Partei der Extreme: Die Republikaner: Über die Implosion des amerikanischen Konservativismus 9783839436097

From the crusades of George W. Bush, via the shrill attacks of the "Tea Party", to the populist mobilisation o

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German Pages 148 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
1. Der Geist, den sie riefen. Die Geschichte des amerikanischen Konservativismus als Geschichte eines Kontrollverlustes
2. »The Global March to Socialism«. Der New Deal und die Anfänge des amerikanischen Konservativismus
3. Markt, Gott, Antikommunismus. Zur intellektuellen Formierung einer Bewegung im Schatten des Kalten Krieges
4. Go West … and South. Barry Goldwater und die Transformation der Republikanischen Partei
5. 1968 und die Silent Majority. Wie die Republikanische Partei den Populismus entdeckte
6. Kulturkrieg. Der Aufstieg der Religiösen Rechten
7. »It’s Morning in America«. Ronald Reagan und die unvollendete Revolution
8. American Angst. 9/11, die Kreuzzüge des George W. Bush, der amerikanische Konservativismus als Parallelgesellschaft und der Aufstand der Tea Party
9. Wer dem Affen zu viel Zucker gibt … Donald Trump und die Auflösung einer politischen Bewegung
Danksagung
Literatur
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Partei der Extreme: Die Republikaner: Über die Implosion des amerikanischen Konservativismus
 9783839436097

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Torben Lütjen Partei der Extreme: Die Republikaner

X T E X T E

Torben Lütjen (PD Dr.), Politologe, ist Direktor in Vertretung des Göttinger Instituts für Demokratieforschung. Ab 2017 wird er als Gastprofessor an der Vanderbilt University in Nashville/Tennessee lehren. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Politik, Geschichte und Gesellschaft der USA, politische Ideologien und Wissenssoziologie sowie historische und komparative Parteienforschung. Er veröffentlichte Biographien zu FrankWalter Steinmeier und Karl Schiller. Zuletzt erschien von ihm: »Die Politik der Echokammer. Wisconsin und die ideologische Polarisierung der USA«, für die er viele Monate Feldforschung im Mittleren Westen betrieb. Er publiziert u.a. in FAZ, taz und Die Welt.

Torben Lütjen

Partei der Extreme: Die Republikaner Über die Implosion des amerikanischen Konservativismus

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Katharina Rahlf, Demian-Noah Niehaus Satz: Justine Haida, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3609-3 PDF-ISBN 978-3-8394-3609-7 EPUB-ISBN 978-3-7328-3609-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1. Der Geist, den sie riefen

Die Geschichte des amerikanischen Konservativismus als Geschichte eines Kontrollverlustes  |  7

2. »The Global March to Socialism« Der New Deal und die Anfänge des amerikanischen Konservativismus  |  15

3. Markt, Gott, Antikommunismus

Zur intellektuellen Formierung einer Bewegung im Schatten des Kalten Krieges  |  25

4. Go West … and South

Barry Goldwater und die Transformation der Republikanischen Partei  |  37

5. 1968 und die Silent Majority

Wie die Republikanische Partei den Populismus entdeckte  |  53

6. Kulturkrieg

Der Aufstieg der Religiösen Rechten  |  69

7. »It’s Morning in America«

Ronald Reagan und die unvollendete Revolution  |  79

8. American Angst

9/11, die Kreuzzüge des George W. Bush, der amerikanische Konservativismus als Parallelgesellschaft und der Aufstand der Tea Party | 99

9. Wer dem Affen zu viel Zucker gibt …

Donald Trump und die Auflösung einer politischen Bewegung  |  123

Danksagung  | 135 Literatur  | 137

1. Der Geist, den sie riefen

Die Geschichte des amerikanischen Konservativismus



als Geschichte eines Kontrollverlustes

All you need in this life is ignorance and confidence, and then success is sure. M ark Twain

Am 12. Mai 2016 ließ sich der Journalist der Washington Post, Dana Milbank, ein ganz besonderes Mahl kredenzen, zubereitet vom Starkoch Victor Albisu und ausgestrahlt im Livestream der Zeitung: Zusammen mit einem Glas Weißwein verspeiste Milbank in mehreren Gängen ein Stück kleingehäckselte Zeitung. Es war nicht irgendeine Zeitung, sondern die seines Arbeitgebers, der Washington Post. Und auf seinem Teller befand sich auch nicht irgendeine Seite, sondern seine eigene Kolumne vom Oktober des Vorjahres. Ein Genuss sei es nicht gewesen, gab er hinterher zu, aber durchaus nicht so furchtbar wie zuvor gedacht. Milbank hatte weder den Verstand verloren, noch glaubte er, auf diese Weise einen besonders hippen kulinarischen Trend ins Leben rufen zu können. Er war einfach nur ein Mann, der sein Wort hielt. Denn in der besagten Kolumne vom Oktober 2015 hatte der Journalist nicht nur kurz und knapp erklärt, dass Donald Trump niemals, und zwar wirklich niemals, die Nominierung als Republikanischer Präsidentschaftskandidat würde erringen können. Er hatte auch ein im Rückblick leichtsinniges Versprechen abgegeben: »The day Trump clinches the nomination I will eat the page on which this column is printed.«1 Mit dieser speziellen Wette stand Milbank zwar allein; ansonsten aber war er in guter Gesellschaft. Trumps Aufstieg ist nicht zuletzt eine schwere Nie1  |  Dana Milbank: Trump Will Lose, or I Will Eat This Column, The Washington Post, 2. Oktober 2015. URL: https://www.washingtonpost.com/opinions/trump-will-lose-or-iwill-eat-this-column/2015/10/02/1fd5c94a-6906-11e5-9ef3-fde182507eac_story. html?utm_term=.51d6ee117d98 [eingesehen am 03.10.2016].

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Par tei der Extreme: Die Republikaner

derlage für die Klasse der amerikanischen (und ausländischen) Politikdeuter. Würde man alle medialen Abgesänge auf den Kandidaten Trump sammeln und veröffentlichen: Man hätte gewiss schnell den Umfang der Marx-EngelsGesamtausgabe beisammen. In diesem Fall darf man ganz undifferenziert feststellen: Auch und gerade die vermeintlich Besten und Klügsten ihrer Zunft lagen allesamt und ausnahmslos daneben. Im Sommer 2015, der Trump-Hype war erst ein paar Wochen alt, sprach David Remnick, Herausgeber des New Yorker, vom »Trump Balloon«, aus dem schon bald die Luft entweichen werde; die ganze Sache würde vorüber sein, bevor in Iowa (wo traditionell die erste Vorwahl stattfindet) der erste Schnee gefallen sei.2 In die gleiche Kerbe schlug James Fallows, der für den Atlantic seit Jahrzehnten amerikanische Wahlkämpfe beobachtet: »Donald Trump will not be the 45th president of the United States. Nor the 46th, nor any other number you might name. The chance of his winning the nomination and election is exactly zero.«3 Im Herbst 2015 aber führte Trump die Umfragen noch immer an. Die meisten nahmen es trotzdem noch nicht ernst. Ende November (in Iowa war der erste Schnee schon wieder geschmolzen) platzte Nate Silver, dem beizeiten schon kultisch verehrten Datenguru des Blogs FiveThirtyEight schließlich der Kragen, weil einige Kollegen meinten, das Ganze könne vielleicht doch irgendetwas zu bedeuten haben. Sein Appell: »Dear Media, Stop Freaking Out About Donald Trump’s Polls«4. Und so ging es weiter. Selbst nachdem Trump die ersten Vorwahlen für sich entschieden hatte, blieben nicht wenige dabei, dass so jemand niemals von der sogenannten Grand Old Party nominiert werden würde. Indigniertes Naserümpfen aus dem universitären Elfenbeinturm ist gleichwohl gänzlich unangebracht. Denn auch die Politologen (einschließlich des Autors, den aber zum Glück niemand öffentlich um seine Meinung gebeten hat) sahen lange Zeit nicht, was da auf das Land zurollte. Schließlich hatte sich schon seit Längerem die Meinung durchgesetzt, dass die amerikanischen Parteien trotz der parteiinternen Vorwahlen ziemlich effektiv in der Lage seien, Außenseiter von der Nominierung fernzuhalten: »The Party Decides«, wie ein oft zitiertes Buch über die Gesetzmäßigkeiten amerikanischer Primaries

2  |  Vgl. David Remnick: The Trump Balloon, The New Yorker, 8. Juli 2015. URL: www.new yorker.com/news/daily-comment/the-trump-balloon [eingesehen am 03.10.2016]. 3 | James Fallows: 3 Truths About Trump, in: The Atlantic, Juli 2015. URL: www.the atlantic.com/politics/archive/2015/07/3-truths-about-trump/398351/ [eingesehen am 03.10.2016]. 4  |  Nate Silver: Dear Media, Stop Freaking Out About Donald Trump’s Polls, in: FiveThirtyEight, 23. November 2015. URL: http://fivethirtyeight.com/features/dear-mediastop-freaking-out-about-donald-trumps-polls/ [eingesehen am 03.10.2016].

1. Der Geist, den sie riefen

heißt.5 Und noch aus einem anderen Grund hielt man Trumps Kandidatur für eine Totgeburt. Denn in einem Land, in dem sich beide Parteien über Jahrzehnte hinweg ideologisch hochgerüstet hatten und sich permanent ihrer weltanschaulichen Prinzipienfestigkeit rühmten (und die Republikaner taten das noch weitaus mehr als die Demokraten), schien es unmöglich, dass die Republikanische Parteibasis einen solch unverblümten Anbeter des politischen Nihilismus (und ansonsten seiner selbst) auf ihr Schild hieven würde. Die Republikaner waren im Verlauf der letzten fünf Jahrzehnte eine sehr konservative Partei geworden, konservativ freilich in einer sehr spezifisch amerikanischen Variante: als Partei eines weitgehend deregulierten Kapitalismus und einer Befürwortung des globalen Freihandels, einer traditionellen christlichen Sozialmoral und einer auf militärische Stärke und Interventionismus setzenden Außenpolitik. Wer in der Partei Karriere machen wolle, so hieß es, der sei gut beraten, diese Parteilinie nicht in Frage zu stellen. Doch dann kam Trump, den das meiste davon entweder einen feuchten Kehricht kümmerte oder der sogar offen gegen diese Programmatik verstieß. Stattdessen hantierte er mit den Versatzstücken eines xenophoben und teilweise auch offen rassistischen Identitätspopulismus, der Europäern seit geraumer Zeit nur allzu vertraut ist. Und entgegen aller Wahrscheinlichkeit und Theorie funktionierte es. Angesichts einer solchen kollektiven Fehlinterpretation scheint eine Inventur der Gründe seines Aufstiegs umso dringlicher. An jenem Tag im Trump Tower, als der Immobilien-Tycoon die Rolltreppe herunter(!)fuhr, um seine Kandidatur bekanntzugeben, und Mexikaner als »Mörder« und »Vergewaltiger« bezeichnete, hatte er eine kleine und spontan improvisierte Probebohrung auf dem Grund des amerikanischen Bewusstseins durchgeführt. Und alle waren überrascht – vermutlich auch Trump selbst –, auf welch ergiebige Quelle er dabei gestoßen war und wie kräftig sie fortan sprudeln würde. Amerika wird noch lange brauchen, um das Bohrloch wieder zu versiegeln; aber wir tun gut daran, zuerst zu verstehen, welche Art von Vorkommen Trump dabei angezapft hat. Wie so häufig bei plötzlichen Paradigmenwechseln gilt auch hier Tocquevilles Ausspruch über die Französische Revolution: so unvorhergesehen – und doch so unvermeidlich. Denn mittlerweile gibt es selbstverständlich eine Fülle von Erklärungen für Trumps Aufstieg. Im Großen und Ganzen laufen sie jedoch auf drei Grundinterpretationen hinaus – die sich freilich nicht gegenseitig ausschließen müssen. Die eine Möglichkeit, auf ein unerwartetes, theoriewidriges Ereignis zu reagieren, ist, es einfach zur Ausnahme zu erklären. Die erste Erklärung für 5  |  Marty Cohen et al.: The Party Decides: Presidential Nominations Before and After Reform, Chicago 2008.

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Trump lautet daher: Trump. Nun fühlen sich Sozialwissenschaftler mit einigem Recht dazu angehalten, strukturelle Gründe zu identifizieren, langfristige, soziale und kulturelle Entwicklungen einzubeziehen. Und doch sollte man dieses Argument nicht leichtfertig als banale Personalisierung der Medien abtun. Denn es stimmt ja, dass der New Yorker in vielerlei Hinsicht eine singuläre Figur ist, für die sich kaum ein Pendant findet, weder in den USA noch anderswo. Seit mehr als dreißig Jahren ist Trump Teil der amerikanischen Unterhaltungs- und Alltagskultur, bekannt wie sonst nur Schauspieler, Rockstars, Sporttitanen und, man traut es sich kaum zu sagen, Präsidenten. Das bedeutet auch: dreißig Jahre Training vor der Kamera. Etwas mehr als zehn Jahre war er der Star der Scripted Reality-Show »The Apprentice«; und wie, wenn nicht als Scripted Reality, soll man die Vorwahlkämpfe der Republikanischen Partei beschreiben? Diese mediale Dauerpräsenz sicherte Trumps Provokationen und Tabubrüchen von Anfang an eine Aufmerksamkeit und eine Sendezeit, die andere Kandidaten nie erhalten hätten. Schon zu Beginn der Vorwahlkämpfe hatte Trump zudem ca. fünf Millionen Follower auf Twitter – eine Zahl, die mehr als drei Mal so hoch ist wie die Auflage der New York Times. Und doch ahnen wir, dass Trumps Aufstieg Teil von etwas Größerem ist; nicht nur, weil es derzeit eine Reihe verwandter politischer Phänomene in anderen Demokratien gibt, über die noch zu reden sein wird. Hätte Trump seinen Aufstieg primär seinem Celebrity-Status zu verdanken, hätte sich seine Methode vermutlich schnell erschöpft. Trump wird getragen von einer so unverhohlenen und mit den Händen greif baren Stimmung der Wut und des Zorns, dass diese sich vermutlich auch ohne ihn irgendwie Bahn gebrochen hätte. Auch andere Kandidaten ritten auf dieser Welle; nur eben nicht so virtuos und erfolgreich wie Trump. Die zweite Erklärung setzt genau bei diesen Emotionen an – sie ist die fraglos geläufigste, auch und gerade in deutschen Medien. Der Erfolg der TrumpKampagne, so heißt es, sei ein Symptom der tiefen sozialen Ungleichheiten, welche die USA prägen, Trumps Wähler seien eine Schar frustrierter Angehöriger der weißen Arbeiterklasse. Ökonomisch abgehängt, in ihrem Status als Mehrheitskultur im Land bedroht und zutiefst hadernd mit dem kulturellen Wandel des Landes, hätten sie sich schließlich dem Mann in die Arme geworfen, der ihrem Zorn die lauteste Stimme verleihen konnte. In der Tat hat die Finanzkrise 2007/08 für eine nochmalige Verschärfung der sozialen Disparitäten im Land gesorgt und vor allem viele MittelklasseAmerikaner unter enormen ökonomischen Druck gesetzt. Häufig wird pauschal konstatiert, dass der amerikanische Traum zerbrochen sei; doch eigentlich muss die Frage lauten: für wen eigentlich? Seit Jahrzehnten werden die Amerikaner von Meinungsforschern befragt, ob sie glauben, dass es ihren Kindern einmal bessergehen werde als ihnen selbst. Bis vor Kurzem lautete die mehrheitliche Antwort noch immer »Ja« – bis 2011. In diesem Jahr verneinte

1. Der Geist, den sie riefen

zum ersten Mal das Gros der Amerikaner diese Frage. Der Punkt war jedoch: Eine Majorität von Afro-Amerikanern, Hispanics oder Asian-Americans gab nach wie vor eine positive Antwort – es ist somit vor allem ein Teil des weißen Amerika, der den Glauben an den eigenen sozialen Aufstieg und den seiner Kinder verloren hat.6 Der Begriff der White Working Class ist auch in den USA nicht besonders präzise und eher diffus. In jedem Fall aber ist er etwas weiter gefasst als in Deutschland oder Europa im Allgemeinen. Gemeint sind damit in der Regel solche US-Bürger, die in Beschäftigung sind, aber über keinen College-Abschluss verfügen.7 Es sind die Amerikaner aus diesem schrumpfenden, aber quantitativ noch immer bedeutenden gesellschaftlichen Segment, für die Trumps nostalgische Losung »Make America Great Again« ein Versprechen auf eine versunkene Vergangenheit ist, auf die »gute alte Zeit« – wobei sich freilich schwarze Amerikaner aus dem Süden der USA fragen mögen, wann diese Zeit denn gewesen sein soll. Auch diese Interpretation hat viel Plausibles für sich. Mehr noch: Ohne sie ergäbe keine andere Interpretation einen Sinn. Doch nur für sich genommen, ist sie unvollständig. Man kann dabei noch beiseite lassen, dass Trumps Unterstützer dem populären Bild eines verarmten »Trumpenproletariats« nicht wirklich entsprechen, es sich in Wahrheit eher um die sprichwörtliche Mitte der Gesellschaft handelt 8 – denn Abstiegsängste sind stets subjektiver Natur und betreffen oft gerade jene, die noch einiges zu verlieren haben. Das wirkliche Problem mit dieser Interpretation ist ein anderes: Es handelt sich um eine deterministische und mechanische Sichtweise auf den Zusammenhang zwischen sozialen und gesellschaftlichen Zuständen und der Entstehung von Protest oder der Artikulation politischen Unbehagens. Natürlich ist für jedermann offensichtlich, dass Angst und Verunsicherung, Bitterkeit und Zorn eine große Rolle bei Trumps populistischer Sammlung spielen. Nur: Warum manifestiert sich die Wut der Trump-Wähler dann gerade auf diese Art und Weise und nicht anders? Auch die Wähler von Bernie Sanders, der ebenfalls mit dem Etikett des Populisten belegt worden ist, sind wütend; aber offenkundig artikuliert sich ihre Wut anders, kennt andere Adressaten und glaubt auch, sich auf andere Art und Weise Abhilfe verschaffen zu können.

6 | Vgl. Ronald Brownstein: The White Working Class: The Most Pessimistic Group in America, in: The National Journal, 27. Mai 2011. URL: www.theatlantic.com/politics/ archive/2011/05/the-white-working-class-the-most-pessimistic-group-in-ameri ca/239584/ [eingesehen am 03.10.2016]. 7  |  Vgl. Dennis Gilbert: The American Class Structure, New York 1998. 8  |  Nate Silver: The Mythology Of Trump’s ›Working Class‹ Support, in: FiveThirtyEight, 3. Mai 2016. URL: https://fivethirtyeight.com/features/the-mythology-of-trumps-wor king-class-support/ [eingesehen am 03.10.2016].

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Man kann es sogar noch weiter zuspitzen: Aus Wut alleine folgt nichts. Sie muss in bestimmte Bahnen gelenkt, muss geformt werden und eine eigene Sprache finden. Im politischen Feuilleton der Gegenwart hat die Wut momentan verständlicherweise keinen guten Leumund, da sie derzeit (anders noch als zu Beginn der Finanzkrise) primär aufseiten der Reaktion, der Gegenaufklärung, der Gegner von Toleranz und Liberalität zu stehen scheint. Doch so muss es nicht sein. Am Anfang aller politischen Bewegungen, auch jener, die ein großes emanzipatorisches Potenzial entfalteten, stand immer die Wut, ausgelöst durch Herabsetzungen und Demütigungen, welche die menschliche Würde und den Stolz verletzten: Das war bei der Arbeiterbewegung nicht anders als bei der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung oder bei den Bewegungen für die Rechte von Frauen oder Homosexuellen. Aber der Wut muss ein Ziel gegeben werden, das sie in eine spezifische Richtung lenkt. Daraus kann dann, wie gerade angedeutet, auch ein positives Ethos erwachsen. Fehlen allerdings diese Wegweiser, kann die Wut in ganz und gar destruktive Bahnen abdriften.9 Die Geschichte der Wut, der Trump seinen Aufstieg zu verdanken hat, ist im Grunde die dritte Erklärung dieses Phänomens. Es ist zugleich die Ebene, um die es in den folgenden Kapiteln dieses Buches gehen soll. Denn der Zorn der Trump-Wähler ist natürlich nicht über Nacht gekommen. Trump hat die Wut nicht geschaffen; er bedient sie nur. Und sie war auch schon lange vor der Finanzkrise da; es hatte sie schon gegeben, bevor ein Schwarzer Präsident der Vereinigten Staaten wurde. Die Wut ist seit über fünf Jahrzehnten Teil der konservativen Bewegung. Deren Akteure und Vordenker haben sie gehegt und gepflegt, sie für ihre Zwecke abgerichtet und damit Wählerschichten erreicht, die ihnen allein als Partei von Small Government oder als Verteidiger christlicher Moralwerte niemals zugefallen wären. Die Geschichte dieser Wut soll in diesem Buch erzählt werden. Es ist zugleich die Geschichte eines Kontrollverlusts. Genauer gesagt: des Verlusts der Deutungsmacht der Republikaner über die eigene Erzählung. Die Partei hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte so hemmungslos einer populistischen Rhetorik bedient, hat sich so andauernd als Anti-Establishment-Partei inszeniert und so permanent gegen ein vermeintliches Elitenkartell agitiert, dass sich diese Erzählung am Ende verselbstständigt hat – und schließlich gegen ihre eigenen Urheber richtete. Ein wenig ähnelt die Grand Old Party des Jahres 2016 Goethes Zauberlehrling, der die einmal entfesselten Kräfte nicht mehr kontrollieren kann. In den USA ist das natürlich eine recht unbekannte kulturelle Referenz; aber manche Beobachter dort haben andere literarische Analogien zu Trumps Aufstieg ge9 | Vgl. Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit: politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt a.M. 2006.

1. Der Geist, den sie riefen

funden. Robert Kagan etwa, ein neokonservativer Intellektueller, der Trump vehement ablehnt, hält es mit Mary Shelleys »Frankenstein«: Trump, schreibt Kagan, »is the party’s creation, its Frankenstein’s monster, brought to life by the party, fed by the party and now made strong enough to destroy its maker«10. Und es ist nicht die Wut alleine, die in dieser Kampagne kulminiert. Es ist ja kein Zufall, dass Trumps Selbsterfindung als Politiker im Jahr 2011 – obgleich er seit zwei Jahrzehnten mit einer Kandidatur als Präsidentschaftskandidat geflirtet hat – erst im Fahrwasser der Birthers richtig begonnen hat: jener Verschwörungstheoretiker, die überzeugt sind, Obama sei von Geburt kein Amerikaner, seine Geburtsurkunde gefälscht und er insofern eigentlich illegitim im Amt. Auch dieser Hang zur Paranoia ist tatsächlich keine Innovation der Obama-Jahre, sondern sogar noch älter als der Populismus der Republikanischen Partei: »There is indeed little new under the wingnut sun«, wie es der Historiker Rick Perlstein in Bezug auf die Wiederkehr einer radikalen amerikanischen Rechten ausdrückt.11 Dieses Buch soll sich auf die Spur machen nach den Wurzeln der Wut und des Zorns, auch der Paranoia, denen Trump seinen Aufstieg zu verdanken hat. Allerdings: Es soll nicht alles monomanisch auf die oben angedeuteten Motive verkürzt werden. Dieses Buch soll in pointierter Form zugleich eine allgemeinere Geschichte der konservativen Bewegung der USA sein – von ihren Anfängen im New Deal bis in die Gegenwart. Eine solche eher ganzheitliche Betrachtungsweise hat zum einen ganz pragmatische Gründe, da in deutscher Sprache bislang nicht sehr viel über die US-Rechte, den amerikanischen Konservativismus oder die Republikanische Partei veröffentlicht worden ist, und einige der existierenden Arbeiten auch schon eine Weile zurückliegen.12 Der viel wichtigere Grund aber ist, dass man damit auch dem Gegenstand insgesamt eher gerecht wird. Denn Geschichte läuft ja niemals linear auf einen Punkt zu – so wie die Geschichte der Republikanischen Partei nicht zwangsläufig auf Donald Trump hinausläuft. Der amerikanische Konservativismus verkörpert zahlreiche Widersprüche und bündelt extrem komplementäre Tendenzen: Da ist eine ideenzentrierte Bewegung, die stark von Intellektuellen geprägt 10  |  Robert Kagan: Trump is the GOP’s Frankenstein Monster, in: The Washington Post, 25. Februar 2016. 11  |  Rick Perlstein: The Grand Old Tea Party, in: The Nation, 6. Novermber 2013. URL: https://www.thenation.com/article/grand-old-tea-party/ [eingesehen am 03.10.206]. 12  |  Vgl. ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Claus Leggewie: America First? Der Fall einer konservativen Revolution, Frankfurt a.M. 1997; Thomas Greven: Die Republikaner: Anatomie einer amerikanischen Partei, München 2004; Michael Minkenberg: Die neue radikale Rechte im Vergleich: USA, Frankreich, Deutschland, Opladen/Wiesbaden 1998; Patrick Keller: Neokonservatismus und amerikanische Außenpolitik: Ideen, Krieg und Strategie von Ronald Reagan bis George W. Bush, Paderborn 2008.

