oder auf weichgespülte, eingeebnete Rhythmik ankommen. An solchen Unterschieden können verschiedene allgemeine Charaktere und Lebensweisen erkannt werden, verschiedene Weisen des Umgangs miteinander oder auch unterschiedliche Arten der Auseinandersetzung mit Musik oder der Auffassung von Musik. Intensiver noch prägt das Spiel beim gemeinsamen Musizieren die Balance zwischen Gemeinsamem und Neu-Anregendem aus. Freilich unterscheidet sich das Spiel von Musikern aus verschiedenen Ländern in der je eigenen, individuellen Weise – zum Beispiel die Spieltechnik und die Darstellung betreffend. Freilich gehören viele Instrumentalisten einer bestimmten ‚Schule‘ an, Geiger der belgischen, der russischen, der deutschen Schule; Oboisten der Wiener, der Pariser oder der Deutschen Schule usw. Freilich werden viele von ihnen in Hochschulen verschiedener Länder ausgebildet. Auch passen sich die Arten des Spielens in festen Ensembles aneinander an. Aber es gibt, wie meine Erfahrungen zeigen, auch einen „angeborenen“ oder gelernten (übernommenen) Anteil gleichsam nationaler Stile. Diese national-kulturellen Eigenheiten zeigen sich im Großen – in der Interpretation (Auffassung) der ganzen Werke, und noch mehr in den Details: etwa in der Tonerzeugung, im Anfangen, in der inneren Belebung des Tones, in der Artikulation und Phrasierung, im Lagenspiel, im Gebrauch von Vibrato und Register. Sie zeigen sich im Schwung oder in Zurückhaltung, im Glanz oder in der Nüchternheit des Spiels. Auch beim Musizieren also ist möglich, was ich die Hoffnung auf eine europäische Balance nenne. Es gilt einen Ausgleich zu finden von Geben und Nehmen, von Führen und Folgen, von Anregen und Annehmen, von Schwung, Glanz und Selbstvertrauen und – auf der anderen Seite – von Zurückhaltung, unbedingter Werktreue, Rücksicht auf die anderen und auf das Werk. So könnte der Umgang mit Musik einerseits eine Grundlage anbieten für die Hoffnung der Kultur und Bildung in einem geeinten Europa. Und so könnte andererseits das zu einende Europa bereichert werden durch zutiefst menschliche Weisen der Gestaltung ihres Lebens.

Europäische Bildung durch Musik

S chluss Bei den Überlegungen zum Beitrag der Musik als Teil einer europäisch geeinten Kultur und Bildung ist mir Zweierlei wichtig: •



das ständige Bemühen um die Balance zwischen den Möglichkeiten gemeinsamen Lebens und Handelns und der Rücksicht und dem Ausleben der Individualität und der Verwirklichung der eigenen Kultur der einzelnen Länder und Menschen; das Verständnis menschlicher Kultur als der Grundlage und nicht nur einer Beilage für alle Bereiche der europäischen Einigung.

Die Balance, die die kulturelle Grundlage für eine europäische Union werden oder sein könnte, kann also auf drei Weisen verwirklicht werden: als Balance in der Musik selbst, im Musizieren und im Umgang mit den anderen.

L iter atur Ambros, August Wilhelm (1878): Geschichte der Musik, 4. Bd., Breslau. Cvetko, Alexander (2006): ... durch Gesänge lehrten sie ... Johann Gottfried Herder und die Erziehung durch Musik. Mythos – Ideologie – Rezeption, Frankfurt/ M. (Beiträge zur Geschichte der Musikpädagogik, hg. von Eckhard Nolte, Band 16). Institut für Musikpädagogik der Universität Wien (Hg.) (2009): meNet Lernergebnisse in der Musiklehrerausbildung. http://menet. mdw.ac.at/menetsite/Medien/meNetLearningOutcomes.pdf (Abruf: 19.1.2016) Schünemann, Georg (1918): Geschichte der deutschen Schulmusik, Berlin. Wörner, Karl H. (1993): Geschichte der Musik, achte Auflage, Göttingen.

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B ach -V erehrung – eine patriotische P flicht „Und dieser Mann – der größte musikalische Dichter und der größte musikalische Declamator, den es je gegeben hat, und den es wahrscheinlich je geben wird – war ein Deutscher. Sey stolz auf ihn, Vaterland; sey auf ihn stolz, aber, sey auch seiner werth!“

Mit solch emphatischen Worten (Forkel 1802: 69) endet die erste Biographie zu Johann Sebastian Bach (1685–1750). Sie erschien erst gut 50 Jahre nach Bachs Tod, im Jahre 1802: „Über Johann Sebastian Bachs Leben und Kunstwerke“ lautet der Titel. Dies war eine Eigeninitiative des aus Meeder bei Coburg stammenden Johann Nikolaus Forkel (1749–1818), der es zum Universitätsmusikdirektor in Göttingen gebracht hatte. Er war ein Fan des alten Bach und darin seinerzeit durchaus nicht im Mainstream. Die beiden Bach-Söhne Wilhelm Friedemann (1710–1784) und Carl Philipp Emanuel (1714–1788) hatte er noch persönlich gekannt und namentlich von letzterem sich biographische Informationen über den Vater besorgt. Es dauerte nochmals fast 15 Jahre nach Carl Philipps Tod, bis Forkel sich entschloss, eine Bach-Monographie zu publizieren – unabhängig von seinem Großprojekt einer enzyklopädischen Musikgeschichte. So begründete er mit diesem Büchlein die Gattung der musikhistorischen Monographie überhaupt. Anlass dafür gab eine in Leipzig geplante Bach-Werkausgabe, die damit publizistisch vorbereitet werden sollte.

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Dem Titelblatt ist zu entnehmen, dass jetzt auch eine neue mentalitätsgeschichtliche Dimension wesentlich geworden war: „Für patriotische Verehrer echter musikalischer Kunst“ lautet der Untertitel. In der Vorrede ist dazu zu lesen: „Dieses Unternehmen ist nicht nur der Kunst selbst in jedem Betrachte äußerst vorteilhaft, sondern muss auch mehr als irgend eines der Art zur Ehre des deutschen Nahmens gereichen. Die Werke, die uns Joh. Seb. Bach hinterlassen hat, sind ein unschätzbares National-Erbgut, dem kein anderes Volk etwas ähnliches entgegensetzen kann. […] jeder, dem die Ehre des deutschen Nahmens etwas gilt, ist verpflichtet, ein solches patriotisches Unternehmen zu unterstützen, und so viel an ihm ist, zu befördern. An diese Pflicht unser Publicum zu erinnern, diesen edlen Enthusiasmus in der Brust jedes deutschen Mannes zu wecken, achtete ich für meine Schuldigkeit, und dieß ist die Ursache, weßwegen diese Blätter früher erscheinen, als sonst geschehen seyn würde.“ (Forkel 1802: Vf.)

Die Worte sprechen in ihrer Eindeutigkeit für sich. Seit Forkel ist J.S. Bach vor allem ein deutscher Künstler, wenn nicht der deutsche Künstler schlechthin. In Bach wird die Überlegenheit der deutschen Nation als Kulturnation evident. Der emphatische Schluss des Buches wurde eingangs zitiert: Wir dürfen auf ihn stolz sein, müssen uns aber auch seiner Wert erweisen durch gewissenhafte Überlieferung und Aufführung seiner Werke. Dieser nationale Ton zieht sich durch das gesamte Bach-Schrifttum des 19. Jahrhunderts. Selbst der von sich selbst so überaus eingenommene Richard Wagner (1813–1883) erklärt dem bayerischen König Ludwig, dass in Bach „die wunderbare Eigenthümlichkeit, Kraft und Bedeutung des deutschen Geistes“ verkörpert sei und man ihn deswegen in der Musikerausbildung prominent berücksichtigen müsse. Seiner Frau Cosima, geborene Liszt, verkauft er Bach als bedeutenden Vorläufer seiner eigenen Kunst, etwa in Sachen „unendliche Melodie“. Das Meistersinger-Vorspiel spielt er 1878 seinen Kindern vor mit dem Hinweis, das sei „angewendeter Bach“ (Geck 2013). Und am Schluss dieser Oper könnte es als Replik auf den Appell „Ehret eure (deutschen) Meister“ statt „Heil Sachs“ gewissermaßen auch „Heil Bach“ heißen.

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B achs national begrenz ter A k tionsr adius Johann Sebastian Bach hat es seinen Biographen einfach gemacht, sich teutonisch vereinnahmen zu lassen. Anders als viele Musiker seiner Zeit und vor allem auch der Zeiten vor ihm hat er keine Bildungsreise in nicht-deutsche Lande unternommen. Der 100 Jahre vor ihm geborene Heinrich Schütz (1585–1672) etwa war zweimal für längere Zeit in Italien. Bachs Jahrgangsgenosse Georg Friedrich Händel (1685–1759) startete seine Karriere in Italien und erlangte Weltruhm in London. Johann Sebastian Bach ist in der Familie der Thüringer Bache groß geworden, konnte allerdings aus der Thüringischen Enge als verwaister Sängerknabe in Lüneburg seinen Horizont erweitern, norddeutsche Orgelkunst teilweise hautnah erleben und bei der nahen Hofkapelle in Celle sogar französischen Gout schnuppern.1 Bekannt ist dann von seiner ersten Berufstätigkeit im thüringischen Arnstadt aus der um das Vierfache überzogene Bildungsurlaub beim gebürtigen Dänen Dietrich Buxtehude (1637–1707) in Lübeck. Dies ist aber nicht wirklich europäisch. Bach besorgte sich als mitteldeutscher Provinzler da eher eine germanisch-nordische Prägung. Sein beruflicher Radius blieb dann weiter auf Mitteldeutschland beschränkt: Mühlhausen, Weimar, Köthen, Leipzig. Abgesehen von wenigen Orgelabnahmen am Rande dieses Wirkungskreises (z.B. Kassel) sind bei Bach auch spektakuläre Konzertreisen Fehlanzeige. Europa blieb von seiner Vita sozusagen unberührt. Der Ausflug des greisen Bach 1747 von Leipzig aus zum Preußenkönig in Potsdam ist eigentlich das Bemerkenswerteste. Insofern die Hofhaltung Friedrichs damals europäischen Geist repräsentierte, könnte man sagen: Mit dieser Reise wollte der 62-jährige Bach seine deutsche Kunst im europäischen Horizont verankert wissen. Allerdings ist das daraus resultierende Widmungswerk, das „Musikalische Opfer“, dezidiert als deutsches Werk tituliert. Auch die Widmung ist in deutscher Sprache abgefasst, obwohl am preußischen Hofe die europäische Adelssprache Französisch gesprochen wurde. Bei den ebenfalls mit einer Berlin-Reise korrelierenden, bereits 1721 komponierten sogenannten Brandenburgischen Konzerten sah das noch anders aus. Hier ist die Widmung französisch formuliert:

1 | Zu allen biographischen Details siehe Wolff 2000.

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„Six Concerts Avec plusieurs Instruments. Dediées A Son Altesse Royalle Monsigneur CRETIEN LOUIS. Marggraf de Brandenbourg [...]“

B achs A useinanderse t zung mit den europäischen S tilen Namentlich in seiner Klaviermusik hat Bach die Auseinandersetzung mit den europäischen Stilen seiner Zeit gesucht, also auf dem Terrain, wo er sich als Komponist durch Drucklegung auch publizistisch profilierte. Es gibt da Englische Suiten, Französische Suiten und in „Zweyter Theil der Clavier Ubung“ die bewusste Entgegensetzung der beiden konkurrierenden Ästhetiken Europas: „Concerto nach Italienischen Gusto“ und „Ouverture nach Französischer Art“. Das war damals tatsächlich eine europaweit virulente, ästhetische Frontstellung. Indem Bach beides adaptierte, stellte er sich sozusagen auf eine höhere Stufe über den Fronten. Zeigt sich darin die wunderbare Kraft und Bedeutung des deutschen Geistes als Überlegenheit, oder ist Bach so schon immer der wahre Europäer? Eigentümlich wirkt beim Titelblatt der Kontrast zwischen „Italienischen Gusto“ nebst „französischer Art“ oben und den beiden sozusagen provinziellen Titeln, mit denen Bach sich schmückt: „Hochfürstl. Saechs. Weißenfelssch. Capellmeistern“ und „Directore chori Musici Lipsiensis“ – letzteres immerhin eine aufsteigende Messestadt. Bach hat sich zweifellos als Musikkenner einen europäischen Horizont verschafft. Schon als sehr junger Mann studierte und adaptierte er die Konzertform Tomaso Albinonis, in Weimar erhielt er, vermittelt über seinen italienbegeisterten Fürsten, Kenntnis von Konzerten Vivaldis und übertrug sie auf seine Weimarer Orgel. Aber er hat nie eine italienische Orgel mit ihrem eigentümlichen Klangprofil realiter erlebt. Auch französische Orgelliteratur hat er sich nachweislich via Abschriften besorgt, aber er hat nie den farbigen und kräftigen Klang der dazugehörigen Instrumente gehört. In seinem letzten Lebensjahrzehnt hat er sich vor allem mit alter italienischer Vokalmusik befasst und kontrapunktische Lehrwerke dazu studiert. Erst kürzlich konnten die Bach-Wühlmäuse gerade in Weißenfels einen weiteren Beleg für Bachs europäischen Horizont ausgraben: die von ihm wohl 1741 vorgenommene Abschrift einer italienischen Messe (Wollny 2013). Ist das nicht typisch deutsch – der in-

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tellektuelle, philologisch wissenschaftliche Zugang zu fremden Kulturen, abstrahiert von konkreter sinnlicher Erfahrung? Kann so etwas eine „europäische Ästhetik“ ergeben? Eine biographische Pointe sei dazu noch benannt. Unter der sehr hohen BWV-Nummer 1083 verbirgt sich eine Musik, die heute zu den im Klassik-Betrieb most wanted gehört, aber nicht als Bachsches Opus sondern als Stabat-mater von Giovanni Battista Pergolesi (1710–1736). Es gibt dazu aber eine von Bach selbst bewerkstelligte Fassung mit deutschem Text, die einsetzt „Tilge, Höchster, meine Sünden. deinen Eifer lass verschwinden, lass mich deine Huld erfreun.“

Ist es nicht ein ästhetischer Frevel, wenn zur wunderbaren italienischen Stabat-mater-Musik solch ein gesuchter deutscher Text erklingt? Pergolesi war 1736 im Alter von nur 26 Jahren in der Nähe von Neapel verstorben. Mit seinem Stabat-mater verbanden sich sofort Legenden. Es sei sein letzter musikalischer Wille vom Sterbelager aus. Abschriften davon verbreiteten sich offensichtlich schnell europaweit, denn Bach muss schon vor der Drucklegung des Werkes eine zur Kenntnis gekommen sein, eventuell bereits verbunden mit dieser Story vom Vermächtniswerk des jung verblühten Genies. Seine Rezeption des Werks ist jedenfalls der erste Beleg im deutschsprachigen Raum. Er selber war bereits über 60 Jahre alt und beschäftigte sich eigentlich verstärkt mit der Musik seiner Vorfahren in der so musikalischen Bach-Familie. Es gibt Hinweise darauf, dass er eine Motette des 1703 verstorbenen Johann Christoph Bach als Bestattungsmusik für sich selbst einrichtete. Eine Erklärung für die Pergolesi-Rezeption könnte sein, dass Bach für den Fall seines Ablebens als Gegenpol zur Rückenstärkung aus der eigenen Herkunft im sozusagen provinziellen Familienkreis die weit entfernte, stilistisch zukunftsorientierte Musik des Italieners Pergolesi sich vorgenommen hat. Für das ganze Stabat-mater besorgt er sich (von einem bis dato nicht identifizierten Librettisten) eine deutsche Neutextierung als Umdichtung des Psalms 51, der als „Miserere“ in der Bußtradition der Kirche eine zentrale Rolle spielt, speziell im Rahmen der individuellen Sterbebereitung. So hätte sich Bach beim jungen, modernen, katholischen Italiener Pergolesi die Musik geliehen für seine persönliche Bereitung zum Sterben. Pergolesis Werk hat

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nämlich 14 Sätze, wohl in Reverenz an das Fest der Sieben Schmerzen Mariens, dem das Stabat mater liturgisch zugeordnet war. Für Bach hat die 14er-Gliederung aber eine persönliche Relevanz als BACH-Zahl – 14 ist die Buchstabensumme seines Nachnamens nach dem lateinischen Zahlenalphabet (A=1, B=2 usw.). Bei meinen Bach-Forschungen habe ich als spezielle Bedeutungskomponente ausgemacht, dass 14 den Menschen Bach als Sünder kennzeichnet – die Inversion 41 (zugleich die Zahlensumme von JSBACH) dagegen den zum Heil bestimmten Gläubigen. In 14 Sätzen kann diese Pergolesi-Musik so als persönliches Bußgebet Bachs fungieren: „Tilge, Höchster, meine Sünden […]“ Für Bach war also als identitätsstiftendes Merkmal zum einen seine Herkunft aus der thüringischen Bach-Familie wichtig, zum andern sein lebenslanges Lerninteresse im Blick auf Fremdes. Er wollte nicht bloß als „alte Perücke“ – so der Überlieferung nach eine Kennzeichnung des Vaters durch seine musikalisch modern orientierten Söhne – aus dem Bach-Stamm sterben, sondern auch als europäischer Musiker, der bis zuletzt an den stilistischen Entwicklungen der Kunst Anteil nimmt. Sein vokalinstrumentales Vermächtniswerk aus den letzten Lebensjahren, die „h-Moll-Messe“, bedient als Messvertonung die europäisch allgemein und überkonfessionell gültige, zentrale Gattung von Kirchenmusik. Die wohl letzte Komposition Bachs, das nachträglich hier eingefügte „Et incarnatus est“, ist deutlich erkennbar als Pergolesi–Stilimitat.

B achbilder im ausgehenden 19. J ahrhundert Lassen wir Bach in Frieden ruhen und wenden uns wieder den Rezipienten seiner Kunst in späteren Zeiten zu. Von der Bachpflege als patriotischem Geschäft seit Forkel 1802 war bereits die Rede. Das wissenschaftlich ambitionierteste Unternehmen im 19. Jahrhundert wurde dann die auf gründlichen Quellen- und Archivstudien fußende Biographie des Pfarrerssohns Philipp Spitta (1841–1894), die in zwei dicken Bänden 1873 und 1880 in erster Auflage erschien. Spitta setzte nicht nur Maßstäbe in Sachen historisch-kritischer Methodik, sondern profilierte in aller Detailflut ein plastisches Bach-Bild, das für die deutschen Bildungsbürger große Plausibilität hatte (vgl. Sandberger). Bach war nun nicht nur der „Knotenpunkt“ (Spitta 1916: XIII) in der deutschen Musikgeschichte, auf den alles vor ihm zu lief, und von dem alles Folgende wesentliche An-

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regung erhielt, Bach war jetzt speziell „Deutschlands größter Kirchencomponist“ (Spitta 1916: XIX) – während Forkel mehr den Komponisten von Klaviermusik betrachtet hatte. Mit Spitta wurde Bach zum „Thomaskantor“. Damit wurde sein Buch ein aktueller Beitrag zum preußischen Kulturkampf, wie er es selber im Vorwort formuliert. Er spricht da (Spitta 1916: XVIIIf.) von der Gegenwart als „[…] eine Zeit […], die durch heiße Geisteskämpfe beweist, wie tief, allem widersprechenden Scheine zum Trotz, das religiöse Bedürfnis dem deutschen Volke eingeboren ist. Mehr fast noch als jene glänzenden politischen Errungenschaften – [gemeint ist die Reichsgründung 1871; KK] - verkünden die mächtigen religiösen Bewegungen, welche das tiefste Wesen unseres Volkes aufwühlen, das Herannnahen einer neuen großen Zeit.“

Bach gilt also als Führer der deutschen Nation in neue Zeiten, seine Musik als Leitkultur für das neue, preußisch dominierte Deutschland gerade in der ihr eigenen religiösen Tiefgründigkeit. Um die 1900er-Jahrhundertwende kam es dann zu einem interessanten europäischen Übersetzungsvorgang dieses deutschen Bachbildes. In der auf blühenden Pariser Orgelszene waren Bachs Orgelwerke interessant geworden. Seit den 1840er–Jahren waren sie in einer Gesamtausgabe beim Peters-Verlag greif bar und es gab eine Bach/Schüler/Enkelschüler-Kette, die von Thüringen über Belgien nach Paris sich fortgepflanzt hatte. Der führende Orgelbauer Aristide Cavaillé-Coll (1811–1899) stellte, abweichend von der spezifischen französischen Orgelbautradition, sogar extra seine Orgelkonzeption, etwa im Umfang der Pedaltastatur, daraufhin um, dass man auf seinen Instrumenten Bach spielen konnte. Ein großer Bestandteil der Bachschen Orgelwerke sind allerdings choralbezogene Werke, deren Titel ein deutscher Liedanfang bildet. Das war für die zudem katholisch verwurzelte französische Kultur terra incognita. Zu vielen Werken Bachs fanden die Organisten so keinen rechten Zugang, sie blieben geradezu rätselhaft. Der große Pariser Orgelmeister Charles Marie Widor (1844–1937) nutzte deswegen die Chance, die sich ihm bot, als der Straßburger evangelische Theologe Albert Schweitzer (1875–1965) bei ihm Orgelunterricht nahm. Im Jahr 1899 bat Widor seinen deutschsprachigen Schüler um Erläuterungen zu den Inhalten der Choräle, die Bach bearbeitet hatte, und Schweitzer vermochte es, seinem Orgellehrer

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den Konnex von Inhalt und musikalischer Gestaltung bei den Choralvorspielen aufzuschlüsseln. Das war der Anlass für Schweitzers 1905 erschienenes Buch „J.S. Bach. Le musicien–poète“. Als Widor am 20. Oktober 1904 während einer Konzertreise in Venedig das Vorwort dazu schrieb, tat er es „mit dem freudigen Gefühl, daß durch dieses Buch dem Thomaskantor bei uns freie Bahn geschaffen werde“ (Schweitzer 1905: VIII). Der Weg des größten deutschen Kirchenkomponisten in die französische Kulturszene war also gebahnt. Auf den Tag genau drei Jahre später signierte Widor das Vorwort zur deutschen Ausgabe von Schweitzers Bach-Buch, das im Wesentlichen in Nachtarbeit gründlich überarbeitet und erweitert worden war. Widor preist Bach als den „universellsten von allen Künstlern“ und zwar, weil sich in seinen Werken „das reine religiöse Gefühl“ artikuliere. „Und dieses ist bei allen Menschen trotz nationaler und konfessioneller Unterschiede, in die wir hineingeboren und hineinerzogen werden, ein und dasselbe“ (Schweitzer 1908: XI). Kurz gesagt: Bach ist in den Augen und Ohren Widors Europäer als religiöser Künstler, aber nicht im Sinne konfessionalistischer oder nationalistischer Profilierung, sondern als Sprachrohr für „reine Religiosität“, was auch immer er damit meint. Schweitzers deutsches Bach-Buch hatte dann über Jahrzehnte den Status einer Bach-Bibel. Der Elsässer Albert Schweitzer, der sich zeitlebens als Mittler zwischen den verfeindeten Kulturen verstand, schließlich sogar den Friedensnobelpreis erhielt (1954), war tatsächlich zum großen Bach-Erklärer für Franzosen wie Deutsche geworden. En detail zeigte er auf, wie Bach geistliche Inhalte konkret in musikalische Motive und Gestaltungen überträgt. Biographisch und musikologisch übernahm Schweitzer die Forschungsergebnisse Spittas. Er wollte keine neue historische Studie vorlegen, sondern, wie er es nennt, eine „ästhetisch praktische“ (Vorwort, V). Dem Bach-Buch folgte eine praktische Noten-Gesamtausgabe der Orgelwerke, gemeinsam mit Widor ediert, mit Einführungstexten Schweitzers (Rathert 2000: 55). In Bach-Buch wie -Notenausgabe brachte er die hermeneutische Dimension ein und gab damit den Bach-Freunden reichlich Nahrung in ihrem Bestreben, den Thomaskantor in seinem Schaffen verstehen zu können. Schweitzers Bach-Buch traf auf einen regelrechten Bach-Hype in den Jahren vor dem I. Weltkrieg. Die Wiener Zeitschrift „Musik“ brachte 1906 die Ergebnisse einer Umfrage unter führenden europäischen Musikern:

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„Was ist mir Johann Sebastian Bach und was bedeutet er für unsere Zeit?“ Die Zeitschrift brachte auch die Namen der überwiegend nicht deutschen Künstler, die eine Antwort verweigerten (Rathert 2000: 30f.). Nationaler Kulminationspunkt dieses Bach-Hype war die Errichtung des monumentalen Bach-Denkmals vor der Leipziger Thomaskirche im Jahr 1908, das bis heute da steht und dem kleinen bescheidenen Denkmal aus dem Jahr 1843 die Show stiehlt, das von Mendelssohn initiiert und mit Benefizkonzerten finanziert worden war. Das neue Bach-Denkmal galt als besonders authentisch. Man hatte nämlich etwa 10 Jahre vorher an der mutmaßlichen Begräbnisstelle Gebeine ausgegraben und mit wissenschaftlichen Methoden die Schädelform Bachs rekonstruiert. Dieser Bach von 1908 sollte also den wahrhaften deutschen Künstlerkopf darstellen (Rathert 2000: 29). Albert Schweitzer unternahm in späteren Jahren bekanntlich Konzertreisen durch ganz Europa, um mit Orgelkonzerten Gelder für sein 1913 begründetes Hospital in Lambarene einzuspielen. Bei seinen Orgelprogrammen bildeten Bachs Orgelwerke den Kernbestand des Repertoires, waren aber stets flankiert von französischer moderner Literatur, z.B. César Franck und eben Widor. So stellte Schweitzer Bach einerseits in den aktuellen europäischen Kontext, andererseits wurde er mit seinem BachSpiel zum Bach-Missionar in europäischen Landen. Im Jahr 2013 fanden zum Centenarjubiläum der Lambarene-Gründung wieder quer durch Europa Konzerte im Gedenken an Albert Schweitzers Lebensleistung statt, Benefizkonzerte für das heutige Lambarene. Übrigens hat Schweitzer auch den vielerorts bis heute gepflegten Usus der Orgelkonzerte zu Bachs Todestag am 28. Juli begründet, 1909 in der Thomaskirche zu Straßburg. Die ästhetischen Konnotationen von Schweitzers Bachspiel wären eine eigene Untersuchung wert. Etwas pauschal kann man sagen: Schweitzers Bach taugt zum transnationalen Europäer, weil er ihn vergleichsweise abgeklärt spielt. Er nennt Bachs Kunst gotisch. (Der gotische Kirchenbaustil hat sich seinerzeit ja auch europaweit durchsetzen können.) Gotisch kann Bach aber nur wirken, wenn man ihn entemotionalisiert und so aus dem Konflikt national konnotierter Ausdrucksweisen herausnimmt. Eines der expressivsten Orgelstücke Bachs, die Fantasie in g-Moll BWV 542, spielt Schweitzer metronomisch absolut exakt, dem hier gegebenen „stylus

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phantasticus“ zuwider. So gibt er den Notentext neutralisiert wieder. Als Klangkulisse bietet er dabei den beeindruckenden französischen Orgelsound (CD Schweitzer). Eine deutschnationale Gegenposition zu Schweitzer ist noch zu benennen. Zeitgleich mit Schweitzers Arbeit an den Bach-Büchern war der Heidelberger Universitätsmusikdirektor Philipp Wolfrum (1854–1919) mit einem Bach-Buch befasst, das 1906 in erster Auflage erschien, alsbald revidiert wurde und 1910 in zwei Bänden auf den Markt kam. Im zweiten Band der 1910er-Version finden sich jede Menge Fußnoten, in welchen Wolfrum ziemlich polemisch über die seit 1908 greif baren Ausführungen von „Herrn Sch.“ herzieht, Albert Schweitzer also scharf kritisiert. Wolfrums Darlegung ist überdies von Anfang an gespickt mit völkischen Tönen. Gleich am Anfang bringt er eine Huldigung des bodenständigen, deutschen Kantorenhauses als Wiege deutscher, volkstümlicher Kultur. Er selber stammt nämlich aus dem ziemlich provinziellen Kantorenhaus von Schwarzenbach an der Saale in Oberfranken. Das verleiht ihm in seinen Augen aber den authentischen Erfahrungskontext, um das Wirken des Leipziger „Thomaskantors“ angemessen verstehen zu können. Wolfrum präsentiert bereits 1910 sozusagen den deutschen „Blut und Boden“-Bach. Der Verdacht drängt sich auf, dass ihn an Schweitzer vor allem stört, dass da ein Elsässer im Verbund mit einem französischen Orgelvirtuosen den Deutschen ihren Bach erklären will. Der sachliche Dissens mit Schweitzer lässt sich allerdings benennen als Divergenz in der ästhetischen Wertung. Für Schweitzer ist Bach der Kulminationspunkt einer künstlerischen Entwicklung und darin das Ende einer Epoche. Alles führt auf ihn hin, danach wird alles anders. In solchem vor und damit über unseren modernen Zeiten Stehen ist Bach ein sozusagen abgehobenes Idealbild für alle Kunst. Bei Wolfrum aber ist Bach als Expressivmusiker der Anfang der modernen deutschen Musikentwicklung. „Schweitzer orakelt zwar die merkwürdigsten Dinge, wie (S.3): ‚So ist Bach ein Ende. Es geht nichts von ihm aus!‘ Wenn man freilich meint, in ihm habe sich die deutsche Kunst ‚erschöpft‘!! Aber da lasse der als Theologe doch besser den lieben Gott sorgen – durch den dieselbe fröhlicher gedeiht denn je.“ (Wolfrum 1910, Bd.2: 85)

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Wolfrum ist Anhänger der sogenannten neudeutschen Schule. Als leitender Herausgeber der Franz Liszt-Werkausgabe und als treuer Freund und musikalischer Partner Max Regers (1870–1916), mit dem zusammen er Bachs Konzerte mit mehreren Klavieren in spätromantisch aufgeladener Interpretation zum Besten gibt, muss er zeigen, dass von Bach her alles auf den Oberpfälzer Reger zuläuft. Max Reger, selber ein besonders vollmundiger Bach-Verehrer, wird von seinen Freunden zum jetzigen deutschen Künstler schlechthin, zum J.S. Bach redivivus stilisiert. Um an Forkel anzuknüpfen: Gerade in Regers Kunst erweist sich das deutsche Vaterland als Bachs würdig, seiner wert. Und Wolfrum lässt mit seinem Bach-Buch von 1910 sozusagen die deutschen Säbel rasseln, die dann 1914 tatsächlich Richtung Westen marschieren.

