Die Implosion des SED-Regimes : Ursachen und Entwicklungsprozesse


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Table of contents :
Kurzfassung 1
1. Einleitung 5
2. Der Umbruch in der DDR 8
2.1 Der Niedergang der SED-Herrschaft 8
2.2 Die SED, die Sowjets und der 9. Oktober 1989 . . . . 16
2.3 Der Sturz Honeckers und die Beschleunigung
der Krise 18
3. Opposition und Widerstand 22
4. Der Weg in die deutsche Einheit 26
4.1 Die SED und die Öffnung der Mauer 26
4.2 Erfolglose Stabilisierungsversuche 31
5. Die Strukturelemente der Krise 35
5.1 Der genetische Defekt 35
5.2 Die SED-Herrschaft als Ausdruck des genetischen
Defekts 38
5.3 Die ökonomische Krise als Verstärker der
politischen Krise 41
5.4 Die Bedeutung der nationalen Frage 44
Summary 47
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Die Implosion des SED-Regimes : Ursachen und Entwicklungsprozesse

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Berichte des Bundesinstituts für ostwdssenschaffiche und internationale Studien Die Implosion des SED-Regimes Ursachen und Entwicklungsprozesse Fred Oldenburg

Die Meinungen, die in den vom BUNDESINSTITUT FÜR OSTWISSENSCHAFTLICHE UND INTERNATIONALE STUDIEN herausgegebenen Veröffentlichungen geäußert werden, geben ausschließlich die Auffassung der Autoren wieder. © 1991 by Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln Abdruck und sonstige publizistische Nutzung - auch auszugsweise nur mit vorheriger Zustimmung des Bundesinstituts sowie mit Angabe des Verfassers und der Quelle gestattet. Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien Lindenbornstraße 22, D-5000 Köln 30, Telefon 0221/5747-0

Inhalt

Seite Kurzfassung

1

1.

Einleitung

5

2.

Der Umbruch in der DDR

8

2.1 2.2 2.3

Der Die Der der

Niedergang der SED-Herrschaft SED, die Sowjets und der 9. Oktober 1989 . . . . Sturz Honeckers und die Beschleunigung Krise

8 16 18

3.

Opposition und Widerstand

22

4. 4.1 4.2

Der Weg in die deutsche Einheit Die SED und die Öffnung der Mauer Erfolglose Stabilisierungsversuche

26 26 31

5. 5.1 5.2

Die Strukturelemente der Krise Der genetische Defekt Die SED-Herrschaft als Ausdruck des genetischen Defekts Die ökonomische Krise als Verstärker der politischen Krise Die Bedeutung der nationalen Frage

35 35

5.3 5.4

Summary

38 41 44 47

Dezember 1990

Fred Oldenburg Die Implosion des SED-Regimes Ursachen und Entwicklungsprozesse Bericht des BlOst Nr. 10/1991 Kurzfassung 1.

Die entscheidende Voraussetzung für die emanzipatorische Entwicklung Ost-Mitteleuropas war die sowjetische Perestrojka. Obwohl Gorbatschow hiervon eine globale Revitalisierung des Sozialismus erhoffte, betonte er doch gleichzeitig das Gemeinsame im "europäischen Haus" und schwächte so die internationale Klassenkampfkomponente ab. Das erleichterte die spätere Übertragung der Thesen von der "Freiheit der Wahl" auch auf das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes. Gorbatschows Besuch aus Anlaß des 40. Jahrestages der DDR erwies sich als endgültiger Wendepunkt zur Revolution. Er entzog der Honecker-Führung sichtbar sowjetische Unterstützung. Die in der DDR stationierte Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte hatte die ausdrückliche Anweisung, in den kritischen Tagen zwischen dem 7. und dem 16. Oktober 1989 nicht einzugreifen. Nicht zuletzt tolerierte die sowjetische Führung die Öffnung und den Abriß der Berliner Mauer und akzeptierte nach einigem Zögern und Lavieren auch den sich daraus ergebenden Systemwechsel bis hin zur Auflösung der DDR und zur Wiedervereinigung Deutschlands. 2.

Die zweite wichtige Rahmenbedingung waren politische Veränderungen in Osteuropa, besonders in Polen und Ungarn. Sie führten dazu, daß die Einheitsfront der osteuropäischen Kommunisten zerbrach und sich Moskau sukzessive an Konvulsionen im eigenen Vorfeld adaptieren mußte. Die Vorgänge in Osteuropa verunsicherten die SED-Führer, die das mit erhöhtem Selbstbewußtsein kompensierten. Andererseits verstärkte dies ihre negative Überlebensstrategie. Zugleich schuf die Orientierung der ungarischen Gesellschaft an westlichen Werten die Voraussetzung dafür, daß Zäune geöffnet und Grenzen überwunden wurden. Diese dramatischen Entwicklungen aber erleichterten die Ausreise aus der DDR und erhöhten somit den Veränderungsdruck bis hin zur Implosion des Systems. 3.

Der Erfolg westlicher demokratischer und marktwirtschaftlich fundierter Gesellschaften war eine wesentliche Grundlage für immer wiederkehrende innere Kritik an den totalitär verfaßten, ökonomisch stagnierenden und moralisch verfallenden Gesellschaften des Realsozialismus. Auch die kulturelle und zivilisatorische Anziehungskraft freier Nationen wirkte trotz oder gerade wegen ihrer Pluralität wie ein Magnet. Entscheidend für die DDR-Bevölkerung war neben den genannten Faktoren, daß die Bundesrepublik stets die deutsche Frage offenhielt und damit der Bevölkerung eine Zukunftsperspektive bot. Die 1969 eingelei-

- 2tete und 1982 fortgeführte Deutschlandpolitik der entsprechenden Bundesregierungen stabilisierte zwar einerseits durch ihre politischen und ökonomischen Leistungen in Richtung Osten das diktatorische System, andererseits aber wirkte sie im Zusammenhang mit Korb III der KSZE-Schlußakte auf verschiedensten Ebenen systemverknüpfend und systemöffnend. 4.

Gründe für den Zusammenbruch des Kommunismus lagen bereits als historische Möglichkeit in den von Lenin definierten (einseitige Interpretation der Diktatur des Proletariats, demokratischer Zentralismus, parteimonopolistisches Lenkungsmonopol), von Stalin aber qualitativ verstärkten Befehlsstrukturen, die einer komplexen Industriegesellschaft widersprachen. Deren Übertragung auf die DDR hatte trotz einiger positiver Ansätze nach 1949 mit der II. Parteikonferenz im Juli 1952 einen negativen Lernprozeß konditioniert, der niemals, auch nicht zwischen 1961 und 1965 unterbrochen wurde. Aus der Überbewertung materialistisch-historischer Faktoren erfolgte nicht nur die Unterschätzung tiefliegender menschlicher Antriebe, sondern auch die Fixierung auf eine ökonomische Strategie, die, um den Prestigeund Machterhaltungsinteressen dienlich zu sein, die wirtschaftsund sozialpolitischen Prioritäten falsch setzen ließ. Gleichzeitig wurden aus der Verhaltenspsychologie längst bekannte Erkenntnisse über die Interessengebundenheit des Menschen unterschätzt und wenn auch in sich abschwächender Form nur noch wenig überzeugende Symbole und Mythen perpetuiert, die ihre Massenwirksamkeit durch die generelle Entideologisierung längst verloren hatten. Das parteimonopolistische System war viel morscher als allgemein vermutet wurde. Da im Jahre 1989 die sowjetische Bereitschaft zur gewaltsamen Intervention fehlte, war zu dieser Zeit sein Fall endlich unvermeidlich. 5.

Anspruch und Wirklichkeit wurden selbst von den ein- und angebundenen Kadern innerhalb des Systems als zunehmend dissynchronisiert empfunden. Das konzeptionslose Krisenmanagement und der unklare Sanktionsgebrauch verunsicherten den Machtapparat. Zudem wurden Legitimationsgrundlagen des sozialistischen Systems wie a) des ständig steigenden Wohlstands, b) der sozialen Sicherheit und Geborgenheit und c) der Verteilung nach Leistung immer weniger realisiert. Durch politische anstelle von wirtschaftlichen Effizienzkriterien wurde das System weithin destabilisiert. Vorübergehend konnte zwar der Konsens durch eine Strategie der "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" erhöht werden. Dabei ging aber das Gleichgewicht zwischen den konkurrierenden Anforderungen des öffentlichen und privaten Konsums, insbesondere der verschiedenen Staatsbürokratien, der Sicherheitsdienste und auch des sozialen Sektors einerseits und der produktiven Investitionen andererseits verloren. Um die politischen Strukturen dennoch zu konservieren, setzte die Parteiführung nicht auf die Erneuerung des Systems, auf neue Ziele und Institutionen, sondern auf das die Lernfähigkeit unterdrükkende Syndrom struktureller Gewalt. In der Spätphase Honeckers ab 1986 (X. Parteitag der SED) verstärkten sich erneut die An-

- 3 strengungen, unbequeme gesellschaftliche Signale zu unterdrükken, deviante Anschauungen und ihre gesellschaftlichen Träger auszugrenzen sowie ideolgische Auseinandersetzungen zugusten der Aussendung von Gewaltsignalen zu vermeiden. Dies führte unter den Bedingungen der Ein-Mann-Herrschaft und einer das Machtmonopol der kommunistischen Partei und ihrer Führung legitimierenden Ideologie, des Marxismus-Lenismus, zu dysfunktionalen, das System schließlich zerstörenden Prozessen. 6.

Ein wichtiger, wenngleich unfreiwilliger Helfer der Revolution waren ohne Zweifel die Führer der SED selbst. Der innere Zirkel um Honecker war als Folge der Überalterung der wichtigsten Entscheidungsträger, ihrer einseitig klassenkämpferischen Sozialisation und ihres sehr schlichten persönlichen Zuschnitts nicht in der Lage, Chancen und Gefahren der veränderten Rahmenbedingungen ausreichend zu bewerten. Die SED-Führer hatten die damaligen Zeichen der Zeit fehlinterpretiert, zu lange auf den Sturz Gorbatschows gehofft. Sie waren Opfer ihrer eigenen Erfolgspropaganda, ihrer Realtitätsverdrängung geworden. Das Politbüro unterschätzte auch stets die nationale Gebundenheit ihrer Bürger, die in der Ostorientierung der Führung eine Vergewaltigung deutscher und mitteleuropäischer Identität sahen. In den entscheidenden Stunden spielte nicht zuletzt die Vergreisung und die akute Krankheit Honeckers eine weitere entscheidende Rolle für den Systemzusammenbruch. Die Autorität des Parteiführers war ohnehin zu lange unbefragt akzeptiert worden, wobei ganz aktuell der 40-Jahrestag immer wieder als bremsendes Datum wirkte. Als die Konspirateure (Krenz, Schabowski u.a.) schließlich die Macht übernehmen konnten, hatten sie kein überzeugendes inhaltliches und personelles Konzept, um Partei und Staat den neuen Bedingungen revolutionären Drucks von unten anzupassen. 7.

Vieles sprach aber dafür - und die stalinistischen Führungen hatten dies stets begriffen - daß jede grundsätzliche Distanzierung von den totalitären Methoden oder schon allein deren Rationalisierung das geknüpfte Netzwerk zum Einreißen bringt. In der DDR kam noch die starke Anbindung der Gesellschaft an die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen der Bundesrepublik hinzu, die eine Erneuerung des Systems von Anfang an in Frage stellte. Indem die jüngere Garde der Politbürokraten nach dem Sturz Honeckers alle Schuld auf die Vorgänger schob, hoffte sie, das historische "Aus" abzuwenden. Das sich hierbei manifestierende "Wendehalssyndrom" erwies sich jedoch als überaus wichtig, um die spät-stalinistischen Strukturen weiter aufzubrechen. Zudem gab die in der Transformationsperiode von Honecker über Krenz zu Gysi erfolgte Aufdeckung des gängigen Machtmißbrauchs, der Korruption und der allgemeinen Unfähigkeit schließlich die gesamte Parteispitze der öffentlichen Lächerlichkeit und Verachtung preis. Damit trat aber eine weitere allgemeine Destabilisierung des Systems ein, die vorübergehend die intellektuelle Opposition stärkte, doch zugleich den Spielraum der antisozialistischen Fundamentalopposition erweiterte.

- 4 -

8.

Schon seit Ende der siebziger Jahre hatten sich informelle Gruppen gebildet, die insbesondere die Militarisierung der Erziehung, später auch die Hochrüstung beider Blöcke, aber auch Umweltschäden kritisierten. Erst die sich über Ungarn, die CSSR und Polen realisierende Ausreisewelle aktualisierte das gesellschaftliche Konflikt- und Veränderungspotential. Sie stimulierte diejenigen, die bleiben wollten, die sich mit den Verhältnissen in der DDR nicht abfinden mochten und gab damit den schon zuvor existierenden informellen Gruppen eine unvermutete Massenbasis . Die Flüchtlingstragödien und der drohende Zusammenbruch der DDR brachten gerade diejenigen auf die Straße, die noch unter den Zwängen der Honecker-Krenz-Führung für Reformen kämpfen wollten, schließlich aber eine Revolution auslösten. Die Öffnung der Mauer gab den Menschen in der DDR endlich eine direkte Vergleichsmöglichkeit mit der Bundesrepublik. Dadurch wurde statt einer Entpolitisierung eine wachsende Radikalisierung der Bevölkerung verursacht. Als die SED Ende Dezember/Anfang Januar vorübergehend versuchte, die Ruhe auf den Straßen für eigenen Terraingewinn auszunutzen, waren es die ab 8. Januar wieder beginnenden Manifestationen, die der regierenden SED-PDS ihre Grenzen aufzeigten und sie schließlich zwangen, Vertreter der Opposition in die Regierung aufzunehmen. 9.

Vom Augenblick des Abbruchs der Mauer und der Öffnung der Grenzen war die Herbstrevolution in der DDR kein Vorgang der DDR allein mehr, sondern wurde zu einem Teil des gesamtdeutschen Prozesses. Die Öffnung der Mauer in Berlin nahm der SEDFührung die zweifelhafte Chance, ihre Macht auf eine neue Grundlage zu stellen. Zugleich provozierte sie auch den Fall der spätstalinistischen Regime der CSSR, Bulgariens und Rumäniens. Innenpolitisch reduzierte sie allerdings auch die Bedeutung und die Rolle jener oppositionellen Gruppen, die die erste Phase der Revolution initiiert hatten. Nach dem 9. November 1989 trat die Revolution in ihre zweite Phase, die der raschen Auflösung der DDR, die nahezu unvermeidlich am 3. Oktober 1990 zum Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland führte. Der rasche Prozeß deutsch-deutscher Einigung erschien jedoch trotz des ökonomischen, politischen und psychologischen Gefälles notwendig, um die Wiedervereinigung angesichts der Destabilisierungssignale in der UdSSR international unumkehrbar zu halten.