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worden ist – und parallel existiert ein scharfer, beißender Anti-Intellektualismus, der sich in der Gegenwart bis hin zur dreisten Wirklichkeitsverneinung gesteigert hat. Einerseits zeichnet die Bewegung ein ganz »antikonservativer« Fortschrittsglaube und Optimismus aus; dann wieder dominiert, wie momentan, andererseits eine extrem pessimistische, ja fast schon apokalyptische Weltsicht. So ist die Republikanische Partei in der Tat eine »Partei der Extreme«. Warum sich am Ende die eine Tendenz und nicht die andere durchsetzt: Das lässt sich nur erklären mit dem Wechselspiel singulärer historischer Ereignisse und spezifischer Handlungen und Entscheidungen der Akteure des amerikanischen Konservativismus. Kurzum: Auch wenn viele Malaisen der konservativen Bewegung eine umfangreiche Vorgeschichte haben – lange Zeit war es eine Geschichte mit offenem Ausgang, die es mitsamt ihrer Um- und Abwege zu verstehen gilt. Noch eine Vorbemerkung: In den deutschen Medien, oft auch in der deutschsprachigen politikwissenschaftlichen Literatur, wird all das hier gerade Skizzierte unter dem Sujet »Republikanische Partei« subsumiert. Damit der Leser weiß, was für ein Buch er in den Händen hält, taucht der Parteiname daher auch im Titel dieses Bandes auf. Doch wie die vorangegangenen Überlegungen bereits deutlich gemacht haben, ist der eigentliche Gegenstand der amerikanische Konservativismus als intellektuelle und soziale Bewegung. Heute, da sich die Republikaner – jedenfalls bis auf Weiteres – klar als Partei des Konservativismus verstehen, mag man beides für synonym halten. Ursprünglich aber war die Republikanische Partei eine breite Sammlungspartei mit sehr verschiedenen und disparaten Elementen (für die Demokraten gilt dies ebenso). Das blieb so, bis die Grand Old Party von konservativen Intellektuellen und Politikern für ihre Zwecke gekapert wurde. Deswegen aber wäre kaum sinnvoll, die Suche nach den Wurzeln der Gegenwart mit einem Parforceritt durch die Parteigeschichte der Republikaner zu beginnen und bei Abraham Lincoln anzusetzen. Stattdessen sollte man dort anfangen, wo sich die ersten Umrisse jenes Phänomens zeigen, das heute in den USA als Conservatism firmiert. Das hat auch den Vorteil, dass man nicht gar so weit in der Geschichte zurückzugehen braucht; es sind gerade einmal achtzig Jahre. Denn der amerikanische Konservativismus ist eine Krisengeburt: Er nimmt seinen Ausgang in den 1930er Jahren.

2. »The Global March to Socialism« Der New Deal und die Anfänge des amerikanischen Konservativismus

Im kollektiven, generationenübergreifenden Gedächtnis politischer Bewegungen bleibt der Moment ihrer Gründung noch lange gespeichert. Besonders gilt dies für politische Formationen, die sich angesichts einer akuten äußeren Bedrohung oder im Augenblick der moralischen oder gesellschaftlichen Abwehrstellung formieren. Sie kultivieren noch lange das Unterlegenheitsgefühl, inszenieren sich weiterhin, auch wenn sie längst zur faktischen Mehrheit avanciert sind, beharrlich als verfolgte Minderheit. So ist es auch beim amerikanischen Konservativismus gewesen. Auch er entstand in der Defensive und wuchs auf dem Boden einer lang anhaltenden Serie deprimierender Niederlagen. Diese Erfahrung völliger Deklassierung und Isolation prägte fortan das Selbstbild der Bewegung – und blieb sogar dann noch wirkungsmächtig, als Konservative längst die politischen Kommandohöhen in Washington und anderswo im Land erobert hatten. Auch als dominante politische Formation der USA der 1970er, 1980er und 1990er Jahre konnten Amerikas Konservative nie gänzlich das Gefühl abstreifen, von einem feindlichen Heer umstellt zu sein. Daher rührt der latent paranoide Zug der Bewegung, der ihr von Beobachtern schon früh unterstellt worden ist1 und der mit Beginn der Präsidentschaft Barack Obamas lawinenartig fast alles andere unter sich begraben hat. Die Phase der Niederlagen und der Depression, des schier endlosen Marschs durch die Wüste, das waren die 1930er bis 1960er Jahre. In diesen rund drei Jahrzehnten wurde der moderne amerikanische Konservativismus geboren, und zwar unter zum Teil schweren Geburtswehen. Zuvor jedenfalls 1 | Vgl. Richard Hofstadter: Goldwater and Pseudo-Conservative Politics, in: ders. (Hg.): The Paranoid Style in American Politics and other Essays, New York 2008, S. 93-141.

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hatte der Begriff im politischen Diskurs des Landes kaum eine Rolle gespielt. Das lässt sich leicht erklären: Eine konservative Partei oder Bewegung nach europäischem Vorbild hatte sich in den USA schließlich nicht etablieren können und wäre auch nachgerade systemwidrig gewesen.2 Die Amerikanische Revolution – oftmals auch schlicht als Rebellion von Kolonialisten3 bezeichnet oder aber mit dem paradoxen Begriff der »konservativen Revolution« 4 belegt – hatte, anders als sein französisches Pendant, keinen Kampf gegen eine mit der Krone alliierte Staatskirche zu führen, weshalb den Gründervätern der USA jede antiklerikale Haltung fremd war. Dadurch aber fehlte auch das polarisierende Gegenüber: Wo es keinen Robespierre gab, da konnte es auch keinen de Maistre geben. Ebenso wenig existierte eine entmachtete Aristokratie, die auf die Wiederherstellung der Feudalherrschaft hätte dringen können – da es eine solche nie gegeben hatte (die 70.000 Tories, also jene Kolonialisten, die während des Unabhängigkeitskrieges zur britischen Krone gehalten hatten, verließen nach der besiegelten Niederlage des Unabhängigkeitskrieges die Neue Welt und kehrten in den Schoß ihres Mutterlandes zurück). Zwar trauerten auch Europas Konservative nicht auf ewig ihren Königen, Fürsten oder Kaisern nach, sondern standen bald für abstraktere Werte wie Religion, Vaterland und Ordnung ein. Doch in jedem Fall blieb die Französische Revolution der Urkonflikt der Alten Welt, an dem entlang sich die Lager dann zwei Jahrhunderte lang in Gegner und Befürworter von Aufklärung, Fortschritt und Emanzipation sortierten. Für die Amerikanische Revolution aber galt das alles nicht. Anders als die Revolution von 1789 in Europa war das Erbe von 1776 in den Vereinigten Staaten wenig umstritten und die Interpretation der Revolution im Kern nicht umkämpft, wodurch sie völlig unproblematisch als Quelle nationaler Identität dienen konnte. Edmund Burke, der mit seinen »Betrachtungen über die Französische Revolution« das Genre konservativer Fortschrittskritik aus der Taufe hob, fand somit auch an der Amerikanischen Revolution wenig auszusetzen. Doch Conservatism in den USA ist – wie in der Einleitung bereits angedeutet – ohnehin eine ideologische Kreuzung ganz eigener Art. Und die historischen Splitter dieses modernen amerikanischen Konservativismus sind nun wiederum unschwer überall verstreut in der amerikanischen Geschichte zu finden. Von der gewaltigen Angst vor einer zu starken Zentralregierung über den rauen Individualismus und die missionarische, sendungsbewusste Religiosität bis hin zur Sakralisierung des freien Marktes und der Glorifizierung 2 | Vgl. zu dieser Diskussion Arthur Aughey/Greta Jones/W.T.M. Riches: The Conservative Political Tradition in Britain and the United States, London 1992, S. 1-10. 3  |  Vgl. Daniel J. Boorstin: The Genius of American Politics, Chicago 1953. 4 | Vgl. John Micklethwait/Adrian Wooldridge: The Right Nation: Conservative Power in America, New York 2004, S. 317.

2. »The Global March to Socialism«

des kapitalistischen Wettbewerbs: Für all dies finden sich Traditionslinien, die weit in die Geschichte des Landes und seiner nationalen Mythen zurückreichen. Doch formierte sich eben aus diesen disparaten Mentalitätssträngen in den ersten 150 Jahren nach der Staatsgründung keine einheitliche politische Bewegung. Amerika hatte zwar, wie zwei britische Journalisten einmal treffend bemerkten, »konservative Instinkte«5, lange Zeit aber keine konsistente ideologische Bewegung – geschweige denn eine als konservativ zu bezeichnende Partei. Dafür mussten erst einige der genannten Überzeugungen in die Defensive geraten und herausgefordert werden; erst unter diesem Druck konnten sich diese eigentlich konträren Elemente langsam zu einer wirklichen Weltanschauung verdichten. Der Weg des amerikanischen Konservativismus begann daher in der Ära des New Deal. Der historische Rahmen des Dramas ist bekannt: Als Reaktion auf die seit dem New Yorker Börsensturz von 1929 ausufernde Krise des kapitalistischen Systems leitete der im Januar 1933 eingeschworene Präsident, der Demokrat Franklin Delano Roosevelt, einige einschneidende Maßnahmen zur Überwindung der »Depression« in die Wege, nicht wenige davon gleich in den atemlosen und sprichwörtlich gewordenen »ersten 100 Tagen«6 der neuen Regierung. Neben Bankenregulierung, Arbeitsbeschaffungsprogrammen, staatlicher Kontrolle der Industrieproduktion und Preiskontrollen in einzelnen Wirtschaftssektoren legte Roosevelt in diesen Jahren außerdem den Grundstein für einen Wohlfahrtsstaat europäischen Vorbildes und führte mit dem »Social Security Act« eine bundesstaatliche Renten- und Arbeitslosenversicherung ein. Im Vergleich zu den meisten europäischen Ländern blieb der amerikanische Sozialstaat zwar bescheiden; aber der entscheidende Schritt vom Laissez-faire-Nachtwächterstaat zum modernen Interventionsstaat war damit getan. Und so hat es seine Berechtigung, wenn der New Deal – gleich nach der Einführung einer bundesweiten Einkommenssteuer 1913 – heute vielen Konservativen als »Sündenfall« in der Geschichte amerikanischer Innenpolitik gilt. Fraglos sah sich Roosevelt – und das gilt gewiss auch für die meisten anderen Personen im Umfeld seiner Administration – als Reformer und Bewahrer des Kapitalismus und nicht als dessen Gegner oder gar Totengräber. Überhaupt war der neue Präsident, wenngleich zweifellos ausgestattet mit phänomenalen politischen Instinkten, kein Mann tiefschürfender intellektueller Reflektio5  |  Vgl. Wooldridge/Micklethwait: The Right Nation, S. 314. 6 | Vgl. Adam Cohen: Nothing to Fear. FDR’s Inner Circle and the Hundred Days that Created Modern America, New York 2009; zum New Deal insgesamt noch immer lesenswert ist natürlich weiterhin das dreibändige Werk von Arthur M. Schlesinger: The Age of Roosevelt, vor allem Band II: The Coming of the New Deal, 1933-1935, Boston 2003.

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nen. »Philosophy? Philosophy? I am a Christian and a Democrat – that’s all« 7, entgegnete Roosevelt einmal ein wenig ratlos einem Reporter, der sich nach seiner »Regierungsphilosophie« erkundigen wollte. Der New Deal war eine Abfolge von Trial and Error, ein Sammelsurium durchaus disparater Reformvorstellungen unterschiedlichster Provenienz – ein »Experiment«, in Roosevelts eigenen Worten, kein rigide vollstreckter Masterplan: »What the country needs is bold, persistent experimentation. It is common sense to take a method and try it; if it fails, admit it frankly and try another. But above all, try something.« 8 Doch um sich die größtmögliche Legitimität zu sichern und um seine Politik so fest wie nur irgend denkbar an die Traditionslinien amerikanischer Politik zu koppeln, bezeichnete Roosevelt seine eigene Politik schließlich als »liberal« – und seine Gegner als »konservativ«.9 Das war ein Versuch, via Sprache politische Hegemonie zu erlangen. Roosevelts Feinde wehrten sich zunächst und beharrten darauf, dass schließlich sie die wahren Erben der Liberal Tradition seien, Liberale im Sinne John Lockes.10 Irgendwann aber begannen sie, den Vorwurf ins Positive zu wenden und übernahmen ihn als willkommene Selbstbeschreibung. Damit vollzog sich eine folgenschwere Begriffsumkehrung, die bei Europäern immer wieder für transatlantische Sprachverwirrungen sorgt: In den USA wird als »Liberaler« heute jemand bezeichnet, der tendenziell zu staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft tendiert, und als »Konservativer« jemand, der die Abstinenz staatlichen Handelns einfordert. Der New Deal war jedenfalls populär bei den Amerikanern. Und doch ist wenig erstaunlich, dass sich im Land eines bis dahin wenig regulierten Kapitalismus auch rasch eine feindselige, hochalarmierte Opposition formierte. Allein die National Recovery Adminstration (NRA) beschäftigte bald zehntausende Mitarbeiter, die massiv in die unternehmerische Freiheit eingriffen und Produktionszahlen sowie Preiskontrollen durchsetzten. Wenig überraschend ist daher auch, wo sich der Widerstand zuerst formierte: Vor allem die wirtschaftlichen Eliten des Landes sahen den New Deal als Bedrohung ihrer gesellschaftlichen und ökonomischen Machtposition. Sie waren der eigentliche Nukleus dessen, was wir heute als amerikanischen Konservativismus kennen. Wie so oft, hängt auch in diesem Fall alles von der Fallhöhe ab. Noch in den prosperierenden 1920er Jahren hatten sich die Unternehmer auf dem Hö7 | Zitiert nach David M. Kennedy: Freedom from Fear: The American People in Depression and War, 1929-1945, New York 1999, S. 131. 8  |  Ebd., S. 104. 9 | Vgl. David Farber: The Rise and Fall of Modern American Conservatism. A Short History, Princeton 2010, S. 18. 10 | Vgl. zur Liberal Tradition Louis Hartz: The Liberal Tradition in America. An Interpretation of American Political Thought Since the Revolution, New York 1955.

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hepunkt ihres Ansehens befunden. Nicht zufällig spricht man für diese Zeit vom Cult of Business. Amerikas Wirtschaftsführer hatten an der Spitze der sozialen und politischen Hierarchie des Landes gestanden, ihnen wurde auch von den Republikanischen Präsidenten jenes Jahrzehnts wie Calvin Coolidge gehuldigt: »The man who builds a factory builds a temple, the man who works there worships there.«11 Doch von dieser gottgleichen gesellschaftlichen Position waren die Unternehmer plötzlich zu den Sündenböcken der Nation abgestiegen. Und der neue Präsident ließ keinen Zweifel daran, dass die Krise des Landes vor allem die Schuld einer gierigen Clique von Plutokraten sei. Damit verursachte er eine tiefe Kränkung; und die hatte Folgen. Paradigmatisch dafür steht etwa die Du-Pont-Familie. Die drei Brüder Pierre, Irénée und Lammot standen einer der größten und reichsten Industriellendynastien des Landes vor – auf einer Stufe mit den Rockefellers, Vanderbilts und Morgans. Einen großen Teil ihres märchenhaften Vermögens hatten die du Ponts mit Munitionsherstellung während des Ersten Weltkrieges gemacht. Zudem fanden sich die Produkte ihres riesigen Industriekonglomerats in beinahe allen modernen amerikanischen Konsumgütern; und auch Hollywood drehte seine Filme auf Zelluloid, das in du Pont’schen Fabriken produziert wurde. Als sie dann in den 1920er Jahren die Mehrheit an der Automobilforma General Motors erwarben, stiegen sie endgültig zur größten Unternehmerfamilie des Landes auf. Die Produkte der du Ponts waren Embleme amerikanischer Modernität, sie selbst jedoch pflegten in ihren großen, verschwenderischen Landsitzen, die sich über Delaware und den Süden Pennsylvanias erstreckten, einen geradezu aristokratischen Lebensstil.12 Wie einige andere Unternehmer waren auch die du Ponts anfänglich durchaus vorsichtige Unterstützer Roosevelts gewesen, hatten teilweise noch 1932 für ihn und nicht für seinen Republikanischen Widersacher Herbert Hoover gestimmt, der bis zum Schluss darauf bestand, bei der Weltwirtschaftskrise handle es sich nur um eine vorübergehende Konjunkturdelle, die man auszusitzen habe (»Prosperity ist just around the corner«, hatte der Slogan seiner Kampagne zur Wiederwahl in jenem Jahr gelautet). Auch in der Business Community lagen die Nerven nach drei Jahren der Depression völlig blank, sodass alles besser schien als der Attentismus des herrschenden Wirtschaftsliberalismus, der darauf beharrte, alles käme schon wieder von ganz allein ins Lot. Es war nur ein kurzer Honeymoon. Innerhalb weniger Monate wandelten sich die du Ponts – und mit ihnen viele andere Industrielle – zu erbitterten Gegnern Roosevelts und sahen die von der »Verfassung garantierte Freiheit« in Gefahr. Bald waren sie gar der Meinung, der New-Deal-Liberalismus sei 11  |  Zitiert nach Kennedy: Freedom from Fear, S. 33. 12  |  Kim Phillips-Fein: Invisible Hands: The Making of the Conservative Movement from the New Deal to Reagan, New York 2009, S. 3ff.

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»nothing more or less than the Socialist doctrine called by another name«.13 Auch andere Industrielle und konservative Politiker bedienten sich dieser alarmistischen Rhetorik – und kaum jemand so hemmungslos wie Herbert Hoover, Roosevelts Vorgänger im Präsidentenamt. Dass Amerika keiner grundlegenden Reform bedürfe und Roosevelt mit seiner Politik die Einzigartigkeit des »amerikanischen Individualismus« bedrohe, das hatte Hoover seit 1933 immer wieder verlauten lassen.14 1940 ging er noch etwas weiter: Die »New Deal Party« habe eine Machtkonzentration erreicht wie die NSDAP in Deutschland, die Faschisten in Italien oder die Kommunistische Partei in der Sowjetunion. Auch die USA befänden sich nun auf dem »global march to Socialism«15. Das klingt nach dem Sound der politischen Gegenwart der USA. Unweigerlich denkt man bei diesen Worten an jene insbesondere für europäische Ohren undifferenzierte Gleichsetzung jeder staatlichen Intervention mit dem Schreckgespenst des Sozialismus, die seit dem Aufstieg der Tea Party 2009 zum begrifflichen Inventar des amerikanischen Konservativismus gehört. Und in der Tat hat diese Analogie ihren Ursprung in den Jahren des New Deal, als Roosevelt abwechselnd als Diktator oder als Cäsar bezeichnet und mit Mussolini, Stalin oder Hitler verglichen wurde. Das klingt schrill und hysterisch – aber man darf in der Bewertung nicht allein aus der Perspektive des Jahres 2016 zurückschauen, sondern muss sich die weltpolitische Konstellation jener Jahre vergegenwärtigen: 1933 befanden sich wirtschaftsliberale Prinzipien überall in der Defensive. Und für die Zeitgenossen waren die Parallelen zwischen dem neuen Dirigismus des New Deal und anderen wirtschaftspolitischen Experimenten wie jenen im italienischen Faschismus und im Nationalsozialismus sehr viel offenkundiger als für nachfolgende Generationen, die um den mörderischen Ausgang der Geschichte wissen. Im Ausland, eben auch in Mussolinis Italien und in Hitler-Deutschland, wo manche Ökonomen die Arbeitsbeschaffungsprogramme der Nationalsozialisten und den New Deal nebeneinanderstellten,16 wurden diese Analogien immer wieder bemüht. Doch auch innerhalb des Beraterkreises des Präsidenten thematisierte man diese Ähnlichkeiten und fand sie zunächst noch wenig anrüchig.17 Allen natürlich gravierenden, unaufhebbaren Unterschieden zum Trotz: Mitte der 1930er

13  |  Vgl. Phillips-Fein: Invisible Hands, S. 5. 14  |  Vgl. zu Hoovers Rolle: Gordon Lloyd/David Davenport: The New Deal and Modern American Conservatism. A Defining Rivalry, Stanford 2013. 15 | Vgl. Sam Tanenhaus: The Death of Conservatism: A Movement and Its Consequences, New York 2009, S. 33. 16  |  Vgl. Torben Lütjen: Karl Schiller. Superminister Willy Brandts, Bonn 2007, S. 71. 17  |  Vgl. Wolfgang Schivelbusch: Entfernte Verwandtschaft: Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal 1933-1939, München 2005.

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Jahre erschien diese »entfernte Verwandtschaft« (Wolfgang Schivelbusch) um einiges plausibler als heute. Im amerikanischen Konservativismus lebt diese Analogie bis heute fort und bleiben diese Ängste latent vorhanden.18 Sie sind quasi Teil der Gründungs-DNA der Bewegung und werden insbesondere in Zeiten der Krise und Verunsicherung immer wieder neu aktualisiert – das letzte Mal in den Jahren ab 2009, als die Aktivisten der Tea Party die Reform des Krankenversicherungssystems kurzerhand zum Versuch erklärten, den Sozialismus oder andere totalitäre Politikregime durch die Hintertür einzuführen. Es waren, kurzum, schon die Jahre des New Deal, in denen die Paranoia zum ersten Mal ihre zittrige Hand um den amerikanischen Konservativismus legte. Die Du-Pont-Brüder initiierten 1934 mehrere Treffen mit gleichgesinnten Unternehmern in Detroit und New York, um den Widerstand gegen den New Deal zu koordinieren. Auf einem dieser Treffen wurde eine Organisation geboren, die einigen Historikern als institutioneller Gründungskern des amerikanischen Bewegungskonservativismus gilt: die American Liberty League. Die »League«, wie sie fortan bezeichnet wurde, glaubte die Verfassung des Landes gegen die Angriffe Roosevelts verteidigen zu müssen. Ihrem Konzept nach sollte die Liberty League durchaus eine Massenbewegung sein. Auf ihrem Höhepunkt 1936 hatte sie 120.000 Mitglieder und gab im Wahlkampf jenes Jahres annähernd eine Million Dollar aus, um Roosevelt und andere Anhänger des New Deal aus ihren Ämtern zu wählen.19 In der Wahrnehmung der breiten Öffentlichkeit aber blieb die League ein elitärer Zirkel und die meisten ihrer Mitglieder waren lediglich inaktive Namen auf einer Liste.20 Ein gutes Dutzend wohlhabender Bankiers und Unternehmer finanzierte den Großteil der Einnahmen der League und traf alle Entscheidungen. Zu anderen Zeiten wäre diese Einseitigkeit vielleicht kaum ein Problem gewesen; doch angesichts des moralischen Bankrotts der ökonomischen Eliten des Landes seit 1929 erschien die Organisation vor allem als Riege gekränkter und verängstigter Plutokraten. Im Volksmund wurde sie als »Gewerkschaft der Millionäre« verspottet.21 Die League bezeichnete sich als »non-partisan«, also als parteilich ungebunden – und das war nicht einmal gelogen. Vor allem verdeutlicht die18  |  Ein gutes Beispiel dafür sind die Arbeiten des konservativen Kolumnisten des National Review, Jonah Goldberg. Vgl. sein Buch: Liberal Fascism: The Secret History of the American Left, From Mussolini to the Politics of Meaning, New York 2007. 19  |  Vgl. Farber, The Rise and Fall of American Conservatism, S. 22. 20  |  Allan Lichtman: White Protestant Nation: The Rise of the American Conservative Movement, New York 2008, S. 69. 21  |  Vgl. Patrick Allitt: The Conservatives. Ideas and Personalities throughout American History, New Haven 2009, S. 146.