Z ur deutschen B achrezep tion nach 1945 Die besonders bösen deutschen Zeiten seien schamvoll übersprungen, um noch die Entwicklung der Bach-Aufführungspraxis in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu beleuchten, wobei speziell die Vokalmusik im Fokus ist. Leipzig hatte sich mit den Thomaskantoren Karl Straube (seit 1918 im Amt) und Günther Ramin (Nachfolger Straubes 1940) seit den 1930er-Jahren als Zentrum der deutschen Bachpflege profiliert. Es gab bereits Rundfunkübertragungen von Bach-Kantaten-Aufführungen durch die Thomaner (Kunze/Lieberwirth 2015). Nach dem Krieg waren die Leipziger durch die politischen Vorgaben seitens des kommunistischen Regimes behindert. So kam es, dass der hochbegabte junge Thomaskirchenorganist Karl Richter (Jg. 1926) 1951 nach München übersiedelte und ausgerechnet die katholische bayerische Landeshauptstadt zu einem Zentrum der Bachpflege machte. Der moderne deutsche Bach war jetzt mit dem Signet „Münchner Bach-Chor“ verknüpft. Mit aufgeladenem Chorklang, völlig stilwidrig unterfüttert mit im Mixturenplenum mitspielender Orgel, wurde etwa der Abgesang der Matthäus-Passion zelebriert in langsam schreitendem Tempo wie bei einem Staatsbegräbnis (CD Richter). Dieser pathetische deutsche Bach war durchaus ein Exportschlager. Richter reiste damit nach Moskau und Leningrad ebenso wie nach Japan. Auch als bachspielender Organist berei­ste er die Konzertpodien Europas. Er brachte den vormaligen Kir-

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chenkomponisten Bach an die Orgeln der Konzerthallen und machte eine Show aus seinem Bachspiel, etwa mit fulminanten Abgängen von der Orgelbank. Im Wiener Musikverein, also an der zentralen Stätte der Wiener Musikkultur, wurde extra eine große Orgel nach seinen Vorstellungen für diese Recitals neu gebaut. (Nach Richters Tod wollte kaum mehr einer auf dem Instrument spielen und vor kurzem wurde sie durch einen Neubau ersetzt). Richter starb 1981 mit 55 Jahren in einem Münchner Hotel. Seit geraumer Zeit hatte er in Zürich gewohnt und war zu den Münchner Dienstgeschäften beim Bachchor, als Professor an der Hochschule und als Organist der Markuskirche zeitnah eingeflogen. Sein Herzschlag-Tod machte es möglich, dass er zum Opfer seines unbedingten Leistungswillens stilisiert wurde. Der deutsche Mann, der Europa, ja der ganzen Welt den deutschen, echten Bach bringen wollte, hatte sich daran verzehrt. Richters Tod machte allerdings den Weg frei, dass statt München nun Stuttgart als westdeutsches Zentrum der Bachpflege sich konkurrenzlos profilieren konnte. Denn hier wirkte (bis 2013) mit nicht weniger Eifer der sieben Jahre jüngere Helmuth Rilling. Er hatte mit viel Lobbyarbeit die Gründung der Internationalen Bachakademie Stuttgart erreicht, welche genau im Todesjahr Richters, 1981, von statten ging. Die Zielsetzung dieser mit beträchtlichen öffentlichen wie privaten Geldern ausgestatteten Einrichtung war eine mehrfache. Zunächst ging es darum, der Leipziger DDR-Bachpflege, die inzwischen institutionell wie ideologisch aufgebaut worden war, den eigentlichen Bach entgegen zu setzen, nämlich den „größten deutschen Kirchenkomponisten“ im Gefolge der Bachdeutung Philipp Spittas (Siegele 1988: 120). Rillings Verwurzelung im frommen Schwabenland und das diesbezüglich breite Publikumsinteresse im „Ländle“ boten einen fruchtbaren Boden für eine wieder dezidiert „fromme“ Bachdeutung. Als besondere Marke entwickelte Rilling die Gesprächskonzerte, wo er wie vormals Schweitzer in seinem Buch jetzt in freier, allerdings auswendig gelernter Rede en detail den jeweiligen tiefen Sinn von musikalischen Phänomenen in Bachs Kantaten und Oratorien erklärt und vorführt. Die einzelnen Klangbeispiele werden live präsentiert, ehe eine Gesamtaufführung erfolgt. Rilling agiert so als der Hohepriester, der aus intimer Nähe mit dem Genius des Thomaskantors die Geheimnisse des Bachschen Grals unmittelbar vor den Ohren der Bach-Gemeinde entschlüsselt. In der Aufführungspraxis ist der ästhetische Unterschied zu Richter nicht sehr groß. Das Tempo im Schlusschor der Matthäus-Passion ist fast iden-

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tisch langsam (CD Rilling). Auch bei Rilling ist der Chorklang ziemlich pathetisch, allerdings klarer als bei Richter, und die Geschmacksverirrung der Mixturenorgel gibt es nicht. Die Stuttgarter Bachakademie legte sich alsbald das Signet „International“ im Titel zu, um deutlich zu machen: Es geht uns darum, diesen unseren deutschen Bach in alle Welt zu tragen. Man kann da in wörtlichem Sinne von einer „missionarischen Strategie“ sprechen. Bei den Kursen der Bachakademie hatten ausländische Teilnehmer stets Vorrang und Rilling exportierte seinen Bach, unterstützt von einer cleveren Logistik, all over the world. In den USA, beim Oregon Bach Festival, schuf er sich sogar so etwas wie ein zweites Standbein. In den Pressemeldungen zu Rillings 80. Geburtstag 2013 war von inzwischen 20 Ablegern der Bachakademie weltweit zu lesen. Das Jahr 1985 wurde als Europäisches Jahr der Musik begangen. Anlass war das dreifache Centenar-Jubiläum der deutschen Musikgrößen Schütz (Jg. 1585), Bach und Händel (beide Jg. 1685). In Stuttgart wurde im Sommer mit einem großen Musikfest inklusive Staatsakt mit Rede des Bundespräsidenten der wahre deutsche Bach zelebriert. Die DDR feierte ihren Bach natürlich auch mit einem großen internationalen Bachfest in Leipzig. Und die sächsische Landeskirche feierte nochmal extra, ebenfalls in Leipzig … Die Krönung des Bach-Jahres 1985 bestand für Helmuth Rilling darin, dass ihm die theologische Fakultät der Universität Tübingen am 11. Dezember den theologischen Ehrendoktor verlieh, wiederum in Anwesenheit des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Damit wurde wissenschaftlich sanktioniert deutlich: Der deutsche Bach ist der fromm gedeutete Bach. Und den Erfolg dieser Missionsstrategie belegte Rilling, indem er bei der Ehrenpromotion erzählte, wie in Moskau Menschen, die keinen Einlass zu seiner Aufführung der h-Moll-Messe mehr fanden, eine Tür eintraten, um es doch hören zu können. Das war sozusagen die Antizipation des Mauerfalls von 1989. Auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs wurde Bach-Interpretation auch ambitioniert betrieben, sogar mit einem bemerkenswerten Eigenprofil. Es gibt eine Aufnahme der Matthäus-Passion, die in Dresden im Vorfeld des Bachjahres 1984 entstand (CD Schreier). Der Schlusschor hört sich im Vergleich mit den westdeutschen Einspielungen viel barocker an, ein geradezu tänzerisches Tempo, deutliche, ja überdeutliche Artikulation schon im Orchester. Verantwortlich für diesen gar nicht pathetischen

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Sound war Peter Schreier (Jg. 1943), der aus Dresden stammende Tenorsänger, der sonst als Evangelist (und Opernsänger) international gefragt war und auch tatsächlich mit seinem französischen Citroen jenseits des Eisernen Vorhangs fahren durfte. Von unseren heutigen Hörerfahrungen her müssen wir allerdings auch bei Schreier ästhetisch die Nase rümpfen und sagen: Da will einer Bach auf Barock machen und weiß doch eigentlich nicht, wie das geht.

J üngere europäische B achrezep tion jenseits der deutschen G renzen Eine wirklich neue Bach-Welt hatte sich schon einige Zeit vor 1985 aufgetan jenseits der Grenzen von Ost- und Westdeutschland, in Österreich und in Holland. Der Wiener Cellist Nikolaus Harnoncourt (Jg. 1929), aus einer ehemals lothringischen Adelsfamilie stammend, in Graz katholisch aufgewachsen, hatte über die Arbeit mit historischen Instrumenten und deren spezifischen Spieltechniken die ganze Welt des Barock ästhetisch neu aufgemischt. Sein Ensemble, der Concentus musicus Wien feierte bereits 60. Geburtstag, wurde 1953 gegründet. In Holland waren es die zahlreichen erhaltenen Barockorgeln, welche zu einer Korrektur der gängigen Ästhetik nötigten. Der Cembalist und Organist Gustav Leonhardt (1928–2012) gilt hier als der Spiritus rector einer Neuorientierung mit großer Breitenwirkung unter jungen Musikern in ganz Europa, die dann auch lernwillig nach Holland pilgerten. In einem ambitionierten Aufnahme-Projekt beim Label Teldec, noch auf Schallplatte, spielten der österreichische Katholik Harnoncourt und der holländische Calvinist Leonhardt arbeitsteilig das gesamte Kantatenwerk des deutschen Lutheraners Bach ein in wirklich historischer Aufführungspraxis, nämlich nicht nur mit historischen Instrumenten, sondern auch mit Knabenchören und mit Knabensolisten im Sopran. Während Rilling mit seiner Gesamteinspielung natürlich fristgerecht bis 1985 fertig war, brauchten Harnoncourt und Leonhardt etwas länger. In Holland und Belgien entwickelte sich bald eine eigene Barockmusikszene. Das Spiel mit historischen Instrumenten erfuhr deutlich eine Professionalisierung und wurde zu einem eigenen Bereich künstlerischer Höchstleistung. Mit dem neuen Speichermedium CD kam es zu einer Flut von Neueinspielungen aller Arten von Barockmusik. Das Interesse

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an Bach stand nun also im Kontext einer breiten Erschließungsarbeit des vieldimensionalen Phänomens Barockkultur. Eines der führenden Ensemble ist „La petite bande“. Dazu gehören die aus Belgien stammenden Brüder Wieland, Sigiswald und Barthold Kuijken, inzwischen alle über 65 Jahre alt, einer ist Cellist und Gambist, einer Geiger und Gambist, einer Flötist. Sie haben schon viel in allen Variationen miteinander musiziert. Unter Ägide von Sigiswald, dem Geiger und Ensembleleiter, entstand noch eine wiederum ambitioniert historische Bach-Kantatenaufnahme (abgeschlossen 2014). Es wurde alles solistisch gesungen, allerdings nicht mit Knabensolisten. Kaum dass Harnoncourt und Leonhardt mit ihrer Gesamteinspielung fertig waren, begann der als Virtuose an Orgel wie Cembalo europaweit gefragte Ton Koopman (Jg. 1944), ebenfalls Holländer, mit seinen eigenen Ensembles eine neue Gesamtaufnahme der Kantaten, die bis zum nächsten Bach-Jubeljahr 2000 fertig sein sollte. Inzwischen dirigiert Koopman allerdings auch regelmäßig führende traditionelle Musikensembles bei Passions-Aufführungen, z.B. in der Münchner Philharmonie am Gasteig. Da kann man als Dirigent einfach mehr Geld verdienen. Als Ensembleleiter wohl noch bekannter als Koopman ist der Belgier Philippe Herreweghe (Jg. 1947), der zwar keine Bach-Gesamteinspielung vorgelegt hat, aber mit seinem Collegium Vocale Gent besonders mustergültige Interpretationen vieler Bach-Werke vorgelegt hat. Bei seiner Version des Schlusschores der Matthäus-Passion (CD Herreweghe) stimmt das Timing exakt. Die Hörer spüren den bemerkenswerten Tanzcharakter dieses Trauerreigens, aber es ist nicht überpointiert wie bei Peter Schreier. Manko im Blick auf historische Aufführungspraxis bleibt, dass ein gemischter Chor aus Männer und Frauen singt und nicht ein Ensemble aus Männern und Knaben wie bei Bach. Zu Herreweghes Vita seien ein paar Stichworte gegeben. In einem Jesuiten-Internat wurde er katholisch sozialisiert. Er studierte dann die Tasteninstrumente Klavier, Cembalo und Orgel, schloss aber noch eine medizinische Ausbildung mit Schwerpunkt Psychiatrie an. In Interviews ist von ihm immer wieder zu vernehmen, dass er mit den Inhalten von Bachs geistlicher Musik eigentlich nichts anfangen könne. Die Jesuiten haben sozusagen ganze Arbeit bei ihm geleistet. Gleichwohl eignet ihm ein besonders sensibles Empfinden für die spezifischen musikalischen Ausdrucksdimensionen bei Bach.

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E in spe zielles B eispiel Eine diesbezüglich analoge Künstlerbiographie kenne ich aus nächster Nähe. Als Student habe ich im Bach-Jahr 1985 bei einer Aufführung der Johannes-Passion in München unter Leitung von Wolfgang Kelber einen holländischen Tenor erlebt, dessen Gestaltung der Evangelistenpartie eine solche Offenbarung war, dass nicht nur Robert Leicht in der Süddeutschen Zeitung darüber ins Schwärmen kam, sondern ich mir schwor, sollte ich jemals selber eine Johannes-Passion aufführen, dann nur mit ihm. Am 10. März 1991 war es so weit an meiner ersten Kirchenmusikerstelle als Bezirkskantor in Nürtingen am Neckar. Seither bin ich mit Harry Geraerts (Jg. 1945) befreundet und habe zahlreiche Bach-Konzerte mit ihm bestritten. Von ihm habe ich nicht nur aufführungspraktisch in Sachen Bach viel gelernt. Seine Gestaltung der exponierten Vokalpartien Bachs hat mir zahlreiche tiefe theologische Einsichten erschlossen. Dieser Sänger, der mir sozusagen Offenbarungen bescherte, ist aber selber aus der Kirche ausgetreten. Der Glaube wurde ihm als Heranwachsendem ausgetrieben. Er war Mitglied im Utrechter katholischen Knabenchor, wurde von der liturgischen Praxis der Kirche vor allem auch ästhetisch angewidert und zog aus seiner zwangsweisen Mitwirkung daran später die Konsequenz. Ein signifikantes Beispiel für Geraerts Gestaltungsfähigkeit ist der Beginn der Evangelistenpartie in Bachs Johannes-Passion. Sie setzt ein mit dem exponierten hohen G: „Jesus ging mit seinen Jüngern über den Bach Kidron“. Normalerweise, so auch in der späteren Matthäus-Passion, werden solche Spitzentöne erst im Verlauf der Rezitativerzählung erreicht. Geraerts sang dieses erste „Jesus“ in München mit so gepresst scharfem, eigentlich unästhetischem e-Vokal, dass wir auf einer bald anschließenden Chorreise das oft karikierten zu unserem Spaß. Bei der Nürtinger Aufführung sechs Jahre später war es etwas weniger extrem, aber immer noch sehr deutlich. Dieses „Jesus“ kommt gleich nochmal: „[…], da war ein Garten, darein ging Jesus und seine Jünger.“ Bach setzt die zweite Namensnennung Jesu wieder so hoch. Die Ausrufung des Verräternamens Judas ist als präziser Gegenpol dazu gestaltet. Mit der für deutsche Sänger ungewohnten und für unser gewöhnliches Empfinden übertriebenen, durch den J-Anlaut profilierten Färbung der Vokale hat der Holländer Geraerts gezeigt, welch subtiles Spiel mit

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dem Sprachklang von „Jesus“ wie „Judas“ Bach treibt. Hinzu kommt als weiteres Wort mit J noch „Jünger“. Gerade so gehören sie zu Jesus: „Jesus ging mit seinen Jüngern […]“. Bach beginnt die Erzählung des Passionsberichts mit der exponierten Ausrufung des Jesus-Namens und realisiert damit, was der vorausgehende Eingangschor thematisiert hat: „Herr, unser Herrscher, dessen Ruhm in allen Landen herrlich ist.“ Wahrscheinlich stand im Libretto in Anlehnung an eine auf Psalm 8 rekurrierende liturgische Formel sogar „dessen Nam in allen Landen herrlich ist“. Die dreifache „Herr“-Anrufung da lässt Bach auch mit dem hohen G beginnen. Selbst die Schächer nachher werden unabsichtlich dem Jesus-Namen huldigen, wenn sie genauso mit dem hohen G antworten auf die Frage: „Wen suchet ihr? – Jesum, Jesum von Nazareth.“ Wie zwingend Bach hier die theologische Komposition des Johannes-Evangeliums umsetzt, dass Jesu Tod de facto seine Verherrlichung, die Huldigung seines Namens bedeutet (vgl. Klek 2009: 120f.), das hätte sich mir nicht erschlossen, wenn Harry Geraerts nicht so auffällig „Jesus“ gesungen hätte. Ein anderes Rezitativ, in welchem der Holländer Harry Geraerts zeigt, welche Potenzen das Lutherdeutsch der Bibel hat und wie Bach diese kongenial zur Geltung gebracht hat, ist die Szene, wo der Jünger Petrus leugnet, etwas mit Jesus zu tun zu haben (NBA Nr.12). Zunächst sind da wieder Namen exponiert: „Hannas – Kaiphas – Simon Petrus“, gegen Ende des Rezitativs steht erneut „Jesus“. Harry dehnte das extrem, sodass der Jesus-Name als inhaltlicher Fokus überdeutlich wurde. Mit höchst ausdifferenziertem Vokalklang gestaltete er die Verben „und wärmete sich“, „leugnete“ des Petrus, „krähete“ des Hahns als je eigene Wortsphären und schließlich das von Bach extrem ausgedehnte „weinete bitterlich“ des Petrus. Zum größten Ereignis wurde aber das schlichte Wörtchen „da“, welches die bittere Selbsterkenntnis bei Petrus einleitet. Solch deutsche Sprachmächtigkeit habe ich bei keinem deutschen Sänger erlebt. Bei seinen Landsleuten Herreweghe wie Koopman durfte Geraerts nie singen, also ist seine Evangelistenkunst auch nicht in einer Einspielung festgehalten. (Von den Aufführungen in Münchnen wie Nürtingen gibt es allerdings private live-Mitschnitte). Es wurde ihm gesagt, seine Gestaltung sei ästhetisch einem breiteren Publikum nicht vermittelbar. Ich war aber nicht der einzige Geraerts-Fan. Der Kirchenmusikerkollege im benachbarten Reutlingen führte Johannes- wie Matthäus-Passion extra auf, um Harry Geraerts als Evangelist erleben zu können.

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Als ich den Holländer Harry Geraerts fragte, wie er sich selber sehe als Künstler im Gemenge der unterschiedlichen Aufführungsstile und -traditionen, sagte er: „Ich bin Europäer“. Als Europäer nimmt er die Eigenheiten der nationalen Ausdruckswelten sensibel wahr und setzt sie jeweils in ihrer Eigencharakteristik um. Ich habe ihn einmal französische Barockliteratur im authentischen altfranzösischen Idiom singen hören. Und das Englisch bei Händels „Messiah“ klang bei ihm natürlich auch nicht wie modernes Schulenglisch, sondern zeigte die authentische zeitgenössische Färbung, mit der die Musik so zwingend harmoniert. Für ihn als Europäer war es schließlich konsequent, als Domizil für den kurz nach dem Jahr 2000 begonnenen Ruhestand einen schönen Flecken europäischer Erde außerhalb des klimatisch unwirtlichen und überbevölkerten Holland zu suchen. So hat er ein altes verfallenes Schloss in Südfrankreich gekauft (St. Guiraud östlich von Auch) und sich dessen (inzwischen vorbildlich abgeschlossene) Restaurierung zur Lebensaufgabe für den dritten Lebensabschnitt gemacht. Für mich steht Harry Geraerts exemplarisch dafür, dass Europäer uns Deutschen zeigen mussten, wie Bachs Musik ihre spezifischen Potenzen entfaltet und dass Bach eben nicht den Deutschen „gehört“.

M it B ach durch ganz E uropa Dass Bach nun auch im Wortsinn zum Europäer wurde, dafür sorgte im Bachjahr 2000 eine vom Organisations- und Finanzierungsaufwand her unglaublich kühne künstlerische Aktion, die Bach-Pilgrimage von John Eliot Gardiner (Jg. 1943). Ein Jahr lang musizierte er mit seinem britischen Chor und Orchester nur Bach-Kantaten, jeden Sonntag die im Kirchenjahr dafür bestimmten, und zog dabei durch ganz Europa im Sinne einer Pilgerreise. „On Christmas Day 1999 a unique celebration of the new Millennium began in the Herderkiche in Weimar, Germany: the Monteverdi Choir and English Baroque Soloists under the direction of Sir John Eliot Gardiner set out to perform all of Johann Sebastian Bach's surviving church cantatas in the course of the year 2000, the 250th anniversary of Bach's death. The cantatas were performed on the liturgical feasts for which they were composed, in a year-long musical pilgrimage encompassing some of the

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most beautiful churches throughout Europe (including many where Bach himself performed) and culminating in three concerts in New York over the Christmas festivities at the end of the millennial year. It was a remarkable and rewarding experience for all who took part, as well as for the audiences who came to hear us in thirteen European countries and in New York. As both musical and spiritual pilgrims we became participants in a living process, a journey of discovery both physically and emotionally. The Pilgrimage in figures: • 1 year • 59 concerts • 282 musicians • 50 cities • 13 countries • 198 cantatas performed • Over 40 concerts recorded“2

Während dieser Pilgerreise hat Gardiner ein Tagebuch geführt und seine Eindrücke, Erlebnisse festgehalten, wie es Pilger praktizieren. Er ist mit Bach durch Europa gepilgert und hat zum Schluss noch den Atlantik überquert und das Projekt in der Metropole der westlichen Welt, New York, beendet. Die CDs mit den Live-Aufnahmen von diesen Konzerten haben als Coverbild allerdings Portraitfotos von Menschen, die deutlich als Nicht-Europäer kenntlich sind. Das Label SDG ist eine nur zum Zweck von CD-Produktionen Gardiners gegründet Non-profit Organisation. Bachs Motto „Soli Deo Gloria“ – „Gott allein die Ehre“– steht so über dieser Variante einer in gewissem Sinn ebenfalls „frommen“ Bach-Rezeption. Gardiners Bachjahr-Projekt sprengt bereits die Themenstellung „Wie Bach (vom Deutschen) zum Europäer wurde“, es müsste nun eher heißen „Wie Bach vom Europäer zum Global player wurde“.

2 | (http://monteverdi.co.uk/home/past-projects/bach-cantata-pilgrimage) (Abruf 28.12.2015).

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B ach vorbildlich aus J apan Die aufs Ganze betrachtet wohl beste Bachkantateneinspielung unserer Tage ist denn auch in Japan produziert worden (abgeschlossen 2014) und beim schwedischen Label „BIS“ erschienen. Der Leiter Masaaki Suzuki (Jg. 1954) hat mit der europäischen Brille der Holländer, bei denen er studiert hat, sich den Kosmos der Bachschen Welt erschlossen. Er erklärt seinen nur zu einem geringen Prozentsatz christlichen, japanischen Musikern immer sehr genau, was sie singen. Auch hier scheint der Blick von außen besonders tief ins Innere zu führen. Beim Schlusssatz von Bachs Vermächtniswerk der h-Moll-Messe, „Dona nobis pacem“, hat Suzuki einen wunderbar erhabenen Grundpuls gewählt, der dem hier gegebenen europäischen Topos des Stile antico gemäß ist. Der Japaner Suzuki zeigt uns, was in der „Ästhetik Europas“ Friedensmusik sein kann.

L iter atur Forkel, Johann Nikolaus (1802): Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke, Reprint der Erstausgabe Leipzig, hg. v. Axel Fischer, Kassel etc. 1999. Geck, Martin (2013); Wagners Bach, in: Concerto. Das Magazin für Alte Musik, Nr. 249, Mai/Juni 2013, S. 21, Altenburg. Klek, Konrad (2009): Werkbetrachtung Johannes-Passion BWV 245, in: Emans, Reinmar/ Hiemke,Sven (Hg.), Bachs Passionen, Oratorien und Motetten (Das Bach-Handbuch, Bd. 3), Laaber, S. 109–145. Rathert, Wolfgang (2000): Kult und Kritik. Aspekte der Bach-Rezeption vor dem ersten Weltkrieg, in: Heinemann, Michael/ Hinrichsen, Hans-Joachim (Hg.), Bach und die Nachwelt, Band 3, 1900–1950, Laaber, S. 23–62. Sandberger, Wolfgang (1997): Das Bach-Bild Philipp Spittas. Ein Beitrag zur Bach-Rezeption des 19. Jahrhunderts, Stuttgart. Schweitzer, Albert (1905): J.S. Bach. Le musicien-poète, Leipzig. Schweitzer, Albert (1908): J.S. Bach, Leipzig (zahlreiche Folgeauflagen). Siegele, Ulrich (1988): Johann Sebastian Bach – „Deutschlands größter Kirchenkomponist“, in: Danuser, Hermann (Hg.), Gattungen der Musik, Laaber, S. 59–85.

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Spitta, Philipp (1916): Johann Sebastian Bach, 2 Bde. (1873/1880), Zweite unveränderte Auflage Leipzig. Wolff, Christoph (2000): Johann Sebastian Bach, Frankfurt. Wolfrum, Philipp (1910): Johann Sebastian Bach, 2 Bde. Leipzig; Reprint: Hildesheim 1978. Wollny, Peter (2013): Eine unbekannte Bach-Handschrift und andere Quellen zur Leipziger Musikgeschichte in Weißenfels, in: Wollny, Peter (Hg.), Bach-Jahrbuch 99, Leipzig, S. 129–170.

Notenausgaben Bach, Johann Sebastian: Sechs Brandenburgische Konzerte, hg. v. Heinrich Besseler (Neue Ausgabe sämtlicher Werke NBA VII/2), Leipzig 1956. Bach, Johann Sebastian: Johannes-Passion, hg. v. Arthur Mendel (NBA II/4), Leipzig 1973. Bach, Johann Sebastian: Zweiter Teil der Klavierübung, hg. v. Walter Emery (NBA V,2), Kassel etc. 1977. Bach, Johann Sebastian: Psalm 51: Tilge, Höchster, meine Sünden, hg. v. Andreas Glöckner (NBA I/41), Kassel etc. 2000.

Tonträger Herreweghe, Philippe: J.S. Bach. Matthäus-Passion, harmonia mundi 1999. Kunze, Hagen/ Lieberwirth, Steffen (Hg.) (2013): Der Thomanerchor Leipzig zwischen 1928 und 1950, Altenburg: querstand. Richter, Karl: Johann Sebastian Bach. Matthäus-Passion, Archiv Produktion 1980. Rilling, Helmuth: J.S. Bach. Matthäus-Passion, CBS 1978/1985. Schreier, Peter: Johann Sebastian Bach. Matthäus-Passion. Philips 1984. Schweitzer: Bach Organ Music, Vol. I, IMD Music distribution Ltd 2002. Suzuki, Masaaki: J.S. Bach. Mass in B Minor, BIS Records AB, Akersberga 2007.

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Theater als europäische Anstalt? Ein kontinuierliches Missverständnis (Teil I) André Studt

Es ist naheliegend, einen Text, der sich um die Frage rankt, ob man ‚Theater als europäische Anstalt‘ verstehen könne, zum Einstieg und Klärung des argumentativen Rahmens zunächst auf zwei Dinge zu beziehen: Zum einen auf Friedrich Schiller, den eigentlichen Stichwortgeber dieser Formulierung, die eine Modifikation dessen Gedankens, ein institutionalisiertes Theater könne als ‚moralische Anstalt‘ dienen, darstellt – und zum anderen auf die Wurzel der europäischen Theateridee, nämlich das Theater der griechischen Antike, die auch bei Schiller zur Sprache kommt – und damit das von uns konstatierte Missverständnis exemplarisch artikuliert. Schiller hat einer Rede, die er am 26. Juni 1784 in Mannheim im Rahmen einer öffentlichen Sitzung der kurpfälzischen deutschen Gesellschaft gehalten hat (bei der er sich eine Anstellung als Sekretär erhoffte), den Titel ‚Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?‘ gegeben (Schiller 1785: 1); dieser Vortrag wurde dann 1802 unter dem uns bekannteren Titel ‚Die Schaubühne als moralische Anstalt‘ publizistisch weiterverbreitet. Bereits in diesem, für sowohl das Theater- als auch das Bildungsverständnis im deutschsprachigen Mentalraum äußerst prägenden Text sind einige der Ambivalenzen enthalten, denen im Folgenden in Bezug auf das Verhältnis von Theater und seinen Möglichkeiten, eine Balance zwischen lokaler Wirksamkeit, nationaler Ausrichtung und einer europäisch bzw. international zu nennenden Kontextualisierung zu schaffen, nachgegangen wird.

