Die demokratische Regression. Die politischen Ursachen des autoritären Populismus [1. ed.] 9783518766996


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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
1. Einleitung
1.1 Die doppelte Entfremdung
1.2 Der neue Populismus
1.3 Ursachen des Populismus
1.4 Der autoritäre Populismus und die Zukunft der Demokratie
2. Die Vermessung der Demokratie: Zwischen Fortschrittsoptimismus und demokratischer Regression
2.1 Was ist Demokratie - und wenn ja, wie viele?
2.2 Demokratie und Nachkriegsordnung
2.3 Gibt es eine demokratische Regression?
2.4 Nach dem Optimismus
3. Die Ideologie des Populismus und die neue Konfliktlinie
3.1 Populismus - Annäherung an ein umstrittenes Konzept
3.2 Warum Populismus mehr als eine dünne Ideologie ist
3.3 Die neue Konfliktlinie
3.4 Unzureichende Erklärungen
4. Die Krise der Repräsentation und die entfremdete Demokratie
4.1 Mangelnde Responsivität der Parlamente
Wer regiert?
Für wen wird regiert?
4.2 Die Entmachtung der Parlamente
Majoritäre und nichtmajoritäre Institutionen in der Demokratie
Die Machtvermehrung nichtmajoritärer Institutionen
Die Euthanasie der Politik und die kosmopolitische Selektivität
4.3 Entfremdung von den politischen Institutionen
4.4 Die Krise der Repräsentation gebiert den Populismus
5. Krisen in der Demokratie
5.1 Krise als Dauerzustand
5.2 Die Gebrüder Lehman und das Fehlen von Alternativen
5.3 Flüchtlinge - wer kontrolliert die Grenzen?
5.4 Covid-19 - die Macht der Virologen
5.5 Das Paradox und die Krisenspirale
6. Chancen und Gefahren
6.1 Autoritäre Populisten an der Macht
6.2 Autoritäre Populisten in der Opposition oder als Juniorpartner
6.3 Autoritärer Populismus und die liberale internationale Ordnung
6.4 Das Demokratiedilemma angesichts offener Grenzen
7. Demokratisches Handeln im Angesicht der Regression
7.1 Allgemeine Empfehlungen
7.2 Reformen der nationalen politischen Systeme
7.3 Reformen jenseits des Nationalstaates
7.4 Politische Bildung
Literatur
Dank
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Die demokratische Regression. Die politischen Ursachen des autoritären Populismus [1. ed.]
 9783518766996

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Die demokratische Regression Von Armin Schäfer und Michael Zürn edition suhrkamp SV

In der Debatte um den Aufstieg autoritär-populistischer Parteien dominieren zwei Ansätze: ein ökonomischer, der wachsende Ungleichheit infolge der Globalisierung in den Mittelpunkt stellt, und ein kultureller, der gesellschaftliche Liberalisierungsprozesse in den Blick nimmt. Beide Erklärungen, kritisieren Armin Schäfer und Michael Zürn, seien seltsam politikfrei. Daher fragen sie nach den genuin politischen Ursachen dieser Entwicklung: Wie haben sich die Parteien, wie hat sich ihr Verhältnis zu den Bürgern verändert? Was geschieht, wenn Politik sich als ausführendes Organ von Sachzwängen präsentiert? Wer die autoritären Bewegungen stoppen möchte, so die Autoren, muss am politischen Prozess selbst ansetzen und Willy Brandts Formel »Mehr Demokratie wagen« neu denken. Armin Schäfer, geboren , war von  bis  am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln tätig. Seit  ist er Professor für Politikwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Michael Zürn, geboren , ist Direktor der Abteilung »Global Governance« am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB ) und Professor für Internationale Beziehungen an der Freien Universität. Seit  ist er Sprecher des Exzellenzclusters »Contestations of the Liberal Script«.

Armin Schäfer/Michael Zürn

Die demokratische Regression Die politischen Ursachen des autoritären Populismus

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin  Der vorliegende Text folgt der . Auflage der Ausgabe der edition suhrkamp . Erste Auflage  edition suhrkamp  Originalausgabe © Suhrkamp Verlag Berlin  Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt eISBN ---- www.suhrkamp.de

Inhalt

. Einleitung  . Die Vermessung der Demokratie: Zwischen Fortschrittsoptimismus und demokratischer Regression  . Die Ideologie des Populismus und die neue Konfliktlinie  . Die Krise der Repräsentation und die entfremdete Demokratie  . Krisen in der Demokratie  . Chancen und Gefahren  . Demokratisches Handeln im Angesicht der Regression  Literatur  Dank 

. Einleitung

Eine zwischen X- und Y-Achse eigentümlich gekrümmte Kurve hat Karriere gemacht. Die sogenannte »Elefantenkurve« (Milanovic´ , S. ) wurde erstmals in einem Weltbankbericht aus dem Jahre  abgedruckt. Sie zeigt, wie sich die Einkommen in der Weltgesellschaft zwischen  und  entwickelt haben. Auf der horizontalen Achse sind die Einkommensgruppen in Fünfprozentschritten abgetragen, ganz links die Allerärmsten, ganz rechts die Superreichen. Auf der vertikalen Achse ist das Einkommenswachstum der jeweiligen Gruppe festgehalten. Blickt man mit etwas Fantasie auf den Verlauf der Kurve, erinnert dieser an den Umriss eines Elefanten (siehe Abbildung ). Die allerallerärmsten Menschen der Welt konnten in dem betrachteten Zeitraum kaum Zuwächse verzeichnen. Ihnen ging es  ähnlich miserabel wie . Das ist der Schwanz des Elefanten, der im Matsch hängt. Die Kurve steigt dann jedoch entlang des Rückens – teilweise steil – an, die Gruppen am Kopf konnten bis zu  Prozent realer Einkommensgewinne für sich verbuchen. Erst bei drei Vierteln der Wegstrecke auf der X-Achse gibt es einen steilen Abfall. Der Rüssel reicht bis zum Boden. Nur die Spitze des Rüssels, die für das reichste Prozent aller Menschen steht, zeigt wieder scharf nach oben. Im Klartext: Die neue Mittelschicht in den Schwellenländern vor allem Ostasiens und die Allerreichsten dieser Welt profitierten massiv von der Globalisierung; die Allerärmsten in Afrika und der alte Mittelstand in den wohlhabenderen Ländern hatten dagegen ein geringes Wachstum und einen relativen Wohlstandsverlust zu beklagen. Dies führt zur »neuen Geografie« der Einkommensun

gleichheit, bei der zwar die Unterschiede zwischen Ländern geringer werden, die innerhalb (westlicher) Länder aber zunehmen (Firebaugh ). Abb. : Die Elefantenkurve der Einkommenszuwächse kumulativer Zuwachs des Realeinkommens (%)

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Dezile/Perzentile der globalen Einkommensverteilung Quelle: Branko Milanovic´ , S. .

Anmerkung: Dargestellt sind die prozentualen Einkommenszuwächse zwischen  und  für unterschiedliche Einkommensgruppen. Die ärmsten Gruppen stehen ganz links, die reichsten ganz rechts.

Dass das Einkommen der Allerärmsten bei unter einem Dollar pro Tag stehen blieb, während die Superreichen dramatisch zulegten, ist ein moralischer Skandal. Hier zeigt der globale Kapitalismus seine häßliche Seite der Ungerechtigkeit. Seine enorme Leistungsfähigkeit zeigt sich im Gegenzug daran, dass in Asien und dort insbesondere in China Hunderte Millionen Menschen aus der absoluten Armut entkommen sind. 

Uns interessieren in diesem Buch allerdings weniger gerechtigkeitstheoretische Implikationen der Elefantenkurve, als vielmehr ihre Bedeutung für die Demokratie. Mit Demokratie meinen wir dabei das Prinzip der kollektiven Selbstbestimmung und seine anspruchsvolle institutionelle Umsetzung als Regierungsform, die an die Versprechen von politischer Gleichheit, guten Gründen und Machtkontrolle gebunden ist. Für die Demokratie stellt der Elefant ein Problem dar, weil die Wohlstandszuwächse in autokratischen Ländern höher ausfielen als in konsolidierten Demokratien, wo noch dazu die Reichen am stärksten profitierten. Das steht im starken Kontrast zu den Nachkriegsjahrzehnten, in denen der Wohlstand in den Demokratien rasant stieg, während gleichzeitig die Einkommensungleichheit abnahm. Die Verteilung der weltwirtschaftlichen Zuwächse verweist auf zwei zentrale Herausforderungen für die demokratische Regierungsform. Zum einen illustriert sie die enorme Erfolgsgeschichte eines autokratischen politischen Systems wie China. Spätestens seit der Finanzkrise erwächst der liberalen Demokratie westlicher Provenienz eine ordnungspolitische Konkurrenz, die im Gegensatz zum real existierenden Sozialismus beides ist: anders und erfolgreich. Sie ist anders, weil sie die Entfaltung ökonomischer Marktdynamiken explizit nicht an die Institutionen der liberalen Demokratie koppelt und damit die scheinbar unauflösbare Verbindung von Markt und Demokratie infrage stellt. Sie ist erfolgreich, weil sich die autoritär regierenden Eliten in Ländern wie China und Singapur nicht ohne Weiteres als eigensüchtige Despoten abtun lassen. Ihre Politik hat eine erkennbare Gemeinwohlkomponente und kann dabei auf erhebliche Fortschritte insbesondere bei der Armutsbekämpfung verweisen. Diese Staaten zeigen, dass gesellschaftlicher Fortschritt möglich ist, ohne dass die Machthabenden demokratischer Kontrolle un

terliegen und ohne dass Individualrechte garantiert werden. Damit wird die insbesondere nach  vertretene Vorstellung von der Alternativlosigkeit der liberalen Demokratie untergraben. Wenn China heute in Teilen des globalen Südens als ordnungspolitische Alternative gesehen wird, dann ist die Frage nach der richtigen politischen Ordnung wieder auf der Tagesordnung. Zum anderen weist der steil nach oben zeigende Rüssel der Elefantenkurve erbarmungslos auf eine weitere Schwäche der Demokratie hin: die wachsende Ungleichheit in den reichen Ländern des Westens. Die materielle Basis für die Unterstützung der Demokratie weicht auf. Die Attraktivität der politischen Systeme Europas, Nordamerikas und Japans speiste sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht ausschließlich aus der normativen Logik der Freiheit und Selbstbestimmung – das war der Irrglauben der rein normativ argumentierenden Feuilletonisten und Denkerinnen –, sondern auch aus der empirischen Beobachtung, dass individuelle Wohlfahrt und die Bereitstellung wichtiger Kollektivgüter langfristig am besten im Rahmen einer liberalen Demokratie erreicht werden können. Die Lehre der Geschichte schien lange Zeit eindeutig: ein materiell reichhaltiges Leben, innovative und komfortable Produkte, ein leistungsfähiges politisches System – all das gibt es nur in westlichen Demokratien. Dieses Versprechen hat durch die von der Elefantenkurve beschriebene Einkommensentwicklung an Glaubwürdigkeit verloren.

. Die doppelte Entfremdung Führen diese weltgesellschaftlichen Verschiebungen zu einer demokratischen Regression? Von einer demokratischen Re

gression kann aus unserer Sicht gesprochen werden, wenn sich zwei Veränderungen gleichzeitig abzeichnen: Zum einen geht es um die zunehmende Distanz der demokratischen Praxis vom Ideal der kollektiven Selbstbestimmung, weil Entscheidungen in nicht durch Wahlen legitimierte und kaum durch die Bürgerinnen kontrollierte Gremien verlagert werden. Zum anderen beinhaltet die demokratische Regression in unserem Verständnis die Abwendung von (Teilen der) Bürgerinnen von der Demokratie, weil sie sich nicht länger repräsentiert fühlen. Von einer demokratischen Regression wollen wir also dann sprechen, wenn wir eine doppelte Entfremdung beobachten: die abstrakte Entfremdung der Praxis vom demokratischen Ideal und die konkrete Entfremdung der Bürgerinnen von den demokratischen Institutionen. Rainer Forst () spricht in diesem Zusammenhang von der »Verwahrlosung der Demokratie«. Im Ergebnis führt die doppelte Entfremdung dazu, dass die Demokratie an Strahlkraft verliert. Ausgangspunkt unserer Beschäftigung mit demokratischer Regression ist im zweiten Kapitel die große Zuversicht nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Die Demokratie schien sich endgültig aller Rivalen entledigt zu haben und the only game in town zu sein. Früher oder später, so nahmen es viele Zeitdiagnosen an, würde ihr Licht auch die dunkelsten Ecken der Welt erhellen. Dieser Optimismus hat die vergangenen Jahrzehnte freilich nicht unbeschadet überstanden. Zum einen haben sich einige autoritäre Regime dauerhaft gewehrt, auch nur ein kleines bisschen demokratischer zu werden; zum anderen geht die Anzahl der Demokratien seit einigen Jahren wieder zurück. Wenn sich das Tempo der Demokratisierung lediglich verlangsamt oder sie zeitweise zum Stillstand kommt, könnte man noch annehmen, es handle sich lediglich um eine Delle in einem unaufhaltsamen his

torischen Trend. Doch wenn demokratische Staaten zu elektoralen Autokratien werden, also zu Autokratien mit mehr oder weniger freien Wahlen, und gleichzeitig die Qualität der Demokratie in ihren Kernländern sinkt, lässt sich die Hoffnung auf linearen Fortschritt mit kleineren Aussetzern nur noch mit großer Mühe aufrechterhalten. Von democratic backsliding ist im Moment vor allem deshalb häufig die Rede, weil sich die Qualität der demokratischen Regierungsform auch in vermeintlich konsolidierten Demokratien verschlechtert hat. War der Verfall der Demokratie lange Zeit etwas, das aus der Perspektive von Westeuropäerinnen nur in fernen Ländern stattfand, kommen die Einschläge nun näher. Nicht allein in Venezuela oder Brasilien, sondern auch in den USA und Polen hat sich die Demokratie in den letzten zehn Jahren deutlich verschlechtert. In manchen dieser Länder besteht die Hoffnung, dass ein Regierungswechsel eine Trendumkehr bringen wird, aber wo die Demokratie bereits durch eine elektorale Autokratie ersetzt worden ist, wird auch die Abwahl der Regierung immer unwahrscheinlicher. Der gegenwärtige Rückzug der Demokratie scheint mehr als nur eine vorübergehende Delle. Die optimistische Erzählung, wonach sich die Demokratie in Wellen ausbreitet, zwischen denen lediglich kurze Perioden partieller Rückschritte liegen, deckt sich kaum mit der tatsächlichen Entwicklung. Vielmehr hat sich im Nachhinein vor allem die Zeit von  bis zum Ende des . Jahrhunderts als eine Phase der weltweiten Demokratisierung erwiesen. Dieses halbe Jahrhundert war allerdings durch positive Rahmenbedingungen gekennzeichnet, die heute nicht in derselben Weise bestehen. Die demokratische Progression war weniger das Resultat einer unausweichlichen Fortschrittslogik, sondern vielmehr einer spezifischen historischen Konstellation geschuldet. Die 

Veränderung dieser historischen Konstellation, die wir im zweiten Kapitel nachzeichnen, ermöglicht nun die demokratische Regression. Gesellschaften gleiten nicht auf einer vorgezeichneten Trasse auf das Ziel der liberalen Demokratie zu, sondern entwickeln sich durch politische Konflikte und Kämpfe um die Ausweitung sozialer und demokratischer Rechte – und diese Konflikte können die Fahrt nicht nur verlangsamen, sondern auch zu einem Wechsel des Zielbahnhofs führen.

. Der neue Populismus Der neue Populismus steht im Zentrum der gegenwärtigen Debatten um die Demokratie. Insbesondere mit ihm beschäftigen wir uns in diesem Buch. In fast allen Ländern haben sich populistische Parteien gebildet, die für sich reklamieren, die Demokratie retten zu wollen, indem sie »dem Volk« wieder eine Stimme verleihen. Anders als bei den alten rechtsextremen Parteien steht in den Wahl- und Parteiprogrammen der Populisten nicht, dass die Demokratie durch eine andere Herrschaftsform ersetzt werden soll. Im Gegenteil, sie plädieren für eine Ausweitung der direkten Demokratie und beanspruchen, diejenigen zu repräsentieren, die von den etablierten Parteien übersehen werden. Der Anspruch, die wahre Stimme des Volks zu sein, ist anmaßend, aber er verfängt bei einem nicht unerheblichen Teil der Bürgerinnen. Wir wollen in diesem Buch erklären, weshalb dies so ist. Dazu ist es in Kapitel  zunächst notwendig, den ideellen Gehalt des autoritären Populismus zu verstehen und ihn definitorisch einzugrenzen. Das heute in der Politikwissenschaft vorherrschende Verständnis von Populismus ist durch die Arbeiten von Cas 

Mudde geprägt, der ihn als eine Ideologie versteht, die die Gesellschaft in zwei homogene und antagonistische Gruppen einteilt: »das reine Volk« und »die korrupte Elite« (Mudde , S. ). Damit sei der Populismus eine »dünne« Ideologie, die sich mit beliebigen anderen, gehaltvolleren Ideologien verbinden lasse.Wir werden im dritten Kapitel argumentieren, dass beide Elemente dieser gängigen Definition zu kurz greifen. Erstens produziert sie zu viele »falsche Positive«, etwa die friedliche Revolution in der späten Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Auch in diesem Fall richtete sich die Bewegung gegen ein Elitenkartell, dem man die homogenisierende Formel »Wir sind das Volk« entgegenhielt. Bewegungen, die sich gegen autoritäre Machthaber durchsetzen wollen, müssen sich notgedrungen gegen das Establishment richten und sich selbst als einigermaßen homogen darstellen. Das alleine macht sie aber noch nicht zu Populisten. Zweitens ist Populismus keine leere Form, die beliebig mit anderen Inhalten gefüllt werden kann. Sein ideologischer Gehalt ist weniger dünn, als die bloße Gegenüberstellung von Establishment und einem als homogen vorgestellten Volk insinuiert. Wir argumentieren, dass der gegenwärtige Populismus vorrangig ein autoritärer Populismus ist, der als eigenständige Ideologie fungiert. Er ist eine politische Ideologie, die auf eine nichtmediatisierte Form der Mehrheitsrepräsentation baut und sich nationalistisch gegen »liberale kosmopolitische Eliten« wendet. Der gegenwärtige Populismus ist nationalistisch, weil er in doppelter Hinsicht ausschließt. Er negiert zum einen die legitimen Interessen anderer Länder durch die strikte Orientierung an dem Topos our nation first. Zum anderen steht von vornherein fest, wer zum eigenen Volk gehören darf. Die »Wir gegen sie«-Logik richtet sich nicht nur gegen die

jenigen, die andere Ziele anstreben, sondern enthält immer auch Aussagen darüber, wer nicht dazugehört. Aus der Vorstellung eines homogenen Volkes mit einheitlichen politischen Zielen erwächst der Antipluralismus des autoritären Populismus. Wer für sich in Anspruch nimmt, den Volkswillen zu kennen und ihn zu repräsentieren, kann nicht dulden, dass es legitime andere Meinungen gibt. Deshalb werden politische Gegnerinnen von autoritären Populisten als »Volksverräterinnen« oder »korrupte Machtclique« bezeichnet. Sie können gar keine anderen als moralisch verdorbene Gründe dafür haben, etwas anderes zu wollen als die Populistinnen selbst. Aus diesem spezifischen Verständnis von Politik ergibt sich auch die Ablehnung etablierter Verfahren der Willensbildung. Im Gegensatz zu einem deliberativen und partizipatorischen Demokratieverständnis muss nicht im demokratischen Streit ausgehandelt werden, was das Richtige ist, da es ohnehin feststeht. Die Vorstellung, dass sich politische Einstellungen weiterentwickeln und durch die Teilnahme am öffentlichen Diskurs verändern, ist autoritären Populisten fremd. Deswegen werden Parlamente als Schwatzbuden verunglimpft, die reden, statt zu entscheiden. Und deswegen dienen Informationen, die von ihrem Bezug zum Wahrheitsanspruch befreit werden können, exklusiv als Waffen in der politischen Auseinandersetzung. Die eigenen Äußerungen zielen eher darauf, Politik als Ganzes verächtlich zu machen, als darauf, die eigene inhaltliche Position zu konkreten Sachfragen zu erläutern. Nicht die Liebe zum Detail ist typisch für Populisten, sondern die grobe Vereinfachung. Das entprozeduralisierte Demokratieverständnis geht schließlich mit einer sehr spezifischen Vorstellung davon einher, was Repräsentieren bedeutet. Auch hier steht nicht der ständige Austausch zwischen Repräsentantinnen und Repräsentierten im 

Mittelpunkt, sondern der Vollzug des (gegebenen) Mehrheitswillens. Kurz, der autoritäre Populismus baut auf ein spezifisches Politikverständnis, das nicht mit allen Inhalten gleichermaßen kompatibel ist und weit mehr darstellt als nur eine dünne Ideologie.

. Ursachen des Populismus Im dritten Kapitel entwickeln wir den Kern einer politischen Theorie des autoritären Populismus. Dabei gehen wir davon aus, dass weder sozioökonomische noch soziokulturelle Erklärungen für sich genommen ausreichen, um dessen Aufstieg zu erklären. Sozioökonomische Erklärungen setzen an der wirtschaftlichen Lage und insbesondere an (befürchteten) sozialen Abstiegen an. Die Verliererinnen der Globalisierung, so die Kurzfassung, seien besonders anfällig für die Lockrufe des Populismus. Doch es bleibt rätselhaft, wieso sich diese Gruppe an autoritär-populistische und nicht etwa an linke Parteien wendet, deren Markenkern der Kampf gegen Ungleichheit und für sozialen Schutz ist.Wieso sollten Wählerinnen, die sich ökonomisch benachteiligt fühlen und mehr staatliche Unterstützung erwarten, für Steuersenker par excellence wie Silvio Berlusconi, Donald Trump oder Boris Johnson stimmen, die zudem zum obersten Zehntelprozent der Einkommensverteilung gehören? Weiterhin fällt auf, dass die Niederlande, Österreich und Frankreich – also genau die Länder, in denen autoritär-populistische Parteien die ersten Erfolge feierten – verhältnismäßig wenig von wachsender Ungleichheit geplagt sind. Schließlich bleibt aus sozioökonomischer Perspektive unklar, warum sich in Ländern, die zumindest phasenweise besonders stark von der Globalisierung profitiert haben – man denke etwa an die Tür

kei oder auch an Indien –, autoritäre politische Kräfte durchgesetzt haben. Die soziokulturelle Erklärung des autoritären Populismus, die ihn als Reaktion auf kulturelle Liberalisierungsprozesse deutet, reicht für sich genommen ebenfalls nicht aus. Zum einen scheint es wenig hilfreich, den autoritären Populismus auf das Kulturelle zu beschränken. So geht es beispielsweise in den Auseinandersetzungen über die Aufnahme von Flüchtlingen nicht nur um kulturelle (die »deutsche Leitkultur«), sondern auch um ökonomische Aspekte, etwa Folgen für den Arbeitsmarkt (Hartmann ). Außerdem läuft die kulturalistische Lesart Gefahr, Ursache und Wirkung durcheinanderzubringen. Die soziokulturellen Gegensätze intensivieren sich nämlich häufig erst, nachdem eine autoritärpopulistische Partei Wahlerfolge einfahren konnte (Manow ). Schließlich bleibt unklar, weshalb der autoritäre Populismus gerade in Ländern mit, gemessen am Wohlstand, vergleichsweise geringer soziokultureller Liberalisierung besonders stark ist, also beispielsweise in Russland und in der Türkei. Beide gängigen Erklärungen müssen ergänzt werden, weil sie die politische Sphäre ausblenden. Sie beobachten makrogesellschaftliche Veränderungen – Globalisierung und Modernisierung – und sehen im Populismus eine mehr oder weniger irrationale Revolte dagegen (Norris/Inglehart ). Wie auf diese Veränderungen politisch reagiert wird, steht allerdings nicht von vornherein fest. Unsere These lautet, dass erst der politisch selektive Umgang mit gesellschaftlichen Veränderungen eine populistische Abwehrreaktion provoziert. Eine genuin politische Erklärung des Populismus setzt an realen Repräsentationsdefiziten der liberalen Demokratie an. Nicht alle gesellschaftlichen Gruppen werden gleich gut repräsentiert, und die Interessen der Ressourcenreichen wer

den stärker berücksichtigt.Wer Populismus erklären möchte, darf die Augen vor den Schwächen der Demokratie nicht verschließen. Insbesondere zwei Mechanismen sorgen dafür, dass politische Entscheidungen eine Schieflage zugunsten der Bessergestellten aufweisen. Zum einen, die Politikwissenschaft hat schon früh darauf aufmerksam gemacht, singt der Chor der demokratischen Repräsentantinnen »mit einem heftigen Oberklassenakzent« (Schattschneider , S. ). Die mangelnde Responsivität der Parlamente in liberal-demokratischen politischen Systemen hat seitdem kaum abgenommen. Vielmehr lässt sich zeigen, dass der Akzent im Zuge der Globalisierung noch stärker geworden ist. Genau das ist es auch, was die autoritär-populistischen Parteien lauthals beklagen. Im Zentrum ihrer Kritik steht, dass die repräsentative Demokratie, die »Systemparteien« und die Medien kein Ohr für den einfachen Mann (!) von der Straße haben. Die Rhetorik der Gegenüberstellung von einfacher Bevölkerung und korrupten Eliten erfolgt genau vor diesem Hintergrund. Zum anderen sind in den letzten drei Jahrzehnten in beachtlichem Ausmaß Entscheidungskompetenzen von Mehrheitsinstitutionen (MI s) wie Parteien und Parlamenten hin zu nichtmajoritären Institutionen (NMI s) wie Zentralbanken, Verfassungsgerichten und internationalen Institutionen verlagert worden. Entscheidungen werden zunehmend von Institutionen getroffen, die weder dem Mehrheitsprinzip noch den Rechenschaftspflichten repräsentativer Gremien unterliegen. Der Zweck vieler NMI s besteht darin, den dreifachen Liberalismus aus individuellen Rechten, internationalen Regeln und freien Märkten durchzusetzen. Je mächtiger diese Institutionen werden, desto schwieriger wird es, eine illiberale oder auch protektionistische Politik zu machen – selbst wenn eine Bevölkerungsmehrheit dies wünschen sollte. Es 

sind also insbesondere Veränderungen in den politischen Systemen, die der demokratischen Regression zugrunde liegen (Kapitel ). Vor dem Hintergrund dieser beider Mechanismen entsteht bei vielen Menschen der Eindruck, sie würden von der Politik nicht länger wahrgenommen – und dieser Eindruck hat eine reale Grundlage. Nicht alle Gruppen haben die gleiche Chance, dass ihre Anliegen gehört und politisch umgesetzt werden. Das ist der Hintergrund, vor dem sich die Vorstellung ausbreiten konnte, es gebe eine homogene politische Klasse, die, abgehoben von der Bevölkerung, ihr Ding macht und dabei den Interessen einer verwöhnten und tendenziell korrupten kosmopolitischen Schicht dient. Dementsprechend scheinen die Zielscheibe der allermeisten autoritär-populistischen Kampagnen auch gar nicht bestimmte ökonomische oder kulturelle Politiken zu sein, sondern das System, das sie hervorbringt. Diese politische Erklärung des Aufstiegs der autoritär-populistischen Parteien nimmt insbesondere zwei Entwicklungen in modernen Demokratien in den Blick: die Professionalisierung oder Kartellierung der Parteipolitik (Mair ) und die Beobachtung, dass NMI s ein Hauptziel des gegenwärtigen Populismus sind (Mounk/Kyle ). Die Kartellierung der Parteipolitik hat die selektive Responsivität des Gesetzgebers verschärft. Dabei zeigt sich, dass die unteren Schichten wenig Einfluss auf die vom Parlament verabschiedeten Gesetze haben. In der Folge sinkt das Vertrauen in die sozialdemokratischen und konservativen Volksparteien bzw. in die »Kartellparteien«. Die subsidiäre Übertragung des Vertrauens auf NMI s hat nur vorübergehend funktioniert. Die zunehmende Kritik an den NMI s zeugt von deren Entzauberung. Damit gerät nun das politische System als Ganzes in den Fokus. Im Ergebnis kommt es zum Aufstieg auto

ritär-populistischer Parteien, die insbesondere das politische System, die »Systemparteien« und die politische Klasse angreifen. Die demokratische Regression ist in dieser Lesart die Folge der angesprochenen doppelten Entfremdung: der abstrakten Entfremdung der politischen Prozesse vom demokratischen Ideal und der konkreten Entfremdung von Teilen der Bevölkerung von den demokratischen Institutionen. Deshalb greifen wir die gegen das politische System gerichtete Rhetorik der autoritär-populistischen Parteien auf und fragen weiter, ob diese Rhetorik zu den Motivationslagen der Wählerinnen solcher Parteien spricht und ob sich systematische Veränderungen in den betroffenen politischen Systemen beobachten lassen, die die relative Stärke der autoritär-populistischen Parteien erklären. Wir zeigen, dass die Unzufriedenheit mit der mangelnden Offenheit politischer Institutionen hohe Zustimmungswerte zu autoritär-populistischen Parteien nach sich zieht – nicht weil deren Wählerinnen mehr Demokratie wagen wollen, sondern weil sie sich durch das politische System vernachlässigt fühlen. Die mangelnde Repräsentativität der wichtigsten Entscheidungsorgane der Demokratie hat auf diesem Weg zur Entfremdung von der Demokratie beigetragen. Warum aber haben diese Veränderungen erst in den letzten Jahren zu einem Aufstieg des autoritären Populismus geführt und die Demokratie geschwächt? Warum sind diese strukturellen Veränderungen als Problem aufgegriffen und skandalisiert worden? In unserer Erklärung kommt den großen Krisen, die in den letzten fünfzehn Jahren die demokratisch verfassten Gesellschaften geplagt haben, die Rolle des Auslösers zu, wie wir in Kapitel  zeigen. Es sind diese Krisen, die die schon länger stattfindenden strukturellen Veränderungen in der Funktionsweise der Demokratien in einen 

Aufstieg der autoritär-populistischen Parteien übersetzt haben. Besonders interessant sind für uns Krisen, die sich zu einem erheblichen Ausmaß in den konsolidierten Demokratien abspielten und nicht nur von außen auf sie einwirkten. Das sind die Finanz- und Eurokrise, die Krise bei der Aufnahme von Flüchtlingen und die Coronakrise. Diese Krisen wirkten wie ein Brennglas, zugleich aber auch wie eine Lupe auf die Demokratie (Gosepath ): Sie machen die Veränderungen der politischen Prozesse in Demokratien deutlicher sichtbar – das ist der Lupeneffekt. In Krisenzeiten werden wesentliche Entscheidungen nicht mehr von gewählten Parlamenten, sondern von anderen politischen Institutionen getroffen. Dabei erweisen sich die Krisen nicht nur als »Stunden der Exekutive«, sondern vor allem auch als eine Stunde der Experten. NMI s entscheiden dann erheblich über die Ausrichtung der Politik mit. NMI s sind aber nicht neutral. Sie bevorzugen kosmopolitische Präferenzen. Im Zweifel stehen NMI s für Individualrechte, offene Märkte und internationale Regeln. International vereinbarte Austeritätspolitiken setzen sich gegen nationale Volksabstimmungen durch, und den Zumutungen der offenen Gesellschaft kann nicht einfach durch nationale Grenzschließungen begegnet werden. In dem Maße, wie Menschen die Erfahrung machen, dass nicht nur unpopuläre Entscheidungen getroffen werden, sondern dass diese Entscheidungen in Gremien erfolgen, die sich gegenüber Menschen mit anderen Einstellungen weitgehend abgekapselt haben, gerät das politische System als solches ins Blickfeld.Wenn das System gemäß der TINA-Logik (»There is no alternative«) keine Alternativen zulässt, dann bräuchte es ein anderes System. Ein Brennglas wiederum bündelt das Licht und droht, die Verhältnisse, auf die es geworfen wird, zu verbrennen. Die dichte Abfolge der Krisen hat demnach die doppelte Ent

fremdung von der Demokratie beschleunigt. Sie hat die abnehmende Repräsentativität der konsolidierten Demokratien offengelegt und gleichzeitig zur Stärkung antidemokratischer Kräfte geführt.

. Der autoritäre Populismus und die Zukunft der Demokratie Der autoritäre Populismus verweist auf reale Schwächen der demokratischen Praxis und nutzt den institutionellen Kontext der Demokratie. Und die Schwächen der Demokratie motivieren viele, ihre Stimme den autoritär-populistischen Parteien zu geben. Diese Parteien behaupten, dass sie den Interessen der einfachen Menschen und stillen Mehrheiten wieder Geltung verschaffen werden. Unsere Analysen der Ursachen für den Aufstieg solcher Parteien zeigen, dass dieser Appell tatsächlich hilft, ihre Erfolge zu erklären. Demnach geben diesen Parteien unter anderem jene Menschen eine Stimme, die sich nicht durch die politische Elite repräsentiert fühlen. Könnte der Populismus dadurch als eine »produktive Kraft [wirken], als Katalysator für eine tiefgreifende Neuorientierung des westeuropäischen Parteiensystems – eine Neuorientierung«, die dazu führt, dass dieses System die »transformierten Konfliktstrukturen westeuropäischer Gesellschaften« besser abbildet (Kriesi , S. f.)? Kann der Populismus womöglich sogar eine positive Wirkung auf die Demokratie entfalten? Wir zweifeln daran. In Kapitel  untersuchen wir die Effekte der autoritär-populistischen Parteien auf die Entwicklung der Demokratiequalität. Das Ergebnis ist eindeutig: Wenn autoritäre Populisten alleine die Regierung stellen, beschleunigen sie die demokratische Regression und greifen die liberale Demokra

tie sogar an ihren institutionellen Fundamenten an. Besonders bemerkenswert ist, dass in Ländern wie beispielsweise den USA , Indien, Polen und Ungarn alle Aspekte der Demokratiequalität unter Beschuss geraten. Autoritär-populistische Parteien an der Regierung sorgen also nicht für die Stärkung der elektoralen Komponente zulasten der liberalen Komponente der Demokratie, wie das die Rede von der illiberalen Demokratie nahelegt. Regieren autoritäre Populisten, tragen sie nichts Gutes zur Demokratie bei, unabhängig davon, welchen Aspekt der Demokratie man betrachtet. Sie streben keine illiberale Demokratie an – was ohnehin ein Widerspruch in sich ist –, sondern einen elektoralen Autoritarismus (Levitsky/Way ). Autoritäre Populisten vermeiden zwar die Zerstörung der Fassade der Demokratie, entstellen aber deren normativen Kern bis zur Unkenntlichkeit. Der Aufstieg des autoritären Populismus verweist auf tatsächliche Probleme in der Funktionsweise der liberalen Demokratie. Er ist aber nicht die Rettung, sondern eine Gefahr für diese Regierungsform. Im Ergebnis ergibt sich ein demokratisches Dilemma: Während die wachsende Komplexität der Entscheidungsverfahren in globalisierten und pluralisierten Kontexten zu einer doppelten Entfremdung von der Demokratie führt, untergräbt die Antwort der Vereinfachung durch Renationalisierung und Homogenisierung die institutionellen Grundlagen der Demokratie. Was also tun? Im Schlusskapitel argumentieren wir, dass man die Demokratie letztlich nur durch mehr Demokratie verteidigen kann.



. Die Vermessung der Demokratie: Zwischen Fortschrittsoptimismus und demokratischer Regression

Zumindest die Zukunft stellte sich  rosiger dar als heute. Bereits vor dem Fall der Mauer erschien im Sommer desselben Jahres ein Aufsatz, der dem optimistischen Zeitgeist Ausdruck verlieh. In »The end of history?« argumentierte Francis Fukuyama (), mit den von Michail Gorbatschow eingeleiteten Reformen in der Sowjetunion werde nicht nur der Kalte Krieg, sondern gar die Geschichte als solche enden. Sei die Geschichte bis zu diesem Zeitpunkt vom Kampf zwischen unterschiedlichen Gesellschaftsentwürfen geprägt gewesen, zeichne sich nun ab, dass die Idee der liberalen Demokratie unangefochten sei und dies auch bleiben werde. Fukuyamas Argument war ein geschichtsphilosophisches. Es folgte der hegelschen Auffassung, wonach die »Weltgeschichte ein Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit [ist] – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben« (Hegel  [], S. ). Demnach ging mit dem Kalten Krieg die Geschichte im Sinne einer Abfolge sich dialektisch entwickelnder Ideen zu Ende. Weder der  besiegte Faschismus noch der eben überwundene Kommunismus seien von nun an in der Lage, die liberale Demokratie herauszufordern. Noch in den finstersten Ecken der Erde zeichne sich das Leuchten der Demokratie ab, so Fukuyamas Überzeugung, und über kurz oder lang würden sich weitere Länder diesem Ideal zuwenden. Der Endpunkt der hegelschen Geschichtseschatologie war erreicht. Gelesen wurde Fukuyamas Aufsatz zumeist als Prognose 

eines institutionellen Siegeszugs der Demokratie. Obwohl das theoretische Argument nicht zwingend auf diesen empirischen Nachweis angewiesen war, griff Fukuyama in der Buchfassung seiner Thesen, die auf das Fragezeichen im Titel verzichtete, auf Daten zurück, die den Siegeszug der Demokratie belegen sollten (Fukuyama , S. f.). Mittlerweile hatte die Demokratie auch in nichtwestlichen Regionen Fuß gefasst, was für Fukuyama die universale Gültigkeit der Idee der liberalen Demokratie belegte, selbst wenn Regionen wie der Nahe und der Mittlere Ost noch weit von einer nachhaltigen Demokratisierung entfernt waren (vgl. Koopmans , Kap. ). Der Fortschritt sei nicht aufzuhalten. 1 Im Einklang mit dem optimistischen Zeitgeist las man auch Samuel P. Huntingtons vielbeachtetes Buch () über die »dritte Welle der Demokratisierung« als Beleg für den unaufhaltsamen Siegeszug der Demokratie. Eine erste Welle setzte laut Huntington in den zwaniger Jahren des . Jahrhunderts mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts in den USA ein. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurden immerhin zwanzig Demokratien gezählt. Die Gegenbewegung begann mit Mussolinis Machtübernahme in Italien. Bis  verringerte sich die Zahl der Demokratien auf  Mit seinem Fortschrittsoptimismus steht Fukuyama bis heute nicht alleine da. In jüngster Zeit vertritt der Harvard-Psychologe Steven Pinker prominent den Glauben an die Idee des historischen Fortschritts und damit auch der Ausweitung der Demokratie (Pinker , S. f.). In der Politikwissenschaft spiegelt sich dieser Optimismus am deutlichsten in den Modernisierungstheorien wider. In Bezug auf die Demokratie sind dabei die Arbeiten von Ronald Inglehart und Christian Welzel (z. B. ) von zentraler Bedeutung. Demzufolge führt gesellschaftliche Modernisierung zu einem steigenden Bildungsniveau, was wiederum im nächsten Schritt die Demokratisierung wahrscheinlicher macht. 

zwölf. Auf den Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg folgte eine zweite Welle, so dass es nach Huntingtons Zählweise  immerhin  Demokratien gab. Bis  war dann jedoch mit dem Aufkommen der Militärdiktaturen in Griechenland sowie in Teilen Lateinamerikas und der Ausweitung des sowjetischen Machtbereichs eine weitere Phase des Rückzugs zu beobachten. Die dritte Welle der Demokratisierung begann laut Huntington  mit dem Ende der Diktatur in Portugal. Huntington erkannte bereits in den neunziger Jahren erste Anzeichen für das Auslaufen der dritten Welle und erahnte eine erneute reverse wave. Aber trotz aller Rückschläge hat die Anzahl der Demokratien langfristig zugenommen, weil immer nur ein Teil der Länder hinter den erreichten Status zurückfiel. Das Bild der Wellen modifizierte zwar die Vorstellung eines linearen Fortschritts, bestärkte aber zugleich die grundsätzliche Idee eines säkularen Trends der Demokratisierung. Gibt es einen solchen säkularen Trend wirklich? Die Antwort hängt wesentlich vom zugrunde liegenden Demokratieverständnis ab.

. Was ist Demokratie – und wenn ja, wie viele? Laut David Held (, S. ) liegt der Demokratie ein politisch gewendetes Prinzip der Selbstbestimmung zugrunde. Menschen sollten demnach frei und gleich in der Bestimmung ihrer eigenen Lebensbedingungen und in der Gestaltung des Gemeinwesens sein, solange die Freiheit nicht dazu benutzt wird, die Rechte anderer zu negieren (vgl. auch Williams ). In dieser Sichtweise konstituieren sich die individuelle und die kollektive Selbstbestimmung gegenseitig. Demokratie ist ein Prozess der öffentlichen Willensbildung 

und Entscheidungsfindung, bei dem alle Betroffenen die gleiche Möglichkeit haben, frei und gleichberechtigt teilzunehmen. Zugleich muss die Demokratie normativ begründbare Entscheidungen hervorbringen. Sie darf insbesondere nicht ihre eigenen Voraussetzungen negativ beeinflussen. Eine solche doppelte Verankerung lehnt sowohl rein prozedurale Demokratieauffassungen ab, die sich nur auf Entscheidungsverfahren konzentrieren, als auch streng liberale Interpretationen, die individuelle Rechte als dem demokratischen Prozess vorangestellt betrachten. Diese Sichtweise versteht autonomiebegabte Individuen und den demokratischen Prozess als sich wechselseitig konstituierend und steht daher im Einklang mit der Idee der Gleichursprünglichkeit von Rechten und Demokratie (Habermas ) sowie mit der neorepublikanischen Vorstellung von Demokratie als Abwesenheit von »Dominanz« (Keane ; Pettit ; Skinner ). Den demokratischen Prozess kennzeichnen zwei Prinzipien: Das Betroffenheitsprinzip besagt, dass alle von einer Entscheidung betroffenen Personen ein Mitspracherecht bei der Entscheidungsfindung haben sollen. Das Deliberationsprinzip verlangt, dass alle Entscheidungen öffentlich erörtert und durch Argumente gerechtfertigt werden. Dieser anspruchsvollen Auffassung von Demokratie folgen wir. Doch wie viele Länder lassen sich gemessen an diesem Maßstab als Demokratie einordnen? Das Unterfangen, die Anzahl der Demokratien empirisch zu erfassen, hat eine lange Tradition und ist immer noch eine Wachstumsbranche in der Politikwissenschaft. Viele der gängigen Indizes gehen auf die Arbeiten Robert Dahls zurück, der eine Reihe von Brücken zwischen Demokratietheorie und empirischer Forschung bereitstellte. In einem frühen Versuch bezeichnet Dahl ein Regierungssystem als demokratisch, wenn es sich dauerhaft responsiv gegenüber den Bürgerinnen verhält und die

se dabei gleich behandelt (Dahl , S.  f.). Um zu erfassen, in welchem Umfang diese beiden Ziele erreicht werden, identifiziert Dahl (ebd., S. ) acht Bedingungen. 2 Diese acht Bedingungen betreffen den »Wettbewerbsgrad« (public contestation) einerseits und die »Partizipationsmöglichkeiten« (inclusiveness) andererseits. In Dahls Verständnis können Länder sowohl ein hohes Maß an Partizipation ohne echten Wettbewerb als auch ausgeprägten Wettbewerb mit eingeschränkten Beteiligungsmöglichkeiten aufweisen. Beispielsweise gab es unter dem Apartheid-Regime in Südafrika durchaus Wettbewerb um die Macht, aber die Partizipationsmöglichkeiten waren für die schwarzen Südafrikaner extrem eingeschränkt. In den staatssozialistischen Ländern hingegen war das Wahlrecht umfassend und die Wahlbeteiligung hoch, aber es gab keinen Wettbewerb um die Regierungsverantwortung, bei dem Oppositionsparteien in der Lage gewesen wären, Wahlen zu gewinnen. Nur Länder, die ein inklusives Wahlrecht und echten Parteienwettbewerb aufweisen, erreichen für Dahl den Status einer »Polyarchie«. 3 Diese Konzeption nähert sich einem anspruchsvollen Demokratie Es handelt sich um: () die Freiheit, sich (politisch) zu organisieren; () Meinungsfreiheit; das () aktive und () passive Wahlrecht für alle erwachsenen Staatsbürgerinnen mit möglichst wenig Ausnahmen; () das ungehinderte Recht von Parteien (oder zivilgesellschaftlichen Organisationen), um Stimmen und Unterstützung zu werben; () freie und faire Wahlen; () von der Regierung unabhängige Informationsquellen sowie () Institutionen, die sicherstellen, dass es zwischen politischen Entscheidungen und Mehrheitswillen einen Zusammenhang gibt. Später hat Dahl die letzte Bedingung gestrichen, da sie aus den zuvor genannten hervorgeht.  Dahl verwendet den Begriff »Polyarchie« (Herrschaft der Vielen) statt Demokratie, um sprachlich zu markieren, dass real existierende Regierungsformen vom theoretischen Ideal deutlich abweichen. Obwohl sich viele später entwickelte Demokratieindizes auf Dahl bezogen, verwenden sie den Begriff Demokratie weniger zurückhaltend. 

verständnis an, klammert aber die deliberative Komponente noch weitgehend aus. Inwiefern real existierende Regime einer solchen schlanken Demokratieauffassung entsprechen, lässt sich relativ leicht messen. Der finnische Politikwissenschaftler Tatu Vanhanen hat über Jahrzehnte daran gearbeitet, die zwei von Dahl identifizierten Dimensionen weiter zu vereinfachen und in ein Konzept der Demokratiemessung zu übersetzen. Gemäß Vanhanen lässt sich der Wettbewerb operationalisieren, indem der Stimmenanteil der stärksten Partei von  abgezogen wird. Der Partizipationsgrad wird daran gemessen, welcher Anteil der Bevölkerung an einer Wahl teilgenommen hat. Als Grenze legte Vanhanen dabei eine Reihe (frei definierter) Schwellenwerte fest: So muss der Wettbewerbsgrad bei mindestens  liegen – es darf also keine Partei mehr als  Prozent der Stimmen auf sich vereinen –, der Partizipationsgrad muss mindestens  Prozent betragen (Vanhanen , S. ). Im Ergebnis nimmt diese schlichte Operationalisierung von Demokratie nur Wahlen in den Blick und verzichtet darauf, rechtliche und gesellschaftliche Voraussetzungen für freie und faire Wahlen einzubeziehen. Das führt dazu, dass sehr viele Länder als demokratisch eingeordnet werden. Andere häufig verwendete Demokratieindizes erweitern das Verständnis etwas. So berücksichtigt der »Polity IV«-Index des Center for Systemic Peace Elemente der Gewaltenteilung, und der Demokratieindex von Freedom House erfasst auch individuelle Freiheitsrechte. Gemeinsam bleibt diesen Messungen jedoch, dass sie mit relativ einfachen Konzeptionen von Demokratie arbeiten. Neuere Demokratiemessversuche gehen über diese schlanken Ansätze hinaus. Dahls Konzeption des demokratischen Prozesses () entwickelte sich ebenfalls weiter und beinhaltet nun auch Aspekte der deliberativen Willensbildung 

(Schmalz-Bruns ), der politischen Gleichheit (Beitz ) und der Fähigkeit der Bevölkerung, die politische Agenda mitzubestimmen (Bachrach/Baratz ). Die neueren Demokratiemessungen gehen zudem von verschiedenen Varianten der Demokratie aus, die, normativ betrachtet, gleichwertig sein können (vgl. hierzu grundlegend Lijphart ). Ein gutes Beispiel für die komplexeren Versuche, Demokratie zu messen, ist das ursprünglich vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und vom Zentrum für Demokratie Aarau entwickelte »Demokratiebarometer«. Es identifiziert drei grundlegende Prinzipien – Freiheit, Machtkontrolle und Gleichheit –, denen jeweils drei Voraussetzungen zugeordnet werden und deren Umsetzung mit insgesamt  Indikatoren erfasst wird (Bühlmann et al. ). Die Autorinnen konstatieren, dass es unterschiedliche Wege gibt, eine hohe Demokratiequalität zu erreichen. Noch weiter geht das »Varieties of Democracy«-Projekt (V-Dem), das von Anfang an darauf abzielte, unterschiedliche Demokratievarianten zu erfassen (zu den Grundlagen siehe Coppedge et al. ). Unterschieden werden neben der »elektoralen« und »liberalen« eine »deliberative«, »egalitäre« und eine »partizipative« Variante, wobei die elektorale die Basisvariante ist, der unterschiedliche Komponenten hinzugefügt werden: () elektorale Demokratie: freie und faire Wahlen, allgemeines Wahlrecht, Meinungs- und Vereinigungsfreiheit; () liberale Demokratie: elektorale Demokratie sowie (verfassungs)rechtliche Überprüfung politischer Entscheidungen, Gewaltenteilung; () deliberative Demokratie: elektorale Demokratie sowie öffentliche Rechtfertigung politischer Entscheidungen, bei der auf das Gemeinwohl rekurriert wird; Akzeptanz von Gegenargumenten und weitreichende Konsultation unterschiedlicher Gruppen im Entscheidungsprozess; 

() egalitäre Demokratie: elektorale Demokratie sowie umfassende Freiheitsrechte, gleicher Zugang zu Entscheidungsgremien (power) und annähernde Gleichverteilung von Ressourcen; () partizipative Demokratie: elektorale Demokratie sowie weitreichende Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure in Entscheidungsprozesse; Möglichkeit von Volksabstimmungen und konsequente Umsetzung von Subsidiarität (Entscheidungen sollen so dezentral wie möglich getroffen werden). Jede dieser Varianten kann auf eine lange Ahnenreihe in der politischen Theorie verweisen, und es gibt gute Gründe, die eine oder andere Komponente zu betonen (siehe im Überblick Schmidt ). Welche Elemente der Demokratie besonders hervorgehoben und in die Messung einbezogen werden, wirkt sich unmittelbar darauf aus, wie viele und welche Länder als demokratisch gelten und wie sich die Ausbreitung der Demokratie im historischen Verlauf darstellt. Im Folgenden betrachten wir zunächst eine Reihe gängiger Demokratieindizes und ergänzen sie um den Index der liberalen Demokratie aus dem V-Dem-Projekt, der die elektorale und die liberale Komponente der Demokratie umfasst. 4 Wenn öffentlich über die Anzahl der Demokratien gesprochen wird, beziehen sich die genannten Zahlen zumeist auf weniger anspruchsvolle Demokratieindizes, wie den »Polity IV«-Index oder den von Freedom House. Im zweiten Schritt werden wir die verschiedenen Demokratiekonzeptionen des V-Dem-Datensatzes hinzuziehen.  Dieser Index erfasst, ob freie und faire Wahlen, ein allgemeines Wahlrecht, Meinungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Gewaltenteilung vorhanden sind sowie ob eine (verfassungs)rechtliche Überprüfung politischer Entscheidung möglich ist. 

Abb. : Absolute Anzahl und Anteil der Demokratien weltweit FH

Polity

Vanhanen 100%

120

Anteil der Demokratien

Anzahl der Demokratien

140

V-Dem

100 80 60 40 20

75%

50%

25%

0% 1900 1925 1950 1975 2000 2025

1900 1925 1950 1975 2000 2025

Daten: https://github.com/xmarquez/democracyData.