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se Selbstverortung aber, wie ideologisch heterogen beide Parteien zu jenem Zeitpunkt noch waren: Der ideologische Klärungsprozess, der aus Demokraten und Republikanern weltanschaulich vergleichsweise homogene Parteien machen sollte, lag damals noch einige Jahrzehnte in der Zukunft. Bis dato besaßen beide Parteien jeweils starke liberale und konservative Flügel. Sie waren keine Weltanschauungsparteien wie ihre europäischen Pendants, sondern lose, regional hochfragmentierte Allianzen. Einige der schärfsten Feinde des New Deal fanden sich daher in Roosevelts eigener Partei, also bei den Demokraten: etwa der Gouverneur von New York, Al Smith, den Roosevelt bei der Nominierung zum Demokratischen Präsidentschaftskandidaten 1932 geschlagen hatte und der in der League eine aktive Rolle einnahm. Umgekehrt unterstützten nicht wenige Republikaner die Politik Roosevelts. Allerdings: Der Großteil der Opposition gegen den New Deal formierte sich parteipolitisch in der Tat schon jetzt in der Grand Old Party. Neben Herbert Hoover hörte der Widerstand vor allem auf einen Namen: Robert Taft, Senator aus Ohio, außerdem Sohn des 27. Präsidenten der USA. Taft war der erste ranghohe Republikaner, der das Schmähwort conservative ins Positive wendete und als Selbstbeschreibung nutzte.22 Die Konservativen in der Republikanischen Partei, vor allem aus dem Mittleren Westen, wo Taft seine Basis hatte, sammelten sich hinter ihm. Und gemeinsam mit konservativen Demokraten aus dem Süden der USA gelang Taft und anderen, ab etwa 1936 den Reformelan des New Deal zu bremsen. Der New Deal war also nicht jene Revolution, die seine ärgsten Feinde befürchteten und seine größten Befürworter sich herbeisehnten. In seiner Partei stand Taft allerdings nur einer Minderheit vor: Insgesamt drei Mal – 1940, 1948 und 1952 – bemühte er sich um die Präsidentschaftskandidatur der Republikaner; und jedes Mal scheiterte er damit. Die meisten seiner Parteifreunde glaubten, dass es kaum ein Zurück in die Zeit vor 1933 gebe und man sich nun wohl oder übel mit zumindest einigen der Reformen würde abfinden müssen. Im Wahlkampf 1936 bat die Parteiführung die Liberty League gar, die öffentliche Unterstützung für ihren Präsidentschaftskandidaten, Alf Landon, zurückzuziehen, da sie ihm erkennbar mehr schade als nutze. So blieb diese erste Welle konservativer Mobilisierung scheinbar ziemlich erfolglos. Tatsächlich fürchtete Roosevelt seine Kritiker auf der Linken weitaus mehr als jene auf der Rechten. Als sein gefährlichster Gegner in der Frühphase des New Deal galt der Linkspopulist, Gouverneur und spätere Senator des Bundesstaates Louisiana, Huey Long.23 Auch um Kräften links von ihm das Wasser abzugraben, agitierte Roosevelt vor allem im Wahlkampf 1936 ganz außerordentlich scharf gegen kapitalistische »robber barons« und »economic 22  |  Vgl. Farber, The Rise and Fall of Modern American Conservatism, S. 1. 23  |  Vgl. Kennedy: Freedom from Fear, S. 237ff.

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royalists«.24 Das war bereits die Sprache des amerikanischen Populismus – der damals noch eindeutig auf der politischen Linken beheimatet war. Der Wählerzusammenschluss, der Roosevelt gleich ganze vier Mal ins Amt wählte, die sogenannte New Deal Coalition, schien dementsprechend unerschütterlich. Sie bestand aus gewerkschaftlich organisierten Arbeitern, weißen Südstaatlern, Katholiken, ethnischen Minderheiten und Intellektuellen. Amerikas Konservative hingegen fanden in diesen Jahren keinen Anschluss an das Massenbewusstsein, verfügten eben noch nicht über eine populistische Erzählung, um das eigene Programm breiteren Schichten der Bevölkerung zu verkaufen. Sie wurden als exklusiver Klub wahrgenommen, ahnungslos ob der Verheerungen, welche die Great Depression im Leben vieler normaler Amerikaner angerichtet hatte. Überdies fehlten sowohl den Konservativen im amerikanischen Kongress als auch den Interessenverbänden der Wirtschaft weitere wichtige Bündnispartner. In den 1930er Jahren existierte noch nichts von alledem, was die Bewegung später zu einem autarken Diskursuniversum machen sollte. Es gab keinen intellektuellen Überbau. Die wenigen Intellektuellen, die gegen den New Deal argumentierten, konstituierten noch keine eigenständige Gruppe und lebten am Rande der gesellschaftlichen Debatte. Außerdem befand sich unter ihnen eine erstaunliche Anzahl verschrobener Exzentriker, die ihr Außenseiter- und Emeritentum förmlich zelebrierten, etwa der radikal-libertäre Journalist Albert Jay Nock, dessen Buch »Our Enemy, the State«25 erst später eifrige Adepten fand. Zwar gab es einige Ökonomen an amerikanischen Universitäten, die den New Deal – und insbesondere die damit propagierte keynesianische Finanzpolitik – ablehnten. Aber auch sie waren darum bemüht, nicht als naive Apologeten der Business Community zu gelten, und ließen sich nur ungern von Gruppen wie der Liberty League vereinnahmen. An dieser Stelle mag man sich fragen, warum nicht häufiger die Rede ist von einem kulturellen oder traditionalistisch begründeten Konservativismus. Die Antwort darauf ist jedoch recht einfach: Weil er in den Jahren des New Deal ganz einfach keine große Rolle spielte. Dabei waren sich Amerikas marginalisierte Konservative grundsätzlich im Klaren darüber, dass es eines sehr viel breiteren gesellschaftlichen Bündnisses bedurfte. Seit den 1930er Jahren versuchten sich einige immer wieder an einem Schulterschluss mit Amerikas protestantischen Kirchen.26 Und in den Reden Robert Tafts hieß es häufig, dass Amerikas kapitalistische Wirtschaftsordnung zwingend auf einem strengen 24  |  Vgl. E.J. Dionne Jr.: Our Divided Political Heart: The Battle for the American idea in an Age of Discontent, New York 2012, S. 232. 25  |  Albert Jay Nock: Our Enemy, the State, New York 1935. 26  |  Vgl. Kevin Kruse: One Nation Under God. How Corporate America Invented Christian Faith, New York 2015.

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protestantischen Ethos gegründet sein müsse. Aber ein wirkliches politisches Bündnis entstand daraus in diesen Jahren nicht. Die politische Konfliktstruktur des New Deal war primär sozioökonomisch kodiert, Fragen von Religiosität und Moral spielten im Vergleich eine untergeordnete Rolle. So verpufften also diese ersten Versuche, eine sowohl konsistente als auch bündnisfähige Alternative zum New Deal zu entwickeln. Wollte man es zuspitzen, könnte man sogar sagen: Eine wirkliche konservative Bewegung gab es damals kaum. Und auch die Republikanische Partei war noch keine eindeutig konservative Partei. Dennoch waren jene Jahre keineswegs bedeutungslos für all das, was folgen sollte. Manche Erzählungen und Interpretationsmuster des amerikanischen Konservativismus stammen ganz unverkennbar aus jener Zeit – nicht zuletzt die Vorstellung, dass letztlich alle Wege staatlicher Intervention in den Totalitarismus führen würden. Zudem entstanden damals die Netzwerke äußerst potenter konservativer Spender, die dann den Kampf gegen die New-Deal-Ordnung über Jahre finanzierten. Einige dieser »Wohltäter« lernten aus ihren Fehlern und waren fortan tunlichst darum bemüht, ihrer Opposition nicht den Anschein der Vertretung betuchter Partikularinteressen zu geben, sondern sie in einen ideologisch sehr viel breiteren Kontext einzubetten. Wir werden ihnen bald begegnen.

3. Markt, Gott, Antikommunismus

Zur intellektuellen Formierung einer Bewegung im Schatten



des Kalten Krieges

Etwas länger als drei Jahrzehnte stand die amerikanische Politik und Gesellschaft unter den Vorzeichen liberaler Dominanz. Diese Phase reichte von der Wahl Roosevelts 1932 bis zum Einzug Richard Nixons ins Weiße Haus 1968. Aber dreißig Jahre sind ein zu langer und buchstäblich erschöpfender Zeitraum für eine Epoche immerwährender Reformen. In dieser Ära gab es Perioden des Sturm und Drang, dann auch wieder Phasen des Innehaltens und Pausierens, in denen das Erreichte konsolidiert wurde. Nach 1945 legte der Reformeifer für über eine Dekade eine Pause ein und es folgten Jahre eines relativen Konsenses – Jahre, an die man sich später, im Zeitalter bitterböser Polarisierung zwischen den Parteien, wehmütig zurückerinnerte.1 Und entgegen allen Kassandrarufen der du Ponts und anderer Gegner Roosevelts war Amerika auch nicht in den Sozialismus abgedriftet. Einige der Planungsbehörden des New Deal – die in den Kriegsjahren teilweise noch gewachsen waren – wurden nach 1945 sogar wieder abgewickelt. Während der Großen Depression hatte es kurzzeitig so geschienen, als ob die Rhetorik des Klassenkampfes jetzt auch in den USA Einzug halten würde. Aber nach 1945 schwächte sich dieses rasch ab. Amerikas Gewerkschaften blieben zwar vorerst relativ stark und mächtig; aber nach einer militanten Streikwelle 1945/46 büßten sie nachhaltig an Ansehen ein, und durch den »Taft-Hartley Act« von 1947 wurden sie auch faktisch geschwächt. Zudem warf bald der Kalte Krieg seinen innenpolitischen Schatten auf das Land: Der Kommunismus war nach 1945 als politische Kraft schnell diskreditiert und auch Amerikas Gewerkschaften wurden von Antikommunisten geführt, die keinen einzigen Gedanken an eine 1 | Vgl. als Würdigung dieser Jahre z.B. Ronald Brownstein: The Second Civil War: How Extreme Partisanship Has Paralyzed Washington and Polarized America, New York 2008, S. 57-91.

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proletarische Weltrevolution verschwendeten. Amerikas Unternehmer hingegen waren nicht länger verfemte Figuren, sondern nahmen langsam wieder jene gesellschaftliche Position ein, die sie vor 1929 innegehabt hatten – als Ikonen amerikanischer Modernität, eine tatkräftige und wagemutige Avantgarde der globalen Expansion. Nicht alle von ihnen hatten allerdings die Kränkungen der Vorjahre vergessen; und sie waren auch nach wie vor der Ansicht, dass das Land seit Roosevelt auf die schiefe Bahn geraten sei. Im Stillen und zunächst weitgehend unbemerkt arbeiteten sie daran, den New Deal ungeschehen zu machen. Gleichwohl war eben dieser New-Deal-Liberalismus ideologisch zweifellos weiterhin hegemonial. Nicht nur stellte der Wechsel von Roosevelt, der nach dreimaliger Wiederwahl 1945 im Amt verstarb, zu Harry S. Truman in dieser Hinsicht kaum eine Zäsur dar. Die Kontinuität zeigte sich noch deutlicher darin, dass mit Dwight D. Eisenhower ab 1952 zum ersten Mal seit zwanzig Jahren wieder ein Republikaner im Weißen Haus saß – der ebenfalls nicht an den Reformen der Roosevelt-Ära zu rütteln gedachte. Denn Eisenhower gehörte zum moderaten Flügel der Republikanischen Partei. Tatsächlich hatte sich »Ike«, wie der Kriegsheld von allen salopp genannt wurde, im Vorfeld seiner Kampagne lange schwergetan mit der Frage, ob er denn nun als Demokrat oder als Republikaner antreten solle – angetragen worden war ihm die Kandidatur schließlich von beiden Seiten. Eisenhower war vielleicht kein enthusiastischer Befürworter weiterer staatlicher Expansion, aber er sah auch wenig Grund, an den Veränderungen der letzten zwanzig Jahre großartig zu rütteln. Der Weltkriegsgeneral war praktisch sein Leben lang Staatsbediensteter gewesen – die Idee, dass dieser Staat der Feind sein sollte, musste ihm insofern obskur und versponnen erscheinen. Und eine konservative Opposition hatte Eisenhower nicht zu fürchten – denn diese schien in der Republikanischen Partei marginalisierter denn je. Robert Taft, »Mr. Conservative«, wie er mittlerweile tituliert wurde, war 1952 zu seiner letzten Schlacht angetreten und hatte sich ein drittes Mal um die Präsidentschaftskandidatur seiner Partei beworben – und war zum dritten Mal gescheitert. Kurz danach starb Taft und die Konservativen in der Grand Old Party standen führungslos dar, tief frustriert über die Präsidentschaft Eisenhowers. Und doch waren es die Jahre nach 1945 und dann die Eisenhower-Ära, in denen der amerikanische Konservativismus begann, sehr viel mehr zu sein als die Interessenvertretung betuchter und privilegierter Männer (denn es waren bis dahin nur Männer) in maßgeschneiderten Anzügen – er entwickelte sich zu einer veritablen sozialen Bewegung. Natürlich: Ohne den nach 1945 rasch aufziehenden Antikommunismus wäre dies kaum erklärbar. Gleichwohl war die antikommunistische Hysterie, die sich vor allem mit dem Namen Joseph McCarthy verbindet – dem Sena-

3. Markt, Gott, Antikommunismus

tor aus Wisconsin, der sich als Vorsitzender des Permanent Subcommittee on Investigations zum obersten Kommunistenjäger des Landes aufschwang –, nicht allein nur Segen, sondern auch ein wenig Fluch für das Wachstum der Bewegung. Zwar fanden die vielen zerstreuten Gegner des amerikanischen Liberalismus erst unter der wirklichen oder vermeintlichen Herausforderung des Kommunismus zueinander. Der Antikommunismus war der Klebstoff, der ein von Anfang an instabiles Konstrukt zusammenhielt. Und er versorgte Amerikas Konservative mit ihrem ersten Märtyrer: Whittaker Chambers, ein zum frommen Quäker und politischen Konservativen gewandelter Ex-Kommunist, erschütterte 1948 mit seinen Aussagen im berüchtigten House Committee on Un-American Activities, das von einem damals noch unbekannten kalifornischen Kongressabgeordneten namens Richard Nixon geleitet wurde, die Nation bis ins Mark. Chambers, der von 1925 bis 1938 Mitglied der Kommunistischen Partei der USA gewesen war und außerdem für die Sowjetunion spioniert hatte, nannte dabei die Namen ehemaliger Parteigenossen und beschuldigte einen hohen Beamten des State Department, Alger Hiss, direkt im Auftrag Moskaus spioniert zu haben. Der Prozess hielt die amerikanische Öffentlichkeit über Wochen in Atem. Und der Großteil der Bevölkerung hatte sich sehr klar positioniert: für den eloquenten, gutaussehenden Hiss, der mittlerweile der angesehenen Stiftung Carnegie Endowment for International Peace vorstand – und gegen den schwerfälligen, etwas halbseiden wirkendenden Ex-Kommunisten Whittaker Chambers, über den außerdem das Gerücht kolportiert wurde, er sei homosexuell und seine Aussagen seien in Wahrheit der Rachefeldzug eines Zurückgewiesenen. Hiss wurde schließlich verurteilt, aber Chambers zahlte in der Tat einen hohen Preis für seine Aussagen: Geächtet als Beförderer der antikommunistischen Paranoia war er fortan persona non grata.2 Chambers sollte in seiner Autobiografie »Witness« diese Vorgänge aufarbeiten. Das Buch prägte Generationen von Konservativen in ihrer Weltsicht: dass der Konflikt der Systeme eine ultimative Schlacht zwischen Gut und Böse sei und dass Amerikas Liberale mindestens stillschweigend die Geländegewinne des Kommunismus bzw. Sozialismus duldeten und eine Konzilianz walten ließen, die letztlich nur auf eine klammheimliche Sympathie bzw. Verwandtschaft mit diesen Ideen hindeuten könne. Heute weiß man, was für viele harte Antikommunisten und Konservative schon damals auf der Hand lag: Alger Hiss hatte tatsächlich für die Sowjetunion spioniert.3 Dass die Sympathien in der Öffentlichkeit jedoch gänzlich anders verteilt waren, werteten Amerikas Konservative als Beweis für 2 | Vgl. zu Chambers die brillante Biografie von Sam Tanenhaus: Whittaker Chambers. A Biography, New York 1997. 3 | Vgl. auch zu den bis heute andauernden unterschiedlichen Wahrnehmungen des Falles (trotz mittlerweile klarer Aktenlage) Tony Judt: Das vergessene 20. Jahrhundert.

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die Blindheit der herrschenden liberalen Eliten gegenüber der Gefahr einer kommunistischen Unterwanderung. Auch wenn Amerikas Kommunistenjäger im Falle von Hiss richtiglagen: Damit deutete sich bereits an, dass der Antikommunismus – der ja grundsätzlich in allen westlichen Demokratien auf das bürgerlich-konservative Parteienspektrum integrativ wirkte – auch Verdächtigungen und Ängste wachsen ließ, die man nur noch als pathologisch bezeichnen kann. Der tendenziell paranoide Charakter der Bewegung, angelegt schon in den frühen Roosevelt-Jahren, wurde dadurch nicht gerade gemildert. Überall im Land schossen lokal organisierte antikommunistische Gruppierungen nachgerade wie Pilze aus dem Boden. Die berühmt-berüchtigtste unter ihnen, die »John Birch Society«, umfasste mehrere zehntausend Mitglieder und witterte die Verschwörung noch auf den obersten Ebenen des Staates. Ihr Gründer, der Süßwarenfabrikant Robert Welch, hielt gar das Oval Office nicht für immun gegen diese Unterwanderung und bezeichnete Dwight D. Eisenhower als einen »conscious, dedicated agent of the Communist Conspiracy«4. Die Pioniere des amerikanischen Konservativismus, die, wie wir noch sehen werden, gewiss selbst ganz hart am Wind segelten, hielten solcherlei Äußerungen zwar für verrückt, aber aufgrund ihres eigenen extrem antikommunistischen Kurses fiel ihnen nicht leicht, sich vom radical fringe der amerikanischen Rechten abzugrenzen. Doch so sehr man die gewandelten Rahmenbedingungen durch den Beginn des Kalten Krieges betonen muss: Der amerikanische Konservativismus ist in gewisser Weise auch »erfunden« worden, ist das Produkt spezifischer Handlungen strategisch denkender Akteure. Und man würde vorgreifen, näherte man sich dem Phänomen primär über Organisationen, Parteien oder Politiker. Nach 1945 muss eine Geschichte des amerikanischen Konservativismus zwangsläufig anders ansetzen. Noch bevor es nämlich gelang, andere und neue Wählerreservoirs zu erschließen, noch bevor der US-Konservativismus zur Massenbewegung reifte, war er in den Köpfen von Intellektuellen wie in einer Art geistiger Vorzündung entstanden. Überhaupt war der amerikanische Konservativismus, der heute als Hort eines beißenden Anti-Intellektualismus gilt, in seiner Gründungszeit eine hochgradig ideenzentrierte Bewegung. Jedenfalls hat die Bewegung, darin der sozialistischen Arbeiterbewegung nicht unähnlich, eine regelrechte »Schriftkultur« hervorgebracht und dazu einen Kanon von einem guten Dutzend von Büchern, die allesamt in den zwanzig Jahren nach 1945 entstanden und von Die Rückkehr des politischen Intellektuellen, Bonn 2012 (Lizenzausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung), S. 295-309. 4  |  Zitiert nach Jonathan Schoenwald: A Time for Choosing. The Rise of Modern American Conservatism, Oxford 2001, S. 72.

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konservativen Aktivisten wie heilige Schriften verehrt wurden. Und im Grunde gilt diese Ideenzentriertheit bis in die jüngere Vergangenheit, auch wenn das aus der Ferne bisweilen schwer zu glauben ist. Doch wer einmal ausführlicher mit Aktivisten der Tea Party gesprochen hat, ist durchaus verblüfft, wie diese, nur einen Atemzug nachdem sie die Echtheit der Geburtsurkunde Barack Obamas angezweifelt haben, dann seitenweise aus August von Hayeks »Der Weg zur Knechtschaft« und anderen Büchern des »konservativen Kanons«5 zitieren können. Präziser wäre jedoch, sich dabei nicht auf den klassischen Intellektuellentypus zu fixieren. Der amerikanische Konservativismus lebte insbesondere nach 1945 von einer sehr spezifischen politischen Figur, die gewiss auch in anderen politischen und sozialen Bewegungen und Parteien vorkommt, hier aber besonders auffällig war. Diese Figur könnte man als ideologisch motivierten »Bewegungsunternehmer« bezeichnen.6 Dieser Bewegungsunternehmer konnte ein Finanzier sein, ein einflussreicher Netzwerker oder vielleicht auch ein Verleger. Aber: Er war ganz primär und auch genuin an politischen Ideen interessiert und versuchte, Denker zu identifizieren, welche die richtige Botschaft zu verbreiten wüssten. All das unterschied diesen nach 1945 sehr verbreiteten Typus z.B. von den grauen Eminenzen der Liberty League. Nach Ansicht der Bewegungsunternehmer des amerikanischen Konservativismus fehlte dem Widerstand gegen den New Deal bisher einfach eine entscheidende Grundlage: ein eigener systematischer ideologischer Überbau, der sich nicht in Kritik erschöpfte, sondern eine autonome und fundamental andere Vision der Zukunft entwarf. Einer dieser zahllosen Bewegungsunternehmer war Jasper Crane:7 ein ehemaliger Manager von du Pont und ein Veteran der konservativen Abwehrkämpfe der 1930er Jahre, der den amerikanischen Liberalismus auch weiterhin für den Totengräber der Freiheit hielt. In den 1940er Jahren tummelte er sich in diversen konservativen und antikommunistischen Gruppen. Wie gesagt: Es gab viele Jasper Cranes in dieser Zeit. Aber wir wollen ihn auswählen, auch wegen eines Briefes, den er 1945 einem Freund schickte und in dem sich die Essenz dieser »Erkenntnis« ausdrückt – Crane schrieb: »Christianity made little progress until in the Second Century it had the writings of the New Testament;

5  |  Vgl. Michael J. Lee: The Conservative Canon and Its Uses, in: Rhethoric and Public Affairs, 2012 (15), S. 1-39. 6  |  Vgl. zum Typus des Bewegungsunternehmers John D. McCarthy und Zald N. Mayer: Resource Mobilization and Social Movements: A Partial Theory, in: American Journal of Sociology, 82 (1977), S. 1212-1241. 7  |  Vgl. zu Crane: Phillips-Fein: Invisible Hands, S. 27ff.

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Communism got nowhere until Marx wrote Das Kapital […]. National Socialism needed Mein Kampf to be effective.«8 Crane sollte seine Bibel bald finden und sein Bestes tun, um sie als heilige Schrift zu verbreiten. Und erstaunlicherweise stammte der Prophet nicht aus den USA, sondern aus dem Ausland, genauer gesagt: aus Wien. Denn dort, in der österreichischen Grenznutzenschule unter seinem Lehrer Ludwig von Mises, hatte Friedrich August von Hayek in den 1930er Jahren die Fundamente eines puristischen Marktlibertarismus entworfen. 1938 emigrierte Hayek nach London und schrieb sechs Jahre später ein Buch, das seinen Weltruhm begründen sollte: »The Road to Serfdom«, der »Weg zur Knechtschaft«. Die Grundthese dieses Buches ist schnell erzählt: Jede Form der Wirtschaftsplanung führe letztlich in den Totalitarismus. Deswegen gebe es auch keinen demokratischen Sozialismus, da auch dieser schließlich in Unfreiheit münde. Für Hayek entsprangen Faschismus wie Kommunismus als Feinde des Liberalismus und Kapitalismus derselben Wurzel, nämlich dem Bestreben, staatliche Macht auf Kosten individueller Freiheit auszuweiten. Hitler und Mussolini, davon war Hayek überzeugt, seien keine Reaktion auf die Oktoberrevolution, sondern desselben Geistes Kind: des Kollektivismus. »The Road to Serfdom« ist grundsätzlich ein pessimistisches, ja fast schon resignatives Buch. Denn Hayek sah die Werte des Kollektivismus 1944 überall auf dem Vormarsch. Ironisch widmete er sein Buch den »Sozialisten in allen Parteien«9. Hayek ging es nicht darum, dass der Kapitalismus überlegen sei, weil er mehr Wohlstand schaffe und effizienter als andere Wirtschaftssysteme sei (obwohl er davon gewiss überzeugt war). Für den österreichischen Ökonomen war das alles zweitrangig angesichts der eigentlichen Funktion freier Märkte: die Freiheit einer Gesellschaft zu sichern. Nur der Markt, dessen war sich Hayek gewiss, könne Entscheidungen ohne Zwang herbeiführen, denn er mache – und das musste für Liberale eine ungeheure Provokation sein – die Menschen gleich, weil er anders als Regierungen und deren Bürokratien blind sei für soziale, ethnische oder andere Unterschiede; in diesem Sinne überwinde er Klassensysteme und sei buchstäblich revolutionär. Als das Buch 1944 in London erschien, sorgte es schnell für Furore; aber das war noch nichts im Vergleich zu der kleinen Sensation, die es in den USA auslöste, wo es den Mythos einer ebenso radikal individualisierten wie radikal egalitären Gesellschaft zu reanimieren half. Dabei hatten die ersten drei Verlagshäuser die Publikation noch abgelehnt, bis endlich die University of Chicago Press zugriff. Die Erwartungen waren bescheiden: Man druckte zunächst nur 2.000 Bücher. Nach einer Woche schon musste man jedoch nachdrucken,

8  |  Vgl. Philips-Fein: Invisible Hands, S. 30. 9  |  Friedrich A. von Hayek: Der Weg zur Knechtschaft, Tübingen 2004, S. 1.