1. Einleitung Die Vereingung beider deutscher Staaten und der schnelle Niedergang einer angeblich festgefügten kommunistisch regierten Diktatur an der Nahtstelle von Ost und West hat viele Fragen aufgeworfen. Zu festgefügt schien das sowjetische Imperium, dessen "sozialistischer Vorposten" (Gromyko) die DDR einmal darstellte, zu bedrohlich die Gefahr militärischer Konflikte, die mit der Überwindung des sowjetischen Griffs nach Europa verbunden war, zu deutlich zeichneten sich die inhärenten Kräfte einer negativen historischen Dialektik ab, die scheinbar unsere Welt auf Vernichtung programmierten als das optimistische Prognosen schon für die achtziger und den Beginn der neunziger Jahre realistisch erschienen. Daher gingen die Mehrzahl der Analysen von einem langsamen Wandel und der Notwendigkeit der Stabilitäsbewahrung im Ost-West-Verhältnis aus. Die Eingliederung der ehemals sowjetisch besetzten Zone (SBZ) in das "sozialistische Lager" war Teil eines weltrevolutionären Prozesses von "oben und von außen". Ebenso ist nunmehr der Zusammenbruch des kommunistisch regierten Systems in der DDR Teil eines historischen Prozesses, nun allerdings mit umgekehrten Vorzeichen, und zwar der Regression des totalitären Systems und weltweiter erfolgreicher Dynamik von Marktwirtschaft, Pluralismus und Demokratie. Damit wird auch der geschichtsleitende Antagonismus zweier Welt- und Wertsysteme, die sich gegenseitig negierten, "real aufgehoben". Die DDR, dieses Kind des Kalten Krieges verschwand mit dessen Ende. Der Wille der Handelnden hat sich nicht den blinden Zwängen des Reiches der Notwendigkeit gebeugt. Die Verzweiflung und die Courage der Hunderttausende, die sich auf das Abenteuer der Freiheit einließen, hat

- 6 das seit längerem morsche System zusammenfallen lassen.1 Doch dieser ersten Phase der Revolution folgte eine zweite, die ebenso von den Menschen der DDR erzwungen wurde, die Phase des Beitritts zur Bundesrepublik. Auch sie stellt eine Revolution dar, denn sie verdrängte nicht nur die bisher Herrschenden, veränderte die Besitzverhältnisse, sondern sie führte, über den Systemwechsel hinaus, zur Beseitigung eines europäischen Staates. Der Zusammenbruch des real existierenden DDR-Sozialismus noch in diesem Jahrhundert, die Emanzipation der Gesellschaft von den ihr auferlegten Zwängen und der Prozeß der Wiedervereinigung Deutschlands war von Millionen von Deutschen - besonders in der DDR - seit mehr als vierzig Jahren angestrebt und der Bundesrepublik in der Präambel des Grundgesetzes aufgegeben. Für viele jedoch war die DDR eine deutsche Alternative zur Bundesrepublik, eine Alternative, die auch in der Person Erich Honeckers gelebten Antifaschismus repräsentierte. In spezieller Weise war die Ex-DDR der "Schatten" (CG. Jung) der Bundesrepublik Deutschland. Manche einflußreiche Linke in Europa und wichtige Teile der Eliten in der dritten Welt sahen in ihr ein erfolgreiches Modell für eine sozial gerechtere und wirtschaftlich dennoch wachsende Gesellschaft. Hier soll nicht der "Monsteresierung der DDR" (Christa Wolf) das Wort geredet werden. Viele Menschen bewunderten in der Tat die nachbarschaftliche 1

Siehe trotz vieler Ungenauigkelten und personenbedingter Schwächen die Abrechnung mit der eigenen Vergangenheit bei E. Krenz, Wenn Mauern fallen. Die friedliche Revolution: Vorgeschichte, Ablauf, Auswirkungen, Wien 1990; vgl. insbesondere auch G. Schabowksi, Das Politbüro. Ende eines Mythos. Hrsg. von F. Sieren und L Könne, Reibeck 1990; von westlicher Seite siehe besonders A. M. Hanhardt, Demonstrations, Groups, Parties and the Volkskammer Elections: Aspects of Political Change in Eastern Germany, Hektographiertes Papier für das Jahrestreffen der American Political Science Association, San Francisco, 30. August bis 2. September 1990; vgl. auch E. Pond, A Wall Destroyed. The Dynamics of German Unification in the GDR, in: International Security, Vol. 15, Nr. 2 (Fall 1990), S. 35-66; siehe weiter K.W. Fricke, Die Wende zur Einheit, in: Politische Studien, 41. Jg. (1990), Nr. 311, S. 255-264; G.J. Glaeßner, Vom "realen Sozialismus" zur Selbstbestimmung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Nr. 1-2/1990, S. 3-20; H. Knabe, Politische Opposition in der DDR, ebda, S. 20-32; F. Oldenburg, Vom realen Sozialismus zur freiheitlichen Demokratie in der DDR, in: Zeitschrift zur politischen Bildung und Information, Nr. 1,1990, S. 2845; D. Staritz, Ursachen und Konsequenzen einer deutschen Revolution, in: Fischer-Almanach, Sonderband DDR, Frankfurt a.M., 1990, S. 13-43; W. Süß, Revolution und Öffentlichkeit in der DDR, Deutschland-Archiv Nr. 6,1990, S. 907921.

- 7 Wärme, die pädagogische Nähe, die sportliche Präsenz und die Friedensliebe dieser Gesellschaft. Für andere bleiben niedrige Mieten, Tarife, billige Altenheimplätze, Arbeitsplatzsicherheit und soziale Überversicherung wichtige Erinnerungsposten, die sie schnell der bundesrepublikanischen Gesellschaft entgegensetzen. Heute kann kaum kein Zweifel darüber bestehen, daß viele der positiven Ansätze mit unverhältnismäßig hohen Aufwendungen bezahlt, andere aus der Gemeinschaft des Mangels und des alltäglichen Zwanges gründeten und manche im Westen schlicht mißperzepiert wurden. Mit unerwarteter Toleranz haben die Sowjetführer aus der realen Schwäche, aus dem Niedergang des stalinistischen Systems die Konsequenz gezogen und nicht nur ihr äußeres, osteuropäisches Imperium freigegeben, sondern sogar ihre Haupttrophäe des Zweiten Weltkrieges, den Besitz der DDR, zur Disposition gestellt. Schon im Jahre 1953 hatte nur das Eingreifen sowjetischer Militärs den Sturz der kommunistischen Herrschaft in einem Teil Deutschlands verhindert. Hier wie anderswo erwies sich, daß die kommunistischen Diktatoren in Ost-Mitteleuropa nicht nur vom sowjetischen Militär eingesetzt, sondern auch von dessen Schutz weitgehend abhängig waren. Da sich der Kreml während der Umbrüche in Osteuropa im Jahre 1989 entschloß, nicht erneut militärisch einzugreifen, war das Ende des parteimonopolistischen Sozialismus zwischen Elbe und Oder und bei geöffneter Grenze, wegen der ungelösten nationalen Frage schließlich auch das Ende des artifiziellen Staatswesens DDR unvermeidlich. Mit der Aufgabe des Wahrheitsmonopols, mit dem Beginn von "Glasnost" im Jahre 1986, der sukzessiven Revision der Ideologie und der seit Januar 1987 einsetzenden Demokratisierung, der Fortnahme der Breshnew-Doktrin 1989 und der grundsätzlichen Revision der sicherheitspolitischen Auffassungen durch Gorbatschow in den Jahren 1988 bis 1990 verlor die DDR den entscheidenden Rückhalt für die Aufrechterhaltung ihrer Existenz. Zugleich sind aber

- 8 genetische und aktuelle Gründe des Scheiterns zu unterscheiden, die letztlich neben den internationalen Rahmenbedingungen zusammenwirkten .

2. Der Umbruch in der DDR 2.1 Der Niedergang der SED-Herrschaft Nach der Mitte der fünfziger Jahre erfolgten Ausschaltung der von Schirdewan und Wollweber geführten Opposition gab es in der SED seit 1958 keine Grundsatzdiskussion mehr über verschiedene Strategien oder einen "dritten Weg". Spätere Auseinandersetzungen zwischen Honecker und dem zweiten Mann der Partei, Verner, oder dem Westsekretär Häber sowie dem Berliner Parteichef Naumann betrafen eher taktische und persönliche, denn tiefgehende strategische Differenzen. Sie blieben der Parteimitgliedschaft weitgehend verborgen. Auch Proteste einiger SED-Funktionäre an der Basis, zum Beispiel wegen der Einführung von Intershops, der Ausbürgerung Biermanns oder des Afghanistan-Einmarsches der UdSSR, bzw. der vor dem des X. Parteitag angekündigten, aber zeitlich verschobenen sozialen Maßnahmen, waren eher marginale Phänomene. Der Konfliktstoff begann sich erst langsam nach der offenen Zurückweisung der Gorbatschowschen Reformen durch Honeckers arroganten Auftritt auf dem XI. Parteikongreß der SED im April 1986 und der abwiegelnden Beratung des ZK mit Kreissekretären Anfang Februar 1987 anzuhäufen.2 Die SED sah sich immer mehr als Repräsentantin leninistischer Orthodoxie. Auf der gemeinsamen Sitzung des SED-Politbüros und des DKP-Präsidiums 2

Vgl. Honeckers Bericht an den XI. Parteitag der SED, Neues Deutschland, 17.4. 1986 sowie die Rede von M. S. Gorbatschow, a.a.O., 19.4.1986, als Broschüre: Michail Gorbatschow, Grußansprache an den XI. Parteitag der SED, BerlinOst 1986, 32 S. Die Rede Honeckers auf der Beratung des Sekretariats des ZK der SED mit den 1. Sekretären der Kreisleitungen ist abgedruckt in Neues Deutschland, 7.-8. 2. 1987; vgl. auch die unverändert abwiegelnde Linie im Referat Honeckers vor dem gleichen Kreis ein Jahr später, am 12. Februar 1988 "Mit dem Volk, für das Volk realisieren wir die Generallinie unserer Partei zum Wohle der Menschen", Berlin-Ost 1988,111 S.

- 9im Oktober 1988 soll Honecker erklärt haben, die SED verstehe sich als Schutzwall gegen den Gorbatschwschen Revisionismus im sozialistischen Lager, und die DKP müsse diese Funktion in Westeuropa einnehmen.3 Ob mit einer Adaption an die sowjetische Perestrojka die DDR zu retten gewesen wäre, bleibt mehr als zweifelhaft. Tatsächlich aber verlor die SED mit ihrer Abgrenzung von der UdSSR Gorbatschows auch ein Stück Legitimität, denn die Anbindung an die KPdSU und die Sowjetunion war emotional zumindest bei einem Teil der Parteimitgliedschaft, besonderes bei den älteren Parteifunktionären, den bolschewistisch eingefärbten Intellektuellen und dem Sicherheitsapparat bedeutsam. Ein Alarmzeichen hätte der Rücktritt des ehemaligen Chefs der DDR-Aufklärung, General Markus Wolf, im Jahre 1987 sein können.* Doch dieses Signal, wie manches andere danach, wurde von den Honecker-Anhängern geflissentlich überhört. Um so mehr stimulierten eine Vielzahl von Abgrenzungsmaßnahmen gen Osten die depressive Stimmung in der Partei. Dazu gehörten vor allem die Kampagne gegen den sowjetischen Film "Die Reue" nach dem Oktober 1987, das zentrale Vertriebsverbot des sowjetischen Digest "Sputnik" im November 1988 und die erzwungene Zurückziehung von fünf sowjetischen Filmen, die während der "Tage des sowjetischen Films" in Berlin liefen^ sowie das zeitweilige Verschwinden sowjetischer Zeitschriften wie "Neue Zeit".6 Nach dem Verbot des Sputnik sollen insgesamt 200.000 Protestbriefe in der Berliner Zentrale eingegangen sein.^ Moskaus Reformen wurden seinerzeit zur Hoff3

Vgl. P. Moreau, Krisen und Anpassungsstrategien der kommunistischen Strömungen in der BRD und der ehemaligen DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 46 - 47/90, S. 38, Anm. 1.

4

Siehe hierzu die Rede M. von Ardennes vor der Volkskammer am 13.11.1989, nachgedruckt in: Sonntag, Nr. 48, 1989, S. 2; vgl. auch W. Seiffert, in: Der Spiegel, 15.2.1989, vgl. auch die ADN-Meldung vom 5.2.1987. Darunter die Filme: Die Kommissarin, Und morgen war Krieg, Der kalte Sommer des Jahres 53. Deutschsprachige Ausgabe von "Novoe Vremja". Aber auch die in Prag herausgegeben Koordinationszeitschrift der

6

kommunistischen Parteien "Probleme des Friedens und des Sozialismus" verschwand vorübergehend aus den DDR-Zeltungskiosken. Vgl. Wieghols und Schulz, Reformbewegung und Volksbewegung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, No. B 16-17, 1990.

- 10 nung sowohl für die, die einer Erneuerung des Sozialismus, als auch für jene, welche einer liberaleren Spielart, einer ökologisch fundierten Basis-Demokratisierung entgegenfieberten. Um so härter wandte sich Honecker auf der 7. ZK-Tagung Anfang Dezember 1988 gegen alle, die sich in der UdSSR der kritischen Aufarbeitung des Stalinismus zuwandten und qualifizierte dies als das "Gequake wildgewordener Spießer" ab.8 Auf der Festveranstaltung anläßlich des 70. Jahrestages der KPDGründung, am 29. Dezember 1988, setzte der SED-Generalsekretär noch eins drauf: "Wir gestalten die entwickelte sozialistische Gesellschaft hier in diesem Lande, nicht im luftleeren Raum und auch nicht unter Verhältnissen, wie sie anderswo, aber nicht bei uns bestehen. Wir gestalten sie in den Farben der DDR". 9 Damit war die Notwendigkeit ausgedrückt, den beschlossenen Kurs als etwas qualitativ Eigenständiges, Unverwechselbares darzustellen, von den Reformentwicklungen in anderen sozialistischen Staaten abzugrenzen und zugleich Hoffnungen auf weitgehende Lokkerungen entgegenzuwirken.10 Ohne Not,'lediglich sich gegen die zunehmend distanziert werdende sowjetische Position zur Berliner Mauer wendend, lud Honecker die depressive Stimmung Mitte Januar 1989 noch weiter aufs "Die Mauer wird...so lange bleiben, wie die Bedingungen nicht geändert werden, die zu ihrer Errichtung geführt haben. Sie wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe noch nicht beseitigt sind."H Es war kein Wunder, daß die aufgestaute Frustration wenige Monate später in Aggression umschlug. Öl in das Feuer gössen auch die Ideologen und Propagandisten der SED8

Bericht des Politbüros an die 7. ZK-Tagung. Berichterstatter: E. Honecker, Berlin-Ost 1988, S. 9; auf der gleichen Linie argumentierten auch H. Wolf u. W. Schneider, in: ND, 6./7. 5. 1989 und K. Hager mit seinem Politbürobericht auf der vorhergehenden 6. ZK-Tagung im Juni 1988, Berlin-Ost 1988, S. 82. E. Honecker, Rede auf der Festveranstaltung anläßlich des 70. Jahrestages der Gründung der KPD, Berlin, 29.12.1988, Berlin (Ost) 1989, S. 46.

10

Siehe hierzu F. Oldenburg, Die DDR im "Haus Europa", Bericht des BlOst, Nr. 11,1989. E. Honecker, Rode vor dem von ihm geleiteten Thomas-Müntzer-Komitee, Neues Deutschland, 18.1.1989. Für die Äußerungen der sowjetischen Seite, u.a. von Jakowlew in Bonn und Schewardnadse in Wien siehe FAZ, 10.01.1989.