Anmerkung: FH = Freedom House, Polity = Polity IV, Vanhanen = Vanhanen Index, V-Dem = Varieties of Democracy, Index der liberalen Demokratie. Dargestellt sind die absolute und relative Anzahl der Demokratien gemessen an verschiedenen Demokratiekonzeptionen.

Wie sich Abbildung  entnehmen lässt, weisen alle abgebildeten Indizes auf eine deutliche Zunahme von Demokratien seit  hin. Zudem ähneln sich die Kurven in ihrem groben Verlauf. Auf den ersten Blick unterstützen diese Daten also die Position der demokratischen Fortschrittsoptimisten. Bei großzügiger Betrachtung lassen sich auch die von Huntington identifizierten Wellen der Demokratisierung und Entdemokratisierung ablesen. Die Deutung der Geschichte als säkularer, von einigen Rückschlägen gekennzeichneter Trend der Demokratieausweitung im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung und Zivilisierung ist also, auf Grundlage dieser Daten, zunächst nicht von der Hand zu weisen. Gleichzeitig weichen die Messungen auch deutlich von

einander ab. Der besonders einfach konstruierte VanhanenIndex zählt knapp  aller Länder weltweit zu den Demokratien. 5 Beim Freedom-House- und beim Polity-IV-Index sind es knapp  Regime und beim Index der liberalen Demokratie des »Varieties of Democray«-Projekts etwas mehr als . Je nach Vorgehensweise werden also zwischen  und fast  Prozent aller Länder als demokratisch eingestuft, wie die rechte Teilgrafik in Abbildung  verdeutlicht. Das ist eine frappierende Differenz. Zudem weichen die Messungen voneinander ab, wo es um jüngste Entwicklungen geht. Im Vanhanen-Index zeigen sich keinerlei Hinweise auf eine demokratische Regression. Bei den anderen Indizes weist zumindest die Abflachung der Kurve in den letzten beiden Jahrzehnten auf eine Gegenentwicklung hin. Wenn also nicht alleine Wahlen, sondern auch Elemente der Rechtsstaatlichkeit und der Schutz von Individualrechten in die Messung einfließen, ergibt sich ein weniger rosiges Bild. Das deutet schon darauf hin, dass die jüngsten Veränderungen nicht vorrangig die Einschränkung oder Abschaffung des Wahlrechts betreffen, sondern dass die rechtlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für freie, geheime, gleiche und faire Wahlen unterlaufen werden. Keiner der bisher verwendeten Indizes entspricht einem anspruchsvollen partizipatorischen oder deliberativen Demokratieverständnis. Deshalb werfen wir in Abbildung  einen zweiten Blick auf die Entwicklungen. Wir verwenden nun die unterschiedlichen Demokratiekonzeptionen des »Varieties of Democracy«-Projekts. Das Basiskonzept der elektoralen Demokratie nimmt nur Wahlen in den Blick und äh-

 Vanhanen hat zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche Schwellenwerte definiert. Hier orientieren wir uns an Vanhanen . 

nelt damit dem Vanhanen-Index. Fast  Länder erfüllen diese minimalen Voraussetzungen. Doch wenn wir liberale, egalitäre, deliberative oder partizipative Demokratievarianten betrachten, liegen die Zahlen deutlich niedriger. Zu keinem Zeitpunkt erreichte der Demokratieanteil  Prozent, wenn wir mehr als ein minimalistisches Konzept zugrunde legen (rechte Teilgrafik in Abbildung ). Würden wir partizipatorische und deliberative Elemente der Demokratie miteinander kombinieren – was in den V-Dem-Daten nicht geschieht –, sänke der Anteil noch weiter. Abb. : Anzahl und Anteil der Demokratien weltweit nach Demokratieverständnis deliberativ

egalitär

elektoral liberal

partizipativ

100%

75

50

25

Anteil der Demokratien

Anzahl der Demokratien

100

75%

50%

25%

0%

0

1900 1920 1940 1960 1980 2000 2020

1900 1920 1940 1960 1980 2000 2020

Daten: V-Dem, Version .

Anmerkung: Dargestellt sind die absolute Anzahl und der Anteil der Demokratien gemessen an verschiedenen Demokratiekonzepten.

Wechseln wir zudem die Perspektive, indem wir die V-DemIndizes in zwei Entwicklungsperioden unterteilen, stellt sich das Bild nochmals anders dar. Es zeigt sich nämlich, dass der 

relative Anteil der Demokratien  nicht wesentlich höher lag als im Jahr . Die Ausbreitung der Demokratie ist demnach ein zeitlich begrenztes Phänomen, welches im Kern erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges einsetzte, im Aggregat in den Sechzigern keinen großen Einbruch zeigte, sich aber ab den nuller Jahren abflachte und seit den zehner Jahren sogar wieder umgekehrt hat. Aus der Gesamtschau der empirischen Trends ergeben sich vier Beobachtungen, die in unserem Zusammenhang wichtig sind: () Egal, wie wir Demokratie messen, lässt sich über die Zeit ein Anstieg sowohl der absoluten Anzahl als auch des relativen Anteils der demokratischen Regime beobachten. In der Gegenwart sind deutlich mehr Länder demokratisch als  oder . () Je nach herangezogenem Konzept unterscheidet sich aber sowohl die absolute Zahl als auch der relative Anteil der Demokratien sehr stark.  gelten nach der rein elektoralen Variante des V-Dem-Datensatzes weltweit  Länder als Demokratie; wenn wir die liberalen Anforderungen dazu nehmen, sind es nur noch . Wird der Schwerpunkt auf die deliberativen Elemente der Demokratie gelegt, sinkt die Zahl auf ; bei der egalitären Variante auf ; und wenn wir fragen, wie viele Länder die Anforderungen einer partizipativen Demokratie erfüllen, lautet die Antwort: . Nur bei einem sehr engen, auf Wahlen begrenzten Demokratieverständnis können mehr als die Hälfte aller Länder als demokratisch regiert angesehen werden. () Der Löwenanteil des Anstiegs erfolgte erst nach . Wenn man das Ende des Zweiten Weltkriegs als Referenzpunkt heranzieht, bewegen sich die Zahlen ungefähr auf dem Level des . Jahrhunderts. Doch zwischen  und  vollzog sich ein wahrhaft atemberaubendes Wachstum, wo

durch die Anzahl der (liberalen) Demokratien von  auf fast  anstieg. () Zugleich geht aus Abbildung  aber deutlich hervor, dass sich das Wachstum zunächst abflachte und dass in den letzten Jahren die Anzahl der Demokratien sogar zurückgegangen ist. Wir erleben in der Gegenwart eine reverse wave, also eine erneute demokratische Regression, die jetzt bereits deutlich ausgeprägter ist als der die absolute Anzahl der Demokratien betreffende Knick zwischen  und , den Huntington als zweite Rückschrittswelle identifizierte. Der zweite Blick auf die Vermessung der Demokratie schürt weitere Zweifel an der fortschrittsoptimistischen Perspektive von Fukuyama, Pinker & Co. Statt eines langfristigen und säkularen Trends der politischen Modernisierung könnte die Ausbreitung der Demokratie auch spezifischen historischen Kontextbedingungen der Nachkriegszeit geschuldet sein, die heute nicht mehr in derselben Weise gegeben sind. In diesem Fall wird es mit dem Auslaufen dieser kontingenten historischen Konstellation wahrscheinlicher, dass ein Niedergang der Demokratie einsetzt. Die demokratische Regierungsform verlöre dann ihren Status als Rollenmodell und könnte numerisch wieder auf ein deutlich niedrigeres Niveau absinken. Wir wären dann nicht mit einer vorübergehenden Delle konfrontiert, sondern mit einer demokratischen Regression, die im Fortschrittsmodell gar nicht vorgesehen ist. Auf jeden Fall scheint es ratsam, die Ebene der Fortschrittserklärungen zu verlassen und eine historisch eingebettete Geschichte des Aufstiegs der Demokratie zu erzählen. Dann werden auch die mahnenden Stimmen besser nachvollziehbar, die vor einem »backsliding«, einer »de-consolidation« oder einer »recession« der Demokratie warnen (Bermeo ; Diamond ; Foa/Mounk ).



. Demokratie und Nachkriegsordnung Man sollte Samuel Huntington Gerechtigkeit widerfahren lassen. Mit seinem Konzept der Demokratisierungswellen setzte er viel weniger stark auf einen teleologischen Fortschrittsoptimismus, als das die anderen genannten demokratischen Wachstumstheoretiker tun. Er betrachtete die dritte Welle der Demokratisierung als Folge eines Bündels von fünf spezifischen Ursachen. Erstens sieht er wachsende Legitimationsprobleme autoritärer Regime in einer Welt, in der das demokratische Prinzip ein hohes Maß an Anerkennung genießt. Dieser erste Grund beruht auf der politischen Modernisierungstheorie (Inglehart/Welzel ) und verweist insofern auf langfristige, scheinbar unumkehrbare Trends. Huntington nennt aber auch historisch kontingente Faktoren wie die langanhaltende Phase des ökonomischen Aufschwungs (der zweite Grund) und den Wandel in der politischen Doktrin der katholischen Kirche, die sich erst ab den sechziger Jahren zur Demokratie bekannte, was Huntington als dritte Ursache anführt. Schließlich identifiziert er die veränderte Außenpolitik der USA , der UdSSR und der EU sowie einen Schneeballeffekt als Gründe vier und fünf. Freilich wirken diese Gründe etwas beliebig und einigermaßen theoriefrei zusammengewürfelt. Eine systematischere Bestandsaufnahme der demokratischen Erfolgsgeschichte sollte zunächst an dem historischen Wendepunkt ansetzen, den alle Vermessungen der Demokratie so eindeutig anzeigen: das Ende des Zweiten Weltkriegs. Von da an ging es steil – so steil und so lange wie noch nie zuvor – bergauf. Das zeigen die Abbildungen  und  zweifelsfrei. Wenn sich politische Entwicklungen in vielen Ländern, an vielen Orten und in vielen Regionen in ähnlicher Form und mehr oder weniger gleichzeitig ereignen, bietet es sich an, zu

nächst die vergleichende Perspektive zu verlassen und einen Blick auf das internationale Umfeld zu richten. Vergleicht man Demokratien miteinander und fragt nach Bedingungsfaktoren für die Entwicklung in einzelnen Ländern, tut man nämlich so, als ob die Entwicklung in einem Land unabhängig von der in anderen Ländern erfolgt (Jahn ; Zürn ). In der realen Welt beobachten sich Gesellschaften aber, sie lernen voneinander und ahmen einander nach. Gleichzeitig sind sie alle eingebettet in einen gemeinsamen globalen Kontext – in die Weltordnung bzw. das globale System. Dieser globale Kontext war nach  demokratieförderlich. Die Weltordnung, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte, machte die Welt sicherer für die Demokratie (Zürn a). Mittlerweile hat sich dieser für die Ausbreitung der Demokratie so förderliche Kontext jedoch in einigen entscheidenden Hinsichten verändert. Schon in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs begannen die Alliierten mit Planungen für die Nachkriegswelt. Das Treffen von Expertinnen aus den Vereinigten Staaten, der Sowjetunion, China und dem Vereinigten Königreich, das von August bis Oktober  in Dumbarton Oaks stattfand, ist dabei die bekannteste einer ganzen Reihe von Zusammenkünften. Das Ergebnis der Beratungen in dem malerischen Herrenhaus in Washington, D. C., war ein bereits recht genauer Plan für die Vereinten Nationen, einschließlich einer Strategie, wie man trotz der privilegierten Stellung der Großmächte im Sicherheitsrat der Uno die Unterstützung der übrigen Welt gewinnen könnte. Etwa zur gleichen Zeit wurden auf einer Konferenz in Bretton Woods, einem Städtchen in New Hampshire, die Pläne für eine liberale Wirtschaftsordnung mit offenen Grenzen entwickelt, mit der eine Wiederholung des weltwirtschaftlichen Chaos vermieden werden sollte, das nach dem Schwarzen Freitag von  beinahe 

die ganze Welt erfasst hatte. Die Vereinigten Staaten gaben ihre isolationistische Haltung auf (Ambrose ) und strebten stattdessen eine institutionalisierte Weltordnung unter ihrer Führung an. Die Befürworterinnen in den USA sahen darin ein Mittel, sowohl den Interessen der damals bei Weitem produktivsten Volkswirtschaft zu entsprechen als auch die politischen Ideen zu exportieren, die hinter dem amerikanischen Exzeptionalismus standen (Kolko/Kolko ). Weitere Schritte in diesem Prozess waren die UN -Charta von , der Marshallplan von  und der Nordatlantikvertrag von . Während Großbritannien die Rolle als Juniorpartner akzeptierte, hatten Stalin und die Sowjetunion, aber auch das kommunistische China ihre eigenen Vorstellungen. Die Eroberung Osteuropas und seine Integration in ein »sowjetisches Imperium« bewirkte de facto eine Spaltung zwischen Ost und West. Die internationale Ordnung bestand in der Folge aus zwei getrennten Ebenen des internationalen Systems: die regionale Ebene der beiden Blöcke, die jeweils von einer Supermacht angeführt wurden und intern ein hohes Maß an Kooperation beinhalteten; und eine globale Ebene, die von den Ost-West-Beziehungen und den Konflikten zwischen den beiden Supermächten beherrscht wurde. Innerhalb der westlichen Welt führte der Plan, die Handels- und Währungspolitik zu koordinieren, um Zölle zu senken und Abwertungswettläufe zu vermeiden, zu einer amerikanischen und britischen Zusammenarbeit bei der Errichtung des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (General Agreement on Tariffs and Trade, kurz GATT ), des Internationalen Währungsfonds (IWF ) und der Weltbank. Harry Dexter White (für die Vereinigten Staaten) und John Maynard Keynes (für das Vereinigte Königreich) gelten als die Architekten dieser Konstruktion. Das internationale Han

delsregime wurde  auf der Grundlage des GATT ins Leben gerufen. Es forderte die Staaten auf, alle Kontingente für den Handel mit Industriegütern abzuschaffen und die Zölle zu senken. Vor allem aber führte es das »Meistbegünstigungsprinzip« ein, so dass jeder Vorteil und jedes Privileg, die eine Vertragspartei für Produkte einer anderen Partei gewährte, auch allen anderen Vertragsparteien gewährt werden mussten. Der IWF war bereits  gegründet worden. Er sollte eine liberale internationale Wirtschaft durch ein System der freien Konvertibilität von Währungen unterstützen, die in festen Wechselkursen mit dem US -Dollar verankert waren. Darüber hinaus wurde die Weltbank errichtet, um Entwicklungsprojekte und -prozesse in den ökonomisch benachteiligten Teilen der Welt zu beschleunigen. Obwohl diese internationalen Institutionen im Modus eines exekutiven Multilateralismus ohne nennenswerte gesellschaftliche Beteiligung funktionierten, dienten sie einem klar erkennbaren sozialen Zweck: der globalen Ermöglichung des demokratischen Wohlfahrtsstaates, der ein bestimmtes internationales Umfeld benötigte (Katzenstein ). Der soziale Zweck, auf dem diese internationalen Institutionen beruhten, kommt in dem Begriff »eingebetteter Liberalismus« treffend zum Ausdruck. Der eingebettete Liberalismus war ein Arrangement des Freihandels und der offenen Grenzen, der es nationalen politischen Systemen jedoch ermöglichte, vom globalen Markt ausgelöste Schocks und Ungleichheiten abzufedern (Ruggie ). Die internationalen Institutionen, die auf der Grundlage des Prinzips des eingebetteten Liberalismus geschaffen wurden, ermöglichten einen relativ unbegrenzten Handel zwischen allen Industriestaaten und ließen gleichzeitig erhebliche Unterschiede in der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung der na

tionalen Produktionsregime und Wohlfahrtsstaaten zu (Esping-Andersen ; Hall/Soskice ). Die internationalen Institutionen des eingebetteten Liberalismus erleichterten die Entwicklung demokratischer Wohlfahrtsstaaten. Innerhalb der fortgeschrittenen kapitalistischen Ökonomien konnte sich ein historischer Kompromiss zwischen Kapital und Arbeit bilden. Gewerkschaften akzeptierten offene Märkte und die damit verbundenen wirtschaftlichen Unsicherheiten, während exportorientierte Unternehmensverbände den Aufbau des Wohlfahrtsstaats hinnahmen, um diese Unsicherheiten abzudämpfen. Der historische Kompromiss kam in unterschiedlichen Versionen: Es begann in den USA in den dreißiger Jahren mit Franklin D. Roosevelts New Deal, unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg folgten die skandinavischen Kleinstaaten (Katzenstein ) und die konservativen Wohlfahrtsstaaten in anderen europäischen Staaten dann ab der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre (Esping-Andersen ). Im Ergebnis kontrollierten einige der entstehenden Wohlfahrtsstaaten – Schweden zum Beispiel – bald über mehr als fünfzig Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP ). Andere Länder wie die Schweiz blieben mit rund dreißig Prozent auf einem deutlich niedrigeren Niveau. Es ist diese Vielfalt, die auf die beiden entscheidenden Elemente und Leistungen der Einbettung hinweist: Sie ermöglichte die Abfederung sozialer Risiken im liberalen Weltmarktwettbewerb (Wohlfahrtseinbettung), und sie ermöglichte freie politische Entscheidungen darüber, ob und wie (mittels welcher nationalen Wohlfahrtssysteme) die Abfederung erfolgte. Die Errungenschaften dieser Ordnung reichten weit über die wirtschaftliche Sphäre hinaus. Demokratie, internationale Institutionen und Interdependenz verstärkten sich gegenseitig, was zu einem stabilen Frieden zwischen den demokratischen Wohlfahrtsstaaten führte (Russett/Oneal ). Vor 

dem Hintergrund der wahrgenommenen Bedrohung durch die Sowjetunion war es erstmals möglich, innerhalb der sogenannten »OECD -Welt« eine transatlantische und teilweise auch transpazifische Sicherheitsgemeinschaft zu etablieren. Der historische Kompromiss diente sowohl dem außenpolitischen Interesse an internationaler Stabilität und einem geeinten Westen als auch dem Interesse der Exportindustrien an offenen Märkten sowie der Gewerkschaften am Ausbau des Wohlfahrtsstaates. Diese Konstellation ermöglichte das Zeitalter der Sozialdemokratie (Scharpf ; Benedetto et al. ). Aus heutiger Sicht gelten die siebziger und frühen achtziger Jahre als Hochphase des demokratischen Rechtsund Interventionsstaates (Leibfried/Zürn ). Die Vermessung der Demokratie zeigt, dass wir insbesondere für diese Zeit einen sehr steilen Anstieg der Anzahl von Demokratien beobachten können. In gewisser Weise waren die Nachkriegsinstitutionen jedoch zu erfolgreich. Der eingebettete Liberalismus setzte eine kontinuierliche Dynamik der Liberalisierung und des beschleunigten technologischen Fortschritts in Gang, deren Zusammenspiel einen Globalisierungsschub auslöste (Beisheim et al.; Held et al.). Als Folge verstärkter grenzüberschreitender Transaktionen konnte nationale Politik ab Mitte der achtziger Jahre nicht mehr in allen Bereichen die gewünschten Ergebnisse erzielen, etwa weil Umweltexternalitäten wirtschaftlichen Handelns jenseits nationaler Grenzen zu spüren waren oder weil bestimmte Maßnahmen die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen vermindert hätten (bzw. weil die Unternehmen nicht länger bereit waren, nationale Wohlfahrtsregime zu finanzieren). Die rasche Zunahme der Direktinvestitionen und insbesondere die hochsensiblen Finanzmärkte schränkten den Entscheidungsspielraum in Bezug auf nationale Marktinterventionen und Sozialschutz

programme stark ein. Diese Entwicklungen standen im Einklang mit der wachsenden Bedeutung des transnationalen Finanzkapitals, einem relativen Rückgang der nationalen Exportindustrien und dem Aufstieg einer transnationalen Klasse (van der Pijl ). Darüber hinaus beinhaltete die Vertiefung der liberalen Ordnung eine kontinuierliche Stärkung der internationalen Regime, die von den Staaten eine Öffnung der Grenzen verlangten, um den freien Austausch von Waren, Kapital, Arbeit und Dienstleistungen zu ermöglichen. Im Gegenzug entwickelte sie aber keine Instrumente, um die Marktergebnisse auf internationaler Ebene zu verändern oder zu korrigieren (Streeck ). Nach Scharpf () überwog die »negative« die »positive Integration«. Das Paradoxon des Nachkriegsliberalismus liegt also darin, dass er seine eigenen institutionellen Abfederungsmechanismen angriff. Er untergrub seine eigene Erfolgsbasis und produzierte Verliererinnen in den Industrieländern, in denen der Wohlfahrtsstaat und die gesellschaftliche Unterstützung für schwächere Individuen stark verankert waren. Gleichzeitig investierten global tätige Unternehmen zunehmend in allen Teilen der Welt und nutzten niedrige Arbeitskosten in ärmeren Ländern. Das Ergebnis zeigt sich in der eingangs diskutierten Elefantenkurve. Die Auflösung des sozialistischen Lagers kann als ein weiterer Schritt in dieser pfadabhängigen Geschichte gesehen werden. Mit der Entspannung zwischen Ost und West und insbesondere mit der Helsinki-Erklärung von  drang das Konzept der individuellen Rechte in den sowjetischen Herrschaftsbereich ein, was die Opposition stärkte. Gorbatschows Perestroika reagierte teilweise auf oppositionelle Gruppen, die mehr Freiheit forderten, und teilweise auf die Globalisierung und den Druck, den sie auf die stagnierende 

sowjetische Wirtschaft ausübte. Das Scheitern der Perestroika brachte die Sowjetunion zu Fall. Das Ende des Kalten Krieges schuf neue Möglichkeiten, die internationale Zusammenarbeit zu verstärken. Am dramatischsten war der Wandel innerhalb Europas. Um die deutsche Wiedervereinigung in die europäische Integration einzubetten, gab die Regierung Kohl dem französischen Druck nach und akzeptierte eine Währungsunion. Neben dieser Vertiefung der EU ist vor allem ihre Erweiterung bemerkenswert. Unmittelbar nach dem Fall der Mauer begann ein Ansturm auf die Union. Für die meisten osteuropäischen Staaten galt eine Mitgliedschaft als Garant für wirtschaftlichen Wohlstand und Unabhängigkeit von Russland. Als Reaktion auf diese Forderung entwickelte die EU  die Kopenhagener Kriterien, nach denen ein Land die Menschenrechte akzeptieren, eine Demokratie sein, einen freien Markt garantieren und bereit sein muss, den gemeinsamen Besitzstand an Rechten und Pflichten (acquis communautaire) zu übernehmen, bevor es Mitglied werden kann. Auf diese Weise übte die EU enormen Druck zugunsten liberal-demokratischer Reformen in diesen Ländern aus. Die europäische Erweiterung kann in diesem Sinne als der erfolgreichste Fall einer externen Einmischung in die inneren Angelegenheiten von Staaten in der jüngeren Geschichte angesehen werden (siehe z. B. Kelley a, b). Innerhalb von etwas mehr als einem Jahrzehnt wurde eine große Zahl ehemals sozialistischer Staaten Osteuropas in die EU und teilweise auch in die Nato integriert – trotz kritischer Stimmen im Westen und in Russland (Schimmelfennig ). Letztlich konnten am . Mai  acht mittel- und osteuropäische Länder (Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn) sowie zwei Mittelmeerländer (Malta und Zypern) der EU beitreten. Gemessen 

an der Zahl der Menschen und der Zahl der Länder, war dies die größte Einzelerweiterung. Anschließend traten am . Januar  Rumänien und Bulgarien bei, die  noch nicht als beitrittsreif gegolten hatten. Im Jahr  folgte Kroatien. Die Osterweiterung diente der Integration Osteuropas in ein offenes globales System, auch wenn dieser Schritt politische Reformen in Russland möglicherweise untergraben hat, weil die Expansion des Westens dort als Bedrohung wahrgenommen wurde und autoritäre Abwehrreaktionen verstärkte. Auf globaler Ebene führte in den neunziger Jahren eine Reihe großer Konferenzen (siehe Brozus ) unter maßgeblicher Beteiligung nichtstaatlicher Akteure zu einer Welle neuer internationaler Abkommen. Diese Abkommen beschränkten sich nicht mehr auf die Öffnung der Märkte, sondern beinhalteten nun auch positive internationale Regelungen und Eingriffe. Drei dieser Abkommen sind besonders wichtig: Erstens führte die Uruguay-Handelsrunde von  zur Gründung der Welthandelsorganisation (WTO ) im Jahr . Das neue Abkommen hatte nicht nur erhebliche Auswirkungen auf den Handel (es zielte auch auf nichttarifäre Handelshemmnisse wie Subventionen, Eigentumsrechte, Produktregulierung ab; siehe Kahler ); vielmehr sah die WTO zugleich ein Streitbeilegungsverfahren vor, das den Staaten das Vetorecht entzog. Nur im Falle eines einstimmigen Votums der Mitgliedsstaaten können Entscheidungen des Streitbeilegungsgremiums (DSB ) oder des Berufungsgremiums abgelehnt werden. Dadurch werden nationale Befugnisse an internationale Gremien delegiert (Zangl ). Derzeit sind  Staaten Mitglieder der WTO . Zweitens wurden mit dem Kyoto-Protokoll () zum Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen (UNFCCC ) verbindliche Verpflichtungen der Industrieländer zur Verringerung der Emissionen von Treib

hausgasen festgelegt. Obwohl schnell klar wurde, dass die Verpflichtungen nicht ausreichen würden, um den Klimawandel wirksam zu bekämpfen, wurde das Abkommen von vielen als erster Schritt auf dem Weg zur Schaffung eines starken internationalen Regimes gegen die globale Erwärmung angesehen. Drittens begann der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, eine viel aktivere Rolle in der Weltpolitik zu spielen. Er definierte humanitäre Katastrophen und Bürgerkriege als Bedrohung für den internationalen Frieden und intervenierte in einigen entsprechenden Fällen mit militärischen Mitteln (Chesterman ). Somalia, Haiti, Bosnien und Afghanistan sind bekannte Beispiele. Damit etablierte der Sicherheitsrat ein Regime der Friedenserzwingung; die internationale Staatengemeinschaft sollte von nun an in der Lage sein, inneren Frieden von außen herzustellen (Zangl/Zürn ). Im Fall des Kosovo versuchten die westlichen Staaten vom Rat eine weitere Ermächtigung zur Erzwingung des Friedens in einem Bürgerkrieg zu erhalten. Da Russlands traditioneller Verbündeter Serbien das Ziel einer solchen Intervention war, stand schnell fest, dass der Entwurf einer Resolution den Sicherheitsrat nicht passieren würde. Schließlich intervenierte die Nato ohne UN -Mandat. Dies wurde von einigen als Vorwegnahme einer Norm der Schutzverantwortung (»Responsibility to Protect«, kurz RP) interpretiert. Ins Bild passte auch die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs (IS tGH ). Das entsprechende Römische Statut wurde im Juli  angenommen; die USA und weitere Staaten sind dem Statut bis heute nicht beigetreten (Deitelhoff ). Im Ergebnis kam es in den neunziger Jahren zu einer systemischen Verschiebung der globalen Ordnung. Während sich nach dem Zweiten Weltkrieg ein internationaler Multilateralismus herausgebildet hatte, kam es nach dem Kalten Krieg 

zu einem postnationalen Liberalismus, der viel stärker in nationale Angelegenheiten eingriff und den eingebetteten Liberalismus mit neoliberalen Institutionen vermengte. Teil dieser Entwicklung war ein weiterer, besonders deutlicher Anstieg der Zahl der Demokratien (siehe Abbildung ). Gleichzeitig hat der Wandel hin zu einem postnationalen Liberalismus zu Anfechtungen geführt, die seit Ende der neunziger Jahre immer deutlicher zutage traten (Börzel/ Zürn ). Viele postnationale liberale Institutionen werden kritisiert, weil sie zugunsten westlicher Gesellschaften und Eliten arbeiten, einen neoliberalen Charakter mit erheblichen Verteilungseffekten haben, mit zweierlei Maß messen und ungleiche Machtverhältnisse institutionalisieren. Die Zunahme des islamischen Fundamentalismus, der Revisionismus in Russland, der Aufstieg Chinas, die Antiglobalisierungsbewegungen sowie die Verbreitung von Rechtspopulismus und Nationalismus in Europa und den USA erwiesen sich als neue (oder erneute) Herausforderungen. Kritisiert wird das universelle Verständnis individueller Rechte, das von starken Institutionen getragen wird und zur Ausbreitung einer »ungesunden« Vielfalt von Lebensstilen (Multikulturalismus, LGBTQ +) beitrage. Grenzen werden wieder betont, der freie Verkehr von Kapital, Waren, Dienstleistungen und Menschen zunehmend infrage gestellt. All dies geht einher mit einer wachsenden Ablehnung politischer Autorität jenseits des Nationalstaates. Die Legitimität multilateraler Institutionen zum Schutz und zur Förderung von wirtschaftlicher Freiheit, von Sicherheit, Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wird von autokratischen Regimen, aber auch von nationalistisch-populistischen Kräften auf der Rechten sowie von linken Bewegungen in Zweifel gezogen, die sich gegen die neoliberale Politik in den westlichen Staaten richten. 

In der Folge verliert die globale Ordnung an Anerkennung und Legitimität, weil die internationalen Institutionen als Instrumente der liberalen Globalisten und der Exekutiven einiger weniger mächtiger Staaten angesehen werden. Der postnationale Liberalismus drängt die Staaten zur Achtung der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der demokratischen Prinzipien und stellt universelle liberale Ideen über die Volkssouveränität. Darüber hinaus werden die Verteilungseffekte internationaler Institutionen sichtbarer. Im Allgemeinen kommt die liberale internationale Ordnung Menschen mit mobilen Ressourcen zugute, die im Einklang mit einer liberalen kosmopolitischen Weltsicht handeln. Diese Merkmale des postnationalen Liberalismus haben nicht nur zu einer deutlichen Zunahme der Politisierung internationaler Institutionen geführt (Zürn et al. ), sondern auch die Abwehrreaktionen der autoritären Populisten innerhalb und außerhalb liberaler Gesellschaften befeuert. Der eingebettete Liberalismus machte das Leben für die Demokratien einfacher. Das Aufblühen konsolidierter Demokratien und die dritte Welle der Demokratisierung hingen von dieser liberalen internationalen Ordnung ab. Diese Ordnung hat sich jedoch gewandelt, sie hat sich vertieft und radikalisiert – sie greift stärker als früher in die Politik der Staaten ein. Der Siegeszug der Demokratie endet, weil wirtschaftlicher Fortschritt offenbar auch ohne sie zu haben ist und weil sich Teile der Bevölkerung gegen den liberalen Kosmopolitismus wehren. Der Wandel der internationalen Rahmenbedingungen führt möglicherweise zum Ende einer Periode, in der Demokratien wie nie zuvor gedeihen konnten.



. Gibt es eine demokratische Regression? Wie wir oben gesehen haben, hat die Anzahl der Demokratien nach einem lange Anstieg zuletzt wieder abgenommen. Aber reicht dieser Befund aus, um von demokratischer Regression zu sprechen? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir nicht nur wissen, ob Länder von Demokratien zu Autokratien geworden sind, sondern auch, ob sich die Demokratiequalität in vielen Ländern gleichzeitig verschlechtert hat.Wir überprüfen das, indem wir erneut die V-Dem-Daten zur Vermessung der Demokratie heranziehen. In einem ersten Schritt identifizieren wir dabei die Länder, in denen die Demokratiequalität über einen Fünfjahreszeitraum um mindestens zehn Prozentpunkte zurückgegangen ist. 6 Natürlich führt nicht jede Verschlechterung der Demokratiewerte unmittelbar in die Diktatur. Ab einer gewissen Größe der Veränderungen ist es jedoch gerechtfertigt, von einer »Autokratisierung« (Lührmann et al. ) zu sprechen. Handelt es sich dabei um eine breit angelegte Entwicklung, so verweist das auf eine demokratische Regression. In Abbildung  ist die Anzahl der Länder abgetragen, die in den jeweils vorherigen fünf Jahren einen kumulierten Rückgang des Indexes der liberalen Demokratie um mindestens fünf (hellgrau) oder zehn Prozentpunkte (dunkelgrau) erlebt haben. Insbesondere seit den zehner Jahren ist ein deutlicher Anstieg der Länder zu beobachten, in denen die Demokratiequalität sinkt. Anders als in den sechziger und in den frühen nuller Jahren wird

 Wir verwenden diesen Index, um uns nicht dem Vorwurf auszusetzen, ein unrealistisch anspruchsvolles Demokratiekonzept anzulegen, um dann vor dem Verfall der Demokratie warnen zu können. Die Ergebnisse würden sich aber nicht wesentlich verändern, wenn wir eine anspruchsvollere Version gewählt hätten. 

die Verschlechterung der Werte in manchen Ländern nicht durch einen Fortschritt in anderen Ländern ausgeglichen und schlägt sich somit auch in den Nettowerten von Verschlechterungen und Verbesserungen nieder. Abb. : Wellen demokratischer Regression seit 

Anzahl der Länder

40

30

20

10

0 1900

1920

1940

1960

1980

2000

2020

Daten: V-Dem, Version .

Anmerkung: Dargestellt ist für jedes Jahr die Anzahl der Länder, in denen der Index der liberalen Demokratie in den jeweils letzten fünf Jahren um fünf (hellgrau) oder zehn Prozentpunkte (dunkelgrau) zurückging.

In fast zwei Dritteln der  Länder, die gemessen am Index der liberalen Demokratie im Jahr  als demokratisch galten, hat sich der Wert seither verschlechtert. In nichtdemokratischen Ländern liegt der Anteil bei einem Drittel. Die bislang betrachteten Zahlen erfassen das Ausmaß demokratischer Regression freilich noch nicht in vollem Umfang. Denn wenn allein die Anzahl der Demokratien gezählt wird, fließt nicht in die Betrachtung ein, ob es sich um bevölke

rungsreiche oder -arme Länder handelt. Wird Indien von einer Demokratie zu einer Autokratie herabgestuft, zählt dies so viel wie die gleiche Veränderung beispielsweise in Lesotho, obwohl in Indien , Milliarden Menschen leben, in Lesotho hingegen nur , Millionen. Ein Kennzeichen der aktuellen Phase demokratischer Regression ist jedoch, dass sie sich insbesondere in bevölkerungsreichen Ländern ereignet. Insgesamt erlebt ein Drittel der Weltbevölkerung einen Rückbau der Demokratie, und nur acht Prozent leben in Ländern, in denen sich die Demokratiequalität verbessert (Maerz et al. , S. ). Für eine Fortschrittsbeschreibung der demokratischen Entwicklung ist es schon abträglich genug, dass das bevölkerungsreichste Land der Erde sich hartnäckig wehrt, demokratisch zu werden. Das Bild wird aber kaum besser, wenn wir uns die Entwicklung in den neun größten Ländern der Erde anhand der V-Dem-Daten ansehen. In China, Indien, den USA , Indonesien, Pakistan, Brasilien, Nigeria, Bangladesch und Russland leben zusammen , Milliarden Menschen, die mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung ausmachen. Fortschritte der Demokratiequalität lassen sich in dieser Gruppe nur in Pakistan und Nigeria feststellen. Allerdings finden wir auch hier nur Veränderungen auf niedrigem Niveau, zudem weist die Kurve in Pakistan seit einigen Jahren wieder nach unten. Keine Fortschritte gibt es in Indonesien, das durchgängig etwa am Mittelwert der Skala liegt. Die niedrigsten Werte weist China auf, das in den letzten zwanzig Jahren keinen Deut demokratischer geworden ist. Bangladesch und Russland sind heute sogar noch undemokratischer als im Jahr . In drei Ländern, die zu Beginn des betrachteten Zeitraums zu den liberalen Demokratien zählten, Brasilien, Indien und die USA , ist seither ein starker bzw. mo

derater Rückgang der Demokratiequalität zu verzeichnen. In Indien, das trotz Armut, Ungleichheit und ethnisch-religiöser Konflikte lange Zeit als Erfolgsmodell galt, hat sich der Niedergang der liberalen Demokratie seit der Amtsübernahme der hindunationalistischen BJP unter Narendra Modi deutlich beschleunigt. Seit der Unabhängigkeit  war es nur während des Ausnahmezustands von  bis  um die Demokratie in Indien schlechter bestellt als in der Gegenwart. Auch Brasilien, beginnend mit der durch Korruptionsaffären geplagten Präsidentschaft Lula da Silvas und verschärft seit der Amtsübernahme von Jair Bolsonaro, hat deutliche Rückschritte erlebt. Im Vergleich dazu ist die demokratische Regression in den USA bisher weniger stark ausgeprägt, selbst wenn Präsident Trump schon während seiner Amtszeit wenig Verständnis für Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit der Justiz oder die Pressefreiheit an den Tag legte (Levitsky/Ziblatt ) und spätestens mit der verweigerten Anerkennung der Wahlniederlage seine Missachtung demokratischer Prozesse offenlegte. Die demokratische Regression betrifft besonders bevölkerungsreiche Länder, beschränkt sich aber nicht auf diese. Aus Tabelle  geht hervor, dass sich die Qualität der liberalen Demokratie seit  weltweit in insgesamt  Ländern stark, also um mindestens  Prozentpunkte (dunkelgraue Länder in Abbildung ), verschlechtert hat. 7 Um sogar mehr als  Prozentpunkte ging der Index in der Türkei, in Polen, Serbien, Ungarn und Brasilien zurück.Während sich die Demokratiequalität in der Türkei zwischen den späten Neunzigern  Auffällig an der Liste ist, dass sich unter den  Ländern fünf aktuelle EU -Mitgliedstaaten befinden und mit Serbien und der Türkei zwei weitere, die eine Mitgliedschaft anstreben (oder zumindest lange angestrebt haben). 

und  noch verbessert hatte, hat seither eine dramatische Umkehr stattgefunden. Die Türkei zählt heute zu den autokratischen Ländern. Auch Ungarn liegt inzwischen unter der Schwelle, ab der Länder noch zum Kreis der liberalen Demokratien gezählt werden. Während Forschungsarbeiten gezeigt haben, dass das Ziel der EU-Mitgliedschaft sich positiv auf demokratische Reformen auswirkt, verfügt die EU bisher über keine effektiven Instrumente, um entsprechende Staaten zu sanktionieren, wenn sie einmal Mitglied geworden sind und sich die Demokratiequalität wieder verschlechtert – und das gilt insbesondere dann, wenn mehrere solche Länder ein gemeinsames Vorgehen verhindern. Die Daten in Tabelle  zeigen zudem, dass sich der demokratische Rückzug eher schleichend vollzieht. Demokratien sterben heute anders und langsamer. Früher wurden sie durch Militärputsche, Staatsstreiche oder Großmachtinterventionen auf einen Schlag beseitigt. Heute finden zwar Wahlen weiterhin statt, aber die gewählten Regierungen nutzen ihre (parlamentarischen) Mehrheiten, um die Spielregeln der Demokratie zu manipulieren (Levitsky/Ziblatt ; Lührmann/Lindberg ). Erosion tritt an die Stelle von Eradikation, Absterben an die Stelle von Auslöschung. Sehr schlanke Demokratieindizes, die sich nur auf Wahlen konzentrieren, erfassen das volle Ausmaß der Veränderungen nicht, weil Wahlen nicht vollständig abgeschafft oder der Wahlakt selbst beschränkt wird. Vielmehr werden jene Freiheiten eingeschränkt, die freie und faire Wahlen, Gewaltenteilung oder Machtkontrolle erst ermöglichen. 8 Die Bürgerinnen dürfen auch in »elektoralen Autokratien« wählen, aber  Deswegen muss sich auch die alarmistische Rhetorik des gegenwärtigen Reports des Freedom House von den quantitativen Befunden entkoppeln (Repucci ). 

Tab. : Demokratische Regression von  bis  Land

Türkei Polen Serbien Ungarn Brasilien Indien Kroatien Mali Thailand Nicaragua Sambia USA

Burkina Faso Philippinen Komoren Malediven Benin Burundi Tschechische Republik Bolivien Bulgarien Bangladesch Mauretanien

liberale Demokratie im Jahr ?

LDI

LDI

LDI







Rückgang ()

nein ja nein ja ja ja ja nein nein nein nein ja nein nein nein nein ja nein ja ja ja nein nein

, , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

, , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

, , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

–, –, –, –, –, –, –, –, –, –, –, –, –, –, –, –, –, –, –, –, –, –, –,

Daten: V-Dem-Datensatz, Version , .

Anmerkung: In die Liste aufgenommen wurden alle Länder, die zwischen  und  einen Rückgang im Index der liberalen Demokratie um mindestens zehn Prozentpunkte aufweisen.

sie können sich nicht ungehindert als Opposition organisieren, sich unabhängig von der Regierung über politische Sachverhalte informieren oder sich durch Klagen (erfolgreich) gegen rechtliche Einschränkungen wehren. Autokratische Herrscher zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Spielregeln der liberalen Demokratie so zu ihren Gunsten verändern, 

dass zwar Wahlen stattfinden können, dass die eigene Abwahl aber höchst unwahrscheinlich ist. Abb. : Veränderungen von Teilaspekten der Demokratie Deliberation

Glechheit

Integrität von Wahlen

Partizipation

Rechtstaatlichkeit

Anzal Verbesserung

80

60 lokale Wahlen

Einflussgleichheit

unmanipulierte Wahlergebnisse

legislative Kontrolle zivilgesell. Beteiligung judikative Kontrolle Deliberation Gleichheit vor dem Gesetz Nichtdiskriminierung regionale Wahlen Ressourcenverteilung Meinungsfreiheit

40

20

Vereinigungsfreiheit direkte Demokratie Ämtervergabe

0

Anteil Wahlberechtigte

0

20

40

60

80

Anzahl Verschlechterung Daten: V-Dem, Version .

Anmerkung: Dargestellt ist, in wie vielen Ländern sich ein Subindikator der Demokratie seit  um mindestens , Punkte (auf einer Skala von  bis ) verschlechtert (horizontale Achse) oder verbessert (vertikale Achse) hat. Ist der Indikator unterhalb der Diagonale eingezeichnet, fand in mehr Ländern eine Verschlechterung statt und umgekehrt.

Mithilfe der »Varieties of Democracy«-Daten lässt sich auch feststellen, welche Komponenten besonders unter Beschuss stehen. In Abbildung  sind die Komponenten der Demokratie aufgelistet, bei denen sich Verbesserungen oder Verschlechterungen beobachten lassen. Wenn sich ein Element bzw. Indikator in mehr Ländern verschlechtert als verbessert hat, taucht er unterhalb der diagonalen Linie auf. Aus dem 

Vergleich von positiven und negativen Trends kann man eine Reihe von Schlussfolgerungen ziehen. Erstens verschlechterten sich zwischen  und  mehr Teilaspekte der Demokratie, als sich verbesserten. Der Indikator Meinungsfreiheit beispielsweise ging in  Ländern zurück, während er sich nur in  Ländern verbesserte. Sehr häufig waren zweitens Verschlechterungen bei den Voraussetzungen freier und fairer Wahlen zu beobachten. In vielen Ländern wurden die Meinungs- sowie die Vereinigungsfreiheit, aber auch die Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteure oder die rechtliche Gleichheit eingeschränkt. Auch die Diskriminierung sozialer Gruppen hat zugenommen. Zwar ist, drittens, auch die Manipulation von Wahlergebnissen in mehr als  Ländern häufiger geworden, doch lässt sich in noch mehr Ländern eine Verbesserung beobachten. Kaum Veränderungen gab es schließlich bei der Wahlberechtigung und bei der Vergabe von Ämtern durch Wahlen.

. Nach dem Optimismus Viele Beobachterinnen blickten vor dreißig Jahren optimistisch in die Zukunft. Die liberale Demokratie hatte sich gegen ihre Herausforderer durchgesetzt, und selbst die verbohrtesten Autokraten fürchteten um ihre Macht. Über kurz oder lang würden sich auch Nordkorea, Saudi-Arabien oder Südafrika, so erwartete es nicht nur Fukuyama, zu liberalen Demokratien entwickeln. Die Geschichte verliefe dadurch nicht ereignislos, aber sie wäre nicht länger eine Auseinandersetzung zwischen rivalisierenden Gesellschaftsentwürfen, schließlich hatte sich ein Entwurf als der überlegene erwiesen. Die Erwartung war, dass sich keine weltumspannenden Konfliktlinien und Systemkonflikte mehr ausbilden würden. 

Die Rede vom Ende der Geschichte erwies sich aber alsbald als Geschichte. Es zeigte sich recht schnell, dass sich die Demokratie nicht kontinuierlich ausbreitet. Ein säkularer Trend zugunsten der Demokratie lässt sich nicht nachweisen. Vielmehr haben wohl spezifische historische Kontextbedingungen nach dem Zweiten Weltkrieg die Ausbreitung der Demokratie befördert. Mit dem Wegfallen dieser Bedingungen scheint sich eine Autokratisierung Bahn zu brechen. Besorgniserregend ist der aktuelle Trend in Richtung weniger Demokratie, weil Länder davon erfasst worden sind, die zu den konsolidierten Demokratien zähl(t)en. Nicht allein die »üblichen Verdächtigen« – von relativer Armut und sozialer Ungleichheit geplagte Länder, die vielfältige religiöse und sprachlich-ethnische Konfliktlinien aufweisen (Maeda ; Tomini/Wagemann ) –, sondern auch reiche und weniger ungleiche Länder, die lange als Inbegriff der demokratischen Stabilität galten, weisen heute Erosionstendenzen auf. Besonders auffällig und zugleich besorgniserregend ist, dass vor allem große und mächtige Länder von diesem Trend betroffen sind. Damit zeichnet sich, wie wir im nächsten Kapitel argumentieren werden, auch eine neue Konfliktlinie ab. Neu an der aktuellen Umkehrwelle der Demokratisierung ist nicht nur, welche Länder betroffen sind, sondern auch, wie sich der Demokratierückbau vollzieht. Rollten früher Panzer durch die Straßen, vollzieht sich demokratische Regression heute schleichend, zunächst an der Grenze der Wahrnehmbarkeit. Am Ende ist zwar klar erkennbar, dass ein Land nicht länger demokratisch regiert wird, weil die Medien nicht frei, die Opposition behindert, die Gewaltenteilung untergraben wird und Gerichte gleichgeschaltet sind, aber wann genau der erste Schritt in diese Richtung erfolgt, entgeht den Zeitgenossen häufig (vgl. Przeworski , Kap. ).Wann der »Vorkrieg« um das Überleben der Demo

kratie beginnt, ist auch deshalb schwierig zu erkennen, weil die neuen Autokratinnen für sich reklamieren, mehr Demokratie wagen zu wollen, und weil sie auf reale Probleme existierender Regime verweisen können. Funktionierte die Demokratie einwandfrei, böte sie ihren Gegnerinnen weniger Angriffsflächen.



. Die Ideologie des Populismus und die neue Konfliktlinie

Seit einigen Jahren befindet sich die Demokratie auf dem Rückzug. Diese Entwicklung lässt sich nicht nur in Ländern feststellen, die erst seit Kurzem demokratisch regiert werden, sondern auch in einigen altehrwürdigen Demokratien, die sich in der Vergangenheit autokratischen Versuchungen gegenüber als resilient erwiesen hatten. Mit oder ohne Schaudern kann man beobachten, wie die etablierten Parteien durch Marine Le Pen, Geert Wilders oder Alice Weidel und Alexander Gauland vor sich hergetrieben werden und wie traditionsreiche Parteien sich schillernden Persönlichkeiten wie Donald Trump oder Boris Johnson unterwerfen. Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich eine ganze Reihe von Büchern mit dem aktuellen Zustand der Demokratie und blickt mit Sorge nicht nur auf lateinamerikanische oder mittelosteuropäische Länder, sondern auch auf Deutschland, Frankreich, Großbritannien, die Niederlande, Schweden und die Vereinigten Staaten (Levitsky/Ziblatt ; Mounk ; Przeworski ; Runciman ). Auf die eine oder andere Weise haben sich alle diese Länder als anfällig für den Rechtspopulismus erwiesen, obwohl sie zu den reichsten Staaten der Welt gehören und seit Jahrzehnten als liberale Demokratien eingeordnet werden. Es ist diese interne Entwicklung in mehr oder weniger etablierten Demokratien, mit der wir uns in den weiteren Kapiteln dieses Buches vorrangig beschäftigen. Damit wollen wir nicht sagen, dass der Aufstieg technokratischer Autokratien wie Singapur und China eine mindere Herausforderung für die Demokratie darstellt. Ganz im Gegenteil: Weltpolitisch 

ist der ökonomische Erfolg Chinas von zentraler Bedeutung. Doch die Vermessung der Demokratie im vorhergehenden Kapitel deutet darauf hin, dass für den derzeit beobachtbaren demokratischen Rückgang weniger die zunehmende Stärke der Autokratien entscheidend ist, sondern die innere Schwächung existierender Demokratien. Daher soll es in den nächsten Kapiteln um letztere Entwicklung gehen. Wer über den Aufstieg des Populismus spricht, muss sich mit den inneren Schwächen etablierter Demokratien beschäftigen. Denn obwohl sich manche der populistischen Demagoginnen in kurzer Zeit selbst entzaubert haben – man denke an Ronald Schill, den »Richter Gnadenlos« aus Hamburg –, konnte sich der Populismus als dauerhaftes Phänomen etablieren. Doch warum verfangen die Botschaften populistischer Parteien und Bewegungen? Nur wenn wir auf diese Frage überzeugende Antworten finden, können wir sinnvoll über Strategien zur Verteidigung der Demokratie nachdenken. Dabei scheinen gängige Antworten zu übersehen, dass die Stärke des Populismus nicht nur zur Schwächung von Demokratien führt, sondern umgekehrt auch etwas mit den realen Schwächen in der aktuellen Funktionsweise der liberalen Demokratie zu tun hat. Tatsächlich hat die soziale, ideologische und räumliche Diskrepanz zwischen den Repräsentantinnen und den Repräsentierten zugenommen. Die Zusammensetzung von Parlamenten, Beratungsgremien und Behörden weicht stark – und stärker als früher – von jener der Bevölkerung ab. Nichtgewählte Gremien, die nur indirekt legitimiert sind und unterhalb der Schwelle der öffentlichen Aufmerksamkeit bleiben, treffen zudem oft politisch folgenreiche Entscheidungen, ohne die Betroffenen anzuhören. Und gerade in Krisenzeiten steht nicht die breite Beteiligung der Bevölkerung an, sondern wird vermehrt der Rat von Expertinnen eingeholt. Für all diese Trends mag es gute 

Gründe geben, aber sie bleiben nicht ohne Folgen für die Wahrnehmung von Politik. Die mangelnde Repräsentativität in den wichtigsten Entscheidungsorganen der Demokratie ist eine zentrale Ursache für den Aufstieg des Populismus und die demokratische Regression. Die demokratische Regression setzt sich aus einer doppelten Entfremdung zusammen: Zum einen haben sich die konsolidierten Demokratien in den letzten Jahrzehnten und im Zuge der in Kapitel  skizzierten historischen Entwicklung vom idealen demokratischen Prozess weiter entfernt. Zum anderen nehmen weite Teile der Bevölkerung eine Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit wahr. Der Teil der Bevölkerung, der von den Entwicklungen tatsächlich oder auch nur gefühlt negativ betroffen ist, verliert das Vertrauen in demokratische Institutionen, die als fern und gemäß ihrer eigenen Logik operierend wahrgenommen werden. Der autoritäre Populismus ist eine Folge dieser Entwicklung. Bevor wir im nächsten Kapitel eine politische Erklärung des Aufstiegs autoritär-populistischer Parteien entfalten, wollen wir im Folgenden zunächst den ideellen Gehalt des neuen Populismus herausarbeiten und ihn als Ergebnis einer neuen gesellschaftlichen Konfliktlinie einordnen. Das Kapitel endet mit einer Diskussion vorherrschender, aber aus unserer Sicht unzureichender Erklärungen des Aufstiegs autoritär-populistischer Parteien.