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dieses Mal 5.000 Kopien. Eine Woche später erschien die dritte Auflage, jetzt waren es bereits 10.000 Exemplare. Der bereits erwähnte Jasper Crane war es auch, der mithalf, Hayek mit Unterstützung potenter konservativer Spender in die USA zu holen – genauer gesagt an die University of Chicago, die damit endgültig zum Zentrum der anti-keynesianischen Gegenoffensive wurde.10 Von den sogenannten Chicago Boys ging in den nächsten drei Jahrzehnten ein weltweiter Einfluss aus; bald schon stiegen ihre Lehrsätze von einer Minderheitsmeinung zur neuen wirtschaftswissenschaftlichen Orthodoxie auf. Hayek selbst kehrte Chicago 1960 nach zehn Jahren wieder den Rücken, aber er hinterließ eine große Schar gelehriger Adepten. Neuer Bannerträger der Chicago School wurde Milton Friedman, dessen Buch »Capitalism and Freedom«11 in vielem auf Hayek auf baute – dabei aber noch weitaus populärer geschrieben war und zum veritablen Bestseller avancierte. Überdies entstanden seit den 1940er Jahren eine Reihe außeruniversitärer Forschungseinrichtungen, die sich zur Aufgabe machten, die Ideen von Hayek und anderen zu verbreiten. Da ist etwa die Foundation for Economic Education (FEE), die 1946 gegründet wurde und sich ausdrücklich nicht als Interessengruppe der Unternehmer verstand (allerdings vom ersten Tag an gewaltige Zuwendungen aus ebenjenen Kreisen erhielt), sondern ihre Mission darin sah, eine kompromisslose, kristalline Version der freien Marktwirtschaft zu propagieren.12 Die FEE war somit als Institution zu jenem Zeitpunkt eine Innovation, die heute jedoch in der politischen Landschaft nicht mehr wegzudenken wäre: der erste sogenannte Think Tank auf konservativer Seite. Ein anderer wichtiger Think Tank der ersten Stunde, das American Enterprise Institute, war zwar bereits 1943 gegründet worden, entwickelte sich jedoch erst seit Mitte der 1950er Jahre zu einem intellektuellen Zentrum des konservativen bzw. libertären Denkens. Von Zitadellen wie Chicago abgesehen, war die akademische Wirtschaftswissenschaft der 1950er Jahre zwar noch immer liberal geprägt; aber Amerikas Konservative fanden zunehmend andere, autonome Zentren der intellektuellen Produktion. Sowohl Hayek als auch Friedman beharrten noch lange darauf, »Liberale« im klassischen Sinne zu sein, und widersetzten sich damit der sprachlichen Inversion, die mit der Auseinandersetzung zwischen Roosevelt und seinen Gegnern begonnen hatte. Doch in der unmittelbaren Nachkriegszeit waren die Begriffe tatsächlich noch nicht ganz geklärt. Es gab in Amerika, dem Land des Fortschrittsoptimismus, ja auch durchaus einige »klassische« Konservative im Sinne Edmund Burkes. Eine Rolle haben sie in diesem Buch bisher nicht 10  |  Phillips-Fein: Invisible Hands, S. 41-51. 11  |  Milton Friedman: Capitalism and Freedom, Chicago 1962. 12  |  Phillips-Fein: Invisible Hands, S. 27.

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gespielt – weil sie auch im Kampf gegen den New Deal bisher noch keine Rolle gespielt hatten. Der Mann, der mehr als jeder andere dazu beitrug, dies zu ändern, und der das Wesen des amerikanischen Konservativismus nachhaltig definierte, war Willam F. Buckley. Die von ihm initiierte Gründung der Monatszeitschrift National Review gilt als informeller Gründungsakt der Bewegung und Buckley insofern als der »Johannis der Täufer« des amerikanischen Konservativismus. Buckley war maßgeblich daran beteiligt, die Ideen libertärer Denker wie Hayek mit klassisch-konservativen Positionen zu verbinden. Jedenfalls: In Buckley waren diese Elemente von Anfang an ohne Widerspruch miteinander vereint. Er stand mit dem einem Bein im Libertarismus und mit dem anderen in der Tradition (ein harter Antikommunist war er natürlich sowieso). Schon in jungen Jahren trat er als polemischer Kritiker des – wie er und andere es empfanden – herrschenden liberalen Establishments auf. Gerade 25 Jahre jung, wurde sein erstes Buch sofort ein Bestseller. »God and Man at Yale« (1951) war eine Abrechnung mit Buckleys eigener Alma Mater, die er von Atheisten und linken Liberalen beherrscht sah, die sich zwar selbst für tolerante, aufgeklärte Menschen hielten, in Wahrheit jedoch in ihrer Ignoranz keine anderen Meinungen als ihre eigenen akzeptieren würden.13 Nach Buckleys Meinung wäre es die Aufgabe der Professoren von Yale gewesen, klare Werte zu vermitteln – und zwar jene, die Amerika großgemacht hätten: Christentum, Kapitalismus, Individualismus. Stattdessen, so Buckley, bewahrte die Fakultät eine ironische Distanz zu all diesen Werten. Ihre Mitglieder glaubten, intellektuell überlegen zu sein, weil sie sich für werturteilsfrei hielten; in Wahrheit aber seien sie Nihilisten, deren Preisgabe dem Kommunismus, der wirkliche Hingabe in seinen Anhängern erzeugte, in die Hände spielte. Tatsächlich war der Atheismus für Buckley die Wurzeln allen Übels, denn ohne ein verbindliches System von christlichen Werten und Überzeugungen sei es kein Wunder, dass sich andere, »unamerikanische« Ideen und Vorstellungen in den Köpfen festsetzen konnten. Kurz gesagt: Wer das Christentum verteidigte, der verteidigte auch den Kapitalismus. Mit Buckley begann die amerikanische Rechte eine Selbstwahrnehmung zu entwickeln, die für konservative Bewegungen durchaus ungewöhnlich ist. Buckley kultivierte, ja zelebrierte geradezu lustvoll die Rolle des Außenseiters und Rebellen, der es mit dem Establishment aufnimmt. Im Amerika der 1950er Jahre, so empfand es Buckley, waren die Konservativen die Nonkonformisten. Und wie alle Rechtsintellektuellen spielte Buckley gerne die Karte des Anti-Intellektualismus. Wir werden uns diese Attitüde – in einer viel härteren, in gewisser Weise auch authentischeren Form – in dieser Arbeit noch genauer 13  |  Vgl. Willam F. Buckley Jr.: God and Man at Yale. The Superstitions of »Academic Freedom«, Washington 2002.

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anschauen. Aber Buckley rammte bereits einige Pflöcke ein. Einer der vielen legendären One-Liner dieses durch und durch elitär eingestellten Mannes lautete, dass er sich lieber von den ersten 2.000 Namen im Bostoner Telefonbuch regieren lassen würde als von der versammelten Professorenschaft in Harvard. Buckley, ein schlagfertiger Mann mit einem dandyhaften Lebensstil, schuf um sich herum eine Aura der Rebellion, des radical chic, den sonst nur Linke für sich beanspruchten. Und paradoxerweise befreite er Amerikas Konservative gerade damit von ihrem Image als bestenfalls verschrobene, schlimmstenfalls gefährliche Sonderlinge. 1967 landete sein Konterfrei auf dem Cover des Time Magazine, darunter in kleiner Schrift: »William Buckley. Conservatism Can Be Fun«.14 Doch wie gesagt: Buckleys größtes Talent war nicht das Schreiben – er verstand vor allem, Menschen zusammenzubringen für ein gemeinsames Ziel. 1955 gründete er, Spross einer wohlhabenden, streng katholischen Familie, mit dem Geld des Vaters jene Zeitschrift, die fortan den intellektuellen Knotenpunkt der Bewegung bildete: den National Review (NR). Die Rebellenpose wurde sofort Teil der Programmatik des Journals. Im Editorial definierte Buckley: »A conservative is someone who stands athwart history, yelling Stop, at a time when no one is inclined to do so, or to have much patience with those who so urge it.«15 Gedacht als Gegengewicht zu bereits etablierten Monatszeitschriften auf der politischen Linken avancierte NR schnell zur Anlaufstelle für alle Konservativen, die nicht nur gegen die politische Linke ankämpften, sondern vor allem mit Eisenhower und dem moderat-liberalen Flügel der Republikanischen Partei haderten.16 Die überragende Bedeutung der Zeitschrift für die Geschichte der Bewegung verdankte sich dann wohl auch eher ihrer Funktion als internem Debattenorgan: Im National Review wurden vor allem die Außengrenzen des amerikanischen Konservativismus definiert. Dabei ging es nicht nur darum, sich gegen die moderaten Kräfte innerhalb der Republikanischen Partei zu positionieren. Insbesondere Ende der 1950er/Anfang der 1960er Jahre bemühte sich Buckley auch, jene Kräfte zu neutralisieren, die als zu radikal, paranoid oder in anderer Weise als unhaltbar galten. Das betraf z.B. die Aktivitäten der John Birch Society, über welche die Medien nun ausführlich berichteten und von der man annahm, sie schade dem Anliegen des amerikanischen Konservativismus. 14  |  Vgl. allgemein zu Buckley die Biografie von Carl T. Bogus: William F. Buckley Jr. and the Rise of American Conservatism, New York 2011. 15 | William F. Buckley Jr.: Our Mission Statement, 19. November 1955. URL: www. nationalreview.com/article/223549/our-mission-statement-william-f-buckley-jr [eingesehen am 02.10.2016]. 16  |  Vgl. Jeffrey Peter Hart: The Making of the American Conservative Mind. National Review and Its Times, Wilmington 2005.

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Es war kein leichter Balanceakt, den Buckley dabei vorzuführen hatte. Die Birchers waren einflussreich, stellten eine wichtige Aktivistengruppe dar. Und ihr Gründer Robert Welch hatte gar finanzielle Zuwendungen an den National Review getätigt. Buckley zögerte und zauderte lange, aber 1962 zog er schließlich die Reißleine und attackierte Welch in einem Artikel im National Review als Verschwörungstheoretiker, der dem Kampf gegen den Kommunismus einen Bärendienst erweise. Es lag gewiss nicht an Buckleys Interventionen alleine, aber die John Birch Society spielte bald keine große Rolle mehr; überhaupt wurden die allerverrücktesten paranoiden Strömungen in der Partei marginalisiert. Erst in den Jahren der Obama-Präsidentschaft kehrte all das wieder – auch wenn es dieses Mal nicht um Kommunisten ging, sondern um einen Präsidenten mit vermeintlich gefälschter Geburtsurkunde. Viele der Autoren, die Buckley seit 1955 um sich scharte, hatten eine auffällige Gemeinsamkeit, die eine Erwähnung wert scheint: Unter ihnen befand sich eine erstaunlich hohe Zahl von Ex-Kommunisten und Ex-Trotzkisten. Der bekannteste von ihnen war James Burnham, Autor der »Managerial Revolution« und in den 1930er Jahren ein enger Vertrauter Trotzkis.17 Der amerikanische Konservativismus begann nicht zuletzt als Partei der Konvertiten: Menschen, die eine radikale politische Wandlung vollzogen hatten und fortan mit besonderer Inbrunst versuchten, ihren neuen Glauben zu verbreiten. Dieser Typus sollte die Bewegung und die Republikanische Partei sehr langfristig prägen: von den zu Neoconservatives gewendeten Ex-Trotzkisten über den Ex-Liberalen und Vorsitzenden der Schauspielergewerkschaft Ronald Reagan bis hin zum Ex-Alkoholiker und dann »wiedergeborenen« gläubigen Christen George W. Bush.18 Und sie setzten die Konversion gekonnt als politisches Stilmittel ein. Denn Konvertiten sind nicht nur gebrannte Kinder, sondern wissen auch vermeintlich besser als andere, wovon sie sprechen – kennen sie doch die Fehler der Gegenseite aus eigenem Erleben. Irving Kristol, der »Pate« des Neokonservativismus (auf diese Ausprägung werden wir noch zu sprechen kommen), lieferte später eine Definition, die diese Selbststilisierung gut beschreibt: »A conservative is a liberal mugged by reality.«19 Vielleicht erklärt diese Prägung durch Konvertiten auch die Neigung zum Doktrinären, das Streben nach ideologischer Reinheit, da Radikalität aus vielerlei Gründen zum Charakter jener gehört, die eine radikale Wandlung vollzogen haben.

17  |  Vgl. Daniel Oppenheimer: Exit Right: The People Who Left the Left and Reshaped the American Century, New York 2016, S. 69-145. 18  |  Vgl. Torben Lütjen: Partei der Sünder, Partei der Bekehrten: Konversionserzählungen im amerikanischen Konservativismus, in: INDES, H. 4/2016. 19  |  Christopher DeMuth/William Kristol (Hg.): The Neoconservative Imagination: Essays in Honor of Irving Kristol, Washington (D.C.) 1995, S. 176.

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Im Fall der Konvertiten der 1940/50er Jahre, von denen Buckley so viele an den National Review band, existiert sogar ein sehr schnell kanonisch gewordener »Ur-Text« der politischen Wandlung: das bereits angesprochene Buch »Witness«, die Autobiografie des Ex-Kommunisten Whittaker Chambers, der hier seine Abwendung vom Kommunismus beschreibt.20 Es ist ein schmerzhafter Prozess, den Chambers in seinem Buch schildert, geschrieben in einer schweren, unendlich dunklen, melancholischen Prosa. Es ist auch ein Prozess der religiösen Bekehrung, an dessen Ende Chambers zum frommen Quäker wird. Generationen von Konservativen lasen in den folgenden Jahrzehnten Chambers’ Text: als Schauergeschichte über den totalitären Charakter des Kommunismus, aber auch als berührende religiöse Konversionsgeschichte. Die moralischen Kontraste sind scharf und wurden von späteren Adepten, nicht zuletzt von Ronald Reagan in seiner berühmt gewordenen »Evil Empire Speech«, bis ins Wortdetail übernommen. Spannungsfrei war der konservative Ideenkosmos, der sich um den National Review spannte, jedenfalls nie – und vielleicht machte gerade das seine zeitgenössische Faszination aus. Die libertären Denker in Redaktion und Autorenkreis, die leicht in der Mehrheit waren, taten sich schwer mit den Traditionskonservativen wie Russell Kirk und Richard Weaver, die Buckley zu integrieren versuchte; und andersherum war es genauso. Die Libertären sahen das Ziel aller Politik in individueller Selbstentfaltung, frei von staatlichen Zwängen; traditionelle Normen galten ihnen nur dann als hilfreich, wenn sie diesem Ziel dienlich sein konnten. Für die Traditionalisten aber war die Gemeinschaft das oberste Ziel und individuelle Selbstentfaltung nur so weit zu akzeptieren, wie sie die Ordnung einer Gesellschaft nicht grundlegend störte. Zwar wird verschiedentlich behauptet, dass der unter Buckley schnell zum »Chefideologen« des National Review aufgestiegene Frank Meyer – als Ex-Kommunist ein weiterer Konvertit – mit seiner Theorie des Fusionism diese Unterschiede weitgehend harmonisiert habe. Aber die Spannungen verschwanden dadurch auch in der Folgezeit nicht, sondern blieben stets präsent: Sollte der Staat sich aus den privaten Angelegenheiten seiner Bürger heraushalten oder sollte er Abtreibung verbieten? War es richtig, den Konsum von Drogen zu untersagen, oder war dies ein Eingriff in die Freiheit der Bürger? In manchen Zeiten sollte diese Zusammenführung besser funktionieren als in anderen. Viele religiös-konservative Kräfte gelangten z.B. ab den 1970er Jahren zu der Einsicht, dass ein wesentlicher Grund für die Erosion der amerikanischen Familie ein expandierender Sozialstaat sei, der die Strukturen paternalistischer Fürsorge unterminiert habe. Und doch ist E.J. Dionne zuzustimmen, der schreibt, dass Fusionism als Idee seiner Natur nach chronisch

20  |  Whittaker Chambers: Witness, Washington (D.C.) 1952.

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instabil bleiben musste.21 Das prekäre Gleichgewicht des amerikanischen Konservativismus war wohl nur zu wahren, indem man den verschiedenen Strömungen innerhalb der Koalition einen Feind vorgaukeln konnte, der größer war als die internen Friktionen. Und genau so sollte es passieren.

21  |  Dionne: Our Divided Political Heart, S. 105.

4. Go West … and South

Barry Goldwater und die Transformation



der Republikanischen Partei

Im Grunde war der amerikanische Konservativismus Anfang der 1960er Jahre als Projekt in ideologischer Hinsicht fast schon vollendet. Er war zwar ein widersprüchliches Konstrukt – und diese Widersprüche lösten sich auch in der Folgezeit nie ganz auf. Doch es handelte sich nun einmal um einen ungewöhnlichen und wohl auch einzigartigen weltanschaulichen Hybrid, den Buckley und andere Konservative da in den Laboratorien konservativer Zeitschriften und Think Tanks gezüchtet hatten: zutiefst religiös und anti-säkular, auf die Bewahrung von Traditionen geeicht, aber doch mit einem fast schon revolutionären, staatsfeindlich-libertären Impuls ausgestattet, dazu aggressiv-militant in der Außenpolitik. Über die Balance innerhalb der Bewegung wurde zwischen den Flügeln fortan unablässig gestritten, mit wechselndem Ausgang. Doch es existierte auch ein Grundkonsens, vor allem in Bezug auf die Feinde, die es mit aller Härte zu bekämpfen galt: draußen in der Welt den Kommunismus, zu Hause den amerikanischen Liberalismus. Wie so häufig war es der gemeinsame Feind, der zusammenhalten sollte, was sonst auseinanderzufallen drohte. Für die Bewegungsunternehmer des amerikanischen Konservativismus lautete die Frage von nun an: Wie konnte man diese Ideen aus den wirtschaftswissenschaftlichen Think Tanks und den Redaktionsräumen des National Review in die tatsächliche politische Arena tragen, sie vielleicht sogar eines Tages in reale Politik ummünzen? Denn eines hatte sich auch in den Jahren der intellektuellen Formierung der Bewegung nicht geändert: Außerhalb konservativer Zirkel nahm kaum jemand diese Entwicklung ernst. Gewiss, Buckley selbst galt als geniales enfant terrible des Kultur- und Medienbetriebes, auch der National Review wurde rezipiert und genoss eine beständig wachsende Abonnentenzahl. Aber dass sich hinter diesen als exzentrisch, ja als esoterisch geltenden Ideen schon bald eine Massenbewegung versammeln würde, die Amerika veränderten sollte – das sahen die wenigsten voraus.

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Wer hätte der Träger der konservativen Ideologie auch sein sollen? Für die Republikanische Partei sprach diesbezüglich auch weiterhin nicht sehr viel. Als der Republikaner Richard Nixon 1960 gegen den Demokraten John F. Kennedy im Kampf um die Präsidentschaft antrat und hauchdünn verlor, da musste man die ideologischen Differenzen zwischen den beiden Kandidaten schon mit der Lupe suchen. Nixon, der heute vor allem dem liberalen Amerika als die vielleicht finsterste Figur gilt, die jemals das Amt des Präsidenten bekleidet hat, firmierte damals keineswegs als genuiner Konservativer, sondern eher als höchst flexibler Opportunist. Manchen Sozialwissenschaftler – nicht nur in den USA – verleitete der Konsens jener Jahre dazu, ein postideologisches Zeitalter auszurufen.1 Insbesondere Daniel Bells »The End of Ideology« gab den Ton dieser Zeit an: Die großen Schlachten zwischen Links und Rechts seien geschlagen, schrieb Bell, die utopischen Träume einer perfekten Welt in Auschwitz und den sowjetischen Gulags mitvernichtet worden. Fortan gehe es in der Politik nur noch darum, das als allgemein richtig Erkannte technisch so sauber wie möglich umzusetzen.2 Bezeichnenderweise wurde der amerikanische Liberalismus dieser Jahre oft als Consensus Liberalism, als Konsensliberalismus, bezeichnet: eine Mischung aus freier, aber keynesianisch abgestützter Marktwirtschaft, Wohlfahrtsstaatstaatlichkeit und technokratischer Gesellschaftsplanung. Unter den Intellektuellen des Landes galt diese Synthese quasi als der Fluchtpunkt jedweder ideologischen Evolution.3 Der Mann, der diesen Konsens erschüttern sollte und auf den sich die Hoffnungen der amerikanischen Rechten zunehmend fokussierten, war der Senator von Arizona, Barry Goldwater. Seit Ende der 1950er Jahre hatte er das Vakuum gefüllt, das der Tod Robert Tafts hinterlassen hatte, und war zur personifizierten Projektionsfläche konservativer Sehnsüchte avanciert. In den 1950er Jahren hatte er sich als kompromissloser Antikommunist sowie als Feind der amerikanischen Gewerkschaften einen Namen gemacht. Über Walter Reuter etwa, den Chef der mächtigen Autogewerkschaft UAW, hatte Goldwater einmal gesagt, dieser sei für die USA gefährlicher als alles, was die Russen im Schilde führten. Als die amerikanischen Gewerkschaften ihn für die Kongresswahl 1958 zum Hauptziel erklärten und viel Geld ausgaben für 1 | Vgl. die Beiträge in Chaim Waxmann (Hg.): The End of Ideology Debate, Touchstone 1969. 2 | Vgl. Daniel Bell: The End of Ideology. On the Exhaustion of Political Ideas in the Fifties, New York 1960. 3  |  Vgl. mit Bezug auch auf die besondere Ausstrahlungskraft auf Europa Julia Angster: Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB, München 2003; Michael Hochgeschwender: Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen, München 1998.

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seinen Demokratischen Widersacher, da erwiesen sie Goldwater den wahrscheinlich größten Gefallen seines politischen Lebens: Denn damit katapultierten sie ihn endgültig ins nationale Rampenlicht.4 Und natürlich war Goldwater als harter Antikommunist entschlossen, den Sowjets und ihren Vasallen mit aller militärischen Entschlossenheit entgegenzutreten. So regte er an, im Krieg gegen den Vietcong auf kleine taktische Atombomben zu setzen. Goldwater war vielleicht der erste Republikaner, der das gesamte sprachliche Arsenal des sich seit dem New Deal formierenden US-Konservativismus beherrschte. Genau wie für die American Liberty League, Hayek und Buckley war der amerikanische Liberalismus auch für Goldwater letztlich nur eine Zwischenstation auf dem Weg nach Moskau. Er ging mit seiner Kritik an Eisenhower nicht ganz so weit wie Robert Welch und die Birchers, aber auch in seinem Denken war wenig Platz für Differenzierungen: Der Präsident sei den süßen »Sirengesängen« des Sozialismus verfallen, durch die Hintertür des Welfarism halte nun der Sozialismus Einzug in die USA. Doch auch wenn Goldwater bisweilen wie Hayek für Einsteiger klingen mochte: Er selbst hielt sich keineswegs für einen Intellektuellen. Goldwaters Weltbild war geprägt von der Landschaft und der Region, aus der er kam: Er war ein Mann des amerikanischen Westens. Präziser: Er verkörperte den amerikanischen Pioniergeist, der sich vermeintlich auszeichne durch Wagemut, Unerschrockenheit und einen rauen Individualismus. Das ist der Mythos der sogenannten Frontier, jener beständig nach Westen verschobenen Besiedlungsgrenze, in der Zivilisation und Wildnis tagtäglich aufeinandertrafen, was den Europäer erst zum Amerikaner gemacht habe. Niemand hat diesen Mythos besser eingefangen und zugleich mehr zu seiner Tradierung beigetragen als der Historiker Frederick Jackson Turner in einem berühmten Aufsatz aus dem Jahr 1893: »The frontier is the line of most rapid and effective Americanization. The wilderness masters the colonist. It finds him a European in dress, industries, tools, modes of travel, and thought. It takes him from the railroad car and puts him in the birch canoe. It strips off the garments of civilization and arrays him in the hunting shirt and the moccasin.«5 Arizona war für Goldwater Heimat, politischer Referenzpunkt, Ort der letzten Wahrheiten. Er sah sich in der Nachfolge jener Männer, die aus einem öden Wüstenstaat eine der am stärksten prosperierenden Regionen der USA gemacht hatten. Der Stolz war nachvollziehbar. 1909, im Geburtsjahr Goldwaters, hatte seine Heimat- und Geburtsstadt Phoenix gerade einmal 10.000 4  |  Rick Perlstein: Before the Storm. Barry Goldwater and the Unmaking of the American Consensus, New York 2009, S. 40. 5 | Frederick Jackson Turner: The Significance of the Frontier in American History, 1893. URL: http://nationalhumanitiescenter.org/pds/gilded/empire/text1/turner.pdf [eingesehen am 02.10.2016].