- 11 Führung wie Kurt Hager, Otto Reinhold und Kurt Tiedke, die immer wieder darauf verwiesen, man habe die notwendigen Reformen bereits hinter sich.12 Alle diese Kathedersozialisten desillusionierten mit ihren Verlautbarungen die mittleren und unteren Parteikader, das eigentliche Rückgrat der Partei. Während Mielkes Sicherheitsapparat die Führung mit Hiobsbotschaften überfütterte1 3, versuchten die Ratgeber Honeckers, diesen und andere Politbüromitglieder von der wirklichen Stimmung im Lande abzuschirmen. So entsandte Mittag, der sich seit dem Sommer 1989 der besondern Gunst des Generalsekretärs erfreute, Arbeitsgruppen in die Bezirke der DDR, um von 1. Sekretären der Bezirksleitungen geschönte Berichte über die Lage in der Partei einzufordern. ^ Mittag und Herrmann waren es auch, die schon im Frühjahr eine Arbeitsgruppe des ZK nach Dresden geschickt hatten, um dort Material gegen den zumindest in weiten Kreisen der Partei als Hoffnungsträger angesehenen Modrow zusammenstellen zu lassen. Mordow hatte seinerzeit u.a. gegen irreale Wohnungsbauprogramme Stellung bezogen. Eine besondere Fehlleistung waren die Fälschungen der Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989, die trotz anderslautender Prüfungen vor Ort eine Zustimmung zur Einheitsliste von 98,85 Prozent ergaben. !5 Diese offensichtliche neuerliche Verachtung selbst geringster abweichender Äußerungen des Volkswillens war der Beginn zunehemder Koordination von Bürgeropposition. Die SED-Führung verdeutlichte jedoch, wie sie zu reagieren gedachte. Schon die Verleihung des Karl-Marx-Ordens an Ceausescu (November 1988), angesichts allein von dessen Dörfervernichtung eine Provokation, hatte die gewünschte Koalition mit den repressivsten Re12

Hagers diskriminierendes Interview ist abgedruckt in Neues Deutschland, 10.4.1987; siehe auch Hagers Rede 120 Jahre "Das Kapital", Neues Deutschland, 9./10.5.1987; 0 . Reinhold, Der Sozialismus als Leistungsgesellschaft, Neues Deutschland, 8.8.1989; K. Tiedke, Die neue Epoche auf deutschem Boden, Neues Deutschland, 30.8.1989.

13

Siehe "Ich liebe euch doch alle". Befehle und Lageberichte des MfS, Januar bis November 1989, Berlin 1990.

14

Vgl. E. Krenz, Wenn Mauern fallen, Wien 1990, S. 26.

15

Zu den Wahlfälschungen siehe Schabowski, a.a.O., S. 54f.

- 12 gimen angedeutet. Die demonstrative Zustimmung zur brutalen Niederschlagung des Pekinger Studentenprotestes Anfang Juni 1989 durch Parteiführung und Volkskammer sollte erneut signalisieren, daß die vergreiste SED-Führung unter keinen Umständen bereit sei, zu weichen und daß gegen Demokraten gegebenenfalls auch DDR-Soldaten eingesetzt würden.1** Am 26. September 1989 unterzeichnete Honecker in seiner Funktion als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates den Befehl Nr, 8/89, der instrumental dazu erdacht war, jeden konterrevolutionären "Krawall im Keime zu ersticken".17 Obwohl sich im Sommer 1989 durch zunehmende Parteiaustritte und durch steigende Fluchtversuche sowie ab August 1989 auch erneute Botschaftsbesetzungen die aggressiv-resignative Reaktion der Bevölkerung auf die gesellschaftliche Perspektivlosigkeit dramatisch zuspitzte, schien das Parteischiff führungslos zu schlingern. Dabei könnte sich einmal als wichtig erweisen, daß Honecker zwischen dem 15. August und dem 25. September durch Krankheit ausfiel und gesundheitlich immer noch angeschlagen, vermutlich auch zu früh, wieder seine Funktion wahrnahm.1^ Schließlich sind autoritär-bürokratisch geführte Parteien unvermeidlich auf die überragende Entscheidungskompetenz des Generalsekretärs verwiesen, der, wenn auch selbst von großer persönlicher Schlichtheit und zunehmender Starrheit, sein Team zu domi16

Am 6. Juni 1989 publizierten das Neue Deutschland und alle DDR-Tageszeitungen einen Brief des ZK der KP Chinas und des Staatsrates an alle Mitglieder der Kommunistischen Partei Chinas und an das Volk, einen Brief des Generalstabs und der Politischen Hauptverwaltung an die Truppen sowie ein Schreiben des Pekinger Oberbürgermeisters unter der Überschrift "Konterrevolutionäre Unruhen entschlossen unterbinden". Zwei Tage später, am 8. Juni 1989, erklärte die DDR-Volkskammer ihre Unterstützung für das Vorgehen der Pekinger Machthaber. Am 24.9.1989 empfing der Chef der PHV der NVA, H. Brünner, eine Delegation der chinesischen VBA; am 25.9.begann Krenz als Leiter einer DDRPartei- und Regierungsdelegation in Peking politische Gespräche. Dabei unterstrich er, "wer wie die VR China und die. DDR die gleichen gesellschaftlichen Ziele im Interesse des Volkes verfolge, stehe auf der Barrikade der sozialistischen Revolution auch dem gleichen imperialistischen Gegner gegenüber", zitiert nach Berliner Zeitung, 27.9.1989. Anläßlich des 40. Jahrestages der VR China hieß es im ND: "In den Kämpfen unserer Zeit stehen DDR und China Seite an Seite". Neues Deutschland, 2.10.1989.

17

Vgl. Stern, Nr. 6 vom 1.2.1990, S. 35ff.

18

Siehe Schabowski, a.a.O., S. 63ff.

- 13 nieren und zu manipulieren verstand. Am 16. August mußte sich der Generalsekretär einer Gallenoperation unterziehen. Er übergab seine Stellvertretung jedoch nicht seinem de-facto Kronprinzen Krenz, sondern dem ZK-Wirtschaftssekretär Mittag und lehnte das Angebot von Krenz, seinerseits seinen Urlaub abzubrechen, ab. Folgenreich war in jedem Fall, daß Honecker von sich aus auf Distanz zu seinem inoffiziellen Vize ging, obwohl es zu dieser Zeit noch keinerlei Fraktionsbildung im Politbüro gab. Vielmehr war der enttäuschte Krenz lange Zeit von einem starken Harmoniebedürfnis beseelt, das den von Honecker geprägten früheren FDJ-Chef erst, als es viel zu spät war, an die Seite von Schabowski zur Konspiration trieb.^ Während die DDR im Sommer ihrer schwersten Krise seit 1953 zutrieb, vermied die Führung es, die Probleme zu analysieren und Roß und Reiter zu nennen. Vielmehr gedachte man, an den vergreisten Personen und ihrer Generallinie bis über den XII. Parteitag im Frühjahr 1990 hinaus, festzuhalten. Im Politbüro kam es unter Mittag und in Abwesenheit von Honecker und Krenz erst zu Auseinandersetzungen, als DDR-Bürger massenhaft über Budapest abwanderten. Insofern war auch hier nicht die Opposition, sondern die Abstimmung mit den Füßen die Initialzündung für Veränderungen, die freilich dann wieder vertagt wurden. Die Ungarn hatten in einem einseitigen Akt am 10/11. September die Ausreise für DDR-Bürger nach Österreich gestattet. Insbesondere Krolikowski, Lorenz, Walde und Böhme machten für die Fluchtwelle den Wirtschaftssekretär Mittag verantwortlich. Auch Keßler und Hager spürten die drohende Gefahr. Niemand wagte jedoch das Ruder herumzureißen, sich mit einer Erklärung an die Bevölkerung zu wenden. Man wartete in diesen überaus kritischen Tagen die Rückkehr des Parteichefs ab - ein verhängnisvoller Fehler. Fischers Außenministerium protestierte in Budapest und suchte Gyula Horn Siehe Schabowski, a.a.O., S. 71ff.

- 14 umzustimmen. ZK-Sekretär Herrmann lastete ab Mitte September in den DDR-Medien der Bundesrepublik Schuld für die sich dramatisch zuspitzende Situation an. Allzu phantasievoll ging man dabei nicht vor und fiel in alte agitatorische Muster zurück, was den Mann auf der Straße noch mehr verärgerte. Am 13. September erklärte beispielsweise ADN, das Verlassen der DDR sei einmal mehr mit "Menschenhandel" und mit einer "zügellosen Verleumdungskampagne gegen die DDR" verbunden. Die Aktionen würden von der "BRD generalstabsmäßig vorbereitet, sie werden skrupellos durchgeführt; so wie es dem Charakter der kapitalistischen Gesellschaft entspricht."20 ^m 23. September 1989 behauptete in "Neues Deutschland" ein Mitropa-Kellner, er sei in Ungarn gewaltsam in die BRD verbracht worden. Dies sollte offensichtlich als typisches Merkmal für Ausreisen über Ungarn herhalten.21 Als die "Übersiedelung" dramatisch anschwoll, redigierte Honecker persönlich ins Neue Deutschland, "man weine den Ausreisenden keine Träne nach". Tatsächlich lähmte die Sorge, unmittelbar vor dem 40. Jahrestag der DDR das Gesicht zu verlieren, die Partei- und Staatsführung. Am 25. September warnte die CSSR-Führung, man habe die Dinge in der BRD-Botschaft, im Palais Lobkowitz, nicht mehr im Griff. Vier Tage später rang sich Honecker deshalb persönlich dazu durch, die die Prager Botschaft der Bundesrepublik besetzt haltenden DDR-Bürger über das Gebiet der DDR ausreisen zu lassen.22 Ähnliche Konzessionen sollten folgen. Doch gerade diese provozierten neue Fluchtwellen und destabilisierten das Regime immer weiter. Am 4. Oktober wurden wegen des aus Prag in die Bundesrepublik fahrenden Botschaftsbesetzerzuges der Dresdner Bahnhof und die Gleise belagert. Es kam zu ersten blutigen Konfrontationen, die mit großer Wahrscheinlichkeit der Vorsitzende der Bezirkseinsatzleitung Modrow zu verantworten hat. Die Vorbereitungen zu den Jubelfeiern am 7. Oktober 20 21 22

ADN-Meldung vom 13.9.1989. "Ich habe erlebt, wie BRD-Bürger 'gemacht' werden", Neues Deutschland, 21.9.1990. Krenz, Wenn Mauern fallen, a.a.O., S. 31.

- 15 1989 wurden zur Götterdämmerung des alten Systems. Bisher hatten sie die "Wende" über Gebühr verzögert. Besonders in Berlin wurde in den ersten Oktobertagen geknüppelt und massenhaft von Polizei und Stasi "zugeführt". Honeckers Ansprache im Palast der Republik am 6. Oktober ("Vorwärts immer, rückwärts nimmer") bewies, daß er und die ihn im Apparat stützenden politischen Kräfte schon seit langem die Zeichen an der Wand nicht mehr richtig gedeutet hatten. Dies mag verwundern, soll doch nach 1985 die DDR-Staatssicherheit begonnen haben, die Sowjetunion als Ziel ihrer Erkundungen zu betrachten.23 Dies war auch den DDR-Experten in der sowjetischen Hauptstadt nicht verborgen geblieben. Seit dem Sommer 1989 mehrten sich auch in der Moskauer Zentrale die Hiobsbotschaften. Die hieraus von Falin, Koptelzew u.a. gezogenen Schlußfolgerungen wurden zum Teil von einzelnen ehemals wichtigen DDR-Funktionären, wie dem zuvor abgesetzten DDR-Geheimdienstchef M. Wolf in Moskau bestätigt.24 Schließlich brachte aber erst der Gorbatschow-Besuch in der DDR vom 6. bis 7. Oktober die Wende. Dem sowjetischen Generalsekretär gelang es, einen großen Teil der Politbüromitglieder auf seine Seite zu ziehen und dabei die Politik des "Dialogs" mit der Bevölkerung anzumahnen. Gorbatschows Ansprache an die Mitglieder des Politbüros im Schloß Niederschönhausen war zwar äußerst zurückhaltend, siganalisierte jedoch, daß des sowjetischen Generalsekretärs Kritik an den sowjetischen Verhältnissen auch an die Adresse der DDR-Führung gerichtet war. Seine Worte, "wer zu spät kommt, den bestraft das Leben", haben längst Geschichte gemacht.25 23

Vgl. Interview mit dem ehemaligen KGB-Obersten Gordiewski, Der Morgen, 6.12.1990.

24

Siehe den auszugsweisen Vorabdruck des Buches von M. Wolf, In eigener Sache, in: Stern, Nr. 49 vom 29.11.1990, S. 178. Siehe C. Schnibben, Wie Erich Honecker und sein Politbüro die Konterrevolution erlebten, in: Der Spiegel, No. 16, 1990, S. 72ff., No. 17, 1990, S. 78ff., No. 18, 1990, S. 196ff. Vgl. u. a. die Berichterstattung von Der Spiegel, Nr. 41, 1990, S. 18. Siehe auch, "Ohne uns läuft nichts mehr". Die Revolution in der DDR, Stuttgart 1990. Siehe auch SpiegelSpezial, Nr. 2,1990, S. 145.

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2.2 Die SED, die Sowjets und der 9. Oktober 1989 Allen Bezirkseinsatzleitungen war Anfang Oktober ein persönliches Schreiben Honeckers zugegangen, in dem von vorherigen "rowdyhaften Zusammenrottungen" in Dresden, Leipzig und Plauen die Rede war. Weiter hieß es dort kategorisch: "Es ist damit zu rechnen, daß es zu weiteren Krawallen kommt. Sie sind von vornherein zu unterbinden."26 Honecker hatte sofortige Zusammenkünfte der Bezirkseinsatzleitungen gefordert, bei welchen die "Lage im Bezirk eingeschätzt wird und entsprechende Maßnahmen festgelegt werden". Die SED ging davon aus, daß eine "konterrevolutionäre Situation" besonders in Leipzig bestünde. Für den 9. Oktober, wo dort zu Recht eine Großdemonstration erwartet wurde, waren auf Befehl des Ministers für Nationale Verteidigung, Keßler, bereits seit dem 6. Oktober Einheiten der Armee in den Dienststellen Bad Döben und Delitzsch zu Hundertschaften zur Unterstützung der Deutschen Volkspolizei und zur Sicherung "lebenswichtiger Objekte", z.B. des Leipziger Hauptbahnhofs, des Hauptpostamts und des Senders Leipzig, zusammengefaßt worden. Besonders Unteroffiziersschüler sollten eingesetzt werden.27 oi e Soldaten, völlig unausgebildet für diese Maßnahmen gegen die Bevölkerung, erhielten Schlagstöcke, durften jedoch keine scharf geladenen Waffen tragen. Dagegen sollten Einheiten der Bereitschaftspolizei mit Schützenpanzerwagen, ausgerüstet mit Räumschilden, zur Auflösung der Demonstration zum Einsatz kommen. Deren Kommandanten trugen Pistolen mit jeweils 16 Schuß

Der 9. Oktober in Leipzig, Sendung des DDR-Fernsehens, hier zitiert nach einer Ausstrahlung von Eins Plus, 18.10. 1990,20.15 bis 21.15. Uhr. Ebenda, Angaben von Generalmajor Diderich, damal. Chef des Wehrbezirkskommandos und Generalmajor Wiegang, damal. Chef des Militärbezirks Leipzig.