. Populismus – Annäherung an ein umstrittenes Konzept Populismus ist kein neues Phänomen, gewinnt aber seit einigen Jahren erneut an Bedeutung. Als frühe Vorläufer in den USA gelten so unterschiedliche Akteure wie die People’s 

Party, die am Ende des . Jahrhunderts als politische Bewegung der Bauernschaft aktiv war, Huey Long, ab  Gouverneur von Louisiana und später Senator des US -Bundesstaats, oder George Wallace, der in den sechziger Jahren für die Beibehaltung der Segregation kämpfte. Häufig werden auch die russischen Narodniki dem frühen Populismus zugerechnet, die in der Dorfgemeinschaft und dem bäuerlichen Leben die Keimzellen eines russischen Sozialismus sahen. Ab den dreißiger Jahren entstanden Bewegungen in Lateinamerika, die versprachen, den Volkswillen gegen etablierte Eliten und imperialistische Mächte durchzusetzen. Zu den Vertretern dieses Populismus gehörten Juan Perón in Argentinien oder Getúlio Vargas in Brasilien. Mit einem ähnlichen gegen das Establishment gerichtetem Gestus, aber gänzlich anderen ökonomischen Programmen setzten in den achtziger Jahren Alberto Fujimori (Peru), Carlos Menem (Argentinien) oder Fernando Collor in Brasilien diese Traditionslinie fort. Schließlich vertraten Hugo Chávez (Venezuela) oder Evo Morales (Bolivien) einen dezidiert linken Populismus, der heute noch von Chávez’ Nachfolger Nicolás Maduro für sich reklamiert wird. Seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre gewannen auch in Europa Parteien mit einer Anti-Establishment-Rhetorik an Bedeutung und zogen in die Parlamente ein. Jörg Haider in Österreich, Jean-Marie Le Pen in Frankreich und Pim Fortuyn in den Niederlanden sind die bekanntesten Köpfe dieser Entwicklung. Auch für diese Parteien wurde häufig der Begriff Populismus verwendet. In den letzten zwei Jahrzehnten haben sich rechtspopulistische Parteien dann in zahlreichen europäischen Ländern etabliert und vergleichsweise hohe Stimmenanteile errungen. Vor dem Hintergrund insbesondere der lateinamerikanischen Erfahrung herrschte lange Zeit ein strategisches Ver

ständnis von Populismus vor. Populismus wird dabei gesehen als »eine politische Strategie, mittels derer ein personalisierter Anführer Regierungsmacht anstrebt oder ausübt, die auf direkter, nichtmediatisierter und nichtinstitutionalisierter Unterstützung einer großen Zahl von größtenteils unorganisierten Anhängern beruht« (Weyland , S. ). Erst mit dem Aufstieg populistischer Parteien in Westeuropa gewann das ideelle Verständnis von Populismus an Bedeutung, bei dem der Populismus als Weltsicht oder Ideologie und nicht in erster Linie als opportunistische Strategie des Machterwerbs verstanden wird (Mudde ; Mudde/Kaltwasser , S. ). Was aber ist die ideelle Basis des Populismus? Ganz grundsätzlich beruht Populismus auf der Überzeugung, dass die gewöhnlichen Menschen ihr Schicksal selbst bestimmen sollten und auch dazu befähigt sind, dies zu tun. Das entspricht der ursprünglichen Idee von Edward Shils (), der den Begriff Populismus nutzte, um verschiedene antielitäre Trends in der US -amerikanischen Geschichte zu erfassen. So verstanden, ist Populismus ein Gegenkonzept zu Repräsentation und Elitenbildung. Diese gleichsam basisdemokratische Überzeugung kann man als den kleinsten gemeinsamen Nenner aller Bewegungen ausmachen, die für gewöhnlich als populistisch beschrieben werden. Darunter fallen dann frühe US -amerikanische grassroots movements, die basisdemokratischen Elemente der Grünen in den achtziger Jahren, die antielitären Tiraden gegen korrupte Eliten in Washington und Brüssel sowie antiimperialistische Programmatiken einschließlich der Zurückweisung fremder Mächte und internationaler Institutionen. Dieser Kern ist bedeutsam, um die intellektuellen Wurzeln des gegenwärtigen Populismus zu verstehen. Er ist allerdings zu unspezifisch und zu umfassend, um damit dessen Besonderheiten einzufangen. 

Das heute in der Politikwissenschaft vorherrschende Verständnis von Populismus wurde stark durch die Arbeiten von Cas Mudde geprägt, der ihn definiert als eine Ideologie, die davon ausgeht, dass die Gesellschaft letztendlich in zwei homogene und antagonistische Gruppen gespalten ist, das »reine Volk« vs. die »korrupte Elite«, und die argumentiert, dass die Politik ein Ausdruck der volonté générale (des Gemeinwillens) des Volkes sein sollte (Mudde , S. , im Original kursiv).

Populismus hat in diesem Verständnis zwei Komponenten: Antielitismus und die Vorstellung, das Volk sei homogen und mit einem einheitlichen Willen versehen. Allerdings sei der Populismus keine voll entwickelte Ideologie wie etwa Sozialismus oder Liberalismus. Voll entfaltete Ideologien sind umfassend, »dünne« Ideologien haben hingegen einen begrenzten programmatischen Anspruch (Freeden ). Da der Populismus eine dünne Ideologie sei, so die Argumentation weiter, docke er sich an gehaltvollere Ideologien an, so dass es aus dieser Perspektive genauso gut einen Links- wie Rechtspopulismus, aber auch einen religiös geprägten oder ökologischen Populismus geben kann.

. Warum Populismus mehr als eine dünne Ideologie ist Wir folgen dem Vorschlag von Mudde und Kaltwasser () insofern, als wir Populismus nicht bloß als Politikstil oder Strategie zum Machterwerb betrachten, sondern auch als ein Set von substanziellen politischen Positionen und Ideen. Im Gegensatz zu ihnen sehen wir im gegenwärtigen Populismus aber mehr als nur eine dünne Ideologie. Der autoritäre Populismus beinhaltet ein spezifisches Politik- und Demokratieverständnis, das sich anhand von vier Merkmalen beschreiben lässt: 

() Politische Gemeinschaften enden an nationalen Grenzen. Für Populisten sind politische Verantwortung und nationale Grenzen deckungsgleich. Sie bestreiten, dass Menschen jenseits der Grenze auch nur potenziell Mitglieder der politischen Gemeinschaft sein könnten. Auch die bloße Berücksichtigung der Interessen von Menschen, die nicht im eigenen Lande wohnen, wird abgelehnt. Politische Entscheidungen müssen ausschließlich die Interessen der eigenen Bevölkerung berücksichtigen. Grenzüberschreitende Verantwortung und Solidarität gelten als Verrat an den einfachen Menschen. Dementsprechend wird Demokratie jenseits des Nationalstaats als prinzipiell unmöglich angesehen. Dieses Bündel an Überzeugungen macht den gegenwärtigen Populismus nationalistisch. () Dabei handelt es sich um einen antipluralistischen Nationalismus, der einen homogenen Volkswillen unterstellt. Denn nicht alle sind Teil des Volkes. Zwischen dem wahren Volk und denen, die nicht dazugehören, wird eine scharfe Trennlinie gezogen. In den USA soll das heartland mehr zählen als die inner cities, in Frankreich la France profonde mehr als die multiethnischen Städte, und in Deutschland schließt der Slogan »Wir sind das Volk«, wenn er von Pegida oder A fD -Anhängern skandiert wird, Menschen mit Migrationsgeschichte, aber auch die anderen Bewohnerinnen Kreuzbergs nicht mit ein. Der autoritäre Populismus hat eine homogene Volksvorstellung. () Politische Einstellungen und Interessen sind gegeben. Welche Ziele des Volkes Willen sind und wie diese erreicht werden können, wird nicht im Dialog und in der Auseinandersetzung mit anderen konstituiert oder verändert. Legitimer Streit über Ziele oder über den besten Weg, diese zu erreichen, kann es nicht geben, da das Richtige von vornherein fixiert ist. Es braucht daher auch keine komplizierten Verfah

ren, um die richtigen politischen Entscheidungen zu treffen. Der gegenwärtige Populismus ist dezionistisch. () Der Mehrheitswille muss umgesetzt werden. Repräsentation besteht nicht aus dem ständigen Austausch zwischen Repräsentierten und Repräsentierenden, bei dem Letztere zwar autonom entscheiden können, aber verpflichtet sind, sich zu erklären und die eigenen Entscheidungen zu begründen (Pitkin , S. ). Stattdessen gilt es, den (gegebenen) Mehrheitswillen unverfälscht umzusetzen. Am besten dienen diesem Zweck schnelle Volksentscheide, da sie dem Volkswillen adäquat Ausdruck verleihen können. Individual- und Minderheitenrechte gelten dabei als störend. Das ist die mehrheitsfixierte Komponente des autoritären Populismus. Diesen vier Merkmalen des gegenwärtigen Populismus sind autoritäre Tendenzen eingeschrieben.Wenn abweichende Meinungen unzulässig sind, muss die Arbeit der Opposition erschwert oder ganz unterdrückt werden.Wenn Gerichte verhindern, dass der wahre Volkswille umgesetzt wird, sind Maßnahmen nötig, die diese Blockaden überwinden und in Zukunft verhindern können. Die autoritäre Tendenz zeigt sich in Angriffen auf die Gewaltenteilung, auf als feindlich wahrgenommene Zeitungen oder Fernsehsender oder in der offenen Missachtung parlamentarischer Verfahren.Wo populistische Parteien an der Macht sind, legen sie es häufig darauf an, die Spielregeln von Demokratie und Rechtsstaat so zu verändern, dass effektive Opposition und unabhängige Kontrolle unmöglich werden, um dadurch ihre Macht dauerhaft zu sichern. Der Versuch der polnischen PiS-Partei wie auch der Republikaner in den USA , den obersten Gerichtshof des eigenen Lands mit treuen Gefolgsleuten zu besetzen, die Änderung des Wahlrechts in Ungarn oder die Angriffe von US Präsident Trump auf die (liberale) Presse sind Beispiele für autoritäre Tendenzen populistischer Parteien und Akteure. 

Die gegenwärtigen populistischen Bewegungen propagieren zwar die »Ermächtigung des Volkes«, es handelt sich aber um eine seltsam entprozeduralisierte Form der Volksermächtigung. Der Volkswille soll durch die Delegation der Macht an einen oder mehrere Anführerinnen verwirklicht werden (Urbinati , Kap. ; Weyland ). Ein Wahlplakat für Heinz-Christian Strache, den einstmaligen Chef und Spitzenkandidaten der FPÖ , brachte dies unmissverständlich zum Ausdruck: »ER will, was WIR wollen« (zitiert nach Priester , S. ). Der gegenwärtige Populismus fordert also nicht nur die Ermächtigung des Volkswillens (volonté générale), sondern beinhaltet auch ein klares Verständnis davon, was der Volkswille ist: etwas Vorpolitisches und Entprozeduralisiertes, das durch die Führung der populistischen Partei verkörpert wird. Der ideologische Hintergrund des gegenwärtigen Populismus geht weiter als die bloße Gegenüberstellung von Establishment und einem als homogen imaginierten Volk. Er beinhaltet auch eine autoritäre Vorstellung davon, wie die Politik den Volkswillen – den es nur im Singular gibt – umzusetzen hat (Canovan , S. ). Die Unterscheidung zwischen vermeintlich dünnen und gehaltvollen Ideologien ist in einer weiteren Hinsicht problematisch. Keine Ideologie spricht zu allen denkbaren Problemen und Fragen. Ideologien sind eine Antwort auf die dringlichen Probleme der Zeit und entwickeln sich in Wechselwirkung mit rivalisierenden Ideologien. Eine Ideologie hat die »Fähigkeit, Ideen und Gefühle zu einer neuen öffentlichen Rechtfertigung der Ausübung von Macht zu verschmelzen« (Müller , S. ). Es braucht also keine dicken Bücher mit philosophischen Abhandlungen, bevor von einer thick ideology gesprochen werden kann. Eine Ideologie zählt dann als gehaltvoll (also thick), wenn sie ein Narrativ ent

wickelt, das verschiedene Streitfragen einer Zeit bündelt. Das schließt nicht aus, dass manche der Ideologien sich im Lauf der Zeit weiterentwickeln, dass sie sich neuen sozialen Herausforderungen sowie Anfechtungen anpassen, dadurch umfassender werden und von den Bedingungen ihrer Ursprungszeit lösen. So entstand der Liberalismus ab dem . Jahrhundert in Abgrenzung zur absolutistischen Monarchie, entwickelte sich aber anschließend in eine weit darüber hinausgehende Vorstellung der bürgerlichen Gesellschaft (Rosenblatt ). Im Gegensatz zu anderen Ideologien dieser Zeit hat er sich zu einem liberalen Skript im Sinne einer dominanten Zusammenstellung von Ideen und institutionellen Vorschriften über die Organisation der Gesellschaft entwickelt, das moralische Prinzipien, kulturelle Normen, ethische Werte, instrumentelle Gründe, Institutionen, kulturelle Routinen und Gewohnheiten beinhaltet (Börzel/Zürn ). Der gegenwärtige Populismus ist zwar kein dominantes und historisch gewachsenes Skript, aber eine vollwertige politische Ideologie, die durch mehr als nur die Gegenüberstellung von »korrupten Eliten« und »reinem Volk« gekennzeichnet ist. Erst die Ideen über den Inhalt, die Ermittlung und die Umsetzung des Volkswillens machen ihn spezifisch. Sonst bleibt er zu vage, um politische Parteien und soziale Bewegungen hinreichend zu bestimmen. Mit ganz ähnlichen Argumenten kritisiert Nadia Urbinati die Vorstellung von Populismus als dünner Ideologie. Diese Sichtweise könne nicht erklären, wie der Populismus an der Macht agiert und wie er demokratische Institutionen transformiert. Das Konzept des dünnen Populismus stellt ein nützliches Kriterium als Minimalbedingung bereit, um das Feld der verschiedenen Populismen vorzusortieren. Aber es ist zu breit und zu unpolitisch, um die Form der Repräsentation zu erfassen, die den Populismus in Beziehung zur Demokratie setzt (Urbinati , S. f.). 

Der gegenwärtige Populismus ist vorrangig ein autoritärer Populismus, der als Ideologie für sich fungiert. Definiert werden kann er durch eine spezifische Kombination von prozeduralen und inhaltlichen Vorstellungen. Der autoritäre Populismus bezeichnet eine Ideologie, die nationalistische Positionen gegen liberale Eliten setzt und der zufolge politische Entscheidungen möglichst unverfälscht dem nichtmediatisierten Mehrheitswillen entsprechen sollen (vgl. auch Caramani ; Landwehr/Steiner ). Dieses Verständnis betont den »negativistischen Ansatz« der autoritären Populistinnen (Urbinati , S. ). Ihre Positionen sind primär gegen etwas gerichtet und weniger von eigenen Zielen getragen. Der autoritäre Populismus ist antipluralistisch, da er von einem homogenen Volkswillen ausgeht; er ist antiliberal, da er Individual- und vor allem Minderheitenrechte infrage stellt; erst ist antiprozeduralistisch, da der Volkswillen unmittelbar zum Zuge kommen und nicht durch Deliberation und vielfältige checks and balances weichgespült werden soll. Schließlich ist der autoritäre Populismus antiinternationalistisch, da die uneingeschränkte Betonung der nationalen Souveränität als Voraussetzung der Wirksamkeit des Volkswillens die grundsätzliche Ablehnung politischer Autorität jenseits nationaler Grenzen impliziert und sich gegen die institutionelle Komplexität politischer Mehrebenensysteme wendet. Grenzschließung statt Interdependenz, nationale Souveränität statt internationale Verantwortung stehen auf dem Programm. Der autoritäre Populismus stellt eine eigenständige Ideologie dar, die verschiedene Themen in einer mehr oder minder zusammenhängenden politischen Programmatik bündelt, aus der sich auch spezifische Ziele ableiten lassen. Er hängt also nicht von einer gehaltvolleren Ideologie ab, an die er sich anheften kann. Dennoch lassen sich linke und rechte Va

rianten des autoritären Populismus unterscheiden. Die linke Variante des autoritären Populismus instrumentalisiert die Kritik an imperialer Dominanz zur Machtrechtfertigung, sucht die nationale Ökonomie zu schützen und bietet umfassende Sozialleistungen an. Was gerecht ist, sei im Volk unumstritten, aber die Umsetzung werde durch korrumpierte Eliten verhindert. Die rechte Variante hingegen fokussiert sich primär auf die Exklusion von Menschen, die aus ihrer Sicht keine Mitglieder der »Volksgemeinschaft« sind, und setzt sich für Steuererleichterungen und Privatisierungen ein. In der Praxis scheint diese Differenz allerdings im Laufe der Zeit zu verschwimmen. Einige der sogenannten rechtspopulistischen Parteien, wie das von Marine Le Pen angeführte Rassemblement National, haben sich – in ökonomischer Hinsicht – eine protektionistische und staatsinterventionistische Agenda zu eigen gemacht. Gleichzeitig vertritt die in Frankreich als linkspopulistisch betrachtete La France insoumise von Jean-Luc Mélenchon in Migrationsfragen ähnliche Positionen wie das Rassemblement National. In der Tat hat der Aufstand der Gelbwesten (Gilets Jaunes) in Frankreich gezeigt, wie gut diese Bewegungen zusammenwirken können. Beide Parteien repräsentieren unterschiedliche Varianten des autoritären Populismus. Gleichwohl gehören nicht alle neuen linken Parteien zur Gruppe der autoritären Populisten. Viele sind pluralistisch und offen für internationale Kooperation. Anders als wir unterscheidet Philip Manow () nicht zwischen linken und rechten Varianten des autoritären Populismus, sondern ganz allgemein zwischen Rechts- und Linkspopulismus. In Südeuropa führten demnach die durch Globalisierung und Europäische Währungsunion verschärften Wettbewerbsnachteile zum Erstarken des Linkspopulismus. In Nordwesteuropa dominiere hingegen der Rechtspopulismus, weil in Hochlohn

ökonomien mit ausgebautem Sozialstaat der Zuzug gering Qualifizierter als Bedrohung für das eigene Wirtschaftsmodell wahrgenommen wird. Schon das Ergebnis der letzten Wahlen zum Europäischen Parlament widerspricht allerdings dieser geografischen Zweiteilung. Die rechten Varianten des autoritären Populismus wuchsen in Nordwesteuropa nicht nur weiter an, sie traten nun auch verstärkt in Südeuropa auf. Gleichzeitig ließ die Unterstützung für Parteien wie Podemos und Syriza nach, die sich im Zuge der Finanz- und Eurokrise gegen die von der sogenannten Troika auferlegte Austeritätspolitik wendeten. Wir vertreten deshalb die Lesart, dass sich der Aufstieg autoritär-populistischer Parteien in Südeuropa schlicht und ergreifend später vollzogen hat. Das hat zum Teil ökonomische Gründe, hängt aber auch mit der weniger lang zurückliegenden Erfahrung mit autoritären und protofaschistischen Regimen zusammen. Zudem betrachten wir die Koalition der radikalen Linken in Griechenland (Syriza) und auch die spanische Podemos nicht als populistische Parteien. Sie haben sich vor dem Hintergrund extremer Austeritätspolitiken herausgebildet, aber die konkreten Entscheidungen und Positionen haben sich beispielsweise im griechischen Fall als weitgehend liberal, pluralistisch und internationalistisch erwiesen. In der politikwissenschaftlichen Forschung gibt es verschiedene Wege, populistische Parteien zu identifizieren. So können Partei- und Wahlprogramme ausgewertet, politische Kommunikation analysiert oder Expertinnen und Experten befragt werden.Wir folgen der dritten Methode und verwenden den PopuList-Datensatz (Rooduijn et al. ). Um Parteien in  europäischen Ländern zu klassifizieren, konsultierte ein Forschungsteam  Fachleute, die jeweils einschätzen sollten, ob eine Partei populistisch, der radikalen Linken bzw. Rechten zuzuordnen und ob sie darüber hinaus euroskep

tisch ist. Abgedeckt werden der Zeitraum seit  und alle Parteien, die seitdem mindestens einen Sitz in einem nationalen Parlament errungen oder mindestens zwei Prozent der Stimmen erhalten haben.Von insgesamt  Parteien wurden auf diese Weise  als populistisch oder rechtspopulistisch eingeordnet. Diese Klassifizierung beruht auf einem breiteren Verständnis von Populismus als dem von uns skizzierten, erlaubt aber dennoch, den Trend der letzten drei Jahrzehnte nachzuzeichnen. Abbildung  zeigt auf dieser Grundlage die Stimmenanteile von populistischen und rechtspopulistischen Parteien im Zeitverlauf.

Abb. : Der Aufstieg populistischer Parteien in Europa 70

Stimmenanteil

60 50 40 30 20 10 0 1990−94

1995−99

2000−04

2005−09

2010−14

2015−20

Daten: PopuList-Datensatz; siehe Rooduijn et al. ; ParlGov-Datenbank; siehe Döring/ Manow .

Anmerkung: Dargestellt ist der Stimmenanteil von (rechts)populistischen Parteien in  europäischen Ländern. Länder, in denen es während der auf der horizontalen Achse abgetragenen Zeiträume keine (rechts)populistische Partei gab, erhalten den Wert . Ausgefüllte Kreise stellen den Durchschnittswert in einem Fünfjahreszeitraum dar. 

Zwei Trends sind bemerkenswert: Zum einen steigt die Anzahl (rechts)populistischer Parteien (Anzahl der unausgefüllten Kreise in Abbildung ) deutlich an. Noch in den neunziger Jahren gab es mehrere Länder ohne nennenswerte populistische Partei, nach  änderte sich das jedoch fast überall. So haben sich sogenannte rechtspopulistische Parteien auch in Ländern wie Deutschland (A fD ) oder Spanien (Vox) etabliert, die zuvor als weitgehend immun galten.1 Zum anderen erzielen schon länger bestehende Parteien im Laufe der Zeit größere Stimmanteile (Position der Punkte auf der Y-Achse). Rasant angestiegen sind die Stimmenanteile der entsprechenden Parteien in Finnland, Schweden und den Niederlanden sowie insbesondere in Polen und Ungarn, wo sie inzwischen die Parteiensysteme dominieren. Der Aufstieg ist nicht überall gleichmäßig und ohne Rückschläge erfolgt, aber insgesamt haben sich (rechts)populistische Parteien seit den neunziger Jahren in fast allen europäischen Ländern etablieren und konsolidieren können.

. Die neue Konfliktlinie Der autoritäre Populismus ist eine Ideologie mit einem spezifischen Verständnis von Politik, Gemeinschaft und Demokratie. Ideologien bündeln Antworten auf die dringlichen  Als die A fD  gegründet wurde, richtete sie sich vor allem gegen den Euro und die Eurorettungspolitik. Doch nach der »rechtspopulistischen Wende« (Schmitt-Beck et al. ), die spätestens  angesichts der Ankunft Hunderttausender Geflüchteter vollzogen wurde, fällt das Urteil der politikwissenschaftlichen Forschung eindeutig aus (Arzheimer/Berning ; Lewandowsky et al. ). Es handelt sich seitdem um eine autoritär-populistische Partei im Sinne unserer Konzeption. 

Probleme der Zeit und geben ihnen einen inneren Zusammenhalt. Sie entwickeln sich aber erst vollständig in Wechselwirkung mit entgegengesetzten Ideologien. Wenn solche Ideologien länderübergreifend gesellschaftsprägend werden, wenn sie sich organisatorisch verfestigen und eine soziostrukturelle Unterfütterung haben, dann spricht die Politikwissenschaft von gesellschaftlichen Konfliktlinien. Seit den achtziger Jahren hat sich eine politische Auseinandersetzung entwickelt, bei der sich sowohl in nationalen als auch in internationalen Kontexten liberale Globalistinnen und autoritäre Populistinnen gegenüberstehen. Sie vertreten entgegengesetzte Positionen hinsichtlich einer gesellschaftlichen Konfliktlinie, die in verschiedenen Untersuchungen beobachtet worden sind (Kriesi et al. ; Kriesi et al. ; Hooghe et al. ; de Wilde ). Die Theorie der Konfliktlinien (englisch: cleavages) begreift die Geschichte des modernen Europa als Abfolge von vier grundlegenden gesellschaftlichen Konfliktformationen (Lipset ; Lipset/Rokkan ; Rokkan ). Jede dieser vier Konfliktlinien wurde durch eine revolutionäre soziale Veränderung ausgelöst. Die nationalstaatliche Revolution hat die Konfliktlinie zwischen »Kirche« und »Staat« und etwas später zwischen »Zentrum« und »Peripherie« hervorgerufen. Die industrielle Revolution brachte den Gegensatz zwischen »Kapital« und »Arbeit« sowie zwischen »Stadt« und »Land« hervor. Prägend für das . Jahrhundert war vor allem die Konfliktlinie zwischen »Arbeit« und »Kapital«, bei der sich linke und bürgerliche Parteien gegenüberstanden. Zwar trugen diese Parteien in unterschiedlichen Ländern unterschiedliche Namen, und es gab innerhalb jedes Lagers zahlreiche Untergruppen, dennoch erschlossen sich die meisten Parteiensysteme im Prinzip entlang der Links-rechts-Achse. In Reinform ließ sich dies lange Zeit in Großbritannien be

obachten, wo sich aufgrund des Mehrheitswahlsystems mit Labour und den konservativen Tories Parteien gegenüberstanden, die die beiden Pole der Arbeit-Kapital-Konfliktlinie repräsentierten. Selbst in Ländern mit Verhältniswahlrecht dominierten die alten Mitte-links- und Mitte-rechts-Parteien eindeutig. In Österreich beispielsweise erreichten die Sozialdemokraten (SPÖ ) und die Konservativen (ÖVP ) bei den Nationalratswahlen zwischen  und  zusammen immer zwischen  und  Prozent der Stimmen. Bis zum Jahre  hat sich das in einem bemerkenswerten Tempo geändert: Bei der Nationalratswahl  erhielten ÖVP und SPÖ gemeinsam noch , Prozent der Stimmen; in der ersten Runde zur Präsidentschaftswahl  erhielten die Kandidatinnen der beiden alten Volksparteien zusammen (!) gar nur  Prozent. Bei der Präsidentschaftswahl  in Frankreich standen sich in der Stichwahl Emmanuel Macron von der neuen Partei En Marche sowie Marine Le Pen vom Front National gegenüber, nachdem die Parti socialiste in der ersten Runde nur noch , Prozent der Stimmen erhalten hatte. Nicht in allen Ländern fallen die Veränderungen derart drastisch aus, aber eine Verschiebung von den alten Mitte-linksund Mitte-rechts-Parteien zu neuen Herausforderinnen hat fast überall stattgefunden. Seit den achtziger Jahren hat sich eine Konfliktlinie herausgebildet, die quer zur Links-rechts-Achse liegt. Die sie auslösende soziale Revolution ist die Globalisierung, die nicht nur ökonomische Ungleichheit produziert, sondern auch grundlegende Auseinandersetzungen darüber auslöst, wie in der »postnationalen Konstellation« (Habermas ) der Demos zu definieren ist, wie durchlässig Grenzen sein und ob politische Entscheidungen national oder supranational getroffen werden sollten. Die Pole dieser neuen Konfliktlinie werden mit unterschiedlichen Begriffen markiert: »grün-al

ternativ-libertär« (GAL ) versus »traditionell-autoritär-nationalistisch« (TAN ) (Hooghe et al. ), »Integration« versus »Demarkation« (Kriesi et al. ), »universalistisch« versus »partikularistisch« (Beramendi et al. ) oder »kosmopolitisch« versus »kommunitaristisch« (de Wilde et al. ). Von einer gesellschaftlichen Konfliktlinie kann erst gesprochen werden, wenn strukturell angelegte gesellschaftliche Brüche (a) sozialstrukturell und (b) ideologisch unterfüttert sind und sie sich (c) in einer entsprechenden politischen Organisationsform niederschlagen (Kriesi et al. , S. ; Mair ; Pappi , S. ). So hat die industrielle Revolution den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit verschärft, der in den Ideologien des Sozialismus (inklusive der sozialdemokratischen Variante) und des Liberalismus (inklusive Konservatismus) sein ideelles Fundament hatte und sich in Form der bekannten linken und rechten Parteien, in Gewerkschaften und Industrieverbänden organisierte. (a) In seiner bahnbrechenden Studie Commerce and Coalitions arbeitet Ronald Rogowski () die innergesellschaftlichen Verteilungseffekte von offenen Grenzen und damit das sozialstrukturelle Element der neuen Konfliktlinie heraus. Demnach gewinnen durch Grenzöffnungen innerhalb der westlichen Gesellschaften strukturell diejenigen, deren Kapitalformen zu Hause reichhaltig vorhanden, im Kontext des Weltmarkts aber knapp sind: Geldkapital, Sachkapital und Wissen (gebildetes Humankapital). Bei relativ einfachen manuellen Tätigkeiten war es vor dem Globalisierungsschub der achtziger und neunziger Jahre umgekehrt: reichhaltig vorhanden auf dem Weltmarkt, aber relativ knapp in den westlichen Gesellschaften. Mit der Öffnung der Grenzen verliert diese Gruppe, weil entsprechende Tätigkeiten verlagert werden können oder der Wettbewerb durch Migration zunimmt. Die neue Verteilung zeigt sich auch in der eingangs diskutier

ten Elefantenkurve der globalen Einkommensentwicklung (Milanovic´ ): Der neue globale Mittelstand, die von den besten Universitäten der Welt Hoch(aus)gebildeten und die Besitzer von Geldkapital gewinnen. 2 Globalisierungsgewinner weisen ein überdurchschnittliches Bildungsniveau sowie ein hohes Maß an kulturellem und Humankapital auf. Sie sind sowohl räumlich als auch beruflich mobil. Auf der anderen Seite stehen die Globalisierungsverliererinnen in den reichen Industrieländern. Sie haben ein unterdurchschnittliches Bildungs- und Ausbildungsniveau, begrenztes kulturelles und soziales Kapitel und sind weniger jenseits nationaler Grenzen unterwegs (Koopmans/Zürn ). (b) Zur Bezeichnung der ideellen Grundlage der neuen Konfliktlinie bietet sich das Begriffspaar Kommunitarismus und Kosmopolitismus an. Der Begriff Kosmopolitismus umreißt zunächst eine philosophische Werte- und Ideenwelt, die vor zwei Jahrzehnten außerhalb der Wissenschaft nur wenigen bekannt war. Inzwischen hat der Begriff die akademische Sphäre jedoch längst verlassen. Die moralischen und politischen Überzeugungen des philosophischen Kosmopolitismus lassen sich auf drei Kernelemente verdichten: Individualismus, Universalismus und Verallgemeinerungsfähigkeit. Diese drei Werte bilden den Ausgangspunkt der kosmopolitischen Überzeugung, dass alle Personen auf dem Globus dieselbe Beachtung verdienen – unabhängig von Nationalität, Religion oder dergleichen (Pogge , S. ). Selbst Theoretikerinnen, die keine radikal universalistische Position einnehmen, sondern die Relevanz sozialer Kontexte betonen,  Die gut Ausgebildeten profitieren zusätzlich von den verbleibenden sprachlichen und kulturellen Grenzen. So sind Juristinnen und Ärztinnen durch die nationalen Besonderheiten des Rechts- und des Gesundheitssystems besser geschützt als etwa die Fabrikarbeiterinnen (Hartmann ). 

argumentieren oft, dass der entscheidende soziale Kontext gegenwärtig der globale sei. Demnach hat die Globalisierung nationale Gesellschaften geöffnet und in einen globalen Kontext gestellt. Vor dem Hintergrund dieser »globalen Schicksalsgemeinschaft« (Held ) versteht sich der Kosmopolitismus selbst als adäquate normative Antwort. Demgegenüber hebt die Philosophie des Kommunitarismus in erster Linie die konstitutive Rolle von Gemeinschaft und Identität für die Entwicklung sozialer Gesinnungen und Haltungen hervor. Verteilungsgerechtigkeit und Demokratie hängen von sozialen Kontexten ab, die meist territorial definiert werden. Sie setzen in dieser Perspektive also eine aktive Gemeinschaft, eine starke partizipative Demokratie und einen pluralistischen Republikanismus voraus (Etzioni ; Haus ; vgl. unter anderem Honneth ). Kommunitaristen verstehen Freiheit, Selbstregierung, staatsbürgerliche Tugenden und eine partizipationsorientiere institutionelle Infrastruktur als untrennbar vereint in einer politischen Gemeinschaft. Sie verstehen Freiheit als das Ergebnis politischer Kommunikation und Partizipation (Barber ). Im philosophischen Kommunitarismus ist das Konzept Gemeinschaft dabei wenig spezifiziert – es kann eine lokale, regionale oder nationale Gemeinschaft sein. Bei unserer Verwendung des Begriffspaars Kommunitarismus und Kosmopolitismus geht es aber nicht um die in den achtziger Jahren geführte philosophische Debatte über Gerechtigkeitsprinzipien, sondern um eine Rekonstruktion der ideellen Grundlage der beiden Pole der neuen Konfliktlinie. Kosmopolitismus und Kommunitarismus bündeln, so verstanden, politische Einstellungen, die hinsichtlich der neuen gesellschaftlichen Konfliktlinie aufeinander verweisen (Zürn/ de Wilde ). Das Begriffspaar Kosmopolitismus/Kommunitarismus er

scheint zur Beschreibung der neuen Konfliktlinie aus drei Gründen besser geeignet als die genannten Alternativen. Erstens verweisen die beiden Begriffe, anders als etwa GAL und TAN oder Demarkation und Integration, nicht nur auf die inhaltlichen Positionen, sondern auch auf die ideellen Grundlagen, die den Kern der jeweiligen Positionen ausmachen. Zum Zweiten sollte die ideelle Komponente der Konfliktlinie mit Begriffen erfasst werden, die die beiden Seiten auf Augenhöhe bringen. Andere Gegenüberstellungen wie Materialisten und Postmaterialisten oder GAL -TAN stellen eine Asymmetrie her, da sie eine Seite tendenziell als atavistisch, als Bremse in einem Prozess der säkularen Modernisierung sehen. Auch wenn man beide Positionen moralisch nicht als gleichwertig betrachtet, sollte sich bei der Analyse von Konfliktlinien keine geschichtsphilosophische Teleologie einschleichen. Schließlich erfasst, drittens, die Gegenüberstellung von Kosmopolitismus und Kommunitarismus – ähnlich wie bei der Gegenüberstellung von Integration und Demarkation –, dass es sich bei dieser Konfliktlinie um einen Kampf um Grenzen handelt. Die neue Konfliktlinie unterscheidet sich dabei in einer Hinsicht grundlegend von früheren Konfliktlinien, wie sie von Stein Rokkan herausgearbeitet wurden: Es geht nicht mehr um die Frage, wie nationale Gesellschaften gestaltet werden, es geht um die Grenzen des Nationalstaates selbst – um deren Durchlässigkeit, um ihre normative Dignität und um die Bedeutung für den politischen Prozess. Die Entstehung eines zweidimensionalen politischen Raums als Folge des Hinzutretens einer neuen Konfliktlinie macht es freilich notwendig, zwischen jeweils verschiedenen Varianten des Kommunitarismus und des Kosmopolitismus zu unterscheiden. Wer die nationale Abgrenzung als (zumindest auf absehbare Zeit) Voraussetzung für Demokratie und ungleichheitsbekämpfende Umverteilung sieht, steht für einen 

linken Kommunitarismus. Dieser kann, muss aber nicht autoritär konnotiert werden. Im Gegensatz dazu ist der rechte Kommunitarismus fast immer autoritär. Mit Blick auf die Entstehungsphase der neuen Konfliktlinie gingen Herbert Kitschelt und Anthony McGann (Kitschelt/McGann , S.  f.) davon aus, dass es eine »winning formula« für die Neue Rechte gebe, die aus der Kombination von Nationalismus und Neoliberalismus bestehe. Doch in dieser Hinsicht hat sich der Rechtspopulismus als flexibler erwiesen. Viele der autoritären Populisten befürworten heute einen starken Sozialstaat – solange dessen Leistungen dem vermeintlich wahren Volk zugutekommen. Umgekehrt lässt sich auch der Kosmopolitismus nicht auf seine »schmutzige Variante« – den radikalen Neoliberalismus – beschränken, sondern es gibt auch eine linke Variante des Menschenrechtsindividualismus.Wer sich für offene Grenzen, starke internationale Institutionen und wehrhafte Menschenrechte einsetzt, fordert häufig auch eine deutlich intensivierte Regulierung der globalen Finanzmärkte, ein starkes Klimaregime, oft sogar redistributive Mechanismen und Solidarität jenseits des Nationalstaates. (c) Damit sich die beschriebenen strukturellen und ideellen Gegensätze in eine dauerhafte Konfliktlinie transformieren können, bedarf es schließlich wirkungsmächtiger Akteure, die ihre Anhängerinnen mobilisieren und deren Interessen in Gesellschaft und Politik vertreten. In der alltäglichen politischen Auseinandersetzung stehen sich liberale Globalisten und autoritäre Populistinnen gegenüber. Dabei stehen drei Fragen im Vordergrund: Erstens geht es um die Kontrolle nationaler Grenzen für Menschen, Güter und Kapital. Während Verfechterinnen des liberalen Globalismus in der Tendenz für offene Grenzen eintreten, betonen autoritäre Populistinnen den Schutz der Grenzen – entweder aus natio

nalistischen oder aus sozialpolitischen Motiven. Damit im Zusammenhang steht ein zweites Themenbündel: Liberale Globalistinnen betrachten die Verlagerung von Kompetenzen auf europäische und internationale Institutionen als funktional notwendig und normativ wünschenswert. Autoritäre Populistinnen fürchten dagegen, dass dadurch die Volkssouveränität untergraben und die Demokratie beschädigt wird. Der dritte Themenkomplex betrifft das Verhältnis von Individualrechten und Mehrheitswillen. Während die autoritärpopulistische Koalition den Mehrheitswillen über Individualrechte stellt, ist das beim liberalen Globalismus zumeist umgekehrt. Zur informellen Koalition der liberalen Globalistinnen gehören die meisten etablierten Parteien, viele Persönlichkeiten in Regierung, Verwaltung und Justiz sowie wichtige Medien und internationale Organisationen. Ihr gegenüber stehen die autoritär-populistischen Parteien, aber auch Bewegungen wie Pegida und die als rechtsextrem eingestuften Identitären. Die Dänische Volkspartei, die FPÖ , das Rassemblement National in Frankreich, die PiS-Partei in Polen und Geert Wilders Partei für die Freiheit sind prominente, aber keinesfalls die einzigen Beispiele. Diese Parteien sind vor allem mit Blick auf die Einwanderungspolitik oder in Bezug auf den Islam klar illiberal und verweigern gleichzeitig jeglichen Ausbau supranationaler Kompetenzen (Merkel/Scholl , S. ff.). In Westeuropa prägt die Spannung zwischen Kosmopolitismus und Kommunitarismus auch die Programme, Inhalte, Mitglieder und Wählerschaften der alten Volksparteien, die sich historisch durch die Positionen auf dem Links-rechtsKontinuum definieren. Diese Art der Lagerbildung innerhalb von Parteien muss als ein spezifischer Ausdruck der neuen Konfliktlinie verstanden werden. Zwar üben die Volkspartei

en auch heute noch eine moderierende Funktion hinsichtlich der alten Konfliktlinie Arbeit vs. Kapital aus, was damit zu tun hat, dass eine Volkspartei es sich nicht leisten kann, die Anhängerschaft aus einer großen sozialen Schicht oder einem relevanten kulturellen Milieu zu verlieren. Wenn allerdings kleinere Parteien besser in der Lage sind, sich entlang der neuen Konfliktlinie zu profilieren und Wählerinnen zu mobilisieren, dann erodiert der Stimmenanteil der Volksparteien. Während die silent revolution (Inglehart ) hin zu postmateriellen, liberalen Werten den Aufstieg der Neuen Linken – einschließlich der Grünen – beförderte, schälten sich im Zuge der »silent counter-revolution« (Ignazi ) die autoritär-populistischen Parteien heraus. Im Ergebnis liegen alle drei Aspekte vor, die gegeben sein müssen, bevor wir von einer neuen Konfliktlinie sprechen können. Der strukturelle Gegensatz zwischen Globalisierungsgewinnerinnen und -verliererinnen wird ideologisch durch die Gegenüberstellung von kosmopolitischen und kommunitaristischen Positionen unterfüttert. Organisatorisch steht der liberal-globalistischen eine autoritär-populistische Koalition gegenüber.

. Unzureichende Erklärungen Konfliktlinien entstehen infolge von sozialen Revolutionen. Die neue Konfliktlinie ist demnach eine Folge der Globalisierung, die in den achtziger Jahren einsetzte und sich in den Neunzigern beschleunigte. Globalisierung bedeutet, dass soziale Räume mit verdichteten Transaktionen nicht mehr an den Grenzen der Staaten haltmachen. Karl W. Deutsch formulierte mit bewundernswerter operationaler Klarheit: Die Grenzen nationaler Gesellschaften lösen sich auf, wenn 

Abb. : Globalisierung seit den siebziger Jahren insgesamt

Ökonomie

Soziales

Politik

100

75

Globalisierungsindex KOF

50

25

0 de facto de jure

100

75

50

25

0 1970

1980

1990

2000

2010

1970

1980

1990

2000

2010

Daten: Gygli et al. .

Anmerkung: Der KOF -Globalisierungsindex misst die wirtschaftliche, soziale und politische Dimension der Globalisierung.

sich dort keine deutliche Verringerung in der Frequenzdichte sozialer Transaktionen beobachten lässt (Deutsch , S. ). In den sechziger Jahren erfolgten über  Prozent der Telefonate innerhalb eines Landes und auch die Investitionen und Warenlieferungen vollzogen sich primär innerhalb von Staaten. Das hat sich inzwischen drastisch verändert. Mithilfe des KOF -Globalisierungsindexes kann man aufzeigen, wie stark sich die transnationalen Interaktionen verdichtet haben (Abbildung ). Erfasst werden zahlreiche Indikatoren, die vom Tourismus über den Handel bis hin zur Ausbreitung internationaler Nichtregierungsorganisationen reichen. Neben einem aggregierten Globalisierungsindex wird zwischen Unterbereichen wie Politik, Soziales und Ökono

mie differenziert. Zusätzlich werden das rechtlich kodifizierte (de jure) und tatsächliche (de facto) Ausmaß der grenzüberschreitenden Interaktionen erfasst. In der Summe aller Indikatoren hat sich der De-facto-Index zwischen  und  von  auf  und der De-jureWert von  auf  (auf einer Skala von  bis ) erhöht. Diese Werte bringen ein deutlich gewachsenes Ausmaß an grenzüberschreitenden Transaktionen im kulturellen und ökonomischen Bereich sowie eine Zunahme internationaler Vereinbarungen zum Ausdruck. Die Kurven der ökonomischen und der sozialen Globalisierung verlaufen dabei sehr ähnlich. Nur die De-facto-Globalisierung im politischen Bereich hinkt etwas hinterher (Gygli et al. ). Der beschriebene Globalisierungsschub stellt die soziale Revolution dar, die die neue Konfliktlinie hat entstehen lassen. Es bleibt jedoch die Frage, mittels welcher sozialen Mechanismen die Globalisierung eine neue Konfliktlinie und mithin den Aufstieg des autoritären Populismus hervorgerufen hat. Zwei Antworten beherrschen sowohl die öffentlichen als auch die wissenschaftlichen Diskussionen. Eine Perspektive betont insbesondere die kulturellen Effekte der Globalisierung, während die zweite die ökonomischen Dynamiken hervorhebt. Am prominentesten ist die sozioökonomische Erklärung. Sie schließt unmittelbar an die Verteilungseffekte der Globalisierung an, die Rogowski () und Milanovic´ () gezeigt haben. Es sind demnach vor allem die ökonomischen Verliererinnen, die sich auf die Seite der autoritären Populisten, und die Globalisierungsgewinnerinnen, die sich auf die Seite der liberalen Globalisten schlagen. Im Mittelpunkt steht dabei die wachsende materielle Ungleichheit, die innerhalb der meisten etablierten demokratischen Systeme über die letzten drei Jahrzehnte zugenommen hat. So haben zahlrei

che Studien gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit der Wahl einer autoritär-populistischen Partei steigt, wenn das Einkommen und die Arbeitsplatzsicherheit unterdurchschnittlich sind (Manow ; Rogowski ). Weder der Brexit noch die Wahl von Donald Trump zum US -Präsidenten wären erfolgt, wenn sie nicht erhebliche Unterstützung in niedergehenden Regionen mit alten Industrien erfahren hätten (Hobolt ). Darüber hinaus verweist die ökonomische Erklärung auf die wachsenden Reibungen zwischen dynamischen Großstädten und abgehängten ländlichen Regionen (Iversen/Soskice ; Broz et al. ). So ist beispielsweise Hillary Clinton in den zehn größten Städten der USA mit jeweils über  Prozent der Stimmen gewählt worden, während Donald Trump in ländlichen Regionen teilweise noch bessere Werte erzielte. Das verweist auf eine enorme Polarisierung. Selbst in den Hochzeiten des Links-rechts-Gegensatzes war sowohl die SPD in Gelsenkirchen als auch die CSU in Vilshofen ein ganzes Stück von solchen Werten entfernt. Allerdings ruft die ökonomische Erklärung eine Reihe von Nachfragen hervor. Zum einen unterstützen Menschen mit niedrigem Status und starken Statusverlustängsten seit je überdurchschnittlich autoritär-nationalistische Parteien (Lipset ). Dass es heute so viel mehr als noch vor zwanzig Jahren sind, kann aber kaum auf eine allgemeine Verschlechterung der ökonomischen Lage in Westeuropa und Nordamerika zurückgeführt werden. Zum Zweiten bleibt rätselhaft, wieso sich Globalisierungsverliererinnen an autoritär-populistische und nicht etwa an linke Parteien wenden, deren Markenkern der Kampf gegen Ungleichheit und für sozialen Schutz ist. Wieso sollten Wählerinnen, die sich ökonomisch benachteiligt fühlen und mehr staatliche Unterstützung erwarten, für Silvio Berlusconi, Donald Trump oder Boris Johnson stim

men, die zur ökonomischen Superelite gehören und für Wahlprogramme eintreten, die Steuererleichterungen für die Allerreichsten anstreben? Ernest Gellner hat das ironisch als die Theorie der falschen Adresse bezeichnet: »Die Erweckungsbotschaft war für Klassen bestimmt, aber durch einen schrecklichen Fehler des Boten wurde sie Nationen ausgehändigt.« (Gellner , S. ) Ebenso erklärt der sozioökonomische Ansatz nicht, wieso das Potenzial der populistischen Wählerinnen in fast allen OECD -Ländern relativ konstant bei etwas über  Prozent liegt. Dies gilt für skandinavische Länder mit nach wie vor begrenzten Ungleichheiten ebenso wie für die sehr viel ungleicheren angelsächsischen Gesellschaften. Man könnte nun argumentieren, dass nicht das absolute Maß der Ungleichheit, sondern deren Zunahme in den letzten Jahrzehnten entscheidend ist. Aber auch dann bleiben Fragen. In den letzten zwanzig Jahren ist die Ungleichheit nur in drei westeuropäischen Ländern nicht oder nur sehr wenig gestiegen (OECD , S. ). Das sind die Niederlande, Österreich und Frankreich – also genau die Länder, in denen autoritär-populistische Parteien die ersten Erfolge feierten. Zudem bleibt aus sozioökonomischer Perspektive unklar, warum sich in Ländern, die besonders stark von der Globalisierung profitiert haben, autoritäre politische Kräfte durchgesetzt haben und an der Regierung sind. Die Türkei, Indien und Polen sind dafür besonders frappierende Beispiele. Neben ökonomischen Erklärungen für den Aufstieg des Populismus wird häufig auf kulturelle Veränderungen verwiesen. In diesem Fall wird die Konfliktlinie zwischen Kapital und Arbeit als ökonomische Dimension des politischen Raumes betrachtet, während die neue Konfliktlinie zumeist als kulturelle Dimension gefasst wird (Koopmans ; Kriesi et al. ; Kriesi et al. ). Demnach sind mit der sozia

len (und kulturellen) Globalisierung der kulturelle Liberalismus und der Universalismus so dominant geworden, dass sie alle abweichenden Positionen als politisch inkorrekt ausschließen. Das habe dann zu einem kulturellen Abwehrkampf der eher traditionalistisch eingestellten Bevölkerungsteile geführt. Gemäß dieser Erklärung stehen sich die anywheres und frequent travellers auf der einen Seite und die somewheres und Heimatverbundenen auf der anderen gegenüber. Die Differenzierung zwischen bourgeoiser und Arbeiterkultur wird in dieser Perspektive durch eine Trennung von vermeintlich »schick« und »piefig« ersetzt. Der Gegensatz zwischen entgrenztem Globalismus und volksbezogenem Populismus zeigt sich dementsprechend besonders deutlich in den unterschiedlichen Einstellungen von Eliten und breiter Bevölkerung, vor allem auch in Migrationsfragen (Strijbis et al. ). Die soziokulturelle Erklärung lässt freilich ebenfalls zentrale Fragen offen. Zum einen scheint es generell wenig hilfreich und auch nicht im Sinne der Theorie der Konfliktlinien, den Gegensatz zwischen Kosmopolitismus und Kommunitarismus auf das Kulturelle zu beschränken. Konfliktlinien umfassen alle Dimensionen. Auch der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit hat eine kulturelle Komponente, die sich unter anderem in den unterschiedlichen Lebensstilen von Arbeitermilieus und des Bürgertums zeigt. In ähnlicher Weise sind die Kulturpraktiken der liberalen Globalisten auch an sozioökonomische Voraussetzungen gebunden (Hartmann ) – zum frequent traveller wird man ohne ausreichende Finanzen nicht. Zum Zweiten läuft die kulturalistische Lesart Gefahr, Ursache und Wirkung durcheinanderzubringen. Die soziokulturellen Gegensätze intensivieren sich nämlich häufig erst, wenn eine autoritär-populistische Partei Wahlerfolge einfahren konnte (Manow ). Christoph Nguyen 

() zeigt beispielsweise, dass Zorn und Angst nur schwach mit der Wahlentscheidung für rechtspopulistische Parteien korrelieren, dass aber die Werte für Angst und Zorn zunehmen, nachdem diese Parteien gewählt wurden. Aus der kulturellen Perspektive muss zudem rätselhaft bleiben, weshalb autoritär-populistische Parteien mit großer Vehemenz und Einheitlichkeit europäische und internationale Institutionen bekämpfen, obwohl diese kaum als Speerspitze der LGBTQ +Bewegung und des postmaterialistischen Denkens gelten können, sondern häufig für eine materialistisch begründete Marktöffnung stehen. Schließlich bleibt besonders unklar, weshalb in Ländern, die sich nicht gerade durch eine besonders liberale Kultur auszeichnen, wie Russland und die Türkei, der autoritäre Populismus besonders stark ist. Beide Erklärungen weisen Defizite auf und ignorieren die politische Sphäre. Auch die empirische Vorhersagekraft der beiden Erklärungen ist relativ beschränkt (Przeworski , S. -). Demgegenüber verweist eine genuin politische Erklärung des Populismus auf Defizite in der Funktionsweise der Demokratie. Sie konzentriert sich auf eine gesunkene Repräsentativität des politischen Systems gegenüber den Präferenzen stärker kommunitaristisch eingestellten Gesellschaftsschichten. Bei ihnen verfestigt sich der Eindruck, sie würden von der Politik nicht gehört. Die Wahrnehmung einer politischen Kaste, die den eigenen und den Interessen der kosmopolitischen Elite dient, breitet sich vor diesem Hintergrund aus. Autoritär-populistische Parteien reklamieren für sich, für die Gruppe der Übergangenen zu sprechen. Sie kritisieren deshalb das politische System und die etablierten Parteien ganz grundsätzlich – und ihre Anklage verfängt, weil die Politik der letzten Jahrzehnte tatsächlich Parteigängerin der liberalen Globalisten war.