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Einwohner; fünfzig Jahre später, als Goldwater für die Republikaner um das Weiße Haus kämpfte, waren es bereits über eine halbe Million, und der Boom sollte ungebremst weitergehen. Und so wie Goldwater es empfand, war der Aufschwung seiner Heimat einzig und allein dem Mut und der Tüchtigkeit seiner Bewohner zu verdanken – und ganz gewiss nicht den Maßnahmen irgendwelcher »Washingtoner Bürokraten«. »We didn’t know the federal government. Everything that was done, we did it ourselves.«6 Mit den historischen Tatsachen hat das freilich nicht allzu viel zu tun. Wenige Regionen in den USA dürften wohl so stark von gewaltigen Investitionen des Bundes in die Infrastruktur profitiert haben wie der Südwesten im Allgemeinen und Arizona im Besonderen, vor allem während der Zeit des verhassten New Deal. Ohne den 1935 fertiggestellten Hoover Dam hätte der Wüstenstaat niemals blühen können und wäre in weiten Teilen eine öde Landschaft geblieben. Mit Goldwater zeigte sich, wie grundlegend anders der amerikanische Konservativismus im Vergleich zu seiner europäischen »Originalversion« strukturiert ist. Fortschrittsskepsis, dieser eigentlich unabdingbare Wesenszug konservativen Denkens, hat in der Frontier-Logik wenig Platz. Denn schließlich: Der Pionier zögert nicht und hadert nicht mit einmal getroffenen Entscheidungen; er stellt sich der nächsten Herausforderung: »Out here in the West, we’re not harassed by the fear of what might happen« 7. Goldwater, ein passionierter Pilot, liebte die moderne Technik, die er für einen Grundpfeiler der amerikanischen Überlegenheit hielt. Für ihn war der technische Fortschritt der Garant dafür, dass der Mensch sich eine feindliche Umwelt wirklich untertan machen konnte. Der Aufstieg des Mannes aus Arizona deutete an, dass sich die Kräfteverhältnisse innerhalb der Republikanischen Partei geografisch zu verschieben begannen. Das Kraftzentrum der Partei lag bald nicht mehr im liberalen Nordosten, aber auch nicht unbedingt im (teilweise) konservativen Mittleren Westen – sondern wanderte Richtung Südwesten. Diese Verschiebung verlief simultan zum Aufstieg des Westens bzw. Südwestens insgesamt, der »Westernisierung« der USA. Der amerikanische Sunbelt verzeichnete insbesondere nach 1945 nicht nur rasante Bevölkerungszuwächse, sondern wurde auch zum ökonomischen Wachstumsmotor des Landes. In der Imagination vieler Amerikaner stand der Westen für einen Raum unbegrenzter Möglichkeiten, in dem traditionelle Hierarchien und soziale Ordnungen nicht viel zählten: Dort sei man seines eigenen Glückes Schmied und nehme sein Schicksal selbst in die Hand. Dass eine solche Mentalität in der Folge exzellent mit libertären Vorstellungen einer weitestgehenden Abwesenheit staatlichen Handelns zu verbinden war, verwundert nicht. Im Westen, so das große Versprechen, bekomme 6  |  Perlstein: Before the Storm, S. 4. 7  |  Perlstein: Before the Storm, S. 19.

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jeder die Chance, noch einmal von Neuem zu beginnen, sei jeder Erfolg unmittelbar den eigenen Leistungen zuzurechnen. Und obgleich der Westen in der Tat vor sozialen Aufsteigern wimmelte, war das natürlich mindestens zum Teil Fiktion, gerade auch bei Goldwater selbst, dem Sprössling einer reichen Kaufmannsfamilie, der mit Hausmädchen, Chauffeur und Kinderfrau aufgewachsen war8 – aber es war eine wirksame Fiktion. Mit Goldwater war die Anti-Government-Ideologie der amerikanischen Rechten keine abstrakte Ideologie libertärer Ökonomen mehr – sondern plötzlich Teil eines way of life, der die Tiefenstrukturen der amerikanischen Seele berührte. Wie alle langfristig erfolgreichen Ideologien begann der amerikanische Konservativismus jetzt, sich mit spezifischen Lebenswelten zu verbinden.9 Vieles von dem, was uns heute ganz selbstverständlich erscheint, hatte vor Goldwater noch in weiter Ferne gelegen. Niemand kam z.B. 1960 auf die Idee, dass Menschen, die niedrige Steuern befürworteten, auch besonders energisch auf das Recht auf Waffenbesitz zu pochen hätten. Mit der Einverleibung des Frontier-Mythos in die Ideenwelt des amerikanischen Konservativismus jedoch wurden plötzlich Themen amalgamiert, die zuvor beziehungslos erschienen waren. Und sie alle kulminierten plötzlich im Widerstand gegen eine vermeintlich omnipotente und machtversessene Washingtoner Zentralregierung. Goldwater selbst sah sich auch Ende der 1950er Jahre, als er zu Eisenhowers schärfstem Kritiker aufstieg, nicht unbedingt zu Höherem berufen. Andere allerdings hatten große Pläne mit ihm. Abermals trifft man dabei auf den Typus des Bewegungsunternehmers, der außerhalb der Parteistrukturen mit langem Atem an seinen Zielen arbeitet. Der Mann, der aus einem etwas kauzigen Senator aus Arizona den Anführer einer politischen Massenbewegung machte, war Clarence Manion. Der pensionierte Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität von Notre Dame war für Insider ein bekanntes Gesicht auf der amerikanischen Rechten: Er betrieb ein mäßig erfolgreiches wöchentliches Radioprogramm, hatte bereits Anfang der 1950er Jahre für Robert Taft Wahlkampf gemacht, kannte viele Redakteure des National Review persönlich – und war außerdem Mitglied der radikalen John Birch Society. Seit seiner Pensionierung arbeitete Manion unermüdlich daran, die Vorherrschaft des liberalen Ostküstenestablishments innerhalb der Republikanischen Partei zu brechen. Und Goldwater war der Mann, der genau dies für ihn bewerkstelligen sollte.

8  |  Phillips-Fein: Invisible Hands, S. 115. 9  |  Vgl. zum Zusammenhang von Ideologien und Lebensstilen auch Torben Lütjen: Die Politik der Echokammer. Wisconsin und die ideologische Polarisierung der USA, Bielefeld 2016, vor allem S. 93-96.

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Als ersten Schritt schlug Manion ihm vor, ein Buch zu schreiben – oder sagen wir eher: ein Buch schreiben zu lassen, das Goldwaters Namen trug. Der Senator aus Arizona willigte ein, wenngleich widerwillig; denn ein homme de lettres war er nicht gerade. Als Ghostwriter fungierte L. Brent Bozell Jr., ein Schwager William Buckleys. Bozell schrieb das Manuskript in nur sechs Wochen und gab ihm den Titel »Conscience of a Conservative«10. Nur verlegen wollte das Buch leider niemand – ganz so wie sich 15 Jahre zuvor niemand für Hayeks »Road to Serfdom« interessiert hatte. Also gründete Manion ein Verlagshaus – Victor Publishing – und brachte das Buch selbst heraus.11 Es wurde, zur Überraschung aller, ein kolossaler Erfolg und Teil des »konservativen Kanons«. Konservative Geschäftsleute orderten tausende von Büchern und auch die John Birch Society wirkte kräftig an den Verkäufen mit. Aber das alleine erklärt den Erfolg des Buches noch nicht. In weniger als einem halben Jahr verkauften sich eine halbe Million Exemplare von »Conscience of a Conservative«, besonders groß war die Nachfrage in College-Buchhandlungen. Das Buch traf einen Nerv der Zeit, artikulierte Ängste und Unsicherheiten in einer Epoche, die vordergründig von Zuversicht und Vertrauen geprägt schien. Wahrscheinlich teilte die Mehrheit der Amerikaner 1960 diesen Optimismus auch; aber eine nicht gar so kleine Minderheit sah das offenbar anders. Innenpolitisch mochte die antikommunistische Hysterie seit McCarthy etwas abgeklungen sein – aber in Bezug auf die Bedrohung durch die kommunistische Weltrevolution hatte eine Reihe von außenpolitischen und geostrategischen Rückschlägen den Alarmismus eher verstärkt. In seinem Buch zählte Goldwater die Erfolge der expandierenden Sowjetunion sowie die Rückzüge der USA und ihrer Verbündeten auf. Für den Mann aus Arizona war das die logische Folge einer defätistischen, verweichlichten Außenpolitik, die aus Angst vor einem Nuklearkrieg den Russen ständig Zugeständnisse machte. Manche Dinge aber, schrieb Goldwater, seien wichtiger als das eigene Leben – nämlich die Freiheit: »For Americans who cherish their lives, but their freedom more, the choice cannot be difficult.«12 Goldwater verachtete die lediglich den Status quo verteidigende Politik des Containment, die sich damit zufrieden gab, den sowjetischen Einfluss einzudämmen. Er hingegen wollte die seit dem Kalten Krieg erlittenen Geländeverluste wieder ausgleichen und den Kommunismus aktiv bekämpfen: Er wollte ein Rollback, wie man es damals bezeichnete. Mit Goldwater verstärkte sich innerhalb der konservativen Bewegung die Tendenz zu einer interventionistischen, aktiven Außenpolitik, während Isolationisten zunehmend zurückgedrängt wurden. 10  |  Barry Goldwater: The Conscience of a Conservative, Princeton 2007. 11 | Vgl. zur Rolle von Manion vor allem Perlstein: Before the Storm, insbesondere S. 3-16. 12  |  Vgl. Goldwater: Conscience of a Conservative, S. 120.

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Wirtschaftspolitisch hielt das Buch Bekanntes bereit, freilich in einer besonders martialischen Sprache – »Conscience of a Conservative« klingt an manchen Stellen wie Hayek und Milton Friedman auf Steroiden: »The collectivists have not abandoned their ultimate goal – to subordinate the individual to the State – but their strategy has changed. They have learned that Socialism can be achieved through Welfarism quite as well as through Nationalization […] Socialism-through-Welfarism poses a far greater danger to freedom than Socialism-through-Nationalization precisely because it is more difficult to combat.«13 Das Buch würde heute in der Tat, wie es ein Journalist der Washington Post, E. J. Dionne, geschrieben hat, exzellent als Lektüre bei jeder Tea-PartyVeranstaltung funktionieren.14 Schließlich – und das war die beständigste Botschaft des Buches – sendete Goldwater absichtsvoll politische Signale, die nicht unbeantwortet blieben und welche die amerikanische Parteienlandschaft schon bald radikal auf den Kopf stellten: Er machte dem amerikanischen Süden ganz unverblümte Avancen. 1960 hatte die schwarze Bürgerrechtsbewegung unter Martin Luther King, Jr. längst erfolgreich begonnen, die nationale Aufmerksamkeit auf die noch immer extreme ethnische Segregation in den Südstaaten zu lenken, wo Schwarz und Weiß nicht nur verschiedene Schulen, Universitäten und andere öffentliche Einrichtungen besuchen mussten, sondern wo Afro-Amerikaner auch in vielerlei anderer Hinsicht Opfer ganz offenen und direkten Rassismus waren. Außerdem wurden durch diskriminierende Gesetze zur Wählerregistrierung viele Schwarze systematisch am Wählen gehindert. Schon 1960 war der Druck groß, endlich energischer auf die Missstände zu reagieren – was angesichts der Machtverhältnisse vor Ort jedoch nur von der Bundesregierung in Washington ausgehen konnte. Das Problem war allerdings: Die Demokratische Partei war über das Thema ebenso gespalten wie der Rest des Landes. Denn der Süden war die Hochburg der Demokraten, bekannt als sogenannter Solid South. Innerhalb der Partei herrschte daher zwischen konservativen Südstaatlern und liberalen Ostküstlern ein fragiler Konsens, der nur um des Wahlerfolges willen akzeptiert wurde.15 Goldwaters Haltung zur ethnischen Segregation und zur Bürgerrechtspolitik war wie folgt: Einerseits gab er zu verstehen, dass er die Zustände auf dem Gebiet der alten Konföderation nicht gerade für optimal hielt und die Bemühungen um Integration nicht grundsätzlich ablehnte. Andererseits lautete sein Argument, dass die Menschen im Süden selbst zu entscheiden hätten, wie sie 13  |  Ebd., S. 64-65. 14  |  Vgl. E.J. Dionne: Why the Right Went Wrong. Conservatism – From Goldwater to the Tea Party and Beyond, New York 2016, S. 50. 15  |  Edwards Carmines/James Stimson: Issue Evolution: Race and the Transformation of American Politics, Princeton 1990.

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mit dieser Situation umgingen: »I am not prepared, however, to impose that judgement of mine on the people of Mississippi and South Carolina […] That is their business, not mine«.16 Goldwater führte damit die Rechte der Einzelstaaten – die State Rights – gegen die Rechte der Bundesregierung ins Feld. Durchaus eine etwas perfide Argumentation, da auch aufgrund der diskriminierenden Wahlgesetze die Verhältnisse in Dixieland zementiert erschienen. Sie war aber auch raffiniert, weil so zum einen der offene Rassismus verdeckt wurde; und zum anderen begann Goldwater auf diese Weise, eine Brücke vom libertären Anti-Government-Konservativismus zum Traditions-Konservativismus des Südens zu bauen, da beide nun den Regulierungseifer einer vermeintlich machtversessenen Bundesregierung zum gemeinsamen Feind erklärten. »Conscience of a Conservative« machte Goldwater endgültig zum Poster Boy der konservativen Bewegung. Überall im Land bildeten sich Lesezirkel, die das Buch wie ein Evangelium studierten. Viele drängten ihn schon 1960, gegen Nixon die Nominierung als Republikanischer Präsidentschaftskandidat zu erstreiten. Goldwater aber lehnte ab. Doch er machte im ganzen Land Wahlkampf für Nixon und die Republikanischen Wahlkampfstrategen schickten ihn bevorzugt in den Süden, wo Republikaner bis dahin kein Bein auf die Erde bekommen hatten. Als Nixon dann die Wahl gegen John F. Kennedy denkbar knapp verlor, war für Goldwater und andere Konservative in der Partei der Fall ziemlich klar: Nixon hatte sich nicht energisch genug vom liberalen Nachkriegskonsens abgewendet. Vor die Wahl gestellt, hätten die Menschen sich für das liberale Original und nicht für Nixons Kopie entschieden. Das war nur der Auftakt. Der Mann aus Arizona hatte jetzt eine feste Unterstützerbasis in der Republikanischen Partei und zwischen 1960 und 1964 bildete sich eine »Goldwater for President«-Bewegung heraus. Und zu Beginn dieses Jahrzehntes, das doch stets als Dekade linker Jugendkultur in Erinnerung geblieben ist, waren erstaunlich viele junge Menschen dabei. Schon William Buckley hatte, wir sahen es, einen gewissen radical chic kultiviert und die Pose des unorthodoxen Außenseiters gepflegt. Auch die jungen Aktivisten, die 1960 und in den folgenden Jahren für Goldwater auf die Straße gingen, fühlten sich als Angehörige einer rebellischen, nonkonformistischen Protestbewegung. 1960 hatte sich die bundesweite konservative Studentenorganisation »Young Americans for Freedom« gegründet, die besonders an sehr linken amerikanischen Universitäten regen Zulauf verzeichnete, da sich dort viele gerade von dieser stilisierten Pose des Widerstands angezogen fühlten. »You walk around with your Goldwater button«, erklärte 1960 ein Goldwater-Aktivist und Student der äußerst linken University of Wisconsin in Madison einem Reporter des Time Magazine, »and you can feel the thrill of treason«.17 16  |  Goldwater: Conscience of a Conservative, S. 31. 17  |  Zitiert nach Perlstein: Before the Storm, S. 108.

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In diesen Jahren spielten innerparteiliche Vorwahlen – die Primaries – in beiden Parteien noch keine sehr entscheidende Rolle. Die Delegierten für den Republikanischen Parteitag wurden in der Regel von einzelnen State Parties entsandt, nach sehr komplizierten und bisweilen höchst interpretationsfähigen Regeln, die nur wenige Eingeweihte verstanden. Um innerparteiliche Partizipation ging es dabei zuallerletzt. Das Ganze wurde von einigen Dutzend Parteieliten, den Republikanischen Kingmakers, untereinander ausgeklüngelt. Meistens handelte es sich dabei um die Gouverneure großer Bundesstaaten und einflussreiche Kongressmitglieder. Unter ihnen allerdings hatte der Mann aus Arizona nicht genügend Freunde. Goldwaters Anhänger hebelten dieses System kurzerhand aus. Sie gewannen die unterste Ebene der Parteifunktionäre für sich: precinct captains und county party chairs, die man in Ermangelung einer passenderen Analogie vielleicht mit den Vorsitzenden der Ortsvereine deutscher Parteien vergleichen könnte. Geografisch war der Plan klar: Die Konservativen konzentrierten sich auf den Süden (der alleine schon über 300 der notwendigen 650 Stimmen einbringen würde), den Mittleren Westen und den Westen (Kalifornien war einer der wenigen Staaten, in denen bereits 1964 eine parteiinterne Vorwahl stattfand). Es waren, kurzum, die zukünftigen Hochburgen der Grand Old Party, die von den Strategen der Goldwater-Bewegung 1964 als Schlachtfelder ausgewählt wurden. Und die Operation funktionierte, zum Teil wohl auch deswegen, weil die Konservativen in der Partei die Überraschung auf ihrer Seite hatten und mit den Regeln brachen, nach denen in dieser etwas trägen Honoratiorenpartei bis dahin Kandidaten nominiert worden waren. Mit Goldwater begann Grassroots Organizing Einzug zu halten in die Grand Old Party. Vor allem die konservativen Mitglieder von Young Americans for Freedom stellten ein großes Aktivistenreservoir. In den Südstaaten war freilich nicht viel Überzeugungsarbeit nötig. Bis 1960 hatte es dort überhaupt nur rudimentäre Republikanische Parteistrukturen gegeben. Wer seitdem zur Republikanischen Partei gefunden hatte, der hatte dies meistens ohnehin explizit wegen Goldwater getan und weil er der Politik der Demokraten zu misstrauen begann. Am Ende war es beinahe ein Spaziergang: Goldwaters Anhänger eroberten die Partei im Sturm. Auf dem Nominierungsparteitag in San Francisco erhielt Goldwater fast 900 Stimmen. Für die Parteieliten war das ein regelrechter Schock. Als Henry Cabot Lodge, Senator aus Massachusetts und Sinnbild des patrizierhaften liberal-moderaten Ostküstenestablishments, die Liste der Delegierten durchging, entfuhr ihm der seitdem oft zitierte Satz: »What in God’s name has happened to the Republican Party? I hardly know any of these people.«18

18  |  Zitiert nach Farber: The Rise and Fall of American Conservatism, S. 110.

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Der Parteitag in San Francisco selbst geriet zu einem einzigen Tumult und offenbarte, welcher Riss nun durch die Partei verlief. Umso mehr erwarteten viele Beobachter von Goldwater, dass er im Anschluss eine versöhnliche Rede hielt – konziliant natürlich im Hinblick auf die Präsidentschaftswahl; schließlich hatten die Demokraten bereits begonnen, ihn als gefährlichen Extremisten zu zeichnen. Noch wichtiger erschien allerdings die Versöhnung mit dem moderaten Parteiflügel, der Goldwaters Griff nach der Nominierung als feindselige Invasion empfand. Goldwater aber tat nichts von alledem. Den Vorwurf des Extremismus konterte er mit einem Satz, der in die Parteigeschichte einging und nur als Verteidigung der John Birch Society und anderer Gruppen aus dem extrem rechten Spektrum verstanden werden konnte: »I would remind you that extremism in the defense of liberty is no vice. And let me remind you also that moderation in the pursuit of justice is no virtue.«19 Der große Chronist amerikanischer Wahlkämpfe, Theodor White, schnappte noch während der Rede von einem Journalistenkollegen einen Satz auf, den er sogleich für die Nachwelt festhielt: »Oh my god, he is going to run as Barry Goldwater!«20 In der Tat: Nach der Nominierung Goldwaters und angesichts einer zwischen ihren Flügeln heillos zerstrittenen Republikanischen Partei konnten sich die Demokraten als große Sieger fühlen. Einige Monate vor seiner Ermordung im November 1963, als eine Nominierung Goldwaters in den Bereich des Möglichen rückte, hatte Kennedy bei einem Gespräch mit seinen Beratern bereits gespottet: »Give me Barry. I won’t even have to leave the Oval Office to beat him.«21 Auch dem Nachfolger Kennedys im Amt des Präsidenten, dem bisherigen Vizepräsidenten Lyndon B. Johnson, bereitete der Republikanische Präsidentschaftskandidat keine schlaflosen Nächte. Die Kampagne der Demokraten zielte stark darauf ab, Goldwater zum nationalen Sicherheitsrisiko zu erklären, dem man wohl kaum das Atomwaffenarsenal der USA anvertrauen könne. Noch während des Vorwahlkampfs kam »Dr. Strangelove«, Stanley Kubricks geniale Satire über die Gefahr eines Atomkrieges, in die amerikanischen Kinos. Wenn Goldwater über die Möglichkeit eines Atomkrieges sprach, dann erinnerte er nicht wenige an den Air-Force-General des Films, Jack D. Ripper, der entschlossen ist, den Sowjets zuvorzukommen. Johnsons Wahlkampfteam schaltete einen Wahlwerbespot, der wie Goldwaters Rede beim Parteitag in San Francisco in die Geschichte einging. Er zeigte ein kleines Mädchen, das ein Gänseblümchen zerpflückt: »1, 2, 3, 4 …« Als sie bei 9 angelangt ist, legt sich aus dem Off der Countdown eines Raketenstarts über ihre Stimme; bei 0 schließlich das Bild einer Atombombenexplosion. Dann Johnsons Stimme: 19  |  Die Rede ist nachzulesen unter URL: www.washingtonpost.com/wp-srv/politics/ daily/may98/goldwaterspeech.htm [eingesehen am 02.10.2016]. 20  |  Theodor White, Making of the President 1964, S. 217. 21  |  Micklethwait/Wooldridge: The Right Nation, S. 55.

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»These are the stakes. To make a world in which all of God’s children can live, or to go into the dark. We must either love each other, or we must die.« Der Slogan von Goldwaters Kampagne lautete: »In your heart you know he is right.« Johnsons Team textete zurück: »In your guts, you know he is nuts.« Letzteres schien vielen Amerikanern der Wahrheit sehr viel näherzukommen. Goldwater sah sich als Botschafter einer Idee; an den Einzug ins Weiße Haus glaubte er wohl selbst nicht so recht. Aber eben das gab ihm die Freiheit, die bis dahin auf Konsens geeichte Politik in diesem Wahlkampf einmal komplett umzupflügen. Er hatte versprochen, »a choice, not an echo« zu präsentieren, und er hielt sein Wort. Auch sonst nahm er kein Blatt vor den Mund: In den Appalachen West Virginias, einem der ärmsten Winkel des Landes, wetterte er gegen den von Präsident Johnson ausgerufenen War on Poverty; im Süden sprach er über die notwendige Abschaffung der Subventionen für den Baumwollanbau; bei einer Rede in Fort Worth, Texas, kritisierte er einen Auftrag des Pentagons für die Rüstungsfirma General Dynamics – die zufällig in Fort Worth ansässig und der größte Arbeitgeber der Stadt war.22 Goldwater schreckte auch nicht davor zurück, einen Teil des Landes – die Ostküste – pauschal zu beleidigen. Als er allerdings verlauten ließ, dass er bisweilen denke, Amerika sei besser dran, wenn man diesen Teil des Landes abtrenne und ins offene Meer treiben ließe,23 da experimentierte Goldwater bereits mit Versatzstücken jenes Anti-Elitismus und Anti-Intellektualismus, die bald sehr stilbildend für den amerikanischen Konservativismus wurden. So kam, was kommen musste: Goldwater verlor die Wahl. Mehr noch: Er erlitt eine der katastrophalsten Niederlagen in der Geschichte amerikanischer Präsidentschaftswahlen. Nur sechs von fünfzig Bundesstaaten gingen an Goldwater – einer davon war sein Heimatstaat Arizona, und selbst dort konnte er sich gerade einmal mit ein paar tausend zusätzlichen Stimmen gegen seinen Konkurrenten behaupten. Landesweit hatten lediglich 37 Prozent der Amerikaner für Goldwater gestimmt. Die einstigen Hochburgen im Nordosten des Landes waren komplett geschliffen. In Maine, wo Richard Nixon 1960 noch klar gewonnen hatte, holte Goldwater kümmerliche 31 Prozent. In Vermont erhielt zum ersten Mal überhaupt ein Demokrat die meisten Stimmen. Auch im Kongress unterlagen die Republikaner deutlich. Den Zeitgenossen erschien Goldwater als eine Fußnote der Geschichte, eine kurzzeitige Abweichung vom Pfad des amerikanischen Konsenses – und nicht, wie wir heute wissen, als Anfang vom Ende desselben. Für Amerikas damals fraglos deutungsmächtigsten Historiker, Richard Hofstadter, war das, 22  |  Vgl. Louis Menand: He Knew he was Right. The Tragedy of Barry Goldwater, in: The New Yorker, 26. März 2001. 23 | Vgl. Linda Beail/Rhonda Kinney Longworth: Framing Sarah Palin: Pitbulls, Puritans, and Politics, London 2012, S. 36.