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Auch wenn man dem pathetischen Enthusiasmus Schillers heute in Zeiten nüchtern vorgebrachter ‚Alternativlosigkeit‘ und zusehends knapper werdender öffentlicher Mittel eher mit Skepsis begegnet 1, ist die Frage, die er sich und den ihm wohl doch weniger geneigten Herren im Auditorium stellte, von einiger Aktualität: Warum man sich eine ‚stehende Schaubühne‘ momentan leisten solle – und welche konkreten Wirkungsversprechungen diese Institution gegenwärtig machen könne, ist nicht zuletzt die Frage nach einer nachhaltigen Platzierung des Theaters in die sozialen, mentalen und politische Diskurse einer Gesellschaft, die sich weniger durch die Orientierung an einer (nationalen) Leitkultur (vgl. Tibi 1998 und 2002) als durch die Pluralität globalisierter Lebenswelten auszeichnen sollte. Für Schiller waren diese Pole noch zusammen zu denken, weil Ersteres, nämlich die politisch wie kulturell verwirklichte Idee einer deutschen Nation und Gesellschaft, seinerzeit ein Phantasma war: Er, der im Zusammenwirken mit Goethe zwischen 1794 und 1805 in Weimar dazu die deutsche Klassik „erfunden“ hat, konnte so „zum Mythos des deutschen Bildungsbürgertums“ werden. Dessen kulturelle „Programmatik, die das wirtschaftliche und politische Leben als nachgeordnete Formen menschlicher Betätigung begriff und stattdessen eine nur kulturell zu verwirklichende Gesamtheit der Betätigungen als Ziel menschlicher Existenz verkündete, hat sich ein Teil des aufstrebenden

1 | Die Aufführungen im ‚Theater‘ der aktuellen Europa-Politik bieten diesen Überlegungen einen Kontrapunkt – und manch bittere Pointe: Anstelle einer Antikenbegeisterung steht die wechselseitige Verunglimpfung. Mal wird der Venus von Milo, die als explizites Exempel der herausragenden Güte hellenistischer Kunst gilt und im Pariser Louvre steht – und gleichzeitig als implizites Beispiel dafür dient, dass der Reichtum Griechenlands oftmals andernorts aufzufinden ist – , ein Stinke­ finger per Bildbearbeitung anmontiert, den man den so genannten ‚Pleitegriechen‘ zeigt; mal werden die Repräsentanten der deutschen Regierung in NS-Uniformen abgebildet, die das drohende Ende der europäischen Idee unter Wiederkehr der Vorherrschaft einer Nation markieren sollen. Aber das muss in diesem Kontext nur eine Fußnote bleiben, auch wenn eine Analyse dieser Auseinandersetzungen um die Zukunft der EU und ihrer Währung ein Füllhorn an Missverständnissen freilegte (vgl. Mak 2012).

Theater als europäische Anstalt? Teil I

Bürgertums gegen die anderen sozialen Schichten wie gegen andere Nationen – die französische ‚Zivilisation‘ wie den englischen ‚Händlergeist‘ – abgegrenzt.“ (Münkler 2010: 329f.)

Damals wie heute lag in der Ausgrenzung des/der Anderen die Möglichkeit einer Definition des Eigenen; die Exklusion des konkret als fremd Wahrgenommenen schafft Räume für die Inklusion von identitären Ideen – und seien diese auch nur schwärmerische Konstruktion oder strategische Behauptung (vgl. Rosenberger 2008). Schillers Rede kann demnach bereits als Prolog zum später ausbuchstabierten Programm der Weimarer Klassik gelesen werden, in dem mehrere Aspekte zu einem idealistischen Amalgam verschmelzen; so bietet das literarische Affektpotential eines kanonisierten Welttheaters den Ausgangspunkt zur Neuorientierung: „Wenn keine Moral mehr gelehrt wird, keine Religion mehr Glauben findet, wenn kein Gesetz mehr vorhanden ist, wird uns Medea noch anschauern, wenn sie die Treppen des Palastes herunter wankt und der Kindermord jetzt geschehen ist. Heilsame Schauer werden die Menschheit ergreifen, und in der Stille wird jeder sein gutes Gewissen preißen, wenn Lady Makbeth, eine schreckliche Nachtwandlerin, ihre Hände wäscht und alle Wohlgerüche Arabiens herbeiruft, den häßlichen Mordgeruch zu vertilgen.“ (Schiller 1785: 10f. – Rechtschreibung des Originals)

Verbunden wird diese Annahme, menschliche Empathie sei eine Art anthropologische Konstante, die sich unabhängig der nationalen Herkunft realisiere (was man auch als Verweis auf die durch Lessing erfolgte Aktualisierung der antiken Affektenlehre und seiner Neubewertung des Katharsis-Begriffs verstehen kann – vgl. Fischer-Lichte 1993: 88–98), mit dem rationalen Programm der Aufklärung, das, institutionalisiert als Theater, einen „großen Einfluß [...] auf den Geist der Nation haben würde. Nationalgeist eines Volkes nenne ich die Aehnlichkeit und Uebereinstimmung seiner Meinungen und Neigungen bei Gegenständen, worüber eine andere Nation anders meint und empfindet. Nur der Schaubühne ist es möglich, diese Uebereinstimmung in einem hohem Grad zu bewirken, weil sie das ganze Gebiet des menschlichen Wissens durchwandert, alle Situationen des Le-

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bens erschöpft und in alle Winkel des Herzens hinunter leuchtet: weil sie alle Stände und Klassen in sich vereinigt und den gebahntesten Weg zum Verstand und zum Herzen hat.“ (A.a.O.: 23f.)

Folgerichtig führte für ihn der Weg zur Nation über „eine Nationalbühne“, sein Vorbild dafür entstammt der Antike: „Was kettete Griechenland so fest aneinander? Was zog das Volk so unwiderstehlich nach seiner Bühne? – Nichts anders als der vaterländische Inhalt der Stücke, der griechische Geist, das große überwältigende Interesse, des Staats, der besseren Menschheit, das in denselbigen athmete.“ (A.a.O.: 24)

Allein diese, unter dem Einfluss Johann Joachim Winckelmanns Abhandlung ‚Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst‘ (1755) stehende, Interpretation einer angenommenen antiken Theaterpraxis nimmt eine Zurichtung der Vergangenheit für eigene Anliegen vor und beruht auf die Einebnung von Widersprüchen, die man exemplarisch am Wandel des Begriffs der Mimesis nachvollziehen kann (vgl. Petersen 2000: 187–230). Denn für jede Form der Aneignung oder Annäherungen an theatrale Praktiken der Antike gilt: Wir müssen – je nach Quellenlage mehr oder weniger ambitioniert – spekulieren bzw. interpretieren. Dabei werden alle Überlieferungsvorgänge automatisch zum Gegenstand von subjektiver Auslegung – und damit potentiell Ursache von Missverständnissen. Exemplarisch lässt sich dies am ‚Antikenprojekt‘ von Peter Stein zeigen. Dieser war während seiner Intendanz an der Berliner Schaubühne in den 1970er Jahren an einer Rekonstruktion und Reanimation von antiken Stoffen und Aufführungsbedingungen interessiert. Seine Arbeiten hierzu dürften bis heute in Bezug auf Art, Umfang und Dokumentation einzigartig sein. Dies ist insofern bemerkenswert, da man implizit (und damit in der Tradition der ‚deutschen Klassik‘ stehend) davon ausging, im Material durch mimetische Interpretation so etwas wie einen überzeitlichen und damit auch transkulturellen Wahrheitskern finden zu können. Damit liefert sie immer noch eine Diskussionsvorlage für aktuelle Versuche, im zeitgenössischen (Sprech-)Theater mit antiken Stoffen umzugehen.

Theater als europäische Anstalt? Teil I

Im Vorwort von der von Peter Stein selbst angefertigten Übersetzung der Orestie des Aischylos, die „nicht zu literarischen oder wissenschaftlichen Zwecken, auch nicht fürs Theater allgemein, sondern für eine spezielle Aufführung angefertigt wurde“, schreibt er: „Am ersten Abend wurden unter dem Titel ‚Übungen für Schauspieler‘ eine Anzahl von Übungen gezeigt, die sich auf die strukturellen Grundelemente der Tragödie bezogen (mimische Grundäußerungen, Maske, Atemholen, Bewegung, Tanz, Thema Imitation, Thema Jagd und vieles mehr). [...] Diesen Veranstaltungen gingen monatelange Studien zur Entstehung und Strukturanalyse der Tragödie voraus.“ (Stein 1997: 7)

Bei der Inszenierungsarbeit wurde sich darum bemüht, „die ursprüngliche Raumdramaturgie (eines Freiluftthetaers mit Skene und Orchestra) spürbar zu machen“ (A.a.O.: 8); dazu zog man Altphilologen und Archäologen hinzu. Diese konzeptionelle Präzision steht in einem gewissen Gegensatz zum Dispositiv der Aufführung selbst, die – vergleicht man sie mit dem ‚Original‘ (so weit dies überhaupt möglich ist) – einen gänzlich anderen Charakter als die antiken Aufführungen gehabt haben dürfte. Zudem „störte die Inszenierung jede Annahme einer ‚werkgetreuen‘ oder ‚antike-treuen‘ Rekonstruktion, indem sie die Geschichte demonstrativ mit Elementen der Gegenwart zusammenbrachte, diese in die alten Kontexte hineinstellte, oder umgekehrt, das Alte in die Gegenwart hineinriß.“ (Fiebach 1998: 244)

Dennoch: Stein und seine künstlerischen Mitstreiter gingen – folgt man den Überlegungen des Theaterwissenschaftlers Joachim Fiebach, der die künstlerische Praxis der Schaubühne am Halleschen Ufer der Ära Stein untersucht hat – seinerzeit davon aus, dass sich die Grundlagen und Motivationen einer europäischen Theateridee in der Antike finden ließen. Die damals der eigentlichen Orestie vorangestellten ‚Übungen für Schauspieler‘ „entstanden aus dem bohrenden Befragen, woraus ‚unser Metier‘ bestand oder sich ‚irgendwie aus dem griechischen Theater‘ entwickelt haben konnte. Die Kombination mit ‚Motiven wie Jagd, Opfer, Initiation, von de-

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nen wir gelernt haben, dass aus ihnen die griechische Tragödie hervorgangen sein soll, ließ uns den blutigen Ernst und die Gefährlichkeit der ursprünglichen Voraussetzungen unseres lächerlichen Gewerbes‘ begreifen.“ (A.a.O.: 258f.)

Da es von dieser Arbeit keine Videoaufzeichnung gibt, muss man sich vollends auf die Aufführungsbeschreibung Fiebachs verlassen: „In Schminkmasken, kostümiert mit einer Art Latzhose und weiten Hemden, führte eine Schauspielergruppe, fast einstündig vor, wie der Körper (Mensch) atmet, aufsteht, durch Summtöne und Blicke kommuniziert, seine Arme und Beine bewegt usw. Darauf erfolgte die Sequenz ‚Jagd‘. Zwei Darsteller, in langen Mänteln und mit breitkrempigen Hüten, die an die brutalen ‚mythischen‘ Figuren der Italo-Western erinnerten, jagten ein vom Chor präpariertes ‚Wild‘, einen Menschen mit einem übergroßen lederartigen Bauch. Die Jagd [...] ging [...] bis zur sichtbar physischen Erschöpfung der Darsteller-Körper. Schließlich wurde der Gejagte mit Hilfe des Chores, der anderen Darsteller, umringt, das ‚Wild‘ gestellt. Als nächster Abschnitt folgte die Vorführung einer ritualen Opfer-Handlung, zu dem ein Objekt aus Tierschädeln und Knochen [...] hergerichtet wurde. In der darauffolgenden Pause trat ein Satyr auf. Er stolzierte mit großem aufgerichteten Penis vor den Zuschauern, die ihn vor der Halle aus einer Distanz beobachteten [...].“ (ebd.: 289)

Damit kann man sich die Frage stellen, inwieweit eine in dieser Art aktualisierte Spielform überhaupt noch etwas mit der an die griechische Antike angelehnten Aufführungspraxis zu tun hat bzw. zu tun haben kann. Lernen wir etwas von ‚den Griechen‘ (d.h. ‚den Alten‘ – wie Goe­ the es formuliert hatte, auch wenn er am Ende eingestehen musste, dass sein Bestreben, bildende Künstler seiner Zeit zu einer Orientierung an der griechischen Kunst zu drängen, gescheitert war)? Oder sind es letztlich nur wir selbst und Verweise auf uns umgebende kulturelle Praktiken (wie man eine strukturelle Analogie der Steinschen Inszenierung zu den Ästhetiken des Living Theatres der 1970er Jahre vermuten könnte), die im Spiel sich selber begegnen, ohne dass damit eine Tür zur Vergangenheit und zu anderen Kulturen geöffnet wäre? Hat das Fremde in Vergangenheit, Überlieferung und Gegenwart überhaupt eine Chance vor dem Eigenen, das sich spielend, handelnd, denkend etc. als gelebtes Jetzt entfaltet?

Theater als europäische Anstalt? Teil I

Das Theater, in das wir heute gehen, wenn wir denn überhaupt noch hingehen, ist das Ergebnis eines, nimmt man die besonderen politischen Rahmenbedingungen des Territoriums, das wir heute mehr oder weniger selbstverständlich als Deutschland bezeichnen, zur Kenntnis, spezifischen historischen Prozesses. Dieser begann mit der Seßhaftwerdung und langsamen Domestizierung des ‚fahrenden Volks‘ und führte über den Willen zur prunkvollen Selbstdarstellung von Herrschern in Hoftheatern bis zur Entdeckung als ‚moralische Anstalt‘ dazu, als privilegierter Ort der Ausbildung eines bürgerlichen Selbstverständnisses gewürdigt und kanonisch gepflegt zu werden. Dies hat 2014 schließlich zur Aufnahme in die Liste des immateriellen Weltkulturerbes der UNESCO geführt – auch Friedrich Schiller hat wohl einen Anteil daran. Kritiker dieses Anliegens gaben jedoch zu bedenken, dass mit diesem Schritt „eine gewisse Musealisierung, ein künstlerischer Stillstand und eine Versiegelung gegenüber kulturellen Verunreinigungen durch die Gegenwart und die Zukunft“ verbunden seien. „Also genau das Gegenteil jener Offenheit, Aktualität und globalen Vernetzung, die von den Mitgliedern des Bühnenvereins oft beschworen werden“ (Heine 2013). Es ist richtig, dass die deutsche Theaterlandschaft in ihrer Breite und der Struktur weltweit einzigartig ist; es ist aber ebenso richtig, dass diese Breite und Struktur von einem „Phantasma der Nationalkultur“ gespeist wird und damit der veränderten Gegenwart, die „durch die offensichtliche und greif bare Hybridisierung, durch Sub- und Parallelkulturen“ (Heeg 2013: 229f.) geprägt ist, nicht gerecht wird. Und auch der Migrationsforscher Mark Terkessides macht zurecht darauf aufmerksam, dass die „hoch subventionierten städtischen Theater immer noch Orte [sind], wo sich bestimmte Leute wie zuhause und andere deplatziert vorkommen. [...] Für viele Personen mit Migrationshintergrund ist das Theater weiterhin ein Raum, der auf ihrer cognitive map der Stadt gar nicht auftaucht. Es scheint per se den ‚Deutschen‘ zu gehören.“ (Terkessides 2010: 184f.)

Ergo: Die soziale und multiethnische Realität der deutschen Großstadt wird noch sehr selten in den Spielplänen, dem Ensemble und der Außenkommunikation der Theater gespiegelt; Fragen nach einem Umgang mit den Themen Integration und Teilhabe von Menschen mit migrantisch geprägter Vita an den Institutionen und Diskursen der deutschen ‚Leitkultur‘ finden in den Theatern – wenn überhaupt – meist nur in sozial- oder

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theaterpädagogisch geprägten Projekten einen Ort, wie beispielsweise dem Programm Heimspiel der Bundeskulturstiftung, indem Theatermacher in so genannte Problembezirke mit hohem Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund gehen und dort gemeinsam Projekte initiieren. Das Theater, in das wir heute vielleicht gehen, spricht unsere Sprache. Auch dazu hat es seinen Beitrag geleistet – war es doch eine Idee des deutschen Nationaltheaters, dieses als ideellen Ort einer gemeinsamen Hochsprache (im Gegensatz zur zerfaserten Landkarte und den landsmannschaftlichen Idiomen, Bräuchen und Gepflogenheiten) zu etablieren. Es bietet damit, im Sinne des inklusiven Nationalgedanken Schillers, einen relativ geschlossenen Raum an Symboliken, d.h. nicht nur sprachliche Zeichen, sondern auch Gesten, Haltungen, Ikonographien etc., der das Eigene in der Abgrenzung zum Fremden – oder einer Befremdung durch ästhetische Phänomene – befragt und letztlich stabilisiert. Ein Austausch mit anderen Kulturen findet gegenwärtig mehr denn je über Texte statt. Deutsche Stadt- und Staatstheater sind begierig darauf, unbekannte Autoren Europas (und der Welt) zu entdecken und sich im Feld von Mitbewerbern im Kultur-Diskurs hervorzutun, so wie es in den 1990er Jahren zum letzten Mal in großem Maße durch die deutschsprachige Erstaufführung britischer Autoren des in-yer-face-theatre in der Baracke des DT in Berlin gelungen ist. Zudem scheint es zur Zeit einen Trend dahin zu geben, ausländische Regisseure auf Inszenierungen des klassisch deutschen Kanons anzusetzen – vielleicht markiert dies eine Position einer immer notwendiger werdenden Neubestimmung und -ausrichtung von Auftrag und Ziel kommunaler Theaterproduktion. Dass sich die Institution Theater, die ihre Strukturen und Selbstverständnisse vor über hundert Jahren ausgebildet hat, wandeln muss, um einem zeitgenössischem Publikum einen Zugang zu schaffen, steht außer Frage. Der produktionsästhetisch motivierte Vorschlag von Heiner Goebbels, in jedem Bundesland ein Theater in eine freie Produktionsstätte umzuwandeln (Goebbels 2012: 160–166), ist dem kulturpolitischen Ansinnen, Theater per UNESCO-Listeneintrag zu konservieren, diametral entgegen gestellt und ähnelt sich strukturell der Logik von international ausgerichteten Festivals an. Hier könnten sich Möglichkeiten eines konkreten Austausches von künstlerischen Produktionsweisen und deren Ergebnissen ergeben; hier zeigten sich die sehr unterschiedlichen Herangehensweisen an das, was dann bei der Ansicht jeweils ‚Theater‘ genannt wird; hier gäbe sich die darstellende Kunst in der Tat europäisch

Theater als europäische Anstalt? Teil I

bzw. globalisiert. Auch wenn die Schillersche Trope, die Bühne bewirke dem Zuschauer das Gefühl, ‚ein Mensch zu sein‘, als trefflicher Werbespruch für dramaturgische Konfektion von (internationalen) Festivals taugen mag – und das Publikum vor Ort meist dasselbe bleibt, so liegt im Aufführungsereignis prinzipiell das Missverständliche geborgen. Man mache es sich zunutze.

l itEr atur Fiebach, Joachim (1998): ‚Das entscheidende für uns (...) ist das Theater in Paradoxis‘ – Zur Schaubühne am Halleschen Ufer von 1970 bis 1980. In: Erika Fischer-Lichte / Friedemann Kreuder / Isabel Pflug (Hg.): Theater seit den 60er Jahren. Grenzgänge der Neo-Avantgarde. Tübingen/Basel, S. 235–315. Fischer-Lichte, Erika (1993): Kurze Geschichte des deutschen Theaters. Tübingen/Basel. Goebbels, Heiner (2012): Der Kompromiss ist ein schlechter Regisseur. Theater als Museum oder Labor. In: Ders.: Ästhetik der Abwesenheit. Texte zum Theater. Berlin, S. 160–166. Heeg, Günther (2013): Die AufLösung des Stadttheaters. Die Zukunft des Stadttheaters liegt in einer transkulturellen Theaterlandschaft. In: Wolfgang Schneider (Hg.): Theater entwickeln und planen. Kulturpolitische Konzeptionen zur Reform der Darstellenden Künste. Bielefeld, S. 229–241. Heine, Matthias: Stehen Deutschlands Theater vor der Ausrottung? http://w w w.welt.de/kultur/buehne-konzer t/ar ticle116500410/ Stehen-Deutschlands-T heater-vor-der-Ausrottung.html  (Abruf 29.07.2015). Mak, Geert (2012): Was, wenn Europa scheitert. München. Münkler, Herfried (2010): Die Deutschen und ihre Mythen. Bonn. Petersen, Jürgen H. (2000): Mimesis-Imitatio-Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik. München. Rosenberger, Veit (Hg.) (2008): ‚Die Ideale der Alten‘. Antikenrezeption im 1800. Stuttgart. Schiller, Friedrich (1785): Thalia. Erster Band welcher das I. bis IV. Heft enthält. Leipzig. Stein, Peter (1997): Die Orestie des Aeschylus. München.

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Terkessides, Mark (2010): Interkultur. Berlin. Tibi, Bassam (1998): Europa ohne Identität? Die Krise der multikulturellen Gesellschaft. München. Tibi, Bassam (2001): Leitkultur als Wertekonsens. Bilanz einer missglückten deutschen Debatte. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. B 1–2, S. 23–26.

Theater als europäische Anstalt? Ein kontinuierliches Missverständnis (Teil II) Clemens Risi

Hat sich die abendländische Theatergeschichte seit den Griechen nicht schon immer als ein gesamteuropäisches Projekt dargestellt? War die Vereinigung Europas im Theater nicht eigentlich schon immer realisiert? Oder müssen wir nicht vielmehr die akuten Missverständnisse zwischen Einheits-Beschwörungen und Trennungs-Rhetoriken als Leitmotiv für das Theater als europäischer Anstalt konstatieren? Diesen bereits in Teil I angesprochenen Fragen soll im Folgenden nun an Stationen der deutschen Theatergeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts unter der Perspektive nachgegangen werden, inwiefern die mannigfaltigen, Nationen überbrückenden Vereinigungs- und Übernahme-Bestrebungen im Theater nur umso deutlicher die Gräben wieder markieren – ganz im Sinne der Dynamik der Grenzüberschreitungen, die Grenzen hervortreten lässt bzw. neue Grenzen entstehen lässt (vgl. z. B. Hahn 2002; Geisen/Karcher 2003; Hahn 2003). Richard Wagner war ein den Griechen gegenüber höchst affiner Künstler, der eigentlich sein gesamtes revolutionäres Gedankengebäude einer neuen Kunst, eines Kunstwerks der Zukunft, auf dem Vorbild der alten Griechen auf baute – und dabei, wie zu zeigen sein wird, mehreren Missverständnissen aufsitzen sollte, höchst produktiven Missverständnissen übrigens. Sowohl in politisch-ästhetischer wie in bautechnisch-räumlicher Hinsicht stand die griechische Tragödie für Wagner Modell. Fasziniert vom demokratischen Gedanken der polis, das Theater zum Ort der Konstitution oder Selbstrepräsentation zu wählen, verfolgte er das Ziel eines Wiederauflebens dieser von ihm genannten „freien und schönen Öffent-

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lichkeit“ (Fischer-Lichte 1993: 197; Borchmeyer 1982: 64) in seiner Kunst sowie ganz konkret die Demokratisierung des Zuschauerraums, der befreit werden musste vom barocken Ballast der Dekorationen und ständischen Ranggliederung. Das Vorbild hieß Amphitheater. In seiner Schrift Über Schauspieler und Sänger aus dem Jahr 1872 schrieb Wagner: „In der vom Amphitheater fast vollständig umgebenen antiken Orchestra stand der tragische Chor wie im Herzen des Publikums.“ (zit. nach Borchmeyer 1982: 64) Was Wagner hier meint, ist das griechische Amphitheater, in dem das Publikum in einem Überhalbkreis die orchestra, den Ort des Chores, umschloss, in dem jeder und jede sich als Bestandteil des Geschehens fühlen konnte, da alle Zuschauenden von jedem Platz den selben guten Blick auf die orchestra hatten und jede/jeder gleichzeitig auch ihr/ sein Gegenüber, die Mit-Zuschauenden im Blick haben konnte. Als Gemeinschaft umrundete das Publikum die orchestra. Was Wagner mit dem Bayreuther Festspielhaus dann aber daraus gemacht hat, ist etwas völlig anderes. Der Halbkreis ist vielleicht in Andeutungen zu erkennen, ebenso das Fehlen eigentlicher Ränge und Logen. Die Sitzreihen steigen steil an, damit jeder Zuschauer und jede Zuschauerin die gleiche Sicht hat (vgl. Borchmeyer 1982: 73). Das Entscheidende aber, der Überhalbkreis, der die orchestra umschließt, ist nicht realisiert. Denn worum es Wagner eigentlich ging, war ein Disziplinierungsprogramm für den zerstreuten Großstadtbürger, dessen Blick ausschließlich auf den perfekten Guckkasten und seine illusionserzeugende Energie gelenkt werden sollte. Was er dort sehen, hören und erleben sollte, sollte schließlich alle bis dahin bekannten Bühnenereignisse übertreffen. Wagner wollte mit den imposanten und aufwändigen Schaueffekten der französischen grand opéra konkurrieren, um ebenso viel oder noch mehr Erfolg als sein Rivale Giacomo Meyerbeer zu haben, und das ist teuer. Das geht nicht mit einer freien und schönen Öffentlichkeit, mit Leuten, die womöglich zu wenig Geld für die teuren Eintrittskarten haben. Das geht nur über Exklusionen im Sinne einer teuren Exklusiv-Veranstaltung für die happy few wie Könige, Prominente, Politiker mit Verfügungsgewalt über öffentliche Gelder oder organisierte, viele Sponsorengelder auf bringende Interessenverbände. Und was dann dabei herauskommt, zumindest seit den letzten hundert Jahren, hat kaum einer so schön beschrieben wie der junge Alban Berg im Jahr 1909 in einem Brief an seine Braut Helene Nakowski:

Theater als europäische Anstalt? Teil II

„Bayreuth, ein leerer Wahn-! Wenn es nicht um den unvergeßlichen ‚Parsifal‘ wäre, nach dem meine Sehnsucht ungeheuer ist, sähe mich wohl Bayreuth nie wieder, und ich bin sicher, wenn sich Wagner nicht schon längst in seinem Grab umgedreht hätte […], er stiege heute noch heraus und flüchtete aus diesem Ort […]. Denk nur: Rechts und links vom Festspielhaus stehen zwei Baracken, ein Festbierhaus und ein Festspeisehaus; als ich in andachtsvoller Stimmung hinauf zum Theater kam, fand ich schon eine Art Jour des gesamten Publikums, das sich in den Gasthäusern vergnügte […]. So vorbereitet strömt das Publikum, das meistenteils aus Amerikanern und Bayern besteht, ins Theater. Nach dem ersten Akt, wo ich vor höchstem Schmerz heulen hätte können und einsam in die Auen floh, die rund ums Theater sind, beginnt das alte Manöver. Man promeniert lachend und schwatzend vorm Theater, geht unbedingt auf einen Happen Bier oder irgendein anderes Getränk, bestellt für die zweite Pause ein Nachtmahl. […] Der zweite Akt ruft ins Theater. […] Nach dem zweiten Akt Wiederholung der ersten Pause, nur mit obligater Fresserei; die Bayern trinken Bier dazu, die Amerikaner Champagner. […] So angepampft, läßt sich dann leicht noch bis 10 Uhr aushalten.“ (zit. nach Csampai/Holland 1984: 171f.)