. Die Krise der Repräsentation und die entfremdete Demokratie

Wer Vertreterinnen autoritär-populistischer Parteien zuhört, vernimmt vor allem Klagen über das politische System. In Deutschland etwa will die A fD das »rotgrün versiffte System« überwinden. Da ist von »Systemparteien« oder in der weichgewaschenen Version von Jörg Meuthen von »Altparteien« die Rede. Die »politische Klasse« sei für die Fehlentwicklungen in Deutschland verantwortlich (A fD , S. ). Mit »Lügenpresse« sind nicht einzelne Medien, sondern die Medienlandschaft als Ganze gemeint. Im Parteiprogramm der A fD stehen die Erneuerung der Demokratie (mit einer starken Betonung von Volksabstimmungen) und ein Zurückschneiden der Europäischen Union ganz vorne. Kritisiert werden also zuvorderst die herrschenden Institutionen – und zwar im Namen der Demokratie (Manow ). Wenn es hingegen darum geht, Vorstellungen über spezifische Politiken und Maßnahmen zu identifizieren, die zum Markenkern der A fD gehören, muss man genauer in das Grundsatzprogramm hineinschauen (A fD ). Dort finden sich nur wenige Forderungen, die sie als Außenseiterin qualifizieren. Sicherlich, die Forderung nach einer Stärkung der Außengrenzen wird besonders lautstark vorgetragen, ist aber in der Sache in der gegenwärtigen politischen Landschaft gar nicht so speziell. Im soziokulturellen Bereich fällt zudem auf, dass die Genderforschung beendet werden soll – der Punkt kommt übrigens direkt nach dem Abschnitt, in dem die Freiheit der Wissenschaft hochgehalten wird. Das Bekenntnis zur traditionellen Familie findet man nur in dieser Offenheit selten, ebenso die Forderung nach Leitkultur 

statt Multikulturalismus. Sozioökonomisch fällt fast gar nichts aus dem bekannten Rahmen: Der Mindestlohn soll beibehalten, die Bürokratie abgebaut, die soziale Marktwirtschaft gestärkt werden und Weiteres mehr. In der A fD überwiegen also Klagen über das ungerechte und verkommene politische System. Danach folgen Klagen über die Migration und die soziokulturellen Zustände im Lande. Relativ leise erscheint die Kritik an den sozioökonomischen Verhältnissen. Das gilt ganz ähnlich für andere autoritär-populistische Parteien in konsolidierten Demokratien. Wenn wir autoritäre Populisten in Regierungsverantwortung genauer betrachten, zeigt sich ein ähnliches Bild: Es geht zumeist ums Ganze, nicht um das Spezifische, und es geht fast immer vorrangig um das Politische. In den konsolidierten Demokratien stößt diese Kritik an der Funktionsweise der Demokratie bei vielen Menschen auf Widerhall.  hat das Pew Research Center die Ergebnisse einer Umfrage publiziert (Poushter ), laut der die Einstellungen in Großbritannien, Frankreich und Deutschland ein sehr ähnliches Profil aufweisen. In negativer Hinsicht stechen die Antworten auf eine Frage heraus: »Glauben Sie, dass die gewählten Offiziellen in Ihrem Lande sich dafür interessieren, was Leute wie Sie denken?« In Deutschland bejahten diese Frage nur  Prozent, in Großbritannien  und in Frankreich gerade mal  Prozent. Eine deutliche Mehrheit ist also mit der politischen Klasse unzufrieden. Werden die Fragen jedoch spezifischer und geht es um konkrete Problemlagen, stimmt die Bevölkerung viel mehr mit den alten als mit den autoritär-populistischen Parteien überein. In allen drei Ländern erreicht beispielsweise das Ziel der Geschlechtergleichheit enorm hohe Zustimmungswerte:  Prozent in Deutschland und Frankreich,  Prozent in Großbritannien. In Großbritannien und Deutschland 

wird es gar als das wichtigste politische Ziel gesehen. In allen drei Ländern überwiegt auch eine positive Einschätzung des Lebensstandards: In den alten Bundesländern sehen ihn  Prozent der Befragten positiv, in den neuen Bundesländern immerhin  Prozent. Das ist mehr als in Großbritannien ( Prozent) und Frankreich ( Prozent). Alle diese Werte haben sich gegenüber den Werten von , als die Frage schon einmal gestellt wurde und die autoritär-populistischen Parteien noch keinerlei Rolle spielten, deutlich verbessert (die Verbesserungen liegen zwischen  Prozentpunkten in den alten Bundesländern und enormen  Prozentpunkten in den neuen Bundesländern). Nur in einem Bereich ist eine große Minderheit in Sachfragen auf der Seite der autoritärpopulistischen Parteien: bei der Migration. Aber auch hier ist laut dem Pew Research Center immer noch eine Mehrheit mit der herrschenden Politik zufrieden. Unzufrieden ist man in der Bevölkerung also weniger mit Gleichstellungspolitiken oder der eigenen ökonomischen Situation. Traditionelle Geschlechtervorstellungen treffen kaum auf Resonanz, und die eigene ökonomische Lage wurde kurz vor der Coronakrise überwiegend positiv eingestuft. Unzufrieden ist eine große Mehrheit mit der politischen Klasse – und eine gewichtige Minderheit mit der Migrationspolitik. Diese Beobachtungen gilt es ernst zu nehmen, wenn der Aufstieg des autoritären Populismus erklärt werden soll. Deswegen müssen die ökonomische und die kulturelle um eine politische Erklärung der Krise der Demokratie ergänzt werden. Und bei der politischen Erklärung geht es nicht um die Unzufriedenheit mit bestimmten Politiken, sondern um das politische System und das mangelnde Vertrauen in die Entscheidungsträgerinnen. Es geht um das Gefühl einer mangelnden Repräsentation in und die damit verbundene Entfremdung von der Demokratie. Eine solche Erklärung hat 

aus unserer Sicht überdies den Vorteil, dass sie auch die ökonomischen und kulturellen Verwerfungen integrieren und so ein komplexeres Deutungsmodell anbieten kann. Das Erklären sozialer Zusammenhänge hat immer zwei Seiten. Einerseits geht es bei einer guten Erklärung darum, die Innenperspektive der Handelnden in den Blick zu nehmen. Welche Motive liegen der Wahl einer autoritär-populistischen Partei zugrunde? Wenn sich also die Unzufriedenheit der Wählerinnen autoritär-populistischer Parteien auf das politische System und weniger auf sozioökonomische Ungleichheiten und konkrete soziokulturelle Maßnahmen richtet, dann ist das aus der Innenperspektive ein wichtiges Indiz. Das reicht uns aber nicht. Es geht auch darum, verallgemeinerbare Kausalfaktoren zu identifizieren, die die entsprechende soziale Entwicklung verursacht haben. Ursachen sind demnach zeitlich vorgelagerte Ereignisse oder Entwicklungen, die regelmäßig das zu beobachtende Ergebnis hervorrufen. Ursachen stehen für allgemeingültige soziale Kausalzusammenhänge, die sich in Wahrscheinlichkeitsaussagen und deren Rahmenbedingungen fassen lassen. Deshalb greifen wir die gegen das politische System gerichtete Rhetorik der autoritär-populistischen Parteien auf und fragen, ob sich systematische Veränderungen in den betroffenen politischen Systemen beobachten lassen, die den Aufstieg autoritär-populistischer Parteien beeinflussen (Abschnitt .. und ..), und ob sich daraus erwachsende Unzufriedenheiten in den Motivationslagen der Wählerinnen solcher Parteien widerspiegeln (Abschnitt ..). Zwei unterschiedliche Entwicklungen sind für die wachsende Unzufriedenheit mit real existierenden Demokratien verantwortlich. Zum einen zeigt sich eine selektive Responsivität der gesetzgebenden Parlamente. Diese scheinen den oberen Schichten und Klassen besondere Aufmerksamkeit 

zu schenken. Diese ungleiche Responsivität ist eine der beiden verallgemeinerbaren Ursachen, die die Unzufriedenheit mit dem »System« hervorrufen. Zum anderen haben die Parlamente und Parteien – die klassischen Institutionen für Mehrheitsentscheidungen – über die Zeit relativ an Bedeutung eingebüßt. Stattdessen entscheiden oft Instanzen wie Zentralbanken oder internationale Institutionen. Die gewachsene Bedeutung solcher NMI s ist eine zweite Ursache für die Unzufriedenheit mit der Funktionsweise demokratischer Systeme. David Runciman nennt Ross und Reiter: »Die Demokratie funktioniert nicht gut – andernfalls gäbe es keine populistische Gegenbewegung.« (Runciman , S. )

. Mangelnde Responsivität der Parlamente , kurz vor der Wahl von John F. Kennedy zum . Präsidenten der USA , veröffentlichte Elmer Eric Schattschneider mit The Semisovereign People einen Klassiker der Politikwissenschaft. Es handelte sich um eine harsche Kritik der Theorie des Pluralismus. Schattschneider konstatierte eine überall aufscheinende Voreingenommenheit des Systems zugunsten der Interessen der Unternehmen und der Oberklasse. Die Vorstellung, die im Kongress vertretenen Interessen könnten repräsentativ für die amerikanische Bevölkerung sein, sei nichts anderes als ein Mythos. Das mündete in der bekannten Formulierung, wonach der »Fehler des pluralistischen Himmelschors darin besteht, dass er mit einem heftigen Oberklassenakzent singt« (Schattschneider , S. ). Die mangelnde Responsivität der Parlamente in den liberaldemokratischen Systemen hat seitdem kaum abgenommen (Gilens ). Es spricht sogar manches dafür, dass der Akzent im Zuge der Globalisierung in den letzten zwei Jahrzehnten stär

ker geworden ist. Genau das ist es auch, was die autoritär-populistischen Parteien lauthals beklagen. Im Zentrum ihrer Kritik steht, dass die repräsentative Demokratie, die »Systemparteien« und die Medien kein Ohr für den einfachen Mann von der Straße hätten. Die Gegenüberstellung von einfacher Bevölkerung und abgehobenen Eliten erfolgt genau vor diesem Hintergrund. Die Rhetorik entspringt einem autoritären Denken, sie baut aber auf einen realen Kern, der darin besteht, dass zwischen Repräsentanten und Repräsentierten tatsächlich eine Kluft besteht.

Wer regiert? Als die Demokratie in der Antike entstand, handelte es sich um eine direkte Demokratie. Der Gedanke, Entscheidungen könnten dauerhaft an Berufspolitiker übertragen werden, war in Athen unbekannt. Jeder Bürger – ein damals allerdings sehr exklusiver Kreis von wohlhabenden Männern – hatte das Recht, an der Volksversammlung teilzunehmen, und Ämter wurden für kurze Zeitspannen und in der Regel einmalig per Losverfahren vergeben. Diese Prinzipien der athenischen Demokratie sollten sicherstellen, dass das Volk sich selbst regierte. Eine »politische Klasse« sollte es in diesem System nicht geben. Doch diese Form der Demokratie, die eine revolutionäre Umgestaltung traditionaler Herrschaft darstellte, konnte nicht einfach auf die Nationalstaaten übertragen werden, als dort ab dem späten . Jahrhundert die Herrschaft des Volkes etabliert werden sollte. Mit der zweiten demokratischen Transformation wurde aus der direkten Demokratie in kleinen Stadtstaaten die repräsentative Demokratie in großen Territorialstaaten. In der modernen Variante war die Selbstregierung der Bürger nicht mehr praktikabel, 

weshalb Repräsentanten an ihrer statt entscheiden mussten. Obwohl uns heute die repräsentative als die selbstverständliche Form der Demokratie erscheint, wäre sie in der Antike nicht als demokratisch angesehen worden (Dahl , S. ). Wenn wir uns nicht selbst regieren, sondern eine kleine Gruppe auswählen, die stellvertretend für uns entscheiden soll, birgt dies immer das Risiko, dass die Gewählten anders entscheiden, als die Mehrheit entschieden hätte. Deshalb bleibt politische Repräsentation ein fragiles Konstrukt, das eine Sollbruchstelle an der Grenze zwischen Repräsentantinnen und Repräsentierten aufweist. Trotz des Versprechens, mit der Demokratie die Gleichheit der Bürgerinnen zu gewährleisten, wohnt der Repräsentation ein elitäres Element inne (Manin , S. ). Die drohende Abwahl zu einem festgesetzten Stichtag ist der Mechanismus, mit dem verhindert werden soll, dass sich die Differenz zwischen Repräsentierten und Repräsentanten systematisch in Entscheidungen übersetzt, die den Interessen der erstgenannten Gruppe widersprechen (Dahl , S. ). Die Abgeordneten müssen frei und gleichzeitig den Bürgern verpflichtet sein – indem sie das eigene Handeln begründen und indem ihre Wiederwahl davon abhängt, dass die Begründungen überzeugen (Pitkin , S. f.). Parlamente waren noch nie ein getreues Abbild der Bevölkerung. In den meisten Ländern sind Männer seit je überrepräsentiert, die Abgeordneten älter als der Bevölkerungsdurchschnitt und Menschen mit Migrationsgeschichte stark unterrepräsentiert gewesen. Diese Repräsentationsdefizite haben sich in den letzten Jahrzehnten etwas abgemildert. An anderer Stelle hat sich die Unwucht jedoch verstärkt: Mark Bovens und Anchrit Wille () haben untersucht, wie sich die Zusammensetzung der Parlamente in Westeuropa mit Blick auf Bildungsabschlüsse verändert hat. Auch wenn ihr 

Anteil schon immer über dem Durchschnitt der Bevölkerung lag, sind heute Akademiker besonders stark überrepräsentiert, weshalb die beiden von einer »Diplomiertendemokratie« sprechen (siehe auch Schäfer , Kap. ). Dabei ist nicht allein der Unterschied gegenüber der Bevölkerung ausschlaggebend, sondern auch die zunehmende Homogenität der Lebensläufe, die sich in einem Parlament finden. Der Dreischritt »Schule – Uni – Politik« ist dort heute viel häufiger anzutreffen als in der Vergangenheit. Wenn fast alle Bundestagsabgeordneten Baustellen – wenn überhaupt – nur von Ferienjobs oder Richtfesten kennen oder Bäckereien nur als Kunden betreten, verschärft sich die Gefahr, dass das Parlament nicht hinreichend responsiv gegenüber unterrepräsentierten Bevölkerungsgruppen ist.

Für wen wird regiert? Die ungleichgewichtige Repräsentation übersetzt sich tatsächlich in die parlamentarische Arbeit. Die Rechtfertigungspflichten der Repräsentanten gegenüber den Wählerinnen wirken nicht so, wie es sich Hanna Pitkin erhoffte. Wouter Schakel und Armen Hakhverdian () zeigen beispielsweise, dass die Positionen der Abgeordneten in den Niederlanden eher mit jenen Bürgerinnen übereinstimmen, deren Merkmale sie teilen – höhere Bildungsabschlüsse und höhere Einkommen. Kongressabgeordnete in den USA unterscheiden sich in ihren politischen Präferenzen anhand ihrer sozialen Herkunft – wer einer Arbeiterfamilie entstammt, kämpft für andere Anliegen als Abgeordnete aus privilegierten Familien (Carnes , ). Ähnliche Befunde liegen für Lateinamerika vor (Carnes/Lupu ). Und »Karrierepolitiker« positionieren sich in Debatten im britischen Unterhaus anders als 

Arbeiterinnen (O’Grady ). Die numerische Unterrepräsentation bestimmter Gruppen führt auch zu einer Unterrepräsentation bestimmter politischer Meinungen. So neigen viele Abgeordnete außerhalb populistischer Parteien den Auffassungen der liberalen Globalisten zu (Giger et al. ). Fallen auch die am Ende getroffenen Entscheidungen des Parlaments zugunsten bessergestellter Gruppen aus? Der Ausgangspunkt für diese Forschung liegt in den USA . Martin Gilens () hat die bis dahin übliche Responsivitätsforschung auf einen Schlag verändert, als er für fast  Sachfragen überprüfte, wer in der Bevölkerung welche Politiken unterstützte und wie anschließend politisch entschieden wurde. Gilens’ Innovation besteht darin, Umfragen aus mehr als drei Jahrzehnten ausgewertet und dabei die Befragten in unterschiedliche Einkommensgruppen aufgeteilt zu haben. Dieses Forschungsdesign erlaubt es ihm, Unterschiede darin zu erfassen, wessen Präferenzen umgesetzt werden. Als Ergebnis stellt er eine deutliche Schieflage zugunsten der Reichen fest. Nun ist es nicht so, dass die politischen Anliegen ärmerer Gruppen gar nie umgesetzt würden, doch ob dies geschieht, ist davon abhängig, ob sie Ähnliches wie die Reichen anstreben. In vielen Fällen findet »koinzidentelle Repräsentation« statt (Enns ), weil alle Einkommensgruppen ähnliche Politiken bevorzugen, doch wenn es nennenswerte Unterschiede zwischen Arm und Reich gibt, folgt die Politik zumeist den Reichen. Erklärt wird diese Unwucht in der Responsivität durch einen spezifischen Mechanismus: Da Wahlkämpfe in den USA sehr teuer sind und über Zeit teurer werden, gleichzeitig aber keine öffentliche Wahlkampfkostenerstattung existiert, sind alle Kandidatinnen auf private Spenden angewiesen. Der Wahlkampf kann durch eine Fülle an Kleinspenden 

bezahlt werden, aber häufiger sind es wenige Großspender, die den Löwenanteil der Finanzierung tragen. Die Anforderung, Geld einzuwerben, erzeugt einen starken Anreiz, tatsächliche und potenzielle Geldgeber nicht vor den Kopf zu stoßen (Lessig ). Politische Entscheidungen orientieren sich deshalb stärker an den Präferenzen der Reichen.Wer die Kapelle – oder den himmlischen Chor – bezahlt, bestimmt die Musik. Falls die Finanzierung von Wahlkämpfen der entscheidende Faktor für ungleiche Responsivität sein sollte, müssten die Muster in Europa anders aussehen. Denn in den meisten europäischen Ländern funktioniert die Finanzierung von Wahlkämpfen deutlich anders, da der Staat einen Teil der Kosten trägt. Um zu prüfen, ob politische Entscheidungen in Deutschland weniger verzerrt sind als in den USA , kann man politische Präferenzen der Bürgerinnen mit den im Deutschen Bundestag getroffenen Entscheidungen abgleichen. 1 Für die Zeitspanne von  bis  liegen zu mehr als  Sachfragen Daten aus Umfragen vor, in denen es stets um eine konkrete Politikänderung ging. Die Befragten gaben an, ob sie für oder gegen den jeweiligen Vorschlag waren, und auf dieser Grundlage lässt sich ermitteln, wie hoch der Anteil an Befürworterinnen für eine Reform innerhalb unterschiedlicher Bildungs-, Einkommens- und Berufsgruppen war. 2 Im nächsten Schritt haben wir überprüft, ob die  Die Daten und die im Folgenden zusammengefassten Ergebnisse beruhen auf gemeinsamen Arbeiten von Armin Schäfer mit Lea Elsässer und Svenja Hense. Die ResPOG Datenbank und die Analysen werden ausführlich in Elsässer et al. ;  dargestellt.  Nur für einen Teil der Fragen lagen Informationen über das Einkommen der Befragten vor. Da höhere Bildungsgrade und höhere Berufsgruppen systematisch mit höheren Einkommen einhergehen, spiegeln die Befunde auch Einkommenseffekte wider. 

vorgeschlagene Politikänderung innerhalb von vier Jahren durch den Deutschen Bundestag umgesetzt wurde. Obwohl in Deutschland nicht dieselbe Abhängigkeit von privaten Wahlkampfspenden wie in den USA besteht, sind die Ergebnisse ähnlich. Auch der Deutsche Bundestag setzt Politikänderungen eher um, wenn diese von Berufsgruppen mit höherem sozialem Status (Beamte, Selbstständige) und höheren Bildungs- oder Einkommensgruppen mehrheitlich befürwortet werden (Elsässer et al. ). Aus Abbildung  geht hervor, dass zwischen den Präferenzen von Arbeiterinnen, Facharbeitern und einfachen Angestellten einerseits und der Umsetzung von Reformen andererseits kein überzufälliger Zusammenhang besteht. Im Gegensatz dazu besteht für die anderen Berufsgruppen ein positiver und statistisch signifikanter Zusammenhang. Für die Umsetzungswahrscheinlichkeit von Politikvorschlägen ist es demnach wenig relevant, ob beispielsweise sehr wenige oder sehr viele (Fach-)Arbeiterinnen eine Änderung befürworten. Ganz anders sieht dies für Beamte oder Selbstständige und Unternehmerinnen aus: Je höher der Anteil der Befürworterinnen ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass eine Politikänderung tatsächlich verwirklicht wird. Konkret bedeutet dies, dass eine Politikänderung mit -prozentiger Wahrscheinlichkeit umgesetzt wird, falls  Prozent der Selbstständigen oder Unternehmerinnen dafür sind, aber mit -prozentiger Wahrscheinlichkeit, wenn die Zustimmung auf  Prozent steigt. Im Gegensatz dazu steigt die Umsetzungswahrscheinlichkeit nur um fünf Prozentpunkte, wenn  statt  Prozent der Facharbeiterinnen eine Reform befürworten. Die Ergebnisse unterscheiden sich nicht, wenn wir Bildungsgruppen samt den damit verbundenen Einkommensdifferenzen betrachten – auch hier ist der Zusammenhang zwischen politischen Präferenzen und politischen Entscheidungen sehr viel stärker für Gruppen mit mehr Ressourcen. 

Abb. : Die Responsivität des Deutschen Bundestags Unternehmer/ Selbständige hoch

Bildungsgrad

Berufsgruppen

Beamte höhere Angestellte einfache Angestellte

mittel

Facharbeiter niedrig Arbeiter −1

0

1

2

3

−1

0

1

2

3

Daten: ResPOG Datensatz.

Anmerkung: Dargestellt sind die Logit-Koeffizienten von getrennten Regressionsmodellen, mit denen die Umsetzungswahrscheinlichkeit einer Reform als abhängige und die Zustimmung in den sechs Berufsund drei Bildungsgruppen als unabhängige Variable geschätzt wurde. Schneidet die horizontale schwarze Linie nicht den Wert , liegt ein statistisch signifikanter Zusammenhang vor. Je höher die Zustimmung bspw. von Unternehmern und Selbstständigen für eine Reform ausfällt, mit desto höherer Wahrscheinlichkeit wird diese durch den Bundestag umgesetzt.

Wie in den USA ist es auch in Deutschland so, dass Berufsgruppen mit niedrigerem sozialem Status sowie Bürgerinnen mit niedrigeren Bildungsabschlüssen oder Einkommen in vielen Fällen jene Politiken erhalten, die sie sich wünschen. Aber ob dies passiert, hängt entscheidend davon ab, inwiefern die eigenen Einstellungen mit denen von bessergestellten Gruppen übereinstimmen. Wollen Arbeiterinnen etwas anderes als Unternehmer, gering Gebildete etwas anderes als hoch Gebildete oder Arme etwas anderes als Reiche, folgt die Politik zumeist der zweitgenannten Gruppe. Ähnliche Studien liegen inzwischen für die Niederlande, Schweden und Norwegen vor und bestätigen auch für diese egalitären 

Länder die beschriebenen Zusammenhänge (siehe z. B. Schakel ). Der Einfluss von Menschen mit geringerem Einkommen, niedrigen Bildungsabschlüssen oder gering qualifizierten Berufen auf Parlamentsentscheidungen ist also auch in Europa begrenzt. Hier singt der parlamentarische Chor ebenfalls mit einem Akzent. Der Akzent ist zwar etwas weniger ausgeprägt als in den USA – wo die Wahlkampffinanzierung erschwerend hinzukommt –, aber er ist deutlich zu vernehmen. Es spricht zudem vieles dafür, dass er heute stärker ist als in den sechziger und siebziger Jahren, als Schattschneider mit Blick auf die USA erstmals darauf aufmerksam machte. Mit der selektiven Responsivität politischer Entscheidungen geht ein zweifacher Liberalismus einher: Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen und Einkommen haben oft nicht nur kulturell, sondern auch ökonomisch liberalere Präferenzen. Werden ihre Interessen stärker berücksichtigt, verschiebt dies die Politik in der Tendenz zum liberal-kosmopolitischen Pol. 3

. Die Entmachtung der Parlamente Parlamente gehen selektiv mit den Anforderungen aus der Gesellschaft um. Sie besitzen eine nur geringe Responsivität gegenüber den Interessen der unteren Schichten. Gleichwohl bleiben Parteien und Parlamente die zentralen Institutionen, mittels derer Menschen mit geringerer Qualifikation Einfluss auf Entscheidungen erlangen. Auf dem gleichen  Innerhalb der Gruppe der Ressourcenreichen neigen Menschen in technischen Berufen eher der marktaffinen Variante des liberalen Kosmopolismus, Menschen in personenbezogenen Berufen der menschenrechtsorientierten Variante zu. 

Wahlrecht beruhende Parlamente stellen eine historische Errungenschaft der Arbeiterklasse dar. Die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts für die Repräsentation in den Parlamenten war die Voraussetzung für den Wohlfahrtsstaat. Erst dadurch konnten Gesetze mit der Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung erlassen werden, die den Aufbau institutionalisierter nationaler Solidarität und die damit verbundene Umverteilung ermöglichten. Es bedurfte Mehrheitsentscheidungen, um ein progressives Steuersystem zu errichten. Die selbstlose und gemeinwohlorientierte Abgabebereitschaft der Bessergestellten alleine hätte wohl kaum gereicht. Parlamente und die in ihnen vertretenen Parteien sind also die Institutionen innerhalb der liberalen Demokratien, die dem Mehrheitsprinzip Geltung verschaffen und es prinzipiell möglich machen, dass sich die Interessen der Mehrheit gegen die Interessen der Privilegierten durchsetzen. Alleine dieses Drohpotenzial führt dazu, dass die Bessergestellten immer wieder auch politische Positionen vertreten, die im Einklang mit den Interessen der unteren Gesellschaftsschichten sind. So wird die Mehrzahl der Entscheidungen der Parlamente im Einklang mit den Interessen der Besserund der Schlechtergestellten getroffen (siehe oben). Damit wird eine stille, aber dramatische Veränderung der institutionellen Landschaft umso bedeutsamer: die Verlagerung von Entscheidungskompetenzen weg von Mehrheitsinstitutionen wie Parteien und Parlamenten hin zu nichtmajoritären Institutionen wie Zentralbanken,Verfassungsgerichten und internationalen Institutionen. Diese Verschiebung ist das Resultat einer Dynamik, die genau zu der Zeit einsetzte, als Schattschneider über den Akzent des parlamentarischen Himmelschors schrieb. Am Ende dieser Kette stehen der Aufschwung der neuen autoritär-populistischen Parteien sowie der Ruf nach einer nationalistisch gedeuteten Mehrheitsherr

schaft. 4 Vollumfänglich lässt sich dieser Prozess in den konsolidierten Demokratien in Westeuropa und Nordamerika beobachten. In einer beschleunigten Form aber auch in Mittelosteuropa, der Türkei oder Lateinamerika. 5 Zur mangelnden Responsivität der Parlamente kommt nun ihre relative Entmachtung hinzu. Die Mehrheitsinstitutionen sind – wie in Abschnitt .. dargelegt – weniger responsiv, als sie es schon einmal waren. Zusätzlich – so soll im Folgenden gezeigt werden – haben sie die Entscheidungskompetenz in vielen Fragen an NMI s verloren. Die zweifache institutionelle Dynamik von mangelnder Responsivität der Parlamente und ihrer Entmachtung hat zur Entfremdung von der Demokratie geführt und den Aufstieg der autoritär-populistischen Parteien ermöglicht. Sie bestärkt das autoritäre Narrativ, wonach eine starke Führungspersönlichkeit den Willen der Mehrheit (ggf. auf einer plebiszitären Grundlage) am besten umzusetzen weiß.

Majoritäre und nichtmajoritäre Institutionen in der Demokratie Laut einer Umfrage des World Value Survey (WVS ) aus dem Jahre  wünschten sich damals mehr als  Prozent der Weltbevölkerung, in einem »demokratischen politischen Sys Das Modell ist in Zürn b skizziert und in Zürn  ausgearbeitet worden.  Die Datenerhebungen, die zur Prüfung des Modells herangezogen wurden, sind einerseits von Michael Zürn, Martin Binder und Alexandros Tokhi  und andererseits von Pieter de Wilde, Ruud Koopmans und Michael Zürn  konzipiert worden. Die ergänzenden Daten vom World Value Survey hat Johannes Scherzinger ermittelt. 

tem« zu leben (WVS ; vgl. Inglehart et al. ). Die Zahl ist auch heute noch ähnlich hoch. Ein genauerer Blick offenbart jedoch, dass insbesondere in den meisten OECD Ländern die Bevölkerung damals ein geringes Vertrauen in Parlamente und Parteien hatte und stattdessen Institutionen bevorzugte, die nicht von Mehrheiten und Wahlen abhängig sind. In acht von sechzehn betrachteten Ländern (Tabelle ) 6 hatten die Befragten in die Justiz, die EU und die Uno mehr Vertrauen als in Parteien, Parlamente und Regierungen (***). In drei weiteren Ländern hatten Parteien und Parlamente den niedrigsten Wert aller Institutionen, wobei wenigstens die Regierungen etwas besser abschnitten (**). In vier weiteren Fällen war zumindest der Durchschnitt des Vertrauens in die drei anderen Institutionen höher als der Durchschnitt des Vertrauens in Mehrheitsinstitutionen (*). Lediglich Finnland und die Türkei weichen von diesem Muster etwas ab. Beide weisen aber gleichfalls sehr niedrige Vertrauenswerte für die Parteien auf. Die Menschen in diesen Ländern wollen zwar fast alle in einer Demokratie leben, mögen aber mehrheitlich keine Mehrheitsinstitutionen. Das ist ein »demokratisches Paradox« (Zürn ). Dieses »demokratische Paradox« liegt in der Beziehung zwischen Mehrheitsinstitutionen und nichtmajoritären Institutionen begründet. Parlamente und Parteien spielen in der Theorie die zentrale Rolle in demokratischen politischen Systemen (Dahl ). Parlamente erlassen Gesetze durch Mehrheitsentscheidungen der gewählten Repräsentantinnen. Diese werden wiederum in freien Wahlen bestimmt, die auf  Es handelt sich um die  Länder aus der OECD -Welt, für die die WVS -Daten regelmäßig vorliegen und die  laut Freedom House als demokratisch galten. 

Tab. : Vertrauen in verschiedene demokratische Institutionen Land

Gerichte

Regierung , , ,

Parteien , , ,

Parlamente , , ,

Australien*** Chile Deutschland*** Finnland Italien*** Japan*** Kanada*** Mexiko** Niederlande* Norwegen* Polen*** Schweden* Schweiz* Spanien*** Türkei USA**

, , ,

, , , ,

, , , , , , , , , , , , ,

, , , , , , , , , , , , ,

, , , , , , , , , , , , ,

, , , , , , , , , , , , ,

, , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

EU

UN

Quelle: World Value Survey ; vgl. Inglehart et al. .

Anmerkung: *** alle NMI s > alle MI s; ** Parteien und Parlamente haben die schlechtesten Werte; * ⌀ NMI s > ⌀ MI s.

dem Wettbewerb zwischen Parteien beruhen. Parlamente und Parteien verkörpern daher die Idee der Volksherrschaft. Jede Entscheidung kann, zumindest grundsätzlich gesehen, umgekehrt werden, sobald eine neue Mehrheit entsteht. Da ein jeder die Möglichkeit dazu hat, die eigene Stimme zu erheben, sollten die von Mehrheitsinstitutionen getroffenen Entscheidungen die Ansichten der Mehrheit widerspiegeln. Trotz der selektiven Responsivität der Parlamente geben die Mehrheitsinstitutionen im Prinzip allen die Möglichkeit, mit der eigenen Wahlstimme die Zusammensetzung der Parlamente und damit zumindest indirekt deren Entscheidungen zu beeinflussen. 

Verfassungsgerichte und Zentralbanken sind in Deutschland die bekanntesten nichtmajoritären Institutionen. Ihnen kommt seit je ebenfalls eine wichtige Rolle in demokratischen politischen Systemen zu. Die vornehme Aufgabe von NMI s besteht darin, öffentliche Macht so zu kontrollieren und zu begrenzen, dass sie keine Individual- und Minderheitsrechte verletzen oder den demokratischen Prozess selbst gefährden (Elster ; Preuß ). Außerdem müssen sie die von der Legislative festgesetzten Normen implementieren (Ackermann ). Auch internationale Institutionen sind NMI s, da sie die Demokratie und die Menschenrechte schützen und dabei helfen, vereinbarte politische Ziele zu implementieren (Keohane et al. ). NMI s wie Verfassungsgerichte werden oftmals von den Mehrheitsinstitutionen ernannt, um die »richtigen« Entscheidungen zu ermitteln. NMI s üben in diesem Sinne epistemische und moralische Autorität aus. Ihre Entscheidungen bauen auf der Annahme auf, dass sie besser wissen, was die richtige Entscheidung ist. Gleichzeitig besitzen NMI s im Allgemeinen nicht die Ressourcen, um ihre Entscheidungen erzwingen zu können. Kein Verfassungsgericht kann die Exekutive zwingen, dem Richterspruch zu folgen. NMI s sind auch nicht unmittelbar gegenüber der Wahlbevölkerung verantwortlich. Sie können somit als Regierungseinheiten definiert werden, die (a) eine spezialisierte öffentliche Autorität ausüben, (b) weder direkt durch das Volk gewählt noch direkt durch gewählte Offizielle geleitet werden und sich stattdessen (c) auf Sachgründe und ihre epistemische Autorität als Grundlage ihrer Entscheidungen berufen (vgl. auch Thatcher/Sweet , S. ). Gemäß der Theorie des Konstitutionalismus sind die Parlamente die Gesetzgeber. Sie begründen zusammen mit der Exekutive die Herrschaft des Volkes. NMI s hingegen sollen eine herrschaftsbegrenzende Rolle spielen (Krisch ). Al

lerdings ist die Quantität und Qualität von NMI s innerhalb der letzten Jahrzehnte so stark angestiegen, dass sie heutzutage nicht nur eine begrenzende, sondern auch eine herrschaftsbegründende Rolle einnehmen. Bei vielen wichtigen Themen treffen NMI s grundlegende Entscheidungen. Man schaue nur auf die Rolle der Europäischen Zentralbank während der Eurokrise.Wenn aber eine Institution, die gegenüber der Bevölkerung nicht direkt rechenschaftspflichtig ist, weitreichende Entscheidungen trifft, kann leicht der Eindruck entstehen, dass die Entscheidungsfindung sehr weit von großen Teilen der Bevölkerung entfernt erfolgt und mithin auch deren Interessen nicht gehört werden. Die Machtverschiebung zugunsten der NMI s ist das Ergebnis einer politischen Sequenz, die sich aus vier Schritten zusammensetzt.

Die Machtvermehrung nichtmajoritärer Institutionen Am Anfang stand der im zweiten Kapitel beschriebene historische Kompromiss nach dem Zweiten Weltkrieg. In dieser Konstellation wurde die Öffnung der Weltmärkte durch den Aufbau des Wohlfahrtsstaats abgefedert, und die Demokratien konnten sich stabilisieren. Gleichzeitig entstanden Volksparteien, für die Otto Kirchheimer () den treffenden Ausdruck catch-all party prägte. Eine Volkspartei ist eine politische Partei, die darauf abzielt, Menschen mit unterschiedlichen politischen Sichtweisen und weite Segmente des Elektorats anzusprechen.Volksparteien tendieren zur Mitte. Nur dort lassen sich in einem System mit zwei oder drei Parteien Wahlen gewinnen (Downs  []). Mit der Dominanz der Volksparteien konnten sich die liberalen Demokratien in Westeuropa und Nordamerika konsolidieren. Gleichzeitig brachte der Aufstieg der Volksparteien den Effekt mit sich, 

dass die Unterschiede zwischen links und rechts langsam, aber sicher verschwammen. So zeigt die Forschung zu Parteiprogrammen, dass »programmatische Unterschiede in den klassischen sozialökonomischen Themengebieten (wie z. B. Rolle des Staates, Marktregulation, Nationalisierung, Sozialhilfe, Finanzpolitiken) in den letzten Jahrzehnten weitgehend verschwunden sind« (Merkel b, S. ; Przeworski , S. ). Im Ergebnis setzten die sozialdemokratischen Parteien immer weniger die Interessen der Arbeiter gegen, sondern zunehmend nur noch im Kompromiss mit den bürgerlichen Parteien durch.Volksparteien sahen sich daher mit Problemen interner Disziplin konfrontiert, da die Basis der offiziellen Parteiposition immer wieder kritisch gegenüberstand. Damit wurde eine Zentralisierung und die Stärkung der Parteileitungen notwendig, und es entstanden »Diplomiertenparlamente«. Gleichzeitig stellten die Volksparteien eine sehr enge Assoziation zu den Interessengruppen des Kapitals und der Arbeit her. Man nannte das Korporatismus (Lehmbruch ). Der Korporatismus verstärkte den Trend zur Verhandlungsdemokratie zwischen den Spitzen der Parteien und den Spitzen der Verbände (Czada/Schmidt ). Dass der Aufstieg von Volksparteien Probleme mit sich bringen würde, hat der herausragende Politikwissenschaftler Robert Dahl schon in den frühen sechziger Jahren vorhergesehen. Seiner Ansicht nach führte der Aufstieg der Volksparteien zu einer Politik der Kompromisse, der Anpassung, der Aushandlung, der Verhandlung; einer Politik, die von professionellen und quasiprofessionellen Eliten ausgeführt wird, die nur einen kleinen Teil der Gesamtbevölkerung ausmachen; einer Politik, die unideologisch und geradezu antiideologisch ist […]. [Viele Bürgerinnen betrachten diese Form der Politik] als zu abgeschottet und bürokratisiert, zu abhängig von Verhandlung und Kompromissen, als ein Instrument der politischen Eliten und Machttechniker. (Dahl , S. f.) 

Infolge dieser Entwicklung sank nicht nur die Responsivität der Parlamente gegenüber den unteren sozialen Schichten, wie in Abschnitt . gezeigt, es nahm zunächst auch das Vertrauen in Parteien und Parlamente ab. Der Prozess begann schon relativ bald nach dem Aufstieg der Volksparteien. Frühe Umfragen aus drei konsolidierten Demokratien – den Vereinigten Staaten, Schweden und Frankreich – ermittelten das Vertrauen in die Parteien mit einem ähnlichen Item (»Kümmern sich die Politiker um ihre Anliegen?«). Der Anteil der positiven Antworten nahm in den USA schon ab den späten fünfziger Jahren ab. In den frühen sechziger Jahren vollzog sich dann in Frankreich und Schweden eine ähnliche Entwicklung (Hay , S. ). Ab Mitte der Siebziger überschritt der Anteil der negativen Antworten in allen drei Ländern die Schwelle von fünfzig Prozent. In den WVS -Umfragen wird die Frage nach dem Vertrauen in das Parlament seit den achtziger Jahren systematisch und direkt gestellt. Hierfür liegen Daten für  OECD -Länder vor, die im Jahr  als demokratisch galten (Abbildung ). Dabei zeigt sich eine permanente und deutliche Abnahme des Vertrauens in Mehrheitsinstitutionen. Erst vor Kurzem hat sich der Trend umgedreht. Während wir einige Ausreißer sehen (insbesondere in der Welle von -), sind die Werte in den jüngsten zwei Wellen für alle Länder deutlich niedriger als in den früheren. Ein besonders interessanter Fall ist Polen: Das Land hat erst in den frühen Neunzigern eine demokratische Transformation erlebt. Danach sanken die Vertrauenswerte in das Parlament von  Prozent in der zweiten Welle über  in der dritten bis auf  Prozent in der fünften und sechsten Welle. Es scheint, als habe diese neue Demokratie innerhalb von nur zwanzig Jahren den Pfad nachvollzogen, für den etablierte Demokratien mehr als vier Jahrzehnte benötigten. Der Befund stützt die These von der wachsenden Ent

Nettovertrauen in Parlamente (»sehr groß« + »groß«) − (»gering« + »sehr gering«)

Abb. : Vertrauen in Parlamente

0

1981−1984

1989−1993

1994−1998

1999−2004

2005−2009

2010−2014

Daten: WVS, verschiedene Wellen; siehe Inglehart et al. .

Anmerkung: Für die Darstellung wurde der Anteil der Personen mit geringem oder gar keinem Vertrauen von dem der Personen mit großem oder sehr großem Vertrauen subtrahiert. Ein Wert von  bedeutet, dass beide Gruppen gleich groß sind, bei negativen Werten überwiegt das Misstrauen. Jeder unausgefüllte Kreis steht für ein Land, die ausgefüllten Kreise geben den Durchschnittswert der  Länder an.

fremdung zwischen Mitgliedern und Wählerinnen der Parteien auf der einen und ihren Repräsentanten in den Parlamenten und Parteiführungen auf der anderen Seite (Crouch  []; Dahl ; Mair ). Das abnehmende Vertrauen in Mehrheitsinstitutionen hat im zweiten Schritt zu einer Bedeutungszunahme von NMI s geführt. In wachsendem Ausmaß überprüften und implementierten NMI s nicht nur Entscheidungen, sondern sie erlangten auch eine zentrale Rolle bei der Politikgestaltung und Normfestlegung. Es sind vor allem drei Mechanismen, die zur Stärkung von NMI s führen, wenn das Vertrauen in MI s schwindet. Zum 

einen dient die Übertragung von Entscheidungskompetenzen an Institutionen, die ein hohes Maß an Vertrauen genießen, der Legitimation. Das Streben nach Legitimation führte damit zur Stärkung von NMI s (vgl. Tabelle ). Zum Zweiten suchten Parteien und Koalitionen Kompromissentscheidungen auszulagern, bei denen sich abzeichnete, dass sie bei Parteimitgliedern und traditionellen Wählerinnen nicht unbedingt auf großen Anklang stoßen würden. Der zweite Mechanismus wird gerne als blame-shifting bezeichnet. Eine solche Schuldverschiebung kennen wir insbesondere im Kontext der Übertragung von Kompetenzen auf die EU . Regierungen weisen die Verantwortung für unattraktive Politiken von sich und zeigen mit dem Finger auf »Brüssel«, selbst wenn sie im Rat der Europäischen Union der Politik zugestimmt haben (Gerhards et al. ; Moravcsik ). Schließlich geht es drittens auch um Vertrauensbildung: NMI s senden ein Signal an internationale Investoren, dass die Rechtsstaatlichkeit und die wirtschaftliche Vernunft Investoren auf lange Sicht beschützen werden. Die Verlagerung hin zu NMI s wurde daher vom Globalisierungsschub und den damit einhergehenden neoliberalen Politiken beschleunigt. Der Wettbewerb zwischen Investoren erhöhte den Wert institutionell festgeschriebener Verpflichtungen (Cerny ; Slobodian ). Haben NMI s in den achtziger und neunziger Jahren tatsächlich zugenommen, wie es diese Kausalmechanismen nahelegen? Die Frage kann mit einer bemerkenswerten Klarheit bejaht werden. Erstens haben sich viele Legislativen auf der Welt – vor allem in den Neunzigern – dazu entschieden, Verfassungsgerichten mehr Kompetenzen zuzusprechen. Ran Hirschl (, S. ) fasst diese Entwicklung im Eröffnungssatz seiner Studie Towards Juristocracy zusammen: »Rund um den Globus wurde im Zuge von Verfassungsänderungen in mehr als achtzig Ländern […] in beispiellosem Ausmaß 

Macht von repräsentativen Institutionen auf die Justiz übertragen.« Zweitens haben laut Rapaport et al. () zwischen  und  nicht weniger als  Länder die Autonomie von Zentralbanken gestärkt (Cukierman ; Jácome/Vázquez ), während kein einziges Land Zentralbanken konstitutionell geschwächt hat. Darüber hinaus zeigen Jordana et al. (), dass besonders seit den neunziger Jahren vermehrt Regulierungsbehörden eingerichtet wurden, die unabhängig von den Mehrheiten in den Parlamenten eigenständige Entscheidungen treffen können. Es sind jedoch nicht nur NMI s innerhalb von Demokratien, sondern auch internationale Institutionen, die nationalen MIs wie Parlamenten und Parteien Entscheidungskompetenzen entziehen. Auch ihre Autorität hat seit den neunziger Jahren drastisch zugenommen (Hooghe et al. ; Zürn et al. ). Einen genaueren Überblick erhalten wir, wenn die Entwicklung von NMI s auf nationaler und internationaler Ebene in einem Index zusammengeführt werden. Jordana et al. () stellen vergleichende Daten über die Anzahl der Sektoren zur Verfügung, in denen mindestens eine Regulierungsbehörde eine gewichtige Rolle spielt. Sie wählten dazu siebzehn Sektoren aus, um eine weite Bandbreite von Politikbereichen abzudecken, für die NMI s relevant sind. Dazu zählen etwa Wettbewerb, Umwelt, Finanzdienstleistungen, Lebensmittelsicherheit, Gas, Gesundheits- und Versicherungswesen, jedoch nicht das Gerichtswesen. Der Datensatz umfasst  Regulierungsbehörden, welche am . Dezember  tätig waren. Die International Authority Database (IAD ) hat internationale Autorität anhand einer Analyse von  internationalen Organisationen und über  internationalen Verträgen gemessen. Autorität wird dabei durch die Autonomie der Institution, ihre Bindungskraft sowie ihren Funktionsumfang bestimmt (Zürn et al. i.V.). 

Die Datensätze zu Regulierungsbehörden und zu internationaler Autorität können in einem NMI -Index kombiniert werden. Zu diesem Zweck haben wir die Werte der nationalen Ebene für die sechzehn von uns betrachteten Staaten zwischen null und eins für sowohl nationale als auch internationale NMI s standardisiert. Der resultierende NMI -Index in Abbildung  zeigt ein selten eindeutiges Bild: Die Bedeutsamkeit von NMI s hat sich zwischen den späten siebziger und den frühen nuller Jahren verdoppelt. Geht man davon aus, dass die Gesamtmenge politischer Autorität in diesem Zeitraum einigermaßen konstant blieb, hat sich die Macht der Mehrheitsinstitutionen innerhalb von weniger als  Jahren dramatisch reduziert. Wenn wir die nationalen und internationalen NMI s getrennt betrachten, ergeben sich zusätzliche Einsichten. Erstens zeigt sich der Aufstieg von NMI s in allen sechzehn Ländern. Es gibt keine einzige Ausnahme. Zweitens hängt die relative Bedeutsamkeit von NMI s jenseits des Nationalstaats von der Mitgliedschaft in der EU und der Eurozone ab. In den Amerikas sowie in Australien und Japan sind nationale Regulierungsbehörden relevanter als internationale Organisationen. Die Ausnahme in dieser Gruppe ist Kanada – ein Staat, der gemeinhin den Ruf hat, ein besonders entschiedener Verfechter des Multilateralismus zu sein. Besonders rasant war der Aufstieg von NMI s im Zeitraum von , insbesondere in den neunziger Jahren. Generell gesehen kann die Übertragung von Entscheidungskompetenzen an NMI s als Teil des »Madisonian Turn« der modernen Demokratie gesehen werden, wie das Torbjörn Bergmann und Kaare Strøm () in einer bahnbrechenden Studie über die politischen Systeme Skandinaviens nennen. Demnach unterliegen die Entscheidungen der Politik immer mehr der Logik der checks and balances. Jan-Wer

Abb. : Index aus Autonomie und Befugnissen von NMIs in  Ländern zwischen  und  Australien

Chile

Deutschland

Finnland

Italien

Japan

Kanada

Mexiko

Niederlande

Norwegen

Polen

Schweden

Schweiz

Spanien

Türkei

USA

1 .5 0 1 .5 0 1 .5 0 1 .5 0 1960 1970 1980 1990 2000 2010 1960 1970 1980 1990 2000 2010 1960 1970 1980 1990 2000 2010 1960 1970 1980 1990 2000 2010

internationale Autorität

nationale Regulierungsbehörde

Daten: International Authority Database; Zürn et al. i.V.

ner Müller ist weniger moderat im Ton: Er spricht in Anlehnung an John Maynard Keynes von der »Euthanasie der Politik« (Müller , S. f.). .