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was Goldwater zu sagen hatte, überhaupt keine Ideologie, nicht einmal ein Programm, ja im Grunde nicht einmal Politik, sondern eine klinische Pathologie. Hofstadter sprach von einem »Pseudo-Konservativismus«, gespeist aus Statusunsicherheiten und einer kräftigen Prise Paranoia.24 »When, in all our history«, hatte er bereits wenige Monate vor der Wahl im Oktober 1964 im New York Review of Books geschrieben, »has anyone with ideas so bizarre, so archaic, so self-confounding, so remote from the basic consensus, ever got so far?«25 Das klingt wie die Kommentare, die im Jahr 2016 zu Donald Trump und seinen Unterstützern verfasst werden. Nur ein Gutes, meinte Hofstadter etwas später, habe das Ganze vielleicht gehabt: Sei der Wahlkampf doch gewissermaßen eine gigantische Psychotherapie für Goldwaters Anhänger gewesen, die auf diese Weise von ihrer mentalen Krankheit vielleicht ein Stück weit genesen würden – ein letztes, reaktionäres Hurra auf dem Weg zu einer modernen, toleranten, aufgeklärten, eben: liberalen Gesellschaft.26 Was für ein Irrtum. Entscheidend für alles, was noch folgen sollte, war, wo Goldwater nicht verloren hatte. Die fünf übrigen Staaten, die Goldwater neben Arizona noch gewann, lagen allesamt im Süden der USA. Einige Monate vor der Wahl, im Juni 1964, hatte der Kongress den »Civil Rights Act« verabschiedet, der die faktische Rassentrennung im Süden des Landes überwinden sollte – gegen den heftigen Widerstand der Demokraten aus Dixieland. Was er und andere sich seit Langem erhofft und worauf sie eifrig hingearbeitet hatten, rückte jetzt in greif bare Nähe: Die Demokratische Partei stand unmittelbar vor der Spaltung. Im Senat waren fast alle Stimmen gegen das Gesetz von Demokraten aus dem Süden gekommen – und vom Republikaner Barry Goldwater. Der Republikanische Präsidentschaftskandidat wusste genau, was er tat, und hatte verlauten lassen: Die Partei »was not going to get the Negro Vote […] so we ought to go hunting where the ducks are«.27 Damit war gemeint: Wenn die Befürworter der Rassentrennung im Süden, die hundert Jahre lang eine Bastion der Demokratischen Partei gewesen waren, nun ihre Parteibindung überdachten, dann musste man zur Stelle sein. Tatsächlich wurden die Republikaner in der Folge zur herrschenden Partei in Dixieland, fast ähnlich dominant, wie es über Jahrzehnte die Demokraten gewesen waren. Zwar war es kein ganz linearer Prozess: Einige Male schlug das Pendel noch um, etwa 1976, als der Demokrat Jimmy Carter, ein gläubiger evangelikaler Christ aus Georgia, den Süden bei seinem Einzug ins Weiße 24  |  Vgl. Hofstadter: Goldwater and Pseudo-Conservative Politics, S. 93-141. 25  |  Vgl. ders.: A Long View: Goldwater in History, in: The New York Review of Books, 8. Oktober 1964. 26 | Vgl. ebd. 27  |  Zitiert nach Farber: The Rise and Fall of American Conservatism, S. 101.

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Haus auf seiner Seite hatte. Auch Bill Clinton gewann bei seinen Siegen 1992 und 1996 noch einige Staaten im Süden, und im Kongress waren noch bis in die 1990er Jahre konservative Demokraten vertreten, was belegt, wie lange der Homogenisierungsprozess dauerte. Langfristig aber war der Siegeszug der Republikaner dort nicht aufzuhalten. Die Bedeutung dieses als Southern Realignment beschriebenen Prozesses ist wohl kaum zu unterschätzen, denn er hatte schließlich Konsequenzen für beide Parteien: Der Seitenwechsel des Südens machte die Demokraten liberaler und die Republikaner konservativer. Im Grunde beendete er eine historische Anomalie, die zwar nicht der einzige, aber doch der entscheidende Grund für die extreme ideologische Heterogenität der beiden amerikanischen Parteien gewesen war. Erst das schuf aber überhaupt die Voraussetzungen für einen ideologisch viel polarisierteren Parteienwettbewerb, mit dessen Auswirkungen die USA heute zu leben haben. Die Republikanische Partei war jedenfalls nach dem Southern Realignment eine gänzlich andere als zuvor. Dass Rassismus, offener wie versteckter, danach eine große Rolle in der Partei spielte, bedarf kaum einer Erwähnung. Doch darauf alleine lässt es sich nicht reduzieren. Der Süden war überdies die Hochburg einer sehr konservativen Variante des amerikanischen Protestantismus. 1964 spielte das übrigens noch keine wirklich große Rolle; bald aber, mit einer ganz neuartigen Verquickung von Politik und Religion, sollte sich das fundamental verändern. Doch Goldwater wäre keine so transformative Figur gewesen, wenn es nur um den Süden gegangen wäre. Man musste schon genau hinschauen, in welchen anderen Orten Goldwater ebenfalls gut abgeschnitten hatte, um zu erkennen, dass die amerikanische Gesellschaft sich in einer Weise veränderte und neue Bruchlinien ausbildete, die Goldwaters Botschaft der eifernden Staatsfeindschaft, garniert mit einem Schuss Traditionalismus, bald plausibler machte, als es viele liberale Intellektuelle zu diesem Zeitpunkt wahrhaben wollten. Goldwater verkörperte nicht nur als Person oder habituell die »Westernisierung« der Republikanischen Partei. Schon 1964 erschloss er ihr auch zumindest einen Teil des Westens, der dann neben dem Süden zu einer starken Wählerbasis der Republikanischen Partei werden sollte. Das hat auch damit zu tun, welche Art von sozialem Raum dort entstand. Überall in den USA, besonders aber in den boomenden Regionen des Sunbelt – wie in Barry Goldwaters Arizona, vor allem aber in Südkalifornien –, hatte sich etwa seit den 1940er Jahren ein sozialer Raum ganz eigener Art herausgebildet: die sogenannten Suburbs. In diesem Fall scheint es angemessen, den englischen (bzw. amerikanischen) Begriff zu verwenden; denn mit deutschen Vororten haben amerikanische Suburbs nicht viel gemeinsam. Diese wuchernden Siedlungen außerhalb großer Metropolen wuchsen ja – zumindest außerhalb des Nordostens – in der Regel nicht in kleinere Städte oder Dörfer hinein, sondern entstanden buchstäblich aus dem Nichts. Es entstanden soziale Räume

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ohne geografischen Kern oder Zentrum, endlose Konglomerate von Wohngebieten, Highways und natürlich die riesigen Einkaufstempel der Malls. Diese Orte förderten in vielerlei Hinsicht nicht unbedingt die Einsicht, dass man für die bezahlten Steuern eine faire Gegenleistung erhielt. Denn dort nutzte man das Auto und keine öffentlichen Verkehrsmittel, schickte die eigenen Kinder vielleicht gar auf private und nicht auf öffentliche Schulen, lebte insgesamt ein Leben in maximaler Privatheit, für das Räume öffentlicher Begegnung keine Rolle spielten. Für großzügige Sozialprogramme etwa durfte man dort nicht auf große Sympathie hoffen. Denn die Armut konzentrierte sich ja vor allem in jenen Orten, welche die Bewohner von Suburbia bewusst zurückgelassen hatten; und genau dort sollte sie auch bleiben: in den Innenstadtkernen der großen Städte. Viele der Suburbs waren ethnisch außerordentlich homogen, nämlich beinahe ausschließlich von Weißen bewohnt. In den amerikanischen Großstädten blieben hingegen vor allem die sozial Schwachen zurück, unter ihnen große Minderheiten von Schwarzen und Hispanics. Und viele derjenigen, die seit den 1950er Jahren in die boomenden Staaten des Sunbelt umgezogen waren, hatten dort einen rasanten persönlichen Aufstieg erlebt, der sie ebenfalls empfänglicher machte für eine politische Botschaft, die vor allem niedrigere Steuern propagierte.28 Geradezu paradigmatisch für all das stand Orange County, eine mit grandioser Geschwindigkeit wachsende Ansammlung von Suburbs südlich von Los Angeles. Auch dort hatte Barry Goldwater 1964 gewinnen können – genau wie in anderen rasant an Bevölkerung zunehmenden Suburbs an den Rändern von Amerikas großen Metropolregionen. In Orange County und in ähnlichen Orten war die Rüstungsindustrie oft einer der wichtigsten Wirtschaftszweige. Daher war nicht verwunderlich, dass der harte Antikommunismus Goldwaters mit seiner Ablehnung der allzu nachgiebigen Containment-Doktrin und seiner Befürwortung eines aggressiven Rollback dort verfangen konnte. Gleichwohl: Die Menschen von Orange County entsprachen in keiner Weise dem von Hofstadter und anderen entworfenen Bild einer von Statusunsicherheiten geplagten Schicht bedrängter und rückwärtsgewandter Nostalgiker. Orange County boomte, war wohlhabend, gebildet, seine Bewohner waren trotz ihrer Heidenangst vor dem Kommunismus insgesamt optimistisch, was die Segnungen des amerikanischen Traums betraf, dessen Essenz sie in der beispiellosen und kaum von Regulierungen behinderten Expansion von Suburbia verkörpert sahen. Kurzum: Goldwaters Konservativismus wies ganz unverkennbar in die Zukunft und nicht in die Vergangenheit.29 28  |  Vgl. Darren Dochuk: From Bible Belt to Sun Belt. Plain-Folk Religion, Grassroots Politics, and the Rise of Evangelical Conservatism, New York 2010. 29  |  Vgl. die brillante Studie über Orange County von Lisa McGirr: Suburban Warriors. The Origins of the New American Right, Princeton 2001.

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Freilich: Was im Rückblick so klar erscheint, war für die Zeitgenossen nicht eindeutig zu erkennen gewesen. Eines jedoch registrierten auch sie: dass Goldwater aus einem Netzwerk von marginalisierten Intellektuellen und Wirtschaftslobbyisten innerhalb weniger Jahre eine Massenbewegung geformt hatte. Goldwater hatte für seinen Wahlkampf sage und schreibe eine Million individuelle Spender gehabt; für Richard Nixon hatten vier Jahre zuvor gerade einmal 44.0000 Menschen das Scheckbuch gezückt. Die Goldwater-Kampagne blieb für viele konservative Aktivisten eine Art kollektiver Erinnerungsort, der vielleicht sogar gerade wegen der heftigen Niederlage emotional besonders aufgeladen war. Zum ersten Mal war man für die eigenen Ideale marschiert; zwar hatte man verloren, war aber standhaft geblieben, weil Prinzipen wichtiger waren als Wahlerfolge; und man war später, als die Kräfteverhältnisse im Land sich drehten, dafür belohnt worden. 1964 betrat auch ein bis dahin unbekannter Politiker die Bühne der nationalen Politik. Er hielt einige Wochen vor der Wahl eine einzige Rede, ausgestrahlt in einer TV-Sendung, die für den Kandidaten Goldwater warb. Seine Anhänger verliebten sich sofort in ihn – so heftig, dass das Gerücht die Runde machte, dass Goldwater den Auftritt mit großer Eifersucht verfolgt habe. Die Rede ging als »Time for Choosing Speech« in die Geschichte ein. Dabei sagte der Redner kaum anderes als Goldwater selbst; aber was bei diesem oft überdreht und gefährlich klang, das erhielt durch das gleichzeitig raue und sanfte Timbre dieses anderen Mannes eine ganz neue Melodie. Kein Wunder, denn das Sprechen vor der Kamera war lange sein Beruf gewesen. Unbekannt war nämlich bis dahin nur der Politiker Ronald Reagan; als Schauspieler kannten ihn die Menschen seit fast drei Jahrzenten. Reagan wurde bald Gouverneur von Kalifornien, löste Goldwater als Anführer der Konservativen in der Republikanischen Partei ab und hatte sehr viel mehr Erfolg als sein großes Vorbild. Doch im Inneren der Bewegung wurde der Grundsteinleger Goldwater nie vergessen; man verehrte ihn wie einen Religionsstifter. In den Worten des konservativen Journalisten George Will: »We – 27,178,188 of us – who voted for him in 1964 believe he won, it just took 16 years to count the votes.«30

30  |  George F. Will: The Cheerful Malcontent, in: Washington Post, 31. Mai 1998. URL: www.washingtonpost.com/wp-srv/politics/daily/may98/will31.htm [eingesehen am 02.10.2016].

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5. 1968 und die Silent Majority

Wie die Republikanische Partei den Populismus entdeckte

Wie also konnte die Republikanische Partei, die 1964 noch als Heimstatt einer radikalen, in keiner Weise mehrheitsfähigen Ideologie galt, bald zur Mehrheitspartei im Land werden? Sie verfügte jetzt, Mitte der 1960er Jahre, zwar über eine hochgradig mobilisierte Basisbewegung mit einer eindeutigen weltanschaulichen Fundamentierung. Und sie hatte den intellektuellen Rückhalt einer Infrastruktur von Think Tanks und Zeitschriften, um eine konservative Gegenöffentlichkeit zu schaffen (obgleich diese noch beträchtlich weiterwachsen sollte). Was jedoch fehlte, war irgendeine Chance auf eine numerische Mehrheit im Land. Um es salopp auszudrücken: Die Republikanische Partei brauchte schlichtweg mehr Wähler. Und, soviel sei vorweggenommen: Sie erreichte das weniger, indem sie das Elektorat vergrößerte, also neue Wähler aktivierte. Vielmehr war sie sehr erfolgreich darin, Wähler aus dem gegnerischen Lager in ihr eigenes hinüberzuziehen. Tatsächlich begannen in den nächsten Jahren Millionen abgefallener Wähler der Demokratischen Partei, republikanisch zu wählen – und zwar nicht nur im Süden des Landes. Das sollte Roosevelts NewDeal-Koalition nachgerade pulverisieren. Doch um diesen Prozess zu verstehen, ist es sinnvoll, für einen Augenblick die Perspektive zu wechseln: weg vom US-Konservativismus, hin zum amerikanischen Liberalismus und damit zu den hochfliegenden und zerstobenen Erwartungen der 1960er Jahre. Der US-Liberalismus nämlich erlebte in den Jahren 1964/65, nach dem großen Wahlsieg Lyndon B. Johnsons, seinen historischen Scheitelpunkt. Siegessicher und optimistischer haben Amerikas progressive Kräfte wohl weder zuvor noch danach in die Zukunft geblickt. Im Sog von Johnsons Erdrutschsieg bauten die Demokraten auch im Kongress ihre Mehrheit aus. Noch gab es dort zwar viele konservative Demokraten, besonders aus dem Süden; aber die Fraktion war im Ganzen bereits wesentlich liberaler geworden, und in Kombination mit der Gruppe liberaler Republikaner eröffneten sich so ganz neue Optionen.

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Mit einem außerordentlich starken Mandat ausgestattet und mit einer breiten Kongressmehrheit im Rücken machte man sich daher an ein ambitioniertes innenpolitisches Reformwerk, wie es seit dem New Deal nicht gewagt worden war: Gesundheitsversicherung für Arbeitslose und Rentner (Medicare und Medicaid), eine weitaus stärkere Rolle des Bundes in der Bildungspolitik und schließlich der »Voting Rights Act« als Ergänzung zum »Civil Rights Act« – all diese Vorhaben (und einige andere mehr) wurden innerhalb weniger Monate durch den Kongress gebracht. Johnson, so schrieb ein Journalist der New York Times Mitte 1965, könne derzeit alles im Kongress durchsetzen; bis auf vielleicht die Abschaffung der Republikanischen Partei – allerdings habe er das auch einfach noch nicht versucht.1 Johnson wollte, in seinen eigenen Worten, eine Great Society schaffen – ein ebenso grandioser wie schillernder und ganz und gar unscharfer Begriff, der aber in jedem Fall die Erwartung weckte, über die Sozialreformen des New Deal noch weit hinauszugehen. Unmittelbaren materiellen Sorgen enthoben, sollte es nun nicht mehr nur um ein »Mehr« an Dingen gehen, sondern um die Steigerung der Lebensqualität aller Amerikaner.2 Nirgendwo vielleicht war die überbordende Erwartungshaltung spürbarer als in dem von Johnson und seinen Beratern ausgerufenen War Against Poverty. Aufgeschreckt von Michael Harringtons Bestseller »The other America«, der die Malaise insbesondere der afro-amerikanischen Unterschicht in deprimierenden Farben schilderte, war man entschlossen, die Wurzeln der Armut in den USA – immerhin 32 Millionen Amerikaner lebten 1965 unterhalb der Armutsgrenze3 – ein für alle Mal auszurotten. Das war fraglos eine mutige Ankündigung, denn insbesondere in den Ghettos amerikanischer Großstädte existierte eine verfestigte Armut, die sich mit Subventionen für Stadtteilinitiativen, Bildungsprogrammen, Lebensmittelkarten und ähnlichen Maßnahmen nur schwer bekämpfen ließ. Zwar sank das Armutsniveau in den prosperierenden 1960er Jahren zunächst sogar, weshalb nicht wenige Historiker rückblickend ein positives Urteil über diese Anstrengungen fällen. Doch gemessen an den großen und wohl auch vollkommen unrealistischen Erwartungen empfanden die meisten Amerikaner – ganz unabhängig davon, wo sie politisch standen – den War on Poverty als gescheitert. Die konservativen Gegner der Programme argumentierten ohnehin vom ersten Tage an, dass dadurch eine »Kultur der Abhängigkeit« geschaffen wer1 | Zitiert nach Eric F. Goldman: The Tragedy of Lyndon Johnson, New York 1969, S. 334. 2  |  Vgl. James T. Patterson: Grand Expectations: The United States 1945-1974, New York 1996, S. 562ff. 3  |  Vgl. Maurice Isserman/Michael Kazin: America Divided. The Civil War of the 1960s, New York 2004, S. 202.

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de, die den Empfängern von sozialstaatlichen Leistungen unmöglich mache, auf eigenen Beinen zu stehen – ein Gedankengang, der beim Republikanischen Widerstand gegen ähnliche Programme bis heute eine große Rolle spielt. Präsident Johnson habe der Armut offiziell den Krieg erklärt, spottete der neugewählte Gouverneur von Kalifornien, Ronald Reagan; doch es sehe so aus, als würde die Armut gewinnen. Noch viel entscheidender allerdings war, dass diese und andere Maßnahmen – bzw. die Wahrnehmung ihrer eher prekären Folgen – dazu beitrugen, die Konfliktachsen der amerikanischen Gesellschaft neu auszurichten. Mitte der 1960er Jahre nämlich wurde immer deutlicher, dass es reichlich bequem war, den Rassismus in den USA allein für ein Problem des Südens zu halten. In der weißen Arbeiterklasse, eben auch außerhalb von Dixie, wuchsen die Vorurteile gegen Welfare Queens und Poverty Pimps, die es sich im neuen Sozialsystem gemütlich gemacht hätten. Der anfangs große Rückhalt für die Bürgerrechtsbewegung nördlich der »Mason-Dixon-Linie« bei weißen Amerikanern ging Mitte des Jahrzehnts deutlich zurück. Seit 1965 kam es überdies immer wieder zu aggressiven Unruhen in den amerikanischen Großstädten. Viele Schwarze waren bitter enttäuscht, dass sich trotz all der Maßnahmen der Johnson-Regierung nur wenig an der systematischen Diskriminierung änderte, die sozialen Verhältnisse weiter wie zementiert erschienen. Die Riots von Los Angeles, Detroit und anderen Orten produzierten Bilder, die allesamt natürlich Abend für Abend in den Wohnzimmern auch des weißen Amerikas flimmerten und dort für einen Schock sorgten. 1964 hatten noch 68 Prozent der Weißen außerhalb der Südstaaten die Bürgerrechtsinitiativen Johnsons unterstützt; nur zwei Jahre später war plötzlich die Mehrheit der Meinung, dass die Regierung bei ihren Bemühungen um Integration viel zu schnell vorgehe.4 Auch die Strategien der Bürgerrechtsbewegung funktionierten außerhalb des offen rassistischen Südens sehr viel schlechter. Die Diskriminierungen waren subtiler und ließen sich kaum mit Bundesgesetzen und notfalls dem Einsatz der Nationalgarde aus dem Weg schaffen. Für die Herstellung wirklich gleicher Lebensverhältnisse brauchte es wesentlich massivere Eingriffe. Und diese Eingriffe erfolgten – und verschärften die Konflikte noch zusätzlich. Besonders umstritten war etwa die von den Gerichten angeordnete Praxis des Busing, durch die Kinder teilweise in wahren Odysseen mit dem Schulbus quer durch die Stadt gefahren wurden, um eine ausgeglichenere ethnische Zusammensetzung der Schulen zu gewährleisten. Solche Maßnahmen machten die Idee der Great Society nicht unbedingt populärer in der weißen Mittelschicht bzw. Arbeiterklasse. Es war eben eine Sache, sich über Polizeigewalt und Lynchmobs in Mississippi zu empören – aber eine ganz andere,

4  |  Vgl. Isserman/Kazin: America Divided, S. 207.

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im Namen des gesellschaftlichen Fortschritts seine persönliche Freiheit vermeintlich eingeschränkt zu sehen.5 Der Widerstand gegen Busing und Open Housing machte die Bevölkerung insgesamt empfänglicher für eine konservative Ideologie, die staatliche Eingriffe generell für schädlich hielt. In den 1960er Jahren fusionierten somit dauerhaft zwei Konfliktthemen: Sozialpolitik und Race. Denn dort, wo offener Rassismus immer weniger tolerierbar wurde, nahm oft der Widerstand gegen Welfare diesen Platz ein; eine Art Ersatzressentiment, das sich äußern ließ, ohne dabei gleich als Mitglied des Ku-Klux-Klans verdächtigt zu werden – und doch stets begleitet von der gedanklichen Assoziation mit ethnischen Minderheiten.6 Freilich waren es nicht die ethnischen Spannungen alleine, die einen zentrifugalen Druck auf die New-Deal-Koalition ausübten. Da war auch der Krieg in Vietnam, der die Demokratische Wählerkoalition spaltete. Selbst als die Mehrheit der Amerikaner die Auseinandersetzungen in Südostasien längst ablehnte, blieben die Wahrnehmungen auch unter Demokratischen Kernwählern sehr verschieden. Viele Angehörige der weißen Arbeiterklasse fühlten sich abgestoßen von den Anti-Kriegs-Demonstrationen auf amerikanischen Campussen, bei denen amerikanische Flaggen brannten und manche Protestierende sogar Sympathie für den Vietcong zeigten. Tatsächlich waren das nur Minderheiten, aber im Zeitalter des Fernsehens konnten einzelne Bilder eine große Wirkung entfalten. Für viele Working-Class-Amerikaner, aufgewachsen im Glauben an die moralische Überlegenheit einer Supermacht, welche die zivilisierte Welt vom Faschismus befreit und vor dem Kommunismus bewahrt hatte, waren das unpatriotische, ja verräterische Aktionen. Als im Juli 1970 bei gewalttätigen Ausschreitungen an der Kent University vier Studenten erschossen worden waren, ergaben Umfragen nach der Tragödie, dass eine große Mehrheit der Amerikaner das Vorgehen der Polizei für richtig hielt.7 Einige Tage nach den Vorfällen in Kent kam es zu einem vergleichsweise harmlosen Zusammenstoß, der gleichwohl nur als perfekte Parabel auf den Zustand der Demokratischen Wählerkoalition verstanden werden konnte: In New York City verprügelten 200 Bauarbeiter, die meisten von ihnen Gewerkschaftsmitglieder, mit ihren Helmen einige hundert Studenten, die sich zu einer Andacht für die Opfer der Kent University versammelt hatten. Danach marschierten sie zur

5  |  Vgl. Ronald P. Formisano: Boston Against Busing: Race, Class, and Ethnicity in the 1960s and 1970s, Chapel Hill 1991. 6  |  Vgl. Martin Gilens: Why Americans Hate Welfare: Race, Media, and the Politics of Antipoverty Policy, Chicago 1999. 7  |  Vgl. Patterson: Grand Expectations, S. 755.