Schon in der Konzeption hatte sich Wagners Bezug auf das griechische Amphitheater als bloß rhetorischer herausgestellt. Die Schaffung einer neuen Kunst zur Wiedererstehung einer freien und schönen Öffentlichkeit nach dem Vorbild der polis war vielleicht ein tatsächlicher Wunsch gewesen, hat sich im Nachhinein aber als ein nur frommer herausgestellt. Was aus diesem Missverständnis heraus dann allerdings entstanden ist, ist nichts weniger als eines der erfolgreichsten Festivals Europas und weltweit, Vorbild für viele andere Festivals, einmalig aber in seiner Verschränkung von lokalem fränkischen Charme und globaler Ausstrahlung. Es waren aber nicht nur die Griechen, die als Alibi einer europäischen Theatergemeinschaft herhalten mussten. Wer den Griechen den Rang als beliebteste europäische Brückenbauer im Theater streitig machen konnte, war William Shakespeare. Die Shakespeare-Begeisterung der Deutschen ist legendär, aber auch die Franzosen und Italiener stehen den Deutschen nicht nach, die Modellhaftigkeit und Gültigkeit seines Theaters für alle Zeiten und Nationen zu feiern. Mit Shakespeare war – so könnte man vermuten – nach den Griechen ein neues Modell einer gesamteuropäischen Theaterkunst gefunden worden. In Goethes Weimarer Hoftheater zum Beispiel sah sich Shakespeare in einer Reihe mit der

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„literarisch avancierten Gegenwartsproduktion“ (Fischer-Lichte 1993: 156), also Goethe selbst und Schiller, sowie mit solch klingenden Namen der europäischen Theatergeschichte wie Sophokles und Euripides, Corneille, Molière und Racine. Bei genauerem Hinsehen ging es aber natürlich nicht darum, eine neue gesamteuropäische Dramatik zu etablieren. Es ging zu allererst und einzig um die lokalen Bedingungen am Weimarer Hof, und das hieß um das dortige Publikum mit seinen Hör- und Sehgewohnheiten; es ging insbesondere darum, die alten Dramen und Stoffe so herzurichten, als wenn sie – so Goethe im Jahr 1811 – „eben aus der Pfanne kämen“ (zit. nach Fischer-Lichte 1985: 37). Und dafür wurden die alten und fremden Stücke hemmungslos bearbeitet. Es wurde in den Dramen gestrichen, umgestellt, neu geschrieben und fremdes Material ergänzt und hinzu genommen – und dies in einer Art und Weise, die heutige Werk- und Texttreue-Apologeten ganz schwindelig machen würde. So wurde etwa in der Aufführungsserie des Macbeth 1800 „aus Rücksicht auf die moralischen Vorstellungen und Normen des Weimarer Publikums“ (Fischer-Lichte 1993: 156) die Pförtnerszene einfach komplett weggelassen, weil Schiller sie als zu obszön und anstößig empfand; sie wurde dann durch ein frommes Tagelied ersetzt (Fischer-Lichte 1993: 156). Solcherart Beispiele ließen sich noch viele aufzählen (Fischer-Lichte 1985: 38f.). Shakespeares Dramen und Stoffe werden als Material verwendet zur Realisierung eigener, und das heißt lokaler, Weimarer Interessen. In der Vereinnahmung Shakespeares für die eigenen Interessen wird etwas Neues geschöpft, eine eigene, eben Weimarer Ästhetik. Ließen sich diese Missverständnisse der Weimarer Shakespeare-Aneignung wie der ganz eigenen Wagner'schen Apropriation der griechischen Klassik als Vereinnahmung und Neuschöpfung bezeichnen – die Grenzüberschreitung wäre dabei eine Diskurs-und PR-Strategie –, so gibt es gleichzeitig – und zwar gerade auch bei denselben Protagonisten – das genau entgegengesetzte, wiederum europäische Missverständnis: Eine nationale Abgrenzung, bei der die Abgrenzung als Diskurs- und PR-Strategie verfolgt wird, recht eigentlich aber eine Grenzüberschreitung und Vermischung stattfindet: gemeint ist das berühmt-berüchtigte Verhältnis Richard Wagners zu seinem größten und erfolgreichsten Konkurrenten im Buhlen um Erfolg bei Publikum, Presse und Kasse: Giacomo Meyerbeer in Paris.

Theater als europäische Anstalt? Teil II

Neben dem Unerträglichsten in Wagners Schrifttum, seinem Pamphlet Das Judenthum in der Musik, erstmals 1850 veröffentlicht und 1869 noch einmal aufgelegt, finden sich insbesondere in Wagners theoretischer Abhandlung Oper und Drama aus dem Jahr 1852 die rhetorischen Ungeheuerlichkeiten im Verriss über den Kollegen und Konkurrenten Meyerbeer. Es geht schon los bei der Beschreibung dessen, was Meyerbeer angeblich von seinem Librettisten Scribe an Vorlage einforderte: „Meyerbeer wollte […] ein ungeheuer buntscheckiges, historisch-romantisches, teuflisch-religiöses, bigott-wollüstiges, frivol-heiliges, geheimnisvoll-freches, sentimental-gaunerisches, dramatisches Allerlei haben, um an ihm erst Stoff zum Auffinden einer ungeheuer kuriosen Musik zu gewinnen.“ (Wagner 1852/1984: 100)

Und zu dieser Musik, die Meyerbeer schließlich zu der Vorlage komponierte, befand Wagner: „Er fühlte, daß aus all dem aufgespeicherten Vorrate musikalischer Effektmittel etwas noch gar nicht Dagewesenes zustande zu bringen war, wenn er [der Vorrat] aus allen Winkeln zusammengekehrt, auf einen Haufen in krauser Verwirrung geschichtet, mit theatralischem Pulver und Kolophonium versetzt, und nun mit ungeheurem Knall in die Luft gesprengt würde. […] Meyerbeer war kein idealistischer Schwärmer, sondern mit klugem, praktischem Blicke auf das moderne Opernpublikum übersah [überblickte] er, daß er […] durch ein zerstreutes Allerlei […] alle befriedigen müßte, nämlich jeden auf seine Weise. Nichts war ihm daher wichtiger als wirre Buntheit und buntes Durcheinander […]. Das Geheimnis der Meyerbeerschen Opernmusik ist – der Effekt. […] Wollen wir […] genau das bezeichnen, was wir unter diesem Worte verstehen, so dürfen wir ‚Effekt‘ übersetzen durch ‚Wirkung ohne Ursache‘.“ (Wagner 1852/1984: 101)

Wagner schrieb diesen Verriss unter dem noch recht frischen Eindruck eines der erfolgreichsten Opernwerke der Operngeschichte des 19. Jahrhunderts, Giacomo Meyerbeers Le prophète, uraufgeführt 1849 in Paris; Wagner erlebte wenige Monate nach der Uraufführung die 47. Aufführung dieses Propheten, die offenbar einen nachhaltigen Eindruck bei ihm hinterließ. Über kein anderes Werk eines anderen Komponisten schrieb er in Oper und Drama so ausführlich wie über Meyerbeers Propheten. Der

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Furor, mit dem er sich gegen diesen Erfolg wehren zu müssen glaubte, zeigt ja schon an, wie sehr ihn die Aufführung beschäftigt hat. Dem für die Geschichte der Bühnentechnik so wichtigen Sonnenaufgang im Propheten, zum ersten Mal realisiert mit einer stufenlos regulierbaren Kohlenbogenlampe, die den Einzug des elektrischen Lichts auf die Theaterbühne markierte, widmete Wagner mehrere Seiten, kulminierend in der rhetorischen Ohrfeige: „So ist in dieser einzigen, von dem Publikum so gefeierten Szene, alle Kunst in ihre mechanischen Bestandteile aufgelöst: die Äußerlichkeiten der Kunst sind zu ihrem Wesen gemacht; und als dieses Wesen erkennen wir – den Effekt, den absoluten Effekt, d. h. den Reiz eines künstlich entlockten Liebeskitzels, ohne die Tätigkeit eines wirklichen Liebesgenusses.“ (Wagner 1852/1984: 105f.)

Überdeutlich wird in diesem Furor eine ebenso große Begeisterung für diese Errungenschaften und insbesondere den Erfolg, bei gleichzeitiger Sorge, dies selbst nicht erreichen zu können und es eigentlich zu wollen. Wie sehr diese Ablehnung pure rhetorische Diskursstrategie und PR-Maßnahme in eigener Sache ist, wird nicht zuletzt daran deutlich, wie nah die beiden sich stilistisch in den 1840er Jahren waren. Vergleicht man etwa das Finale des 2. Aktes aus Wagners Rienzi mit dem Finale des 4. Aktes aus Meyerbeers Propheten, lassen sich ganz ähnliche Verfahrensweisen erkennen: höchst effektvolles Aufeinandertürmen verschiedener eingängiger Melodien und kontrastdramaturgisch wie Blöcke gegeneinander gestellte Passagen von Chor und Solisten, durch mehrfache Wiederholungen ins Leere laufende, höchst virtuose Melodiefloskeln, Vervielfachung des Orchesterapparates zur Steigerung der Lautstärke und damit des überwältigenden Effekts auf das Publikum. Und dabei handelt es sich noch nicht einmal um die eigentlich spektakulären Momente der beiden Opern, die Schlusskatastrophen, bei denen auf der Seite Wagners das Kapitol in Rom und auf der Seite Meyerbeers der Stadtpalast von Münster in Flammen aufgeht. Diese Begeisterung für Meyerbeer, die Wagner natürlich nicht eingestehen darf, sondern im Gegenteil mit größtem rhetorischen Geschütz bekämpfen muss, äußert sich noch in vielen weiteren Details und auch grundlegenden Konstruktionselementen späterer Zentralwerke. Einen wichtigen szenischen Trick, um Auftritte aus der Ferne perspektivisch ef-

Theater als europäische Anstalt? Teil II

fektvoll zu realisieren (etwa für den Auftritt Lohengrins mit dem Schwan oder den Einzug der Gäste im 2. Akt des Tannhäuser) hatte er im Schlittschuhballett des Propheten zum ersten Mal gesehen, nämlich durch den Einsatz von kleinen Kindern in den entsprechenden Kostümen der Erwachsenen (also der Herren und Damen des Chores bzw. des Lohengrin), die beim Näherkommen bei einem kurzen Stopp in einer der hinteren Gassen oder hinter Dekorationselementen zunächst durch etwas größere Kinder und dann durch die eigentlichen Rollenträger ausgetauscht wurden (Bauer 1996: 171; Carnegy 2006: 41). Experimente mit gestaffelten Chören und im Bühnenraum verteilten Stimmgruppen zur Erzielung eines Raumklangs machte Wagner in Lohengrin und Tannhäuser, insbesondere aber im Parsifal, in dem auch ein Kinderchor im Höhenchor zum Einsatz kam (vgl. Bauer 1996: 179). In der Achse Paris-Bayreuth, deren Existenz Wagner so vehement bestreiten musste, konnte in dramaturgischer und ästhetischer Hinsicht eine bestens funktionierende, grenzüberschreitende, europäische Vereinigung höchst effektiver Bühneninnovationen zelebriert werden. Sowohl die Prozesse der Aneignung als auch die der Abgrenzung, die Dynamiken zwischen dem Lokalen und Nationalen auf der einen Seite und dem Globalen auf der anderen haben ganz offenbar in erster Linie Missverständnisse produziert. Das Theater partizipiert nicht nur an diesen Missverständnissen, sondern befeuert diese immer wieder mit seinen eigenen ästhetischen, sinnlichen, überwältigenden Mitteln. Wir wissen heute um diese Dynamik und könnten also reflektierter damit umgehen. Dies könnte auch als Chance angesehen werden, auch und gerade ein so national(istisch) aufgeladenes Oeuvre wie das von Richard Wagner neu zur Diskussion zu stellen. Eines der hier gemeinten Beispiele ist Wagners Oper Die Meistersinger von Nürnberg, insbesondere Hans Sachs' unerträglich-nationalistische Schlussansprache, die von den Nationalsozialisten so begeistert als Steilvorlage für ihre Zwecke aufgegriffen wurde: „Verachtet mir die Meister nicht / und ehrt mir ihre Kunst! / […] Daß unsre Meister sie gepflegt / grad' recht nach ihrer Art, / nach ihrem Sinne treu gehegt, / das hat sie echt bewahrt: / blieb sie nicht adlig, wie zur Zeit, / wo Höf' und Fürsten sie geweiht; / im Drang der schlimmen Jahr' / blieb sie doch deutsch und wahr: / […] Habt acht! Uns dräuen üble Streich': – / zerfällt erst deutsches Volk und Reich, / in falscher welscher Majestät / kein Fürst bald mehr sein Volk versteht, / und welschen Dunst mit

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welschem Tand / sie pflanzen uns in deutsches Land; / was deutsch und echt wüßt' keiner mehr, / lebt's nicht in deutscher Meister Ehr'. / Drum sag' ich euch: / ehrt eure deutschen Meister! / Dann bannt ihr gute Geister; / und gebt ihr ihrem Wirken Gunst, / zerging' in Dunst / das heil'ge röm'sche Reich, / uns bliebe gleich / die heil'ge deutsche Kunst!“ (Zit. nach Csampai/Holland 1981: 138f.)

Im Jahr 2011 hat der in Bagdad geborene und in Israel aufgewachsene David Mouchtar-Samorai in Nürnberg eine Inszenierung dieser Meistersinger vorgelegt, bei der sich im letzten Akt auf der Festwiese nicht die Zünfte Nürnbergs versammeln, sondern sich eine Art Re-enactment der Fußballweltmeisterschafts-Fanmeile ereignet. Bei diesem Ereignis waren plötzlich allüberall wieder deutsche Flaggen aufgetaucht und hatten jubelnde Menschen mit schwarz-rot-gold bemalten Gesichtern und ebenso gefärbten Haaren die Straßen bevölkert – und die Welt attestierte den Deutschen staunend eine neue Unverkrampftheit zu ihrem Nationalstolz. Zwischen fröhlicher Unbekümmertheit und Unverkrampftheit auf der einen Seite und Wiedererstarken bzw. nie nachlassender fremdenfeindlicher Abgrenzung auf der anderen Seite ist aber leider nur ein kleiner Schritt. Der Kommentar der Inszenierung war der Versuch, das aufkommende Unbehagen durch einen coup de théâtre plötzlich ins Positive zu wenden, indem zum Schlussjubel die deutschen Flaggen ganz plötzlich verschwunden und durch Europa-Fahnen ausgetauscht waren (Abb. 1). Zum pompös-martialischen Schlussjubel wurde wie zu Saturday Night Fever getanzt und das europäische Sternenbanner geschwenkt. Der unerträgliche Nationalismus in Text und Musik des Finales der Meistersinger wurde in der Inszenierung durch eine fröhliche ‚Europhorie‘ übermalt, so als gälte es, mit den Mitteln der Bühne die bösen Geister, die Wagner rief, zu vertreiben, mit den Bildern und den Bewegungen sich gegen den chauvinistischen Nationalismus zur Wehr zu setzen. Und doch: In Zeiten der Euro-Krise und der beängstigend-übermächtigen Vorreiterrolle Deutschlands in Europa kann ein solches Bild natürlich auch wieder kippen, nach hinten losgehen. Von nicht wenigen wird ja gerade in letzter Zeit immer wieder auf die Vorbildfunktion Deutschlands in der Krise verwiesen, Deutschland als Vorreiter bezeichnet – mit entsprechender Vormachtstellung in der Krise. In einem solchen Klima kann eine Menschenmenge, die zu einem deutschnationalen Text mit Europa-Flaggen schwenkt, auch ganz etwas anderes auslösen als fröhliche ‚Europhorie‘.

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Abb. 1: Richard Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg, Staatstheater Nürnberg, 2011; Inszenierung: David Mouchtar-Samorai, Dirigent: Marcus Bosch Das Risiko besteht, dass das Schlussbild nun zwar nicht mehr deutschtümelnde Abgrenzung zelebriert, dafür aber nicht weniger schlimm: Deutschlands Vorherrschaft in Europa feiert. Ganz gleich, ob diese Lesart vom Produktionsteam vorhergesehen werden konnte, es ist in jedem Fall eine das Nachdenken über die Potentiale von Theater befeuernde Schlusslösung, gerade in ihrer Offenheit, einer problematischen, aber durchaus auch produktiven Offenheit des Bedeutungsreservoirs. Es ist diese Offenheit, die eigentlich alle unsere Beispiele kennzeichnete und den von uns gewählten Titel unseres Beitrags „Theater als europäische Anstalt“ noch einmal nachdrücklich mit einem Fragezeichen versieht: Das Theater als europäische Anstalt? Ein kontinuierliches Missverständnis eben.

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L iter atur Bauer, Oswald Georg (1996): Richard Wagner geht ins Theater, Bayreuth. Borchmeyer, Dieter (1982): Das Theater Richard Wagners. Idee – Dichtung – Wirkung, Stuttgart. Carnegy, Patrick (2006): Wagner and the Art of the Theatre, Yale. Csampai, Attila/Holland, Dietmar (Hg.) (1981): Richard Wagner. Die Meistersinger von Nürnberg. Texte, Materialien, Kommentare, Reinbek bei Hamburg. Csampai, Attila/Holland, Dietmar (Hg.) (1984): Richard Wagner. Parsifal. Texte, Materialien, Kommentare, Reinbek bei Hamburg. Fischer-Lichte, Erika (1985): Was ist eine „werkgetreue“ Inszenierung? Überlegungen zum Prozess der Transformation eines Dramas in eine Aufführung. In: Dies. (Hg.): Das Drama und seine Inszenierung, Tübingen, S. 37–49. Fischer-Lichte, Erika (1993): Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tübingen/Basel. Geisen, Thomas/Karcher, Allen (2003): Einleitung. In: Dies. (Hg.): Grenze: Sozial – Politisch – Kulturell. Ambivalenzen in den Prozessen der Entstehung und Veränderung von Grenzen, Frankfurt am Main/London, S. 7–20. Hahn, Alois (2002): Transgression und Innovation. In: Helmich, Werner/ Meter, Helmut/Poier-Bernhard, Astrid (Hg.): Poetologische Umbrüche. Romanistische Studien zu Ehren von Ulrich Schulz-Buschhaus, München, S. 452–465. Hahn, Alois (2003): Inklusion und Exklusion. Zu Formen sozialer Grenzziehungen. In: Geisen, Thomas/Karcher, Allen (Hg.): Grenze: Sozial – Politisch – Kulturell. Ambivalenzen in den Prozessen der Entstehung und Veränderung von Grenzen, Frankfurt am Main/London, S. 21–45. Wagner, Richard (1852/1984): Oper und Drama. Herausgegeben und kommentiert von Klaus Kropfinger, Stuttgart.

Islamisch-jüdisch-christlichabendländische Bildstörungen Bilder- und Blickverbote in Religion und bildender Kunst Ralf Frisch

Das Bilderverbot der großen Buchreligionen ist von beklemmender Ak­ tuali­tät. „[S]eit dem Angriff der Taliban auf die Buddha-Statuen in Af­ ghanistan 2001 befinden wir uns im Bildersturm.“ (Bredekamp 2015: 9) Der Bildersturm des islamistischen Terrors, der ein Bilderkrieg ist, trägt zugleich Züge eines Bilderwahns, welcher nicht nur auf Bilder, sondern auch auf den menschlichen Körper zielt. Im Gebiet des IS wer­den Gei­ seln auf besonders grauenvolle Weise hingerichtet, damit die Täter Schreckensbilder verbreiten können. „Wir erleben [...] einen dop­pelten Mord: den an Kunstwerken und den an Menschen.“ (ebd.) Ange­sichts der so mörderischen wie bildgewaltigen Ikonoklas­men von Ba­miyan, Nine Eleven, Charlie Hebdo und Nimrud erscheint das Bilderverbot als kulturell kaum guten Gewissens po­sitiv rezi­pier­bare Strategie monotheistischer Wahrheits­konstitution. Derzeit sind reli­giös moti­ vierte Iko­noklasmen so negativ konnotiert, dass die (An-)Äs­thetik des Bil­derverbotes unweigerlich als (An-)Ästhetik des Bösen erscheint. Das einfluss­reichste und wirkmächtigste Bild des 21. Jahr­hunderts ist bisher das Bild der einstürzenden Twin Towers von New York. Nine Eleven hat ein Bild – das World Trade Center als Symbol des weltbeherrschen­den westlichen Kapitalismus – zerstört und da­durch ein Bild geschaffen, das für alle Zeiten im kollek­tiven Bildge­dächtnis bleiben wird – auch deshalb, weil man es sich als Film jeder­zeit verge­genwärtigen kann. Damien Hirst hat in einem BBC-Interview zum er­sten Jahrestag des 11. September die An­schläge als „wicked but a work of art“ be­zeichnet:

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„The thing about 9/11 is that it's kind of an artwork in its own right. It was wicked, but it was devised in this way for this kind of impact. It was devi­ sed visu­a lly [...] I think our visual lan­g uage has been changed by what happened on September 11 [...] and I think as an artist you're constantly on the lookout for things like that.“ (Allison: 2002)

D ie D ialek tik des I konokl astischen Diese kal­ k ulierte Provokation des ein­ stigen enfant ter­ r ible der briti­ schen Ge­genwarts­k unst führt ins Herz der Dialektik des Iko­nokla­sti­ schen. Ikonoklasmen kön­nen ab­grundtief böse sein. Sie kön­nen aber auch Seh­gewohnheiten in­novativ verändern. Um diese Ambivalenz soll es im Folgenden gehen. Auf den er­sten Blick ist der Zusammenhang von Bil­derzerstörung und Bru­talität, also die pro­blematische Facette der Bil­ derkritik augenfällig. Jan Ass­mann hat Ge­walt gegen Anders­glau­bende und die Auslöschung der Bild­wel­ten und Weltbilder dieser Andersglau­ benden als Impli­ka­tion einer religiö­sen Rationalität de­tek­tiert und dis­ kredi­tiert, die ih­ren Wahrheitsan­spruch be­haupten und ihre Lei­stungs­ fähigkeit stei­ gern möchte, ohne über wis­ sen­ schaft­ lich nachprüf ­ bare Wahrheits- und Evi­denz­beschaf­f ungsstra­tegien zu verfü­gen. Ex­empla­ risch für diese Liai­son von Mo­notheismus und Bild­kri­tik sind im Alten Testa­ ment die mosai­ sche Re­ form und das Deute­ ronomi­ stische Ge­schichts­werk. Die Auslö­schung der Bilder der Ande­ren dient der Stär­ kung des eigenen Selbst­bildes – wobei das alttesta­mentli­che Bilder­ver­ bot noch einen Schritt wei­ter geht. Ge­rade durch die Auslö­schung des Bildes des eige­nen Gottes soll dessen abso­lute Macht über die Göt­ter der Ande­ren sichergestellt wer­den. Das in der ägyptischen Kultur pro­ minenteste Bei­spiel ikonokla­sti­scher Theo­logie ist Ame­nophis IV. Ech­ naton. Für Echnaton war kein Gott außer der Sonne selbst. Im Geist dieses kom­promisslosen solaren Monotheis­mus ent­fes­selte Echnaton ei­nen Bil­der­sturm von ungeheurer Bra­chiali­tät und von welt- und got­tesbilder­ schüttern­der Konsequenz. Der Bilder­sturm der Amarnakul­tur, die wie die Renais­sance die Welt von Gotthei­ten rei­nigte und einen Raum der Wahrneh­mung dieser Welt um der Welt selbst willen eröff­nete, brachte zugleich jene epochalen na­t urtreuen Menschenbilder her­vor, die Rilke in

Islamisch-jüdisch-christlich-abendländische Bildstörungen

Abb. 1: Zerstörte Büste des Echnaton (ca. 1340 v. Chr.) Verzückung geraten und fragen ließ, welcher Gott in der Zeit Ame­nophis' IV. den Atem angehal­ten haben mag, dass die Men­schen derart zu sich kamen (Abb. 1). Wäh­rend der Amarnazeit sollte aus dem kul­t urellen Ge­dächtnis Ägyp­ tens alles getilgt werden, was an die alten Götter erin­nerte. Diese frei­lich räch­ten sich mit dersel­ben Gewalt, mit der Echnaton zu Werke ge­gangen war. Denn die Bilder des Bilderstürmers und die Kunst, die durch ihn mög­lich wurde, fielen ihrerseits einem Bildersturm zum Op­fer. In der ägypti­schen Kultur wurde die Erinnerung an Echnaton ver­drängt. Am Leben erhielt sie sich dagegen im biblischen Wiedergänger des Echna­ton: in Moses dem Ägypter. Das religiöse Bilderverbot hat nicht nur eine intolerante und in­ humane Dimension, was freilich oft erst auf den zweiten Blick sicht­bar wird. Damien Hirst hat in seiner politisch inkorrekten Bemerkung über die sehge­ wohn­ heits­ verändernde Kraft ikonoklastischer Bilder dar­ auf ange­ spielt. Bild­ skepsis und Bildkritik befördern kulturelle, künstle­ r i­ sche, wissen­ schaftliche und religiöse Erkenntnis­ fort­ schritte. Wissen­

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schaftliche, theologische und ästhetische Revolu­tio­nen waren und sind immer auch Erschütte­run­gen von Weltbildern. Ohne Dekon­struk­tion, Trans­formation und Zer­störung verfestigter Bilder drohen Kul­t ur, Kunst und Religion ihre ge­genwartserschlie­ßende Kraft und Le­bendig­keit zu ver­lieren, in toten Identifikationen zu erstarren und auf­schluss­los zu wer­ den. Wenn an die Stelle der Bild- und Selbstkritik die Sakra­lisie­r ung, die Nichtrevidierbar­keit und die Identifikation ver­festig­ter Bilder mit der lebendigen Wirk­lichkeit tritt, erkaltet und er­starrt die Vitalität einer kulturellen Ge­gen­wart. Umge­kehrt wird eine Kultur wurzellos, wenn ihr die Bilder ih­rer Geschichte verloren­gehen. Kultu­ren, die ihre Bild­traditio­nen hysterisch ignorieren, schwä­chen sich ge­nauso wie Kul­turen, die ihre Selbstbilder zwanghaft konser ­v ie­ren. Ich möchte in diesem Aufsatz die Dialektik des Bilderverbots so reflek­tieren, dass ich entlang ikonoklastischer Phänomene eine kul­tu­ rell-äs­t hetische Spur aus dem Orient nach Europa, aus dem Morgen­land ins Abendland und aus der jüdisch-christlich-islamischen Antike in die eu­ropäische Gegenwart verfolge. Angesichts der menschen­verach­tenden Wucht der Fundamentalismen unserer Tage mag es naiv und utopisch sein zu glauben, dass diese ästhetische Spur zu einer wert­schätzenden interreligiösen und inter­ k ulturellen Kommunika­ tion füh­ ren könnte. Gleichwohl gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass Kunst ein erfolgver­ sprechendes Medium für gelingende interkulturelle Dia­loge und Annä­ herungen darstellen kann – nicht zu­letzt diejenige Art von Kunst, die bildliche Gegenständlichkeit und ästheti­sche Unmit­tel­bar­keit de­kon­ struiert und so das säkulare Erbe der Bil­derskepsis der mono­t heisti­schen Religionen antritt. Ein ver­söhntes Eu­ropa wird nur auf dem Un­tergrund der Kultur­technik aufge­k lärter Bildkritik und Bild­skepsis, also der Un­ terschei­dung zwischen Bild und lebendiger Wirk­lichkeit, der selbstkriti­ schen Reformation er­starr­ter Imaginatio­nen und des to­leranten Um­gangs mit der Kritik an iden­titätsrelevanten Bildern gedei­hen. Natürlich ist eine wirklich interkul­t urelle Kultur letztlich nur möglich, wenn Tole­ranz und Respekt Hand in Hand ge­hen. Denn die in den Solidarisierun­gen mit Charlie Hebdo geforderte Pressefreiheit ohne Wenn und Aber führt im Ex­tremfall ihres scho­nungslosen Gebrauchs zu einem gnaden­losen Um­ gang mit den Gefüh­len Andersden­kender. Dage­gen offenbart ge­rade die Sen­sibilität für das „Wenn“ und für das „Aber“ den humanen Vor­sprung

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ei­ner Kultur. Im „Aber“ steckt die Fä­higkeit zur Empathie, dem Zurück­ schrecken da­vor, die Gefühle des Ande­ren zu verletzen. Im „Aber“ des Respekts zeigt sich Toleranz. Paul Valéry hat einmal geschrieben, ein Bild sei mehr als ein Bild und manchmal mehr als die Sache selbst, deren Bild es ist. In der Tat sind Bilder vielerlei. Sie sind Zeichen. Sie repräsentieren Wirklichkeit. Sie sind sie selbst und stellen nur sich selbst dar. Sie sind autonom und ab­solut konkret. Sie dokumentieren das Leben. Sie sind das Leben. Un­ sere mediale Gegenwart führt all dies deutlich vor Augen. Bilder haben in der bildbe­stimmten Kommu­nikation des Internet sinn­stiftende und wirklich­keitskonstituierende Kraft. Das Herstellen, Posten, Sharen, Twittern und Liken von Bil­dern realer Gegenwart überlagert, ja er­setzt das Erle­ben dieser Gegenwart: „Der Moment wird durch seine überperfekte In­sze­nierung und mediale Auf­zeichnung aus­gelöscht.“ (Diener: 2015, 15) „Man könnte“, so Hans Bel­ting, „sagen, dass der Spaß am be­wegten Bild durch den Spaß abgelöst wird, im Bild zu sein – in ihm zu leben statt im Leben zu le­ben.“ (Burda: 2010, 156) So wirkmäch­tig und not­wendig Bil­der für die Er­schließung von Wirk­lichkeit und für die Bil­dung und Kul­tivie­ rung von Identität sind, so sou­ve­ränitäts­berau­bend können sie in einer Me­diengesellschaft wirken. In der Welt der unbe­grenzten Bildbear­bei­ tungsmöglichkeiten lassen sich Identitä­ten be­liebig her­stel­len, opti­mie­ ren und manipu­lieren. Dieses magische Spiel mit Selbst­in­szenie­r ungen, Selbstbildern und Selbst­bespiegelungen ist so faszi­nierend wie heillos – vor allem dann, wenn Menschen zumal auf Face­book verler­nen, zwischen Bild und Wirklich­keit zu unterschei­den, wenn sie sich auf die Bilder re­ duzieren, die von ihnen kursieren und wenn sie ih­ren Selbstwert über das Bild ermitteln, das sie in der me­dialen Öffent­lich­keit abgeben. Durch diese imagebe­sorgte Selbst­funktio­nalisierung ver­lieren sie ihre Souveränität und mit dieser sich selbst. Erst das souve­räne Spiel mit dem Bil­derma­ chen, dem Bilder­schauen und dem Im-Bild-Sein und erst die Erkenntnis, dass Bilder nur Bilder sind, führt in die gebil­dete Freiheit. Bilder sind „nicht iden­t isch mit dem Le­b en, sie exi­s tieren in ihrer eigenen Sphäre, wirken auf ei­g ene Weise – und ge­r ade deshalb ermögli­c hen sie uns, Abstand zu ge­w innen zur Welt und sie aus der Di­s tanz heraus zu verstehen.“ (Bre­ dekamp: 2015, 9)