Die Euthanasie der Politik und die kosmopolitische Selektivität Nichtmajoritäre Institutionen bringen Expertise und Sachkenntnis in die Politik. Sie unterliegen weniger den politischen Leidenschaften des Moments. Sie mögen auch als vergleichsweise neutral hinsichtlich der Links-rechts-Achse der Politik wahrgenommen werden. Sie sind aber gewiss nicht politisch neutral, wenn es um die neue Konfliktlinie geht. Bereits der institutionelle Zweck von NMI s weist in die kosmopoli

tische Richtung. Verfassungsgerichte betonen und verteidigen individuelle Rechte oftmals gegen politische Mehrheitsentscheidungen. Zentralbanken kontrollieren die Inflation, tendieren zu angebotsorientierter Politik und versuchen, die internationalen Kapitalmärkte zu stabilisieren. Regionale und internationale Institutionen beharren auf der Konformität (compliance) nationaler Politik mit internationalen Vorgaben. Sie treten zumeist dafür ein, dass ihnen weitere Kompetenzen und Aufgaben übertragen werden. Gleichzeitig sind wichtige Entscheidungsträger in NMI s gegenüber dem Wahlvolk nicht rechenschaftspflichtig. Rechenschaftspflichtig sind sie nur gegenüber anderen Teilen des politischen Systems. Verfassungsgerichte sind sogar bewusst darauf angelegt, die Abhängigkeit der Richterinnen von politischen Entscheidungsträgern und der Öffentlichkeit zu minimieren. Deswegen werden Richterinnen und Richter manchmal auf Lebenszeit oder für einen festen Zeitraum ohne Wiederernennungsmöglichkeit berufen. Obgleich alle NMI s ihre Entscheidungen als sachlich richtig und notwendig legitimieren, sind sie nicht politisch neutral. Sie tragen dazu bei, dass kosmopolitische Politiken festgeschrieben werden und institutionell einrasten. Mit der Übernahme von Kompetenzen durch NMI s erfolgt eine Entpolitisierung bis dato politischer Fragen. Sie werden aus dem Bereich der »kollektiven Entscheidungen« herausgenommen und in die Sphäre des vermeintlich sachlich Richtigen überführt (Zürn , ). Das Richtige hat aber einen erkennbaren Akzent, dieses Mal einen kosmopolitischen. Die kosmopolitische Färbung lässt sich anhand von Daten nachweisen, die die Position verschiedener Akteure bei solchen Themen anzeigt, bei denen sich Kosmopoliten und Kommunitaristinnen als Kontrahenten gegenüberstehen (de Wilde et al. ). Mittels der sogenannten Claims-Analyse kann 

der Fokus auf die Beziehung zwischen den Akteurinnen und der Position, die sie bei verschiedenen Themen einnehmen, gerichtet werden (Koopmans/Statham ). Um die Positionen hinsichtlich der Globalisierung zu untersuchen, verwenden wir einen Datensatz aus  Forderungen, die in öffentlichen Arenen in Deutschland, Polen, Mexiko, der Türkei und den Vereinigten Staaten, im Europäischen Parlament oder in der Generalversammlung der Vereinten Nationen erhoben wurden. 7 Für unsere Analyse haben wir zwei Variablen verwendet: die Position von Akteuren hinsichtlich der Öffnung von Grenzen für Güter, Menschen und Kapital sowie hinsichtlich der Übertragung von Kompetenzen auf internationale Organisationen. Die Aggregierung dieser beiden Positionierungen kann vier Werte annehmen: »integrieren« (), »integriert bleiben« (), »abgrenzen« () und »abgegrenzt bleiben« (). Zweitens werden Akteure anhand ihrer Funktion innerhalb der verschiedenen politischen Systeme unterschieden: die Exekutive (z. B. der UN -Generalsekretär, nationale Regierungen, der EU -Ministerrat); die Mitglieder der Legislative (wie z. B. das Europäische Parlament, nationale Parlamente, Stadträte); die Mitglieder der Judikative (z. B. der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, das deutsche Bundesverfassungsgericht); Expertinnen; Akteure, die auf der internationalen Ebene agieren. Die Ergebnisse sind eindeutig, und die Unterschiede statistisch signifikant (Abbildung ). Die Mitglieder der Legislative – als archetypischer MI s – liegen mit , nahe an der Mittelposition (,). Im Gegensatz dazu neigen die Forderungen der Vertreterinnen aller NMI s viel stärker zum kosmopolitischen Pol ( ist maximal kosmopolitisch). Vertrete Dabei konzentrieren wir uns hier auf nur  der  Länder, zu denen die Vertrauensdaten des WVS vorliegen. 

rinnen von internationalen Organisationen sind mit einem Durchschnittswert von , am kosmopolitischsten, gefolgt von denen der Exekutive, den Expertinnen und den Vertretern der Judikative, die allesamt bei Werten zwischen , und , liegen. Abb.: Die kosmopolitische Tendenz von Mitgliedern von NMI s

durchschnittliche politische Position

2.2

2

1.8

1.6

1.4 Legislative

Judikative

Exekutive

IOs

Experten

Akteurstyp Anmerkung: Politische Positionen rangieren von  (kosmopolitischer Pol) bis  (kommunitaristischer Pol);  % Konfidenzintervalle.

In dem Maße, wie die kosmopolitische Voreingenommenheit sichtbar wird, weitet sich die Schere zwischen den Positionen der Eliten und denen der Bevölkerung. So gibt es in den untersuchten Ländern erhebliche Differenzen bei Themen wie supranationale Integration, Klimawandel, Freihandel und Immigration (Strijbis et al. ). Diese Schere liegt dem wachsenden Misstrauen weiter Teile der Bevölkerung gegenüber der politischen Klasse zugrunde. Sie befeuert die Kon

fliktlinie zwischen autoritären Populisten und liberalen Globalisten. Im Ergebnis bringen die Vorteile der Übertragung von Kompetenzen an NMI s langfristig neue Probleme mit sich. Je mehr Autorität an NMI s delegiert wird und je länger blame-shifting erfolgt, desto stärker werden die NMI s politisiert (Zürn ). Der Versuch, bestimmte Entscheidungen aus dem Bereich des Politischen herauszunehmen, führt im Ergebnis zur Politisierung der Institutionen, die für diese Entscheidungen verantwortlich zeichnen. Im Ergebnis büßen die NMI s nun gleichfalls an Vertrauen und Unterstützung ein. Zur Enttäuschung der Bevölkerung über die Volksparteien kommt dann die Enttäuschung über NMI s hinzu. Sie werden zunehmend als Instrumente der kosmopolitischen Elite und als Gegner des »einfachen Volkes« betrachtet. Von da aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Unterstützung einer autoritär-populistischen Partei, die internationale Kooperation ablehnt. Die demokratische Entfremdung und der Aufstieg der autoritären Populisten ist somit das Resultat einer historischen Sequenz, die durch den Aufstieg der Volksparteien ausgelöst wurde. Dies hat zu einer Dynamik geführt, die mit der Vertrauensabnahme in MI s begann und über den Aufstieg von tendenziell kosmopolitischen NMI s zum Wachstum des autoritären Populismus geführt hat. Dieses Narrativ ist in Abbildung  zusammengefasst.



Abb. : Der historische Kompromiss und der Aufstieg des autoritären Populismus

historischer Kompromiss (t1) eingebetteter Liberalismus

Big Deal

Volksparteien

Vertrauensabnahme in Mehrheitsinstitutionen (t2) Parteien

Parlamente

Aufstieg von nichtmajoritären Institutionen (t3) Zentralbanken

internationale Organisationen

Verfassungsgerichte

kosmopolitische Tendenz (t4) Individualrechte

offene Grenzen

Übertragung von Autorität

autoritärer Populismus (t5) populistische Parteien

Populisten an der Macht



. Entfremdung von den politischen Institutionen Wir haben zwei Trends beschrieben, die politische Entscheidungen zugunsten der liberalen Globalisten verschieben. Zum einen sind die Parlamente ungleich responsiv gegenüber den Anliegen unterschiedlicher sozialer Gruppen: Menschen mit höherem Einkommen, höheren Bildungsabschlüssen und höher qualifizierten Berufen finden systematisch mehr Gehör als Gruppen, die jeweils am anderen Ende der Verteilung stehen. Diese Form der Ungleichheit befördert ökonomisch liberale Positionen (freie Märkte). Zum anderen werden Befugnisse von den Parlamenten auf nichtmajoritäre Institutionen verlagert. Deren Entscheidungen jedoch sind ebenfalls nicht politisch neutral, sondern weisen im zweidimensionalen politischen Raum eher eine Affinität zum Kosmopolitismus (Internationalisierung und kultureller Pluralismus) auf. Diese beiden Entwicklungen bilden das Fundament unserer politischen Erklärung des Aufstiegs der autoritär-populistischen Parteien. Sie bringt zwei generelle Trends in modernen Demokratien zusammen: die Professionalisierung und Kartellierung der Parteipolitik (Mair ) sowie die Beobachtung, dass NMI s ein Hauptziel des gegenwärtigen Populismus sind (Mounk/Kyle ). Die Kartellierung der Parteipolitik hat die selektive Responsivität des Gesetzgebers verschärft. Der Aufstieg der NMI s führt zu einem weiteren Bias: Er bevorzugt systematisch die Positionen der liberalen Globalistinnen. Das Vertrauen in sie schwindet, und damit gerät das politische System als Ganzes in den Fokus. Die selektive Responsivität der Parlamente sowie die Verlagerung von Entscheidungen auf nichtmajoritäre, nur indirekt legitimierte Gremien stellen in unserer Terminologie eine Entfremdung der politischen Entscheidungsprozesse vom Ideal der Demokratie dar. Sie führt, so die andere Seite der 

Medaille, zu einer Entfremdung von der Demokratie bei jenen Gruppen, die sich nicht länger politisch vertreten fühlen. Als Konsequenz der doppelten Entfremdung kann der Aufstieg autoritär-populistischer Parteien beobachtet werden. Zur Festlegung der autoritär-populistischen Parteien verwenden wir den Chapel Hill Expert Survey (CHES ), eine Datenbank, die Informationen zu mehr als  Parteien in  europäischen Ländern enthält. Die Klassifizierung von Parteien durch den CHES beruht auf einer Befragung in den untersuchten Ländern. Mithilfe eines Fragebogens wurden  Expertinnen aufgefordert, alle Parteien anhand verschiedener Kriterien einzuordnen. Zum Beispiel wird abgefragt, wie weit links oder rechts eine Partei steht oder ob sie die europäische Integration positiv oder negativ beurteilt. Wir folgen Pippa Norris und Ronald Inglehart (, S. ) und kombinieren sieben Fragen, um Parteien auf der Achse liberal versus autoritär zu verorten, und zwei Fragen, um zu erfassen, wie populistisch sie sind. 8 Die Items beider Aspekte werden jeweils addiert und dann auf Werte von  bis  skaliert, wobei höhere Werte stärker populistische oder autoritäre Parteien kennzeichnen. Das Vorgehen lässt sich mit Blick auf das deutsche politische System illustrieren. In Abbildung  ordnen wir die deutschen Parteien mithilfe des CHES -Datensatzes entlang der beiden Achsen ein. Sofort ins Auge sticht, dass die Posi Der durch diese beiden Achsen aufgespannte Raum unterscheidet sich leicht von dem zweidimensionalen politischen Raum, den wir in Kapitel zwei diskutiert haben. Er dient ausschließlich dazu, autoritär-populistische Parteien zu identifizieren. Der autoritäre Aspekt wird durch folgende Items erfasst: GALTAN , Nationalism, Civlib_laworder, Multiculturalism, Sociallifestyle, Immigrate_policy sowie Ethnic_minorites. Der Populismusaspekt wird durch »Anti-corruption salience« sowie »Anti-elite_salience« gemessen. 

tion der A fD von den Expertinnen als sowohl am stärksten autoritär als auch am populistischsten bewertet wird. Gleichzeitig gibt es zwischen Bündnis /Die Grünen und Linkspartei auf der einen und den Unionsparteien auf der anderen Seite deutliche Unterschiede bei der Positionierung auf der liberal-autoritären Achse. Die Grünen vertreten besonders liberale Positionen, während die CSU stärker autoritären Werten zuneigt. Umgekehrt attestieren die Expertinnen den Grünen ein geringfügig höheres Maß an Populismus als der CSU , was möglicherweise daran liegt, dass den Grünen – so etabliert sie inzwischen auch sein mögen – noch immer eine stärker elitenkritische Haltung zugeschrieben wird. Wenn wir den Schwellenwert jeweils auf der Mitte der Skala ansetzen, wird jedenfalls deutlich, dass sich nur die A fD im oberen rechten Quadranten befindet. Mit dieser Vorgehensweise lassen sich autoritär-populistische Parteien identifizieren und gegenüber anderen Parteien abgegrenzen. Abb. : Das deutsche Parteiensystem 100

AfD

Autoritarismus

75 CSU CDU 50 FDP SPD

25

LINKE B90/GRÜNE 0 0

25

50

Populismus Daten: Chapel Hill Survey ; vgl. Bakker et al. .



75

100

Mittels dieser operationalen Bestimmung der autoritär-populistischen Parteien betrachten wir nun die  Länder, für die die WVS -Vertrauensdaten vorliegen. Die Erfolge der autoritär-populistischen Parteien sind deutlich zu erkennen (Abbildung ; siehe auch Abbildung ). Es begann in den neunziger Jahren, beschleunigte sich in den nuller Jahren und ist seit  besonders stark ausgefallen. Diese Parteien betonen die Logik der Mehrheitsentscheidung und wenden sich gegen NMI s. Es kann daher auch nicht überraschen, dass mit dem Aufstieg dieser Parteien auch das relative Vertrauen in die Parlamente wieder anwächst (vgl. Abbildung  oben). Abb. : Der Aufstieg autoritär-populistischer Parteien in  Ländern seit den achtziger Jahren

50

Stimmenanteil

40

30

20

10

0 1980−84 1985−89 1990−94 1995−99 2000−04 2005−09 2010−14 2015−18

Daten: WVS, verschiedene Wellen; siehe Inglehart et al. .

Abschließend soll es nun um die Frage gehen, ob sich der Aufstieg der autoritär-populistischen Parteien auch »subjektiv« in den Motivationslagen nachvollziehen lässt und ob die Entfremdung der ungehörten Bevölkerungsteile von den de

mokratischen Institutionen tatsächlich die Wahl einer autoritär-populistischen Partei wahrscheinlich macht. Wir wollen das empirisch nachvollziehen und kombinieren dafür zwei Datensätze. Zum einen verwenden wir den European Social Survey (ESS ). Der ESS ist eine wissenschaftliche Umfrage, die in mehr als  europäischen Ländern in zweijährigem Rhythmus durchgeführt wird. Die jüngste Auflage ist  erschienen und bietet einige Fragen zur Einschätzung, wie offen das politische System für die eigenen Anliegen ist. Zwei Items gehen in unsere Untersuchung ein: () In welchem Maße gibt das politische System Menschen wie Ihnen die Möglichkeit, Einfluss auf die Politik zu nehmen? und () In welchem Maße gibt das politische System Menschen wie Ihnen eine Mitsprachemöglichkeit bei dem, was die Regierung tut? Zudem enthält der ESS auch demografische Informationen, die wir nutzen, um die Befragten anhand eines von Daniel Oesch () entwickelten Klassenschemas einzuordnen. Dabei unterscheiden wir  Berufsgruppen, die vier verschiedene Qualifikationsniveaus aufweisen – von angelernten über Ausbildungs- bis zu halbakademischen und akademischen Berufen. Aus diesen verschiedenen Informationen lässt sich nicht nur ableiten, ob ein Zusammenhang zwischen der wahrgenommenen Offenheit bzw. Repräsentativität der politischen Entscheidungssysteme und dem Wahlverhalten besteht, sondern auch welche Gruppen sich weniger berücksichtigt fühlen und stärker autoritär-populistischen Parteien zuneigen. Dafür nutzen wir die Daten des Chapel Hill Expert Survey, die wir oben anhand des deutschen Falls illustriert haben. Für  europäische Länder liegen Informationen sowohl aus dem European Social Survey als auch dem CHES vor, die wir nun kombinieren. 9 Von den Parteien, die  Die Länder sind Belgien, Bulgarien, Deutschland, Estland, Finnland, 

im ESS genannt werden, ordnen wir diejenigen als autoritärpopulistisch ein, die auf beiden Achsen Werte über  aufweisen. Abbildung  stellt den Zusammenhang zwischen Berufsgruppen, wahrgenommener Offenheit der politischen Systeme und Wahlverhalten dar. Zwei Beobachtungen sind besonders wichtig. Erstens gibt es einen engen Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung der Offenheit bzw. Repräsentativität der politischen Systeme und dem Wahlverhalten: Je stärker Menschen der Ansicht sind, sie hätten keine Mitsprachemöglichkeit und keinen Einfluss auf politische Entscheidungen, desto höher ist der Stimmenanteil für autoritär-populistische Parteien. Entsprechend geht das Gefühl, Gehör zu finden, mit einer geringeren Neigung einher, für autoritär-populistische Parteien zu stimmen. Zum zweiten variieren die Wahrnehmungen erheblich zwischen den Berufsgruppen. Höher qualifizierte Befragte denken häufiger, dass Menschen wie sie selbst Mitsprachemöglichkeiten haben und Einfluss auf die Politik nehmen können, als gering Qualifizierte. Ein durchaus zutreffender Eindruck, wie unsere Responsivitätsstudien und die Verlagerung der Entscheidungskompetenzen auf internationale Institutionen zeigen. Nur knapp über fünf Prozent der soziokulturellen Experten (z.B. Hochschullehrerinnen, Publizistinnen etc.), aber zwanzig Prozent der Facharbeiter und Handwerker geben an, für eine autoritär-populistische Partei gestimmt zu haben. Dieses Muster passt zu der sozialstrukturellen Dimension der von uns beschriebenen Konfliktlinie, die sich an der Globalisierung entfacht. Menschen, deren ökonomische Situation durch JobFrankreich, Großbritannien, Irland, Italien, die Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, die Schweiz, Slowakei, Slowenien, Spanien, Schweden, Tschechien, Ungarn und Zypern. 

Abb. : Offenheit des politischen Systems und die Wahl autoritärpopulistischer Parteien nach Berufsgruppe Angelernte

Lehrberufe

halbakademische Berufe

akademische Berufe

Stimmenanteil populistischer Parteien

25.0%

20.0%

Facharbeiter und -handwerker geringqualifizierte Bürokräfte geringqualifizierte Arbeiter qualifizierte Dienstleistende

15.0% geringqualifizierte Dienstleistende Kleingewerbe mit Beschäftigten Kleingewerbe ohne Beschäftigte technische Fachleute freie Berufe qualifizierte Bürokräfte unteres Management

10.0%

oberes Management

technische Experten soziokulturelle Experten soziokulturelle Semiprofessionen

5.0%

0.0% 2.0

2.2

2.4

Menschen können Politik beeinflussen Angelernte

Lehrberufe

halbakademische Berufe

akademische Berufe

Stimmenanteil populistischer Parteien

25.0%

20.0%

15.0%

10.0%

Facharbeiter und -handwerker geringqualifizierte Bürokräfte geringqualifizierte Arbeiter qualifizierte Dienstleistende geringqualifizierte Dienstleistende Kleingewerbe mit Beschäftigten technische Fachleute Kleingewerbe ohne Beschäftigte qualifizierte Bürokräfte unteres Management

freie Berufe oberes Management

technische Experten soziokulturelle Experten soziokulturelle Semiprofessionen

5.0%

0.0% 2.2

2.4

2.6

Menschen haben Mitsprachemöglichkeit Daten: European Social Survey ; Chapel Hill Expert Survey; siehe Bakker et al. .

Anmerkung: Abgebildet sind gewichtete Durchschnittswerte für  Länder. 

verlagerungen oder wachsende Niedriglohnkonkurrenz stärker gefährdet und deren Lebensperspektive eher lokal geprägt ist, finden sich in der Tendenz eher am linken oberen Rand der Abbildungen.

. Die Krise der Repräsentation gebiert den Populismus Unsere politische Erklärung des Aufstiegs autoritär-populistischer Parteien setzt an den gegenwärtigen Schwächen der liberalen Demokratie an. Dazu gehören ein erhebliches Maß an politischer Ungleichheit (Schäfer ) und die partielle Entmachtung der Parlamente durch nichtmajoritäre Institutionen (Zürn ), die die parlamentarische Ungleichheit akzentuiert und sie in eine neue Konfliktlinie transformiert. Die Dominanz der liberalen Globalisten ist eine der Triebfedern für den Aufstieg autoritär-populistischer Parteien. Autoritäre Populisten kritisieren weniger einzelne Politikmaßnahmen und Gesetze, sondern bemängeln ganz grundsätzlich, wie die Demokratie umgesetzt wird – nur deshalb können sie behaupten, sich für mehr Demokratie einzusetzen. Diese Kritik verfängt bei Teilen der Bevölkerung, weil sie eine reale Grundlage hat und Bürgerinnen wahrnehmen, dass eine Entfremdung der Demokratie von den eigenen Ansprüchen stattgefunden hat. Dies zur Kenntnis zu nehmen, bedeutet jedoch nicht zu erwarten, dass autoritär-populistische Parteien an den von ihnen kritisierten Zuständen irgendetwas ändern werden. Im Gegenteil: Sie sind selbst eine Triebkraft der demokratischen Regression. Diesen paradoxen Effekt kennen wir aus der Geschichte. Obwohl der Faschismus auch als Abwehrreaktion gegen die beschleunigte Modernisierung in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts verstanden 

werden kann, hat beispielsweise der Nationalsozialismus die Modernisierung der deutschen Gesellschaft weiter vorangetrieben (Dahrendorf ). Unsere politische Erklärung integriert die ökonomische und die soziokulturelle Erklärung, weil die von ihr thematisierten politischen Maßnahmen und Gesetze dem politischen Gegensatz je nach politischer Konstellation und Lage in unterschiedlicher Weise eingeschrieben sind. Dabei ähnelt unsere politische Erklärung auf den ersten Blick einer anderen Interpretation, die in der gegenwärtigen Krise der Demokratie eine Reaktion auf den Aufstieg der Technokratie sieht (Bertsou/Pastorella ; Bickerton/Accetti ; Canovan ; Caramani ). Unsere Erklärung unterscheidet sich davon aber in zweierlei Hinsicht: Erstens zielen autoritäre Populisten nicht primär auf Technokraten, sondern auf die politische Klasse und NMI s. Diese haben eine liberal-globalistische Färbung und institutionalisieren den Pluralismus. Sie betonen die Rechte von Individuen und Minderheiten mit anderen Lebensstilen und Vorlieben. Technokraten hingegen suchen Lösungen. Differenzen und Streit haben da oft keinen Platz. Es lässt sich auch empirisch zeigen, dass Bürgerinnen eher dazu geneigt sind, technokratische Regierungsformen zu unterstützen, wenn sie schwächere demokratische Einstellungen haben und misstrauisch gegenüber der politischen Klasse sind. Im Gegensatz dazu geht der Respekt für NMI s Hand in Hand mit demokratischen Einstellungen und Vertrauen. Technokratie ist demnach die harmlosere Schwester des autoritären Populismus (Urbinati ). Technokraten und autoritäre Populisten werden daher häufig als zwei miteinander verbundene Herausforderungen für repräsentative Demokratien betrachtet, während deliberative Repräsentation und NMI s als notwendige Teile der liberalen Demokratie gelten, die nicht selten von autoritären Populisten 

und manchmal auch von Technokraten angegriffen werden. Zweitens stellen die Kartellierung der Parteien und der Aufstieg von NMI s zwei voneinander getrennte Prozesse dar und können nicht unter dem Label der Technokratie zusammengefasst werden. Eine weitere Erklärung, die der politischen Erklärung auf den ersten Blick nicht unähnlich ist, sieht den autoritären Populismus als Folge des Neoliberalismus. Demnach wurden liberale Märkte von der Politik geschützt und abgeschottet (Slobodian ), um so die Verwertungsinteressen der Unternehmen und der Kapiteleigner zur freien Entfaltung kommen zu lassen. Erneut weist unsere politische Erklärung zwar einige Überschneidungen, aber auch signifikante Unterschiede auf. Zunächst folgt sie nicht der Annahme eines Goldenen Zeitalters der Demokratie, in dem die Politik für die Anliegen aller sozialen Schichten gleichermaßen empfänglich war (Crouch  []). Außerdem scheint weniger das Ungleichgewicht zwischen traditionellen ökonomischen Klassen die Unzufriedenheit anzutreiben, als vielmehr (Aus-) Bildungsdifferenzen und die Differenz zwischen Kosmopolitismus und Kommunitarismus. Vor allem aber sind es viel weniger spezifische Politikmaßnahmen und Gesetze, sondern deren institutionelle Festschreibung durch NMI s und selektive Repräsentation, die angegriffen werden. Unsere politische Erklärung fokussiert sich nicht auf einzelne Entscheidungen, sondern auf die Politik, die unpopuläre Entscheidungen ermöglicht und einrasten lassen hat.



. Krisen in der Demokratie

Die ersten beiden Jahrzehnte des neuen Jahrtausends brachten eine ungeahnte Verdichtung von Krisen und krisenähnlichen Erscheinungen. Es begann mit dem Anschlag auf die Twin Towers in New York, woraufhin die amerikanische Politik unmittelbar in den Krisenmodus schaltete.  führte die Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers zu einer globalen Finanzkrise. Der Kurssturz an der Börse war in den ersten Tagen nach der Insolvenz von vergleichbarem Ausmaß wie nach dem Schwarzen Freitag . Auf dem Fuß folgte die Krise der Eurozone, in der sich strukturelle Probleme der gemeinsamen Währung zeigten, die bald auf der Kippe stand.  annektierte Russland die Krim. Erstmals seit  wurden damit in Europa einseitig territoriale Grenzen verschoben, was den Inbegriff einer internationalen Krise darstellt. Die Anzahl der Menschen, die aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie aus Nordafrika nach Europa flüchteten, nahm im Jahr  stark zu und führte in der Wahrnehmung weiter Bevölkerungsteile ebenfalls zu einer gesellschaftlichen Krise, die sich insbesondere in der Stärkung ausländerfeindlicher und rassistischer politischer Gruppierungen niederschlug. Die zeitlich dichte Abfolge weiterer Anschläge islamistischer Terrornetzwerke  und  kann als Sicherheitskrise gedeutet werden.  wird als das Jahr der Coronakrise in die Geschichtsbücher eingehen. Die mittel- und langfristigen Folgen sind noch unabsehbar. Die liberalen Demokratien gerieten durch diese Krisen unter Handlungsdruck. Bei den genannten Terrorakten handelte es sich gar um externe Anschläge auf die Demokratie beziehungsweise auf die nach  entstandene liberale Welt

ordnung. In Reaktion darauf konnten in fast allen Demokratien Prozesse beobachtet werden, die gerne als Versicherheitlichung (securitization) bezeichnet werden (Buzan et al. ; Waever ). Versicherheitlichung heißt, dass eine Frage zu einer Sicherheitsfrage umdefiniert und damit dem regulären politischen Prozess entzogen wird. Zu ihrer Lösung erscheinen dann auch außerordentliche Mittel wie die Ausrufung des Ausnahmezustands oder des Kriegsrechts, die Mobilisierung des Militärs oder ein Angriff auf ein anderes Land als legitim. Die Exekutive nimmt sich der Krise an und nutzt die Situation, um Ziele zu erreichen, die sonst nicht durchsetzbar gewesen wären. In einer extremen Form vollzog sich dieser Prozess nach / unter der US -Regierung von George W. Bush. Insbesondere Vizepräsident Dick Cheney erwies sich als Meister der Versicherheitlichung. Die Versicherheitlichung untergräbt zwar die demokratischen Prozesse und stärkt die Exekutive. Oft handelt es sich dabei aber um einen temporären Prozess (Kreuder-Sonnen ). Besonders relevant für uns sind die Krisen, die innerhalb der demokratischen Gesellschaften ausgelöst wurden (wie die Finanz- und Eurokrise) oder innerhalb der Demokratien bearbeitet werden müssen (wie die sogenannte Flüchtlingsund die Coronakrise). Gerade diese Krisen haben die veränderten politischen Prozesse in Demokratien deutlicher sichtbar gemacht und damit den erwähnten Brennglas- und Lupeneffekt (Gosepath ).

. Krise als Dauerzustand Der Begriff Krise kommt aus dem Griechischen. In der Antike verwies er auf Situationen, in denen ärztliches Handeln über Leben und Tod entschied. Eine Krise ist ein unhaltbarer 

Zwischenzustand: Entweder gelingt die Erholung, oder der Tod bzw. die dauerhafte körperliche Schädigung tritt ein (Przeworski , S. ). Durch eine Krise droht dem Organismus als Ganzes eine dauerhafte Schädigung oder ein Zusammenbruch, auch wenn die Ursachen organspezifisch sein mögen. In unserem Kontext sprechen wir von einer Krise, wenn Probleme in sozialen Teilsystemen wie etwa der Wirtschaft um sich greifen und zu einer gesamtgesellschaftlichen Herausforderung werden, die nicht dauerhaft unbewältigt bleiben kann. Eine kleine und vorübergehende Wachstumsdelle in der Wirtschaft ist genauso wenig eine Krise wie leicht erhöhte Blutdruckwerte. Auch der Rückgang des Vertrauens in die Politik oder eine defizitäre Responsivität der Parlamente, also Defizite im politischen Teilsystem, werden erst dann zu einer Krise, wenn sie konstitutive Elemente der demokratischen Gesellschaft angreifen und die zeitnahe Verabreichung von Gegengiften verlangen. In letzter Instanz sind politische Krisen soziale Konstruktionen. Zwar erscheint es fast unmöglich, ganz ohne realen Kern erfolgreich eine Krise auszurufen, aber es bedarf doch der öffentlichen Anerkennung eines Zustandes als krisenhaft, bevor wir wirklich von einer Krise sprechen können.Wir reden von einer Krise, wenn intersubjektiv anerkannt ist, dass der Bestand des Organismus bzw. der Gesellschaft infrage steht und deswegen unmittelbares Handeln notwendig ist. Es kann also zum einen Bestandsprobleme geben, die gar nicht als Krisen wahrgenommen werden, selbst wenn vereinzelt Warnungen ausgerufen werden. Umgekehrt können aber auch eigentlich moderate Problemlagen unverhältnismäßig vergrößert und auf den Schild der Krise gehoben werden. Ein als Krise definierter Zustand erfordert schnelles Handeln. In einer modernen Gesellschaft werden die entsprechenden Entscheidungen von der Politik erwartet. Gesell

schaftliche Krisen fordern demnach die Politik, auch wenn die Politik nicht oder zumindest nicht unmittelbar die Krise hervorgerufen hat. Insofern führt die Krise zu einer Politisierung der Ursache und der Krisenverstärker. Soziale Kontakte und Hygienevorschriften sind erst im Zuge der Covid-Pandemie zum Politikum geworden. Gleichzeitig trägt die Krise die Möglichkeit in sich, dass der politische Entscheidungsraum und der Streit um die richtige Lösung gleich wieder eingeschränkt und insofern entpolitisiert wird (Schneckener ). Die Notwendigkeit der unmittelbaren Reaktion tendiert zur Aussetzung politischer Vermittlungsprozesse bis hin zur Einschränkung politischer Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger. Die Krise duldet kein demokratisches Abwägen. Parlamente und Opposition spielen eine untergeordnete Rolle. Die Politik rückt in der Krise in den Fokus, sie wird aber gleichzeitig auf die Umsetzung des Notwendigen beschnitten. Deswegen erscheinen Krisen gleichzeitig als hochpolitisch und als seltsam entpolitisiert. In den Fokus rückt auch die Schuldfrage. Ist die Krise exogen verursacht und mithin unverschuldet? Hat sie ein funktionierendes Gemeinwesen gleichsam wie ein Meteorit beziehungsweise wie ein Virus aus fernen Ländern getroffen oder ist sie das Resultat endogener Fehlentwicklungen? Auch diese Fragen werden durch soziale Deutungen entschieden. Vor allem wenn die Schuld endogenen Entwicklungen zugeschrieben und die erste Reaktion des politischen Systems als unzureichend angesehen wird, kann die Krise am Anfang grundlegender Veränderungsprozesse stehen. Damit verbindet sich ein weiterer Aspekt von Krisen. Laut Hölderlin rufen sie das Rettende auf den Plan. Dementsprechend war der marxistische Krisenbegriff positiv besetzt. Die Krise beschleunigt in dieser Sichtweise den Fortschritt, sie dient als Mittel, um eine neue Stufe der Entwicklung zu errei

chen. Das war bis in die siebziger Jahre die vorherrschende Auffassung gesellschaftlicher Krisen (Graf ; Koselleck ). 1 Derzeit überwiegen im Gegensatz dazu die negativen Konnotationen. Allerdings verweist die Theorie des historischen Institutionalismus auf den Doppelcharakter von Krisen, weil diese auch Momente der Weichenstellung (critical junctures) beinhalten, die Pfadabhängigkeiten und institutionelle Verfestigungen durchbrechen können. Krisen stellen also auch eine Gelegenheitsstruktur für weitgehende Veränderungen bereit. Obgleich die politisch Handelnden Krisen zumeist als Stress bei stark eingeschränktem Handlungskorridor wahrnehmen, verringert sich häufig die Kraft struktureller Beschränkungen. In Krisen klafft daher oft eine Lücke zwischen der »objektiven« Lockerung struktureller Zwänge und der »subjektiven« Wahrnehmung der Dringlichkeit aufseiten der Entscheidungsträgerinnen. Solche Gelegenheitsstrukturen sind nicht selten Ausgangspunkt von Strukturveränderungen (Capoccia/Kelemen ; Zürn a, Kap. ). Unter einer Krise wollen wir zusammenfassend die breite öffentliche Wahrnehmung bedrohlicher Herausforderungen für die Gesellschaft als Ganzes verstehen, die schnelle politische Gegenmaßnahmen notwendig machen und im Falle endogener Krisen auf die Notwendigkeit gesellschaftlicher Veränderungen verweisen (siehe auch Bösch et al. ). Die Krisen der letzten  Jahre weisen zusätzlich zu diesen Definitionsmerkmalen eine Reihe weiterer Gemeinsamkeiten auf. Sie machten erstens nicht an nationalstaatlichen  Dabei sollte die Kritik den Weg aus der Krise weisen. Walter Benjamin und Bertolt Brecht gründeten  eine Zeitschrift mit dem Namen Krise und Kritik. Bezeichnenderweise lautete der Titel des ersten Heftes »Die Begrüßung der Krise«. Reinhart Koselleck ( []) wählte später Kritik und Krise als Titel für seine einflussreiche Dissertation. 

Grenzen halt, weshalb Arjen Boin () den Begriff der transboundary crisis verwendet (vgl. auch Kilper ). Die Krise in der globalisierten Welt ist in einem doppelten Sinne entgrenzt: Sie wirkt weit über das Teilsystem hinaus, in dem sie ihren Ausgang nahm, und hat insofern einen systemischen Charakter. Sie wirkt aber auch über das Territorium des Ursprungs hinaus und hat insofern einen weltgesellschaftlichen Bezugspunkt. Krisen stehen heute für die Verquickung der geografischen und der funktionalen Ausbreitung von Problemen. Die Zahlungsunfähigkeit einiger amerikanischer Immobilienkäufer hat im Endeffekt den griechischen Staat an den Rand des Zusammenbruchs gebracht; der despotische Machtanspruch der Assad-Familie in Syrien hat zu gesellschaftlichen Spaltungen in Schweden geführt; die Frustration radikalisierter Menschen in islamischen Gesellschaften lässt Menschen fast überall Opfer sinnloser Gewaltausbrüche werden; und unvorsichtige Praktiken auf einem Tiermarkt in Wuhan führen zeitlich gestuft zu einem Lockdown fast der gesamten Welt. Zweitens waren die bisherigen Krisen des . Jahrhunderts der politischen Demokratie exogen und führten auch nicht zu einer akuten Krise der Demokratie. Zu einer akuten Krise der Demokratie kommt es laut Wolfgang Merkel (a, S. ), wenn eine von zwei Bedingungen erfüllt ist: »wenn Defizite sich verdichten und bestandsnotwendige Verfahren der Demokratie verdrängen und ihre grundsätzlichen normativen Gehalte – Freiheit, Gleichheit, Herrschaftskontrolle – auszuhöhlen beginnen« oder »wenn die Bürger dies erkennen und nicht nur der jeweiligen Regierung, sondern dem demokratischen System selbst den Legitimitätsglauben entziehen«. In diesem Sinne waren beispielsweise die Jahre von  bis  in Griechenland oder die Zeit zwischen  und  in Deutschland akute Krisen der Demokratie. Bei den in die

sem Kapitel betrachteten Fällen handelte sich nach diesem Verständnis nicht um Demokratiekrisen. Diese Krisen wurden auch nicht unmittelbar durch die Demokratie verursacht. Im Gegenteil: Die konsolidierten Demokratien zeigten sich als vergleichsweise gute Krisenmanager. Die internationale Koordination der Ausgaben- und Rettungspolitiken sorgte dafür, dass der wirtschaftliche Einbruch nach der Finanzkrise kurz und eben nicht nachhaltig war. Sogar die Eurozone konnte gerettet werden, und in vielen Ländern trat schon bald eine wirtschaftliche Erholung ein. Die Krise verlief also ganz anders als nach . Die Integration der Flüchtlinge in den westeuropäischen Gesellschaften verdient sicherlich keine Bestnoten, sie bleibt aber eine beachtenswerte Leistung. Gleichzeitig gelang es, die Anzahl der Asylanträge zu senken. Über den moralischen Gehalt der entsprechenden Maßnahmen lässt sich sicherlich streiten, aber die brutalsten Mittel der gewalttätigen Grenzsicherung konnten vermieden werden, wenngleich die Zahl der im Mittelmeer ertrunkenen Menschen erschreckend hoch ist. Auch die Reaktion auf die terroristischen Anschläge in den Jahren  und  kann schwerlich als Scheitern interpretiert werden. Die demokratischen Gesellschaften reagierten auf diese Entsicherung (Heitmeyer ) ohne Selbstaufgabe, schränkten die Freiheitsrechte kaum ein, und trotzdem ging die Anzahl der Anschläge wieder zurück, zumal sie in Deutschland rein numerisch ohnehin deutlich unter dem Level rechtsextremer Anschläge Mitte der neunziger Jahre lag (vgl. Heitmeyer et al. , S. ). Es zeichnet sich auch nicht ab, dass konsolidierte Demokratien bei der Bewältigung der Coronakrise generell schlecht abschneiden würden. Kurz und gut: Die dichte Abfolge großer Krisen mit mehr oder weniger globalem Ausmaß kann nicht unmittelbar als Ausdruck einer Krise der Demokratie gelesen werden. 

Aber selbst wenn die genannten Ereignisse keine endogenen Demokratiekrisen waren, so setzte deren Verdichtung die Demokratie unter Stress. Gerne wird heutzutage dieser Tatbestand als Krise bezeichnet. Im Zuge der allgemeinen Ausweitung und Inflationierung des Begriffs (Graf ) werden nämlich auch potenziell krisenerzeugende Entwicklungen mit dem Begriff der Krise belegt. Die einflussreichen Analysen zur Krise des Spätkapitalismus (Habermas ; Offe ) trugen ihren Anteil zu dieser Entwicklung bei (Schäfer ).Wolfgang Merkel (a, S. ) spricht in diesem Zusammenhang von latenten Krisen, die sich in »Schwundstufen der Demokratie« (Offe , S. ), postdemokratischen Zuständen (Crouch  []) oder dem Zurückbleiben rein institutioneller Fassaden (Streeck ) äußern. Hierbei geht es also nicht um eine akute Krise der Demokratie, sondern um eine langsame Verschlechterung bzw. mangelnde Anpassungsleistungen. Die dahinterliegende Befürchtung entspricht der (umstrittenen) Geschichte des Frosches, der bei kontinuierlich ansteigender Temperatur im Kochtopf bleibt, bis es viel zu warm ist und er darin stirbt. Auf welche Weise tragen die genannten akuten Krisen zu einer latenten Krise, also einer schleichenden Verschlechterung der Demokratie bei? Bei der Beantwortung dieser Frage kommt die Metapher der Lupe ins Spiel. Eine Lupe vergrößert und erlaubt es so, Dinge zu sehen, die man sonst nicht sieht. Die akuten Krisen haben in diesem Sinne die veränderten politischen Prozesse in Demokratien sichtbar gemacht. Wesentliche Entscheidungen wurden nicht mehr von gewählten Parlamenten, sondern von anderen politischen Institutionen getroffen. Dabei rückten die Krisen nicht nur die Exekutive ins Licht, sondern auch Experten und nichtmajoritäre Institutionen: Mario Draghi und Christian Drosten sind zwei Namen, die dafür stehen. 

Eine Lupe ist im physikalischen Sinne aber auch ein Brennglas, dass mittels einer Konvexlinse die einfallenden Sonnenstrahlen bündelt und damit die Energiedichte des Lichts so stark erhöht, dass brennbares Material entzündet werden kann. Demokratien sind leicht entzündlich. Einige dieser Krisen haben tatsächlich zu Debatten über den Wert der liberalen Demokratie geführt. Gerne wird im Zusammenhang mit solchen Krisen gefragt, ob autokratische Systeme nicht besser reagieren können. Zudem hat sich der Aufstieg autoritär-populistischer Parteien infolge der Krisen beschleunigt. Die dichte Abfolge der Krisen hat demnach die Entfremdung von der Demokratie verstärkt. Sie hat die abnehmende Repräsentativität der konsolidierten Demokratien offengelegt und gleichzeitig zur Stärkung antidemokratischer Kräfte geführt.

. Die Gebrüder Lehman und das Fehlen von Alternativen Am . September  verließen mit Kartons beladene Banker ein Hochhaus in New York. Börsenhändler starrten verstört auf ihre Bildschirme. In der Welthauptstadt der Finanzen ging an diesem Tag eine Bank pleite. Ihr Name steht wie kein zweiter für den Ausbruch einer Krise, wegen der überall auf der Welt Menschen ihren Arbeitsplatz und Sparer ihre Vermögen verloren. Der Name der Bank ist Lehman Brothers. Ausgangspunkt der Krise war die Niedrigzinspolitik der amerikanischen Notenbank unter Alan Greenspan. Die niedrigen Zinsen lösten einen Bauboom aus. In den Jahren  bis  kauften sich immer mehr Menschen Häuser und Wohnungen auf Pump, selbst wenn sie sich diese eigentlich nicht leisten konnten. Den Banken war das recht. Um mehr Kunden zu bekommen, drückten sie oft beide Augen zu und 

reduzierten die Sicherheitsanforderungen. Durch die Bündelung und Neuzuteilung unterschiedlicher Kredite schien das Ausfallrisiko dennoch sehr gering zu sein, was es erlaubte, in großem Umfang neue Kredite zu vergeben (Blyth ). Das ging so lange gut, bis die Immobilienblase platzte und viele Kunden gleichzeitig ihre Hauskredite nicht mehr bedienen konnten, wodurch die Häuser (und damit die Sicherheiten) massiv an Wert verloren. Plötzlich hatten die Banken riesige Löcher in ihren Bilanzen. Das Ende von Lehman Brothers war aber nicht der Anfang der Krise. Bereits im Februar  hatte Alan Greenspan erstmals vor einer Rezession und den Gefahren für die Banken gewarnt. Langsam breitete sich die Angst aus, zumal entsprechende Gegenmaßnahmen wenig Wirkung zeigten. Im August  hörten die Banken auf, sich gegenseitig Kredite zu gewähren, weil sie Angst vor schlechten Subprime-Hypotheken hatten. Dennoch blieb die amerikanische Zentralbank bei der Ansicht, niedrigere Zinssätze würden ausreichen, um Liquidität und Vertrauen wiederherzustellen. Am . November überzeugte Finanzminister Henry Paulson drei Banken – Citigroup, JPM organ Chase und Bank of America –, einen Superfonds in Höhe von  Milliarden Dollar einzurichten. Der Fonds würde Banken und Hedge-Fonds Liquidität zur Verfügung stellen, mit der die faulen Papiere aufgekauft werden sollten. Trotz weiterer Zinssenkungen durch die Zentralbank und verschiedener Konjunkturprogramme der US Regierung konnte der Crash nicht verhindert werden. Der Bankrott von Lehman Brothers löste endgültig die Finanzkrise sowie die Gefahr eines Bankensterbens aus und drohte, ganze Volkswirtschaften in den Abgrund zu reißen. Die Banken- und Finanzkrise verweist auf eine doppelte Entgrenzung: Ausgehend vom Bankensystem, entwickelte sich eine gesamtgesellschaftliche Krise mit einem schlagartigen 

Rückgang der Wirtschaftsleistung, der so stark ausfiel wie nach dem Schwarzen Freitag . Zudem waren alle großen Banken dermaßen miteinander verflochten, dass die Krise sich als vollumfänglich global erwies. Trotz einiger Versuche, in den G-Staaten koordiniert auf die Krise zu reagieren, überwogen vor  nationale Hilfsmaßnahmen. Insbesondere die deutsche Bundesregierung wehrte sich gegen umfangreiche koordinierte Ausgabenprogramme. Da nationale Maßnahmen wie die Abwrackprämie und das Kurzarbeitergeld den Anstieg der Arbeitslosigkeit abfederten und sich rasch eine wirtschaftliche Erholung abzeichnete, war die Bundesregierung nur begrenzt zu internationaler Kooperation bereit. Doch die Bankenkrise war nur der Anfang einer lang anhaltenden Wirtschaftskrise, die insbesondere die südeuropäischen Länder mit voller Wucht traf. Die Banken konnten sich wegen ihrer Verflechtung untereinander nicht den negativen Folgen des Zusammenbruchs der amerikanischen housing bubble entziehen. Von den  in Amerika tätigen Banken, die als systemrelevant oder als too big to fail eingestuft wurden, hatten  ihren Sitz in Europa (Blyth , S. ). Zahlreiche dieser Banken gerieten in der Folge in eine gefährliche Schieflage; eine Panikreaktion der Verbraucherinnen drohte. Europäische Regierungen mussten hohe Milliardensummen aufwenden, um nationale Banken zu retten und das Finanzsystem zu stabilisieren. Die finanziellen Rettungsmaßnahmen führten im Zusammenspiel mit dem tiefen wirtschaftlichen Einbruch und einer in manchen Ländern explodierenden Arbeitslosigkeit zu einem dramatischen Anstieg der Staatsschulden. Aus der Bankenkrise war zunächst eine Wirtschafts- und dann eine Staatsschuldenkrise geworden. Besonders drastisch zeigten sich die negativen Folgen in 

den Südstaaten der Europäischen Union und in Irland, also in den sogenannten GIIPS -Staaten (Griechenland, Irland, Italien, Portugal und Spanien). Dabei war die Ausgangslage dieser Länder unterschiedlich. Die Staatsschulden lagen  in Irland und Spanien deutlich unter  Prozent des BIP – und damit unterhalb der Verschuldungsquote von Deutschland. In Portugal waren es  Prozent. Nur Griechenland und Italien waren schon vor der Krise mit  bzw.  Prozent hoch verschuldet. Zwischen  und  stiegen die Schulden in allen GIIPS -Länder jedoch deutlich an und reichten von  Prozent in Spanien bis zu  Prozent in Griechenland. In Irland, das sich angesichts seiner gänzlich anderen Wirtschaftsstruktur nie gut in diese Gruppe einfügte, ist die Schuldenlast inzwischen wieder unter die -Prozent-Marke gefallen. In allen anderen Ländern haben die Rettungspakete zunächst Schulden und Arbeitslosigkeit deutlich erhöht – und als erste Anzeichen einer Erholung sichtbar wurden, schlug die Coronakrise zu (siehe unten). Obwohl zumindest in Portugal und Spanien die Staatsschulden nicht Ursache, sondern Folge der Wirtschaftskrise waren, wurden den Krisenländern weitgehende Sparprogramme und harte Einschnitte in die Sozialsysteme abverlangt. Mit dem Euro wurde die Geldpolitik vereinheitlicht, ohne andere Mechanismen zum Ausgleich und zur Abfederung ökonomischer Ungleichgewichte zu schaffen. Ohne solche Ausgleichmechanismen schlagen Produktivitätsdifferenzen und ökonomische Strukturunterschiede jedoch schnell in Krisen um, wie die vergleichende Kapitalismusforschung schon früh betont hat (Hall ; Hall/Franzese ; Höpner ). Da Währungsabwertungen nicht zur Verfügung stehen und die Arbeitskräftemobilität zu gering ist, um diese Unterschiede abzumildern, blieb in der Krise nur die Wahl zwischen der »Institutionalisierung von Transfermechanismen« und »in

terner Abwertung«, um die Wettbewerbsfähigkeit wiederzuerlangen. Es setzte sich die Erzählung durch, dass eine verschwenderische Ausgabenpolitik die wirtschaftlichen Probleme verursacht habe, weshalb mit strikter Austeritätspolitik reagiert werden müsse (Blyth ). Die Ausgaben mussten gesenkt werden, womit die Löhne und Sozialleistungen unter Druck gerieten. Dadurch schwanden die Möglichkeiten neu gewählter Regierungen, alternative wirtschaftspolitische Strategien zu verfolgen. Wenn die Wirtschafts- und Finanzkrise in der EU also eins nicht war, dann die Stunde der Parlamente. Stattdessen wurden die wichtigsten Entscheidungen intergouvernmental getroffen und nichtmajoritäre Institutionen wie EU-Kommission und EZB deutlich aufgewertet. Es ist daher kein Zufall, dass sich die populistische Revolte gegen die Machtfülle nichtgewählter Institutionen richtet und daher zumeist auch europakritisch ausgerichtet ist. Als exemplarisch für diesen Zusammenhang kann Griechenland gelten. Das Land stand  angesichts der dargestellten Mechanismen unmittelbar vor der Zahlungsunfähigkeit. Nur durch finanzielle Hilfen der EU konnte diese abgewendet werden. Doch die Hilfsmaßnahmen wurden durch eine strikte Konditionalität begleitet, das heißt, den verschiedenen griechischen Regierungen wurden weitgehende und sehr detaillierte Vorgaben gemacht, die nicht nur die Haushalts-, sondern auch die Wirtschafts- und Sozialpolitik betrafen. Überwacht wurde die Umsetzung durch die sogenannte Troika aus Europäischer Kommission, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank – alles nichtmajoritäre Institutionen. Das erste Rettungspaket legte nicht nur einen Plan für die Haushaltskonsolidierung fest, sondern auch eine Kürzung des Mindestlohns und der Renten, eine Verkleinerung des öffentlichen Sektors, eine Mehrwertsteuererhöhung und die Deregulierung der Arbeits- und Produktmärkte. Mit

telfristig sollten diese Reformen die Wettbewerbsfähigkeit der griechischen Wirtschaft erhöhen. Kurzfristig verschärften die Maßnahmen jedoch den Wirtschaftseinbruch. Schon zu Beginn der Finanzkrise wurde die amtierende Nea Dimokratia abgewählt und durch eine sozialdemokratische Regierung abgelöst. Der  zum Ministerpräsidenten gewählte Giorgos Papandreou verhandelte das erste Rettungspaket mit der EU und musste die unpopuläre Austeritätspolitik in einer Phase durchsetzen, in der die Arbeitslosigkeit immer weiter anstieg.  trat Papandreou zurück, um Platz für eine technokratische Regierung der nationalen Einheit zu machen. Zwischen  und  waren Übergangsregierungen im Amt, weil die Mehrheitsbildung im Parlament schwierig war. Zwischen  und  übernahm eine Dreierkoalition unter Führung der Nea Dimokratia die Regierungsgeschäfte. Doch nach der Parlamentsauflösung  hatte auch dieses Bündnis in den Augen der Bürgerinnen jeglichen Kredit verspielt. In Reaktion auf die anhaltende Wirtschaftskrise und den Vertrauensverlust in die etablierten Parteien wurde bei der nächsten Parlamentswahl die linke Oppositionspartei Syriza, vor  eine unbedeutende Splitterpartei, in die Regierungsverantwortung gewählt. Während sich die vorangegangenen Regierungen den Vorgaben der Troika gebeugt hatten, kündigte der neue Ministerpräsident Alexis Tsipras an, ein Referendum über das dritte Rettungspaket und die darin geforderten Konsolidierungsmaßnahmen abzuhalten. Am . Juli  stimmten mehr als  Prozent der Wahlberechtigten gegen die Vorschläge der Troika – die nun auf Wunsch der griechischen Regierung als »die Institutionen« bezeichnet wurde. Da die EU sich jedoch weigerte, auf die griechischen Forderungen einzugehen, kam die Syriza-Regierung in einer spektakulären Kehrtwende den Institutionen weitgehend entgegen, erhielt aber im 