- 17 Munition, die Einsatzfahrer Maschinenpistolen mit 60 Patronen./b Unterstützt wurde die Volkspolizei auch von Einheiten der Staatssicherheit und SED-Kampfgruppen. Nach Meinung der Leipziger SED-BezirksSekretäre Meyer, Pommert und Wötzel habe die Koordinierung beim Nationalen Verteidigungsrat in Berlin gelegen, was der Sekretär des NVR, Streutz, energisch bestreitet. Ob Krenz mit dem ZK-Abteilungsleiter für Sicherheit, Herger, beriet und auf Honecker einwirkte, ist bis heute nicht zu beweisen.29 jedenfalls soll er sich erst zu einem Zeitpunkt telefonisch von Berlin aus eingeschaltet haben, als die gewaltlosen Demonstrationen ihren Höhepunkt längst überschritten hatten. Der sowjetische Botschafter war persönlich von den Einsatzbefehlen Honeckers im Falle weiterer Leipziger Demonstrationen informiert. 30 i n Abstimmung mit der Moskauer Führung wies er den sowjetischen Oberkommandierenden der Westgruppe, Snetkow, an, die sowjetischen Verbände in den Garnisonen zu halten. Mit dieser schwer zu überschätzenden Weisung war die Breshnew-Doktrin auch im Falle der DDR obsolet geworden. Manches spricht dafür, daß die Bezirkseinsatzleitung und die koordinierenden Stäbe Honeckers Anweisungen wörtlich genommen hatten und nunmehr nur im Falle von "Krawallen" eingreifen wollten. Ausschlaggebend soll für die Vermeidung der Konfrontation gewesen sein, daß es am Nachmittag des 9. Oktober 1989 zu einer Zusammenkunft von drei Bezirksfunktionären der SED in Leipzig (Meier, Pommert und Wötzel) mit drei geachteten Persönlichkeiten der Stadt (Professor Masur, Pfarrer Zimmermann und dem Karikaturisten Lange) kam. Dabei wurde eine Erklärung verabschiedet, die "dringend zur Besonnenheit" aufrief, "damit der fried28

Ebenda, Angaben von Oberwachtmeister Große.

29

Vgl. E. Krenz, Wenn Mauern fallen, a.a.O., S. 204f; vgl. auch Stern, No. 6,1.2.1990, S. 35ff. Siehe den Bericht über das Gespräch des sowjetischen Botschafters in der DDR, KoHSemasov, mit dem Sonderkorrespondenten KondraSov, Izvestija, 29.4.1990, S. 7.

30

- 18 liehe Dialog möglich wird".^1 Dieser Aufruf wurde von den Kanzeln der Leipziger Kirchen verlesen. Gleichzeitig wurde überall auf den Straßen ein Appell kirchlicher Gruppen (des Arbeitskreises Gerechtigkeit, der Arbeitsgruppe Menschenrechte und der Arbeitsgruppe Umweltschutz) verteilt. In diesem hieß es: "An die Einsatzkräfte appellieren wir: Enthaltet Euch der Gewalt! Reagiert auf Friedfertigkeit nicht mit Gewalt!"32 um 17 Uhr begann die Demonstration, und sie verlief auf beiden Seiten friedlich. So sah man am Abend nach der Demonstration junge Menschen mit Kampfgruppenmitgliedern auf den Straßen diskutieren; oftmals waren es die Söhne und Töchter eben dieser "Genossen Kämpfer" . Ein entsetzliches Blutbad war vermieden worden, die Wende verlief weiter friedlich.

2.3 Der Sturz Honeckers und die Beschleunigung der Krise Durch diese Gewaltlosigkeit konnte sich die Partei- und Staatsführung in der trügerischen Hoffnung wiegen, die Entwicklung durch gewisse Korrekturen auch weiterhin steuern und kanalisieren zu können. Nach den Oktoberfeierlichkeiten wurde insbesondere der Sturz Honeckers notwendig und nun auch möglich. Die Partei, an der Basis längst gespalten, dividierte sich nunmehr an der Spitze auseinander. Krenz hatte auf seinem Rückflug aus Peking schon am 3./4. Oktober eine Erklärung ausgearbeitet, die im Politbüro für eine vorsichtige kritische Analyse der Situation werben sollte.33 Honecker wehrte diesen Versuch, die Linie zu korregieren, damals ab. Immer noch stand der zentrale Apparat der ZK-Sekretäre nahezu geschlossen hinter dem Generalsekretär. 31

32 33

Hektographiertes Papier, im Besitz des Autors; vgl. auch "Wir sind das Volk", mdv transparent, Teil 1, Halle-Leipzig 1989, S. 57f. Hektographiertes Papier, im Besitz des Autors. Vgl. E. Krenz, Wenn Mauern fallen, a.a.O, S. 32f.

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Daher setzte Krenz bei seiner ersten Attacke, der Politbürositzung am 10. Oktober, auf ein Bündnis mit den im Politbüro vertretenen Bezirkssekretären, die die Stimmung in den Parteiorganisationen besser kannten, aber hofften, mit einer intensiven antistalinistischen "Wende" davonzukommen. Er probte den Aufstand, doch ging es anfangs vorwiegend um die Einschätzung der Stimmungslage unter der Jugend, von der in einer Analyse des ZK-Abteilungsleiters für Jugendfragen, Schulz, behauptet wurde, sie stehe hinter der Partei, fordere aber eine Verjüngung der Führung. Honecker war empört und machte Krenz persönlich haftbar. Allerdings zeigte sich, daß Schabowski, Lorenz, Walde und Schürer, aber auch Jarowinsky und Neumann für eine Korrektur der bisherigen Linie eintraten.34 Krenz brachte nunmehr erfolgreich die von ihm vorbereitete Erklärung ein, die zwar immer noch in Halbheiten steckenblieb, dennoch aber die bisherige Sprachlosigkeit der Partei beendete. Eine vom Politbüro eingesetzte Redaktionskommission formulierte eine Kompromißerklärung35, die das "Neue Deutschland" am 12. Oktober veröffentlichte. Sie bekannte sich erstmals zum Dialog, lehnte diesen allerdings mit den wirklich oppositionellen Kräften, auch mit den pro-sozialistischen Kräften des "Neuen Forum", weiterhin ab. Immerhin hieß es nunmehr: "Der Sozialismus braucht jeden." Man habe aber bereits die erforderlichen Formen und Foren für eine gemeinsame Beratung. Nach außen schienen die Dogmatiker weiterhin in der Vorhand. So hieß es in einer parteiinternen "Information", die anschließend vom zentralen Apparat formuliert wurde, die "Autoren" des Neuen Forum seien Leute, die "das Geschäft der Feinde des Sozialismus" betrieben.36 Auch der Demokratische Aufbruch und die Sozialdemokratische Partei wurden in ihrem Wir34 35

Siehe die Darstellung von E. Krenz, Wenn Mauern fallen, a.a.O., S. 36f.; Schabowski, a.a.O, S. 87ff. Vgl. Neues Deutschland, 12.10.1990, S. 1. Zum "Neuen Forum" und zu anderen illegalen oppositionellen Gruppierungen in der DDR, Informationen, Nr. 261, 1989/7, S. 2.

- 20 ken als außerhalb von Recht und Gesetz stehend bezeichnet. "Wer ihnen seine Sympathie bekundet, muß wissen, worauf er sich einläßt." Honecker mochte hoffen noch einmal davon gekommen zu sein, tatsächlich war sein Einfluß jedoch bereits entscheidend reduziert. Dies deutete sich auch bei der anschließenden Beratung des ZK mit den nach Berlin gerufenen 1. Bezirksleitungssekretären der SED an. Insbesondere Jahn (Potsdam), Modrow (Dresden) und Chemnitzer (Neubrandenburg) stellten sich gegen den Generalsekretär. In den folgenden Tagen erreichte die Stimmung in den regionalen Parteiorganisationen ihren absoluten Tiefpunkt. Vieles spricht dafür, daß erst nach dem 11. Oktober klar wurde, daß mit Honecker, Mittag und Herrmann eine "Wende" nicht durchzusetzen war und nur noch die Konspiration hinter deren Rücken einen Ausweg bot. Für diesen Weg setzten sich Schabowski, Krenz und Lorenz ein, die persönlich ca. 12 Polibüromitglieder gewannen, unter ihnen Stoph, Tisch, Hager, Krolikowski und zuletzt vermutlich auch Mielke. Schabowski will Kotschemassow telefonisch eingeweiht haben. Nach seinen Angaben legte er dem sowjetischen Botschafter nahe, auf Stoph einzuwirken, bei Honecker dessen Verzicht auch auf das Amt des Staatsratsvorsitzenden zu erzwingen.37 Gewerkschaftsvorsitzender Tisch wurde beauftragt, während seines Aufenthaltes in Moskau sofort Gorbatschow aufzusuchen und diesen von den personellen Veränderungen in Kenntnis zu setzen. Die sowjetische Seite war daher noch vor den entscheidenden Zusammenkünften der SED-Führungsgremien eingeweiht . Schließlich blies Ministerpräsident Stoph, der ansonsten physisch längst überfordert war, auf der entscheidenden Politbürositzung am 17. Oktober zum Angriff. Auf seinen Vorschlag wurde einstimmig beschlossen, dem ZK vorzuschlagen, Honecker, Mittag und Herrmann abzulösen. Die 9. ZK-Sitzung am 18. Oktober konnSiehe Schabowski a.a.O., S. 101.

- 21 te dies nur noch bestätigen. Honeckers Rücktrittserklärung will Schabowski zuvor selbst vorformuliert haben. Der bisherige Generalsekretär, der 18 Jahre amtiert hatte, schlug seinerseits gegen eigene Überzeugung Krenz als Kandidat für die drei wichtigsten Partei- und Staatsämter vor. Doch gegen diese Wahl erhob sich sofort in einigen Grundorganisationen, beispielsweise der Berliner Humboldt-Universität, spontaner Widerspruch. Jetzt mußte Krenz gegen das Mißtrauen der Parteiorgansationen ankämpfen. Dabei waren ihm seine Vergangenheit und die bisher dokumentierte Nähe zum alten Partei- und Staatschef ein unüberwindbares Hindernis. Als Honeckers junger Mann in der FDJ, als Politbüromitglied und Sicherheitschef des ZK seit 1983 bzw. 1984 hatte er eine Reihe von schweren politischen Fehlern begangen. Seine ersten Dialogversuche mit der Evangelischen Kirche und mit Berlinern Arbeitern konnten das Mißtrauen nicht abbauen. Auf der Volkskammersitzung am 23. Oktober übernahm er die beiden wichtigsten Staatsämter, das des Staats- und des VerteidigungsratsVorsitzenden. Es gab 26 Gegenstimmen und Stimmenenthaltungen von jenen im DDR-Parlament, die wie die Liberalen unter Gerlach für eine Ämterteilung eintraten. Die Krenz-Schabowski-Führung verlor schnell an Massenbasis. Was zwei Monate zuvor noch als ein positives Signal gewirkt hätte, nämlich der Sturz Honeckers, kam nun zu spät und erschien allein durch die neuerliche Ämterhäufung des Nachfolgers wie eine Neuauflage des bisherigen monistischen Systems. Am 4. November hielten 400.000 Berliner der Partei den Spiegel vor. Bekannte Schriftsteller und Schauspieler (Heym, Chr. Wolf, Spira), aber auch belastete Reformprotagonisten wie der ehemalige MfS-General M. Wolf gaben ihrer Hoffnung Ausdruck, die DDR sei zu erneuern und zu retten. Überwiegend wurde von den Demonstranten Mißtrauen gegen Krenz ausgedrückt. Ihre Forderungen nach freien Wahlen, freien Medien und der Aufgabe des Führungsanspruchs der Partei ließen sich aber mit einer demokratisch-sozialistischen DDR vereinbaren, denn noch hielt die Mauer. Die neue Parteiund Staatsführung war zu diesem Zeitpunkt weit davon entfernt,

- 22 den Ernst der Lage wirklich zu begreifen, den Anspruch der SED auf gesellschaftliche Führung aufzugeben. Die Ereignisse am Rande der 10. ZK-Tagung vom 8. bis 10. November, auf welche wir später zurückkommen, veränderte die Ausgangssituation jedoch völlig.

3• Opposition und Widerstand Die gesellschaftliche Frustration und Depression hatte sich in sprunghaft steigenden Ausreiseanträgen niedergeschlagen, die zuletzt vermutlich die Zahl 120.000 überstiegen. Der Ausreisedruck, die Forderung "Wir wollen raus" stellt den eigentlichen aktuellen Auslöser der Revolution in der DDR dar. Dies wird heute oftmals vergessen, paßt aber in das tatsächliche Bild der schon damals antizipierten Auflösung der DDR als des zweiten deutschen Staates. Während der Ausreisedruck seinem ersten Gipfelpunkt zustrebte und Ungarn am 11. September die Grenzen völlig öffnete38, wurden im September/Oktober 1989 ein halbes Dutzend neuer oppositioneller Vereinigungen gegründet. Noch am 1. Oktober, als Krenz (wie zuvor Schabowski und Modrow) in Peking die Gemeinsamkeit von DDR und Volksrepublik China pries, suchte die DDR-Staatssicherheit Gründungstreffen oppositioneller Gruppen zu verhindern. Zuvor jedoch, schon am 25 September, hatten sich erstmals 5.000 Menschen nach den Friedensgebeten in der Leipziger Nikolaikirche zu einem Demonstrationszug formiert. Eine Woche später waren es schon 20.000 Menschen, am 9. Oktober demonstrierten bereits 70.000 und am 16. Oktober 120.000 Leipziger Bürger, die sich zuletzt nach wiederkehrenden Friedensgebeten in fünf Kirchen auf dem Leipziger Ring versammelten.

38

Zu dem Konflikt dar SED-Führung mit der ungarischen Regierung siehe: Wie "befreite" Ungarn die DDR?, in: Budapester Rundschau, Nr. 19,1990, S. 4.

- 23 Tatsächlich hatte es schon in den siebziger und zu Beginn der achtziger Jahre seitens der Evangelischen Kirche und einzelner kleinerer Gruppen Forderungen nach Einhaltung der Menschenrechte gegeben. Eine wichtige Rolle spielte hierbei die auch von der DDR unterschriebene KSZE-Schlußakte, auf welche sich die Kritiker bei ihren Forderungen berufen konnten. Allerdings hatten sich die oppositionellen Gruppen zuvor nicht als Gegner des Systems definiert.39 vielmehr setzten sie nur auf einen friedlichen und lange Zeit auch auf einen systemimmanenten Wandel des Sozialismus, wobei nach 1987 insbesondere die Reformen in der Sowjetunion inspirierend wirkten.4^ Das Selbstbewußtsein der mutigen, kleinen oppositionellen Gruppen wurde gefestigt, als sich eine gewisse Unsicherheit im staatlichen Apparat, das heißt in der Verfolgung kritischer Manifestationen im Vorfeld des Honecker-Besuchs in der Bundesrepublik im September 1987 einstellte. Als der Staatsratsvorsitzende seine lange verfolgte Absicht realisiert hatte, nahmen die Unterdrückungsakte nachweisbar zu. Aufmüpfig hatten sich unüberhörbar bereits junge Musikanhänger in der DDR gezeigt, als sie bei einem Open-AirFestival, das im Juni 1987 West-Berlin in stattfand, auf Ostberliner Seite ausriefen: "Die Mauer muß weg."41 Auch das Vorgehen der Polizei bei der Räumung der Zionsgemeinde im November 1987 und bei Demonstrationen am Rande des befohlenen Massenaufmarsches zum 69. Jahrestag der Ermordung von Luxemburg und Liebknecht am 15. Januar 1989 vermehrten den gesellschaftspolitischen Sprengstoff und verschärften die Lage durch widersprüchlichen Sanktionsvollzug. 39

Vgl. besonders H. Knabe, Neue soziale Bewegungen im Sozialismus. Zur Genesis politischer Orientierung in der DDR, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 40. Jahrgang, 1988, S. 527-550; ders., Politische Opposition in der DDR. Ursprünge, Programmatik, Perspektiven, Anm. 2; ders., Neue soziale Bewegungen. Zur Enstehung und Bedeutung alternativer Gruppen im Sozialismus, in: Kirche im Sozialismus, No. 1, Februar 1989, S. 14-16; Interview mit M. Stolpe, Es muß erkennbar sein, daß die Schnecke sich bewegt; in: Kirche im Sozialismus, No. 5, Oktober 1988,173176.