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City Hall, hissten die amerikanische Flagge, die zuvor auf Halbmast geweht hatte, und sangen »All the way with the USA«.8 Und schließlich lehnten viele die kulturelle Liberalisierung des Landes ab, die sich vor allem in neuen Geschlechterrollen und neuen sexuellen Freizügigkeiten manifestierte. Als sich im Sommer 1969 nahe des kleinen Städtchens Woodstock, Upstate New York, 400.000 junge Menschen versammelten und bei Starkregen im Schlamm ausharrten, weiche und harte Drogen konsumierten und zur sirrenden Gitarre von Jimi Hendrix und der rauen Stimme Janis Joplins tanzten, da galt das den meisten Amerikanern nicht als eine Feier von Freiheit, Liebe und Brüderlichkeit, sondern als ein Ausdruck des kollektiven Verfalls der moralischen Ordnung. Irgendetwas, glaubten viele Amerikaner, geriet im Land deutlich aus den Fugen. Der Mann, der die neuen Bruchlinien der amerikanischen Gesellschaft wie kein anderer erspürte und sie kalt und zynisch zum Vorteil der Republikanischen Partei ausnutzte, war Richard Nixon. Im Pantheon des amerikanischen Konservativismus spielt er eine, wenn überhaupt, nur extrem untergeordnete Rolle, was mit dem Watergate-Skandal wenig zu tun hatte, aber viel damit, dass Amerikas Konservative ihn zu Recht für keinen true believer hielten. Die Liberalen hassten ihn zwar mit großer Hingabe: Für sie blieb er immer der finstere Kommunistenjäger aus dem House Committee on Un-American Activities, der hinter jedem Busch einen Agenten Moskaus witterte und in seinem inquisitorischen Eifer viele Karrieren und ganze Leben zerstörte. Aber dass die Liberalen ihn hassten, bedeutete noch lange nicht, dass die Konservativen in der Republikanischen Partei ihn deswegen liebten. Die Wahrheit ist, dass niemand Richard Nixon mochte. Nicht einmal Richard Nixon mochte Richard Nixon.9 Und in mancher Hinsicht bestätigte seine Präsidentschaft die Konservativen in der Partei in ihrem Misstrauen: Als Präsident war Nixon für sie häufig eine Enttäuschung. Nachdem er 1968 sein Amt angetreten hatte, verabschiedete er eine ganze Reihe von Gesetzen, die ihn eindeutig nicht als Alliierten der Goldwater-Bewegung auswiesen, sondern, in den Augen seiner konservativen Kritiker, als Big-Government-Republikaner. Nixon verlängerte den »Civil Rights Act« um weitere fünf Jahre; er investierte massiv in Bildung und Kultur; und er versuchte sich an einer nationalen Krankenversicherung für alle Amerikaner (was nach ihm erst wieder Bill Clinton vergeblich wagte, bevor Obama es dann schließlich vollendete). Stolz bekannte sich Nixon gar zu einer keynesianischen Finanzpolitik – während seiner Präsidentschaft überstiegen die Sozialausgaben zum ersten Mal das Verteidigungsbudget. 8 | Ebd. 9 | Vgl. zu Nixon vor allem die brillante dreibändige Biografie von Stephen E. Ambrose: Nixon, New York 1987-1991.

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Nun war Richard Nixon gewiss auch kein Liberaler. Ideologisch konnte man ihn am ehesten zum moderat-konservativen Flügel der Partei zählen; und überhaupt interessierte er sich nur mäßig für Innenpolitik; seine Leidenschaft galt den internationalen Beziehungen. Mehr als alles andere aber wollte Nixon gewählt werden. Die meisten Gesetze wurden von den Demokraten im Kongress eingebracht; in der Bevölkerung waren diese Vorschläge populär und hatten die Unterstützung mächtiger Lobby-Verbände; da das Land noch prosperierte, waren sie auch finanzierbar; also unterzeichnete Nixon sie – so einfach war die Gleichung.10 Nichts freilich werteten die Hüter der ideologischen Reinheit – was wie immer die Intellektuellen der Bewegung waren – so sehr als Verrat an konservativen Prinzipien wie Nixons Außenpolitik, die stark die Handschrift seines Außenministers Henry Kissinger trug, des Konstrukteurs einer ganz und gar illusionslosen »neorealistischen« und, wie inzwischen nicht wenige denken, zynischen Schule der Außenpolitik. Viele Historiker interpretieren Nixons und Kissingers »Ping-Pong-Diplomatie« mit Peking und die Entspannungsversuche mit Moskau heute als virtuose und höchste Staatskunst.11 Amerikas schärfste Antikommunisten aber hielten sie für einen peinlichen und noch dazu strategisch katastrophalen Kotau vor dem Feind. In einem offenen Brief entzog ein Dutzend bekannter konservativer Intellektueller, unter ihnen Willam F. Buckley, Nixon die Unterstützung und wendeten sich offen gegen ihn. Und doch hatte Nixon der Partei und der Bewegung ein wichtiges Erbe hinterlassen; er war so etwas wie der verleugnete Vater vieler Dinge. Möglicherweise bedeuteten ihm die ideologischen Prämissen der Bewegung nicht viel – weder wollte er den Staat zurückdrängen noch mochte er sich um die christliche Seele Amerikas sorgen. In anderer Hinsicht aber war er stilbildend: Mit Nixon begannen die Republikaner, einen aggressiven Populismus zu adaptieren. Auch Goldwater hatte mit seinen Ansprachen noch auf den Kopf der Menschen gezielt; Nixon zielte tiefer, auf die Eingeweide, dorthin, wo die Angst und die Wut der Menschen saßen. Und mit dieser Wutpolitik erschloss er der Partei Wählerreservoirs, von denen sie zuvor nur hatte träumen können. Dies war ein struktureller Bruch in der amerikanischen Politikgeschichte, denn bis zu den 1960er Jahren war Populismus – als Idee einer klaren gesellschaftlichen Dichotomie zwischen einer korrupten, abgehobenen Elite und dem ehrlichen, hart arbeitenden Volk12 – in den USA eher ein Stilmittel lin-

10  |  Vgl. zu Nixons Innenpolitik Patterson: Grand Expectations, S. 710-742. 11  |  Vgl. z.B. John L. Gaddis: Strategies of Containment: A Critical Appraisal of Postwar American National Security Policy, New York 1982, S. 284-298. 12  |  Vgl. grundlegend hierzu Karin Priester: Rechter und Linker Populismus: Annäherung an ein Chamäleon, Frankfurt a.M./New York 2012.

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ker Politik gewesen.13 Die Bewegung bzw. Partei, die den Begriff Populismus erstmals verbreitet hatte, die Populist Party (offiziell: People’s Party), war eine größtenteils von Farmern getragene Gruppierung, die in den 1880er Jahren einen sehr erfolgreichen Sozialpopulismus vertrat. Auch danach war Populismus – als Begriff sprachlich ungleich weniger negativ konnotiert als in Europa – eher ein Instrument der Linken, von den Progressives zu Beginn des Jahrhunderts bis zu Roosevelts New Dealern. Erst in der Nachkriegsphase kam es dann, wie es Michael Kazin so treffend ausgedrückt hat, zur »Inbesitznahme« der populistischen Mentalität durch die politische Rechte.14 Allerdings muss man dabei noch ein kleines Stück vor Nixon ansetzen. Der Mann, der zuerst das riesige Potenzial eines konservativen Populismus anzapfte, war der Gouverneur von Alabama, George Wallace. Ihn studierte Nixon intensiv – und von ihm lernte er. Wallace war ein Demokrat, stand allerdings – wenig überraschend angesichts des Staates, den er repräsentierte – in erbitterter Opposition zum »Civil Rights Act« und überhaut zur gesamten liberalen Bürgerrechtspolitik. Er war ein uneingeschränkter Verfechter der Rassentrennung: »Segregation today, segregation, tomorrow, segregation forever«, wie er es bei seiner Antrittsrede als Gouverneur von Alabama 1963 formulierte. Nur sechs Monate später stellte sich der Gouverneur symbolträchtig und breitbeinig vor das Tor der University of Alabama in Tuscaloosa, zu der auf Anordnung des US-Generalbundesanwaltes und unter dem Schutz tausender Nationalgardisten zwei schwarzen Studenten Zugang gewährt werden sollte. Nach Tuscaloosa war Wallace endgültig der bekannteste Befürworter der Rassentrennung im Land und eine Symbolfigur des Widerstandes des Südens. 1964 trat er bei den Präsidentschaftsvorwahlen der Demokraten in einzelnen Bundesstaaten an und bewies dabei eine überraschende Stärke auch außerhalb des alten Konföderationsgebietes. Das deutete nicht nur an – wir sahen es bereits –, dass Race nun auch nördlich der »MasonDixon-Linie« als polarisierende Konfliktlinie wirksam wurde. Sogar Wallace argumentierte nicht mehr offen mit der genetischen Überlegenheit des weißen Mannes – diese Art von biologistischem Rassismus hatte sich nach 1945, also nach der Auseinandersetzung mit den Nazis, weitgehend erledigt. Abgesehen davon, dass er behauptete, das System faktischer Apartheit im Süden sei für Schwarze wie Weiße das Beste, benutzte Wallace vor allem jene Codewörter, die auch heute noch eingesetzt werden: Wenn er Law and Order predigte und den Verfall der Kultur amerikanischer Großstädte beschrieb, dann wussten seine Anhänger auch so, wer an diesem Verfall seiner Ansicht nach die Schuld trug. 13  |  Michael Kazin: The Populist Persuasion: an American History, Ithaca 1995, JanWerner Müller: Was ist Populismus? Ein Essay, Frankfurt a.M. 2016, S. 40. 14  |  Vgl. Kazin: The Populist Persuasion, S. 245-268.

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Doch die ethnischen Spannungen allein waren es nicht, denen Wallace seinen Aufstieg zu verdanken hatte. Er hatte noch ein paar andere Ressentimentstrukturen für sich entdeckt – und er zeigte großes Talent darin, sie zu seinem Vorteil auszubeuten. Sowohl bei den Vorwahlen 1964 als auch bei der Hauptwahl 1968 – als Kandidat der American Independent Party bekam er immerhin 13 Prozent der Stimmen – erhielt er starken Zuspruch aus der weißen Arbeiterklasse, in der ihn viele Menschen auf beinahe schon kultische Art verehrten. Wallace nutzte die populistische Grundmentalität des Landes, codierte sie aber ein Stück weit um: Waren zu Zeiten des New Deal noch die Robber Barons und Economic Royalists die Feindbilder der populistischen Mobilisierung gewesen, so lenkte Wallace das Gefühl politischer Ohnmacht und den daraus erwachsenden Zorn nun auf die Washington Bureaucrats und arrogante, nicht vom Volk gewählte Bundesrichter um, die sich dieser Denklogik zufolge anmaßten, anderen Menschen – natürlich vor allem weißen Amerikanern im Süden – ihre Lebensweise vorzuschreiben. Und Wallace operierte überwiegend mit einer Argumentationsfigur, die bereits über eine lange Tradition in der amerikanischen Geschichte verfügte,15 fortan aber eine besondere Popularität genießen sollte: Anti-Intellektualismus. Wallace ätzte immer wieder gegen theoreticians und pseudo-intellectuals, die meinten, dass ein Plan aus ihrer Schublade überall im Land funktionieren müsse. Wie konnten Menschen, die sich niemals bei der Arbeit die Hände schmutzig gemacht hatten, überhaupt anderen Leuten etwas vorschreiben wollen? Wallace war generell ein unterhaltsamer Redner, doch für keinen Satz erhielt er stets so viel Beifall und Gelächter wie für seinen Witz, dass das Schicksal des Landes in der Hand von Professoren liege, die zwar wüssten, wie man den Krieg in Vietnam zu führen habe, aber nicht in der Lage seien, ihr Fahrrad vernünftig abzustellen. Und Wallace lebte buchstäblich die eigene populistische Botschaft. Wie wahrscheinlich kein amerikanischer Politiker vor ihm – aber unzählige nach ihm – spielte er die Rolle des bodenständigen Amerikaners aus dem heartland – bisweilen auch bis zur exzessiven Selbst-Satire. »Can a former truck driver married to a dime store clerk and son of a dirt farmer be elected president?«, lautete die rhetorische Frage auf den Wallace-Flyern, die zur Präsidentschaftswahl 1968 in den Briefkästen amerikanischer Haushalte landeten. (Wie so häufig ging die wahre Geschichte ein wenig anders: Als Trucker hatte sich Wallace, Sohn einer soliden Mittelklassefamilie, nur ein paar Monate vor Beginn seiner College-Ausbildung verdingt.) Der Mann aus Alabama trug aus Prinzip gebrauchte Anzüge und bekundete stolz, auf jede seiner Mahlzeiten Ketchup zu schütten – alles, um sich als authentischer Vertreter von Middle America zu inszenieren.16 15  |  Richard Hofstadter: Anti-Intellectualism in American Life, New York 1963. 16  |  Vgl. zu Wallace Kazin: The Populist Persuasion, S. 221-243.

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Und Amerikas Liberale taten ihm den Gefallen, das Spiel mitzuspielen und ihn als schon ästhetisch unangenehm auffallenden Hinterwäldler zu verspotten. Da war etwa der Essay von Elizabeth Hardwick im New York Review of Books, aus dem etwas länger zu zitieren sich lohnt: »Wallace in his plastic-like, ill-cut suits, his greying drip-dry shirts, with his sour, dark, unprepossessing look, carrying the scent of hurry and hair oil: if he were not a figure, a star, he would be indistinguishable from the lowest of his crowd […] Wallace’s natural home would seem to be a seedy hotel with a lot of people in the lobby, and his relaxation a cheap diner.«17 Im Jahr 2016 sollte man sich an George Wallace oft erinnern, denn die historisch kundigeren unter Amerikas Journalisten fanden viele Parallelen zu Donald Trump, obgleich das wohl nicht für die Qualität der Anzüge gilt. Da war nicht nur der offenkundige Rassismus. Auch Wallace beleidigte seine Opponenten in maßloser Weise; und auch bei ihm, ein typisches Erkennungszeichen des Populismus, konnte sich niemand ganz sicher sein, welche Art von Gesellschaft er sich eigentlich vorstellte und was eigentlich das Ziel all der Wut und des Zorns und des Auf begehrens sein sollte. Das unterschied ihn von der sich parallel formierenden Goldwater-Bewegung, die ideologisch sehr viel kohärenter war. Die besonders pessimistischen gegenwärtigen Beobachter sahen überdies sowohl bei den Anhängern von Wallace als auch von Trump bereits den Nukleus einer neofaschistischen Bewegung. Und schließlich liebte Wallace – ebenso wie Trump – den Krawall, den Aufruhr, und nährte sich am Zorn seiner Gegner. Er hatte schnell erkannt, dass ein Streit mit Fernsehreportern Sendezeit garantierte, dass es ebenfalls Aufmerksamkeit verschaffte, wenn man bei Wahlkampfreden, unter lautem Gejohle der Mehrheit, auch gegen eine anwesende Minderheit austeilte. Richard Nixon konnte kein Wallace sein; nicht ganz jedenfalls. Als Kandidat der damals noch auf Anstand und Etikette achtenden Grand Old Party musste er respektabler, staatsmännischer und weniger rustikal wirken. Nixon wollte Wallaces Wähler; er durfte aber auch jene Republikaner nicht verprellen, die ihre Freizeit im Country Club verbrachten und über Wallace angewidert die Nase rümpften. Goldwater hatte man 1964 auch deswegen nicht gewählt, weil man ihm nicht das Nuklearwaffenarsenal einer Supermacht anvertrauen wollte. Doch von solch rationalen Erwägungen abgesehen, konnte »Tricky Dick« auch kaum die Rolle des populistischen Außenseiters spielen, der allein gegen Washington und seine politische Klasse in den Kampf zog. Denn Nixon war Washington; Nixon war die politische Klasse. Von 1946 bis 1952 hatte Nixon im Kongress gesessen, war danach acht Jahre lang Vizepräsident unter Eisen17  |  Vgl. Elizabeth Hardwick: Mr. America, in: New York Review of Books, 7. November 1968.

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hower gewesen. Seine folgende kurze politische Auszeit war eine Zwangspause gewesen, da er bei der Wahl zum Gouverneur von Kalifornien gescheitert war. Und anders als Wallace war Nixon seiner Natur nach auch kein Volkstribun, sondern ein verschlossener Mann und steifer Redner ohne jeden Humor. Doch eines teilte Nixon mit George Wallace und mit Millionen Amerikanern, die den Mann aus Alabama zu ihrem Helden ernannt hatten: die Verachtung der Intellektuellen, der Professoren, überhaupt des gesamten kopflastigen Ostküstenestablishments. Und Nixon musste sich dafür nicht einmal verstellen; seine Verachtung kam aus vollem Herzen. Denn er selbst fühlte sich von ebenjenen Menschen nicht respektiert. Die Summe einer Unzahl von Kränkungen hatte aus Nixon einen verbitterten, zutiefst misstrauischen, ja hasserfüllten Mann gemacht. Einiges war in seinem Leben zusammengekommen: dass ein Studium in Harvard, wo er die Zulassung erhalten hatte, aus finanziellen Gründen nicht möglich gewesen war; dass ihm nach dem Jurastudium dann eine Stelle in einer der großen New Yorker Anwaltskanzleien verwehrt geblieben war; dann schließlich die Kübel von Hohn und Spott, welche die liberale Presse seit den 1940er Jahren über den stets etwas linkisch wirkenden Nixon ausgeschüttet hatte. All das hatte ihn darin bestärkt, dass da ein geschlossener Club elitärer Snobs unter sich zu bleiben gedachte und dass er, der Junge aus der kalifornischen Provinz, dessen Eltern strenge Quäker gewesen waren und einen kleinen Lebensmittelladen geführt hatten, von ihnen niemals Anerkennung erfahren würde. In seinem Tagebuch raste Nixon vor Verachtung über die verweichlichte und hochnäsige American Leader Class und glorifizierte »labor leaders and people from middle America who still have character und guts and a bit of patriotism«18. Richard Nixon war zäher, beharrlicher als alle seine Feinde gewesen und in den Tumulten von 1964 hatte er klug die Füße stillgehalten und einerseits Goldwater unterstützt, andererseits aber auch den Granden der Partei zu verstehen gegeben, dass er den Mann aus Arizona ebenfalls für einen Dogmatiker hielt. Dafür hatte er später die Prämie eingefahren und 1968, nachdem seine Karriere schon ein halbes Dutzend Mal für beendet erklärt worden war, noch einmal die Chance bekommen, die Präsidentschaft anzutreten. Und dieses Mal war seine Zeit gekommen. Es waren nur acht Jahre vergangen, seitdem Nixon gegen John F. Kennedy die Wahl knapp verloren hatte; das Land aber war kaum mehr wiederzuerkennen. Niemand sprach mehr vom »Ende der Ideologien«. Nach einem Rausch großer Erwartungen waren viele Amerikaner mit einem üblen Kater aufgewacht. Und zu Nixon passte das Amerika von 1968 viel besser als die konsensgeprägten Jahre zu Beginn der Dekade. Die USA waren jetzt, wie es ein Historiker so überaus prägnant ge18  |  Zitiert nach Richard Reeves: President Nixon: Alone in the White House, New York 2002, S. 519.

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schrieben hat, »Nixonland«19. Das mag merkwürdig klingen, da das Jahr 1968 ja als Chiffre eines liberalen kulturellen Wandels gilt. Man kann das allerdings schon für Deutschland mit einigem Recht anzweifeln,20 erst recht aber für die USA, wo der konservative Backlash schon zu diesem Zeitpunkt überdeutlich wurde. Auch Nixon kultivierte, wie Wallace, eine Anti-Establishment-Attitüde – was allerdings, wie gesagt, ein wenig paradox erschien angesichts seines Status als Washington-Insider. Damit das dennoch funktionierte, veränderte Nixon, und dann vor allem sein Vize-Präsident Spiro Agnew, diese Erzählung leicht; genauer gesagt: Er spezifizierte sie etwas und parteipolitisierte sie dadurch. Wenn schon nicht die Erfinder, so waren Nixon und Agnew doch die virtuosen Popularisierer des politischen Kampf begriffes von den »liberalen Eliten«. Gemeint war damit eine abgehobene und versnobte upperclass, die zwar eine ethnische und sexuelle Minderheit nach der anderen für geschehenes Unrecht der Vergangenheit kompensierte, dafür aber die Sorgen und Ängste des hard-working American aus den Augen verlor. Die »liberale Elite« in dieser Erzählung war gottlos, dekadent, unpatriotisch, aber vor allem unendlich bigott; denn während sie vorgab, den Unterprivilegierten zu helfen, ging es ihr in Wahrheit nur darum, andere zu bevormunden. Für die »liberale Elite« war es natürlich ein Leichtes, für die rassische Integration von öffentlichen Schulen zu werben – verwahrten sie angeblich doch ihre eigenen Zöglinge sicherheitshalber lieber auf teuren Privatschulen. Der Begriff war so flüchtig wie bald schon ubiquitär; niemand vermochte genau zu sagen, wo die »liberale Elite« ihr Zentrum hatte oder wer überhaupt dazugehörte. Aber das war gerade die Stärke dieser populistischen Erzählung, erweckte sie doch den Eindruck, einer ebenso machtvollen wie klandestinen Allianz von Deutungseliten gegenüberzustehen. Dazu gehörten wahlweise die Professoren an den Eliteuniversitäten der Ostküste, die politische Redaktion der New York Times, Regierungsbürokraten, liberale Unternehmer, Bürgerrechtsaktivisten und überhaupt alle, mit denen »Tricky Dick« über Kreuz lag und die auf Nixons offizieller »enemy list« standen. Sogar jene, die gegen den Vietnamkrieg protestierten – und die sich gewiss dagegen gewehrt hätten, mit den Politikern der Demokratischen Partei und anderen Mitgliedern des Establishments in einem Atemzug genannt zu werden –, saßen angeblich mit im Boot bei dieser Verschwörung. Schließlich ruinierten sie die Moral an der Heimatfront, und außerdem: Waren es nicht die gut situierten Söhne und Töchter der »liberalen Eliten«, die da protestierten? 19  |  Rick Perlstein: Nixonland: The Rise of a President and the Fracturing of America, New York 2008. 20  |  Vgl. Robert Lorenz/Franz Walter: 1964 – das Jahr, mit dem »68« begann, Bielefeld 2014.