Gegenzug einen partiellen Schuldenerlass. Die Lehre war eindeutig: Weder eine komplette Umwälzung des Parteiensystems noch eine Volksabstimmung reichten aus, um eine Abkehr von der Austeritätspolitik zu erwirken, die im Kern von NMI s verantwortet wurde. 2 In den anderen Ländern – Portugal, Irland, Spanien und Zypern – wurden finanzielle Hilfen ebenfalls mit bis ins Detail gehenden Reformanforderungen verknüpft (Jacoby/ Hopkin ). Hinzu kam, dass auch die EZB ihre Anleihenankäufe mit kleinteiligen Auflagen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik verband. Bemerkenswert beim Krisenmanagement durch die NMI s war, dass sie auch für Politikbereiche Vorgaben machten, die laut den EU-Verträgen ausdrücklich in nationaler Verantwortung liegen – dies gilt für Teile der Sozial-, Tarif- und Lohnpolitik. In diesen sensiblen Politikfeldern fand im Zuge der Krise eine stille Kompetenzausweitung statt (Höpner/Rödl ). Insgesamt hat die Eurokrise zu einer Machtverschiebung zugunsten der nichtmajoritären EU -Institutionen sowie der Exekutivorgane geführt (Müller ). Uns geht es hier nicht um die Bewertung der von der Troika verfolgten wirtschaftspolitischen Strategie, sondern um die Folgen für die Demokratie (Matthijs ; Schmidt ). Dabei ist von zentraler Bedeutung, dass in den auf finanzielle Hilfen angewiesenen Ländern weder durch Wahlen noch durch Referenden ein Politikwechsel herbeigeführt werden

 Der Eindruck, dass Parlamentswahlen bedeutungslos sind, spiegelt sich auch in der sinkenden Wahlbeteiligung wider. Zwischen  und  fiel die traditionell hohe Wahlbeteiligung in Griechenland von  auf nur noch  Prozent; entsprechende Daten sind online verfügbar unter: {https://www.idea.int/data-tools/country-view// } (alle URL Stand November ). 

konnte, weshalb Sonia Alonso () von »Wahlen ohne Wahl« spricht (vgl. auch Armingeon et al. ; zu den demokratischen Verwerfungen siehe auch Scharpf ). In den Programmländern war die Fähigkeit von Regierungen, sich responsiv gegenüber den Bürgerinnen zu verhalten, strukturell blockiert. Nicht die gewählten Ministerpräsidenten, sondern Bürokraten wie Klaus Regling, geschäftsführender Direktor des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM ), erschienen vielen als wahre Regierungschefs. Doch nicht nur in den Programmländern verschob sich die Machtbalance. Die Währungsunion beinhaltete von Anfang an eine Verlagerung der Wirtschafts- und Finanzpolitik zu Institutionen, die der Mehrheitslogik entzogen waren – sie sollte den Geboten der wirtschaftlichen Vernunft folgen und nicht der Willkür politischer Machtwechsel unterworfen sein (Streeck ; Seikel ). Die Regeln zur Finanzund Wirtschaftspolitik hatten sich jedoch vor der Banken-, Wirtschafts- und Eurokrise vermeintlich als zu lasch erwiesen und durch die nicht geahndeten Verletzungen der MaastrichtKriterien durch Deutschland und Frankreich an normativer Bindungskraft verloren. Die Krise schuf nun die Möglichkeit, härtere Regeln für alle Euroländer durchzusetzen. In verschiedenen Paketen wurden verschärfte Regeln zur Wirtschafts- und Finanzpolitik vereinbart, die allesamt die Kompetenzen der nationalen Parlamente beschnitten: ()  wurde ein strengerer Zeitplan zum gegenseitigen Monitoring nationaler Politik eingeführt und wurden bestehende Regelungen gebündelt (»Europäisches Semester«). ()  wurde der Stabilitäts- und Wachstumspakt für alle EU-Länder durch den sogenannten »Six Pack« (fünf Richtlinien und eine Verordnung) verschärft. Damit wurden Verstöße gegen die Haushaltsregeln mit schärferen Sanktionen belegt, die Defizitregeln enger ausgelegt und der Abstim

mungsmodus so verändert, dass die Mehrheitsanforderungen für Sanktionen umgekehrt wurden. 3 () Der »Fiskalpakt« aus dem Jahr  verschärfte die Defizitregeln weiter und verlangte von den Mitgliedsstaaten, verpflichtende Schuldenbremsen auf nationaler Ebene durchzusetzen, am besten mit Verfassungsrang. () Mit dem  verabschiedeten »Two Pack« weiteten die Eurozonen-Mitglieder die Überwachungsbefugnisse der Kommission zusätzlich aus. Die nationale Haushaltsplanung muss nun jährlich durch die Kommission überprüft werden. Sollte sie den Anforderungen der EU -Regelungen widersprechen, kann die Kommission eine Überarbeitung verlangen. Die Krise des Euro hat also zunächst zu einer institutionellen Stärkung der EU (Schimmelfennig ) und dazu geführt, dass die Macht, über welche die EU in bestimmten Bereichen verfügt, für die Bürgerinnen und Bürger sichtbar wurde. Dabei wehrten sich in den Südländern viele Menschen gegen die ihnen abverlangten Einschnitte, während Beobachter in den vermeintlich sparsamen Nordländern anmahnten, die EZB überdehne ihr Mandat und betreibe versteckte Transferpolitik. Gemeinsam ist diesen ansonsten gegenläufigen Positionen, dass sie eine stille Machtverlagerung wahrnehmen, die das Europäische Parlament wie auch die nationalen Parlamente schwächt und den Spielraum für diskretionäre Wirtschafts- und Finanzpolitik einschränkt. 4  Siehe hierzu: »Anforderungen an die Haushalte der Länder des EuroWährungsgebiets« (. Oktober ), online verfügbar unter: {https: //eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=LEGIS SUM:ec&from=EN}.  Die Entwicklungen nach der Coronakrise haben allerdings gezeigt, dass die Mehrheiten in den Geberländern nicht grundsätzlich gegen Solidaritäts- und Transfermechanismen sind. Kritisch wird aber die stille Verlagerung der Entscheidungskompetenzen gesehen, die im 

Die liberalen Globalisten in EU -Kommission, EZB und E uGH verteidigen nicht nur die Errungenschaften der europäischen Integration, sondern treiben diese weiter voran. Sie tun dies häufig, ohne die ökonomischen Kosten für die Europäisierungsverliererinnen ausreichend in Betracht zu ziehen und ohne die EU -Institutionen einem demokratischen Streit auszusetzen. Der Brexit mag durch irrationale Argumente befeuert worden sein, aber schon seit vielen Jahren zeigt sich, dass der einst »permissive Konsens« (also die Bereitschaft, europäische Kompromisse gutzuheißen und nicht zu hinterfragen) bröckelt (Lindberg/Scheingold , S. ). So erteilten die Bürgerinnen einer fortgesetzten europäischen Integration in mehreren Volksabstimmungen – teils völlig überraschend – eine Absage (Hooghe/Marks ). Im Ergebnis hat eine erhebliche Politisierung der europäischen Integration und der europäischen Institutionen stattgefunden (Rauh/Zürn ). Wer für Europa kämpft, sollte diese Politisierung positiv aufgreifen und die europäischen Institutionen für die entsprechende Debatten öffnen, damit auch die Wählerinnen und Wähler mitbestimmen können. Der funktionalistische Traum, dass Kompetenzausweitungen mit der Zeit quasi automatisch zu mehr Unterstützung für Europa führen werden, hat sich spätestens mit der Finanzkrise erledigt.

. Flüchtlinge – wer kontrolliert die Grenzen? In der arabischen Welt ereignete sich ab Dezember  eine ganze Serie von Protesten, Aufständen und Revolutionen gegen autoritäre Regime. Dieser Arabische Frühling ließ den Ergebnis die Finanzpolitik der demokratischen Auseinandersetzung entzieht. 

demokratischen Optimismus der neunziger Jahre noch einmal aufflackern – allerdings nur für kurze Zeit. Auch in Syrien kam es zu Demonstrationen gegen Baschar al-Assad. Die Machthaber reagierten rigide. Die friedlichen Demonstrationen gegen die Verhaftung von Kindern in der südsyrischen Stadt Darʿa¯ im März  wurden gewaltsam unterbunden. Dieses Ereignis gilt gemeinhin als der Beginn des syrischen Bürgerkriegs. Es führte zu weiteren Protesten und löste eine Eskalation der Gewalt aus. Bereits im April  setzte die Regierung das Militär gegen Demonstranten ein. Zudem erwiesen sich die syrischen Geheimdienste als schlagkräftig im Kampf gegen die eigene Bevölkerung. Trotzdem konnte die von desertierten Armeeangehörigen und Zivilisten organisierte Freie Syrische Armee (FSA ) die Regierungstruppen aus mehreren Gebieten des Landes vertreiben. Insbesondere der Verlust großer Teile der Wirtschaftsmetropole Aleppo führten zu Prognosen über den baldigen Fall der Regierung Assad. Doch es kam anders. Dank russischer Unterstützung erholte sich das syrische Militär und begann, das verloren gegangene Gebiet nach und nach zurückzuerobern. Im Herbst  scheint die endgültige Zerschlagung des Widerstands nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Parallel dazu zeichnen sich neue Sippenkriege ab (Reuter ). Das Land liegt derweil am Boden. Zerstörte Städte und Infrastrukturen, die Vernichtung wertvoller Kulturgüter und vor allem ein humanitäres Desaster sind die Folgen des Krieges. In dieser Zeit sind laut der oppositionsnahen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte mehr als   Menschen getötet worden, darunter  Zivilisten und   Kinder. Das Land ist nahezu bankrott. Achtzig Prozent der Menschen leben nach Zahlen der Vereinten Nationen in Armut, das Bruttoinlandsprodukt ist schätzungsweise auf ein Viertel des Vorkriegsniveaus gefallen. Die Wäh

rung stürzt immer rascher ab, die Preise steigen, die Gehälter dagegen kaum. Dreizehn Millionen Syrerinnen und Syrer haben sich seit  auf die Flucht begeben, fast die Hälfte davon ins Ausland. Die Zahl der in Deutschland ankommenden Geflüchteten erreichte  einen Höchststand. Dazu kamen Flüchtlinge aus anderen Krisenherden des Nahen und Mittleren Ostens sowie aus Nordafrika. Im April  starben alleine in einer Nacht fast  Flüchtlinge, weil ihr überladenes Boot auf dem Weg von Libyen nach Italien kenterte. Der Europäische Rat reagierte prompt und hielt am . April einen Sondergipfel ab. Schon im Mai legte die Kommission einen Vorschlag für die Umverteilung von  Flüchtlingen vor, die in griechischen und italienischen Flüchtlingslagern gestrandet waren; der Vorschlag wurde im Juni durch den Rat verabschiedet. Parallel dazu erklärte die deutsche Kanzlerin im Mai , das Grundgesetz kenne keine Obergrenze für Asylsuchende. Die Innen- und Justizminister einigten sich im Juli auf eine weitere Umverteilung von Flüchtlingen und auf eine Liste von sicheren Herkunftsstaaten. 5 Anfang August bekräftigte Merkel die Bereitschaft Deutschlands, Flüchtlinge aufzunehmen. Am . August informierte Innenminister Thomas de Maizière Merkel, dass nicht, wie bisher prognostiziert,   Flüchtlinge in Deutschland erwartet würden, sondern . In diesen Tagen kamen täglich Tausende mithilfe von Schleppern über die Ägäis nach Griechenland. Über Mazedonien und Serbien, die »Balkanroute«, reisten sie weiter nach Ungarn.Während Griechenland inmitten der Finanzkrise unter  Vgl. European Council, »Justice and Home Affairs Council,  July « (. Juli ), online verfügbar unter: {https://www.consi lium.europa.eu/en/meetings/jha////}. 

der Belastung durch die Flüchtlinge ächzte, verfolgte die ungarische Regierung zunehmend eine Eskalationsstrategie, die auch kaum verdeckte Menschenrechtsverletzungen beinhaltete (Niemann/Zaun ). Zusammen mit dem österreichischen Kanzler Werner Faymann (SPÖ ) entschloss sich Bundeskanzlerin Merkel, die Dublin-Regeln, die das Prinzip der Verantwortlichkeit des Ersteintrittslandes beinhalten, aufzuheben. Mit einem internen Erlass setzte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am . August die sonst obligatorische Prüfung aus, ob Asylsuchende zuerst in einem anderen EU -Land europäischen Boden betreten hatten und somit dorthin zurückgeschickt werden konnten. Gleichzeitig wurden vorübergehend sämtliche Abschiebungen ins europäische Ausland – meist die Länder an der EU-Südgrenze, Italien und Griechenland – gestoppt. Die britische Zeitung Independent titelte: »Deutschland öffnet seine Tore« (Hall/Lichfield ). In der Anfangsphase erfuhr der Merkel’sche Kurs viel Unterstützung. Erhebliche Teile der Zivilgesellschaft versuchten, eine Willkommenskultur zu etablieren. Gleichzeitig schwoll der Protest gegen die »Flüchtlingsschwemme« und die daraus folgenden Lasten an. Im September  wurden Kontrollen an der Grenze zu Österreich eingeführt, und im November wurde das Dublin-Verfahren für syrische Flüchtlinge per Anweisung des Bundesinnenministeriums wieder in Kraft gesetzt. Trotz alledem ist der häufig verwendete Begriff »Flüchtlingskrise« irreführend. Die dramatische Zunahme von Geflüchteten nach Europa war zunächst die Folge einer tiefen Krise in Syrien. Bedrohlich und bestandsgefährdend waren die Flüchtlinge für die deutsche oder andere europäische Gesellschaften nie. Die Anzahl von Geflüchteten innerhalb des globalen Südens ist seit Langem viel höher. Die kulturellen, ökonomischen und politischen Effekte führten aber zur In

tensivierung gesellschaftlicher Spaltungen in den aufnehmenden Ländern. Es wäre daher angemessener, von einer »Integrationskrise« zu sprechen. Jedenfalls betraf die Krise die Gesellschaft als Ganzes und war eine Folge der weltgesellschaftlichen Entgrenzung. In diesem Fall lag der Ursprung nicht in den Vorstädten der USA , sondern in Darʿa¯ in Syrien. Aber auch von dort sprang der Funken mit Leichtigkeit über staatliche Grenzen hinweg. Die Enttäuschung über die geringe Schutzwirkung politischer Grenzen spielte bei der Rekonstruktion der Verantwortlichkeit für diese Krise eine erhebliche Rolle. Die Gegner offener Grenzen suchten die Schuld bei den liberalen Kosmopoliten. Sie – allen voran die deutsche Kanzlerin – gelten als verantwortlich für die »Grenzöffnung«, die Befürwortung des Multikulturalismus und die »Flutung« des Arbeitsmarktes mit billigen und willigen Kräften. Die »Flüchtlingskrise« wurde als eine weitere Krise der Globalisierung gedeutet. Dabei gibt es erhebliche Unterschiede zur Finanzkrise. Zum einen waren es nicht gierige Investmentbanker, die die Krise auslösten. Es waren Baschar al-Assad und der ihn unterstützende Wladimir Putin, die den brutalen Krieg gegen weite Teile der syrischen Bevölkerung geführt haben. Sie haben metzeln lassen und die Flüchtlinge aus dem Land getrieben. Beide können schwerlich als lupenreine liberale Kosmopoliten gesehen werden. Zudem war es nicht die Stärke rigider neoliberaler Institutionen, sondern vielmehr die Schwäche der liberalen Sicherheitsordnung, die die humanitäre Katastrophe in Syrien aufgrund des Vetos Russlands und auch Chinas nicht verhindern konnte. Das führte zur weiteren Schwächung des kosmopolitischen Prinzips der responsibility to protect (Panebianco/Fontana ). Schließlich ist es nicht die ökonomische Globalisierung, sondern der Natio

nalismus in Europa und der religiöse Fundamentalismus in der Region, die der »Flüchtlingskrise« tiefenstrukturell zugrunde liegen. Es sind die Langfristeffekte der kolonialen Expansion und der nationalsozialistischen Judenvernichtungspolitik, die zur komplett vertrackten Lage in der Region geführt haben. Um es pointiert zu sagen: Die Saat für die koloniale Globalisierung wurde von Nationalisten ausgebracht. Dennoch hat die Integrationskrise ganz ähnlich wie die Finanzkrise zu einer Verschärfung der Spaltung zwischen autoritären Populisten und liberalen Globalisten geführt, bei der die Erstgenannten die Zweitgenannten für die Krise verantwortlich machten. Ein dritter Unterschied zwischen der Finanzkrise und der Integrationskrise ergibt sich beim Blick auf das Krisenmanagement. Zwar wurde auch die sogenannte Flüchtlingskrise im Ergebnis einigermaßen erfolgreich bewältigt. Die Anzahl der Asylbewerberinnen konnte gesenkt werden, ohne dabei auf die brutalsten Mittel der Grenzsicherung zurückzugreifen. Auch die Integration der Flüchtlinge in den westeuropäischen Gesellschaften gelingt leidlich. Anders als in der Finanzkrise funktionierte jedoch die internationale Koordination viel schlechter, obwohl sie sich weitgehend im Rahmen der Europäischen Union hätte vollziehen können (siehe hierzu Biermann et al. ; Börzel ). Mit dem Amsterdamer Vertrag von  erhielt die EU die Befugnis, ein eigenes regionales Flüchtlingsregime zu entwickeln. In der Folge legte die EU -Gesetzgebung die Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des Flüchtlingsstatus fest. Im Vertrag von Lissabon () wurde dann ein einheitliches Prozedere für Asylverfahren entwickelt: das Common European Asylum System (CEAS ). Artikel  des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union sieht dabei den Grundsatz der Solidarität und der gerechten Auf

teilung der Verantwortung zwischen den Mitgliedsstaaten ausdrücklich vor. Gleichzeitig erhielt die neue EU -Agentur für Grenz- und Küstenwache (EBCG ) die Aufgabe, die Mitgliedsstaaten bei der Sicherung ihrer Grenzen zu unterstützen und die Operationen der EU zur Rettung von Flüchtlingen und zur Bekämpfung von Menschenhandel und Menschenschmuggel im Mittelmeer zu koordinieren (Börzel ). Die Umsetzung dieser Maßnahmen scheiterte jedoch spätestens ab . Italien, Ungarn und Polen widersetzten sich offen der Autorität der EU im Bereich Asyl und Migration. Ungarn errichtete Stacheldrahtzäune. Der italienische Innenminister Matteo Salvini von der rechtspopulistischen Lega schloss ab  die italienischen Häfen und kriminalisierte Rettungseinsätze von Nichtregierungsorganisationen. Als italienische Gerichte die Regierung aufforderten, Menschen in Not in italienischen Hoheitsgewässern sofortige Hilfe zu gewähren, drohte Salvini damit, ihre Unabhängigkeit einzuschränken. Zudem lehnte er jeden legalen Umverteilungsplan zwischen den europäischen Ländern ab, obwohl ein solcher Italien entlastet hätte. Erst nach seinem Rücktritt im Sommer  begann die italienische Regierung, den Reformvorschlag Frankreichs und Deutschlands für einen Umverteilungsmechanismus zu unterstützen. Ungarn hingegen reichte mit der Unterstützung Polens Klage gegen die befristete Umverteilungsquote ein und stellte damit die Autorität der EU infrage. Dennoch lehnen diese Länder – und die Tschechische Republik – jede Einmischung der EU in ihre nationalen Grenzkontrollen ab. Die EU konnte die Krise im Ergebnis nicht gemeinschaftlich bewältigen. Statt von einer »Flüchtlingskrise« kann man daher auch von einer »CEAS Krise« sprechen (Niemann/Zaun ). Wie auch immer man diese Ereignisse und Entscheidungen bewertet, sie wirkten einmal mehr als Lupe und Brenn

glas für die Entfremdung von demokratischen Verfahren. Am Anfang stand die scheinbar einsame Entscheidung von Angela Merkel, die Grenzen nicht zu schließen. Zwar erfolgte diese Entscheidung weit weniger einsam, als es die Schlagzeilen nahelegten, aber es war doch eine Entscheidung, die parlamentarischen Verfahren und Debatten entzogen blieb. Erst später, angesichts der Wahlerfolge der A fD, kamen die nationale Politik und die majoritären Institutionen zurück ins Spiel. Währenddessen erfolgte – wie auch im Falle der Finanzkrise – die Ausweitung der EU-Kompetenzen, die von der europäischen Öffentlichkeit zunächst unbemerkt blieben (Börzel/Risse ). Das änderte sich im Verlauf der Krise. Autoritär-populistische Parteien bekämpften nun das liberale Flüchtlingsregime der EU. Wo sie Teil der Regierung waren, be- und verhinderten sie die Umsetzung der Maßnahmen. Ansonsten mobilisierten sie den Volkswillen gegen die vermeintlich von kosmopolitischen Eliten aufgezwungene Aufnahme von Migrantinnen. Die Lupe machte die Schwächung majoritärer Institutionen und den kosmopolitischen Bias nichtmajoritärer Institutionen deutlich. Und je länger das Brennglas auf das Problem gerichtet blieb, desto mehr verbrannten auch demokratische Potenziale. Die doppelte Entfremdung schritt weiter voran. Es ist wahrscheinlich unbestritten, dass von all den hier diskutierten Fällen die Integrationskrise den autoritären Populisten am meisten genutzt hat (Kneuer ). Nicht wenige sehen den Aufstieg der A fD, aber auch den Brexit als unmittelbares Resultat der Merkel’schen Flüchtlingspolitik. Diese Sicht verkennt freilich die langfristigen Trends. Generell hat die Integrationskrise den Aufstieg neuer Parteien sicher beschleunigt, aber kaum verursacht. Anders als in der Finanzund Eurokrise profitierten dieses Mal aber exklusiv autoritärpopulistische Parteien aus dem rechten politischen Spektrum. 

Die Integrationskrise offenbarte und beschleunigte jedenfalls die gesellschaftlichen Veränderungen.  war das Jahr, in dem die oben skizzierte neue Konfliktlinie in einigen konsolidierten westlichen Demokratien erstmals dominierte. Zum ersten Mal standen die Fragen der offenen Grenzen und der Rolle internationaler Institutionen ganz oben auf der politischen Agenda.

. Covid- – die Macht der Virologen In dieser Geschichte spielen Virologen die Hauptrolle. Das Team um Christian Drosten von der Berliner Charité legte das vollständige Genom von Sars-CoV- mit seinen   Buchstaben bereits wenige Wochen nach dem Ausbruch der Pandemie auf den Tisch. Der Vergleich mit Virenbauplänen bei verschiedenen Tieren ergab eine große Übereinstimmung mit Viren in Fledermäusen. Aber die Übereinstimmung war noch nicht groß genug. Es bedurfte eines Zwischenträgers, um die Kette zu vervollständigen. Eine Vermutung lautet, dass das Virus über Marderhunde zum Menschen kam. Das sind Säugetiere, deren Schnauze der eines Waschbären ähnelt und die Beine haben wie ein Hund. In China werden Marderhunde auf Tiermärkten zum Kauf angeboten. Eine andere These besagt, dass altertümlich anmutende Schuppentiere das Zwischenglied waren.Vieles deutet jedenfalls darauf hin, dass es in der zentralchinesischen Stadt Wuhan zur ersten großen Verbreitung kam. Ein Team um den Genetiker Peter Forster von der Cambridge University hat den Weg der Viren von dort aus untersucht. Dazu verglichen die Forscher  Virus-Genome mithilfe einer phylogenetischen Netzwerkanalyse. Sie konnten eine Verbindung von Wuhan zum Autozulieferer Webasto 

bei München und von dort in die italienienische Lombardei zeigen. Forster schließt daraus: Viele der Viren in Norditalien kamen von China über Bayern nach Italien. Wahrscheinlich gelangten sie dann später von Norditalien wieder zurück nach Deutschland. Freilich lässt sich das nicht mit letzter Sicherheit sagen (Krauter ). Das Virus verbreitete sich in einem rasanten Tempo. Bis Mitte November  waren weltweit bereits mehr als  Millionen Menschen infiziert worden und mehr als , Millionen an Covid- gestorben (Center for Systems Science and Engineering ). Ohne die rasche Entwicklung und weltweite Verteilung eines Impfstoffes würde eine Fortschreibung dieser Entwicklung zu Todeszahlen führen, die mit denen der Spanischen Grippe von  bis  vergleichbar wären. Covid- zeigt idealtypisch die doppelte Entgrenzung, die Krisen im . Jahrhundert auszeichnet: Das Auftreten eines Virus ist zunächst eine Herausforderung für das Gesundheitssystem. Das sprunghafte Wachstum macht es aber blitzschnell zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem. Um die Anzahl der Toten einzudämmen, musste die Politik Lockdowns verhängen. Trotz der weitreichenden Effekte auf die Wirtschaft und der Einschränkung grundlegender Freiheitsrechte wurden diese umfassenden, alle Teilsysteme betreffenden Maßnahmen weitgehend hingenommen. Gleichzeitig beabsichtigte das Virus nie, sich an räumliche Grenzen zu halten. Es handelt sich um eine wahrhaft globale Krise. Vor dem Hintergrund dieser Entgrenzung könnten am Ende auch in diesem Fall der Neoliberalismus, die ökonomische Globalisierung und damit letztlich die liberalen Globalisten als Schuldige ausgemacht werden. Das wird aber weniger leicht möglich sein als bei der Finanzkrise. Denn das Virus ist zunächst ein exogener Schock, der weder eine Folge der liberalen Demokratie noch eine Folge der Globalisierung 

ist. Sars-CoV- ist infolge lokaler Praktiken in einer Region in China entstanden. Die Pandemie trat lokal auf und verbreitete sich dann zunächst epidemisch in der Region. Global wird die Pandemie durch die Vernetzung regionaler Epidemien. Die globale Ansteckungskarte versinnbildlicht das durch die vielen mehr oder weniger dicken Kreise, die jeweils für eine regionale Epidemie stehen. Für die Ansteckung von Region zu Region braucht es aber keine vertiefte Globalisierung. Dafür hätten die normalen Verkehrsverbindungen in einer interdependenten Welt gereicht. Erst wenn keine Flugzeuge mehr fliegen, keine Züge und Schiffe mehr fahren, lässt sich ein Virus regional einsperren. Das aber käme nicht dem Ende der Globalisierung gleich, es wäre eher eine Rückkehr ins . Jahrhundert. Selbst  konnte die aus Asien kommende Cholera trotz eines militärischen Sperrgürtels nach Europa gelangen. Der ursächliche Beitrag des neuen Globalisierungsschubs der neunziger und nuller Jahre zur Ausbreitung der globalen Pandemie ist vermutlich nicht entscheidend. 6 Dementsprechend ist auch Vorsicht angesagt, wenn nun das Ende der Globalisierung ausgerufen wird. Exogene Schocks verändern mittelfristig meist weniger, als es das Ausmaß der Krise vermuten lässt. Natürlich werden in der Krise neue soziale Praktiken eingeübt, die später Bestand haben können, wenn sie sich als funktionstüchtig erweisen. So wird es vermutlich auch nach der Krise mehr Videokonferenzen und weniger internationale Geschäftstreffen geben als zuvor. Das wäre sinnvoll. Wahrscheinlich wird das Virus das Sterben  Zweifelsohne aber waren zuerst die Regionen in der Welt betroffen, die besonders intensiv in die Weltgesellschaft und -ökonomie eingebunden sind. Es deutet aber wenig darauf hin, dass die weniger integrierten Regionen sich der Epidemie entziehen können. Vielmehr zeigen die bisherigen Daten, dass sie systematisch nachrücken. 

des lokalen Einzelhandels beschleunigen und den Marktanteil von Amazon & Co. weiter wachsen lassen. Das wäre schade. Insgesamt wird das Virus die ohnehin stattfindende Digitalisierung beschleunigen, weil wir uns jetzt rasch neue virtuelle Praktiken aneignen müssen. Ob es aber zu einer Deglobalisierung und Renationalisierung des Wirtschaftens führen wird, ist zumindest zweifelhaft. Fraglos gäbe es Alternativen zu den globalen Produktionsund Lieferketten. Eine partielle Renationalisierung der Wirtschaftsabläufe ist möglich. Das würde aber zu erhöhten Kosten und zu erheblichen Wohlfahrtsverlusten führen. Wenn die Normalität zurückkehrt, werden überall die öffentlichen und privaten Schuldenberge angewachsen sein. Der Kostendruck wird dann besonders hoch sein. Das ist kein Umfeld, in dem die Wahrscheinlichkeit der Globalisierung abnimmt. Zwar mag die Produktion von Schutzmasken und manchen Medikamenten in vielen Nationalstaaten wiederaufgebaut werden. Das sind aber Sondertatbestände, die nicht zur Verallgemeinerung taugen. Dass deutsche Unternehmen in großem Ausmaß Produktionsstätten im Ausland abbauen, erscheint unwahrscheinlich. Zwar sind Unternehmen, die von Lieferungen aus Wuhan abhängen, im Februar in Schwierigkeiten geraten. Hätten sie ihre Produktionsstätte oder ihre Zulieferer in NordrheinWestfalen gehabt, wären diese Probleme freilich auch aufgetreten, nur eben etwas später. Manches spricht also dafür, dass in der Ökonomie nach der Krise vor der Krise sein wird. Alle werden wieder nach Einsparpotenzialen suchen und sich gerade angesichts der zu erwartenden schlechten Zahlen mehr denn je bemühen. Zukunftsrelevanter ist daher die Frage, welche Regierungen und politischen Ideologien gestärkt oder geschwächt aus der Krise hervorgehen. Die Zukunft der liberalen Weltord

nung hängt nämlich entscheidend von der relativen Bedeutung und Stärke der Parteien der neuen Konfliktlinie ab. Und die wiederum könnte erheblich dadurch beeinflusst werden, wie gut oder schlecht ihre Protagonisten im Umgang mit der Pandemie abschneiden. Es zeichnet sich ab, dass es zwischen demokratischen und autoritären politischen Systemen keine großen Unterschiede gibt. Betrachtet man die Verlaufskurven der Infektionen und der Todesfälle, haben sich sowohl das autokratische China (selbst wenn es Zweifel an der Wahrhaftigkeit der kommunizierten Zahlen gibt) als auch das demokratische Südkorea als erfolgreiche Krisenmanagerinnen erwiesen. Unter den weniger erfolgreichen Ländern gibt es ebenfalls autokratische wie Iran und demokratische wie Spanien. Dort, wo der autoritäre Populismus an der Macht ist, scheint sich das Virus aber besonders wohlzufühlen. Populistische Regierungen haben die Warnungen von Expertinnen zu lange ignoriert und durch hausgemachte Einschätzungen ersetzt. Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro sprach von einem »Grippchen«. Gemäß dem in der Brexitdebatte formulierten Motto von Michael Gove – »The people in this country have had enough of experts« –, folgte die britische Regierung zunächst der Strategie der Herdenimmunität, bevor sich doch medizinische Expertise durchsetzen konnte. Und US -Präsident Donald Trump versuchte zu lange, die Börsen zu beruhigen, indem er erklärte, dass keine Maßnahmen notwendig seien, weil er alles im Griff habe. Ob Zufall oder nicht: Bolsonaro, Johnson und Trump selbst wurden vom Virus recht bald ereilt. Die Expertenfeindlichkeit ist dem autoritären Populismus inhärent. Da der Mehrheits- und Volkswille unmittelbar wirken und nicht durch die pseudoneutrale Expertise der Funktionseliten (seien es Juristinnen, Journalisten oder Wissenschaftlerinnen) getrübt werden soll, bedarf es zur Ermittlung des Mehrheitswillens keiner komplexen Entscheidungsver

fahren. Er wird vielmehr durch die Intuitionen und Überzeugungen des gewählten Staatschefs und seiner Entourage verwirklicht. So ernannte Trump seinen in Gesundheitsfragen komplett unerfahrenen Schwiegersohn Jared Kushner zum Koordinator für die Beschaffung medizinischer Gerätschaften. In der Covid--Task-Force scheint Kushner immer wieder hoch angesehene Experten wie Deborah Birx und Anthony Fauci ausgestochen zu haben. Laut Daten der Johns Hopkins University standen die autoritär-populistisch regierten Länder USA , Brasilien und Indien Ende  bei den absoluten Infiziertenzahlen an der Spitze (Center for Systems Science and Engineering ). Wenn wir den Blick auf die Anzahl der Toten lenken, sehen wir zunächst, dass demografische Merkmale wie die Größe und das Alter der Bevölkerung sowie der Anteil an Vorerkrankungen den größten Anteil der zu beobachtenden Varianz erklären (Boscancianu et al. ). Politische und soziale Merkmale spielen demgegenüber eine untergeordnete Rolle. Innerhalb der Gruppe der politischen und sozialen Merkmale scheinen aber die Abwesenheit von sozialem Vertrauen und »rechtspopulistische« Regierungsbeteiligung am stärksten mit der Anzahl der Toten zu korrelieren. Die Daten bestätigen also, dass der autoritäre Populismus die einzige relevante politische Variable zu sein scheint. Der statistische Zusammenhang könnte auf den kausalen Zusammenhang verweisen, dass expertenfeindliche politische Systeme, die auf die populistischen Intuitionen ihrer Regierungschefs setzen, keine guten Krisenmanager sind. Deswegen ist der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu Recht froh, »dass Politik in unserem Land auf der Basis von Vernunft und wissenschaftlichen Erkenntnissen gemacht wird«, wie er bei einem Empfang für Christian Drosten erklärte (Hornig et al. ). Zumindest in einigen Ländern ist laut Umfragen die 

Unterstützung für autoritär-populistische Politiker denn auch tatsächlich etwas gesunken. Es wäre freilich viel zu früh, deshalb auf einen Rückgang des autoritären Populismus zu setzen. Erst am Ende der Krise werden wir über Zahlenmaterial verfügen, das es erlaubt, klar zwischen erfolgreichen und gescheiterten politischen Systemen zu unterscheiden. Zum anderen wird auch in diesem Fall die gesellschaftliche Deutung nicht allein von objektiven Daten bestimmt, sondern auch durch politische Deutungskämpfe, die längst begonnen haben. Bekanntermaßen sind die autoritären Populisten in dieser Disziplin besonders gut. Der objektive Zusammenhang könnte also politisch unsichtbar bleiben. Drittens schließlich könnte der Lupeneffekt von Krisen am Ende doch wieder gegen die Demokratie arbeiten. Zum einen hat sich in geradezu lupenreiner Form die Bedeutung von Experten in den konsolidierten Demokratien des . Jahrhunderts gezeigt. Der Ton bei der Rechtfertigung und auch der Inhalt vieler Maßnahmen wurden von Virologinnen und Epidemiologen bestimmt. Der französische Virologe Jean-Francois Delfraissy soll Präsident Macron bei einem Krisentreffen zu drastischen Maßnahmen bewegt haben; Fernando Simón soll Spanien de facto durch die Krise geführt haben, nachdem die Politik die notwendigen Schritte zu lange hinausgezögert hatte; ähnlich die Rolle von Angelo Borrelli in Italien; und in Bezug auf den deutschen Virologen Christian Drosten tauchte alsbald in den Medien die Frage auf: »Kann Drosten Kanzler?« (Hornig et al. ) Entschieden wurde in kleinen Krisenstäben, in denen die Exekutive das letzte Wort hatte, die sich zunächst gerne an den Empfehlungen der Medizin orientierte. Selbst in Ländern, die wie Schweden und Großbritannien einen Sonderweg beschritten, haben sich die Namen und Bilder der bekanntesten 

Virologen ins nationale Gedächtnis eingeschrieben. Anders Tegnell, der die schwedische Strategie bestimmte, und Chris Whitty, der die britische Regierung zum (zu späten) Umlenken brachte, sind inzwischen Berühmtheiten. In Deutschland wurden umfassende Maßnahmenpakete, die tief in die Gesellschaft hineinwirkten und Hunderttausende von Kleinunternehmern in die Insolvenz und damit Millionen in die Arbeitslosigkeit treiben könnten, in Konferenzschaltungen einiger Regierungsmitglieder mit den Ministerpräsidentinnen unter Beteiligung bekannter Virologen beschlossen. Hinzu kommen umfassende Maßnahmenpakete auf der europäischen Ebene. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat früh eine Initiative zur Finanzierung von Kurzarbeitergeld in Höhe von  Milliarden Euro auf den Weg gebracht. Weitere  Milliarden Euro hat die Kommission aus den EU-Strukturfonds für die Bekämpfung der Pandemie verfügbar gemacht. Die Europäische Investitionsbank stellt bis zu  Milliarden Euro Bürgschaften für Mittelstandskredite bereit. Die Mitgliedsstaaten können beim Europäischen Stabilitätsmechanismus Kreditlinien bis zu zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts beantragen, um direkte und indirekte Kosten der Pandemie im Gesundheitssektor zu decken. Schließlich hat die Europäische Zentralbank ein neues Anleihekaufprogramm aufgelegt, um potenziell unbegrenzt Liquidität in der Eurozone zu gewährleisten. Diese Anleihekäufe hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich ausgenommen von seiner Entscheidung gegen die Begründung anderer Anleihekäufe der EZB im Rahmen der Bewältigung der Eurokrise. Bei der Sondertagung des Europäischen Rates Ende Juli  haben sich die Führungsspitzen der EU auf ein umfassendes Paket von insgesamt , Milliarden Euro geeinigt, das den mehrjährigen Finanzrahmen (MFR ) und außeror

dentliche Aufbaumaßnahmen im Rahmen des Instruments »Next Generation EU« verknüpft. Dadurch wird die Union mit den erforderlichen Mitteln ausgestattet, um die Herausforderungen infolge der Covid--Pandemie zu bewältigen. Im Rahmen der Einigung wird die Kommission an den Märkten Mittel in Höhe von bis zu  Milliarden aufnehmen können.  Milliarden davon werden nicht als Kredite an die leihenden Länder vergeben, sondern durch einen Topf finanziert, für den die EU als Ganzes geradesteht. Damit wurde ein Schritt in Richtung einer institutionalisierten Solidarität mit den finanzschwachen Ländern getan, der während der Eurokrise noch verweigert wurde. Wir halten alle diese Maßnahmen für erforderlich. Gleichzeitig gilt es jedoch zu konstatieren, dass die Rolle der Parlamente bei diesen Entscheidungen marginal blieb. Und auch die Parteien folgten lange Zeit dem (wilhelminischen) Diktum, die Krise (beim Kaiser war es der Krieg) kenne keine Parteien. Mehrheitsinstitutionen spielten kaum eine Rolle. Der generelle Trend zur Verlagerung politischer Entscheidungen in Institutionen, die sich der Kontrolle durch Parteien und Parlamente entziehen, wird auch in dieser Krise wie durch eine Lupe sichtbar. Zudem könnten die ökonomischen Mittel- und Langfristeffekte der Krise zu weiterem Schaden an der Demokratie führen. Die ökonomischen Ursachen für den Aufstieg der autoritären Populisten werden durch diese Effekte eher befeuert. Alleine für Deutschland rechnet der Internationale Währungsfonds mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um ca.  Milliarden Euro. 7 Dazu kommen die Sum Siehe hierzu den »World Economic Outlook« des internationalen Währungsfonds; er ist online verfügbar unter: {https://www.imf. org/en/Publications/WEO/Issues////weo-april-}. 

men, die die deutsche Regierung im europäischen Kontext einsetzt, um die dramatisch schlechtere Lage beispielsweise in Italien und Spanien abzufedern. Eine Folge der Krise wird also eine extrem angestiegene Staatsverschuldung sein mit wenig verbleibendem Spielraum für soziale Maßnahmen und höhere öffentliche Leistungen im Schul- und Pflegebereich. Dies vollzieht sich vermutlich vor dem Hintergrund wachsender Arbeitslosigkeit aufgrund vieler Insolvenzen und Kostensparprogrammen in Unternehmen. Im Ergebnis erhöht das nicht nur ökonomische Ungleichheiten, sondern macht es auch wahrscheinlich, dass die Responsivität der Politik gegenüber den Präferenzen der Einkommensschwachen gering bleibt. Das sind gute Aussichten für die autoritären Populisten. Sie könnten letzten Endes von der Coronakrise profitieren, obwohl sie beim Krisenmanagement kläglich versagt haben.

. Das Paradox und die Krisenspirale Die großen Krisen dieses Jahrhunderts verweisen auf ein Paradox: Das Krisenmanagement der etablierten Demokratien erweist sich sowohl im historischen als auch im Systemvergleich als einigermaßen erfolgreich. Trotzdem geht das Vertrauen in sie zurück. Die demokratische Entfremdung beschleunigt sich. Krisen rücken die Verlagerung der Machtzentren in den Demokratien in ein helles Licht. Die Exekutive trifft im Verbund mit nichtmajoritären Institutionen die wichtigsten Entscheidungen. Parlamente und Parteien üben den »autonomen Nachvollzug«, wie es in der Schweiz mit Blick auf die Umsetzung des Europarechts heißt. Im Ergebnis führt das zu einem Repräsentationsdefizit. Dieser Umstand wird von autoritär-populistischen Kräften zur Mobili

sierung genutzt. Im Zuge der Coronakrise lässt dies momentan abstruse Verschwörungstheorien gedeihen.8 Im Ergebnis schmilzt das Vertrauen in die Demokratie unter dem Brennglas langsam weg. Wir stoßen erneut auf die doppelte Entfremdung von der Demokratie: Die realen Entscheidungsverfahren entfremden sich vom Modell der parlamentarischen Demokratie, und viele Bürgerinnen und Bürger entfremden sich von demokratischen politischen Systemen. Im Ergebnis wachsen gesellschaftliche Spannungen innerhalb der konsolidierten Demokratien. Insbesondere die liberalen Globalisten dienen als Sündenböcke. Die gierigen Bankerinnen haben abkassiert, uns in die Finanzkrise getrieben und die einfachen Bürger die Rechnung zahlen lassen. Die Multikulturalisten haben die Grenzen geöffnet, damit sie ihr gleichermaßen globales und dekadentes Leben führen können und billige Reinigungskräfte zur Verfügung haben. Bill Gates, die Pharmaindustrie und die Virologen dieser Welt haben uns eine Jahrtausendübertreibung aufgetischt, um die Kontrolle über die Gesellschaft zu erlangen und Zwangsimpfungen vorzubereiten. So hört sich eine Interpretation der Krisen an. Die andere Lesart lautet: Nationale Interessenlagen haben eine globale Finanzregulierung verhindert und damit die globale Finanzkrise geschaffen. Die blanke Machtpolitik der Assads und Putins – also der heimlichen Freunde und Vorbilder der autoritären Populisten – hat Millionen unschuldiger Menschen in die Flucht getrieben. Covid- bringt auch eine ökologische Krise zum Ausdruck, die an ihren Wurzeln bekämpft werden muss und nicht – wie von den autoritären Populisten – geleugnet werden kann. Zu allem Überfluss haben  Freilich sind nicht alle Gegner der Coronapolitik automatisch Anhänger der autoritär-populistischen Parteien (siehe hierzu Meier ). 

die autoritären Populisten beim Management der aktuellen Krise dramatisch versagt. Ohne Frage liegt die zweite Lesart in der Summe näher an der Wahrheit. Umgekehrt deutet manches darauf hin, dass die dichte Krisenabfolge doch etwas mit dem globalisierten Zustand der Welt zu tun hat. Die Krisen verstärken die Schwächen der konsolidierten Demokratien und der liberalen Weltordnung. Das wiederum erhöht die Wahrscheinlichkeit von Krisen. Kann es einen Weg aus dieser Spirale geben?



. Chancen und Gefahren

Der gegenwärtige Populismus ist vorrangig ein autoritärer Populismus. Prozedural steht er für eine nichtmediatisierte Form der plebiszitären Umsetzung des vermeintlichen Mehrheitswillens. Inhaltlich steht er für nationalistische Positionen, die sich gegen kosmopolitische Eliten wenden, weil er die Bedeutung von Grenzen und dem nationalen Willen gegen eine offene Weltgesellschaft mit starken internationalen Institutionen ausspielt. Diese Überzeugungen werden in der Konstruktion eines festen Antagonismus zwischen den korrupten kosmopolitischen Eliten und dem anständigen lokalen Volk gebündelt. Insofern wendet sich der autoritäre Populismus gegen den Status quo der liberalen Demokratie. Die gegenwärtigen Gegner der liberalen Demokratie treten jedoch im Namen der Demokratie an. Paradigmatisch dafür ist die Gegenüberstellung zwischen liberaler und christlicher Demokratie, wie sie Viktor Orbán eingeführt hat: Lassen Sie uns getrost erklären, dass die christliche Demokratie nicht liberal ist. Die liberale Demokratie ist liberal, während die christliche Demokratie per Definition nicht liberal ist. […] Die liberale Demokratie befürwortet den Multikulturalismus, während die Christdemokratie der christlichen Kultur den Vorrang gibt; dies ist ein illiberales Konzept. Die liberale Demokratie ist für Einwanderung, während die christliche Demokratie gegen Einwanderung ist; auch dies ist ein wirklich illiberales Konzept. Und die liberale Demokratie stellt sich auf die Seite der anpassungsfähigen Familienmodelle, während die christliche Demokratie auf den Grundlagen des christlichen Familienmodells ruht; auch dies ist ein illiberales Konzept. 1

 Viktor Orbán, Eröffnungsrede der . Sommeruniversität in Ba˘ ile Tus¸nad (. Juli ), online verfügbar unter: {http://www.miniszte 

Der autoritäre Populismus ist erfolgreich, weil er auf Schwächen der demokratischen Praxis verweisen kann. Autoritärpopulistische Parteien behaupten, dass sie den Interessen der einfachen Menschen und stillen Mehrheiten Ausdruck verleihen. Sie nehmen für sich in Anspruch, die bislang unzureichend Repräsentierten repräsentieren zu wollen. Wolfgang Merkel () spricht von einer »Repräsentationslücke« moderner Demokratien, die durch die autoritär-populistischen Parteien geschlossen werde. Hanspeter Kriesi (, S. f.) spricht gar von einer produktiven Kraft, die die notwendige Transformation der westeuropäischen Parteiensysteme voranbringen könne. Peter Ucˇ en (, S. ) sieht die »Parteien des neuen Populismus« dementsprechend als »nicht-radikale Herausforderer, die eine enttäuschte Wählerschaft gegen leistungsschwache und moralisch versagende etablierte Parteien mobilisieren«. Christoph Möllers (, S. ) merkt daher an, dass »die Wahl autoritärer Figuren nicht per se undemokratisch ist«. Alle genannten Autoren sind hoch anerkannte Wissenschaftler, denen man keine politische Schlagseite unterstellen kann. Mit dem Populismus, so ihre Sichtweise, kehrt die lang vermisste politische Konfrontation zurück. So sehen das insbesondere auch die Vordenker eines linken Populismus. Ernesto Laclau () und Chantal Mouffe () zufolge setzt Demokratie die Auseinandersetzung über politische Projekte voraus. Mouffe fordert daher einen linken Populismus, um Demokratien wiederzubeleben. Sie betrachtet die aktuelle politische Phase als einen »populistischen Moment«, in dem die neoliberale Hegemonie durch vielfach unerfüllte Forderungen destabilisiert wird. Sie fährt folgendermaßen fort: relnok.hu/prime-minister-viktor-orbans-speech-at-the-th-balva nyos-summer-open-university-and-student-camp/}. 

Will man den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien stoppen, so ist es notwendig, eine wahrhaft politische Antwort in Form einer linkspopulistischen Bewegung zu ersinnen, die alle demokratischen Bemühungen bündelt, die sich gegen die Postdemokratie richten. Anstatt die Wähler rechtspopulistischer Parteien von vornherein als zwangsläufig von primitiven Leidenschaften motiviert abzutun und sie dazu zu verdammen, für immer in diesen Leidenschaften gefangen zu bleiben, tut es not, den demokratischen Kern vieler ihrer Forderungen zu erkennen. (Mouffe , S. )

Andere sind weniger optimistisch, was die Auswirkungen des Populismus anbelangt. Jan-Werner Müller () weist darauf hin, dass der Populismus immer antipluralistisch ist. Seiner Ansicht nach untergräbt die Gegenüberstellung eines moralisch unverdorbenen und homogenen Volkes und einer unmoralischen, korrupten und parasitären Elite die Demokratie. Ganz ähnlich betrachtet Nadia Urbinati (, S. ) Populismus als einen Versuch, die repräsentative Demokratie zu transformieren und eine »vermeintlich direkte Repräsentation zwischen dem Volk und dem Anführer« herzustellen.Was in der Opposition noch demokratisch daherkomme, erweise sich an der Macht als autoritär. Diese Sorge teilen auch viele Vertreterinnen der etablierten Parteien. So hat beispielsweise der aktuelle deutsche Bundespräsident wiederholt seine Sorgen angesichts der Bedrohung der Demokratie durch autoritäre Populisten zum Ausdruck gebracht. 2 Die bekannten Populismusforscher Cristóbal Rovira Kaltwasser und Cas Mudde vertreten eine vermittelnde Position. Sie sehen den »populistischen Zeitgeist« (Mudde ) als ein zweischneidiges Schwert (Mudde/Kaltwasser , Kap. ).  Vgl. z. B. Frank-Walter Steinmeiers Fritz Stern Lecture »Geht der Demokratie die Vernunft aus?« an der American Academy (Berlin, März ) oder seinen Eröffnungsvortrag auf dem .Wissenschaftlichen Kongress der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft in Frankfurt am Main. 

Einerseits teilen sie die Ansicht, dass populistische Parteien Themen in Angriff nehmen, die von den etablierten Parteien vernachlässigt werden. In diesem Sinne schreiben auch sie dem Populismus demokratisches Potenzial zu. Auf der anderen Seite beobachten sie, dass Populisten auf die liberalen Säulen der modernen Demokratie zielen. Zusammengenommen scheinen sie die Selbstbeschreibung einiger Populisten als illiberale Demokraten zu teilen: »Der Populismus widerspricht der Demokratie nicht grundsätzlich, sondern steht im Widerspruch zur liberalen Demokratie.« (Mudde/Kaltwasser , S. ) Diese Einschätzung wirft freilich die Frage auf, ob eine illiberale Demokratie nicht ein Widerspruch in sich ist. Denn ohne Rechtsstaat und politische Grundrechte gibt es keine Demokratie (Habermas ). Das demokratische Potenzial der autoritär-populistischen Parteien ist also umstritten. Falls autoritäre Populisten Defizite moderner Demokratien sichtbar machen, könnte sich daraus im Ergebnis eine Verbesserung der Demokratie ergeben. Das scheint in jenen Fällen eher wahrscheinlich, in denen die autoritär-populistischen Parteien noch in der Opposition sind und die etablierten Parteien auf die neue Herausforderung mit einer Demokratisierungsoffensive reagieren. Skeptiker verweisen jedoch auf den Gehalt des autoritären Populismus als eine politische Ideologie, die Grundpfeiler der liberalen Demokratie infrage stellt (siehe Kapitel ). Diese Bedrohung wird vor allem virulent, wenn autoritäre Populisten an die Macht gelangen. Der Angriff auf die Demokratie im Namen der vermeintlich wahren Demokratie hat also etwas Ambivalentes. Es ist somit ratsam, die jüngsten empirischen Entwicklungen der Demokratie zu betrachten, um die Debatte voranzubringen. Um den Effekt des autoritären Populismus auf die Demokratie zu bemessen, muss zunächst zwischen autoritär-po

pulistischen Parteien in der Opposition und autoritären Populisten an der Macht unterschieden werden. Anschließend nehmen wir die Effekte des autoritären Populismus auf die internationale Politik und ihre Rückwirkungen auf den Zustand der Demokratie in den Blick.