40

Fred Oldenburg, Repair or Reform, Berichte des BlOst, Nr. 53, 1988 und Correlations between Soviet and GDR Reforms, in: Studies In Comperative Communism, Jahrgang 22, No. 1, Spring 1989, S. 77-91.

41

Vgl. Der Spiegel, Nr. 25,1987, S. 111ff.

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Unterstützt wurden die neuen Bewegungen durch die Evangelische Kirche, die ab 1987 in der Kirchenpresse sowie auf ihren Synoden und Kirchentagen immer deutlicher zugunsten von Reformen Stellung nahm.42 Die entscheidende Politisierung der DDR-Gesellschaft ging von den Krenz zugeschriebenen Fälschungen der Kommunalwahlergebnisse vom 7. Mai 1989 aus. Überall bildeten sich neue Kristallisationskerne des Widerstands. Schon zuvor hatten sich aus Vertretern der "Kirche von unten", der "Initiative Frieden und Menschenrechte" und anderen kleineren Gruppen engagierte Kontrollgruppen gebildet, die die Kommunalwahl überprüfen wollten. Die offiziellen Wahlausschüsse behinderten jedoch diese Versuche und erhöhten die Verbitterung. Schließlich mußte die Stellungnahme der Volkskammer zugunsten der Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking einen Monat später als ein deutlicher Hinweis darauf interpretiert werden, wie die SED-Führung auf die selbstbewußter agierenden Gruppen zu reagieren gedachte. Doch nun begann sich der Protest erst recht zu organisieren. Im Juni 1989 konstituierte sich der Initiativkreis Demokratischer Aufbruch (offizielle Gründung am 30. Oktober 1989).43 i m juli folgte ein Initiativkreis Sozialdemokratische Partei, der die SDP offiziell am 7. Oktober in Schwante bei Oranienburg aus der Taufe hob. Im September 1990 gründeten sich Gruppen der "Vereinigten Linken", die sich eine Böhlener Plattform gaben. Wich42

Zum Verhalten der Kirche siehe u.a. Werner Krusche, Zwischen Anpassung und Opposition. Gespräch über den zurückliegenden Weg der "Kirche im Sozialismus", in: Übergänge (früher: Kirche im Sozialismus), Nr. 2, April 90, S. 51-56, J. Lohmann, Gratwanderung. Die Rolle der Kirchen in den vergangenen Jahrzehnten, in: Kirche im Sozialismus, 1, Februar 1990, S. 7-21; H. Falcke, Stellvertretendes Handeln, "Kirche im Sozialismus" am Beispiel der DDR, in: a.a.O., Nr. 6, Dezember 1989, S. 232-238; Zur SED-Strategie gegenüber den Kirchen siehe insbes. Die Ekklesiologie des Erich Mielke. Stasi-Dokumente und kirchliche Vergangenheitsbewältigung, in: Übergänge, Nr. 2, April 1990, S. 70-75. Siehe u.a. W. Kühnel, J. Wiegholz, M. Schulz, Die neuen parlamentarischen Gruppierungen auf dem Weg vom politischen Protest zur parlamentarischen Interessenvertretung. Soziale Bewegungen im Umbruch der DDR-Gesellschaft, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 1, 1990 (Mai), S. 22-37. Für die spätere Entwicklungen siehe auch P. R. Weilemann u.a., Parteien im Aufbruch. Nichtkommunistische Parteien und politische Vereinigungen in der DDR vor der Volkskammerwahl am 18.3.1990, Deutschland-Report. Hrsg. im Auftrag der Adenauer Stiftung, No. 8, Melle 1990.

- 25 tigste Bürgerbewegung war aber lange Zeit das Neue Forum, welches am 9. September 1989 an die Öffentlichkeit trat. Die Stärke des Forums schien darin zu liegen, daß es keine Partei, sondern stets nur eine Plattform für den kritischen Dialog aller politikinteressierten und engagierten Bürger sein wollte. Drei Tage später gründete sich die Bewegung Demokratie jetzt. Typisch war, daß alle neuen Bewegungen und späteren Parteien sich anfangs durchaus der sozialistischen Gesellschaft verpflichtet fühlten. Auch die Perspektive der Zweistaatlichkeit wurde erst einmal aufrechterhalten. Das Bündnis 90 und andere linke Gruppen hielten sogar bis nach den Volkskammerwahlen im März 1990 hieran fest. Noch auf der großen Berliner Demonstration am 4. Novmber 1989 gab es vereinzelte Transparente, die einen anderen Sozialismus forderten und sich gegen die westliche Konsumgesellschaft aussprachen. Zu dieser Zeit vereinte aber alle Gruppen die Forderung nach freien Wahlen, der Kampf gegen die SED und die Staatssicherheit. Nach der Öffnung der Mauer und Kohls 10Punkte-Plan vom 28. November rückte jedoch die Vereinigung Deutschlands in den Vordergund, und die Gruppen mußten sich letztlich schnellstens für oder gegen den Weg zur Einheit und zur Marktwirtschaft entscheiden. Dies war übrigens auch für die Zukunft der alten Blockparteien von größter Bedeutung, bei denen zuerst vom LDPD-Vorsitzenden Gerlach, dann auch aus Kreisen der CDU-Mitgliedschaft Distanz zur SED formuliert wurde. Die oppositionellen Gruppen aber, die sich zumeist aus Intellektuellen speisten, hatten die Speerspitze der Revolution gebildet. Sehr bald stellte sich die Frage, ob diese couragierten Gruppen aus eigener Kraft zu einem schnellen Neuanfang überhaupt in der Lage waren. Ihre Chancen waren nach 40 Jahren des real existierenden Sozialismus und angesichts der nationalen Teilung von vornherein mehr als gering. Nach wie vor maßen die DDR-Bürger ihre Lebensrealität an denen ihrer Verwandten und Freunde in der Bundesrepublik. Auch in der DDR fraß die Revolution erneut ihre Kinder. Die Revolutionäre der ersten Stunde wurden von den "Massen", die sie nie verstanden und nur kurzfri-

- 26 etig repräsentiert hatten, beiseite geschoben. In provokanter Anlehnung an Marx könnte man formulieren: Die materiellen Interessen werden zur bestimmenden Gewalt, wenn die Massen befreit sind.

4. Der Weg in die deutsche Einheit 4.1 Die SED und die Öffnung der Mauer Die Darstellungen der Umstände, die zur Öffnung der Berliner Mauer führten, sind nach wie vor widersprüchlich. Wie bereits bei den Ereignissen des 9. Oktober möchten sich verschiedene Personen hierfür das Verdienst zuschreiben. Dennoch läßt sich inzwischen ein roter Faden auffinden, der dieses die Situation in Mitteleuropa und darüber hinaus revolutionierende Ereignis verständlich macht. Es scheint unwahrscheinlich: Trotz vierzig Jahre praktiziertem "wissenschaftlichen Sozialismus", einem auf Linie getrimmten und geschulten Kaderstamm und einem stets geschärften Krisenbewußtsein scheint der "Zufall", jener völlig unwissenschaftlich agierende Akteur, verantwortlich zu sein, verantwortlich letztlich für die Wiedervereinigung Deutschlands. Alle bisherigen Grundannahmen über "Stabilität in Europa", über "Wandel durch Annäherung" wurden in wenigen Stunden über den Haufen geworfen. Anfangs war seitens der neuen Krenz-Führung wegen der zunehmenden Ausreisewelle, die sich zu dieser Zeit über das "sozialistische Ausland", insbesondere über Prag Bahn brach, nur an eine Vereinfachung der Ausreiseregelung gedacht worden. Und auch nur diese war zuvor mit dem sowjetischen Botschafter in Berlin, Kotschemassow, besprochen worden. Über eine Öffnung der Berliner

- 27 Mauer wurde mit sowjetischen Diplomaten nicht diskutiert.44 Sie erfolgte, das scheint heute ziemlich sicher, unter dem Druck der Berliner Bevölkerung irrtümlich und in Panik der Parteiund Sicherheitsverantwortlichen. Am 6. November wurde ein vom Ministerrat vorgelegter Entwurf des Gesetzes über "Reisen ins Ausland" publiziert. Dieser Gesetzentwurf, der ein Vierteljahr zuvor die Lage in der DDR noch entspannt hätte, verschärfte diese nunmehr noch zusätzlich, denn er war an zu viele bürokratische Vorbedingungen geknüpft. So konnte die Erteilung eines Visums für DDR-Bürger verweigert werden, "wenn dies zum Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, der Gesundheit oder Moral oder der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist".4^ Am 7. November trat das Politbüro zusammen und mußte sich erneut der zornigen Kritik der Bürger, noch mehr aber des Drucks aus der CSSR erwehren, wo Zehntausende ihre Besuchsmöglichkeiten - wie im September über Ungarn - zur Flucht in die Bundesrepublik genutzt hatten. Prag forderte die DDR-Führung mit großer Dringlichkeit auf, dieses Problem zu lösen und nicht auch noch die CSSR vor der internationalen Öffentlichkeit vorzuführen und zu ihrer Destabilisierung beizutragen. Parteichef Jakes kündigte an, er werde seinerseits die Grenzen schließen. Das SED-Politbüro lehnte noch am 7. November Vorschläge ab, Ausreisewillige ohne Prüfung direkt aus dem Lande zu lassen. Es verwarf aber auch Überlegungen, einen zusätzlichen "antifaschistischen Schutzwall" zu den Nachbarrepubliken zu errichten. So beauftragte es am gleichen Tag den gerade zurückgetretenen Ministerratsvorsitzenden Stoph, einen neuen Reisegesetzentwurf vorzulegen. Recherchen des Spiegel-Reporters Cordt Schnibben ergaben, daß am Morgen des 9. November zwei hochrangige Mitarbeiter des Ministerium des Innern (Mdl) 44

Das war aus persönlichen Gesprächen des Autors mit damaligen SED-Spitzenpolitikern und Kontakten mit Beratern des sowjetischen Außenministeriums zu entnehmen. Siehe auch M. Wolf, a.a.O., S. 185, der diesen Eindruck stützt.

45

Vgl. Neues Deutschland, 6.11.1989.

- 28 mit zwei weiteren des MfS zusammengespannt wurden, um ein neues Papier unter der Überschrift "Unverzügliche Visaerteilung für ständige Ausreisen" vorzulegen. Nach Darlegungen des Hauptabteilungsleiters für Paß- und Meldewesen im Mdl, Lauter, hätten alle vier jedoch einen "Passus über Privatreisen" in den Entwurf eingeschmuggelt, weil sie die ursprünglich beabsichtigte Begrenzung auf Ausreisen für "schizophren" hielten.4^ Der mit heißer Nadel gefertigte Entwurf wurde dem Politbüro während der Mittagspause des 9. November 1989 zugeleitet, wo dieses offensichtlich konfuse Gremium lediglich durch "Kopfnicken beim Kaffee" am Rande der 10. ZK-Tagung zustimmte. Gegen 17 Uhr verlas Krenz nahezu beiläufig und unter Abweichung von der Tagesordnung u. a. folgenden Passus: "Ab sofort treten folgende zeitweilige Übergangsregelungen für Reisen und ständige Ausreisen aus der DDR in das Ausland in Kraft: •»•

2.a) Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Versagungsgründe werden nur in Ausnahmefällen angewandt. b) Die zuständigen Abteilungen Paß und Meldewesen der Volkspolizeikreisämter in der DDR sind angewiesen, Visa für die Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne daß dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen. ... c) Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu Berlin (West) erfolgen.

m

Vgl. C. Schnibben über den "historischen Irrtum, der den Deutschen die Einheit bescherte", Der Spiegel, Nr. 41 vom 8.10.1990, S. 104.

- 29 d) Damit entfällt die vorübergehende Erteilung von entsprechenden Genehmigungen der Auslandsvertretetungen der DDR bzw. die ständige Ausreise mit dem Personalausweis der DDR über Drittstaaten. 3. Über die zeitweiligen Übergangsregelungen ist die beigefügte Pressemitteilung am 10. November zu veröffentlichen."4^ Während das Zentralkomitee die Beratungen des zweiten Plenumtages fortsetzte, eilte Schabowski zu einer internationalen Pressekonferenz, um mit dem Einverständnis von Krenz "über die neuen Regelungen zum Reiseverkehr" zu berichten.*8 o e r Leser sollte jedoch an dieser Stelle beachten, daß Privatreisen "nach dem Ausland" auch weiterhin beantragt werden mußten und genehmigungspflichtig waren. Von einer den Reiseverkehr von Ost- nach West-Berlin betreffenden Regelung war nur im Zusammenhang mit "ständigen Ausreisen" die Rede. Der neue Medienverantwortliche trat nach 18 Uhr im Pressezentrum in der Mohrenstraße vor die internationale Presse und informierte über den bisherigen Verlauf der ZK-Tagung. Danach teilte Schabowski in flinker Sprache mit, daß die Regierung auf Veranlassung des Politbüros einen "Vorgriff auf das Reisegesetz entworfen" habe. Die Krenzerklärung war unter seine ZK-Tagungsnotizen gerutscht. Ein Mitarbeiter bemühte sich erfolgreich, sie aufzufinden. Schließlich hörten die aufgeschreckten Medienvertreter von dem unsicher über seine Lesebrille ins Auditorium schauenden Schabowski: "daß man aus dem Entwurf des Reisegesetzes den Passus in Kraft treten läßt, der die ständige Ausreise regelt, also das Verlassen der Republik". Als ein Pressevertreter den Berliner Parteichef befragte, ob dies auch für Reisen nach West-Berlin gelte, bejahte Schabowski dies nach leichtem E. Krenz, Wenn Mauern fallen, a.a.O., S. 180f.; Schabowski, a.a.O., S. 134ff. Krenz, ebenda, S. 182.