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D as B ilder - und B lick verbot im J udentum „Du sollst dir kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden, oder des, das im Wasser un­t er der Erde ist. Bete sie nicht an und diene ihnen nicht. Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifriger Gott.“

So lautet in Ex­ odus 20,4–5 das alttesta­ mentliche Bilderverbot, eine Selbstbe­haup­tungsreaktion des JHWH-Glaubens auf idola­trische Prak­ tiken im ka­naanäischen Raum. Es untersagt die Herstel­lung von Skulpturen, die als Götter angebetet werden kön­nen. Um die Ablehnung jeglichen Kunst­schaffens geht es dezidiert nicht, wenn­gleich die Episode des Tanzes um das goldene Stierbild in Exodus 32 der Kon­k ur­renz zwi­schen monothei­stischem Got­tesglauben und sinnlicher ästhetischer Ge­w issheit sehr wohl gewahr ist. Während letztere die libidinösen Be­dürf­nisse des Es befriedigt, bedarf ersterer der ästheti­schen Fremd­diszi­pli­nierung durch ein Über-Ich und der Anstrengung der Selbstdis­zipli­nie­r ung des Ich. Emil Noldes sinnenstrotzendes expressionistisches Bild illustriert die­sen Konflikt zwischen ästhetischem Begehren und ästhetischer Askese so eindring­lich, dass es auch dem gläubigen Betrachter schwer fällt, sich um­standslos auf die Seite der Kritiker des Baalskul­tes zu schlagen (Abb. 2). Es ist ohnehin ein Wunder, dass sich in der he­bräischen Re­ li­gion der Glaube an einen unaussprechlichen, unsichtba­ren, im Zuge der Reli­gionsge­schichte immer stärker als Macht nicht des Raumes, sondern der Zeit, der Schrift, des Wor­tes und der Innerlichkeit begriffe­nen Gott gegen das religiöse Bedürf­nis nach sinn­lichen Bildern durch­setzen konnte. Denn „das Bild ist im­mer um eine Dimension pfingstli­cher als die Schrift“ (Burda: 2010, 91). Es stellt weit evidenter und sinn­f älliger vor Augen, was Sache und was Leben ist. Das Bilderverbot geht einher mit einem Blickverbot. „Wer Gott sieht, muss sterben.“ So Exodus 33,20. Die Invisibilisie­rungsstrategie gottes­ bildkritischer alttestamentlicher Rechtgläubigkeit rückt die Machtver­ hältnisse theologisch zurecht. Blicke können töten. Blicke üben Macht aus. Die islamische Bildkritik zeugt von dieser ma­gischen Macht und von der verstörenden Wirkung, die Kunst als fasci­no­sum und tremen­dum auf ihre Betrachter auszu­üben vermag, denen die Blicke gemalter Porträts nicht geheuer sind. Das islami­sche Bilderver­bot muss daher den Blick selbst töten. Ebenso das jüdi­sche Bilderver­bot. Wohl darf Gott den Men-

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Abb. 2: Emil Nolde, Der Tanz um das Goldene Kalb (1910) schen anschauen, über den er Macht hat. Dem Men­schen dagegen ist es untersagt, Gott zu sehen, ge­schweige denn ihm auf Augenhöhe zu begegnen. Was in einer aufge­k lär­ten zwi­schen­menschlichen Begegnungskultur Zeichen von Eben­bürtig­keit oder eroti­sches Spiel ist, kommt im Blick auf den All­mächti­gen nicht in Frage. Eine face-to-face-Begegnung ist ebenso un­denkbar wie ein Be­sitzergrei­fen, ja überhaupt ein Begreifen Gottes. Face muss also zu Faith werden. Sogar Gottes Name ist im Judentum tabu. In einer patri­archali­schen islamischen Kultur bildet sich die Hier­archie zwischen Gott und Mensch auch zwischen den Geschlechtern ab – mit der Konse­quenz der Ver­schleierung der Frau, die nur ihr Ehemann an­schauen darf, der sie besitzt. Dass der Gott JHWH bildlos verehrt wird, hat zudem ganz prakti­ sche und höchst folgenreiche religionsmediale Gründe. Je univer­saler, allge­genwärtiger und unsichtbarer Glaube und Theologie die uni­fi­zierte Gottheit werden lassen, desto leichter kann diese por­tiert und migriert werden. Der JHWH-Glaube ist buchstäblich ein Glaube mit Migrati­ onshintergrund. Heilige Orte, Bäume oder wuchtige Skulp­turen wären

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zwar mit dem Glauben an die Götter des Raumes, aber nicht mit dem Glauben an den Gott der Zeit und der Ge­schichte ver­träglich. Ein wan­ derndes Gottesvolk braucht ei­nen mobilen Gott. Und wer könnte mobi­ler sein als der unsichtbar ubi­quitäre Gott JHWH, der als einzig legi­times Offenbarungsmedium die Schrift und das Wort wählt und so leich­ter zu transportieren und zu speichern ist als eine Gottheit, die in einem sperrigen Bildmedium oder einem ortsgebundenen Heiligtum er­scheint. Friedrich Kittler hat in ei­ner geistreichen Bemerkung Religi­ons- und Medi­enge­schichte kurzgeschlossen: „Nur als mobile Heilig­tümer haben Bibel und Koran ihren Siegeszug gegen alle Tem­p elsta­tuen und Göt­zenbilder [...] des vorderasiatisch-eu­ ropäischen Raums an­treten kön­n en. Weil die Schrift Speicherung und Übertra­g ung von In­formation auf einmalige Weise kombinierte, hat ihr Mono­p ol solange halten kön­n en, wie die Me­d ien Buchstaben und Zah­l en, Bilder und Töne noch nicht technisch mo­b il machten.“ (Kittler: 1999, 50f.)

Der Preis des Tri­umph­zugs des allge­genwärtigen und bildlosen Gottes im Medium des Glau­bens, des Wortes und der Schrift aber ist die ästheti­ sche Purifizie­rung und Anästhesierung des Glaubens, das Verschwin­ den Gottes aus den zeitgenössischen jü­disch-christlich-abendländischen Bildwelten. Nova­lis sprach aus, wor­auf sich Caspar David Friedrich berief, der dem Göttli­chen nur noch unein­deu­tig, nämlich als mehrfach­co­dierte Dar­stellung der ro­mantisch emp­fun­denen Natur Ge­stalt verlei­hen konnte: „In dem Alter der Welt, wo wir leben, findet der un­mittel­bare Verkehr mit dem Himmel nicht mehr statt.“ (Novalis: 1987, 13) Der ästhetische Iko­noklasmus des reformier­ten Protestan­tismus und der ethische Iko­ noklasmus der praktischen Philosophie Immanuel Kants trugen dann das Ihre dazu bei, dass der moralische Mensch zum einzig legitimen Gottesbild wurde. Auch Kant und Calvin ver­folgten Purifizierungs- und Anäs­t hesierungsstrategien. Sie mussten das Sehen ausschließen, um für den Glauben und die Moral Platz zu bekom­men. Sie stehen in der Tradi­ tion der mosaischen Reform und der he­bräischen Fusion von Bil­derver­ bots- und Gotteben­bildlichkeits­t heolo­gie. Eine bildliche Darstellung der Anbetung des Goldenen Kalbes, also des locus classicus des Verstoßes gegen das Bilderverbot, findet sich ausge­rechnet in der einzig erhaltenen, vollständig mit figürlichen Wandmale­reien dekorierten jüdischen Synagoge der Spätantike. Die Sy-

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nagoge stand in Dura Europos, einer antiken Stadt im Osten von Sy­r ien. Heute sind die Wandmalereien im Nationalmuseum von Damas­k us zu sehen. Dass die Synagoge gänzlich ausgemalt ist, verdankt sich dem Sieg des Bilderbedürfnisses des Volkes über die reine, bildlose Lehre, ist aber auch Zeichen dafür, dass das Bilderverbot nicht mit ei­nem Illu­strations­ verbot verwechselt werden darf. In der innerjüdischen Auseinandersetzung mit dem Bilderverbot wur­den verschiedene Wege seiner Umgehung gefunden. Wie im Islam scheint die Überzeugung, man verstoße nicht gegen das Verbot der Darstellung des lebenden Menschen, wenn man nicht dessen Gesicht zeigt, der Ab­bildung des Menschen auch in der jüdischen Kunst den Weg gebahnt zu haben. Hinter dieser Annahme steht einmal mehr die erwähnte, ge­radezu animistische Auffassung, das eigentlich Menschli­ che und das ei­gentlich Lebendige sei der Blick, der ja in der Tat den lebendigen vom toten Menschen unterscheidet. Eine Weise der Umge­hung des Bilder­verbots be­stand darin, anstelle des Ge­sichts den Hin­terkopf wieder­zugeben, während der übrige Körper von vorn abgebil­det war. Eine weitere, in der jüdischen Buch­malerei des Mittel­alters belegte Umge­ hung lag in der Andeutung des Gesichts durch einen blo­ßen Strich im Gesichtsoval oder in der Aus­kratzung der Gesichts­züge. Am häufig­sten wurde der bildlich darge­stellten mensch­lichen Gestalt ein Tier- oder Vogelkopf aufgesetzt. Am interessantesten vielleicht ist die Masora Figurata, „in wel­cher die [...] Zeilen des in Mi­krographie ge­schriebenen Textes der Masora die Zei­chenlinien erset­zen“ (Schubert, a.a.O.). Durch die Masora Figu­rata war es möglich, Ge­genstände, Tiere und Menschen figürlich und zu­gleich als Schrift dar­zustellen.

D ie B ilder und der B ilderstreit in der A lten K irche Bilder können mit der Wirklichkeit identifiziert und verwech­selt wer­den. Darin liegt ihre Faszination. Darin lauert aber auch ihre Gefahr für einen Monotheismus, der die Andersheit Gottes gegenüber menschlicher Zudringlichkeit zu verteidigen sucht. Bildersturm und Bilderkult sind in der jüdisch-christlichen Geschichte gleichermaßen präsent. Die Kirche rang jahrhundertelang um ein ange­messenes theo­logisches Verhältnis zum Bedürfnis nach sinnlicher Prä­senz des Göttli­chen. In der Ge­schichte des Christentums lassen sich wie in der Ge­schichte des Ju­den­t ums viele

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Versuche beobachten, das Bilderverbot ernstzunehmen und zugleich zu umgehen. Ein Meilenstein im Blick auf die Theologie der Bilder war das Kon­zil von Nicäa im Jahr 325, auch wenn der eigent­liche Bilderstreit erst danach begann. Mehr als 350 Jahre später, jedoch ganz im Sinn der politisch-theologischen Stra­tegie Kaiser Konstantins in Ni­cäa, ließ Justinian II. erstmals ein autoritatives Christusporträt auf einen byzantinischen Goldsolidus prägen. Kein Geringe­rer als Gott selbst konnte das Kaiserbildnis von den Münzen des Römi­schen Reiches ver­drängen. Ein Christus, der nicht als we­senseins mit Gottvater aufgefasst worden wäre, hätte dies nicht ver­mocht. Dass Gott in Christus Mensch geworden und wahrer Gott ge­blieben war, bedeutete nicht nur eine poli­tisch-theologi­sche Aufwer­t ung des Christentums, sondern auch „eine fundamen­t ale Aufwertung sinnlicher Darstellungs­f ormen des Göttli­ chen, denn ein Bild des Men­s chen Christus war auf der Grundlage des Inkarnati­o nsge­d ankens zu­g leich ein legitimes Ab­b ild Gottes. Das Chri­ stusbild begann von da an seinen Siegeszug [...]. Dabei ging es immer auch darum, der Ge­f ahr zu wehren, das Christus­b ild zu einem Götzenbild zu ma­c hen. Die Beson­d erheit des Christusbil­d es lag in seiner doppelten Funktion: Chri­s tus ist darin sichtbar und [...] doch in seiner Göttlichkeit auch unfassbar ent­z ogen.“ (Lauster: 2014, 108f.)

Gott selbst also, so der christliche Glaube, übertritt durch seine Menschwerdung das Bilder­verbot und macht es gegenstandslos. Die Inkarnation Gottes legi­timiert die Bildwerdung Got­tes. Zwar bemühte man sich in der Alten Kirche immer wieder klarzustellen, dass auf religiösen Bildern nur die menschli­che Natur Christi, nicht aber dessen göttliche Natur ins Bild gesetzt werden dürfe. Doch unter­liefen die Bilderfreunde – allen voran Johannes von Da­mas­k us, der Bildertheo­loge im bilderfeindlichen Umfeld des isla­misch be­setzten Byzanz des Jahres 730 – jene Differen­zierung mit dem christo­logi­schen Dogma von Chalcedon. Dem­zu­folge sind in der Person des Men­schen Jesus dessen göttliche und menschliche Natur unge­trennt und ungeschieden, aber auch un­ver­mischt und unverwan­ delt gegenwär­tig. Die bilderhungri­ge Volksfrömmigkeit folgerte daraus kurzschlüssig, dass dann auch je­des Christusbild nicht nur menschli­cher, son­dern göttli­cher Na­tur war und daher verehrt und angebetet werden kön­nen musste. Zwar bemühte sich Johannes Damasce­nus klar­zustellen, dass ein Gebet vor einer Ikone eigentlich nicht der Ikone, son­dern dem

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lebendi­gen Christus gilt, auf den das Abbild nur verweist. Doch diese Un­ ter­schei­dung dürfte dem Volk herzlich gleich­gültig ge­wesen sein. Letzt­ lich hatte das Bild die Theologie immer schon besiegt. Zu den theologischen Autorisierungsstrategien von Christus- und Ma­donnenbildnissen gehö­ren auch jene Legenden, welche die Autorisie­ rung dieser Bilder auf Jesus selbst oder auf den Evangeli­sten Lukas, den „Ma­donnenmaler“, zurückführen. Insbe­sondere in der or­thodoxen Kir­ che gibt es Marienikonen, die in Porträt­sitzungen mit Lukas ent­standen sein sollen. Die bizarrste Strategie der Befriedigung des Bedürf­nisses nach dem ultimativen, authentischen Christusporträt bei gleich­zeitiger Um­gehung des Abbildungs­verbots ist die Behaup­tung der Existenz so­ ge­nannter „Acheiropoieta“, Christusbilder, die nicht von menschlicher Hand gemacht, sondern von Gott geschaffen sein sollen, der selbst eine Bild­spur hinterlassen hat. Damit sich der Leib Chri­sti auf ihm abbilden kann, muss also das Grabtuch von Turin, eine der meist­untersuchten, vermutlich im 13. Jahrhundert entstandenen Reli­quien, als belichtungs­ fähiger Film aufgefasst werden, in den sich die lichtvol­len Züge Jesu eingeprägt haben. Der Prozess von Einwick­lung und Auswicklung führt zur Entwicklung jenes Je­susbil­des, dessen Exi­stenz sich mithin weder Kunst noch Gottesläste­rung, sondern Gott selbst ver­dankt. Weil den Acheiropoieta in Legenden dieselbe Wun­derwir­k ung wie der Person Jesu zugeschrieben wird, offenbart sich die Sehn­sucht nach „echten“ Acheiropoieta auch als Sehnsucht nach wirkli­cher und wirksamer Got­tesgegenwart. Acheiropoieta sind nicht nur Spuren Gottes und Gottes­beweise. Sie sind Gott selbst. Bruno Latour zeigt in seinem Buch „Iconoclash“ ein verwirrendes Foto, eine Art trompe l'oeil, das keine Unterscheidung zwischen Bilder­ sturm und Bilderwahn zulässt und die aufschlussrei­che Verschlingung von Bildstörung und Bildproduktion zeigt. Latour fragt: „Ein weiterer be­ d auerlicher Fall von Vandalismus, der von einer Überwachungska­m era festgehalten worden ist? Nein: mutige italieni­s che Feuerwehr­l eute set­z en ihr Leben aufs Spiel, als sie [...] in der Kathe­d rale von Turin das wert­v olle Grabtuch vor einem verheerenden Feuer zu schützen versuchen [...]. In ihren roten Uniformen und Schutz­h elmen ver­s uchen sie den Kasten aus verstärktem Glas zu zerschlagen, der um das ehrwür­ dige Stück Lei­n en herumgebaut ist, nicht zum Schutz vor Van­d alismus, sondern vor der wahnsinnigen Leidenschaft der Anbeter und Pilger, die es

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Abb. 3: Feuerwehrleute retten das „Grabtuch von Turin“ sonst in Stücke gerissen hätten, um an unschätzbare Reli­q uien zu kommen. So gut ist der Glaskasten mittler­w eile gegen Anbeter gesi­c hert, dass er vor dem verheerenden Feuer nicht gerettet werden kann [...] ohne diesen scheinbar gewalttätigen Akt der Glaszer­t rümme­r ung.“ (Latour: 2002, 7), (Abb. 3)

Betrachter, die mit moderner Kunst nicht vertraut sind, könnten übri­gens von den zerschnittenen Leinwänden Lucio Fontanas in ähnlicher Weise hinters Licht geführt werden wie jene, die das Foto der Ret­t ung des Grabtuchs von Turin für das Foto eines At­tentats halten (Abb. 4). Fontanas Werk zeigt, wie sehr ikonoklastische Strategien das Selbst­verständnis moderner Künstler prägen. Es sind die Künstler selbst, die in der ästhe­ tischen Moderne zu Vandalen werden, die aus Gründen der Bildererfin­ dung ihre Bilder zerstö­ren. Wenn man darin geübt ist, in sä­k ularen Kunstwerken theologische Anspielungen zu entdecken, wird man aus Fontanas verwunde­ ten Bildträgern überdies ein kreuzestheo­ logisches Motiv herauslesen. In der Epistemologie des Mittelalters galt Gott als das Zugrundelie­gende, das subiectum. Das änderte sich in der Neuzeit,

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Abb. 4: Lucio Fontana, Concetto Spaziale (1960) als diese Rolle dem menschlichen subiectum, dem Subjekt, zu­fiel. Beide, menschliches und göttliches Subjekt, werden am Kreuz zer­stört – wie die verwundeten Bildträger, die Fontanas Bildern zugrunde liegen.

D er G ekreuzigte als B ildstörung Verweilen wir einen Augenblick bei der Christologie. Die Menschwer­ dung Gottes hatte wie bereits erwähnt die Bildwerdung Gottes und diese die christologische Kritik der Bilderkritik zur Folge. Jesus Chri­stus als neuer Adam stellt aus christlicher Sicht das wahre und endgül­tige Bild Gottes dar. Dieses Bild jedoch wird zerstört. Jesus fällt einer Alli­anz der religiösen und politischen Machthaber seiner Zeit sowie ei­nem Mob zum Opfer, der den Nazarener aus der Welt schaffen will, weil er ihn nicht für das legitime Bild Gottes hält. Die Kreuzigung Jesu ist also ein Ikonoklasmus, den der christliche Glaube zum schlechthin­nigen Bild Gottes und des Men­schen erklärt. Mit dem Kreuz Christi taucht ein neues, unge­heuer eindrückliches und wirkmächtiges Bild in der Religi­ons- und

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Kunstgeschichte auf: ein Bild, das eine Bildstörung ist – eine Gottes- und eine Menschenbildstörung. Am Kreuz werden das Bild des un­sichtbar transzendenten Gottes des Alten Testaments, das Bild des unveränderlichen und allmächtigen Gottes der griechi­schen Metaphysik, das Bild des Idealmenschen der griechischen Kultur und das Bild des gesegne­ ten Menschen der hebräi­schen Bibel dekon­stru­iert. An dessen Stelle tritt das Bild des leidenden Gottes­knechts und des leidenden Got­tes; theologia und anthropologia gloriae werden durch theologia und anthropologia crucis abgelöst. Das Christentum ent­springt einer tief­greifenden Bildstörung, die zu einer auch ästhetisch ein­fluss­reichen Got­tes- und Men­ schenbildrevolution führt. Bruno Latour hat am Beispiel einer dem Bildersturm – nicht des 21., sondern des 16. Jahrhunderts – zum Opfer gefal­lenen Pietà auf den gro­tesken Charakter der Zerstörung eines bereits zerstörten Bildes auf­ merksam gemacht: „Protestantische Fanatiker oder später revolu­t io­n äre (oder vielleicht Vandalen) haben den Kopf Marias abgeschlagen und die Gliedmaßen des toten Christus zer­b rochen – auch, wenn es in der Schrift hieß: ‚sie werden ihm keinen Kno­c hen brechen‘ [...]. Eine iko­n oklastische Geste, soviel ist sicher. Was wäre ein toter Christus, wenn nicht ein an­d eres zerbrochenes Bildnis, das vollkommene Bild von Gott, entheiligt, gekreuzigt, durchbohrt [...] ? So hat die ikonoklastische Geste ein Bild getroffen, das bereits gebrochen ist. Was bedeutet es, ein gekreu­z igtes Bild zu kreuzigen? [...] Der Idolbrecher hat eine schon ge­b rochene Ikone zerbrochen [...]. Die Bilderkrieger begehen immer den gleichen Fehler: sie glauben naiv an naiven Glauben.“ (Latour: 2002, 64f.) (Abb. 5)

Die anspruchsvolle Herausforde­r ung für einen nicht-naiven christlichen Glauben liegt dem­gegenüber ge­rade in der theologischen und spirituellen Verarbeitung der gottes- und menschenbildirritierenden Tatsache, dass in seinem Zen­trum ein Ikonoklasmus, nämlich der Cru­cifixus steht. Weil das Bild des Crucifixus die Kraft hat, Theolo­gie und Anthro­polo­gie jeder künftigen Zeit zu unterminieren, musste sich die kreuzes­theologi­ sche Bildstörung als folgenreich erweisen – und zwar in theo­logischer wie in ästhetischer Hinsicht. Ein Blick auf das Kreuzi­gungs­retabel von Matthias Grünewalds Isen­heimer Altar genügt, um zu er­kennen, dass die späteren expressionisti­ schen Zertrümmerun­ gen des perspektivi-

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Abb. 5: Pietà, Musée Anne de Beaujeu, Moulins (15. Jhdt.) schen Bildraums und des idea­listischen Menschen- und Na­t urbildes der Re­naissance nicht aus einem kunstgeschichtlichen Nichts kommen, sondern sich auf jene spätgoti­schen Christusdarstel­lungen zu­rückführen lassen, die ihrer Zeit deshalb auch ästhetisch weit voraus sein konnten, weil sie einem Geist ent­sprangen, der jede mögli­che ideale Darstellung des Men­schen immer schon kreuzestheologisch de­kon­stru­iert hatte und dies da­her auch künstlerisch tun konnte. Nicht von unge­f ähr wurde der im Er­sten Weltkrieg aus dem elsässischen Colmar in die Münchner Alte Pina­ kothek in Sicherheit gebrachte Cru­ cifixus des Isenhei­ mer Al­ tars enthu­siastisch als Sinnbild deutscher Ge­gen­wartserfah­r ung gefeiert. So ge­w iss die Wall­fahrten zu Grünewalds Bild auch aus zweifelhafter natio­ nalisti­scher Motivation heraus unter­nommen wurden, so gewiss ist doch auch, dass der Isenheimer Altar intuitiv als Inbegriff expressionistischen Welt- und Bildempfin­dens und damit als Ausdruck einer avantgardisti­ schen, nicht mehr schönen, aber um so zeitgemäßeren Äs­thetik des Hässlichen erfahren wurde. Wenn es stimmt, dass der christliche Glaube aufgrund seiner Ge­nese am Kreuz immer schon für Bildstörungen gewappnet, ja prädesti­niert ist, dann dürften ihn nicht nur religiöse, sondern auch religions­kriti­sche Iko-

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noklasmen nicht erschüttern. Wenn er von Beginn an ge­gen die Vi­r ulenz von Bildstörun­gen immun ist, weil er durch die Inter­nali­sierung des Ikonoklastischen Anti­körper gegen jegliche religi­ons­kriti­sche Infek­tion gebildet hat, dann stellt er eine Gestalt von Reli­giosität dar, die keinerlei Kritik zu fürchten hat und tolerant und souve­rän auf innere wie äußere Re­spektlosigkeit reagieren kann. Man könnte sagen, der christli­che Glaube ist immer schon modern, weil er immer schon selbstkritisch ist. Während islamkritische Kunst in der muslimi­schen Welt gewalttä­tige fundamentalistische Reaktionen aus­löst, lässt chri­stentumskritische Kunst die meisten religiösen Gemü­ter im soge­nann­ten christlichen Abendland vergleichsweise ungerührt. Zwar irritiert Religionskritik auch in der christlichen Kirche – zumal dann, wenn sie in Gestalt provo­zierender Bilder wie etwa den Papst­stu­ dien Francis Bacons, den Sonofagod-Pictures von Gilbert & George oder Maurizio Cattelans Skulptur „La Nona Ora“ auftritt (Abb. 6). Aber um Leib und Leben muss auch der respektloseste christen­tumskritische Künstler nur in den seltensten Fäl­len fürch­ten. Dies zeigt, dass das moderne Christen­tum Teil, wenn nicht Motor der auf­geklär­ten, selbstkritikfähi­ gen und humanen abendländischen Zivili­sation ist. Zu dieser Zivilisa­tion gehört in rezeptionsästhetischer Hin­sicht die Fähig­keit zur Ambi­guitätsund Ambivalenztoleranz. Dass moderne Kunst­werke nicht ein­deutig sind und unterschiedlichste In­terpretatio­nen zu­lassen, bereitet nicht weni­gen Zeitgenossen erhebli­che Schwierig­keiten und ist einer der wesentli­chen Gründe für die Ab­leh­nung moder­ner Kunst. Mehr­fachcodierung wird von vielen Menschen gerade nicht als be­freiend, sondern als beunruhigend für ihre Seelenöko­nomie erlebt. Der Bürger – so Adolf Loos – duldet nichts Unverständli­ches im Haus. Er tut sich schwer damit, dass die Aufgabe moderner Kunst nach Karl Kraus' Wor­ten darin bestehen soll, Chaos in die Ord­nung zu bringen und dem dia­bo­los nä­her zu sein als Gott. Cat­telans gefällter Papst ist ein gutes Bei­spiel für die diaboli­sche Am­bigui­tät und für die irritierende Bild- und Betrach­tererschütte­rung, die Latour „Ico­noclash“ nennt. Ist das Bild des in der „neunten Stunde“, der Todes­stunde Jesu, von einem Meteori­ten erschlagenen Johannes Paul II. men­schen- und gottesverach­tend, weil es einem Mann Gottes den Tod wünscht?