. Autoritäre Populisten an der Macht Wenn autoritäre Populisten an die Macht gelangen, können sie das politische System direkt beeinflussen. Sie kommen zwar mittels demokratischer Wahlen ins Amt, haben aber ein autoritäres Programm. Daher ist es unwahrscheinlich, dass sie die Repräsentativität und Responsivität der politischen Systeme steigern, wenn sie an der Spitze der Regierung stehen. Den gegenwärtigen Praktiken autoritär-populistischer Anführer nach zu urteilen, ist es wahrscheinlicher, dass sie Minderheitsrechte infrage stellen und die Lebensstile von Minderheiten angreifen. Außerdem streben sie nach der Kontrolle über die Medien, attackieren die Verfassungsgerichte und versuchen, das vermeintlich Fremde auszugrenzen. Dazu gehört auch die Zurückweisung internationaler Institutionen als eine Form von Fremdherrschaft, gegen welche die nationale Souveränität in Anschlag gebracht wird. Ob autoritär-populistische Regierungschefs tatsächlich zu einer Verschlechterung der Demokratie führen, soll anhand von acht Beispielen überprüft werden: Bolsonaro in Brasilien, Erdog˘ an in der Türkei, Kaczyn´ski/Duda in Polen, Maduro in Venezuela, Modi in Indien, Putin in Russland, Orbán in Ungarn und Trump in den USA . In diesen acht Ländern leben insgesamt mehr als , Milliarden Menschen, was beinahe  Prozent der Weltbevölkerung entspricht. Unsere Zusammenstellung umfasst Länder in Asien, Europa und den 

Amerikas. Sie beinhaltet außerdem neben rechtsorientierten auch eine linksorientierte Version des autoritären Populismus. In allen acht Ländern ist es für autoritär-populistische Regierungschefs – teils wegen des präsidentiellen Regierungssystems, teils wegen entsprechender Wahlergebnisse – möglich, ungehindert von komplizierten Koalitionskonstellationen zu agieren. Wir nutzen erneut Daten aus dem V-Dem Projekt, um empirisch zu klären, ob autoritäre Populisten die Qualität der Demokratie verschlechtern (V-Dem Institute ). Abbildung  zeigt für die acht ausgewählten Länder, wie sich der Liberal Democracy Index (LDI ) zwischen  und  verändert hat. Der LDI besteht aus zwei Komponenten: aus Maßen für unterschiedliche Elemente freier und fairer Wahlen – genannt Electoral Democracy Index (EDI ) – und aus dem Liberal Component Index (LCI ), der sich auf die Rechtsstaatlichkeit, die Wahrung der Bürgerrechte und Einschränkungen der Exekutive durch Judikative und Legislative konzentriert. In der Abbildung werden Jahre mit autokratischen Regierungschefs von solchen ohne unterschieden. Mehrere Trends fallen dabei ins Auge. Zunächst wird deutlich, dass sich die Demokratiequalität zwischen diesen Ländern sehr stark unterscheidet, was nochmal unterstreicht, dass Autokratisierungstendenzen einerseits nicht nur in undemokratischen Ländern auftreten und dass sie andererseits nicht automatisch zum Verschwinden der Demokratie führen. Zwar hat sich die Demokratiequalität unter Donald Trump verschlechtert, aber zweifelsohne sind die Vereinigten Staaten noch eine Demokratie.3 Im Gegensatz dazu war  Überlicherweise wird bei den V-Dem-Daten der Schwellenwert von , zugrunde gelegt, um demokratische Länder von nichtdemokratischen Ländern zu unterscheiden. 

Russland zu keinem Zeitpunkt der letzten zwanzig Jahre eine Demokratie, und trotzdem ist der Messwert auch dort noch weiter gesunken. Abb. : Demokratische Regression von  bis  nicht autokratisch

autokratisch

Brasilien

Ungarn

Indien

Polen

Russland

Türkei

USA

Venezuela

Index der liberalen Demokratie

0.75

0.50

0.25

0.75

0.50

0.25

2000 2005 2010 2015

2000 2005 2010 2015

2000 2005 2010 2015

2000 2005 2010 2015

Daten: V-Dem-Datensatz, Version , .

Anmerkung: In die Liste wurden die acht Länder aufgenommen, in denen besonders bekannte autoritär-populistische Regierungen über längere Zeit im Amt waren. Nicht ausgefüllte Kreise kennzeichnen nichtautoritäre, ausgefüllte Kreise autoritäre Regierungschefs im Zeitraum zwischen  und . Für Polen sind nur jene Jahre als »autoritär« gekennzeichnet, in denen die PiS Minsterpräsident und Präsident stellte. Dies war von  bis  und ist seit  der Fall.

Auffällig ist zudem, dass sich die Demokratiequalität in keinem der Länder in den beiden vergangenen Jahrzehnten verbessert hat. Im Gegenteil, allein zwischen  und  hat sich in sechs der acht Fälle der LDI um mindestens , Punk

te (auf einer Skala von  bis ), also um mindestens  Prozentpunkte verschlechtert. Am wenigsten stark ausgeprägt ist der Rückgang in den USA , wenngleich der für  ermittelte Wert einen historischen Tiefststand markiert. Dramatische Einbrüche zeigen sich dagegen in Polen, Ungarn und der Türkei. Die Demokratiequalität sinkt, wie die Abbildung zeigt, insbesondere unter autokratisch gesinnten Regierungschefs deutlich. Natürlich wäre es irreführend, allein einzelne Personen für den Rückgang verantwortlich zu machen, aber nach deren Machtübernahme zeigt sich in fast allen Fällen eine demokratische Regression. Mit Ausnahme Brasiliens ist das Muster eindeutig. Dramatisch verschlechtert hat sich die liberale Demokratie in den beiden EU -Staaten Polen und Ungarn. Noch im Jahr  lag der Index der liberalen Demokratie bei , (Polen) und , (Ungarn). Seither ist er in Polen auf , und in Ungarn sogar auf , gesunken. In keinem anderen Land der Welt hat sich die Demokratie in den letzten Jahren so stark verschlechtert wie in Ungarn (Lührmann et al. , S. ). Beide Länder erfüllen heute nicht länger die Voraussetzungen, die für den Beitritt zur EU notwendig waren. Auch in der Türkei hat sich seit  jede Hoffnung zerschlagen, dass sich das Land auf dem Weg zur liberalen Demokratie befindet. In den nuller Jahren gab es noch Fortschritte, und ein EU-Beitritt schien realistisch, doch seither sind die LDI -Werte steil gesunken. Nach gängiger Einschätzung wird die Türkei heute nicht länger als demokratisches Land eingestuft. Aus Autokratisierungserfahrungen in diesen Ländern lässt sich eine Reihe von Lehren ableiten. Für die neue Welle demokratischer Regression ist typisch, dass nicht das Wahlrecht begrenzt oder das Prinzip aufgehoben wird, Ämter durch Wahlen zu vergeben. Aber sowohl die Voraussetzun

gen für freie und faire Wahlen als auch die Kontrolle der Exekutive durch Parlamente oder Gerichte wird eingeschränkt. Zwischen dem Jahr  und  sind in Polen die Kontrollmöglichkeiten der Justiz gegenüber der Exekutive gemäß der V-Dem-Daten um  Prozentpunkte zurückgegangen, der Wert für die Meinungsfreiheit ist um  Punkte gesunken, die parlamentarische Kontrolle der Regierung um  Punkte. Auch bei der Vereinigungsfreiheit und der Gleichheit vor dem Gesetz fallen die entsprechenden Maßzahlen um mehr als  Prozentpunkte niedriger aus als im Jahr . Das polnische Parlament hat in klarem Widerspruch zur Verfassung das Wahlrecht weniger als sechs Monate vor der Präsidentschaftswahl geändert. Da jedoch die Opposition überstimmt werden kann und das Verfassungsgericht mit Gefolgsleuten der PiS-Partei besetzt wurde, lässt sich selbst dieser klare Verfassungsbruch nicht ahnden. In Ungarn sind Meinungsund Vereinigungsfreiheit stark beschnitten worden (– bzw. – Prozentpunkte), aber auch das Prinzip freier und fairer Wahlen wurde deutlich beschädigt. Das Ergebnis dieser Betrachtung ist eindeutig. Die liberale Demokratie leidet, wenn autoritär-populistische Parteien die Machthaber stellen. In sieben von acht Ländern liegt der Wert des LDI  unterhalb oder direkt an der kritischen Schwelle von ,. Es zeigen sich freilich auch deutliche Unterschiede. Viktor Orbán, um ein Beispiel zu nennen, hat das politische System in Ungarn tiefgreifender verändert, als es Donald Trump in den USA getan hat. Ein Grund für diese Differenz mag in unterschiedlichen Zielen des jeweiligen autoritär-populistischen Machtinhabers liegen. Nach dieser Logik wäre Orbán eben schlicht autoritärer und weniger demokratisch als Trump. Weitaus wichtiger scheint jedoch die Resilienz des politischen Systems zu sein. Die vorhandenen Institutionen widersetzen sich in manchen Ländern dem de

mokratischen Rückschritt stärker als in anderen. Besonders starke und schnelle Rückgänge in der Demokratiequalität sehen wir in den neuen bzw. vorübergehenden Demokratien wie in Ungarn, Brasilien, Polen und der Türkei. Deutlich kleinere Ausschläge zeigen sich in Ländern mit längeren demokratischen Traditionen wie den USA . Am zentralen Ergebnis dieser Betrachtung – autoritäre Populisten an der Macht verschlechtern die liberale Demokratie – ändert sich dadurch nichts. Abb. : Veränderung von Komponenten der Demokratie seit  Brasilien

Ungarn

Indien

Polen

Russland

Türkei

USA

Venezuela

deliberativ egalitär elektoral liberal partizipativ

deliberativ egalitär elektoral liberal partizipativ −0.4

−0.2

0.0

−0.4

−0.2

0.0

−0.4

−0.2

0.0

−0.4

−0.2

0.0

Veränderung der Komponente

Daten: V-Dem, Version .

Anmerkung: Dargestellt ist, wie sich fünf Komponenten der Demokratie zwischen  und  entwickelt haben. Nach links weisende Linien weisen auf eine Verschlechterung hin, nach rechts weisende auf eine Verbesserung.

Die Zahlen zeigen zudem, dass die autoritären Populisten keinesfalls nur die liberale Seite der Demokratie angreifen und nach einer vermeintlich illiberalen Demokratie streben, die Bürgerinnenrechte schwächt, aber freie und gleiche Wah

len stärkt. Ausgerechnet für Ungarn weisen die Daten auf einen sehr weitreichenden Rückgang hinsichtlich freier und fairer Wahlen hin. Die euphemistische Selbstbezeichnung als »illiberale Demokratie« scheint also eher zu kaschieren, dass elementare Bestandteile der Demokratie angegriffen werden. Dazu gehören die Oppositionsrechte, die Machtkontrolle, die Medienfreiheit und die Kontrolle der Exekutive durch die Justiz. Das wird besonders deutlich, wenn wir die einzelnen Komponenten der V-Dem-Daten – also die egalitären, elektoralen, deliberativen, liberalen und partizipativen Teilaspekte der Demokratie – mit Blick auf die acht Länder betrachten (Abbildung ). Die Herrschaft der autoritären Populisten verbessert in kaum einer Hinsicht die Qualität der Demokratie, vielmehr führt sie in fast allen Dimensionen zu einer Verschlechterung. Die einzigen Verbesserungen, die wir bei den verschiedenen Komponenten in den acht Ländern konstatieren können, sind kleine Fortschritte beim Faktor Egalität in Polen und Russland. Der Index der politischen Gleichheit (gleichberechtigter Schutz, gleichberechtigter Zugang, gleichberechtigte Verteilung von Ressourcen) sowie der Partizipationsindex (zivilgesellschaftliche Beteiligung, direkte Volksabstimmungen, lokale und regionale Regierungsunabhängigkeit) – Komponenten, bei denen man gemäß der autoritär-populistischen Rhetorik eine verbesserte Repräsentation und Responsivität erwarten hätte können – haben sich ebenso verschlechtert wie die elektorale und die liberale Komponente. Ebenso hat sich die aus fünf Teilindikatoren (fundierte Begründung, das Gemeinwohl, Respekt für Gegenargumente, die Bandbreite von Beratung auf Elitenebene, engagierte Gesellschaft) bestehende deliberative Komponente in allen acht Ländern drastisch verschlechtert. Dieser Einbruch deutet auf das FreundFeind-Denken autoritärer Populisten hin, das gemeinsames 

Problemlösen von vornherein ausschließt. Auch in den Vereinigten Staaten hat die Fähigkeit zur Deliberation deutlich abgenommen, da die Kluft zwischen Republikanern und Demokraten inzwischen so tief ist, dass kaum noch Kompromissbereitschaft besteht. Diese Beobachtungen sprechen gegen die Erwartung, autoritär-populistische Regierungen könnten die Funktionsweise der Demokratie in irgendeiner Hinsicht verbessern, indem sie zuvor benachteiligte Gruppen integrieren oder die elitäre Verengung politischer Entscheidungen zugunsten einer breiten Beteiligung der Betroffenen ausweiten. Sie streben keine illiberale Demokratie, sondern einen elektoralen Autoritarismus an (Levitsky/Way ). Autoritäre Populisten vermeiden zwar die Zerstörung der Erscheinungsform der Demokratie, weil sie sich durch Wahlen legitimieren möchten, sie entstellen diese aber bis zur Unkenntlichkeit.

. Autoritäre Populisten in der Opposition oder als Juniorpartner Beobachtet man, wie autoritäre Populisten sich verhalten, wenn sie regieren, findet man wenige Hinweise, dass sie gewillt wären, zentrale Probleme der Demokratie anzugehen. So sind sie, erstens, nicht an einem inklusiven Wohlfahrtsstaat interessiert. Zwar thematisieren sie die wachsende Ungleichheit, aber es geht dabei primär um die scheinbare Bevorzugung von Menschen, die aus ihrer Sicht nicht zum »wahren Volk« gehören. Autoritär-populistische Parteien zielen darauf, die native Bevölkerung in traditionellen Beschäftigungsverhältnissen ökonomisch zu beschützen, streben jedoch nicht danach, eine gerechtere Verteilung innerhalb der Gesellschaft im Gesamten zu erreichen. Silvio Berlusconi und 

Donald Trump haben das eindrucksvoll gezeigt. Steuererleichterungen für Reiche, der Schutz nationaler Unternehmen und die Stigmatisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen sind jedenfalls keine Maßnahmen, mit denen soziale Gerechtigkeit erreicht werden kann. Autoritäre Populisten zeigen auch kein Interesse an einer offenen und selbstreflexiven Debatte über Lebensstile, Kultur und gemeinschaftliche Voraussetzungen in einer vielfältigen Gesellschaft. Die deutsche A fD oder die österreichische FPÖ haben das sehr deutlich gemacht. Sie arbeiten lieber an der Wiederherstellung der Hegemonie einer traditionellen, von der Mittelklasse dominierten Gesellschaft – der nivellierten und formierten Mittelstandsgesellschaft à la Ludwig Erhard und Helmut Schelsky, inklusive all ihrer kulturellen Konnotationen (siehe auch Reckwitz ). Schließlich kämpfen autoritäre Populisten nicht für die Demokratisierung komplexer Governance-Arrangements, in denen unterschiedliche Ebenen und Akteure produktiv zusammenwirken. Viel lieber streiten sie für eine unkontrollierte Dominanz der nationalen Exekutive mit dem Ziel, alle anderen demokratischen Institutionen zu schwächen. Falls überhaupt, könnte das demokratische Potenzial des populistischen Protests nur über den Umweg der Reaktion auf den autoritären Populismus ausgeschöpft werden. Die demokratisierenden Veränderungen hängen daher in letzter Instanz von anderen Akteuren ab. Sie könnten sich als ein mögliches (aber keineswegs sicheres) Ergebnis eines interaktiven Prozesses ergeben, in dem etablierte Parteien auf die Herausforderer reagieren – und nach neuen Wegen suchen, der doppelten demokratischen Entfremdung zu begegnen. Falls eine solche Dynamik Demokratisierungsprozesse zeitigen sollte, dann vermutlich gegen den Widerstand autoritärer Populisten. Die Beziehung zwischen autoritären Populis

tinnen und Demokratisierung würde in diesem Fall am ehesten dem Muster ähneln, das Ralf Dahrendorf für den Zusammenhang zwischen Nationalsozialismus und Modernisierung beschrieben hat: dass nämlich der Nationalsozialismus der Modernisierung der Gesellschaft unabsichtlich den Weg geebnet hat (Dahrendorf ). Um die Auswirkungen autoritär-populistischer Parteien in der Opposition oder als Juniorpartner auf die Demokratie zu analysieren, müssen also interaktive Prozesse betrachtet werden. Dann gilt es freilich, auch Dynamiken in den Blick zu nehmen, die in eine andere Richtung – gegen die Demokratisierung – wirken. Demokratien können nämlich auch ohne die Regierungsbeteiligung autoritärer Populisten untergraben werden. Steven Levitsky und Daniel Ziblatt () haben solche Dynamiken in der Geschichte der US -Demokratie analysiert. Es zeigt sich dabei, dass eine Polarisierung im politischen Prozess zur Untergrabung ungeschriebener Gesetze führen kann, die entscheidend für das Funktionieren der Demokratie sind. Ähnliche Entwicklungen können im Zuge des Aufstiegs autoritärer Populisten in Westeuropa beobachtet werden. Das allgemeine Muster sieht folgendermaßen aus: Die herausfordernde Partei bricht Tabus; die etablierten Parteien entgegnen mit dem Ausschluss der Herausforderin aus den Verfahren, die vor allem durch informelle Regeln definiert werden; die herausfordernde Partei erobert dann andere politische Positionen und gebraucht sie, um ihre Hauptgegner auszuschließen. Es kommt zu einer Emotionalisierung, die zu einer zusätzlichen Eskalation und Radikalisierung von Zielen beiträgt (Alter/Zürn ). Im Ergebnis gefährdet das die informellen Praktiken einer Demokratie. Welche der zwei interaktiven Dynamiken überwiegt bislang in der politischen Realität? Führen starke autoritär-po

Abb. : Demokratiequalität und Regierungsbeteiligung populistischer Parteien Opposition

Regierungsbeteiligung

Index der Liberalen Demokratie

1.00

0.75

0.50

0.25

0.00 2000

2005

2010

2015

2020 2000

2005

2010

2015

2020

Daten: V-Dem, Version , .

pulistische Parteien in der Opposition oder als Teil einer Koalitionsregierung zu einer Verbesserung oder einer Verschlechterung der demokratischen Qualität? Für  europäische Länder, für die eine Klassifizierung der Parteien in verschiedene Typen des Populismus vorliegt, können wir dies systematisch überprüfen. Dabei unterscheiden wir zwischen () Kabinetten, an denen keine populistischen Parteien beteiligt sind, und () Kabinetten, an denen sie als kleinere Regierungspartei beteiligt sind. Wiederum nutzen wir den Index der liberalen Demokratie der »Varieties of Democracy«-Daten. Aus Abbildung  geht hervor, dass der Indexwert nicht nennenswert beeinflusst wird, wenn populistische Parteien zwar Teil einer Regierung, dort aber nicht dominant sind. Die beiden Linien mit und ohne populistische Regierungsbeteiligung verlaufen weitgehend parallel. In beiden Fällen lässt sich eine minimale Verbesserung der Demokratiequalität über 

die Zeit beobachten. Zwar ist der Anstieg zwischen dem ersten und dem letzten Beobachtungspunkt in den Ländern ohne populistische Regierungsbeteiligung geringfügig höher, die Differenz ist aber weit von einer statistischen Signifikanz entfernt. Das wird auch durch die Beispiele Schweiz und Österreich illustriert, wo mit der SVP und der FPÖ über viele Jahre autoritär-populistische Parteien an der Regierung beteiligt waren, ohne dass sich dies in den Maßzahlen der vergleichenden Demokratiemessung niedergeschlagen hätte. Zusammen mit den Analysen des vorherigen Abschnitts begründet dieser Befund erhebliche Zweifel an der Einschätzung, autoritär-populistische Parteien könnten zu einer Verbesserung der demokratischen Qualität führen. Im Gegenteil: Wenn Populisten an der Macht sind, bauen sie die Demokratie ab. Aber auch autoritäre Populisten in der Opposition haben keinen positiven Effekt auf die Demokratie.

. Autoritärer Populismus und die liberale internationale Ordnung Neben den Auswirkungen auf die nationale Demokratie könnte ein weiterer Aufstieg der autoritären Populisten auch die internationale Ordnung verändern. Wie wir gesehen haben, ist die Kritik an internationalen Institutionen Teil ihrer Programmatik. Nationale Interessen und Volkssouveränität müssen aus ihrer Sicht gegenüber den europäischen und internationalen Institutionen verteidigt werden, die unter der Kontrolle korrupter kosmopolitischer Eliten stehen. Obwohl autoritär-populistische Machthaber noch nicht zum kompletten Abbau der kooperativen Weltordnung geführt haben (Moravcsik ; Stengel et al. ), erschweren sie doch die internationale Zusammenarbeit. Ein besonders gutes – und fol

genreiches – Beispiel ist hier US -Präsident Donald Trump, der die drei zentralen normativen Grundpfeiler des globalen politischen Systems infrage gestellt hat, das sich in den Neunzigern herausgebildet hat (Zürn a, Kap. ). Im Vorwort zur National Security Strategy (NSS ) aus dem Dezember  lehnt er zunächst den ersten normativen Pfeiler ab, die Idee eines globalen Gemeinwohls: »Die nationale Sicherheitsstrategie meiner Regierung entfaltet eine strategische Vision zum Schutz des amerikanischen Volkes und der Erhaltung unseres Lebensstils, sie fördert unseren Wohlstand, erhält den Frieden durch eigene Stärke und weitet den amerikanischen Einfluss in der Welt aus.«4 Globales Gemeinwohl und globale öffentliche Güter haben in dieser Denkweise keinen Platz. Es geht ausschließlich um amerikanische Interessen. Frieden wird kurzerhand mit US -amerikanischer Dominanz gleichgesetzt. Trump denunziert, zweitens, internationale Institutionen als grundlegend überflüssig. Der Rückzug der USA aus internationalen Organisationen und Abkommen wie dem Pariser Klimavertrag wird daher als »Erfolg« seiner Politik dargestellt. Schließlich vermittelt weder das Vorwort des Präsidenten noch die NSS als Ganzes an irgendeiner Stelle den Eindruck, die USA bzw. ihr Präsident würden sich gegenüber Menschen oder Regierungen außerhalb des Landes erklären. Eine Rechtfertigung dieser Strategie gegenüber der Weltgemeinschaft erfolgt nicht einmal im Ansatz. Auch das unterscheidet diese strategische Vision von denen aller übrigen US -Präsidenten seit dem Zweiten Weltkrieg. Damit wird auch der dritte Pfeiler der kooperativen Weltordnung verletzt: Auf  Die nationale Sicherheitsstrategie der USA ist online verfügbar unter: {https://www.whitehouse.gov/wp-content/uploads///NSSFinal----.pdf}. 

eine Rechtfertigung gegenüber der Weltgesellschaft wird verzichtet. Die radikale Ablehnung internationaler Institutionen im Namen der Volkssouveränität gefährdet jedoch die Stabilität demokratischer politischer Systeme und damit letztendlich auch die Volkssouveränität. Die kooperative Weltordnung, die sich nach  bis zum Ende des Jahrtausends unter amerikanischer Führung herausbildete, hatte nämlich einen Wilsonian Effekt – sie machte die Welt sicherer für Demokratien (vgl. Kapitel ). Woodrow Wilson wollte schon nach dem Ersten Weltkrieg eine Weltordnung schaffen, in der Demokratien sicher gedeihen könnten. Der Versailler Vertrag erreichte dieses Ziel nicht. Die Weltordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstand, erwies sich diesbezüglich als erfolgreicher. Insofern könnte sich der Antiinternationalismus autoritärer Populisten als die Hauptbedrohung für die liberalen Demokratien herausstellen. Die Dekonstruktion einer kooperativen und partiell liberalen internationalen Ordnung führt möglicherweise zum Ende einer Umgebung, in der Demokratien gut gedeihen können. Ohne diesen Kontext würde das Überleben von Demokratien schwieriger (siehe oben). Der Kampf um die internationale Ordnung ist aber noch nicht zu Ende. Derzeit stehen sich dabei die Befürworterinnen einer offenen und starken internationalen Ordnung und Verfechter eines neuen Nationalismus gegenüber. Wenn man so will, zeichnet sich die neue Konfliktlinie mit den liberalen Globalisten und den autoritären Populisten als Protagonisten auch auf der globalen Ebene ab. Dabei geben beide Seiten vor, im Namen der Demokratie zu agieren. Beide Lager haben aber keine guten Antworten auf die Frage nach der Zukunft der Demokratie parat.



. Das Demokratiedilemma angesichts offener Grenzen Die Eliten bevorzugen den liberalen Globalismus, das Klassenbewusstsein der frequent travellers wie Craig Calhoun () einst schnippisch anmerkte. Demgegenüber scheint der autoritäre Populismus die politische Ideologie der Heimatverbundenen.Wenn nun die Eliten die Demokratie zu ihren eigenen Gunsten nutzen, dann scheint es nur folgerichtig, wenn die Unzufriedenheit großer Teile der lokal gebundenen Bevölkerung politisiert wird und sich offen gegen die kosmopolitische Selektivität der Institutionen wendet. Allerdings drohen die autoritären Populisten, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Sie zielen auf die Grundlagen der Demokratie. Ohne die Absicherung der demokratischen Institutionen und der politischen Rechte von Minderheiten gegenüber dem plebiszitären Willen der Mehrheit gibt es letztlich keine Demokratie. Urbinati (, S. ) bringt das auf den Punkt: Demokratie kann es ohne liberale Individualrechte gar nicht geben. Der Terminus »liberale Demokratie« ist ein Pleonasmus. Für die Demokratie ergibt sich daraus ein Dilemma (vgl. hierzu Merkel/Zürn ). Das Dilemma leitet sich aus dem Grundprinzip demokratischer Legitimität ab. Das Prinzip besagt, dass diejenigen, die von politischen Entscheidungen betroffen sind, auch daran beteiligt werden müssen. Sowohl Dahl () als auch Jürgen Habermas () sehen das Beteiligungsrecht der Betroffenen als das Kernstück der Demokratie an. Demnach bestand eine der historischen Leistungen des Nationalstaates darin, das abstrakte Betroffenheitsprinzip in das konkrete Prinzip der Mitgliedschaft in einer territorial bestimmten Gemeinschaft übersetzt zu haben. Solange gesellschaftliche Transaktionen und Interaktionen innerhalb nationalstaatli

cher Grenzen stattfanden (Deutsch ), stellte der Nationalstaat einen Rahmen dar, in dem das demokratische Prinzip verwirklicht bzw. institutionalisiert werden konnte. Diese Verbindung zwischen Nationalstaat und demokratischem Prinzip löst sich jedoch mit der Globalisierung auf (Zürn ). In dem Maße, in dem der ökonomische und soziale Handlungsraum über nationalstaatliche Grenzen hinausgeht, entsteht ein Problem. Die effektive und demokratisch legitimierbare Problembearbeitung hängt nämlich davon ab, dass der soziale und politische Raum deckungsgleich ist. Wenn ökonomische und kulturelle Transaktionsräume die politischen Grenzen des Nationalstaates zunehmend transzendieren, wird die politische Dominanz territorial beschränkter Nationalstaaten normativ defizitär. Das Auseinanderlaufen der Räume muss dann entweder durch eine Globalisierung der Politik oder durch eine Renationalisierung der Gesellschaft eingefangen werden. Oder um es mit Jürgen Habermas noch eine Stufe allgemeiner zu formulieren: »Je mehr die Komplexität der Gesellschaft und der politisch zu regelnden Probleme zunimmt, umso weniger scheint es möglich zu sein, an der anspruchsvollen Idee von Demokratie, wonach die Adressaten des Rechts zugleich deren Autoren sein sollen, festzuhalten.« (Habermas , S. ) Das Problem entfaltet sich sowohl in funktionaler als auch in legitimatorischer Hinsicht. Funktional ist die heutige Welt so eng vernetzt, dass angesichts des Standes der Globalisierung viele transnationale Probleme effektiv nur jenseits des Nationalstaats angegangen werden können. In legitimatorischer Hinsicht sind wir mit dem Problem konfrontiert, dass viele Entscheidungen auf nationaler Ebene in einer denationalisierten Welt Externalitäten hervorrufen und Menschen somit unabhängig davon betreffen, ob sie qua Mitgliedschaft an den Verfahren des entsprechenden Staates beteiligt sind. 

Zumindest in Bereichen, in denen Transaktionen und deren Effekte weitgehend globalisiert sind – wie etwa Finanzmärkte und Klimawandel –, verletzen nationale Entscheidungen das Prinzip der Betroffenheit eklatant. Das Paradebeispiel sind die Bewohnerinnen pazifischer Inseln, die unter der Klimapolitik der USA , Chinas und der EU leiden.Vor dem Hintergrund dieser Problematik geben der Kommunitarismus und der Kosmopolitismus grundlegend andere Antworten auf die demokratische Frage. Der Kommunitarismus ist genauso wie der Kosmopolitismus zunächst eine noble politische Philosophie. Nach kommunitaristischer Überzeugung kann eine starke Demokratie nicht in großen, heterogenen und territorial offenen Räumen realisiert werden, vielmehr ist sie mit den konkreten sozialen Lebenswelten der Menschen innerhalb einer Gemeinschaft verbunden und benötigt besonders für Mehrheitsentscheidungen die Akzeptanz seitens der Minderheiten. In der politischen Sphäre dominiert gegenwärtig eine Adaption des Kommunitarismus, die die Nation und den Nationalstaat als Träger der Volkssouveränität ins Zentrum rückt und dabei scharf begrenzt, wer zum Volk gehört. Das ist das Programm der autoritären Populisten. Sie können als nationalistische Abkömmlinge der kommunitaristischen Philosophie angesehen werden. Sie haben ihre Wahlerfolge wegen ihres Kampfes gegen die europäische Integration, gegen die Globalisierung, den Multikulturalismus, internationale Institutionen und die Migration, insbesondere aus muslimischen Ländern, errungen. Sie behaupten, dass nur eine homogenere Gesellschaft mit ausreichendem zwischenmenschlichem Vertrauen und nationaler Identität eine solidarische Gemeinschaft sein kann. In einer solchen Gemeinschaft gilt es dann, den Willen der Mehrheit umzusetzen. In den meisten Fällen ist die bedingungslose Befürwor

tung von Mehrheitsentscheidungen nicht nur illiberal, sondern auch antipluralistisch und antiprozeduralistisch. Sie stellt nicht nur die Mehrheitsentscheidungen über Minderheitenund individuelle Grundrechte; sie denunziert auch etablierte Verfahren zur Ermittlung des Willens der Mehrheit. Alle, die der »schweigenden Mehrheit« kritisch gegenüberstehen, werden als Mitglieder einer entfremdeten und selbstsüchtigen Elite verurteilt, der zudem vorgeworfen wird, die Medien und die öffentliche Meinung zu kontrollieren. Etablierte Verfahren zur Deliberation und Konsenserarbeitung würden von den »korrupten Eliten« als Mittel der politischen Bevormundung eingesetzt. Das Antidot soll die Weisheit der Anführerinnen neuer Parteien und Bewegungen sein. Im Extremfall werden diejenigen, die »wissen«, was der »Mann auf der Straße will«, von den sonst üblichen Standards des politischen Anstands befreit, wie die trotz seiner Ausfälle und Unanständigkeiten lange beeindruckend stabile Unterstützung Donald Trumps in Teilen der US -Bevölkerung zeigt. Diese illiberale und antipluralistische Version ist jedoch keineswegs die einzige relevante politische Manifestation kommunitaristischer Theorien. Obwohl sie auf den Kontext konkreter Gemeinschaften verweisen, müssen sie nicht notwendigerweise illiberal ausfallen. Sie können auch die Form einer starken Basisdemokratie annehmen, wie in den Arbeiten Benjamin Barbers (vgl. etwa Barber ) oder auch im liberal-kommunitaristischen Republikanismus Charles Taylors (), der die Vorstellung von einem »Recht auf Rechte« mit einer kommunitaristischen Verpflichtung gegenüber dem Gemeinwohl kombiniert. Craig Calhoun () ergänzt Taylors Auffassung, indem er den Kosmopolitismus kritisiert, weil dieser den Beitrag von nationalen Identitäten und Grenzen zur Förderung von Solidarität und Demokratie unter

schätze. Taylor und Calhoun weisen damit auf eine Möglichkeit hin, den Liberalismus und den Kommunitarismus in Einklang zu bringen und dabei zwei Fallstricke zu vermeiden: den reaktionären Traditionalismus und chauvinistischen Nationalismus auf der einen und den deregulierenden globalen Kapitalismus auf der anderen Seite. Alle Varianten kommunitaristischer Demokratietheorie haben jedoch eine gemeinsame Schwäche. Ihre Verteidigung der Verfahren und Institutionen des demokratischen Nationalstaats baut in erster Linie auf den lokalen und nationalen Gemeinschaften auf und nicht auf dem Prinzip der Betroffenheit in einer globalisierten Welt. In dem Maß, wie die Entscheidungen demokratischer Nationalstaaten in Zeiten der politischen und gesellschaftlichen Entnationalisierung zunehmend Menschen außerhalb ihrer Grenzen betreffen und ihre Effektivität immer stärker von an anderer Stelle getroffenen Entscheidungen abhängt, sind demokratische Verfahren innerhalb der Nationalstaaten und demokratische Prinzipien aus zwei Gründen nicht mehr identisch: Die Bürger werden zu einem gewissen Grad von politischen Entscheidungen beherrscht, die sie kaum beeinflussen können. Zudem setzt die Demokratie das Konzept der effektiven Entscheidungsfindung voraus, also die Idee, dass politische Entscheidungen Mittel sind, mit denen Kollektive sich selbst steuern können. Dieser Zusammenhang dürfte auch der Grund sein, weshalb die illiberale und antipluralistische Version des kommunitaristischen Denkens so erfolgreich wurde. In einer globalisierten und zutiefst pluralistischen Welt scheint die nationalistische Verteidigung vorgegebener Gemeinschaften notwendigerweise zu antiliberalem, antiprozeduralistischem und antipluralistischem Denken zu führen, wie es im heutigen Ungarn oder in Polen schon der Fall ist. Die Ablehnung supranationaler Kompetenzen, von offenen Grenzen 

für Güter, Kapital und Menschen sowie die Bevorzugung von Mehrheitsentscheidungen gegenüber Minderheiten und individuellen Grundrechten treten nicht zufällig häufig gemeinsam auf. Es scheint hier eine Art Wahlverwandtschaft zu geben. Daher ist es wenig verwunderlich, dass autoritärpopulistische Parteien die sichtbarste Manifestation des Kommunitarismus sind, die wir in westlichen Demokratien (einschließlich Osteuropas und vieler Schwellenländer) und ihren Parteiensystemen gegenwärtig beobachten können. Das bringt den Kosmopolitismus ins Spiel, der dem autoritären Populismus eine globale Vision gegenüberstellt. Die Verfechter einer kosmopolitischen Demokratie hätte Helmut Schmidt vermutlich zum Arzt geschickt. Sie unterliegen dem Utopieverdacht. Kernidee der kosmopolitischen Demokratie ist nämlich die Demokratisierung internationaler Institutionen (Held ). Nach Daniele Archibugi geht es dabei um die »Globalisierung der Demokratie und gleichzeitig die Demokratisierung der Globalisierung« (Archibugi , S. ). Kosmopolitinnen fordern die Übergabe nationaler Souveränitätsrechte an internationale Organisationen und supranationale Regime, wenn sie nicht gar die Vision einer demokratischen Weltregierung, eines Weltparlaments und einer globalen Zivilgesellschaft vertreten (Archibugi ; Archibugi/Held ; Caney ; Höffe ). Sie plädieren für Kompetenztransfers an die Uno und die EU, für eine multilaterale Regelung von Handelsfragen, für Weltklimakonferenzen und eine Fiskalunion in der Eurozone, für starke Menschenrechtsregime auf globaler Ebene und Institutionen, die globale Umverteilung möglich machen. Das alles sei freilich nur sinnvoll, wenn parallel dazu die Demokratisierung dieser Institutionen erfolge. Unabhängig von der Stärke des normativen Gehalts der kosmopolitischen Demokratietheorien stecken ihre Schwä

chen tatsächlich in der Umsetzung. Die Konkretisierung ihrer allgemeinen Prinzipien hin zu spezifischen Verfahren und Institutionen ist unterbestimmt. Zwei Einwände sind besonders relevant: Erstens ist es zwar richtig, dass viele soziale, wirtschaftliche und politische Entscheidungen grenzüberschreitend wirken. Aber die Festlegung eines Schwellenwerts hinsichtlich des Ausmaßes der Externalitäten, der nötig ist, um ein Mitspracherecht zu begründen, erscheint zumeist willkürlich (Schwellenwertfrage). Und selbst wenn man sich auf die erforderlichen internationalen Institutionen einigen würde, erscheint es zweitens äußerst schwierig, angemessene demokratische Prozesse auf globaler Ebene zu organisieren (Machbarkeitsfrage). Um mit der Schwellenwertfrage zu beginnen: Menschliches Handeln und politische Entscheidungen generieren fortwährend Externalitäten. Dies bedeutet, dass Entscheidungen von Individuen immer auch andere Individuen beeinflussen, wie auch die Entscheidungen eines Kollektivs andere Kollektive berühren. Aber wie viel Betroffenheit ist nötig, um ein Mitspracherecht in den vielen Graubereichen von mehr oder weniger Interdependenz zu erlangen? Dass die Bewohnerinnen pazifischer Inselstaaten, die als Folge der Klimapolitik der großen Industrieländer ihre Heimat verlieren, normativ betrachtet, ein Mitspracherecht bei der Klimapolitik haben sollten, ist ein vergleichsweise klarer Fall. Doch an anderer Stelle fällt die Bewertung schwerer. Wenn zum Beispiel die chinesische Regierung beschließt, in Computertechnologie zu investieren, kann dies Auswirkungen auf Arbeitsplätze in Indien oder im Silicon Valley haben – doch folgt daraus ein Anspruch, Einfluss auf die chinesische Wirtschaftspolitik nehmen zu dürfen? Die Unterbewertung des Euro begünstigt deutsche Exporte, doch sollte dies anderen Ländern ein Mitspracherecht in der Tarifpolitik geben? 

Diese Beispiele werfen die Frage auf, welche Institutionen auf welcher Grundlage entscheiden können, wer durch eine nationale Entscheidung betroffen ist und wer als Teil einer grenzübergreifenden Betroffenengemeinschaft gelten kann. Sollten die anderen Länder das gleiche Stimmgewicht haben wie das Land, das die Entscheidung in erster Instanz trifft? Welche Institutionen sollen entscheiden und nach welchen Verfahren? Dies sind ungelöste normative und prozedurale Probleme, die zeigen, dass das »Kongruenz-« bzw. »Betroffenheitsprinzip« nicht ohne Weiteres in konkrete Verfahren für die internationale Politik umgesetzt werden kann (siehe aber jüngst Blatter ). Was das Machbarkeitsproblem anbelangt, müsste man aus dem Betroffenheitsprinzip in seiner extremen Variante folgern, dass dem Rest der Welt bei Entscheidungen der USA immer ein Mitspracherecht einzuräumen wäre, da deren Entscheidungen weitreichende globale Auswirkungen haben. Diese Forderung mag zwar normativ vertretbar sein, ist aber politisch aussichtslos, da die einzige wirklich globale Macht, die USA , das Land ist, das die Übertragung von Souveränitätsrechten an supranationale Instanzen – zumindest unter Präsident Trump – am stärksten bekämpft. Und auch andere Großmächte wie China oder Russland sind nicht bereit, ihre Souveränität einzuschränken. Ceteris paribus könnte man sogar die Regel aufstellen, dass mächtigere Länder weniger bereit sind, Souveränitätsrechte an internationale oder supranationale Organisationen abzugeben (Zürn a, Kap. ). Liberale Globalisten sind sich dieser Umsetzungsprobleme bewusst. Sie konzentrieren sich daher darauf, internationale Gremien zu schaffen, in denen auf demokratische Weise jene Probleme behandelt werden, die nur durch die Bündelung von Souveränität angegangen werden können. Doch auch hier ergeben sich Umsetzungsprobleme. Je größer und kom

plexer politische Räume sind, desto weniger können sie demokratisch regiert werden. Jenseits des Nationalstaats lassen sich beispielsweise die gleichberechtigte Teilhabe der Bürgerinnen,Transparenz sowie Vorhersehbarkeit politischer Entscheidungen und die parlamentarische Kontrolle der Exekutive bislang bestenfalls in Ansätzen realisieren. Die kosmopolitische Antwort auf das Machbarkeitsproblem ist doppelter Natur: Erstens wird entgegnet, dass sich die Argumente für eine Größenbegrenzung der Demokratie empirisch nicht beweisen lassen. So stellt Mathias KoenigArchibugi () fest, dass es neben der Existenz formeller Politikstrukturen keine notwendigen Voraussetzungen für die Demokratie im strengen Sinn des Begriffs gibt. Er lehnt alle Thesen über die Unmöglichkeit einer globalen Demokratie ab und hält dagegen, politische Gemeinschaften seien konstruiert und veränderten sich über die Zeit. Ferner habe sich die Idee der nationalen Zugehörigkeit selbst erst im späten . und im . Jahrhundert entwickelt. Daran anschließend kann zweitens gefragt werden, ob die Machbarkeit nicht im Lauf der Zeit zunimmt, wenn die aktuellen Trends der kommunikativen und wirtschaftlichen Transnationalisierung anhalten. Demnach entsprechen individuelle Einstellungen, politische Mobilisierung oder die Verteilung politischer Macht nicht länger ausschließlich dem Modell nationalstaatlicher Demokratie. Ungeachtet dieser Debatte neigen liberale Globalistinnen dazu, die Spannung zwischen den Argumenten zugunsten globaler politischer Maßnahmen und den sozialen Voraussetzungen von Mehrheitsentscheidungen zu unterschätzen. Sie betonen die liberalen Elemente demokratischer Selbstbestimmung, insbesondere die Notwendigkeit des Schutzes individueller Rechte, die Rechtsstaatlichkeit und die Macht des besseren Arguments. Anscheinend vergessen sie dabei, 

dass Mehrheitsentscheidungen den Kern demokratischer Prozesse ausmachen und Minderheitenrechte ohne Mehrheitsentscheidungen keinen Sinn ergeben. Sie übersehen in Teilen auch, dass in internationalen Institutionen oftmals die Exekutive oder Bürokratien einen Vorrang vor der Legislative genießen. Damit verfechten sie ein Demokratieverständnis, bei dem die Rolle von Wahlen, Parteien und Parlamenten abgewertet und die Stellung von NMI s hervorgehoben wird. Dieses implizite Demokratieverständnis bestätigt die tendenziell elitäre Voreingenommenheit liberaler Globalisten. Es ist die Angst vor diesem Kosmopolitismus, der den Aufstieg der autoritären Populisten begünstigt hat. Der autoritäre Populismus wiederum gefährdet, wie wir gesehen haben, die liberalen Grundlagen der Demokratie. Im Ergebnis sind beide Konzeptionen in ihrer gegenwärtig praktizierten Form defizitär. Darin besteht das Dilemma der Demokratie in der Globalisierung. Sie unterläuft das habermassche Postulat der Gleichursprünglichkeit von Demokratie und Rechtsstaat, wenn entweder nationale Mehrheitsentscheidungen Betroffene ausschließen und Bürgerinnenrechte aushebeln oder Rechtssetzung ohne demokratische Willensbildung und Beteiligung erfolgt.