- 30 Zögern. Ihm fehlte die Phantasie, sich auszumalen, was sich unvermeidlich für Konsequenzen einstellen müßten. Lediglich der Gedanke, ob dies nicht alles den Vier-Mächte-Status und somit die Rechte der Sowjets betreffe, plagte nach eigenen Angaben den neuen Medienzuständigen.*^ Schabowski übersah, daß er sich so detailliert erst am kommenden Tag hätte äußern sollen, aber er begrenzte seine Ausführungen pflichtgemäß auf Ausreisen. So stellte es auch das "ZDF-heute Journal" in seiner Sendung um 21.45 Uhr dar. Doch nun machten sich Tausende und schließlich Zehntausende, nicht nur aus Ost-Berlin, sondern auch aus den Berliner Randgebieten auf den Weg und drückten auf die Mauer. Zu dieser Zeit, d.h. nach 22 Uhr, jagte der Mdl-Abtelungsleiter Lauter ein Fernschreiben an die Bezirks- und Kreisbehörden hinaus, welches die Gewährung von Privatreisen regeln sollte. In diesem Fernschreiben war zu lesen: "Zur Beantragung der Reise sind vom Bürger zwei Anträge und eine Zählkarte entgegenzunehmen. Die Bearbeitungszeit richtet sich nach den Reisewünschen der Bürger. Die Übergabe der Zählkarte an das Ministerium für Staatssicherheit entfällt."50 Doch noch in der Nacht nahm der Druck auf die Grenzübergänge gefährliche Ausmaße an. Staatssicherheitsoffiziere sollen nach einigem Zögern, so übereinstimmende Berichte von "Neues Deutschland" und "Spiegel TV", die Öffnung in Berlin eigenmächtig angeordnet haben.51 Laut "Neues Deutschland" hätte bei der NVA, den Grenztruppen und der Staatssicherheit niemand etwas von einem Befehl des damaligen Generalsekretärs gewußt. Krenz hat dieser Darstellung sofort widersprochen und darauf verwiesen, kein ernsthafter Mensch könne annehmen, "daß die Schlagbäume sich in Berlin und an der deutsch-deutschen Grenze überhaupt ohne zentrale Entscheidung geöffnet" hätten.52 Diese Darstellung er49 50 51 52

DDR-Fernsehen, 9.11.1989, ca. 19 Uhr. Schabowski-Interview, in: Der Morgen, 7.12.1990. Zitiert nach C. Schnibben, a.a.O., S. 109. Vgl. Neues Deutschland, 3./4.11.1990 und RTL, 4.11.1990, 21.50 Uhr. AP, 5.11.1990.

- 31 scheint jedoch in der Retrospektive und unter Berücksichtigung des damaligen Chaos nur bedingt glaubhaft. Schon am 10. November habe nach Darstellung Schabowskis im ZK Katerstimmung geherrscht. Krenz und Mielke hätten gefragt: "Wie konnte das passieren?'^ Krenz soll nach Angaben des "Spiegel" auch von Gorbatschow kritisch befragt worden sein, da die Folgen der Berliner Maßnahmen sowjetische Interessen unmittelbar verletzt hätten.54 Verlautbarungen des ehemaligen DDR-Verteidigungsministers Eppelmann, der damalige Verteidigungsminister Keßler habe am 11. November mit Hilfe der um Berlin stationierten 1. Mot-SchützenDivision die Berliner Mauer wieder schließen wollen und sei dabei am Widerstand des Haupstabes der NVA gescheitert, sind angesichts widerstreitender Darstellungen zur Zeit von hier aus nicht zu klären.55

4.2 Erfolglose Stabilisierungsversuche Seinerzeit schien sich die Mehrheit der neuen SED-Führung dennoch kurzfristig der Illusion hinzugeben, als Folge der Grenzöffnung sei eine gewisse Beruhigung der Bevölkerung zu erwarten. Die Konsequenzen des Mauerabbruchs wurden anfänglich nicht völlig verstanden. In einer Erklärung vor der Volkskammer am 17. November kündigte Modrow Reformen einer erneuerten DDR an, erteilte jedoch der Wiedervereinigung noch eine klare Absage.56 Mitte November aber hatten sich schlagartig die Themen der Umzüge geändert. Erstmals auf der Großdemonstration in Leipzig am 22. November 1989 wurde der Ruf nach deutscher Wiedervereini-

Schabowski, a.a.O., S. 139. Der Spiegel, Nr. 18/1990, S. 208. Eppelmann-Interview, Die Welt, 10.7.1990. Neues Deutschland, 18.11.1989.

- 32 gung lautstark vorgetragen. Er wurde auch an anderen Orten, wenn auch zögerlicher, aufgenommen. Eine neue Opposition gewann langsam an Selbstbewußtsein. Die Blockparteien, bisher Satrapen der SED, mußten immer weiter auf Distanz zur Staatspartei gehen, um überhaupt noch eine Überlebenschance zu haben. So gewann auch das Parlament, bisher ein Abstimmungsverein ohne Haftung, unter der am 18. November neugebildeten Regierung Modrow an Leben. Zuvor, am 14. November war die Pressezensur aufgehoben worden. In jener Situation begannen nun die DDR-Medien ihre Rolle als Kontrollorgane der Öffentlichkeit neu zu definieren. Sie deckten immer selbstbewußter die unglaublichen Vergehen der machtverliebten, korrupten Parteioberen auf, die anfänglich nach und nach verhaftet werden mußten. Waffenschiebereien im Norden der DDR wurden aufgedeckt, Korruptionsfälle und Nepotismus enthüllt. Um so mehr mußte die SED den überall galoppierenden Reformforderungen nachgeben, freilich ohne dadurch an Überzeugungskraft nach außen oder innen zu gewinnen. Am 1. Dezember strich die Volkskammer die "führende Rolle der SED" aus der seit 1968 geltenden DDR-Verfassung. Anfang Dezember kündigte der "Demokratische Block" der SED auch offiziell die Gefolgschaft. Nach 44 Tagen wurde endlich am 3. Dezember der glücklose Krenz, der zuvor das Politbüro gesäubert und umgebildet hatte, von seinem Posten als Generalsekretär abgelöst. Die alten Strukturen der SED wie Politbüro, Sekretariat und Zentralkomitee zerbrachen. Als Staatsratsvorsitzender trat an die Stelle von Krenz der damals erste "Liberaldemokrat" des Staates, Manfred Gerlach, ein Mann, der lange Zeit ein intelligenter Diener seiner Herren gewesen war, jedoch als einer der ersten der Blockparteienpolitiker die Zeichen des Umbruchs erkannt hatte. Unter dem neuen Parteichef Gysi und Ministerpräsident Modrow, letzterer ein Mann, den Gorbatschow und Jakowlew im geheimen favorisiert hatten, versuchte die SED-PDS als reform-kommunistische Partei die politische Initiative zurückzugewinnen. Mittels

- 33 der Apparate und der Medienvormacht hoffte sie, bei gleichzeitiger Behinderung westdeutscher Wahlkampfunterstützung für die oppositionellen Parteien in der Vorhand zu bleiben und schließlich doch noch bei den zunächst für den 6. Mai anberaumten Volkskammerwahlen als Sieger durchs Ziel zu gehen. Ebenso suchte die Staatspartei durch die Umwidmung des Staatssicherheitsdienstes in einen Nationalen Sicherheitsdienst (Nasi) und endlich in einen DDR-Verfassungsschutz ihre Kontrolle über die Gesellschaft zu erhalten. In beiden Fällen war die Opposition wachsam. Eine wirkliche gesellschaftliche Erneuerung war jedoch nicht gelungen. Obwohl mit der totalitären SED nicht identisch, blieb die PDS nahezu ebenso diskreditiert wie der gesamte "reale Sozialismus", ist jedoch mit ca. 300.000 Mitgliedern und ihren vielgestaltigen Seilschaften in den verschiedenen Bereichen der fünf neuen Bundesländer ein nicht zu unterschätzender Faktor. Zu einem neuen Machtzentrum im politischen System entwickelte sich vorübergehend zwischen dem 7. Dezember 1989 und 12. März 1990 der im Schloß Niederschönhausen tagende "Runde Tisch".57 Seine Schwäche war seine sich überwiegend auf Berlins politische Konstellation konzentrierende Linkslastigkeit. Mit seiner Entscheidung, freie, geheime und gleiche Wahlen für den 6. Mai 1990 anzuberaumen, setzte er jedoch die Rahmenbedingungen für eine grundlegende Veränderung des politischen Systems. Der "Runde Tisch", so wenig profihaft die neuen anwesenden oppositionellen Parteien und politischen Vereinigungen an ihm auch agierten, erwies sich besonders bei der Aufdeckung der Macht der Staatssicherheit, bei der Formulierung eines Wahlgesetzes, eines Mediengesetzes und weiterer Schlüsselprojekte als Anwalt

Siehe U. Thaysen, Der Runde Tisch. Oder: Wer war das Volk? Teil I, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 1, Mai 1990, S. 71-100.

- 34 der Gesellschaft. Zusammen mit der Regierung Modrow vermochte er es, den Zorn der Bürger zu kanalisieren und Gewaltausbrüche zu vermeiden. Dennoch gelang es nicht, die rasche Talfahrt der DDR aufzuhalten. Der ständige Hinweis, die Regierung habe ohnehin keine Legitimation sowie die Aufdeckung einiger wichtiger Schwachstellen der Politik Modrows führten dazu, daß die nachrangigen Bezirksorgane die Arbeit dilatorisch ausführten. Der Ministerpräsident selbst versuchte, durch eine Reihe von Manipulationen alte Strukturen zu retten und erwies sich keineswegs als die von vielen erhoffte energisch-reformerische Persönlichkeit. Ohnehin wurde oftmals nicht berücksichtigt, daß Modrow selbstverständlich ein überzeugter, wenn auch kein korrupter Kommunist gewesen ist.58 Nicht zu übersehen war, daß die Menschen auf der Straße es sowohl in der Gemeinde als auch im Betrieb mit den gleichen unglaubwürdigen Parteifunktionären wie in den Jahrzehnten zuvor zu tun hatten und der "Wende" mißtrauten. Die Situation spitzte sich im Januar 1990 verschiedentlich gefährlich zu. Auch ein Gegenschlag der Sicherheitskräfte und der mit ih-nen verbundenen Funktionärsklasse wurde nicht mehr ausgeschlossen, waren doch diese Kräfte in ihrem Lebensnerv getroffen. Ende Januar war die Regierung Modrow am Ende. Auf Anregung des damaligen Ost-SPD-Vorsitzenden Böhme hatten sich die Blockparteien und Modrow bereits am 28. Januar darauf geeinigt, die Volkskammerwahlen vom 6. Mai auf den 18. März vorzuverlegen. Die Allianz für Deutschland, eine Verbindung von CDU, Demokratischer Aufbruch und Deutsche Soziale Union, gewann 48,2, davon die CDU 40,9 Prozent. Auf den zweiten Platz, mit 21,9 Prozent, kam die zuvor von den Meinungsforschern zu Unrecht favorisierte Sozialdemokratische Partei. Die Partei des Demokratischen SoziaEine einseitig positive Würdigung des ehemaligen Ministerratsvorsitzenden Hans Modrow aus der Feder eines seiner persönlichen Referenten K.H. Arnold, Die ersten hundert Tage des Hans Modrow, Berlin-Ost Mai 1990.

- 35 lismus, die frühere SED, erreichte mit 16,3 Prozent ein erwartet gutes Ergebnis. Das liberale Bündnis bekam 5,3 und das Bündnis 90 sogar nur 2,9 Prozent. Die Menschen wählten entsprechend ihren Interessen, ihr gesellschaftliches Sein bestimmte ihr Bewußtsein. Diejenigen, die von den Kommunisten am meisten getäuscht und betrogen worden waren, die angeblich herrschende Arbeiterschaft, gab zu 59 Prozent ihre Stimme der CDU. Die DDR-spezifische Intelligenz dagegen favorisierte mit 26 Prozent die PDS, nur zu 24 Prozent die CDU, knapp vor der Sozialdemokratie mit 23 Prozent. Somit wurde die in den ostdeutschen Ländern typische Bindung der Industriearbeiterschaft an die Linke gesprengt. In Sachsen und Thüringen, die vor 1933 linke Hochburgen darstellten, erhielt die konservative Allianz sogar mit 6o bzw. 58 von Hundert die absolute Mehrheit. In seiner Regierungserklärung vom 19. April wertete der neue Ministerpräsident Lothar de Maiziere (CDU) die Wahl als "Ja zur Einheit".

5. Die Strukturelemente der Krise 5•1 Der genetische Defekt Die Hypothese lautet: Die DDR ist an ihrem genetischen Defekt, am parteimonopolistischen System und an der Staats- und Wirtschaftsorganisation entsprechend den kodifizierten Lehren des Marxismus-Leninismus zugrunde gegangen, dem gleichen Defekt, dem sie freilich überhaupt ihre Existenz verdankt. Der Zeitpunkt des Zusammenbruchs des politischen Systems in Osteuropa war nicht prognostizierbar, doch er lag in der allgemeinen Krise des Kommunismus angelegt, die Gorbatschow zu überwinden suchte, in der Tat aber vertiefte. Schon Marx und Engels können nicht von den späteren Fehlentwicklungen freigesprochen werden. Ihre einseitige Anthropologie, ihre frühe Abwertung der

- 36 bürgerlichen Gesellschaft und Überbetonung der Klassen und Klassenkämpfe bis hin zur "Diktatur des Proletariats" als Durchgangsstadium zu einer kommunistischen Endzeitgesellschaft schufen die ungewollte Grundlage dafür, daß die sowjetischen und die ihnen nachgeordneten internationalistisch verbundenen Kommunisten ihren Staat nach der Umwälzung bewußt als Gegenbild zur zivilen Gesellschaft des Westens programmierten, auch wenn sie ihn stets als eine Übergangsform der Vollendung der demokratischen durch die soziale Revolution legitimierten. Marx' an sich emanzipatorischer Ansatz, das Individuum aus der Entfremdung in die Kongruenz von Wesen und Existenz der Gattung zu führen, beinhaltete im Rahmen bestimmter historischer Gegebenheiten eine Totalität, die in unvorhergesehener Weise die Trennung von Gesellschaft und Individuum aufhob. Die von Rousseau und den späteren Anhängern des "terreur" in der französischen Revolution überkommene Verachtung gesellschaftlicher Mediation, bürgerlicher Freiheiten und des demokratischen Staates verbunden mit der Praxis der russischen Narodniki überlagerte den Marxschen Grundansatz personaler Befreiung und der Bewahrung und "Aufhebung" demokratischer Regierungsgrundsätze. Die Anbetung der Organisation, das Verbot von Opposition, die Herausbildung der Bürokratie, die allgemeine Intoleranz durch Lenin unter den Bedingungen des Sozialismus in einem unterentwickeltem Lande schufen die Grundlagen für den Übergang von der autoritären zur totalitären Herrschaft. Stalin hat, wie Lenin zuvor, bei seinem ideologischen Vorbild angelegte Theoreme überinterpretiert und mit einem reichlichem Maß an Terror abgesichert. Die qualitative Kanalisierung des genetischen Defekts schließlich durch Breshnew und unter den dialektischen Bedingungen des Ost-West-Konflikts (Militarisierung kommunistisch regierter Gesellschaften) wie der Ost-West-Zusammenarbeit (partielle Anbindung an den Kapitalismus) bereiteten den Boden für ständige Reformverhinderung und somit schließlich für die Stagnation. Gorbatschows Sanierrngsmaßnahmen trafen nur noch einen historisch Sterbenden, dessen Vegetieren durch bisher halbherzige Maßnah-