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Abb. 6: Maurizio Cattelan, La Nona Ora (1999) „Oder ist es, wie Chri­s tian Bol­t anski behauptet, ein Bild vol­ler Ehrfurcht, da es zeigt, dass im Ka­t holi­z ismus der Papst das gleiche Zer­b rechen, die gleiche äußerste Zer­s tö­r ung er­d ulden muss wie Chri­s tus selbst?“ (La­t our: 2002, 60)

I konokl asmen in der ästhe tischen M oderne Gut und Böse sind in der ästhetischen Moderne nicht zu leicht zu un­ terscheiden. Ein Besuch an der Wiege der modernen Kunst führt un­ übersehbar vor Augen, dass die ikonoklastische Ästhe­tik des frühen 20. Jahrhunderts eine Ästhetik des „guten Bösen“ ist, die nicht selten Züge eines Bubenstücks trägt. Denn zahlreiche moderne Künst­ler wollten bewusst Bürgerschreck sein und Harmonie durch Dissonanz, Vir­tuosi­tät durch Primitivität und Schönheit durch Schock ersetzen. Fast alles, was diese enfants terribles anrichteten, stand im Zeichen einer Wahr­neh­ mungsstörung und einer Suche nach neuen – manchmal auch letz­ten – bilder­schütternden Bildern. Wenn man vor die späten Gemälde Cézan­ nes, vor Picassos „Demoiselles d'Avignon“ und vor dessen kubisti­sche Porträts tritt, muss man aber auch im Blick behalten, dass diese Bilder nicht nur herrschende Weltbilder erschütterten, sondern Seismo­graphen herrschen­der Weltbilderschüt­terungen waren. Was sich in der bilden­ den Kunst der Moderne vollzieht, ist der ästhetische Aus­druck einer

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erkenntnistheo­retischen und meta­physischen Bodenlo­sig­keit, die Nietz­ sche diagnosti­ zierte und radikali­ sierte, die der Expres­ sio­ nismus aus­ agierte und die in der zeitgenössi­schen modernen Physik wissen­schaft­ lich nachweislich wurde. Die Quantenphysik stellte die Teilchen­natur der sogenannten Elementar­teilchen und damit das ver­traute Bild des Mikrokosmos in Frage, von dem man sich fortan über­haupt kein Bild mehr ma­chen konnte. Im Innersten und Kleinsten ist Wirklichkeit nur auf dem Weg einer Ab­straktion zu erfas­sen, die ihrem Wesen nach nicht naturtreu sein kann. Die relativistische Physik dekon­struierte Raum und Zeit. Diese sind nicht mehr die Bühne des Welten­dramas, geschweige denn absolut. Heisenberg und Einstein wa­ren Iko­noklasten. Ihre physi­kali­schen Weltbilderschütterungen spie­geln sich in einer ikonoklasti­schen Kunst, die den verlässlichen Blick- und Bildraum und die Stabili­tät der Bildgegenstände sprengt – aber nicht, um alles zunichte zu ma­chen, sondern um wie die moderne Phy­sik neue Bilder zu simulieren und neue Wahrnehmungen zu ermögli­chen. Manche Künstler der ästhetischen Moderne waren vom Pathos beseelt, letzte Bilder zu schaffen und die Kunst zu Ende zu führen. Malewitschs „Schwarzes Quadrat“ ist indes nicht nur ein letztes Bild, sondern auch ein absolu­tes Bild, vielleicht sogar ein Bild des Absoluten (Abb. 7). Es wäre kurz­schlüssig, nur den religionskritischen Gestus der modernen Kunst zu sehen. So sehr Religion in vielen modernen Kunstwerken explizit kriti­ siert und ironisiert wird, so sehr ist sie doch im­plizit in der moder­nen Kunst präsent. Die unge­gen­ständli­chen, zu­weilen scherzhaft als „buddhistische Fernseher“ titu­lier­ten Ge­mälde Mark Rothkos, des „Rabbis der modernen Kunst“, etwa haben eine spi­r ituelle Dimen­sion. Seine Bilder, die ihr eindeutiges Signifikat vermissen las­sen, weil sie keine „Bilder von etwas“ und keine „Bilder von je­man­dem“ mehr sind, aber dafür mit um so größerer spiri­t ueller und nu­mi­noser Symbolik aufgeladen werden können, halten dem jüdi­schen Bil­derverbot und der negativen Theologie der großen Buch­reli­gionen un­ter den Be­dingun­gen der ästhetischen Moderne die Treue. Rothkos Kunst verlegt sich auf eine diffus geheim­nisvolle Unge­gen­ständ­lich­keit. Sie schafft im Me­dium der Abstraktion unwillkür­ lich oder ab­sichtsvoll Platz für das Ab­solute und für das Me­taphysi­sche, ohne blas­phemisch oder all zu aus­drücklich religiös zu sein. Sie gibt einer un­gegenständlichen Spirituali­tät Raum, die als Cha­rakteristi­k um der Reli­giosität unserer Epoche gelten kann. Rothkos letztes Werk war eine überkonfes­sionelle, ja überreligiöse Ka­pelle, die auf dem Ge­lände der

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Abb. 7: Kasimir Malewitsch, Schwarzes Quadrat (1913) de-Menil-Collection im texanischen Houston er­r ichtet wurde. Der Jude Rothko deutete die dunkel­glühen­den Tafel­bilder im Inneren der Rothko Chapel übrigens christologisch. Ihr Thema, so der Künstler, sei „the Passion of the Christ“. Die unge­gen­ständliche Kunst der Moderne de­struiert Reli­gion also nicht, sondern zitiert sie durch Bilder, die keine religiösen Bilder zu sein schei­nen, gerade herbei. Stan­ ley Kubricks „2001 – A Space Odyssey“ ist ein Science-Fiction-Film voller Metaphysik, obwohl darin keine ein­zige religiöse oder me­ taphysi­sche Frage explizit gestellt, geschweige denn explizit be­ant­wortet wird. Kubrick inszeniert das Undar­stell­bare seman­tisch unein­deutig und ab­solut abstrakt nicht als schwar­zes Qua­drat, sondern als schwarzen Mo­ nolithen (Abb. 8). Dieser Monolith, Sym­bol für die Welträtsel wie für das Göttliche, Science Fiction gewordene Ka'aba und metaphy­sische black box, ist ein Bild, über welches das Bilderverbot ver­hängt ist. Als die Astro­

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Abb. 8: Der schwarze Monolith, Filmstill aus Stanley Kubricks „2001 – A Space Odyssey“ (1968) nauten im Film ein Gruppenfoto mit dem Mo­no­lithen ma­chen wollen, ertönt ein schrill disso­nantes Geräusch, das sie in die Flucht schlägt. „Du sollst dir kein Bild­nis machen.“

A bstr ak te R eligionsverwandtschaf ten Wie eingangs angedeutet halte ich es für lohnenswert, die Spur des Zu­ sammenhangs von Ungegenständlichkeit, Bildskepsis, Metaphysik und Religion in die Richtung einer interreligiösen ästhetischen Kom­muni­ kation weiter zu verfolgen. Vielleicht ist die iko­noklastisch „bildlose“ abstrakte, absolut konkrete und zugleich absolut metaphorische Kunst ja ein wirksames Antidot gegen die Ikonoklasmen fundamentalisti­scher Religiosität und religiösen Terrors – auch, wenn unge­genständli­che Bil­ der anfällig für nicht-religiös motivierte Bilder­stürme sind. Das zei­gen nicht zuletzt der Anschlag auf Bar­nett New­mans Gemälde „Who's Afraid of Red, Yellow and Blue?“ in der Berliner Neuen Nationalgalerie und die Zerschlitzung eines sei­ner Bilder im Stedelijk Mu­seum in Am­sterdam. Muss man diese Zerstörungen, die Lucio Fon­tana seinen Bil­dern sicherheitshalber selbst zufügte, als Pro­teste gegen Bilder begrei­fen, die keine Bilder mehr sind?

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Was für die Kunst des Juden Mark Rothko gilt, lässt sich auch an der Malerei Piet Mondrians illustrieren. Dessen Vater war ein streng­gläubi­ger Calvinist, Direktor der reformierten Gemeindeschule in Amersfort und Mondrians erster Zeichenlehrer. Die Domi­nanz des Va­ters soll groß gewesen sein. Möglicherweise reicht sie bis in die Kunst des er­wachse­nen Piet Mondrian. Auf dessen Leinwänden verbin­den sich cal­v inisti­sche Kritik an der Figürlichkeit und moderne Ab­straktion zu Bildern, die geometrische Ornamente sind und auch in der arabi­schen Kul­t ur zu Hause sein könnten. Deren religiös motivierte Ästhetik lässt sich als ungegenständliche Vermes­sung des göttlichen Lichts be­schreiben – ganz im Sinne des theologischen Architekturpro­gramms der gotischen Ka­thedralen übrigens. Die ornamentalen Fres­ken der großen Mo­scheen – etwa des Felsendoms von Jerusalem – und die Zierseiten der Koran­handschriften offenbaren eine weitere Eigenart der isla­mischen Kunst. Als Magd des Glaubens, welche die innere Bild­pro­duktion anregen und die religiöse Imagination vor den Sinnen schützen will, erschafft sie un­figürliche Medi­tations­bilder der Heiligen Schrift (Belting: 2009, 41). Dass die abstrakte Kunst der jüdischchrist­lichen abendländischen Mo­derne und die ungegenständli­che Kunst der mor­genländisch-muslimi­schen Tradition einander näher sind, als es schei­nen mag, verrät eine despektierlich ge­meinte Bemerkung des Köl­ner Erzbischofs Kardinal Meissner über Gerhard Richters 2007 ent­stan­denes Südquer­hausfenster des Kölner Doms. Meissner kritisierte Rich­ters gepixeltes Buntglasfen­ster, das keine reli­giöse Geschichte er­zählt, sondern durch das mystische Zusammenspiel von Licht, Farbe und Geometrie die Gotik in die äs­theti­sche Gegen­wart der Computer­grafik übersetzt, mit den Worten, das Fenster passe eher in eine Mo­schee oder in ein jüdisches Gebetshaus; von einer reformier­ten Kirche sprach Meissner nicht. Inter­essan­terweise hat der Kardinal unfreiwillig auf den Punkt gebracht, was ich als inter­religiöses Potenzial einer (an)ästhetischen Liaison der Bild­tradi­tionen der drei abrahamitischen Religionen in den Blick rücken möchte. Denn eines hatte Meissner, so reaktionär sein Aperçu auch war, unwillkür­lich begriffen: die konkrete abstrakte Kunst der äs­thetischen Moderne hat mit der islami­schen Kunst einiges gemeinsam. Ebenso wie die Ab­strak­tionen der arabischen Ästhetik können die Ab­straktionen der Mo­derne als Kritik der Renais­sanceästhetik und deren Verherrlichung des Sehens be­grif­fen wer­den. Im Quattrocento ging es vor allem um die

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Vermes­sung des Blicks. „Der Bildschirm der Perspek­tive ist eine Meta­ pher für die Anwe­senheit eines Betrachters“ (Belting: 2009, 25), also für die Prä­senz eines subjek­tiven Blickens. „Die Renais­s ance setzte das menschliche Subjekt, das sie als Individuum feierte, gleich in doppel­t er Weise ins Bild: sie tat es zum einen durch sein Por­t rät und zum an­d eren durch seinen Blick, der sich im Bild wiederfand.“ (ebd., 28)

Dem­ gegen­ über darf im Islam nichts Le­ bendiges bildlich dar­ gestellt werden, um die unendli­che quali­tative Dif­ferenz zwischen dem schöpferischen Gott und dem schöpferi­schen Men­schen, der Gottes Schöpfermacht ja gefährlich nahe kommt, nicht zu verwischen. Das isla­mische Bilderver­bot ist denn auch ein Re­flex der unheimlichen Wirk­mächtigkeit der Kunst. Bilder sind nicht nur Bilder. Die Gesichter, die uns aus ihnen her­aus anblicken, sind wirklich. Sie sind Lebewesen. Das macht Künstler zu be­ängsti­genden Magi­ern, die mit dem Feuer der Blasphemie spielen. Wenn aber die künstleri­sche Mimesis in einer religiö­sen Kultur derart ani­mistisch be­griffen und gefürchtet wird, bleibt nur eine Konsequenz: das Blickver­bot muss auch auf Kunst­werke ausgewei­tet werden. Es gilt, das unheim­liche momen­t um des Le­bendigwerden­könnens der Bilder unter allen Umstän­den zu vermei­den, ja zu ver­hindern. Wenn man blicken­ den Bildern den Kopf abtrennt oder sie nur auf dem Fußboden zulässt, verlie­ren sie ihre Macht. Ein Bild ohne Kopf ist ein Ding und als solches harmlos. Es fällt wie ein ab­straktes Bil­d nicht unter das Bilderverbot (vgl. Bel­ting: 2009, 77).

B ilderverbot und Technologiekritik Ein kleiner Exkurs soll an dieser Stelle illustrieren, dass die animisti­sche Angst der islamischen Bildkritiker der byzantini­schen und der mittelal­ terlichen Kultur durchaus auch in der technologischen Welt der Mo­derne nachvollziehbar ist. Zahlreiche Science-Fiction-Filme inszenie­ ren das Thema „Artificial Intelligence“. Ihr Plot lebt von der Mensch­lichkeit der Androiden. Diese führt – exemplarisch in Ridley Scotts film noir „Blade Runner“ – in anthropologische und ethische Bre­douillen, deren Ernst

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Abb. 9: Der Android „Geminoid“ der japanischen Firma „Hiroshi Ishiguro Laboratory“ noch zunimmt, wenn Androiden und Men­schen nicht nur auf­grund der Geistesgegenwart der Androi­den, sondern auch optisch nicht auseinan­ derzuhalten sind. Zwar ist die Ununterscheid­bar­keit von Mensch und Robo­ter noch im­ mer wissenschaftliche Fik­tion. Die japani­sche Firma „Hiroshi Ishiguro Laboratory“ hat jedoch vorgemacht, was geschieht, wenn Androiden und Menschen einander phänomenolo­gisch zu nahe kommen: es stellt sich jenes numinose Unbehagen ein, das im Islam zum Bil­der- und Blickver­bot führte. Und es stellt sich jene Ein­sicht ein, aufgrund derer der Islam die Bilder verbot: Bilder, Skulpturen und Ro­boter können es letztlich nicht mit der lebendigen Schöpfung Gottes aufnehmen. Je le­bendiger nämlich Ishiguros „Ge­minoiden“ er­scheinen, desto untoter und verstörender wirken sie (Abb. 9). „Je menschen­ä hnli­c her ein Roboter wird, desto attraktiver wird er – bis zu einem ge­w issen Grad. Denn kurz vor dem Gipfel der ‚Likeness‘-Kurve, auf dem der echte Mensch thront, klafft im Dia­g ramm das un­h eimliche Tal. Ein zu menschlich daher­k ommender Ro­b oter stürzt in der Sympa­t hie der Beob­a chter zu den gruseligen Be­w ohnern der Tal­s ohle: Zom­b ies und Lei­ chen“ (Lenzen: 2012, 25).

Auch und gerade an­gesichts dieses uncanny valley zeigt sich die Aktualität der jüdisch-christlichen und der islami­schen Bildkri­tik, die als Anwältin der Ein­zigartigkeit des Le­bens fir­miert. Kein Bild, nur der leben­dige Mensch kann das Bild Gottes sein. Die propheti­sche Ak­tualität dieser Kritik wird auch im Blick auf den Sie­ges­zug digitaler Bildbearbeitungs-

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programme sichtbar, deren ma­nipu­lativer Ein­satz dazu führt, dass sich der Mensch zum pro­grammierten Wesen macht. Durch Photoshop sieht alles schön aus, und „wir, die wir in der Wirk­l ichkeit zurückbleiben müssen, werden mit [...] provokant perfekten Arte­f akten konfrontiert. Die Konsequenz: Wir ver­s uchen dem vorge­legten Ideal zu entsprechen, glätten unsere Falten, straffen unsere Haut und beginnen, unseren Körper zu formen. Die ‚äs­thetische Medizin‘ boomt, und das ‚Body-sha­p ing‘ erfasst immer jüngere Men­s chen [...]. Die digitale Welt ist schön und fordert die reale Schwester heraus. Compu­ter und Mensch – wer programmiert am Ende wen?“ (Yogeshwar: 2014)

Dass der Mensch, das Bild Gottes, sich selbst nach einem tech­nisch er­ zeug­ ten Werbeide­ albild umzuschaffen beginnt, muss einer idol- und ideolo­giekri­tischen Bildkritik Sorge bereiten, die den Menschen durch das Bilder­verbot davor bewah­ren will, seine Haut und sein Geheimnis zu Markte zu tra­gen, um einem kommerzialisierten glo­ba­len Schönheits­ ideal zu entspre­chen, das Befrei­ung aus dem Labyrinth der Identitätssu­ che verheißt und doch von der Un­zu­friedenheit des Men­schen mit sich selbst profi­tiert, die sie daher unentwegt befeuert.

D ie ästhe tische V ersöhnung der R eligionen – eine U topie Nehmen wir ein letztes Mal die Fährte einer ästhetischen Versöhnung der monotheistischen Religionen auf und folgen wir ihr zu drei Beispie­len der dO­CU­MENTA (13) des Jahres 2012. Was wie ein harmloses konventionelles Landschaftsgemälde ohne tisch-avantgardistischen Anspruch anmutet, verrät sein Geheim­ ästhe­ nis, wenn man die Geschichte kennt, die sich hin­ter dem Bild verbirgt. Mo­hammed Yusuf Asefi, afghanischer Medi­ziner und Maler, ist näm­ lich eine Art Retter der figurativen Dar­stel­lung (Abb. 10). Im Jahr 2000 über­malte er in der Nationalgale­r ie von Kabul figurative Ölbilder, die Ge­ stalten, Tiere und Menschen zeigten. Diese Übermalung war indes kein iko­noklastischer Akt der Vernichtung, sondern ein sote­r iologischer Akt der Errettung dieser Bilder vor den Ikonoklasmen der Ta­liban. Asefi be­

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Abb. 10: Mohammed Yusuf Asefi, Landscape (2000). deckte die fi­gürlichen Ölbilder mit Aquarellfarben und ließ buchstäb­lich Gras, also Natur, die im Islam nicht unter das Bilder­verbot fällt, über sie wachsen. Gegen­über den Taliban gab er sich als Restaurator aus. Ge­ blendet und religiös beruhigt von der fundamenta­lismusver­träg­lichen Strahlkraft der idylli­schen Landschaftsmalereien ließen die Tali­ban Ase­ fis Werk unbehelligt. So rettete er Bil­der afghani­scher Künstler, die sich dem Diktat des islamischen Funda­men­talismus nicht beugen wollten, vor dem Bildersturm. All diese Künstler konnten ihre Kunstwerke wie­der besichtigen, als die Aqua­rellfarbe ab­gewaschen war und hinter un­kritischen Landschaften religionskriti­sche Gegen­warts­k unst zum Vor­schein kam. Die Moral von der Ge­schicht': da alles seine Zeit hat, bedarf es mitunter eines fingierten Iko­noklasmus – eines „Ico­noclash“ –, um Bildern, deren Zeit noch nicht ge­kom­men ist, Unter­schlupf zu gewähren und sie vor dem Mob fundamen­tali­stischer Bilder­stürmer zu schützen. Einen anderen Weg der Versöhnung von muslimischer Ästhetik und moderner Kunst wählt Francis Alÿs. Dessen kleinformatige Collagen verbinden Fotogra­fien afghanischer Alltags­szenen mit abstrakter Male­ rei. Ihre vertikalen Farbstreifen erinnern an das Testbild, das vor der Epoche des 24/7-TV allnäch­tlich im Fernsehen zu sehen war (Abb. 11). In gewis­sem Sinn sind Alÿs' Bilder in der Tat Testbil­der. Indem sie die Un­gleichzei­tigkeit des Gleichzeitigen ins Bild setzen, konfrontieren sie Sehgewohn­heiten der westlichen Mo­derne mit islamischen Blicken und testen, ob die Begegnung von mo­derner abendländischer Abstraktion und mor­genländischer Welt gelin­gen könnte, deren religiöse Ästhetik ja eben­falls abstrakte Züge trägt. Muss es beim terroristisch verstärk­ten

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Abb. 11: Francis Alÿs, Reel – Unreel (To The People of K) (2011) Reli­gions-, Le­bensstil- und Wahrnehmungs-Clash zwischen auf­geklär­ tem Okzident und unaufge­k lärtem Orient bleiben? Oder ist ein interreli­ giö­ser Begeg­nungsraum von jüdisch-christlich-abend­ländischer und ara­ bisch-islamischer Kultur der Ge­genwart im Medium einer bild­kritischen bil­denden Kunst denkbar, welche die drei abraha­miti­schen Religionen (an)äs­thetisch zusammenschweißt? Ist dieser ästhetische Begegnungs­ raum in einer terrori­stisch entzau­berten Welt „real“ oder „unreal“? Bleibt er eine westli­che Uto­pie, die nur im Reich des Fik­tiven und des Imagi­ nären Wirklichkeit wird? In dieser Spurensuche wollte ich verdeutlichen, dass Kunst und Reli­ gion einen gemeinsamen Grund haben, in einer gefährdeten Welt an der Si­syphusaufgabe interkultu­reller Versöhnung zu arbeiten. Mag sein, dass diese Ver­söh­nung in der Tat Utopie und jenseits ästhetisch-theologischer Imagi­nation ortlos ist. Doch vergessen wir nicht: das Ima­ginäre ist – wie die Leiterin der dOCUMENTA (13), Carolyn Chri­stov-Ba­kargiev, formu­ liert hat – der ideale Ort künstleri­schen Schaf­fens. Und es ist der ideale Ort des Spirituellen. Reli­gion, Kunst und Welt(bild)veränderungen speisen sich aus unsichtbarer Energie. Dort nehmen sie ihren Anfang.

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Abb. 12: Ryan Gander, I Need Some Meaning I Can Memorize (2012) Die Besucher der dOCUMENTA (13) in Kassel empfing der Parade-Showroom, das Museum Fridericianum, mit einem fre­chen Ikonoklas­ mus: mit absoluter Leere statt optischer Fülle (Abb. 12). Ca­rolyn Chri­stovBakar­giev überließ dem britischen Künstler Ryan Gan­der das ge­samte Erdge­schoss. Zu sehen war nichts und zu spü­ren nur ein Hauch: ein ren er­ zeugter Luftzug. kühler, von unsichtbar angebrachten Ventilato­ Vielleicht die Energie der Kunst, die Sehge­wohnhei­ten heilsam durch­ einanderwir­belt und all zu gewohnte Bilder erschüttert. Vielleicht aber auch die „ru­ach“, der göttliche Geist, der inspiriert und frei macht. Der Titel von Ryan Ganders Kaltluftperformance „I Need Some Meaning I Can Me­morize“ könnte treffender nicht sein. Er verleiht dem enttäusch­ten Be­ dürfnis der Be­trachter nach der Gegenwart einer ein­deutigen Bedeutung präzisen Ausdruck. Zugleich lässt er die Deutung zu, dass am Ende wir selbst es sind, deren Einbildungskraft Welt, Kunst und Religion ver­ändert. Der Geist kreativer Phantasie transzen­diert und verflüssigt verfestig­te und tota­litäre Bild- und Vor­stel­lungs­welten. Er stärkt und immunisiert gegen fun­damentali­sti­sche Men­schen-, Welt- und Gottes­bilder. Die jüdische, die christliche und die islamische Mystik und deren negative Theologie sind sich der Gefahr der Fixie­r ung auf jene äußeren und inneren

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Bilder be­w usst, die Men­schen das Leben nehmen unter dem Vorwand, es ihnen zu geben. Wahr­haft leben­diger Glaube und wahrhaft lebendige Theo­logie wissen daher darum, dass Religion Züge einer propheti­schen Bild­stö­r ung tra­gen muss, um kritisch und mensch­lich zu bleiben. Bild­ skep­ sis, Bildkri­ tik und Bildpro­ duktion widerspre­ chen dabei einander nicht, son­dern befördern äs­theti­sche und religiöse Visio­nen, künstleri­ sche Ar­beit und theo­logi­sche Reflexion. Ich bin am Ziel. Der Ästhetik Europas wollte ich auf den Grund gehen und ihr in ihre Vergangenheit hinein folgen – in der Hoffnung, dadurch auch ein erhellendes Licht in die Gegenwart und ein ermuti­gendes Licht auf die Zukunft der Religionen in die­sem Europa und über dessen Gren­ zen hinaus zu werfen (Abb. 13).

Abb. 13: Ende der Bildstörung

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Alljährlich zu Weihnachten inszeniert das New Yorker Metropolitan Museum in seiner Medieval Art Collection ein Krippenspiel, das als Melange nord- und südeuropäischer Traditionen seine beiden Vorbilder jenseits des Atlantiks im Sinne einer aemulatio übertrifft: Ein deutscher Weihnachts-Tannenbaum dient als Hintergrund für einen farbenprächtigen Schwall barocker Engel aus der Sammlung neapolitanischer Schnitzkunst. Die Inszenierung ist nicht liturgisch sondern ästhetisch begründet, sie ist insofern typisch amerikanisch, als sie versucht, Europa zu überbieten, indem sie dessen beste Elemente neu kombiniert. Im Folgenden werden nicht nur temporäre Inszenierungen, sondern ganze Museen im Hinblick auf ihre Erfindung Europas betrachtet. Die drei ausgewählten Beispiele zeigen jeweils ein Segment europäischer Kultur, deren Reihenfolge hier – wie in Disneyland – asynchron ist: So führt das älteste Museum aus dem Jahre 1903, das Isabella Stewart Gardner Museum in Boston, in die jüngste Epoche der Kunstgeschichte, die italienische Renaissance: Venedig in Boston. Das zweite Beispiel aus dem Jahre 1938 zeigt das romanische Mittelalter Südfrankreichs, aus Spolien neu zusammengesetzt in einem Park am Hudson: The Cloisters in Manhattan. Das jüngste Museum stammt aus dem Jahre 1974 und lässt die älteste Epoche, die römische Antike, im Glanz Kaliforniens wieder auferstehen : Herculaneum in Los Angeles. Die Initiatoren waren dabei nicht an dynastische Traditionen mit überlieferten Sammlungen gebunden, wie in Europa üblich, sie konnten allein ihren Geschmacksvorlieben folgen und historische Zusammenhänge ignorieren.

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V enedig in B oston Isabella Stewart Gardner (1840–1924) erfüllte sich um 1900 einen Traum: Venedig in Boston! Ihr Museum, 1897–1903 gebaut, fügt sich als Gebäude relativ zurückhaltend in den soliden Backstein-Historismus Neu-Englands ein. Mit seinem nüchternen Understatement fällt der Außenbau im Stadtbild zunächst nicht weiter auf, allenfalls seine Größe weckt Erwartungen. Im Innenhof jedoch beginnen die Besucherinnen und Besucher zu staunen angesichts der Pracht, die die besessene Kunstsammlerin hier auf bieten kann: eine Montage aus venezianischen Palastfassaden (Abb. 1). Gardner hat einzelne Bruchstücke neu zusammensetzen lassen, jedoch nicht außen, sondern innen. Der Marmor, der einst gegen Feuchtigkeit schützte, im Sommer kühlte und den Wohlstand repräsentierte, ist hier nur noch museales fake. In einer Umkehrung ihrer Funktionen wurden die Marmorfassaden venezianischer Adelspaläste gleichsam zur Puppenstube eines großen reichen Mädchens. Gardner lebte in Venedig bei ihren wohlhabenden Freunden bevorzugt im Palazzo Barbaro und verkehrte dort im Kreis europäischer Künstler und Intellektueller ihrer Zeit, aber sie wollte doch nicht ganz nach Italien umziehen. Geld spielte keine Rolle und mit dem jungen Kunsthistoriker Bernard Berenson, dem ersten amerikanischen Spezialisten für Renaissance-Malerei, hatte sie einen guten Berater an ihrer Seite. Im glasdachgedeckten Innenhof ihres Museums wachsen nun exotische und mediterrane Pflanzen, obwohl es im Winter in Boston sehr kalt sein kann (Abb. 1). Im Zentrum liegt ein römisches Mosaik mit dem zentralen Motiv eines Medusenhauptes, so dass es mythologisch passte, gerade hier die steinernen Statuen aus der Antike aufzustellen, versteinert Medusa doch jeden, der sie anblickt. Einige ihrer wohl bedachten Inszenierungen sollen hier genauer betrachtet werden, denn Isabella Stewart Gardner häufte nicht nur an, was sie bekommen konnte, sie war auch gebildet und geschmackssicher genug, um ihre Beutestücke aus Europa sinnvoll arrangieren zu können. Und sie wird sich gefreut haben, wenn man sie mit Isabelle d'Este, der Primadonna der Renaissance, verglich. Ihr venezianisches Schatzkästlein, mit den von außen nach innen gewendeten Marmorfassaden, hat sein Vorbild im Ca d'Oro, unweit der Rialto-Brücke am Canal Grande in Venedig. Gardner musste zugreifen, als neben den Marmorinkrustationen auch die acht vermeintlichen Balkone

Die Er findung Europas in amerikanischen Museen

Abb. 1: Isabella Stewart Gardner Museum, Boston (1897–1903). Innenhof mit einer Montage aus echten und gefälschten Bruchstücken venezianischer Palastfassaden des Palastes verscherbelt wurden. Nach einer wechselvollen Geschichte des Ca d'Oro waren Teile seines Bauschmucks abgebröckelt bzw. herausgebrochen worden, stellenweise wurde jedoch auch restauriert. Ein italienischer Kunsthändler konnte der Amerikanerin dann die acht nachgemachten Balkone, Fälschungen aus dem 19. Jahrhundert, als die echten verkaufen. Weitere Fragmente venezianischer Bauplastik hatte Gardner bei ihren Streifzügen in der Stadt selber erworben, die verschiedenen Spolien ließ sie dann in Boston neu zusammenfügen und farblich einheitlich fassen. Die zarte rosa Tönung der Wände unter dem Glasdach imitiert das wässrige Licht Venedigs, denn die Pretiosen sollten auch in Boston magisch glänzen. So wurde aus dem doppelt gefakten Venedig ein echtes amerikanisches museum.