. Demokratisches Handeln im Angesicht der Regression

In der öffentlichen Debatte gibt es eine Tendenz, sich von den Zumutungen des zeitgenössischen Populismus zu entlasten, indem man dessen Aufstieg durch Unzulänglichkeiten der Bürgerinnen erklärt. Drei unterschiedliche Narrative können gewollt oder ungewollt zu dieser Entlastung beitragen. Ein erstes Narrativ charakterisiert die Wähler autoritärpopulistischer Parteien pauschal als »Nazis«, die unverbesserlich an rassistischen Denkmustern festhalten, während die aufgeklärte Mehrheit sich davon befreit hat. Tatsächlich kann nicht in Abrede gestellt werden, dass autoritär-populistische Parteien auch deshalb gewählt werden, weil Menschen rassistisch denken oder plurale Lebensentwürfe ablehnen. Das wirft allerdings die Frage auf, weshalb ausgerechnet jetzt so viele Menschen sich den autoritär-populistischen Parteien zuwenden und wieso viele davon es im Namen der Demokratie tun. Der autoritäre Populismus kann in einem weiteren Entlastungsnarrativ als vorübergehendes Phänomen gekennzeichnet werden, als Folge einer Modernisierung, die den Protest der Gestrigen gegen die Liberalisierung der Gesellschaft durch jüngere Generationen hervorruft. Der autoritär-populistische Protest ist in diesem Narrativ kein Ausdruck einer Regression, sondern das letzte Aufflackern eines Atavismus. Geduldiges Warten auf die Rückkehr des Fortschritts reicht dann aus. Schließlich kann einem Teil der Bürgerinnen die Eignung für die moderne Demokratie in einer globalisierten und komplexen Welt abgesprochen werden, weil sie zu schlecht informiert seien oder durch Scharlatane in die Irre geführt würden. Es geht dann vor allem darum, die Funk

tionsweise des politischen Systems vor den Einfältigen zu schützen. Entlastend wirken diese drei Erklärungsansätze, weil sie es uns ersparen, darüber nachzudenken, ob das von den autoritären Populisten attackierte »System« nicht tatsächlich Defizite aufweist und weshalb populistische Parolen verfangen. Wir müssen dann nicht erklären, wie es sein kann, dass eine anmaßende Behauptung – wie etwa, das wahre Sprachrohr des Volkes zu sein – nicht empört zurückgewiesen wird. Wir müssen dann auch nicht fragen, warum so viele einem Milliardär wie Donald Trump oder dem durch und durch elitären Boris Johnson glauben, dass ausgerechnet sie für Menschen sprechen, die weder Hochhäuser besitzen noch Abschlüsse aus Eton oder Oxford aufweisen können. Wir haben in diesem Buch versucht, diese Fragen zu beantworten. Demnach verfängt der autoritäre Populismus auch deshalb, weil seine Kritik an der Funktionsweise der liberalen Demokratie einen wahren Kern hat. In dieser Perspektive bedarf demokratisches Handeln nicht nur einer Kritik der Unzulänglichkeiten der autoritären Populisten, sondern auch einer Kritik des demokratischen Status quo. Die Politik in unserer Demokratie befindet sich in einer Repräsentationskrise und weist eine systematische Schieflage auf, die bestimmte inhaltliche Positionen und soziale Gruppen bevorzugt. Zum einen zeigen immer mehr empirische Studien, dass nicht alle Bürgerinnen gleich gut durch die Parlamente repräsentiert werden. In der »Diplomiertendemokratie« (Bovens/Wille ) stimmen die Einstellungen der Abgeordneten mit jenen der Gruppen überein, die über höhere Bildungsabschlüsse verfügen und in qualifizierten Berufsgruppen tätig sind, wohingegen eine deutliche Kluft gegenüber denjenigen mit weniger Ressourcen besteht. Die von den Parlamenten getroffenen Entscheidungen spiegeln die 

Präferenzen der Bessergestellten wider. Die Anliegen der Armen und vor allem Bildungsarmen werden im Allgemeinen nur dann umgesetzt, wenn sie mit denen höherer Bildungsund Berufsgruppen übereinstimmen. Beamte oder Unternehmerinnen sind nicht nur im Deutschen Bundestag numerisch überrepräsentiert, sondern sie werden auch durch die dort getroffenen Entscheidungen bevorzugt. Zum anderen sind immer mehr Entscheidungsbefugnisse auf nichtmajoritäre Institutionen übertragen worden, die nur indirekt legitimiert sind und nicht durch Abwahl sanktioniert werden können. Dazu zählen Gerichte und Zentralbanken, aber auch die Europäische Kommission und internationale Institutionen. Diese NMI s werden eingerichtet, um Entscheidungen dem politischen Streit zu entziehen und sie Fachleuten zu überantworten. Doch die vermeintlich epistemisch richtigen Entscheidungen haben politische Auswirkungen und sind in ihrer Ausrichtung nicht neutral: Insbesondere internationale NMIs haben das Ziel, das freie Spiel der Märkte grenzüberschreitend zu erleichtern und individuelle Rechte gegenüber kollektiven Einschränkungen zu verteidigen. Dies mag in vielen Fällen normativ wünschenswert sein, fördert aber stärker die Anliegen der liberalen Globalisten mit guter Ressourcenausstattung als die der schlechter Ausgebildeten und regional Gebundenen. Das Zusammenspiel von ungleicher Responsivität der Parlamente und ihrer partiellen Entmachtung verschärft die politische Ungleichheit und wird auch so wahrgenommen. Der gegenwärtigen Demokratie wird zunehmend ein Mangel an Offenheit und Repräsentativität attestiert. Diejenigen, die diese Einschätzung teilen, wählen vermehrt autoritäre Populisten. Das Ganze hat eine soziale Schlagseite: In Umfragen stimmen Menschen mit geringerer Bildung oder mit Berufen mit geringerem sozialem Status viel häufiger den Aussagen zu, 

dass Politik nur von einer geschlossenen Kaste gemacht wird und dass Leute »wie man selbst« keine Einflussmöglichkeiten besitzen.Wer den Eindruck gewinnt, »die da oben« seien unerreichbar oder taub für die eigenen Anliegen, wendet sich häufiger resigniert von der Politik ab oder autoritär-populistischen Parteien zu. Mit »denen da oben« können dabei sowohl die Vermögenden gemeint sein, die kein Verständnis für die sozial schlechter Gestellten aufbringen, als auch die liberalen Besserwisser, die von den Sorgen eines Kleinunternehmers keine Ahnung haben. Jedenfalls spielt man nicht länger mit oder versucht, das Spiel zu torpedieren, wenn die Karten gezinkt sind oder als gezinkt wahrgenommen werden (Solt , S. ). Diese Schieflage ernst zu nehmen, ist allerdings viel schwieriger, als eine Gruppe von Bürgerinnen als hoffnungslos verblendet abzuschreiben oder auf die List des Fortschritts zu setzen. Obwohl zeitgenössische Populistinnen den Finger in die Wunde der liberalen Demokratie legen, lösen ihre Antworten keine Probleme. Nichts spricht dafür, dass der autoritäre Populismus der Demokratie guttut. Wo autoritär-populistische Parteien an die Macht gelangt sind, beschädigen sie die Demokratie, statt sie auszuweiten oder bestehende Ungleichheiten abzubauen. Entgegen der weitverbreiteten Ansicht gibt es auch kaum empirische Hinweise, dass die Erfolge populistischer Parteien systematisch die Wahlbeteiligung erhöhen und damit eine Form politischer Ungleichheit abbauen. Die populistische Problemdiagnose wirft wichtige Fragen auf, aber die Antworten sind vom demokratischen Standpunkt aus falsch. In Brasilien, Indien, Polen, Ungarn oder den USA hat die Qualität der Demokratie abgenommen, weil das Hauptanliegen der Populisten darin besteht, die eigene Macht zu erhalten und die Gewaltenteilung auszuhöhlen. Gefangen in der Gegenüberstellung von »wir gegen sie«, werden andere 

Parteien als Feinde aufgefasst. Gleichzeitig wird jede Kritik durch Medien oder die Korrektur durch Gerichte als Angriff verstanden. Wer glaubt, die unverfälschte Stimme des (monistischen) Volks zu sein, ist zu Kompromissen nicht bereit und akzeptiert auch nicht Machtteilung als Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. Im Gegensatz zur Vergangenheit findet die demokratische Regression durch gewählte Regierungen statt. Es rollen keine Panzer durch die Straßen, die Funkhäuser werden nicht gewaltsam besetzt und Oppositionelle nicht hingerichtet. Aber Gerichte werden manipuliert oder entmachtet, Redakteurinnen ausgetauscht, Fernsehsender zur Pressestelle der Regierung umgewandelt und Wahlen manipuliert, um keine Niederlagen fürchten zu müssen. Auch die ungeschriebenen Regeln der Demokratie werden durch Populisten missachtet oder nur eingehalten, wenn sie den eigenen Zielen nützen (Levitsky/Ziblatt ). Der Fortschrittsoptimismus, der nach dem Ende des Kalten Krieges herrschte, hat seit der Jahrtausendwende schwere Schäden erlitten. Zum einen sehen wir einen Rückgang der Anzahl der Demokratien und zum anderen einen Rückgang der demokratischen Qualität in konsolidierten Demokratien. In den letzten fünfzehn Jahren hat eine demokratische Regression stattgefunden, deren Ausmaß Huntington zu Beginn der neunziger Jahre allenfalls erahnen konnte. Sollte sich dieser Abschwung als ein vorübergehender erweisen, an den sich eine weitere Ausbreitung und Konsolidierung der Demokratie anschlösse, ließe sich die Autokratisierungsphase vermutlich aushalten. Doch es gibt gute Gründe anzunehmen, dass die enorme Ausbreitung der Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg an Voraussetzungen gebunden war, die in dieser Form nicht mehr fortbestehen. Das Regime des »eingebetteten Liberalismus« erlaubte es, internationale 

Integration mit nationaler Autonomie zu versöhnen. Gerade besonders offene Volkswirtschaften wiesen einen gut ausgebauten Sozialstaat mit hohen Steuerquoten auf (Katzenstein ). Globalisierung und europäische Integration machen es schwieriger, nationale »Varianten des Kapitalismus« oder »Welten des Wohlfahrtsstaats« aufrechtzuerhalten, weil der Standortwettbewerb die Kosten des Schutzes der Benachteiligten erhöht hat. Gleichzeitig hat die Eingriffstiefe internationaler Organisationen in die nationale Politik zugenommen und in fast allen Bereichen Regulationsspielräume verringert. Die Globalisierung hat eine neue Konfliktlinie aufbrechen lassen. Diese hat eine soziostrukturelle (globalisierungstaugliche Bildung oder nicht) und eine ideelle Grundierung (Kosmopolitismus vs. Kommunitarismus). Die liberalen Globalistinnen und autoritären Populisten sind dabei die organisatorischen Protagonisten. Vieles spricht dafür, dass sich dieser Gegensatz in die politischen Systeme einschreibt und keine schnell vorübergehende Angelegenheit darstellt. Die Strategien, die sich aus den drei Entlastungsnarrativen ableiten lassen – Abwarten, Abtun und Abwiegeln –, sind daher wenig erfolgversprechend. Die Politik steht vor dem Dilemma, dass sich die Spannung zwischen notwendiger grenzüberschreitender Kooperation und demokratischen Entscheidungen nicht einseitig auflösen lässt. Eine »dritte Transformation« der Demokratie, die auf supranationaler Ebene reproduziert, was auf nationaler Ebene gelungen war, ist noch nicht in Sicht. Gleichzeitig steigt jedoch der Bedarf, die Passgenauigkeit von politischen Entscheidungsbefugnissenundzunehmendgrenzüberschreitenden wirtschaftlichen Transaktionen oder globalen ökologischen Problemen zu erhöhen. Zwischen halbwegs funktionierender demokratischer Mitsprache und politischer Problemlösungsfähigkeit besteht ein Spannungsverhältnis, das sowohl 

ein naiver Kosmopolitismus als auch der nationalistisch gewendete Kommunitarismus auf je eigene Weise leugnen. Für die erste Gruppe ist Demokratie jenseits des Staats möglich und nicht an spezifische Voraussetzungen gebunden, die bislang vor allem in Nationalstaaten erfüllt waren. Zwar ist die Demokratie tatsächlich weder logisch noch normativ unentrinnbar mit Nationalstaaten verknüpft, doch historisch besteht ein Zusammenhang, der nicht einfach ignoriert werden kann. Autoritäre Populisten bestreiten im Gegensatz dazu die Notwendigkeit grenzübergreifender Zusammenarbeit. »Make America Great Again« beruht auch auf der Vorstellung, durch weniger internationale Kooperation erfolgreicher zu sein und Verantwortung anderen gegenüber ablegen zu können. Der Klimawandel muss aus dieser Sicht bestritten werden, weil sonst zugestanden werden müsste, dass dieses Problem ohne Zusammenarbeit nicht zu lösen ist. Es dürfte daher auch kein Zufall sein, dass die Coronapandemie gerade von populistischen Regierungen heruntergespielt wurde (etwa von Bolsonaro, Trump und – zunächst – Johnson), selbst wenn es dadurch zu Tausenden vermeidbaren Todesfällen kam. Lieber nimmt man die Folgen des Virus in Kauf, als die Notwendigkeit internationaler Kooperation und die Bedeutung wissenschaftlicher Expertise anzuerkennen. Das Dilemma besteht also im Kern darin, international zusammenarbeiten zu müssen, aber keine geeignete Antwort gefunden zu haben, wie dies demokratisch gelingen kann. Aus dem Aufstieg des autoritären Populismus ziehen manche Beobachterinnen den Schluss, das Elend der Demokratie liege in einer Überdehnung. Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist in der Regel ein Ansatz, der eine ökonomische Logik auf politische Prozesse überträgt. Ob Menschen sich politisch engagieren oder auch nur informieren, hängt demnach davon ab, ob aus ihrer Sicht der Nutzen größer ist als 

die Kosten. Da es aber mühsam ist, sich auf dem neuesten Stand zu halten, und da politische Partizipation mit vermeintlich lohnenderen oder unterhaltsameren Beschäftigungen konkurriert, sind die Kosten schon generell hoch zu veranschlagen. Im Zeitalter der Globalisierung sowie der regionalen und supranationalen Mehrebenenpolitik sind sie noch einmal enorm gestiegen. Gleichzeitig sinkt der wahrgenommene Nutzen, weil die Offenheit der politischen Systeme abgenommen und die Anzahl relevanter Institutionen zugenommen hat. Es wird somit für den Einzelnen noch schwieriger, Gehör zu finden. Viele Wählerinnen sind der Ansicht, ihre eigene Stimme habe keinerlei Gewicht. Aus diesen Annahmen über die politische Motivation wird abgeleitet, dass die meisten Menschen sich aus guten Gründen dagegen entscheiden, politisch informiert zu sein. Deshalb, so Schumpeter ( [], S. ) in einer berühmt-berüchtigten Formulierung, falle der typische Bürger auf ein geringes gedankliches Niveau, wenn es um Politik geht. Das Problem der Demokratie bestehe darin, dass die Menschen rational ahnungslos seien, aber gleichzeitig mitentscheiden dürften. In jüngerer Zeit lebt diese Perspektive auf Politik auf. Bryan Caplan () vergleicht die ökonomischen Einstellungen normaler Bürger mit denen von Doktorandinnen der Wirtschaftswissenschaften und kommt zu dem Schluss, die meisten Menschen hätten keine Ahnung und man solle nicht auf sie hören. In seinem populär-philosophischen Buch Gegen Demokratie unterteilt Jason Brennan () die Bevölkerung in drei Gruppen: »Vulkanier«, »Hobbits« und »Hooligans«. Die Demokratie erfordere, so das Argument, Vulkanier, die emotionsfrei und vollkommen rational Vor- und Nachteile politischer Entscheidungen abwögen, sich von guten Argumenten überzeugen ließen und sich stets umfassend informierten. Doch unglücklicherweise entsprächen nur we

nige Menschen diesem Ideal. Dagegen wimmele es, so Brennan, von Hobbits, die sich nur um ihren Nahbereich kümmerten und sich selten mit Politik beschäftigten. Neben dieser eher harmlosen Gruppe der Indifferenten gebe es politische Hooligans, die zwar leidenschaftlich, aber vollständig taub für rationale Argumente seien. Hobbits und Hooligans, die Habermas’Albträumen entsprungen zu sein scheinen, seien untauglich für die Demokratie und müssten deshalb möglichst elegant ausgeschlossen werden. Aus diesem Grund schlägt Brennan unter anderem einen Eignungstest vor, den ablegen muss, wer wählen möchte. Wenn nur noch die Vernünftigen wählten, wären auch die Wahlergebnisse vernünftiger, wodurch bessere Entscheidungen getroffen würden. Diese Beispiele für die neu aufgelegte elitäre Demokratietheorie liefern eine komfortable Erklärung für die Krise der Demokratie für diejenigen, die sich selbst als Mr. Spocks sehen: Die Dummheit der Menschen weckt die Monster des Populismus. Diese Sichtweisen sind normativ nicht zu verteidigen.Vor allem aber verwechseln sie Ursache und Rezept. Die Beschränkung des Demokratiespiels auf die Vulkanier taugt schon allein deshalb nicht zur Lösung, weil sie einfach einen Trend der letzten Jahrzehnte formalisieren und festschreiben würde: die Beschränkung der Zugänge zum politischen Entscheidungssystem auf die besser Gebildeten, die transnationales Sozialkapital besitzen und einer qualifizierten Berufsgruppe angehören. Es ist aber genau diese Beschränkung, die Widerstand hervorruft und die autoritären Populisten stärkt. Der Vorschlag von Caplan und anderen beschleunigt nur die doppelte Entfremdung von der Demokratie, die wir konstatiert haben: Sie würde das politische System noch weiter von den demokratischen Idealen entfernen und damit noch mehr autoritären Widerstand gegen das politische System hervorrufen. 

Wenn es zutrifft, dass Menschen auch deshalb unzufrieden mit der Funktionsweise der Demokratie sind, weil es gute Gründe gibt, unzufrieden zu sein, müssen wir darüber nachdenken, wie die Entfremdung der Demokratie gebremst und die Demokratie demokratischer werden kann. Dabei gilt es aus unserer Sicht, zehn Punkte zu beachten. Wir teilen diese Punkte in vier Gruppen auf: () allgemeine Empfehlungen für die Politik, konkretere Empfehlungen für institutionelle Reformen auf der () nationalen sowie der () europäischen und internationalen Ebene sowie () eine Empfehlung für die politische Bildung, die wiederum einen sehr allgemeinen Charakter hat.

. Allgemeine Empfehlungen Wir beginnen mit drei Überlegungen, die an politische Haltungen appellieren und nur indirekt Reformen implizieren. . Der technokratischen Verlockung widerstehen: Krisen erfordern schnelles Handeln ohne lange politische Debatte. Wenn ein »Run« auf die Geldautomaten oder die Ausbreitung des Virus verhindert werden müssen, bleibt wenig Zeit für Deliberation. Deshalb sind Krisen die Stunde der Exekutive und der nichtmajoritären Institutionen. Als der damalige EZB -Präsident Mario Draghi angesichts von Spekulationen über und auf einen Zusammenbruch des Euro sein berühmtes »Whatever it takes«-Diktum formulierte, war das auch deshalb wirkungsvoll, weil die EZB unmittelbar handlungsfähig war und die eigenen Maßnahmen nicht in einem langwierigen parlamentarischen Verfahren beschließen musste. In Krisen sind die Exekutive und Expertise gefordert, und parlamentarische Entscheidungen werden, falls überhaupt, 

im Schnellverfahren durchgepeitscht. Dies schwächt die Parlamente insgesamt und insbesondere die Opposition, die kaum noch öffentlich durchdringt. Nun mag dies in Zeiten unmittelbarer Gefahr gerechtfertigt sein, aber aus diesem Krisenmodus darf kein Normalzustand werden. Doch gerade weil Aushandlungsprozesse mühselig sind, kann es verlockend sein, an Öffentlichkeit und Parlamenten vorbei zu entscheiden. In der politikwissenschaftlichen Literatur wird deshalb seit einiger Zeit darauf hingewiesen, dass es neben der populistischen auch die technokratische Versuchung gibt. Technokratie und Populismus teilen die Skepsis gegenüber der Trägheit parteipolitischer und parlamentarischer Entscheidungen. Mit mehr oder weniger unverhohlener Bewunderung wird insbesondere auf China, aber auch andere Autokratien wie Singapur geblickt, wo sich Projekte in kurzer Zeit durchsetzen lassen, ohne durch die vielfältigen Einspruchsmöglichkeiten aufgehalten zu werden, die eine rechtsstaatliche Demokratie bietet. Gerechtfertigt werden technokratische Entscheidungen durch die vermeintlich überlegenen Ergebnisse. Es ist jedoch fast immer umstritten, welche Ergebnisse wünschenswert sind oder welcher Weg der beste zu einem gegebenen Ziel ist. Zwar legitimieren sich alle politischen Systeme auch über die Politikergebnisse (»Output-Legitimation«), aber diese sind kein Ersatz für demokratische Verfahren. Schon einmal in der jüngeren Geschichte gab es Befürchtungen über die planerische Überlegenheit eines nichtdemokratischen Systems. Als die Sowjetunion am . Oktober  den Start des ersten künstlichen Erdsatelliten Sputnik  verkündete und gleichzeitig auf einige Jahre mit beeindruckenden Wachstumsraten zurückblicken konnte, löste dies in den westlichen Demokratien einen Schock aus. Würde der Wes

ten ökonomisch und technisch über kurz oder lang vom Sowjetkommunismus eingeholt und abgehängt? Aus heutiger Sicht klingen die damaligen Befürchtungen schon beinahe absurd. Dass dem so ist, hat freilich auch damit zu tun, wie die westlichen Demokratien sich nach dem sogenannten Sputnikschock entwickelten. Zu nennen sind hier etwa das erfolgreiche Nasa-Programm und die Mondlandung im Jahr . Wichtiger dürfte jedoch gewesen sein, dass die langen sechziger Jahre zu einem Jahrzehnt der Demokratisierung wurden. Im civil rights movement in den USA , in den studentischen Unruhen in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts und den vielfältigen demokratischen Reformregierungen von John F. Kennedy, Olof Palme, Willy Brandt und vielen anderen war die Antwort »Mehr Demokratie wagen«. Diese Antwort beruhte auf dem Glauben an die Überlegenheit der Demokratie. Ökonomen unterscheiden zwischen statischer Effizienz und dynamischer Effizienz. Die statische Effizienz bestimmt, wie bei konstanten Rahmenbedingungen ein bestimmtes Ziel zu geringstmöglichen Kosten erreicht werden kann. Die dynamische Effizienz zielt auf die beste Lösung angesichts sich stetig verändernder Rahmenbedingungen und setzt auf sukzessive Anpassungen, Zweitrundeneffekte und sich ändernde Wirkungen im Zeitverlauf. Auch wenn es Situationen geben mag, in denen autoritäre oder technokratische politische Systeme sich im Sinne der statischen Effizienz als überlegen erweisen, ist die Demokratie besser geeignet, um dynamische Effizienz zu erreichen. Wir sollten also der technokratischen Neigung widerstehen und stattdessen über neue Demokratisierungsmöglichkeiten nachdenken, um den Stillstand zu überwinden. Die bisweilen quälend langsame Umsetzung von Projekten in den westlichen Demokratien hat nämlich oft weniger mit der de

mokratischen Entscheidungsform als mit der bürokratisierten und stark verrechtlichten Umsetzungsform zu tun. Die kann man demokratisch angehen. Technokratische Politikansätze hingegen teilen mit dem Populismus nicht nur dessen Abneigung gegen ein prozedurales, deliberatives Demokratieverständnis, sondern auch den Dezisionismus und die Vorstellung, es gelte schlicht, das Richtige zu tun – und was richtig ist, sei unter vernünftigen Menschen und gegebenen Rahmenbedingungen ohnehin nicht strittig. . Den Bürgerinnen vertrauen: Angesichts vermeintlich irrationaler Entscheidungen wie dem Brexit und »falscher« Wahlentscheidungen in Brasilien, Ungarn und den USA wächst in den etablierten Parteien die Bürgerverdrossenheit. Häufig hört man die Klage, die Bürgerinnen verstünden nicht, was die Politik alles leiste – und das, obwohl Menschen, die sich besonders laut beschwerten, auffällig wenig über die Hintergründe von Politik wüssten. Die verbreitete Müdigkeit, sich weiter mit dem undankbaren Volk auseinandersetzen zu müssen, ist überdies eine Triebfeder für die oben beschriebene technokratische Versuchung. Die Bürgerverdrossenheit speist sich auch daraus, dass sich in Umfragen zeigt, dass Kandidatinnen für den Bundestag – mit Ausnahme der A fD – die Funktionsweise der deutschen Demokratie sehr positiv bewerten, wohingegen in der Bevölkerung skeptische Haltungen weitverbreitet sind. Diese Kluft könnte dazu anregen, darüber nachzudenken, weshalb die Wahrnehmungen auseinandergehen, aber sie kann auch als Nachweis gelesen werden, wie wenig die Menschen von Politik verstehen. Die zweite Interpretation birgt das Risiko einer weiteren Entfremdung in sich. Stattdessen wäre es besser, Demokratiepolitik zu ermöglichen. So könnte in Bürgerversammlungen diskutiert werden, welche Vorstellungen von Demokratie die 

Bürgerinnen haben und welche Mitsprachemöglichkeiten sie sich wünschen. Denn fast so groß wie das Misstrauen in die Politik ist der Wunsch, mitwirken zu können. Der Verfassungskonvent in Irland bietet ein Beispiel, wie auch komplexe Themen unter Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger verhandelt werden können (Farrell et al. ). Aber ein solcher Aushandlungsprozess muss ein konkretes Ziel haben und darf nicht folgenlos bleiben. Um sich auf einen solchen Weg einzulassen, müsste die Politik allerdings zuerst akzeptieren, dass auch eine im internationalen Vergleich gut funktionierende Demokratie verbessert werden kann. Demokratie ist stets ein unabgeschlossener Prozess. Dabei sollte den Bürgerinnen und der Bürgerbeteiligung vertraut werden. . Kontexte der Ungleichheit abbauen: Zwischen der Einkommensverteilung und dem Erfolg autoritär-populistischer Parteien besteht nur ein schwacher direkter Zusammenhang. Dennoch sind Ungleichheit und Unsicherheit Triebfedern politischer Entfremdung, die ihrerseits einen Nährboden für den Populismus bilden. Je stärker Menschen empfinden, dass ihre Einkommen unsicher sind, desto weniger vertrauen sie der Politik, so dass ein enger Zusammenhang zwischen ökonomischer Unsicherheit und politischem Misstrauen besteht (Norris/Inglehart , S. -). Politische Enttäuschung ist dabei in Regionen, die einen relativen Abstieg erlebt haben, besonders ausgeprägt: In Teilen des Ruhrgebiets, im amerikanischen Rust Belt, in Nordengland oder im Nordosten Frankreichs (Gest ; McQuarrie ). In einer bestimmten Weise trifft das auch auf Teile der neuen Bundesländer zu. Ein auffälliges Merkmal der jüngeren Zeit ist genau diese Auseinanderentwicklung von Regionen. Die entstehenden regionalen Unterschiede bündeln und verstärken auch zunehmend die drei Dimensionen der Ungleichheit. Zu 

den geringeren Einkommen und Vermögen kommt das Gefühl, besonders weit vom politischen Zentrum entfernt und kulturell abgekoppelt zu sein. Es entstehen Kontexte der Ungleichheit. Die sozialräumliche Konzentration von Menschen mit schlechteren Lebenschancen in allen drei Dimensionen untergräbt das Gefühl, Teil einer Gesellschaft zu sein und von denen als gleich anerkannt zu werden, denen es besser geht (Sandel ). Wir glauben nicht, dass es simple wirtschaftspolitische Maßnahmen gibt, die den autoritären Populismus verschwinden lassen, aber die Politik hat die Anforderung, gleiche Lebensverhältnisse herzustellen, aus den Augen verloren. Das gilt ganz besonders für unterschiedliche geografische Räume. Es geht darum, diese Kontexte der Ungleichheit abzubauen. Denn Demokratie beruht auf politischer Gleichheit. Der autoritäre Populismus hingegen betont die Differenz.

. Reformen der nationalen politischen Systeme Ein zweites Bündel unserer Empfehlungen bezieht sich konkreter auf die institutionelle Gestaltung demokratischer Entscheidungen in nationalen politischen Systemen. Welche demokratischen Reformen könnten die beschriebene Problematik lindern? Wir beginnen mit dem Offensichtlichen. . Falsche Reformen vermeiden: In der Gesellschaft gibt es Initiativen, wie etwa »Mehr Demokratie e.V.«, die sich seit Jahren für politische Reformen einsetzen. Doch die durch sie angestoßenen Reformen der vergangenen Jahre haben eher Wünsche der Mittelschicht befriedigt, als die Demokratie ernsthaft auszuweiten. Die Wahlrechtsreformen in Hamburg oder Bremen haben Panaschieren und Kumulieren und damit 

vermeintlich mehr Mitsprache ermöglicht; dadurch ist aber zugleich ein Wahlrecht entstanden, das übermäßig kompliziert ist und zulasten von Menschen geht, die sich weniger intensiv mit Politik befassen. In Gegenden, wo die Wahlbeteiligung niedrig ausfällt, ist die Anzahl ungültiger Stimmen zusätzlich angestiegen. Mehr Demokratie – wenn mehr Auswahlmöglichkeiten dazu zählen – wurde hier nur für manche geschaffen (Schäfer/Schoen ). Auf ähnliche Weise fehlgeleitet war die Einführung von Bürgerhaushalten in Deutschland. Im Gegensatz zu den lateinamerikanischen Vorbildern wurden hier Pseudobeteiligungsmöglichkeiten geschaffen, weil nur selten die Entscheidungsgewalt für ein festgelegtes Budget an die Bürgerinnen übertragen wurde. Letztlich verblieb die Hoheit über die Ausgaben bei der städtischen Verwaltung (Geißel et al. ). Doch wer Beteiligung wünscht, muss die Bürgerinnen tatsächlich entscheiden lassen. Falsche Reformen sind solche, die entweder den Akademikerüberschuss verstärken oder primär symbolischen Charakter haben und somit die Schere zwischen Rhetorik und Realität wachsen lassen. Zwei Dinge scheinen dabei besonders wichtig. Zum einen sollte eine verstärkte Bürgerbeteiligung die politische Selektivität der Parlamente nicht einfach wiederholen oder sogar verschärfen. Die Beteiligung sollte daher auf Los- oder ähnlichen Verfahren beruhen. Dadurch wird die Mitwirkung von denen befördert, die sonst nicht mitmachen würden. Die Logik der Mini-Öffentlichkeiten kann dabei als Vorbild dienen (Bächtiger et al. ; Lafont ). Zum anderen ist bei einer solchen Bürgerbeteiligung die Gleichzeitigkeit wichtig. Gerne finden sogenannte deliberative Bürgerinnenforen sehr frühzeitig im Prozess der Politikentwicklung statt. Die Ergebnisse werden dann in den weiteren politischen Prozess eingespeist, an dem eben nicht nur Parlamentarierinnen, son

dern auch Experten und Bürokratinnen beteiligt sind. Am Ende sind die ursprünglichen Vorschläge dann kaum noch zu erkennen. Das birgt Potenzial für weitere Frustrationen. Werden Expertinnen, Bürokraten und Bürgerinnen gleichzeitig eingebunden, kann der Wille der Beteiligten mit sachlichen Notwendigkeiten abgeglichen werden; gleichzeitig wächst im Idealfall das Verständnis für rechtliche und technische Limitationen. . Rekrutierungsmuster der Parteien ändern: Warum partizipieren Menschen nicht? Weil sie es nicht wollen, weil sie es nicht können und weil sie niemand dazu auffordert – so lautet eine berühmte Faustregel in der Politikwissenschaft (Brady et al. , S. ). Sie wollen es nicht, weil ihnen das politische System unzugänglich erscheint oder sie sich schlicht nicht für Politik interessieren; sie können es nicht, weil Ressourcen ungleich verteilt sind; und sie werden nicht aufgefordert, weil die Rekrutierungsmuster in den Parteien hoch selektiv sind. In einer Studie zu der Frage, warum Arbeiterinnen in den USA politisch so schwach repräsentiert sind, weist Nicholas Carnes () nach, dass die Auswahlprozesse in den Parteien selbst motivierte und kompetente Menschen ausschließen. Wenn nach geeigneten Kandidaten gesucht wird, werden diejenigen in Betracht gezogen, die den schon Aktiven ähneln – weshalb Männer ohne Migrationshintergrund und mit akademischem Abschluss ausgewählt werden. Daher sollten gezielt Menschen angesprochen und motiviert werden, die diesem Muster nicht entsprechen (Carnes ; Crowder-Meyer ). Die Zusammensetzung der Parlamente beeinflusst nicht nur die dort getroffenen Entscheidungen, sondern sendet auch ein Signal an die Wahlberechtigten. So zeigt Oliver Heath () für Großbritannien, dass das Verschwinden von Abgeordneten aus der Arbeiter

schaft eng mit dem Rückgang der Wahlbeteiligung unter Arbeiterinnen und Arbeitern verbunden ist. Die soziale Kluft zwischen Repräsentantinnen und Repräsentierten schadet auch auf andere Weise. Repräsentation verlangt, so jedenfalls das Ideal, einen andauernden Dialog zwischen den Gewählten und den Bürgerinnen. Wer die Bevölkerung vertritt, muss zwar dem eigenen Gewissen folgen, aber seine Entscheidungen begründen und erklären – insbesondere, wenn diese den Präferenzen der Repräsentierten widersprechen. Doch während das politische System in Deutschland zahlreiche Aushandlungsprozesse auf der Ebene der Eliten erfordert – innerhalb von Koalitionen, aber auch zwischen Bundestag und Bundesrat –, droht der Dialog mit den Regierten zu kurz zu kommen. Mit Blick auf die Unterrepräsentation von Frauen in der Politik wird seit Jahren über Quotenregelungen diskutiert. Nach anfänglichen Widerständen ist die gleichmäßige Repräsentation der Geschlechter inzwischen in vielen Parteien und Gremien auf unterschiedlichen Wegen und in unterschiedlichem Ausmaß Realität geworden. Selbst die konservative CDU möchte nun eine Quote einführen und bis  eine :-Verteilung bei den Mandaten erreichen. Wir fragen an dieser Stelle – bewusst provokativ –, ob die noch immer vorhandene ungleiche Geschlechterrepräsentation im Parlament im Vergleich zur ungleichen Repräsentation von Bildungs- und Berufsgruppen nicht ein relativ kleines Problem darstellt. 1 Dabei soll nicht das eine gegen das andere ausgespielt werden.Wer die Entfremdung von der Demokra Um Missverständnisse zu vermeiden: Das »relativ kleine Problem« bezieht sich auf die Repräsentation von Frauen in Parteien und Parlamenten. Wir erachten die Ungleichbezahlung der Geschlechter bei gleicher Arbeit und die verschiedenen Formen von sexueller Gewalt als ein großes Problem. 

tie bekämpfen will, muss aber nicht nur dafür Sorge tragen, dass Frauen mit Hochschulabschluss den Eindruck haben, gehört zu werden. Aus der Perspektive einer Entfremdung von der Demokratie müssen auch andere unterrepräsentierte Gruppen gleichgestellt werden. Niemand fordert Quoten für alle Gruppen. Aber für das Gleichheitsversprechen der Demokratie ist entscheidend, dass diejenigen durch Rekrutierungsverfahren positiv diskriminiert werden, die relativ gesehen am schlechtesten vertreten sind. Männer und vor allem Frauen mit Migrationshintergrund und aus dem Dienstleistungsprekariat sind in der Politik nicht nur unterrepräsentiert, sondern fast gar nicht zu finden. . Mehr öffentliche Kontrolle über nichtmajoritäre Institutionen: NMI s dürfen aus der Politik nicht verschwinden, weil es Regelungsbereiche mit hohen technischen Anforderungen gibt und weil sowohl die Demokratie als auch Minderheiten Schutzmechanismen vor den Leidenschaften der Bevölkerung brauchen (Preuß ). Doch wenn es stimmt, dass die Handelnden in diesen Institutionen deutlich kosmopolitische Neigungen haben (Kapitel ), muss die Transparenz der dort getroffenen Entscheidungen erhöht werden. Das erstrangige Ziel sollte dabei die verstärkte Konsultation der Bürgerinnen sein. In jedem parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren werden Unmengen von Juristinnen, Ökonomen und andere sachspezifische Expertinnen gehört. Die Mehrheit hört sich also die Expertise an, bevor sie entscheidet. Spiegelbildlich sollte die Expertise auch verstärkt die Mehrheit anhören, bevor sie urteilt. Es bedarf Verfahren zur Konsultation der Gruppen, die von der Entscheidung einer NMI betroffen sind. In einem gewissen Ausmaß gibt es das natürlich schon, aber zumeist auf einem vergleichsweise geringen Niveau. Die Bürgersprechstunden des typischen 

Zentralbankers halten sich in Grenzen. Eine solche Konsultation soll auch nicht die Unabhängigkeit beispielsweise von Richterinnen infrage stellen. Das Entscheidungsprinzip der NMI s soll unangetastet bleiben. Es geht um Transparenz und um eine Perspektivenerweiterung aufseiten derjenigen, die die Entscheidungen treffen. 2 Zudem sollten Gerichte insofern zurückhaltend bleiben, als sie der Politik keine allzu detaillierten Vorschriften dazu machen sollten, was sie tun kann. Grundrechteschutz sollte Handlungsspielräume definieren, aber keine politischen Entscheidungen vorwegnehmen. Unterschiedliche politische Mehrheiten sollten die Möglichkeit haben, unterschiedlich zu entscheiden, solange die infrage stehende Norm gewahrt wird. In der EU hieße dies zudem, dass es eine Vielfalt der nationalen Umsetzung von EU -Gesetzen geben kann (wie dies bei Richtlinien gewährleistet ist). Aus demokratietheoretischer Sicht ist es nicht wünschenswert, wenn Gerichte an die Stelle der Gesetzgeber treten. Gewaltenteilung verlangt auch eine Selbstbeschränkung der Judikative.

. Reformen jenseits des Nationalstaates Reformen sind aber auch mit Blick auf die europäischen und internationalen Institutionen notwendig. Aus der richtigen Beobachtung, dass internationale Institutionen nur sehr schwer demokratisiert werden können, darf nicht gefolgert werden, es erst gar nicht zu versuchen.  Ähnlich wie bei den Parteien müsste auch hier über Rekrutierungsmuster nachgedacht werden. Wenn wir an NMIs wie das Bundesverfassungsgericht oder den Europäischen Gerichtshof denken, lassen sich die Besetzungsverfahren natürlich nur begrenzt öffnen. In solchen Fällen könnten heterogen besetzte Beiräte geschaffen werden. 

. Die Europäische Union demokratisieren: Mit Blick auf die EU wurde rund um die Europawahl  leidenschaftlich diskutiert, ob das Spitzenkandidatenprinzip die Union demokratischer machen würde. Die Idee bestand darin, die Kommissionspräsidentschaft an das Wahlergebnis zu knüpfen, so dass nur Präsidentin werden könne, wer zuvor als Spitzenkandidatin angetreten war. Bekanntlich kam es fürs Erste anders. Isoliert betrachtet, hätte eine solche Verknüpfung allerdings wenig zu einer Demokratisierung der EU beigetragen (vgl. auch Grande/Vidal ). Vielmehr müsste sie in ein Bündel von Reformen eingebettet werden. Zum einen sind Wahlen nur dann Wahlen, wenn man mit vertretbarem Aufwand wissen kann, welcher Inhalt tatsächlich in der zu wählenden »Verpackung« enthalten ist. Es muss also von vornherein feststehen, wer mit welchen Positionen kandidiert. Dabei kann es nicht allein um Gesichter gehen. Entscheidend sind die Positionen und Überzeugungen hinter den Gesichtern und die verlässliche Übersetzung der mit einer Wahl verbundenen Präferenzen in europäische Entscheidungsverfahren. Erst dann kann das Gefühl entstehen, »Ja, dieses Mal habe ich verloren, aber nächstes Mal kann ich gewinnen«. Politischer Wettbewerb in den europäischen Institutionen ist dafür die Grundvoraussetzung. Dazu bedarf es transnationaler Wahllisten und der Vorabstimmung der europäischen Parteienfamilien auf ein Programm. Dann drehen sich die Wahlkämpfe nicht länger vorrangig um nationale Interessen oder um das Abstrafen der nationalen Regierung. Vielmehr müssen Argumente dazu vorgetragen werden, was der richtige Weg für Europa ist. Es geht dabei also auch um die Denationalisierung der öffentlichen Debatten. Zudem bedarf es des Verzichts des Europäischen Rates, im Nachhinein bei der Kandidatenbestimmung einzugreifen. 

Zum anderen gilt es zu beachten, dass das Spitzenkandidatenprinzip parlamentarischen Systemen entlehnt ist, wo sich die Regierung auf eine Mehrheit im Parlament stützen muss. Dabei stellt die stärkste Fraktion meistens, aber nicht immer die Exekutivchefin. Das Europäische Parlament könnte mittels transnationaler Wahllisten auch Koalitionen zur Wahl einer Kommissionspräsidentin bilden, in denen die stärkste Fraktion nicht vertreten ist. In den nationalstaatlichen parlamentarischen Systemen stammen in der Regel jedoch alle Regierungsmitglieder aus der Koalition, die die Regierung trägt. Die europäischen Kommissarinnen werden hingegen durch die nationalen Regierungen nominiert und bilden dadurch eine übergroße Koalition aus sehr unterschiedlichen Parteien. Es müsste also zusätzlich das Nominierungsverfahren der Kommissare geändert werden. Es zeigt sich, dass die institutionelle Demokratisierung der EU nicht durch isolierte Einzelmaßnahmen gelingen kann. Es bedarf einer breiteren Strategie. Eine solche Forderung ist weitreichend, aber nicht exzentrisch. Selbst im europaskeptischen Großbritannien hat der damalige Senior Adviser Robert Cooper auf die Aufforderung des Premierministers hin ein »Blue Skies«-Papier zur Kommission geschrieben, in dem er der Blair-Administration zur Überwindung des Euroskeptizismus in Großbritannien echte Wahlen vorschlug: Das Problem mit den europäischen Institutionen ist, dass wir ihnen weitreichende – wahrscheinlich zu weitreichende – Befugnisse übertragen haben, dass ihnen aber keiner von uns traut. Wir gehen damit um, indem wir dafür sorgen, dass die Europäische Union schwach ist. Gutes Management besteht aber darin, den Organisationen klare und begrenzte Aufgaben zu übertragen, ihnen die volle Autorität zu geben, diese auszuführen, und sie die Konsequenzen tragen zu lassen, wenn sie es falsch machen. In Europa haben wir genau das Gegenteil getan (Cooper , S. ). 

Vor diesem Hintergrund schlägt er eine »gewählte Kommission« vor. Die Kommission müsste demnach ihre Ideen und Überzeugungen vor den Wählerinnen vertreten. Es geht also nicht um die Gesichter der Spitzenkandidaten, sondern um konkurrierende politische Programme, die in einem Wahlkampf vertreten werden müssen. Wählerinnen sollten in der Lage sein, bestimmten Akteuren bestimmte Politiken und Programme zuzuschreiben. Nur wenn dies gegeben ist, wird die Wahl zur Wahl. . Von der Schweiz lernen: Ein anderer Weg der Demokratisierung der EU ergibt sich aus einem Blick in die Schweiz. In der schon lange anhaltenden Debatte über das Demokratiedefizit der EU werden häufig Anleihen bei klassischen Regierungssystemen wie dem Parlamentarismus oder dem Präsidentialismus gemacht, ohne dass in der EU alle Voraussetzungen dafür gegeben wären (Decker ; Follesdal/Hix ). Wenn man nach Vorbildern sucht, ist es aber vielleicht eher das völlig untypische Schweizer Regierungssystem, wo eine Allparteienregierung im Amt ist, die durch das Parlament (die Bundesversammlung) nicht abgewählt werden kann. Die Beziehung zwischen Exekutive und Legislative entspricht also der in einem präsidentiellen System. Im Parlament kann es dadurch zu wechselnden Mehrheiten bei der Gesetzgebung kommen, was in parlamentarischen Regimen untypisch ist. Der Bundesrat (das ist in der Schweiz die Regierung) muss dagegen in komplexe Aushandlungsprozesse eintreten und sehr unterschiedliche (parteipolitische) Interessen berücksichtigen, ohne dabei die Möglichkeit eines Koalitionswechsels zu haben. Im Ergebnis sind die parlamentarische Kontrolle der Regierung und die Kontrolle der Regierung durch Wahlen vergleichsweise gering. Im Gegenzug haben die Bürgerinnen jedoch unmittelbare 

Einflussmöglichkeiten durch die stark ausgebaute direkte Demokratie. In der Schweiz wird also ein föderales System mit hohen Konsensanforderungen durch direktdemokratische Verfahren angereichert. Im Analogieschluss erfordert das die Einführung europaweiter Referenden zu europäischen Fragen. Das unterscheidet sich grundlegend von nationalen Referenden. Die vorrangigen Ziele solcher Referenden sollten die Kompensation des geringen Einflusses auf die Wahl der Regierung und (ebenfalls ähnlich wie in der Schweiz) die Beförderung von gemeinsamen politischen Debatten in einer multilingualen politischen Gemeinschaft sein (Zürn ). Die Rede vom Fehlen eines europäischen Demos darf jedenfalls kein Grund sein, über Wege zur Konstruktion einer Gemeinschaft erst gar nicht nachzudenken. Natürlich sind und bleiben Referenden eine heikle Angelegenheit. Verteilungsfragen müssen außen vor sein, kleinteilige Themen ebenso. Aber die Abstimmung über konstitutionelle Fragen – etwa zu neuen Verträgen – sollte als Möglichkeit bedacht werden. Jedenfalls wären europaweite Abstimmungen viel besser als einige wenige Abstimmungen in einzelnen Ländern. . Kosmopolitische Leidenschaft: Die Verfechter der liberalen Weltordnung müssen raus aus der politischen Defensive und mit offenem Visier eine kosmopolitische Weltanschauung vertreten. Die weitverbreitete Neigung, auf der internationalen Ebene vernünftige Dinge zu vereinbaren und sie dann zu Hause als alternativlos zu verkaufen, mag kurzfristig die einfachste Strategie sein. Langfristig ist sie aber schädlich, da sie echte gesellschaftliche Debatten und eine öffentliche, ergebnisoffene Auseinandersetzung über die Weltpolitik verhindert. Repräsentation lebt von Begründung und Demokratie von offenem Ideenwettbewerb. Letztlich kann es keinen halbierten Kosmopolitismus geben, der die Entscheidun

gen auf die globale Ebene verlagert und die demokratische Auseinandersetzung im nationalen Rahmen eindämmt. Genau das scheint aber die Strategie vieler liberaler Globalistinnen zu sein. Gestärkt werden durch diesen halbierten Kosmopolitismus freilich die autoritären Populisten. Gerade die Bundeskanzlerin hat in den vergangenen Jahren selten leidenschaftlich für ihre Politik geworben und stattdessen häufig lange geschwiegen oder mit der Unausweichlichkeit von Entscheidungen argumentiert.Wenn dann noch, wie in der Bundesrepublik, die Opposition über den Bundesrat zumindest in Teilen mitregiert, fällt es ihr schwer, sich gegenüber der Regierung abzugrenzen und Alternativen aufzuzeigen. Der Konsensdruck, den das deutsche Regierungssystem ausübt, produziert Entscheidungen, die sich auf eine breite Koalition stützen können, aber zulasten der Unterscheidbarkeit der Parteien und des politischen Streits gehen. Dies schürt die Wahrnehmung, von Populisten reichlich ausgeweidet, dass alle anderen Parteien sowieso dieselbe Politik anstreben. Demokratie braucht Streit und den politischen Wettbewerb. Dieser Streit muss in internationale Institutionen hineingetragen und von dort offensiv in nationale Politik re-importiert werden. Die Instrumentalisierung internationaler Institutionen zur Verhinderung innenpolitischen Streits wird sich langfristig als Sackgasse erweisen. Das ist in erster Linie ein Appell an die Regierenden. Es ist aber auch zu fragen, inwieweit institutionell ein Zwang zur Debatte über internationale Entscheidungen geschaffen wird. Parlamentarische Stunden vor und nach Reisen der Kanzlerin oder wichtiger Minister zu internationalen Konferenzen könnten eine kleine, aber durchaus effektive Maßnahme sein.



. Politische Bildung Demokratien brauchen politische Bildung. Die Ziele der demokratischen Bildung sollten sich freilich veränderten Rahmenbedingungen anpassen und Bürgerinnen darin schulen, mit Widersprüchen, Korrekturen und Zielkonflikten umzugehen. . Ambiguitätstoleranz fördern: Kein Geringerer als Sir Ralf Dahrendorf hat bereits  vom . Jahrhundert als dem autoritären Jahrhundert gesprochen (Dahrendorf ). Früher als andere hat er auch manche der in diesem Buch beschriebenen Entwicklungstendenzen gesehen. Er sagte: Populismus ist einfach, Demokratie ist komplex: Das ist am Ende vielleicht das wichtigste Unterscheidungsmerkmal zwischen den beiden Formen des Bezuges auf das Volk. Man muss es noch genauer sagen. Populismus beruht auf dem bewussten Versuch der Vereinfachung von Problemen. Darin liegt sein Reiz und sein Erfolgsrezept. (Dahrendorf  [])

Gehen wir noch weiter zurück, nämlich ins Jahr . Da gab derselbe Sir Ralf Dahrendorf einige Monate vor dem Mauerfall ein einstündiges Videointerview. Der Interviewer, Harry Kreisler von der University of California in Berkeley, fragt ihn darin zum Abschluss, welche eine Botschaft er an junge Menschen senden wolle. Seine Antwort: »Lebt mit Komplexität. […] Die Welt ist kompliziert, versucht sie nicht zu vereinfachen.« 3 In den über dreißig Jahren seit diesem Interview hat die Vereinfachung einen großen Siegeszug gefeiert. Das Netz,  Ein Video des Gesprächs am . April  in der Reihe »Conversations with History« ist online verfügbar unter: {https://www.youtu be.com/watch?v=YjpVehOZo} 

die Filterblasen und die Tweets haben einen enormen Beitrag dazu geleistet. Das ist der kognitive Boden, auf dem der autoritäre Populismus wächst und die Demokratie verdorrt. Die politische Bildung muss gegensteuern. Sie ist in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg als ein zentraler Bestandteil der »Re-Education« etabliert worden. Unser Fach, die Politikwissenschaft, war ein Bestandteil der Strategie. Politikwissenschaft wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland als Demokratiewissenschaft etabliert, obwohl sie in den USA schon längst eine empirische Wende vollzogen hatte. Der Kern der demokratischen Bildung ist vor diesem Hintergrund bis heute die Lehre von demokratischen Idealen und von den Vorteilen demokratischer Institutionen geblieben. Diese ideale Theorie muss um die Kenntnis der Komplexität demokratischer Entscheidungen und um eine allgemeine Komplexitätskompetenz ergänzt werden. Es gibt keine Maßnahmen, die nicht auch problematische Nebeneffekte haben. Es gibt keine einfachen Zusammenhänge, und die Welt ist voller Dilemmata und Paradoxien. Statt Tweets mit  Zeichen brauchen wir eine Anerkennung und Berücksichtigung der Komplexität – gerade im Zeitalter der Globalisierung. Die Bevölkerung eines demokratischen Staates muss mit Vielfalt, mit Ambiguitäten und mit neuen Einsichten umgehen können, die sich unter Umständen übermorgen als falsch erweisen. Die Förderung von Ambiguitätstoleranz sollte daher ein vorrangiges Ziel der politischen Bildung sein. Keiner der zehn genannten Vorschläge wird unkontrovers sein oder das Problem des autoritären Populismus alleine lösen. Allerdings würde es auch der von uns präsentierten Krisendiagnose widersprechen, einen fertigen Reformkatalog zu präsentieren, der vorgibt, auf wundersame Weise die Demokratie wiederzubeleben. Wenn es gute Gründe gibt, Ent

scheidungen an NMI s zu übertragen, dies aber mit einem Verlust an Demokratie einhergeht, können Lösungsansätze nur darauf abzielen, diese unvermeidbaren Spannungen abzumildern. Wenn wir das Dilemma ernst nehmen, lassen sich keine einfachen Antworten formulieren, wie sie vielleicht am Ende eines solchen Buchs zu erwarten wären. Stattdessen gilt es, Ansatzpunkte zu finden, die sich aus unserer spezifischen Erklärung der politischen Ursachen des autoritären Populismus ergeben. Dabei kann die Antwort nicht sein, die Demokratie einfach einzuschränken, weil dies am Ende zu ihrer Abschaffung führen könnte. Die Verteidigung der Demokratie erfordert mehr Demokratie.



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

Dank

Vom . bis zum . November  fand in Potsdam eine Tagung statt, auf der sich Politikwissenschaftlerinnen aus verschiedenen Ländern mit dem Zustand der Demokratie befassten. Einige der amerikanischen Kollegen hatten am Tag der US -Präsidentschaftswahl kurz vor ihrer Abreise noch Interviews gegeben, in denen sie den Sieg Hillary Clintons vorhersagten, und stellten nach ihrer Landung in Deutschland zerknirscht fest, dass es anders gekommen war. Es gab auf dieser Tagung viel zu besprechen. Dies war auch die Gelegenheit, bei der wir zum ersten Mal unsere (damals noch getrennten) Überlegungen vorstellten, warum gängige Erklärungen zum Aufstieg des Populismus zu kurz greifen und warum die Funktionsweise der Demokratie in den Blick genommen werden muss. Aus zwei unterschiedlichen Perspektiven stellten wir Erklärungen vor, die auf die Selektivität politischer Entscheidungen verwiesen. Die Tagung in Potsdam war der Beginn einer Reihe von Workshops im Kontext des DFG -Projekts »Sorgen um die Demokratie in Nordamerika und Europa«, die in der Villa Vigoni ganz kurz vor dem Ausbruch des Virus in der Lombardei ihren Abschluss fand. Dieser Projektkontext bot uns zahlreiche Gelegenheiten, um mit vielen Kolleginnen aus unterschiedlichen Ländern Facetten dieses Buchs zu besprechen. Wir danken dabei insbesondere Claudia Landwehr und Thomas Saalfeld, die nicht nur diesen Kontext mit bereitgestellt, sodern auch immer wieder mit uns diskutiert haben. Gemeinsam führten wir dann noch einen Workshop am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB ) durch, um die Idee eines gemeinsamen Textes zu den – wie wir es nennen – politischen Ursachen des autoritären Populismus 

weiter voranzubringen.Von den Anmerkungen und Hinweisen bei diesem Treffen, insbesondere von Swen Hutter, Cristóbal Rovira Kaltwasser und Céline Teney, profitierten wir ebenfalls sehr. Das vorliegende Buch ist auch das Ergebnis dieser gemeinsamen Diskussionen. Ganz herzlicher Dank für seine großartige Unterstützung gebührt auch Heinrich Geiselberger, der das Manuskript akribisch lektoriert und uns geholfen hat, präzise zu formulieren. Gleichzeitig haben wir jeweils individuell wichtige Gelegenheiten gehabt, die Arbeiten, die in dieses Buch eingeflossen sind, zur Diskussion zu stellen und zu verbessern. Armin Schäfer hatte als Scholar in Residence am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung im Wintersemester / die Möglichkeit, Kerngedanken des Manuskripts in einer Vorlesungsreihe zu präsentieren und mit den Anwesenden zu erörtern. Für die Einladung ans Institut danke ich Jens Beckert und Lucio Baccaro sehr herzlich. Teile der hier dargelegten Ideen sind in einem gemeinsamen Forschungsprojekt mit Lea Elsässer und Svenja Hense entstanden. Im Zuge dieses Vorhabens haben wir immer wieder darüber gesprochen, was Repräsentation bedeutet und worin die Defizite ungleicher Responsivität liegen. Für den sehr anregenden Gedankenaustausch möchte ich mich ebenfalls bedanken. Zudem bin ich Miriam Hartlapp-Zugehör, Martin Höpner, Andreas Nölke, Simone Leiber und Hubert Zimmermann zu Dank verpflichtet, mit denen ich viele Teilaspekte des vorliegenden Manuskripts immer wieder diskutiert habe. Wir stimmen dabei nicht immer überein, aber der Austausch hat sehr geholfen, meine eigene Sichtweise zu schärfen. Michael Zürn hat seine Forschungen im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Exzellenzclusters »Contestations of the Liberal Script« (EXC , Projekt-ID : ) durchführen können. Dabei habe ich 

in vielen Diskussionen wichtige Anregungen erhalten, die in dieses Buch eingeflossen sind. Besonderer Dank gebührt Tanja Börzel, Jürgen Gerhards, Johannes Gerschewski, Heiko Giebler, Christoph Möllers und Stefan Gosepath. Außerdem hat meine Arbeit – wie immer – von der Abteilung »Global Governance« am WZB profitiert. Hinsichtlich der Datenerhebung bin ich Alexandros Tokhi und Johannes Scherzinger zu enormem Dank verpflichtet. Diskussion mit Jelena Cupac´, Irem Ebetürk, Rainer Forst, Edgar Grande, Peter Katzenstein, John Keane, Cédric Koch, Wolfgang Merkel und Christian Rauh waren dabei besonders wichtig. Lisa Maaßen, Lukas Meeth, Frederick Peña Sims, Martha van Bakd und Katinka von Kovatsits haben uns bei der Manuskriptbearbeitung unterstützt. Ihnen allen ein herzliches Dankeschön. Schließlich sei Karen Alter gedankt, mit der ich ein thematisch verwandtes Projekt zu backlash politics durchführen konnte. Auch dabei gab es viel zu lernen. Armin Schäfer & Michael Zürn im August 