- 37 men verlängert werden kann, aber dessen Untergang unvermeidlich scheint. Die realsozialistischen Länder suchten systemsprengende Reformen hinauszuschieben, indem sie seit Ende der sechziger Jahre durch eine begrenzte Dialogpolitik westliche Hilfe importierten und dadurch zwingende strukturelle Anpassungen an die wissenschaftlich-technische Revolution versäumten. Unter den sich weltwirtschaftlich verschlechternden Reproduktionsbedingungen mußte sich die permanente Ausschaltung oder Umgehung signifikanter Signale früher oder später als tödlich erweisen. Von noch grundlegenderer Bedeutung war, daß sich die amerikanische Neo-Containment-Politik der Herausforderung "Wer-Wen" mit großer Konsequenz stellte, und die Expansion der UdSSR deren eigene wirtschaftliche Potenz überforderte. So wurde unter Gorbatschow die Perstrojka und das "neue Denken" ein objektiv notwendiger Vorgang, dessen subjektiver Faktor der Einbau der "institutionalisierten Gegenelite" des früheren Andropow-Zirkels aus den Jahren nach dem XX. KPdSU-Parteitag in das Herrschaftssystem der UdSSR bildete. Zweimal ist in diesem Jahrhundert versucht worden, eine Antwort auf die etablierte bürgerliche Gesellschaft zu finden. Zweimal ist diese Antwort (das Einparteisystem), die zwar ideologisch unterschiedlich begründet, strukturell aber sehr ähnlich organisiert worden ist, gescheitert. Im Fall des Nationalsozialimus und Faschismus lag dieses Scheitern letztlich in der nach außen gerichteten Aggressivität der Rassen- und Lebensraumidee begründet, die einen Konflikt mit anderen Großmächten und eine relativ rasche Niederlage unvermeidlich machten. Im Falle des Sozialismus sowjetischen Typs erfolgte jedoch keine Überwältigung von außen, sondern eine Implosion durch innere Morbidität. Diese Spielart des Sozialismus konnte sich nicht selbst stabilisieren, obwohl man hätte davon ausgehen können, der jeweilige nationale Partei-, Staats- und Sicherheitsapparat habe nach mehr als vierzig Jahren ein unzerstörbares Netzwerk von Interessen, Loyalitäten und Überwachungsmechanismem geknüpft, das auf eigener Grundlage zu halten vermochte. Dies aber hat sich nicht be-

- 38 wahrheitet, wenigstens nicht in Ländern einer bestimmten europäischen Tradition. Die kommunistische Diktatur in den Staaten des Warschauer Pakts implodierte offensichtlich int Zusammenhang damit, daß die Hegemonialmacht damals selbst den überkommenen Spätstalinismus abzuwerfen suchte und als regionale Garantiemacht ihren militärischen Schutz für die einstmals von ihr etablierten Regime zurücknahm. Doch selbst in der UdSSR und Jugoslawien, die genuine sozialistische Revolutionen verkörpern, ist bisher die Diktatur prozessual immer mehr von innen ausgehöhlt worden. Eine Rückkehr zu einer milderen Form der Despotie ist in diesen Ländern jedoch keineswegs unwahrscheinlich. In sozialistischen Ländern der dritten Welt, wie in China, Kuba und Nordkorea hat sich das parteimonopolistische System ohnehin bis jetzt gehalten.

5.2 Die SED-Herrschaft als Ausdruck des genetischen Defekts Die Essenz des DDR-Sozialismus vor der "Wende" war die parteimonopolistische Diktatur, die sich zuletzt auf schrumpfender wirtschaftlicher Basis reproduzierte. Seit der Gründung der DDR beruhte die Macht der SED auf ihren Anweisungsrechten gegenüber Staat und Gesellschaft.59 Durch ein ausgeklügeltes Nomenklatursystem wurden alle Bereiche der Gesellschaft unter die Kontrolle der Parteibuchsozialisten gebracht. Alle wichtigen Positionen konnten nur durch Mitgliedschaft in der SED, durch Gehorsam und Unterordnung, Zustimmung und Mitwirkung erreicht werden. Die Institutionen des Staates, aber auch alle Parteien und Verbände mußten sich dem in der Verfassung verankerten Führungsanspruch der SED unterordnen. Unter Honecker verfestigte sich nach dem VIII. Parteitag (Juni 1971) die von Ulbricht implantierten bürokratischen Strukturen weiter. Wie in der UdSSR zu Zeiten BreshEine wichtige Analyse des Systems aus oppositioneller DDR-Sicht noch vor der Wende bei R. Heinrich, Der vormundschaftliche Staat. Vom Versagen des real existierenden Sozialismus, Reinbek bei Hamburg 1989.

- 39 news wurden die Parteifunktionäre praktisch auf Lebenszeit "verbeamtet". Sie waren die gesellschaftliche Grundlage eines absolutistisch agierenden, privilegierten Mehrklassensystems. Ihre gesamtgesellschaftliche Dominanz produzierte, neben bürokratischen Verkrustungen, allgemeinen Opportunismus, der das Herrschaftssystem in ungewöhnlichem Ausmaß lange Jahre stabilisierte. Die neue Funktionselite, unzureichend ausgebildet, einseitig sozialisiert und angepaßt, ersetzte in ständiger Kooptation und Reproduktion ihrer selbst die Funktionseliten einer offenen Gesellschaft. Innere Emigration und Flucht nach Westen beraubte die DDR-Gesellschaft eines wichtigen Erneuerungspotentials. Zudem erzeugte die spättotalitäre Gesellschaft immer wieder das Gefühl gesamtgesellschaftlicher Resignation, aber auch eine obrigkeitsstaatliche Mentalität, die alles von oben oder von außen erwartet. Kennzeichen dieses Systems war andererseits ein überdimensionaler Sicherheitsapparat, der systemdeviantes Verhalten im Keime zu ersticken versuchte, der "flächendeckend" Informationen für die Parteiführung sammelte, Zustimmung zu personellem Auf- oder Abstieg signalisierte, bespitzelte, abhörte und überwachte und allein durch seine schiere Existenz Angst und Gehorsam verbreitete, von den manifesten Unterdrückungsmaßnahmen dieses "alltäglichen Kommunismus" ganz zu schweigen. Dabei war die DDR-Gesellschaft, da sie eben keine eigene nationale Legitimation besaß, in höherem Maße als andere ideologisch aufgeladen. Honeckers zusätzliche Legitimationskrücke war während seiner Herrschaft die Losung von der "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik", die wirtschaftliches Wachstum und gleichzeitig soziale Geborgenheit suggerieren sollte. Fragt man nach den Gründen, warum die SED-Mitgliedschaft nicht frühzeitig gegen den Selbstmordkurs von Honecker und Genossen aufstand, so ist zum einen daran zu erinnern, daß es lange Zeit durchaus nicht sicher war, ob Gorbatschows Perestrojka überhaupt überleben würde - und es ist heute weniger sicher denn jemals zuvor.

- 40 Zweitens stand erfahrenen Stalinisten stets vor Augen, daß Gorbatschows Kurs sowohl zur Ruinierung des Kommunismus als auch der sozialistischen Gemeinschaft und damit der ideologischen und sicherheitspolitischen Grundlagen der SED-Herrschaft und der DDR führen könne. Sie hielten die Mitglieder der sowjetischen Führungsgruppe für politische und wirtschaftliche Dilettanten, die alles mit Gewalt und List Errungene aufs Spiel setzen, den "Sozialismus" unwillentlich - wenn sie nicht Schlimmeres vermuteten - auf den Kehrichthaufen der Geschichte werfen würden. Ihre Linie war daher, den Fall der Perestrojka abzuwarten, Kurskorrekturen allenfalls vorsichtig einzuleiten und sich wie zwischen 1983 und 1985, durch Moskaus Experimente nicht von dem als richtig erkannten Kurs in die Irre führen zu lassen. Letztlich haben diese Analytiker keineswegs Unrecht gehabt, als sie vor den Folgen der Politik des sowjetischen Generalsekretärs warnten. Es ist durchaus fraglich, ob ein frühes Einschwenken auf den Reformkurs Moskaus die DDR gerettet hätte. Zum dritten ist an die tief verwurzelte Disziplin kommunistischer Parteien zu erinnern. Die Vergottung der Parteiführung, blindes Vertrauen zu den vorgeordneten Leitungsorganen gehört zu den Merkmalen solcher Bewegungen. Darüber hinaus gab es einfach keine Mechanismen, die Fraktionsbildung, alternative Konzeptionsbildung oder gar die Ablösung der Führung vorsahen. Vielmehr zeichnete sich eine stalinistische Partei gerade durch das Fehlen solcher Möglichkeiten aus. Niemals jedoch verstanden die Reformkräfte in der Staatspartei, sich zu vereinen und realen Einfluß auf die oberste Ebene (ZK-Abteilungsleiter und ZKSekretäre) auszuüben. Personen wie Krenz, Schabowski oder Schürer als Reformer eines "dritten Weges" zu bezeichnen, schien zumindest in der damaligen Zeit unangemessen. Wenn sie zuletzt mit Mielke und Stoph konspirierten, dann um Honecker, Mittag und Herrmann die Macht zu entwinden und den Zusammenbruch des Systems abzuwehren. Schließlich blieb die analytische Diskussion weitgehend auf die Akademien und Hochschulen der DDR beschränkt, wo sie sich allerdings seit dem Frühjahr 1989 ständig

- 41 verstärkte. Zwar wurden verschiedentlich, z.B. an der ZK-Akademie für Gesellschaftswissenschaften und auch an DDR-Hochschulen einige Reformvorschlage fixiert, doch blieben sie zu theoretisch, an der Oberfläche der DDR-Krise und letztlich auch unzusammenhängend. Hier wären insbesondere die Arbeiten zum "Sozialismusprojekt" 60 und das Forschungsvorhaben "Philosophische Fragen der Erarbeitung einer Konzeption des modernen Sozialismus" der Sektion Marxistisch-Lenistische Philosophie der Berliner Humboldt-Universität zu erwähnen.61 Dennoch konnten die HoneckerNachfolger, anders als im Westen zuvor vermutet wurde, zu keiner Zeit auf ein attraktives Konzept zurückgreifen. Gleichzeitig nahm der Druck von der Parteibasis und von selten der Bevölkerung zu, nicht bei halbherzigen Maßnahmen anzuhalten. Reise-, Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit wurden immer lauter gefordert. Die Partei kam nicht zur Ruhe, eine relative Stabilisierung ihrer Herrschaft blieb ihr unter den Bedingungen osteuropäischen Systemwechsels und deutscher nationaler Teilung versagt.

5•3 Die ökonomische Krise als Verstärker der politischen Krise Als Folge der Allokationsentscheidungen der Parteiführung, die letztlich die eigentliche Verfügungsgewalt über die Wirtschaft besaß, orientierte sich die ökonomische Strategie selten an Effizienzkriterien, sondern vielmehr an wertgeladenen, politischen Direktiven. Die Politbürokratie, d.h. die Apparate des ZK-Sekretariats bestimmten über die zentralen Zuteilungen für die Produktion, für die Proportionen von Löhnen und Preisen,

61

Siehe insbesondere M. Brie, Zur Erarbeitung einer Konzeption des modernen Sozialismus - Thesen in der Diskussion, hektographiertes Papier, Berlin, Mai 1989, S. 33-56; R. Land, Die sozialökonomische Seite der Konzeption der entwickelten sozialistischen Gesellschaft und ihre Weiterentwicklung, a.a.O., S. 57-74 sowie D. Segert, Einige Grundprobleme einer politischen Theorie des modernen Sozialismus, a.a.O., S. 75-93. Materialien "Aktuelle Politik" der Sektion ML-Phi!osophie der Berliner Humboldt-Universität, Diskussionsmaterial vom 8.10.1989.

- 42 das Gesamtergebnis der Wirtschaft.62 Auch hier erwies sich die Ideologie als Leitungswissenschaft. Allein 25.000 DDR-Erwerbstätige waren Tag für Tag mit der Planung der Volkswirtschaft beschäftigt. Über 500 Planpositionen dienten als wirtschaftliche Richtgrößen. Die Propaganda sprach häufig vom "Wirtschaftswunder DDR" und behauptete, man nehme den zehnten Platz unter den Volkswirtschaften der Welt ein. Die Realität sah freilich völlig anders aus. Ein Merkmal des DDR-Wirtschaftssystems war dabei die einseitige Berichterstattung über die Planerfüllung, die einer absichtlichen Fälschung der Planbilanzen nahekam. Die tatsächliche Auslandsverschuldung von zuletzt 20,6 Milliarden Mark wurde unterschlagen, die erzielten Exportüberschüsse geschönt, der Stand des technischen Fortschritts wurde überhöht. Milliardeninvestitionen für die Mikroelektronik wurden in den Sand gesetzt. Nicht die Leistung lohnte sich, sondern der Planerfüllungsbericht. Der ehemalige DDR-Planungschef Schürer gab inzwischen zu, daß es regelmäßige "ideologische Aufschläge" auf den Plan der industriellen Warenproduktion in Höhe von bis zu sieben Milliarden Ostmark gegeben habe.63 oftmals wurden auf dem Weg von unten nach oben die Daten zusätzlich mehrfach retuschiert, um Prämien und Auszeichnungen einzuheimsen. Nach außen sollten ehrgeizige Projekte, wie das der Mikroelektronik oder bestimmter fototechnischer Erzeugnisse (z.B. Spezialkameras), das Bild der DDR aufpolieren helfen. Der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission Schürer und sein Stellvertreter Wenzel waren wohl die einzigen, die vor den Fehlentwicklungen in der Wirtschaft warnten. Sie hatten schon in dieser Zeit weitgehende Eingriffe in die Verteilung der erwirtschafteten Mittel geVgl. hierzu ausführlich G. Gutmann, Planversagen in der Wirtschaft. Bemerkungen aus ordnungstheoretischer Sicht, in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, Jahrgang 39, No. 1, S. 93-102; vgl. auch K.C. Thalheim, Der ordnungspolitische Weg der DDR. Entwicklungen und Perspektiven, in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, Jahrgang 39, No. 1, S. 77-91. Siehe das Interview mit dem ehemaligen Vorsitzenden der DDR-Plankommission, Poiitbüromitglied G. Schürer, in: Wirtschaftswoche, Nr, 30, vom 20.7.1990, S. 14-15.