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Wenn man als Besucher vom Innenhof in die einzelnen Fenster blickt, öffnen sich gleichsam „windows“ in die diversen period rooms, die mit Accessoires aus allen Gattungen – Malerei, Plastik und Kunsthandwerk – bestückt sind. In der Tapestries Gallery für die Dutch and British Periods werden Gobelins und alte Möbel präsentiert, die Inszenierung orientiert sich an Rittersälen und eignete sich vorzüglich für ein fashionable dinner mit nachgeahmtem Minnesang. Gardners Herz aber galt Venedig und so bildet der Titian Room mit seiner bis in Details durchdachten Inszenierung den Höhepunkt des Museums (Abb. 2). Vermutlich aus ästhetischen Gründen war sie schon zum Katholizismus konvertiert und es gelang ihr, Tizians Raub der Europa (1559/62) zu kaufen, ein Gemälde, das heute noch als das bedeutendste Werk des italienischen Renaissance-Malers in den USA gilt, und zudem ein passendes Thema bietet, eben den Raub der Europa, der den Kulturtransfer gleichsam mythologisch überhöht. Tizian zeigt den Stier mit der geraubten Nymphe, die auf seinem Rücken liegend willig sein Horn packt, um in höhere Gefilde göttlicher Liebe zu entschwinden. Das leuchtende Abendrot changiert stimmungsvoll ins Rosa, ein himmlisches Wunder geschieht, Europa wird später viele weise Könige gebären, so will es der Mythos. Tizians Farbigkeit bringt die erotisch aufgeladene Atmosphäre zum Leuchten, sie wird im Ausstellungsraum in einer rosaroten Wandbespannung aufgenommen, auch der kostbare Perserteppich aus dem 16. Jahrhundert wurde farblich passend ausgewählt. Gardner versuchte aber auch szenisch vom Bildgeschehen in den Ausstellungsraum überzuleiten. Zwei venezianische Wandtischchen aus dem Rokoko stehen direkt unter dem Bild, auf dem linken liegt ein Putto des französischen Bildhauers François Duquesnoy, als sei er umgefallen, seine Lage entspricht jener der geraubten Nymphe im Gemälde. Auf dem zweiten Tisch steht ein Aquarell Anton van Dycks nach einer Kopie, die Peter Paul Rubens von Tizians Raub der Europa gemalt hatte. Unter dem Bild ließ Gardner einen Streifen Seide an die Wand hängen, der aus einer speziell für sie in Paris gewebten Robe stammt, eine pikante Anspielung auf ihren eigenen Körper. Sie sei im Rausch gewesen vor Glück, als sie Tizians Gemälde vom Earl of Darnley in England erworben hatte, galt doch in Italien schon damals ein Ausfuhrverbot. An der Seitenwand des Raumes steht auf einem separaten Tischchen ein kleinformatiges Bild, eine Kreuztragung Christi, die seinerzeit noch dem venezianischen Maler Giorgione zugeschrieben war, tatsächlich aber

Die Er findung Europas in amerikanischen Museen

Abb. 2: Titian Room, Isabella Stewart Gardner Museum, Boston, mit Tizians „Raub der Europa“ (1559/62) von Giovanni Bellini stammt, ein privates Andachtsbild für die meditative Einfühlung des Gläubigen. Gardner ließ stets einen Strauß lilafarbener Blumen neben das Bild stellen: Ihr Mann war kurz zuvor gestorben, die Inszenierung diente ihr als Trauer-Set. An die Wand gegenüber des Raubs der Europa hängte sie ihre gesammelten Männer-Porträts, darunter eines von Philipp IV. (gemalt von Diego Velasquez), also des Enkels von Philipp II., für den der Raub der Europa ursprünglich gemalt worden war, ferner eine Büste des seinerzeit führenden Florentiner Bankiers, gefertigt von Benvenuto Cellini, und ein Selbstporträt eines Malers. Die Bilder sind so aufgehängt, als blickten die dargestellten Männer auf die geraubte Europa, wie es Philipp II. einst realiter vermochte. Die Inszenierung ist very sophisticated, mit privaten Anspielungen, die sich so in keinem staatlichen Museum finden. Isabella Stewart Gardner hingegen konnte sich eine solche folly leisten, sie mischte die Gattungen, die Künste, die Epochen und Stile, stellte aber auch neue Korrespondenzen her, manchmal sind es rein formale Analogien oder nur die Farben, manchmal erzählt sie persönliche Geschichten mit

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der Inszenierung der Exponate. Das Museum selbst geriet zum Kunstwerk (Gamboni 2005), es wurde 1903 auch für das Publikum geöffnet und ist mit allen privaten und ästhetischen Sinnbezügen bis heute erhalten geblieben. Ihr Museum in Boston ist ein schönes Beispiel für den interkulturellen Transfer. Wenngleich diese amerikanische Aneignung europäischer Kultur durchaus in einer europäischen Tradition steht, die mit Laurence Sterne's A Sentimental Journey Through France and Italy (1768) das Modell des subjektiv beliebigen, emotional gesteuerten Kunstgenusses vorgibt, kommt in Gardners Schatzkästlein doch eine amerikanische Komponente hinzu: Amerikanisch nämlich ist die Devise, der die Kunstsammlerin bedenkenlos folgte: Money makes the world go round – so wurde sie zu einem Prototyp der modernen Konsumentin.

‚The C loisters ‘ in M anhat tan Auch das Konzept des New Yorker Museums The Cloisters, einer Dependance des Metropolitan Museum, die 1935–38 an der nordwestlichen Spitze von Manhattan gebaut wurde, zeugt von amerikanischem Großmut. Man zeigt hier nicht nur einen Kreuzgang, wie in jedem europäischen Kloster, sondern gleich vier: The Cloisters (Abb. 3, 4). Die vier Kreuzgänge wurden aus Spolien französischer Klöster der Romanik zusammengesetzt und beim Neuauf bau in New York mehr oder weniger ergänzt. Im Museum werden sie nicht mehr rituell genutzt wie im täglichen Leben der Nonnen und Mönche, sie sollen nun ästhetisch wahrgenommen werden, nachdem sie räumlich neu konfiguriert wurden: Im Museum bilden sie nicht mehr das Zentrum der Meditation sondern führen zum escalator oder zu den restrooms. Freilich sind die europäischen Herkunftsorte des New Yorker Hyper-Klosters, zu denen vor allem die Kirche und das Kloster von SaintGuilhelm-le-Désert gehören, schon im Europa des 19. Jahrhunderts geplündert worden, und gerade die romanischen Kreuzgänge der nach 1789 in Frankreich säkularisierten Klöster, die nicht unter staatlichen Schutz gestellt wurden, waren bereits Gegenstand antiquarischen Interesses und Diebstahls, bevor die Amerikaner kamen. Sie wurden bereits im 19. Jahrhundert ausgeraubt, wenn sie nicht verwahrlosten. Systematisch hat der US-amerikanische Bildhauer George Grey Barnard (1863–1938) dann

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Abb. 3: Kreuzgang des Benediktiner-Klosters Saint-Guilhelm-le-Désert, um 1200, eingebaut in The Cloisters, New York City 1935–38 ab 1905 Architekturplastik in Südfrankreich gesammelt und angekauft und versprengte Kapitelle, Säulen und Blendbögen gerettet und wieder zusammengeführt (Abb. 3). Seine umfangreiche Sammlung brachte er nach New York, wo er sie 1925 an John Davison Rockefeller II (1874–1960) verkaufen konnte, an den relativ zu seiner Generation wohl reichsten Amerikaner, der je gelebt hat. Die Zusammenstellung der disparaten Teile wurde mit größter Sorgfalt vorgenommen, Geld spielte keine Rolle, für einzelne Stücke fertigte man sogar adäquate Architekturhüllen an. Rockefeller finanzierte nicht nur die Neumontage der Spolien, sondern auch den Museumsbau, der sich fast schon wie eine Burg, mit Schutzmauern und wenig Fenstern, über den Fort Tryon Park im nördlichen Manhattan erhebt. Es ist ein architektonisches Konglomerat aus Bauformen französischer, spanischer und italienischer Romanik, die im Museumbau zu einer amerikanischen Pseudo-Romanik vereint wurden. Rockefellers Interesse an mittelalterlicher Kunst und Architektur aus Europa entwickelte sich in einer Zeit, als der american dream stockte, in den Jahren der Weltwirtschaftskrise nach dem großen Börsencrash 1929.

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Noch in Zeiten scheinbar grenzenloser Expansion, dynamischen Fortschritts, ließ er das nach seiner Familie benannte Rockefeller Center mitten in New York City bauen, mit Kalkstein aus Indiana, gestaffelt ansteigende Baukörper, deren futuristische Formensprache ständiges Wachstum suggeriert. Rockefeller hielt an den Planungen trotz des Börsencrashs fest, und auch die gleichzeitigen Planungen für den Bau des Museums The Cloisters wurden durch die wirtschaftliche Misere nicht beeinträchtigt. Die Rockefeller-Dynastie hatte in den Jahren großer Not in der US-amerikanischen Bevölkerung einen miserablen Ruf, denn wer es zu einem solchen, geradezu obszönen Reichtum gebracht hatte, musste auf unlautere Geschäftspraktiken zurückgegriffen haben, so die Meinung vieler. Der junge Rockefeller versuchte mit seinem philanthropischen Engagement manches wieder gut zu machen und stiftete The Cloisters im nördlichen Haarlem zum Wohle der Gemeinschaft. Das Kloster-Museum als feste Burg, verwurzelt im christlichen Glauben, in tausendjähriger europäischer Tradition, ist auch vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Verwerfungen der 1930er Jahre zu verstehen als Verkörperung einer Wunschvorstellung, eine Vergewisserung der abendländischen Herkunft, nachdem der Traum von den unbegrenzten Möglichkeiten zum ersten Mal erschüttert worden war. Oder anders gesagt, bildlich ausgedrückt, The Cloisters ist das Gegenstück zu den hoch aufschiessenden Gebäuden des Rockefeller Center, der Bau sucht Bodenhaftung und bindet den amerikanischen Traum zurück an die europäischen Wurzeln, versichert sich der christlichen Tradition des amerikanischen Ostens im europäischen Westen. Zunächst, 1926, wollte Rockefeller ein befestigtes englisches Kloster als Gehäuse für das Museum nachbauen lassen. Aber er ließ sich von den Kuratoren des Metropolitan Museum beraten und überzeugen, dass französische Vorbilder besser geeignet seien und es für eine Sammlung sakraler Kunst sinnvoller wäre, architektonisch etwas abzurüsten, also weniger den Vorbildern des Burgenbaus zu folgen als vielmehr der monastischen Tradition. Gleichwohl wurde im Zuge der Museumsplanung für den weitläufigen Park an einem wehrhaften Wall für die ganze Anlage festgehalten. Der Sockelbau konnte aus dem Schiefer-Bruchstein errichtet werden, der beim Bau der U-Bahnlinie nach Haarlem auf der Upper West-Side ausgehoben worden war, also mit Hilfe neuester Technik. Maßgebliches Vorbild für die Anlage sollte schließlich das Benediktinerkloster Saint-Michel-de-Cuxa werden, das um 1200 westlich von Perpignan, an

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Abb. 4: The Cloisters von Nordwesten, New York City, 1935–38 der Grenze nach Katalonien nahe der Pilgerroute, über mozarabischen Fundamenten gebaut worden war. Das Vorbild in ausgereiftem romanischen Stil, mit einem lombardisch geprägten Glockenturm, wurde dann originalgetreu in New York nachgebaut. Beim Bau von The Cloisters fügte man also verschiedene romanische Motive zusammen, so dass ein Hyper-Kloster entstand, das nicht den kulturellen Traditionen der Ordensarchitektur des Mittelalters folgt, sondern aus den kunsthistorischen Vorstellungen von europäischer Tradition hervorgegangen ist. Architekten und Kuratoren mussten die mittelalterliche Anmutung des Ganzen dann mit Erfordernissen der Ausstellungsräume abgleichen, Heizung und elektrisches Licht waren nötig, anstelle von Dormitorien und Refektorien waren period rooms einzurichten, die Trennung der Räume erfolgte nicht nach Funktionen, sondern nach den Stilformen der Exponate. Während ein nicht befestigtes Kloster im Mittelalter landschaftlich eher geschützt lag, wird The Cloisters regelrecht exponiert. Die Lage oberhalb des Hudson mit weiter Fernsicht und vor allem weiter Sichtbarkeit verrät den Stolz des Auftraggebers, der durch Geländeankäufe langfristig diese herausgehobene Position gesichert hatte: das Museumsgebäude als

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Kunstwerk, so Rockefeller 1930 gegenüber dem Direktor des Metropolitan Museum, Edward Robinson, sollte Vorrang haben vor den ausgestellten Inhalten: „My first object in offering to erect such a building is for the enhancement of the attractiveness of the park. That being the fact should any questions arise in planning the interior of the building that involved the sacrifice of its exterior appearance, I should be strongly inclined to favor the latter rather than the former.“

H ercul aneum in L os A ngeles Die Getty Villa in Malibu, nahe der Pazifikküste, wurde 1974 eröffnet, gestiftet von Jean Paul Getty (1892–1976), der sein Milliardenvermögen in den Jahren des Autobooms im Ölgeschäft gemacht hatte (Abb. 5, 6). Sein Vorbild war die Villa dei Papiri in Herculaneum, so benannt nach den dort gefundenen Papyrusrollen mit Schriften griechischer Philosophen. Die Villa wurde beim Vesuv-Ausbruch 79 n. Chr. verschüttet, als Herculaneum, eine Sommerfrische in der Bucht von Neapel, in der sich reiche Römer und Römerinnen tummelten, zusammen mit Pompeij unter den Lavamassen verschwand. Erst im 18. Jahrhundert wiederentdeckt, erlebte die Villa 1974 unter der Sonne Kaliforniens ein grandioses Comeback als filmreifes Fake. Archäologen berieten die Architekten beim Nachbau als Museum, der im wesentlichen dem 1759 erstellten Grundriss des Originals folgt. Die Raumaufteilung mit äußerem und innerem Peristyl, die Wandmalereien und Marmorvertäfelungen, die Bodenmosaiken und Säulenformen, orientieren sich dagegen an verschiedenen Villen der römischen Antike, sie wurden unter fachkundiger Beratung den musealen Anforderungen des 20. Jahrhunderts angepasst (True 2005: 27–37). So befindet sich unter dem (täglich gechlorten) Wasserbecken ein großes Parkhaus für die Besucher, die nicht mit dem Pferdewagen aus Rom oder von Sklaven getragen anreisen, sondern mit dem Auto oder dem Reisebus, nachdem sie ihre timeslots reserviert hatten. Verwöhnt werden sie im Museum auch durch eine Klimaanlage und hochglanzpolierten Marmor, den kein movie set von Hollywood besser hätte in Szene setzen können: „I would like every visitor at Malibu to feel as if I had invited him to come and look about and feel at home,“ verkündete Getty 1973, als wollte er den

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Abb. 5: Getty Villa, Äußeres Peristyl, Malibu/Cal., 1975 Autofahrern von seinem Öl-Imperium etwas zurückgeben – Genuss, Bildung und Belehrung – und als wollte er gleichsam ein Maecenas sein und sein Vorbild, Capurnius Pico, den mutmaßlichen Hausherrn der Villa in Herculaneum, Schwiegervater von Julius Caesar, noch übertreffen (noch einmal: aemulatio). Nach den ersten Ausgrabungen in der Villa dei Papiri hatte eine Neapolitaner Gießerei die Lizenz erhalten zur Anfertigung von Bronze-Nachgüssen der berühmtesten Herrscher und Helden, Athleten, Götter, Satyrn, Hermen und Nymphen aus Herculaneum, so dass der italienische Kunsthandel im 18. Jahrhundert auf blühen konnte. Dennoch befinden sich etliche Originale griechischen, römischen und etruskischen Ursprungs in der Sammlung des Museums, teils von Getty selbst in Rom erworben. Trotz strenger italienischer Ausfuhrverbote kauften seine Museumskuratoren alles, was sie bekommen konnten, nicht immer korrekt,

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wie der Hehlerei-Prozess gegen das Museum (2010) verrät. Gegen Fälschungen waren sie jedoch durch den versammelten Sachverstand besser gefeit als die meisten anderen Museen. Es lohnt sich auch im Falle der Getty Villa in Malibu ein genauerer Blick auf die Entstehungszeit und den Auftraggeber. Der Sog nach Westen ins Land der ewigen Sonne und der endlosen Strände prägte nicht erst die Jahre der Studentenbewegung, sondern die gesamte amerikanische Geschichte des 20. Jahrhunderts, mit allen Mythen des Wilden Westens, die von der Filmindustrie immer wieder neu erzählt werden. Das Leben in Los Angeles war schließlich auch für die arbeitende Bevölkerung aus ökonomischen Gründen recht angenehm geworden, Ölquellen, Luftfahrtund Rüstungsindustrie sowie die legendäre Kulturindustrie bescherten Wohlstand für sehr viele. Sie sind die Grundlagen, auf denen nicht nur die Promiviertel in Westwood und Beverly Hills, sondern auch die Alternativszene dieser Stadt prächtig gedeihen konnten. In den 1970er Jahren landete, strandete hier auch die Hippie-Bewegung. Sichtbar wird der Reichtum der Stadt gerade am Sunset Strip, hier reihen sich die nach europäischen, vor allem italienischen und französischen Vorbildern gebauten ville suburbane kilometerlang nebeneinander, als deren krönender Abschluss die Getty Villa in Malibu unweit des Pazifik gesehen werden kann. Schaut man jedoch mit google beispielsweise auf die prachtvoll überdekorierten Häuser von Britney Spears oder David Beckham, so findet man dort eine weit weniger stilsichere Melange aus Motiven italienischer Villenarchitektur und französischer maisons de plaisance. Gleichwohl ist auch die Getty Villa nach dem vernichtenden Urteil der Fachwelt (Jencks 1978) eher als Kitsch zu bezeichnen, denn sie gibt vor, etwas zu sein, was sie nicht ist und enthält keinerlei Zeichen postmoderner Ironie, wie sie etwa James Sterlings gleichzeitig entstandene Staatsgalerie in Stuttgart auszeichnet. Vielmehr ist sie die letzte und feinste der Villen am langen Sunset Strip, die alle mehr oder weniger geschickt Wunschvorstellungen von klassischer europäischer Tradition umsetzen, mit Ausstattungsstücken aus dem Gartenhandel, der in seinem Sortiment Abgüsse der Venus Medici und des Apoll vom Belvedere anbietet. Das amerikanische Comeback der Villa dei Papiri, die durch eine Naturkatastrophe verschüttet worden war, ereignete sich in Kalifornien, kräftig befördert durch neueste Technologie, in einer Zeit, die für den Auftraggeber von sozialen und politischen Katastrophen bestimmt gewesen sein muss. In den Race Riots, aber auch im Protest gegen den

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Abb. 6: Getty Villa, Atrium und Sichtachse zum East Garden, Malibu/Cal., 1975 Vietnamkrieg zeigte sich das Konfliktpotential in der Gesellschaft und für Getty persönlich mag das Ölembargo in der arabischen Welt (1973) eine Zäsur dargestellt haben, denn die Grenzen des Wachstums wurden sichtbar. Im Moment der Gefährdung hat er den Traum vom sorglosen Reichtum und Glück fixiert und eine Villa nach antikem Vorbild aus dem Hut gezaubert. Mag der Ölmogul an eine translatio imperii gedacht haben, so ist die Getty Villa heute für den normalsterblichen Angelino eine der beliebtesten weekend destinations geworden. Sie gibt vor, ein Jungbrunnen der Kunst und des Lebens zu sein, indem sie die römische Antike in Malibu wiederauferstehen lässt. Das täglich gechlorte Wasser im Becken wird nie schmutzig, der industriell bearbeitete Marmor ist pflegeleicht und stets auf Hochglanz poliert. Herculaneum aus der Retorte gibt es aber nur um den Preis des Stillstands – wie beim missglückten Facelifting.

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Amerikanisierung und Europa nach 1945: Anpassung und Widerstand Gert Schmidt

V orbemerkung Im Folgenden handelt es sich um den Versuch, die Erinnerung an ein Stück europäischer – insbesondere westdeutscher – Gesellschaftsgeschichte mittels einiger knapp kommentierter Bildtafeln an das große Rahmenthema „Die Ästhetik Europas“ anzuschließen. Irgendwie vorbereitet ist der Sachverhalt dieses Versuches wohl bei (fast) jedem – als persönliches Erleben, aus Erzählungen von Anderen oder durch Lektüre. Elemente von Erinnerungen sind: Situationen – Begegnungen – nette/schöne und/oder ärgerlich/böse persönliche Erfahrungen. Erinnerungen können geprägt sein durch spezifische Gegenstände/ Produkte, durch Gedanken oder Urteilsaussagen sowie Gefühlslagen, die verknüpft sein können mit Ideen, Ideologien oder schlicht ‚Anschauungen‘ unterschiedlichster Art. Es ist die Wahrnehmung der Formel ‚Amerikanisierung‘ zunächst durchaus verengt fokussiert auf ein ‚Amerika‘, auf die Vereinigten Staaten von Amerika. Diese geographische Engführung reflektiert ein Stück europäischer Rezeptionsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Seit den 1970er Jahren wurde die Rede ad ‚Amerika‘ politisch gezielt aufgeladen, als die Formel „US-amerikanisch“ vor dem Hintergrund populären Anti-Amerikanismus literarisch reüssierte. Im Gespräch zwischen diesem Amerika und Europa wird eine Wortassoziationswolke ‚bewegt‘, die beachtlich ausgestattet ist mit ‚entzündlichem‘ Material: Demokratie – Ka-

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pitalismus – Imperialismus – Individualismus – Freiheit – Materialismus u.a. mehr – und die höchst unterschiedliche historische Erinnerungen vermittelt: Da gibt es die Rosinenbomber von Berlin, die Berliner Mauer, den Vietnamkrieg, das Ereignis vom 11. September 2001, seine Folgen, und den Irak-Krieg. Dies sind nur wenige Stichworte. Ästhetik ist eines der Themenfelder, in denen die wechselvolle Begegnung ‚Amerika – Europa‘ bearbeitet wird. Nach einer kurzen allgemeinen Notiz zum Dialog ‚Europa – Amerika‘ und einer knappen begrifflichen Vorverständigung zu ‚Amerika‘ und ‚Amerikanisierung‘ werden im Folgenden drei historische Abschnitte behandelt: 1. Die Periode von 1945 bis 1950 (vor allem mit Blick auf die Realität in Deutschland) 2. Die fünfziger Jahre 3. Amerikanisierung ab den sechziger Jahren (zunehmend im globalen Kontext) und Amerikanisierung/Verwestlichung in den achtziger und neunziger Jahren (nun als ausgestalteter Prozess von Globalisierung). Der vierte Abschnitt ist der Versuch einer verdichteten zusammenfassenden Notiz zu ‚Amerikanisierung und Ästhetik‘.

„A merik a – E uropa“. E in Thema mit G eschichte und G eschichten Der Stimmungen und Stimmen in diesem Gespräch sind viele – auch hat das Thema eine längere Geschichte schon – und diese Geschichte ist von Beginn an Artikulation von Ambivalenz: Da ist sehr früh schon Michel de Montaignes wunderbar-naive Neugier ob der Entdeckung Amerikas. Diese wunderbare Neugier – hin zur neuen Welt – ward bald überwunden durch der Händler und Priester weniger wunderbare Erwartungshaltungen und Handlungen – und auch Alexis de Tocquevilles vorsichtig zuneigende Analyse der neuen Gesellschaft da drüben einige Jahrhunderte später mündete in ernüchterte Wahrnehmung des ‚Für und Wider‘. Über das ganze 19. Jahrhundert hinweg bestimmten Bewunderung und Sehnsucht einerseits und Abneigung und Verachtung andererseits das ‚literarische‘ Amerikabild.

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Abb. 1: Unter den engagierten ‚Amerika‘-Beobachtern finden sich Ökonomen, Sozialwissenschaftler, Politiker, Dichter, Schridftsteller und Philosophen – nüchterne Analytiker, Bewunderer, Verächter, Kritiker und Erzähler. (Bildtafel des Autors) Ergänzend noch ein paar gewiss überraschungsfreie Illustrationen – einige historische und aktuelle Eckpunkte des Vieleckes der Reden und ‚Bilder‘ in Europa zu Amerika und Amerikanisierung (Abb. 2).

D as S tichwort ‚A merik anisierung ‘ Auf eine elaborierte akademische Begriffsarbeit zu ‚Amerikanisierung‘ sei verzichtet. Etwas zurichten muss ich aber das Vorverständnis der Rede ad Amerikanisierung schon. Es hat die Formel Amerikanisierung (wie bereits erwähnt) vor allem zunächst etwas mit ‚Amerika‘ als USA zu tun. Die Deutung und Bedeutung des Wortgebrauches ‚Amerikanisierung‘ hat sich allerdings in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts zunehmend von der spezifischen Wahrnehmung von Gesellschaft und Kultur in den USA gelöst:

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Abb. 2: Eine Auswahl pointierter Aussagen (Bildtafel des Autors)

„Amerikanisierung wurde als dynamischer Einfluss US-amerikanischen Kulturimports seit den später 1940er Jahren in Westeuropa spürbar und erreichte den Höhepunkt in den 1950er und frühen 1960er Jahren. Immer mehr verschmelzend mit einer transnationalen Konsum- und Marketingkultur, die US-amerikanisch war und amerikanisierend wirkte, setzte der Bedeutungsrückgang mit dem Durchbruch der digitalen Kommunikation und Vernetzung ein. Als neues Phänomen transnationalen Kulturtransfers trat nach dem Ende der Blockspaltung die Globalisierung an die Stelle, deren US-amerikanische Eigenheiten hinter der marktwirtschaftlichen und konsumgesellschaftlichen Uniformität in nahezu allen Ländern rund um den Globus zurücktraten.“ (Anselm Doering-Manteuffel 2011: 1)

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Abb. 3: Das Fließband von Henry Ford, ab 1913; Jackson Pollock, ‚Autumn Rhythm Number 30‘; John Steinbecks ‚Camery Row‘, 1945 (Bildtafel des Autors) Es gilt also zu unterscheiden zwischen 1. Amerikanisierung als Einfluss der USA – Die Übernahme ‚amerikanischer‘ Lebensführung und Kultur, v.a. während der 1920er Jahre und in der unmittelbaren Nachkriegszeit. 2. Amerikanisierung als Selbst-Amerikanisierung europäischer und außereuropäischer Gesellschaften. 3. Amerikanisierung als Element von globaler Modernisierung. Amerikanisierung erscheint heute vor allem als transnationales, deterritorialisiertes Phänomen von Modernisierung. Inhaltlich ausgespart bleiben in diesem Beitrag wichtige Themenbereiche, die mit der Formel Amerikanisierung verknüpft sind: Amerikanisierung von Produktion und Arbeitsorganisation sowie Amerikanisierung des Management – dies sind große Themen, die in der entsprechenden Fachliteratur auch breiten Niederschlag gefunden haben, die aber hier nicht erörtert werden. Ebenfalls nicht behandelt werden die Auseinandersetzung und die Zusammenfügung von europäischer und amerikanischer Kultur auf der Ebene der sog. ‚Hochkultur‘, d.h. in der darstellenden Kunst, Literatur, Musik und Weltanschauungsdiskussion (Abb. 3).

The A merican C redo Am Beginn unserer Bilder-Betrachtungen steht eine zivilreligiöse Kernaussage, die im amerikanischen Demokratiekonzept und dem amerikanischen Vergesellschaftungsprojekt eingearbeitet ist:

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Abb. 4: Das berühmte Dokument von 1776 und eine ‚repräsentative‘ Produktwerbung Mitte der 1950er Jahre (Bildtafel des Autors)

„Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und Streben nach Glück gehören; und dass zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingereicht werden, die ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten; […]“1 (Abb. 4)

Angezeigt ist: Die transzendentale Fundierung der Institutionalisierung individuellen Strebens nach Glück/Happiness, das seine ideale irdische Verwirklichung offensichtlich in der Entfaltung einer formal egalitären (Mittelstands-)Gesellschaft findet, die über emphatische Anerkennung individueller Freiheit und interessengebundene Vergemeinschaftung marktinduzierte Ungleichheit und kommunitäre Solidarität balanciert. 1 | https://de.wikipedia.org/wiki/Unabh%C3%A4ngigkeitserkl%C3%A4rung _ der_Vereinigten_Staaten#Pr.C3.A4ambel (Abruf 1.2.2016).

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Diesem Konzept zufolge gilt es Skepsis zu trainieren wider jede Form von Abkoppelung der Regierenden – das heißt vor allem auch wider Übergriffe staatlicher Sozial-, Wirtschafts- und Kulturpolitik – die nicht kommunitär verankert ist. Vor diesem Hintergrund (oder besser vielleicht: ‚Untergrund‘) gerät Intervention des Staates bei vielen Amerikanern flugs unter Sozialismus-Verdacht. Das Credo impliziert aber auch: Der Protest des Bürgers wider Obrigkeit sitzt locker (oder sollte locker sitzen)! Der amerikanische Patriotismus ist denn deutlich weniger mit Staatstreue verknüpft als die Nationalismen in vielen europäischen Gesellschaften. Metaphorisch: Der Marktplatz ist wider das Rathaus institutionalisiert. Mit vermittelt ist darüber auch ästhetisches Potenzial von Vergesellschaftung.

A merik anisierung 1945 – 1950. A merik aner als B efreier und B esat zer in D eutschl and a) In den Jahren ab 1943 (Beginn der Kampfhandlungen auf Sizilien), und dann auch nach Ende der Kampfhandlungen waren GIs und ihre Produktwelt und Alltagskultur europaweit gegenwärtig. Häufig – aber nicht immer und überall – wurden die GIs begrüßt als „Sieger“ und „Befreier“ – allein in Deutschland und Österreich waren sie auch Besatzungsmacht (Abb. 5). Keine Frage: Mit der Fixierung amerikanischer Präsenz in Europa und insbesondere im Nachkriegsdeutschland setzt unmittelbar ein, was man metaphorisch als Amerikanisierung im Sinne des Prozesses einer sozial-kulturellen Landnahme bezeichnen kann. Dabei geht es um Anerkennung von Produkten, Verhaltensweisen, Regeln der Sieger. Und es geht auch um die Wahrnehmung von Geschmackskultur und Ästhetik! b) Von Besatzungsmacht zu Truppenstationierung – dies gilt besonders für Deutschland! Es setzt sich ein Nebeneinander von Lebenswelten durch, und die Öffnung für Beieinander-Situationen und Sphären der wechselseitigen Kenntnisnahme; überall in der amerikanischen Zone werden einzelne Stadtviertel und Straßenzüge von amerikanischen Soldaten und Verwal-

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Abb. 5: Zigaretten der Marken Lucky Strike und Pall Mall, WrigleyKaugummi und Hershey's Schokolade sowie das Care-Paket sind bildstarke Erinnerungen an die ersten Jahre der Gegenwart amerikanischer Soldaten im Nachkriegs-Deutschland westlich der „Sowjet-Zone“. Neue Straßen-Schilder und Anschläge verweisen den Bürger auf den Besatzungs-Status. Nicht lange hält freilich das Fraternisierungs-Verbot – bald kommt es zu persönlichen Begegnungen zwischen GIs und Deutschen. Die musikalische Präsenz und der ‚Marsch-Schritt‘ des amerikanischen Militärs sind ‚ästhetisch‘ deutlich unterschieden von jener der ‚vergangenen‘ deutschen Armee und jener des sowjetischen Gegenüber in „Ost-Deutschland“. (Bildtafel des Autors) tungsbeamten beherrscht. Für beinahe ein halbes Jahrhundert sind amerikanische Soldaten und amerikanische Verwaltungsbeamte Neben- und Mit-Bürger in der neuen westdeutschen Republik (Abb. 6). Amerikaner leben sich ein in den Alltag und ins Straßenbild und werden auch entsprechend von der beobachtenden Bevölkerung wahrgenommen, und mehr oder minder emphatisch akzeptiert. Die Gegenwart von Amerikanern in den Straßen, in Geschäften, an Freizeitgeländen usw. wird Normalität. Amerikanische Soldaten und Verwaltungsbeamte mit ihren Familien sind – im Sinne Georg Simmels – „Fremde“, die (an)gekommen sind und (für längere Zeit) bleiben.

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Abb. 6: Erinnerung-Schriften wie diese gibt es für viele ‚Orte‘ amerikanischer Präsenz in der Bundesrepublik (Bildtafel des Autors) Amerikanisierung durch Präsenz der Amerikaner wird ergänzt durch die Amerikanisierung ohne Präsenz von Amerikanern; amerikanische Lebensformen und insbesondere amerikanische Konsumformen werden zunehmend von der deutschen Bevölkerung – und in anderen europäischen Ländern – übernommen. Belastungs- und konfliktfrei ist die amerikanische Gegenwart gewiss nicht: Wohnungsbeschlagnahmen, Übergriffe alkoholisierter und nüchterner GIs werden in der deutschen Öffentlichkeit zornig registriert und lebhaft wird von ‚rechts‘ und ‚links‘ Stammtisch-Antiamerikanismus gepflegt – ergänzt durch die nachhaltig angelegte Amerika-Kritik und -Verachtung in breiten bildungsbürgerlichen Kreisen, denen Jazz-Musik (phonetisch: ‚Jatz-Musik‘!), Show-Entertainment und Massen-Konsumismus ein ‚amerikanisches‘ Greuel sind. Ungeachtet dessen wird von vielen deutschen Bürgern die amerikanische Besatzung ‚günstiger‘ aufgenommen, als die Besatzung insbes. in der sowjetischen Zone.

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Abb. 7: Die Einrichtung von Amerika-Häusern, Produkte wie Heinz Tomaten-Ketchup, Micky Maus und Dagobert Duck, die Beliebtheit von Baseball und amerikanischer Schlagermusik sowie die Aura Hollywoods mit Stars wie James Dean, Gary Cooper, Doris Day und Grace Kelly dokumentieren die erfolgreiche Landnahme von US-Kultur im europäischen Raum – ebenso wie das Renommee von Fulbright, Jeans und Cadillacs. Horst Buchholz – einer der ‚amerikanischsten‘ Entertainment-Stars im Nachkriegs-Westdeutschland sitzt am Steuer eines Opel Kapitän, dem fraglos ‚amerikanischsten‘ deutschen Oberklassen-Pkw in den 50er Jahren. (Bildtafel des Autors) Ein paar Zahlen mögen die Situation des neuen Nachkriegsdeutschlands zwischen 1945 und 1960 erhellen – erläutert wird nebenbei auch ein Stück Bedeutung der Präsenz von Amerikanern in Deutschland für Amerikaner und Amerika selbst: Zwischen 1945 und 1990 lebten vorübergehend – manchmal allerdings viele Jahre – etwa 15 Millionen Amerikaner in Westdeutschland. Noch im Jahre 1990 lebten etwa 200.000 Amerikaner hier und im Jahre 2010 sind es immer noch 50.000.

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A merik anisierung in den 1950 er J ahren a) In den fünfziger Jahren erfährt das sog. Amerikanische Credo seine große – globale – Entfaltung, sowohl real wie auch als Sozial-Fantasie und Ideologie. Es ist jene Phase der Amerikanisierung, in der das Versprechen einer besseren, einer umfassend besseren Lebenswelt für viele Europäer Geltungskraft hat – „Amerika – du hast es besser“. Die Wahrnehmung des amerikanischen Lebens wird sehr stark geprägt durch den offensichtlichen Vorsprung amerikanischer Produkte und amerikanischer Organisation von Produzieren und Vermarktung, gestützt aber auch durch die Selbstdarstellung Amerikas in der Nachkriegswelt der europäischen Gesellschaften (Abb. 7). Das Populär-Image der USA wird von Victoria de Grazia bezeichnet als „Universal Model of a Business Society based on Advanced Technology and Promising Formal Equality and unlimited Mass Consumption“ (de Grazia 1985: 13). Im Vordergrund der Wahrnehmung des ‚American Way of Life‘ steht zunächst die Attraktivität eines überlegenen Wohlstandes, die Sicherung von Bequemlichkeit und Glamour als Ausdruck demokratischer Wohlstands-Gesellschaft und als Fiktion der Anerkennung von Leistung im offenen chancengleichen Vergleich etc. b) Es wäre verfehlt, den Impact der amerikanischen Lebensweise als Vorbild und als Gegenbild europäischer Nachkriegsorientierung zu einfach zu rezipieren: zu dieser Amerikanisierung gehören eben nicht nur Musik, chromglänzende Automobile und Jeans sowie bestimmte Mode-Phrasierungen der Jugendlichen-Sprache, auch Kulturen des Journalismus, der Pressefreiheit, der Anerkennung kultureller Vielfalt u. a. mehr. Die fünfziger Jahre wurden nicht ganz zu Unrecht auch bezeichnet als ‚das amerikanische Jahrzehnt‘, als Muster als Modell für zeitgemäße moderne Lebenswelt europaweit und darüber hinaus (Abb. 8). Mit Blick auf Ästhetik ist aber auch das wichtig, was europäische Kulturforscher als Positivum entdecken: „Das Recht der Gewöhnlichkeit“ (so der Titel eines Aufsatzbandes von Kaspar Maase, 2011) als gesellschaftliche Wirklichkeit. Es handelt sich dabei um die Würdigung der Normalität der kleinen und größeren Genussansprüche und Vergnügungsszenarien im Alltag als Ausdruck von Demokratie und entwickelter Konsumkultur in einer offenen, von politischer und ideologischer Reglementierung weitgehend befreiten, modernen Gesellschaft.

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Abb. 8: „Golden Years“ – Bildplakat von Rico Fonseca, New York 1986 c) Amerikanisierung in den 1950er Jahren als sozial-kulturelle Landnahme ist begleitet von einer enormen Entfaltung von amerikanischer Soft-Power im gesamten europäischen Raum mit besonderer Ausprägung allerdings in Westdeutschland. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind nicht nur militärische Siegermacht gewesen, sondern Siegermacht auch mit Blick auf Demokratie-Modell, Alltagsverhaltensmuster, Konsumkultur und hieran geknüpfte legitime Handlungsorientierung und Wertemuster. Die erstaunliche – man könnte auch sagen überwältigende – Durchsetzungskraft amerikanischer Geschmacksorientierungen in ganz Europa ist auch Momentum des „Kalten Krieges“, der bereits mit Ende des Zweiten Weltkrieges (Potsdamer Konferenz) einsetzt. Das Bestreben der Sowjetunion unter Josef Stalin, Einflusssphäre entlang der Grenzen zu sichern, und der damit verbundene Imperialismus-Anspruch, stoßen auf den Widerstand des ‚Westens‘, insb. der USA, die sich nach 1945 rasch als ‚Gegen-Imperialmacht‘ gefordert sehen. Die Wahrnehmung des Sowjetimperialismus ist verknüpft mit der Präsenz von Militär und autoritärer Funktionärsherrschaft. Vor dem Hintergrund des Agierens der Sowjetmacht in der

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Zeit nach dem 2. Weltkrieg – insbesondere auch vor dem Hintergrund der Beobachtung der politökonomischen Verhältnisse in der Sowjetunion selbst (Stichwort: ‚Kommunismus‘) – wächst in Europa die Bereitschaft zur Anerkennung der amerikanischen Dominanz, der amerikanischen Hegemonie nach dem 2. Weltkrieg. d) Natürlich prozessierte diese Amerikanisierung in den fünfziger Jahren bereits nicht ohne beachtliche Momente des Widerstandes: dieser Widerstand kam von ‚rechts‘, von ‚links‘ und nicht zuletzt auch, insbesondere in Sachen ‚Ästhetik‘, auch von ‚oben‘. Die sozial-kulturelle Landnahme erfolgte also nicht ohne Gegen- und Eigen-Art; es handelt sich um Anpassung und Widerstand – und es realisiert sich die ‚Landnahme amerikanischer Lebensart‘ anders in Italien, Frankreich und Dänemark. Deutschland ist sicher ein Sonderweg amerikanischer Landnahme; hier wirkten die Präsenz amerikanischer Soldaten und ihrer Familien sowie wohl auch die Frontsituation gen Ost verstärkend. e) Beachtlich für die Nachbetrachtung der fünfziger Jahre bleibt aber auch, dass die Kultur der Kritik an der Amerikanisierung nach dem 2. Weltkrieg am Middle Class Festival u.a. mehr, in den USA selber Wurzeln schlägt und von den USA aus nach Europa importiert wird: Paul Goodmann, Allen Ginsberg, Arthur Miller, Bob Dylan, die Beatnik-Bewegung u.a. mehr sind amerikanische Vorlagen für eine alltagskulturelle und politisch-ökonomische und literarisch geführte Kritik an eben dieser Amerikanisierung als Lebenswelt-Vorbild und Ideologie auch in Europa. Vor dem Hintergrund kräftiger sozial- und kulturkritischer Auseinandersetzung mit der Amerikanisierung verdient allerdings folgende Aussage Theodor W. Adornos besondere Aufmerksamkeit: „[…] most German intellectuals have tended to denounce the alleged rule of ‚materialism‘ in the United States. Adorno confronted them with his dialectical view of mass production and mass consumption. ‚Probably one of the most intense experiences for a person coming to America ist the overwhelming wealth of goods presented there. Sometimes I feel suspicion against the idea that a world capable of producing so many goods should be solely materialist. I hear the well known overtones of the grapes hanging too high. For this reason we should judge extremely cautiously and delicately. This amount of goods has got a certain feeling to it […] which you can hardly explain to anyone who has not himself hand the

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Abb. 9: Überall in der Welt verbreiten sich in den 60er Jahren die Symbole der sog. Amerikanisierung: Shopping-Centers, spezifisch gestaltete Vorortswelten und anderes Material mehr. Mit dem Amerika der 1960er Jahre verbindet sich aber auch die Auseinandersetzung um die Durchsetzung von demokratischen Gleichheitswerten und das Erstarken diverser GegenKulturphänomene und auf diese bezogene Protestbewegungen: So haben die moderne Frauenbewegung und die Flower-Power-Kultur in den 60er Jahren ihren Ursprung in den USA. (Bildtafel des Autors) experience; but we should not deny this impression, and, above all, we should not value it too lowly. There is a touch of the land of cocquaigne in it. Just pass through one of the socalled American super-markets only once, and somehow you will feel – however deceitful and superficial this feeling may be -: there is no more deprivation, it is fulfilment, boundless and perfect fulfilment of all materials needs‘.“ (Theodor W. Adorno, 1958: 7 – zitiert in Kaspar Maase, 2011: 84)

Die Entfaltung der amerikanischen ‚Soft-Power‘ ist ein wichtiges Element der ideologischen Polarisierung und der damit beförderten Vereinfachung von Wirklichkeitswahrnehmung bezüglich ‚Gesellschaft‘, ‚Kultur‘ und ‚Politik‘ nach dem 2. Weltkrieg in Europa und darüber hinaus.

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A merik anisierung ab 1960 a) Im Zuge der 60er Jahre relativiert sich ‚Amerikanisierung‘ deutlich – und relationiert sich neuartig: Der neugierige Blick auf amerikanische Lebensart und Kultur bleibt, aber die Figur emphatischer Nachkriegs-US-Orientierung verliert sich rasch (Abb. 9). Mit der partiell quasi-naturwüchsigen Amerikanisierung der prosperierenden Mittelklassen in den Gesellschaften West-Europas verringert sich der Abstand zu den USA bezüglich Konsumismus und Populär-Kultur, und mit zunehmender Herausbildung neuer europäischer Identität wächst in den 60er Jahren auch deutlich die Distanznahme zum Vorbild Amerika – dies betrifft insbesondere die Standards sozial- und wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung. Es zeigt sich für viele europäische Beobachter, dass das amerikanische Vorbild nicht nur in sich Grenzen hat und widersprüchlich ist (z.B. mit Blick auf die Rassentrennung und die Ausbildung von sozial-ökonomischer Ungleichheit), sondern dass es in Europa Traditionen von Sozial- und Wohlfahrtsstaatspolitik gibt, die für die Entwicklung der Moderne angemessenere, bessere Standards der Lebensweltentwicklung beinhalten. Metaphorisch gefasst: Die Phrase „Amerika – Du hast es besser“ wird begleitet von der Phrase „Europa – Du machst vieles besser“. ‚Amerikanisierung‘ und ‚Amerika‘ (USA) werden zunehmend getrennt thematisiert. b) Eine wichtige Wendung des Themas Amerikanisierung erfolgt auch mit Blick auf die Wirtschaftsdynamik und -kultur: Nicht mehr der Import von Lebensformen und besonderer Güterqualität aus den USA nach Europa ist prägend, sondern die Bedeutung des amerikanischen Marktes für exportierende europäische Wirtschaftszweige. Europäische Automobilbauer etwa, oder auch die europäische Elektroindustrie und Chemieindustrie richten sich aus auf den enormen Markt der USA, um ihr eigenes Wachstum abzusichern, und von hier aus erfährt gewissermaßen auch der Markt in Europa selbst eine indirekte Amerikanisierung. c) Schließlich provoziert die Weltmachtpolitik der USA und insbesondere der Vietnamkrieg und sein thematisches Umfeld Distanz gegenüber ‚Amerika und Amerikanisierung‘. Kritisch ‚angezeigt‘ wird die agierende Weltmacht Amerika nicht nur in Europa, sondern auch in den USA selbst. Es ist für die Betrachtung des Verhältnisses Europa – Amerika in den 60er Jahren nicht unwichtig, daran zu erinnern, dass die wirksamsten

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Abb. 10: „Divided we stand“ – Bildtafel des Autors zur Auseinandersetzung um den Vietnam-Krieg in den USA kulturellen Gegenbewegungen gegen das, was man amerikanische Gesellschaftskultur usw. zu nennen sich angewöhnt hat, aus den USA selber gekommen ist: Hierzu gehören Namen wie Charles Reich und Noam Chomsky, hierzu gehört Martin Luther Kings ‚We have a Dream‘, die sozialtheoretische Debatte um ‚Kommunitarismus‘ (Michael Walzer und Richard Rorty) u.v.a.m. was an den amerikanischen Universitäten und in den verschiedenen Großstadtvierteln entsteht. Diese Entwicklungen des amerikanischen Bürgerprotestes ziehen sich hin bis in die Gegenwart mit der ‚Occupy Wall Street‘-Bewegung. Der Protest-Sommer 1970 in Washington vermittelt ein deutliches Bild des gespaltenen Amerika – und auch eines neuartig gespaltenen Amerikabildes in der Welt (Abb. 10). d) Für die 60er Jahre gilt freilich auch, dass ungeachtet der Relativierung der emphatischen Bedeutung von ‚Amerika‘ insgesamt, weltweit – und das meint hier vor allem weit über den europäischen Raum hinaus – Prozesse der Amerikanisierung, d.h. die spezielle sozio-kulturelle Landnahme von Amerikanisierung, enorme Fortschritte machen. Das zeigt sich insbesondere für die sich ab den 60er Jahren rapide entwickelnden Gesellschaften in Asien und Südamerika. Trotz politischem Anti-Amerikanismus erfährt hier die Amerikanisierung von Produkt- und Lebensweltkultur eine zweite Erfolgsgeschichte von eminenter Ausprägung. Es geht vor allem um die Durchsetzung einer ökonomischen und sozialen Mittelstandskultur, die in all diesen Gesellschaften teilweise mit Aufnah-

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Abb. 11: Bildtafel des Autors zu unterschiedlichen Relationierungen von ‚Amerikanisierung‘, ‚Anti-Amerikanisierung‘ und ‚Globalisierung‘ Ende des 20. Jahrhunderts me der lokalen Traditionen, teilweise gegen diese Traditionen sich entwickelnd, eine Bedeutung bekommt, die vorbereitet, was einige Jahrzehnte später als ‚Globalisierung‘ thematisiert werden wird. e) Ab den 1980er–1990er Jahren erscheint das Thema Amerikanisierung einerseits eingearbeitet in den sozialtheoretischen und politisch-ideologischen Disput zu ‚Globalisierung‘ und ‚Verwestlichung‘, in die Auseinandersetzung um die faktische historische Bedeutung und die Legitimität des Anspruches ‚westlicher‘ Werte als universelle Standards für Vergesellschaftung – Francis Fukuyamas These vom „Ende der Geschichte“ und Samuel Huntingtons Überlegungen zu „Kampf der Kulturen“ sind zwei prominente Positionen in der Debatte. Andererseits sind die USA als vorgeblich dominante nationale Kraft im Globalisierungs-Geschehen immer wieder Gegenstand von besonderen Beobachtung und forcierter Kritik (Abb. 11).

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Ä sthe tik und A merik a Ästhetik ist die Lehre von der Wahrnehmung bzw. vom sinnlichen Anschauen. Die alltagssprachlich eingeübte Assoziation ‚schön‘ – versus – ‚hässlich‘ bedarf für kultur- und sozialwissenschaftliche Ästhetik-Studien historisch situativer Relationierung: ‚Schön‘ ist nicht – sondern ‚gilt‘ in je spezifischen Kontexten. Die Ästhetik Europas wird in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts immer wieder von Amerika her beeinflusst; es herrscht aber ab den 1960er Jahren weniger eine direkte Einflussnahme amerikanischer Kulturmomente auf Europa, denn ein sich durchsetzendes Wechselspiel zwischen Europa und Amerika, das – vor dem Hintergrund der enormen Bedeutung des amerikanischen Marktes – insgesamt eine stark an Amerika ausgerichtete Gestaltung der ‚Moderne‘ vorantreibt. Das gilt für die Musik, das gilt für die Entwicklung von Alltagsprodukten, das gilt auch für die Literatur. Bill Haley und Elvis Presley waren Amerikaner, die Beatles und die Rolling Stones kamen aus England, und die ABBAs sind in Schweden beheimatet. Widerstand gegen diese amerikanische (oder amerikanisierte) Modernisierung der Ästhetik blieb nicht aus: Der kulturkritische Blick von Europa nach Amerika bewährte sich als forcierte Fokussierung des Unbehagens der bürgerlichen Gesellschaft an Modernisierung und Fortschritt – an den Folgen von Technisierung und der Entgrenzung sozialer kultureller und ökonomischer Traditionen, an der zunehmenden Optionalisierung und am Zerbröseln von ‚Ligaturen‘ – um die Begrifflichkeit von Ralf Dahrendorf zu benutzen. In affirmativer Aufnahme wurde die Formel ‚Amerikanisierung‘ häufig instrumentalisiert und projektiv genutzt im Sinne eines unausweichlichen ‚Muss‘ der Moderne – entweder im Sinne des Einverständnisses oder aber als artikulierte Hilflosigkeit bis hin zu ‚man ist ohnmächtig ausgeliefert‘ (d.h. im Sinne einer negativen Affirmation). Freilich: ‚Amerikanisierung‘ war nicht alles. Mit der (Wieder) Aufnahme der ‚Bauhaus-Tradition‘ oder dem Impact skandinavischer Design-Schulen entwickelten sich auch originär europäische Ästhetik-Modernisierungskonzepte, die ‚amerikanischen‘ Einfluss ästhetisch begründeten Widerstand boten – und selbst wiederum in Gestaltungsprojekten in den USA (Architektur, aber auch Gebrauchsgüter) aufgenommen wurden.

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Abb. 12: Angezeigt sind auf dieser Bildtafel des Autors wichtige Merkmale des Zusammenhanges von ‚Ästhetik und Amerikanisierung‘ – eine Assoziationsfigur, über die – als Prozesse sozio-kultureller Landnahme – Impulse auch für Alltags-‚Gestaltung‘ und Geschmacksorientierung in Europa und global vermittelt wurden: Comic, chromblitzende Automobile und Kühlschränke, anreizende raffinierte Werbegraphik, ‚stromlinienförmige‘ Küchengeräte – aber auch PinUp- und Popkultur werden weltweit als ‚amerikanisch‘ identifiziert.

L iter atur De Grazia, Victoria (1985): Americanism for Export. In: Wedge 7–8: 1985, S. 71–81. Doering-Manteuffel, Anselm (2011): Amerikanisierung und Westernisierung. In: Docupedia, 18.1.2011. Maase, Kaspar (2011): Das Recht der Gewöhnlichkeit. Über populäre Kultur. Tübingen.

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Abbildungsverzeichnis

Jörg Zirfas: Abb. 1: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/b7/Europa_sul_toro_festeggiata_prima_di_partire_per_creta,_da_casa_ di_giasone,_20-25_dc._ca._111475.jpg (Abruf 7.10.2015) Abb. 2: „Eine Dame namens Europa. Enormes Weib – aber teuer, sündhaft teuer!” (1.9.1962): http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/ sub_image.cfm?image_id=2462&language=german (Abruf 7.10.2015) Abb. 3: Jan Saenredam: Plato’s Allegory of the cave (1604); http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Platon_Cave_Sanraedam_1604. jpg (Abruf 7.10.2015) Abb. 4: http://images.die-erde.com/europa/sateliten/europa_bei_ nacht.jpg (Abruf 7.10.2015) Abb. 5: http://de.toonpool.com/user/463/files/europaeisches_ haus_1526665.jpg (Abruf 7.10.2015) Abb. 6: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/c/cd/Michelangelo%2C_Christ_on_the_Cross.jpg (Abruf 7.10.2015) Abb. 7: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/4/47/ Iconnativity.jpg (Abruf 7.10.2015) Abb. 8: h t t p s : / / u p l o a d . w i k i m e d i a . o r g / w i k i p e d i a / c o m m o n s /1/18/D%C3%BCrer_Melancholia_I.jpg (Abruf 7.10.2015) Abb. 9: http://www.gerd-becker.info/assets/images/HSLt3.jpg (Abruf 7.10.2015) Abb. 10: https://s3.amazonaws.com/classconnection/661/flashcards/924661/png/the_landing_of_espanola-14B1E86B98629585FE6.png (Abruf 13.10.2015) Abb. 11: http://www.leverkusen.com/guide/Archiv1.jpg/46/EuropaGrill02_01.jpg (Abruf 13.10.2015)

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Ästhetik Europas

Abb. 12: h t t p : / / w w w. b e r n h a r d - fi e d l e r. a t / w e b l o g / w p - c o n t e n t / uploads/2009/06/europa-fahne-1024x768.gif   (Abruf 13.10.2015) Abb. 13: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/4/49/Dolci_Madonna_p1070185.jpg (Abruf 13.10.2015) Abb. 14: http://lisa-unterwegs.de/wp-content/uploads/2014/03/ DSC01687.jpg (Abruf 13.10.2015) Der Verfasser hat sich um Einholung aller Bildrechte bemüht. Da die Urheber nicht in allen Fällen eindeutig auszumachen waren, werden Ansprüche nach Geltendmachung vom Verfasser erstattet. Eckhard Roch: Abb.1 : Petzold, Richard: Beethoven. Leipzig 1973, S. 30. Abb.2: Petzold, Richard: Beethoven. Leipzig 1973, S. 39. Abb.3: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/22/ HGM_Kupelwieser_Portr%C3%A4t_Kaiser_Franz_I.jpg (Abruf 20. 12. 2015) Abb.4: http://politik-almanach.de/wp-content/uploads/eu-vor-lissabon-3saeulen.gif (Abruf 16.12.2015) Clemens Risi: Abb. 1: Foto: Ludwig Olah / Staatstheater Nürnberg. Ralf Frisch: Abb. 1: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/d7/ModelBustOfAkhenaten.png (Abruf 3.12.2015) Abb. 2: https://klausbaum.files.wordpress.com/2012/02/nolde.jpg (Abruf 3.12.2015) Abb. 3: Latour, Bruno: Iconoclash oder Gibt es eine Welt jenseits des Bilderkrieges?. Berlin 2002, S. 7. Abb. 4: http://www.2luxury2.com/wp-content/uploads/Lucio-Fontana%E2%80%99s-Concetto-Spaziale.jpg (Abruf 3.12.2015) Abb. 5: http://kunstportal-bw.de/bilder/2/5662.pietasmall (Abruf 3.12.2015) Abb. 6: http://i.huffpost.com/gadgets/slideshows/278407/slide_278407_2054919_free.jpg (Abruf 3.12.2015)

Abbildungsverzeichnis

Abb. 7: http://artinside.ch/blog/wp-content/uploads/2015/10/QUADRAT-01.jpg (Abruf 3.12.2015) Abb. 8: http://fragmentfilm.de/wp-content/uploads/2012/06/Bild-3_ TC_12_01.jpg (Abruf 3.12.2015) Abb. 9: http://img.thesun.co.uk/aidemitlum/archive/02580/Geminoid-F-2___2580217a.jpg (Abruf 3.12.2015) Abb. 10: Foto: Ralf Frisch Abb. 11: Foto: Ralf Frisch Abb. 12: http://www.deconcrete.org/wp-content/uploads/2012/08/ Ryan-Gander_I-Need-Some-Meaning-I-Can-Memorise-The-Invisible-Pull-02.jpg (Abruf 3.12.2015) Abb. 13: http://www.inkognito.de/images/articles/7928_63267c1b4b9d12820aa2ae1fe178b55c_5.png (Abruf 3.12.2015) Der Verfasser hat sich um Einholung aller Bildrechte bemüht. Da die Urheber nicht in allen Fällen eindeutig auszumachen waren, werden Ansprüche nach Geltendmachung vom Verfasser erstattet. Hans Dickel: Abb. 1/2: Goldfarb (1995), S. 44, S. 118. Abb. 3/4: The Metropolitan Museum of Art Bulletin, 2013, S. 9, S. 44. Abb. 5/6: True (2005), S. 32, S. 82. Der Verfasser hat sich um Einholung aller Bildrechte bemüht. Da die Urheber nicht in allen Fällen eindeutig auszumachen waren, werden Ansprüche nach Geltendmachung vom Verfasser erstattet. Gert Schmidt: Alle Abbildungen sind dem Internet entnommen – mit Ausnahme der Bildtafel auf Seite 190 (hier handelt es sich um ein eigenes Foto eines Plakates von Rico Fonseca, New York 1986, das käuflich vom Autor erworben wurde).

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Verzeichnis der Autoren

Prof. Dr. Peter Bubmann: Professor für Praktische Theologie im Fachbereich Theologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) Prof. Dr. Hans Dickel: Professor für Neuere Kunstgeschichte im Institut für Kunstgeschichte der FAU Prof. Dr. Ralf Frisch: Professor für Systematische Theologie und Philosophie an der Evangelischen Hochschule Nürnberg und Kirchenrat der ELKB Prof. Dr. Konrad Klek: Professor für Kirchenmusik im Fachbereich Theologie der FAU und Universitätsmusikdirektor an der FAU Dr. Leopold Klepacki: Akademischer Rat im Institut für Pädagogik der FAU Prof. Dr. Eckart Liebau: Professor für Pädagogik an der FAU, Inhaber des UNESCO-Lehrstuhls für Kulturelle Bildung Christoph Richter: Professor für Musikpädagogik an der Universität der Künste Berlin Clemens Risi: Professor für Theaterwissenschaft an der FAU Eckhard Roch: Professor für Musikwissenschaft an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg

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Ästhetik Europas

Gert Schmidt: Professor für Soziologie an der FAU André Studt: Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Lehrstuhl für Theaterwissenschaft der FAU Prof. Dr. Jörg Zirfas: Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Pädagogische Anthropologie im Institut für Bildungsphilosophie, Anthropologie und Pädagogik der Lebensspanne der Universität zu Köln

Ästhetik und Bildung Jörg Zirfas (Hg.) Arenen der Ästhetischen Bildung Zeiten und Räume kultureller Kämpfe 2015, 228 Seiten, kart., farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3230-9

Peter Bubmann, Hans Dickel (Hg.) Ästhetische Bildung in der Erinnerungskultur 2014, 208 Seiten, kart., 28,99 €, ISBN 978-3-8376-2816-6

Eckart Liebau, Jörg Zirfas (Hg.) Lust, Rausch und Ekstase Grenzgänge der Ästhetischen Bildung 2013, 208 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-2308-6

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Ästhetik und Bildung Günter Gödde, Jörg Zirfas (Hg.) Takt und Taktlosigkeit Über Ordnungen und Unordnungen in Kunst, Kultur und Therapie 2012, 308 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1855-6

Eckart Liebau, Jörg Zirfas (Hg.) Die Bildung des Geschmacks Über die Kunst der sinnlichen Unterscheidung 2011, 230 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1746-7

Eckart Liebau, Jörg Zirfas (Hg.) Dramen der Moderne Kontingenz und Tragik im Zeitalter der Freiheit 2010, 232 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1436-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de