- 43 fordert, was aber zu einer ernsthaften Verschlechterung des Lebensstandards der DDR-Bevölkerung geführt hätte.64 Honecker, der die Lehren Polens von 1970 und 1980 vor Augen hatte, wagte jedoch nicht, das ungesunde Verhältnis von Wirtschafts- und Sozialpolitik zu verändern und Anfang oder Mitte der achtziger Jahre zu einer Austerity-Politik überzugehen. In der Realität war schon 1983 die Zahlungsunfähigkeit der DDR nur noch mit mehrmaliger westdeutscher Hilfe abwendbar. Nach Angaben des DDR-Bereichsleiters "Kommerzielle Koordinierung", Staatsekretär im Außenhandelsministerium Schalck-Golodkowski, wurden zwischen 197 2 und 1989 23 Milliarden Deutsche Mark bzw. Verrechnungseinheiten durch Vereinbarungen mit der Bundesregierung erzielt.65 oi e acht Staatssekretär Schalck unterstellten DDR-Außenhandelbetriebe erwirtschafteten im gleichen Zeitraum weitere 27 Milliarden DM. Dazu kamen Deviseneinnahmen aus Waffenverkäufen in die dritte Welt, aus dem schwunghaften Handel mit Antiquitäten und dem Transfer von Häftlingen in die Bundesrepublik. Letzteres geschah allerdings nicht gegen Bares, sondern gegen Naturalleistungen. Die Verfügung über die Devisen und Westwaren oblag ZK-Sekretär Mittag und in einzelnen Fällen Honecker persönlich. Schon im Mai 1988 aber war führenden SEDFunktionären wie Felfe und Schürer sowie seit Ende 1988 auch Ministerratsvorsitzenden Stoph klar, daß mit kurzfristigen Interventionen die DDR-Wirtschaft nicht mehr zu retten war. Eine völlig neue, investitionsorientierte und weniger prestigeträchtige Wirtschaftsstrategie wäre erforderlich gewesen. Forderungen dieser Art wurden jedoch von den Spitzenfunktionären wie Honecker und Mittag von Tisch gefegt. Dennoch schien es zuletzt einigen in der Führung zu dämmern, daß ohnehin eine zunehmende

6': 65

Siehe die Analyse von Schalck-Golodkowski, Die Welt, 4.4.1990, S. 7. Siehe Schalck-Golodkowski, ebenda.

- 44 wirtschaftliche Abhängigkeit von der Bundesrepublik entstanden war, die immer mehr die Weichen auf eine gesamtdeutsche Konföderation stellte.

5.4 Die Bedeutung der nationalen Frage Die Rasanz des Auflösungsprozesses der DDR mag dennoch für viele überraschend scheinen. Es muß also einen weiteren wichtigen Faktor geben, der diesen Prozeß entscheidend beeinflußte. Tatsächlich gelang es der SED-Führung niemals, der Bevölkerungsmehrheit eine wirklich ausgebildete DDR-Identität nahezubringen. Der "nation-building process" hatte offenbar niemals gegriffen. Die Bevölkerung blieb in hohem Maße dem anderen deutschen Staat, der prosperierenden, demokratisch organisierten Bundesrepublik verhaftet. Eine wichtige Rolle spielten die Westmedien; doch auch die nach der Inkraftsetzung des Grundlagenvertrages zunehmenden deutsch-deutschen Familien- und persönlichen Freundschaftsbande verstärkten das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Um so mehr hatte der seit dem VIII. Parteitag 1971 initiierte Abgrenzungsversuch der SED-Führung, eine eigene "sozialistische deutsche Nation" zu begründen, einen Anstrich von innerer Kolonialisierung und wurde, außer vorübergehend von jungen Menschen, weitgehend nicht angenommen. In der Tat zeigen Umfragen, daß in der jungen Generation die Identifikation mit der DDR sehr ausgeprägt war, aber offenbar niemals die gesamte Gesellschaft erfaßte.66

Vgl. die Arbeiten von P. Förster, K. Starke, H. Müller und H.-J. Stiehler vom Zentralinstitut für Jugendforschung in Leipzig, die durch W. Friedrich, Wandlungen der Jugend in der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Nr. 16-17/1990, vom 13.4.1990, S. 25-37, hier insbes. S. 30 zusammengefaßt wurden. Vgl. auch Umfragen des Leipziger Instituts für Jugendforschung, Neues Deutschland, 7.12.1990 und Berliner Zeitung, 7.2.1990.

- 45 Die Fehleinschätzung der nationalen Frage bereits nach dem Sturz Ulbrichts sollte sich als kapitaler Fehler erweisen. Als Folge der alltäglichen Herausforderung der deutsch-deutschen Beziehungen verengte sich die nationale Frage unter Honecker, Norden, Axen und Kosing zur Systemfrage, später überwiegend nur noch zur Identität mit dem Staat DDR. Zwar ließen die Parteiführer Anfang der achtziger Jahre durchblicken, daß sie nach wie vor an einer sozialistischen Wiedervereinigung festhielten. Doch dies war damals vor allem zur Beruhigung der eigenen Partei- und Staatskader nach den Verfassungsänderungen vom Oktober 1974 und dem folgenden UdSSR-DDR-Vertrag vom Oktober 1975 gedacht. Die in der UdSSR seit Mitte 1987 verhalten einsetzenden Diskussionen über die deutsche Frage und die von sowjetischen Wissenschaftlern ausgehenden Initiativen (z.B. solche von Daschischew, Dawidow u.a.) hinsichtlich der Notwendigkeit einer neuen deutschlandpolitischen Strategie verunsicherten die Herrschenden in Ostberlin mehr und mehr. Gleichzeitig hielten sie an einer selektiven Auswahl des historischen deutschen Erbes (Aufwertung Luthers, der Preußen etc.) fest, welches sie insbesondere seit Mitte der achtziger Jahre für die ideologische Legitimation nutzbar zu machen suchten. Allerdings induzierten sie damit auch eine Teilaufwertung bestimmter tradierter Gruppen, wie beispielsweise der lutherischen Kirche in der DDR, was sich schließlich als nicht ungefährlich erwies. Die DDR blieb stets ein Staat auf der Suche nach einer Nation und war schon aus diesem Grunde im besonderen Maße auf ideologische und blockpolitische Geschlossenheit verwiesen. Als beide zu erodieren begannen, die militärische Interventionsgarantie aufgehoben wurde, fiel der DDR-Staat wie ein Kartenhaus zusammen.

47 Fred Oldenburg The Implosion of the SED Regime Causes and Evolution Bericht des BlOst Nr. 10/1991

Summary 1. The essential prerequisite for the emancipatory developments in East Central Europe was Soviet perestroika. Although Gorbachev had hoped perestroika would bring a global revitalization of socialism, he at the same time stressed the community of interests in the "European house", thereby playing down the international class struggle component. This later made it easier to extend the theory of "freedom of choice" to apply also to the German people's right to selfdetermination. Gorbachev's visit on the occasion of the GDR's 40th anniversary proved to be the effective turning point on the way to revolution. He visibly withdrew Soviet support for the Honecker regime. The Western Group of the Soviet armed forces stationed in the GDR was under explicit instructions not to intervene during the critical period between 7th and 16th October 1989. And finally, the Soviet leadership tolerated the opening and the subsequent demolition of the Berlin wall and, after some hesitation and squirming, accepted the resulting change of system, culminating in the dissolution of the GDR and the re-unification of Germany. 2. The second important scenario for revolution in the GDR were political changes in Eastern Europe, especially in Poland and Hungary. These caused the united front of the Eastern European communists to collapse, forcing Moscow to adapt to a succession of convulsions in its own forefield. The events in Eastern Europe worried the leaders of the SED, who tried to compensate their concern with enhanced self-confidence, which, in turn, only reinforced their negative survival strategy. At the same time, the re-orientation of society in Hungary towards Western values was creating the conditions that led to the fences being opened and boundaries being breached. This dramatic course of development made it easier for people to leave the GDR, thus increasing the pressure for change to the point at which the system imploded. 3. The success of Western societies based on parliamentary democracies and market economies was an underlying incentive for constantly recurring domestic criticism of the societies of "real socialism" with their totalitarian constitutions, stagnant economies, and decay in moral standards. And despite or perhaps precisely because of their plurality, the cultural and intellectual attractiveness of free nations acted as a magnet. But as far as the people of the GDR were concerned, the decisive factor over and above those mentioned was that the Federal Republic of Germany had always kept open

48 the German question, thus giving the people of the GDR hope of a better future. Though the political and economic concessions made to the GDR under the "Deutschlandpolitik" initiated by one West German government in 1969 and continued by another in 1982 had helped to stabilize the dictatorial system in the eastern part of Germany, in conjunction with Basket III of the Final Act of the CSCE that same policy had the effect of establishing contacts between and opening up the two systems in Germany at various levels. 4. Reasons for the collapse of communism were already latent as an historical possibility in the command structures defined by Lenin and qualitatively enhanced by Stalin (onesided interpretation of the dictatorship of the proletariat, democratic centralism, party monopoly on social and political control and steering), which were irreconcilable with the exigencies of a complex industrial society. Despite a number of encouraging signs in the years after 1949, the application of those structures to the GDR after the 2nd SED Party Conference in July 1952 had conditioned an adverse learning process which was never again to be interrupted, not even between 1961 and 1965. The over-rating of materialist/historical factors not only meant that not enough importance was attributed to deep-seated human incentives but also committed the SED to an economic strategy that, intended primarily to serve the party's interest in boosting its own prestige and maintaining its own hold on power, established the wrong economic and social-policy priorities. What is more, in defiance of the long-established findings of behavioural psychology, the individual's ties to his own interests were under-estimated, and the attempt was made to replace those interests by perpetuating symbols and myths which, hardly convincing to start with and less and less forcefully presented in the course of time, had long lost their effect on the masses as a result of universal de-ideologization. The party monopoly system proved to be much more fragile than was generally suspected. When in 1989 the Soviet Union was no longer willing to intervene by force, the breakdown of that system was inevitable. 5. That pretensions and reality were becoming increasingly out of touch was apparent even to the cadres integrated into and affiliated to the system. Haphazard crisis management and the arbitrary application of sanctions led to insecurity among the power apparatus. The benefits cited in legitimation of the socialist system such as a) constantly growing affluence, b) social security and wellbeing, and c) distribution according to merit were seen to be farther and farther from being achieved. The application of political rather than economic criteria for efficiency helped to destabilize the system still further. Even if it proved possible to improve consensus temporarily by means of a strategy of "unity of economic and social policy", precisely that strategy generated an imbalance between the competing demands of public and private consumption, in particular those of the various state bureaucracies, the security services, and the social sector on the one hand, and productive investment on

49 the other. In an attempt nevertheless to preserve the political structures, the party leadership opted not for an overhaul of the system, for new targets and institutions, but instead for the syndrome of structural restraint that suppresses the ability to learn. In the latter phase of the Honecker era as of 1986 (9th Party Congress of the SED), efforts were again renewed to stifle importunate social signals, to alienate divergent points of view and their social advocates, and to step up the transmission of signals of repression rather than face up to ideological discussions. Under the conditions of one-man rule and of an ideology, that of Marxism-Leninism, that was used to legitimate the monopoly on power exerted by the communist party and its leadership, this all led to dysfunctional processes that eventually destroyed the system. 6. Significant, if unintentional, help for the revolution came from the leaders of the SED themselves. As a result of overaging of the most important decision-makers, their one-sided, class-struggle-orientated socialization, and their rather simple mentality, the inner circle around Honecker was not in a position to assess appropriately the opportunities and the dangers immanent in the changing circumstances. The leaders of the SED had misinterpreted the signs of the times, had spent too long waiting in the hope that Gorbachev would be deposed. They were victims of their own success-story propaganda, of their own refusal to face up to reality. The Politburo had also consistently under-estimated the national sentiments of the citizens, who saw their leadership's orientation towards the East as a violation of their German and Central European identity. When the hour of decision finally came, Honecker's own senility and acute illness was a further crucial factor precipitating the collapse of the system. The party chairman's authority had been accepted unquestioned for too long anyway, with the approaching 40th anniversary repeatedly acting as a restraining date. When the conspirators (Krenz, Schabowski, and others) eventually came to take over power, they were unable to present any convincing programmatic or personnel strategy for adapting party and state to the new conditions of revolutionary pressure from below. 7. But there was much to indicate that - as the Stalinist leaderships had always realised - any fundamental attempt to discard totalitarian methods, or even just to rationalize them, would cause the whole tightly-knit network to collapse. In the GDR, furthermore, the fact that society took its bearings from the economic and social structures of the Federal Republic of Germany made it even less likely from the very beginning that any attempt to recondition the old system could be successful. After they had overthrown Honecker, the younger guard in the Politburo hoped to be able to evade the historical "knock-out" by putting all the blame on their predecessors. The turncoat "Janus syndrome" that this manifested, however, proved to be more effective in softening up the latter-day-Stalinist structures still further. What is more, the disclosure, in the transition period from Honecker

50 via Krenz to Gysi, of the rampant abuse of power, of corruption and of general incompetence ultimately exposed the entire top echelon of the party to public ridicule and contempt. This triggered off a further universal de-stabilization of the system which for a while strengthened the intellectual opposition but at the same time extended the freedom of action of the all-out anti-socialist opposition. 8. Since the late eighties, informal groups had already been forming to criticise in particular the militarization of education, later also the arms race in both blocs, and also environmental damage. But it took the wave of emigration via Hungary, Czechoslovakia and Poland to press home the urgency of the latent potential for social conflict and change. The mass emigration gave heart to those who wanted to stay in the country but could not reconcile themselves with conditions in the GDR, thus giving the informal groups that had already been in existence an unexpectedly broad basis among the masses of the population. The tragedy of the refugees and the impending collapse of the GDR brought precisely those people onto the streets who, under the constraints of the Honecker/Krenz regime, would have been satisfied to fight for reforms but now triggered off a revolution. When the wall fell, the people in the GDR were at least able to make a direct comparison between their own situation and the living conditions of their fellow-Germans to the West. Instead of relieving the political pressure as hoped, freedom of contact only radicalized public opinion in the GDR still further. When in late December/early January the SED tried for a while to exploit the quiet in the streets to gain some ground for itself, the demonstrations that started again as of 8th January showed the ruling SED-PDS its limits and ultimately forced it to admit representatives of the opposition to the government. 9. From the moment the borders were opened and the wall demolished, the autumn revolution in the GDR was no longer an event affecting the GDR alone but a part of the all-German process. The opening of the wall in Berlin deprived the SED leadership of its last dubious chance of re-establishing its power on a nev; basis. At the same time, it provoked the fall of the latter-day-Stalinist regimes in Czechoslovakia, Bulgaria, and Romania. In the German domestic-policy arena, however, it curtailed the importance and the role played by those oppositional groups that had sparked of the first phase of the revolution. As of 9th November 1989, the revolution entered into its second phase, that of the rapid dissolution of the GDR, which led almost inevitably to the GDR joining the Federal Republic of Germany on 3rd October 1990. Despite the gaping economic, political, and psychological differences between the two parts of Germany, a rapid unification process appeared essential in order to assure irreversible international recognition of re-union against the background of signs of de-stabilization from the USSR.

Neuere Arbeiten aus dem Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien

Sowjetunion 1988/89 Perestrojka in der Krise? Carl Hanser Verlag, München/Wien 1989, 359 S. The Soviet Union 1986/87 Events, Problems, Perspectives. Westview Press, Boulder/London 1989, 373 S. Christopher Davis/Hans-Hermann Höhmann/Hans-Henning Schröder (Hg.) Rüstung - Modernisierung - Reform Die sowjetische Verteidigungswirtschaft in der Perestrojka. Bund Verlag, Köln 1990, 274 S. Hans-Hennann Höhmann/Gertraud Seidenstecher (Hg.) Die Wirtschaft Osteuropas und der VR China 1980-1990. Bilanz und Perspektiven. Verlag Weltarchiv, Hamburg 1988, 648 S. Carsten Herrmann-Pillath China - Kultur und Wirtschaftsordnung. Eine system- und evolutionstheoretische Untersuchung. Gustav Fischer Verlag, Stuttgart/New York 1989, 420 S. Osteuropa und der internationale Kommunismus: Band 18: Joachim Glaubitz/Dieter Heinzig (Hg.) Die Sowjetunion und Asien in den 80er Jahren. Ziele und Grenzen sowjetischer Politik zwischen Indischem Ozean und Pazifik. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1988, 370 S.