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Auch das konservative Misstrauen gegenüber einem vermeintlich uniformen, linkslastigen Medienkomplex stammt aus dieser Zeit.21 Der stets mit einem Hang zur Paranoia ausgestattete Nixon fühlte sich seit Beginn seiner Präsidentschaft von den Medien verfolgt. Die liberal press wurde als Hort linker, politischer Propaganda verunglimpft, als Kaste abgehobener Wirklichkeitsdeuter, die versuchten, den Menschen von Middle America ihre verschrobene Sicht der Welt aufzuzwingen. Patrick Buchanan, Nixons extrem einflussreicher Redenschreiber jener Zeit, verlautbarte 1973: »There is no element in American life more out of touch with the concerns and beliefs of the common man than the liberal press.«22 Im Wahlkampf 1968 versprach Nixon Ruhe und Ordnung, Law and Order, eine harte, entschlossene Führung in Vietnam und die Rückkehr zum Amerika vor den großen Umbrüchen. Und Millionen Amerikaner, beunruhigt über steigende Kriminalitätsraten in den amerikanischen Großstädten, verunsichert ob der ersten, wenngleich noch zarten Anzeichen des Endes der beispiellosen Nahkriegsprosperität, angewidert von den Exzessen der Counter Culture, verängstigt über die Rassenunruhen in Amerikas Metropolen, verständnislos und wütend angesichts der unpatriotischen Antikriegsdemos und schließlich, vielleicht mehr als alles andere, bitter enttäuscht über die Demokraten und den Präsidenten, fielen dem Mann aus dem kalifornischen Yorba Linda in die weit ausgebreiteten Arme. Nixon hatte an die »Forgotten Americans, the non-shouters, the non-demonstrators«23 appelliert, an die Männer und Frauen, die hart arbeiteten, ihre Steuern zahlten und versuchten, ihre Kinder auch in diesen verrückten Zeiten noch vernünftig zu erziehen. 1968 wurden die Republikaner zum ersten Mal in ihrer Geschichte zur Partei der weißen Arbeiterklasse. Sogar bei katholischen Wählern – bis dahin eine treue Klientel der Demokraten – gewann Nixon erstmals eine Mehrheit. Den tiefen Süden verloren die Demokraten ebenfalls und jetzt zum zweiten Mal – allerdings zum Teil an Nixon, zum Teil an George Wallace. Doch Wallace war nur eine Zwischenstation für viele Demokraten, die bald begannen, republikanisch zu wählen. So oder so: Die alte New-Deal-Koalition war zerbrochen. Die Republikaner schafften 1968 zum ersten Mal etwas, was ihnen in den Folgejahrzehnten noch oft gelingen sollte: die sozioökonomische Konfliktlinie des Landes durch eine kulturelle Konfliktlinie zu ersetzen. 21 | Vgl. Christopher Cimaglio: »A Tiny and Closed Fraternity of Privileged Men«: The Nixon-Agnew Antimedia Campaign and the Liberal Roots of the U.S. Conservative »Liberal Media« Critique, in: International Journal of Communication, 2016 (10), S. 1-19. 22  |  Patrick Buchanan: The New Majority: President Nixon at Mid-Passage, Philadelphia 1973, S. 22. 23 | Lewis Gould: The Republicans: A History Of The Grand Old Party, Oxford 2014, S. 265.

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Freilich: Das lag gewiss nicht allein an der Virtuosität, mit der Nixon diese Themen ausbeutete. Zu der Geschichte gehörte auch, dass die Demokraten das Spiel in gewisser Weise mitspielten – und das war nicht unbedingt zu ihrem Vorteil. Insbesondere im Wahljahr 1972 schienen sie sich in exakt jene Partei zu verwandeln, welche die Republikaner so eifrig zu diffamieren versuchten: als chaotische Heimstatt der Neuen Linken. Die Partei nominierte George McGovern, einen frühen Gegner des Vietnamkrieges, der auch sonst auf dem linken Flügel der Demokraten beheimatet war. Auf seinem Nominierungsparteitag 1972 in Miami Beach ereigneten sich – ähnlich wie in Chicago vier Jahre zuvor – tumultartige Szenen. Es war jedenfalls nicht völlig falsch, wenn man als TV-Zuschauer den Eindruck gewann, die Hippies hätten die Demokratische Partei übernommen. Fast achtzig Prozent der Delegierten waren zum ersten Mal auf einem Parteitag dabei – und das war kein Zufall. Die Partei wollte inklusiver werden und hatte aus diesem Grund bestimmte Quoten für Minderheiten vorgesehen. Das wiederum ging auf Kosten der bisher herrschenden Parteicliquen, vor allem der Gewerkschaften. Für viele Gewerkschaftsführer war der Parteitag der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. 1972 war das Jahr, in welchem der Konflikt zwischen der Alten und der Neuen Linken in der Partei endgültig manifest wurde. Und er war mehr als nur ein Generationskonflikt. Den neuen Gruppen, die jetzt in der Demokratischen Partei einflussreich wurden, viele von ihnen geprägt von der Bürgerrechts-, Frauen- oder auch Homosexuellenbewegung, ging es um Identitätspolitik: Politisch zu werden hieß demnach, nicht auf universalistische Werte zu rekurrieren, sondern das eigene und sodann das Bewusstsein der Umwelt für die eigene Position und Identität zu schärfen.24 In der Tradition linker Politik ging es dabei zwar weiterhin um Ungleichheiten – nur dass diese nicht mehr allein ökonomischer Natur waren, da nun die Benachteiligung aufgrund anderer Merkmale im Mittelpunkt stand: weil man eine andere Hautfarbe hatte, ein anderes Geschlecht, eine andere sexuelle Orientierung usw. Natürlich verschwanden die klassischen Themen sozialer Ungleichheit deshalb nicht gänzlich von der Agenda der Partei; allein schon, weil man das eine vom anderen ja faktisch kaum trennen konnte. Aber mindestens bis zur Mitte der Nuller-Jahre des 21. Jahrhunderts – als das Thema der sozialen Ungleichheit mit Nachdruck zurückkehrte – wurden die alten Brot-und-Butter-Themen in ihrer Bedeutung von den Sujets der Identity Politics deutlich überschattet. Insgesamt förderte das einen Trend – nicht unbedingt zum Vorteil der Demokraten –, dem auch Gruppen innerhalb der Republikanischen Partei zuarbeiteten: auf Themen 24  |  Vgl. für den Unterschied zwischen den klassischen Ideologien und moderner Identitätspolitik John Schwarzmantel: Ideology and Politics. London 2008, S. 109-130; für die Bedeutung der Identity Politics in der Neuen Linken in den USA vgl. Andrew Hartman: A War for the Soul of America. A History of the Culture Wars, Chicago 2015, S. 18-37.

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der Gesellschaftspolitik zu setzen anstatt auf solche sozioökonomischer Natur. Auch deswegen konnte Nixon 1972 seinen Erfolg wiederholen. Mehr noch: Er fuhr einen Erdrutschsieg ein, der dem Sieg Johnsons gegen Goldwater 1964 glich. Nixon gewann sage und schreibe 49 von fünfzig Bundesstaaten. Schon 1969 hatte Nixon bei einer Rede zum Vietnamkrieg die Silent Majority ausgerufen – ein Begriff, den ihm Buchanan ins Manuskript geschrieben hatte. Buchanan strebte später als harter Rechtspopulist und mit den Mitteln einer aggressiven weißen Identitätspolitik seinerseits die Präsidentschaft an. In diesem Fall gibt daher der Urheber des Begriffs Hinweise auf die untergründige Intention. Denn die Silent Majority ist ein geradezu klassischer Topos des populistischen Denkens: die Vorstellung von einer schweigenden Mehrheit, die den wahren, unverfälschten Volkswillen ausdrückt, allerdings aus undurchsichtigen Gründen von einem Elitenkartell von der Macht ferngehalten wird.25 Der Begriff klang zunächst harmlos; aber in seinem Kern steckte bereits ein Stück Verschwörungsdenken ebenso wie ein gewisser Anti-Pluralismus. Zumindest für ersteres schien Nixon ebenfalls der ideale Repräsentant, da wohl kaum ein Präsident in der Geschichte der USA sich so permanent und ausdauernd von einem feindlichen Heer umstellt sah. 2016 dann wird Donald Trump ganz ungeniert den Begriff der Silent Majority reaktivieren – und dieses Mal sind die anti-pluralistischen Tendenzen sehr viel weniger subtil. Im Lager der Republikaner war man sich 1972 im Übrigen darüber im Klaren, dass der Partei mit dem Wahlsieg nicht plötzlich Millionen konservative Überzeugungstäter zulaufen würden. Insbesondere bei wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen hatten die Männer und Frauen der Silent Majority gewiss wenig gemein mit den harten Antikommunisten und Free Market-Enthusiasten der Goldwater-Bewegung. Die gesamten 1970er Jahre über debattierte man innerhalb der Bewegung darüber, wie man aus Gelegenheitswählern Stammwähler machen könnte. William Rusher, Herausgeber des National Review, glaubte eine Lösung zu haben, die er in seinem schnell an Einfluss gewinnenden Buch »The Making of the New Majority Party« zu Papier brachte. Die Klassenunterschiede zwischen den »haves« und den »have-nots« würde an Bedeutung verlieren, glaubte Rusher – oder vielleicht sollte man eher sagen: hoffte er. Denn Rusher setzte auf einen neuen Klassenkonflikt: zwischen einerseits Elementen, die er als »productive« beschrieb – wozu Geschäftsleute und Unternehmer ebenso zählten wie Arbeiter und Farmer –, und andererseits jenen, die er als »non-productive« bezeichnete: Intellektuelle, Staatsbedienstete und natürlich alle, die vom Wohlfahrtsstaat direkt abhingen.26 Pat Buchanan, der Erfinder der Silent Majority, schlug in eine ähnliche Kerbe, als 25  |  Vgl. Priester: Rechter und Linker Populismus, S. 96. 26 | Vgl. William Rusher: The Making of the New Majority Party, Ottawa (Ill) 1975; auch Phillips-Fein: Invisible Hands, S. 218ff.

5. 1968 und die Silent Majority

er meinte, die Republikanische Partei müsse sich definieren als »the party of the working class, not the party of the welfare class«27. In der Tat sollte diese Rhetorik stilbildend sein. Vor allem in Zeiten schwieriger wirtschaftlicher Bedingungen war die Strategie geeignet, um einen Keil zwischen eine unter Druck geratene, aber sehr stolze Mittelschicht bzw. Arbeiterklasse und die Unterschicht zu treiben und so die Takers einer Gesellschaft gegen die Makers auszuspielen (eine Formulierung, die häufig von Paul Ryan, dem Republikanischen Sprecher des Repräsentantenhauses, benutzt wurde). Und den vielleicht stärksten Trumpf zur Unterminierung der sozioökonomischen Konfliktlinie hatten Amerikas Konservative noch gar nicht gezogen: Religion. Diese hatte ihren großen Auftritt auf der Bühne der amerikanischen Politik erst nach Nixons Abgang.

27 | Zitiert nach Jefferson Cowie: Stayin’ Alive: The 1970s and the Last Days of the Working Class, New York 2010, S. 371.

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6. Kulturkrieg

Der Aufstieg der Religiösen Rechten

Vordergründig schienen der Watergate-Skandal und der Rücktritt Richard Nixons einen Rückschlag für die Träume von einer andauernden konservativen Dominanz zu bedeuten. Wohl noch nie in der amerikanischen Geschichte war das Ansehen des höchsten Staatsamtes moralisch so tief gefallen wie im Jahr 1974, als offenbar wurde, dass der Präsident einen Einbruch ins Hauptquartier der Demokratischen Partei seitens seines Stabes mindestens zu vertuschen versucht hatte. Sein Nachfolger und bisheriger Vizepräsident, Gerald Ford, gehörte dem moderaten Flügel der Partei an. Zwei Jahre später verlor er die Wahl und mit Jimmy Carter saß wieder ein Demokrat im Weißen Haus. Watergate markierte den Beginn einer Vertrauenskrise des Politischen, von der sich das Land nie ganz erholt hat. Insofern war es aber auch kein spezifischer Rückschlag für die konservative Bewegung; vielleicht stimmte sogar eher das Gegenteil: Amerikas Konservative entwickelten ein besonderes Talent darin, die Früchte der Frustration und des Misstrauens zu ernten. Und Nixon war für die true believer der Bewegung ohnehin immer nur ein Kompromisskandidat gewesen. Die meisten Konservativen scharrten längst ungeduldig mit den Füßen und warteten, dass mit Ronald Reagan endlich einer der ihren das Zepter in der Republikanischen Partei übernehmen würde; sie sollten ihren Wunsch bald bekommen. Vor allem aber waren die 1970er Jahre auch die Zeit des spektakulären Wachstums der konservativen Bewegung. Die amerikanische Rechte war längst ein multimilliardenschweres Unternehmen. In Washington etablierten sich in dieser Zeit neben dem bereits existierenden American Enterprise Institute weitere konservative Think Tanks, etwa die Heritage Foundation oder das radikal-libertäre Cato Institute, welche die öffentliche Debatte zukünftig stark beeinflussten sollten. Verstärkung erhielt die Bewegung überdies durch eine regelrechte Welle politischer Überläufer: Zahlreiche liberale Intellektuelle hatten in den 1960er Jahren begonnen, die Seiten zu wechseln. Anfang der 1970er Jahre waren sie dann endgültig im konservativen Lager angekommen. Beson-

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ders ins Auge stach dabei eine Gruppe jüdischer Intellektueller, von denen viele in den 1930er und 1940er Jahren am New Yorker City College studiert hatten, als sie noch Trotzkisten gewesen waren. Der bekannteste unter ihnen war Irving Kristol. Diese als Neoconservatives bezeichneten Intellektuellen waren keine stillen Denker, sondern öffentlichkeitswirksame und talentierte Politikverkäufer. Sie waren medial äußerst präsent, gründeten neue Zeitschriften (z.B. den Public Interest) oder richteten bestehende Medien ideologisch neu aus (wie das Magazin Commentary). Sie waren, wie so viele Konvertiten,1 hochgradig sendungsbewusst und davon überzeugt, dass sie als Vordenker die entscheidenden Kombattanten in einer historischen Auseinandersetzung waren – wie Kristol es 1975 ausdrückte: »What rules the world is ideas, because ideas define the way reality is perceived.«2 Konservative Ideen lebten nicht länger am Rande der intellektuellen Debatte, sondern waren in ihr Zentrum gerückt. Noch Anfang der 1960er Jahre hatte sich mancher keynesianische Wirtschaftswissenschaftler erfolgreich dafür eingesetzt, dass die Bücher von Milton Friedman und anderen Chicago Boys aus den Bibliotheken entfernt wurden.3 Die Vorstellung, dass der Staat sich aus den meisten wirtschaftlichen Abläufen heraushalten sollte, hatte vielen Ökonomen nicht als Wissenschaft, sondern als Theologie gegolten. In den 1970er Jahren war eine solche Verfemung unvorstellbar geworden – die einstigen Rebellen der neuen Angebotsökonomik waren längst zur neuen Orthodoxie aufgestiegen. Unter amerikanischen Ökonomen gab es mittlerweile wahrscheinlich mehr Fans von Hayek und Friedman als von Keynes. Natürlich blieben die Fakultäten der amerikanischen Eliteuniversitäten – des Hassobjektes konservativer Intellektueller – dennoch oft liberal geprägt; und die Editorials in der New York Times oder der Washington Post strotzten ebenfalls nicht vor Sympathie für mehr Kapitalismus, Law and Order oder die Wiederherstellung der christlichen Moral. Aber für den Konservativismus war das, erstens, kein Problem, weil so das Feindbild erhalten blieb. Zweitens schafften es die Artikel aus dem National Review und aus Commentary auch so in die Mainstream-Medien, genau wie die policy papers des American Enterprise Institute zuverlässig auf den Schreibtischen Republikanischer (und bisweilen auch Demokratischer) Kongressabgeordneter landeten. Vor allem begann der amerikanische Konservativismus, drittens, sich langsam als autarke Gegenöffentlichkeit zu konstituieren. Noch lag die Gründung von Fox News, jenem Nachrichtensender, der maßgeblich zur Entstehung einer konservativen Echokammer beigetragen hat, zwei Jahrzehnte in der Zukunft. Aber in 1  |  Vgl. Lütjen: Partei der Sünder. 2  |  Daniel T. Rodgers: Age of Fracture, Cambridge 2011, S. 2. 3 | So jedenfalls der konservative Historiker Lee Edwards: The Conservative Revolution: The Movement that Remade America, New York 1999, S. 132.

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Ansätzen war diese Gegenöffentlichkeit in den 1970er Jahren bereits auf den Weg gebracht. Auch wenn Konservative sich weiterhin in der Pose der underdogs gefielen: Sie waren es längst nicht mehr. Und die Bewegung legte nicht nur an intellektueller Schlagkraft zu und befreite sich damit von ihrem Status als Gruppe privilegierter Unternehmer und paranoider Kommunistenjäger. Sie nahm auch beträchtlich an schierer Masse zu, da sie neue gesellschaftliche Bündnispartner hinzugewann. Da war etwa die auch in Europa äußerst berüchtigte National Rifle Association (NRA) mit ihren heute fast fünf Millionen Mitgliedern. Die längste Zeit ihrer Existenz war die NRA ein eher verschlafener Interessenverband für Jäger und Sportschützen gewesen, der sich kaum um konkrete Lobbyarbeit in Washington gekümmert hatte. Tatsächlich hatte man sich dort, was heute unvorstellbar escheinen mag, anfangs eher für eine stärkere Regulierung des Schusswaffenverkaufs eingesetzt. Erst durch einen verbandsinternen Staatsstreich wurde die NRA 1977 von Funktionären übernommen, die zur harten amerikanischen Rechten gehörten und auf die Lockerung der bestehenden Verbote setzten. Die NRA betrieb fortan Lobbying in beiden Parteien; aber ihre Verbindungen zur Republikanischen Partei wurden in der Folge immer intensiver, die Organisation dadurch immer politischer.4 Heute ist sie im komplexen Organisationskosmos des amerikanischen Konservativismus einer der wichtigsten Akteure. Statistiken zufolge sollen 95 Prozent der Mitglieder der NRA bei Präsidentschafts- und Kongresswahlen regelmäßig zur Urne schreiten.5 In einem Land, in dem die Wahlbeteiligung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts selten viel mehr als fünfzig Prozent betrug, machte das die NRA zu einem unschätzbar wichtigen Verbündeten der Bewegung. Die Evolution der NRA ist ein exzellentes Beispiel dafür, welche Wirksamkeit die historisch tief verankerte Angst vor einer zu starken Bundesregierung in Washington – eine Furcht, die von der konservativen Bewegung sorgsam kultiviert wurde – auf zahlreichen politischen Feldern entfalten kann. Denn auch die NRA begründet ihre Opposition gegen schärfere Regulierungen und ihr Eintreten für den Schutz des 2. Verfassungszusatzes (»A well regulated Militia, being necessary to the security of a free State, the right of the people to keep and bear Arms, shall not be infringed«) mit dem Widerstand gegen eine Regierung, der im Zweifelsfall nicht zu trauen sei und die deswegen keinesfalls ein Gewaltmonopol besitzen dürfe. Aber sogar die NRA – genau wie viele andere Vorfeldorganisationen der Republikanischen Partei – verblasst vor dem in dieser Hinsicht fraglos wichtigsten 4 | Vgl. Adam Winkler: Gunfight: The Battle over the Right to Bear Arms in America, New York 2011. 5  |  Vgl. Micklethwait/Wooldridge: The Right Nation, S. 177.

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Akteur: der Religiösen Rechten. Im Nachhinein erscheint es sehr erstaunlich, dass Religion in all den Turbulenzen und Polarisierungen der 1960er Jahre noch keine prominente Rolle gespielt hatte. Fraglos hatte es zwar seit der Formierung der konservativen Bewegung – deren traditionalistischer Teil sich selbstverständlich als Hüter der christlich-abendländischen Tradition des Landes sah – nie an Versuchen gemangelt, die Kirchen als Bündnispartner zu gewinnen.6 Doch keine der Bemühungen hatte große Wirkung gezeitigt. Der amerikanische Protestantismus – bis in die jüngere Vergangenheit eindeutig die Mehrheitskonfession im Land – war für Amerikas Konservative nur schwer zu mobilisieren. Von der Abschaffung der Sklaverei bis hin zu den verschiedenen Reformprojekten des Progressive Movement war er in der amerikanischen Geschichte häufig sogar eher auf der progressiven Seite zu finden gewesen.7 Konservative Christen hingegen hatten sich nach einer Reihe schwerer Niederlagen zu Beginn des 20. Jahrhunderts weitgehend aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen. Und wie gesagt: Auch in den polarisierten 1960er Jahren schien sich dieser Trend zunächst noch zu bestätigen. Zwar gab es unter den vielen antikommunistischen Gruppen, die seit den 1940er Jahren im Land aufgeblüht waren, auch einige, die von christlich inspirierten Aktivisten getragen wurden.8 Und gewiss war der Widerstand gegen die moralischen »Exzesse« der Counter Culture wenig überraschend, wenn man sich die starke christliche Prägung der USA vergegenwärtigt. Dennoch sucht man prominente Kirchenführer etwa in der Goldwater-Bewegung noch vergeblich. Als Amerika – wie andere westliche Gesellschaften auch – einen rasanten Wertewandel erlebte, durch den traditionelle Moralvorstellungen fundamental in Frage gestellt wurden, standen Amerikas konservative Christen an der Seitenlinie. Jerry Falwell, der spätere Initiator und Anführer der 1979 gegründeten Moral Majority, bekannte sich noch im turbulenten Jahr 1965 zur Abwendung von allem Weltlichen und lehnte es ab, sich für den Kampf gegen den Kommunismus oder die Bürgerrechtsbewegung vor den Karren einer Partei spannen zu lassen: »Preachers are not called upon to be politicians but to be soul winners.«9 Auf der progressiven Seite sah dies fraglos anders aus: Hier war es immerhin der Baptistenprediger Martin Luther King, Jr. gewesen, der über die Southern Christian Leadership 6 | Vgl. Kevin M. Kruse: One Nation under God: How Corporate America Invented Christian America, New York 2015. 7 | Vgl. George Marden: Understanding Fundamentalism and Evangelicalism, Grand Rapids 1991, S. 2. 8 | Vgl. Kenneth D. Wald/Allison Calhoun-Brown: Religion and Politics in the United States, Lanham 2011, S. 204; Leo Ribuffo: The Old Christian Right. The Protestant Far Right from the Great Depression to the Cold War, Philadelphia 1983. 9  |  Zitiert nach Matthew Levendusky: The Partisan Sort. How Liberals became Democrats and Conservatives became Republicans, Chicago 2009, S. 26.

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Conference die Bürgerrechtsbewegung angeführt hatte und in dessen Reden neben dem Verweis auf den American Creed auch christliche Motive der Versöhnung eine große Rolle gespielt hatten. King diente Falwell dann auch als abschreckendes Beispiel für die Politisierung der Religion. In den 1970er Jahren aber endete der politische Dornröschenschlaf konservativer Protestanten – ohne dass eindeutig feststellbar wäre, was sie so plötzlich wachgeküsste hatte. Zum Teil verantwortlich war die kluge Bündnispolitik der Republikanischen Partei und konservativer Bewegungsunternehmer, die konservativen Kirchenführern einen Platz am Tisch der Bewegung anboten. Zudem galt auch hier die fast banale Feststellung: Es brauchte einfach eine gewisse Inkubationszeit, bis sich in einem in vielerlei Hinsicht sehr christlich geprägten Land wie den USA schließlich doch noch erbitterter Widerstand gegen die Liberalisierungstendenzen der 1960er Jahre regte. Mehr als alles andere aber hatte dieses politische Erwachen wohl mit den strukturellen Veränderungen innerhalb des amerikanischen Protestantismus selbst zu tun. Zwar attestiert eine Minderheit von Historikern und Religionssoziologen den USA für jene Zeit ein viertes Great Awakening, also eine generell gesteigerte Intensität expressiver Religiosität.10 Tatsächlich gibt es aber nicht besonders viele Indizien hierfür. Die Daten legen eher das Gegenteil nahe: Obgleich die USA im Vergleich mit anderen westlichen Ländern sehr religiös blieben – 1980 bekundete über die Hälfte der Amerikaner, täglich zu beten –, erlebten auch sie in den 1970er Jahren einen, wenngleich sehr leichten, Rückgang institutionalisierter Religiosität.11 Entscheidend war jedoch, dass dieser Rückgang die verschiedenen Segmente des extrem plural organisierten US-Protestantismus sehr unterschiedlich betraf. Die Kirchen des sogenannten Mainline Protestantism, die eher liberal eingestellt waren und ihren Frieden mit einer zunehmend säkularisierten Kultur gemacht hatten, begannen zu erodieren – und dieser Prozess sollte sich in der Folge noch massiv beschleunigen. Geradezu explosionsartig wuchsen hingegen konservative, häufig als »evangelikal« bezeichnete protestantische Kirchengemeinden. Dabei ist der Terminus »evangelikal« nicht sonderlich präzise, sondern eine begriffliche Hilfskonstruktion, mit der sich angesichts der Vielfalt der protestantischen Kirchen oder »Sekten« in den USA zumindest jene zusammenfassen lassen, die – zunächst in theologischer Hinsicht – als konservativ gelten können. Vor allem zwei Merkmale grenzen evangelikale Kirchengemeinden von den Kirchen des sogenannten Mainline Protestantism ab: zum einen der Glaube an die wörtliche Interpretation der Bibel und zum anderen eine persönliche, intime 10  |  Vg. Robert Fogel: The Fourth Great Awakening: The Future of Egalitarianism, Chicago 2000. 11 | Vgl. James T. Patterson: Restless Giant: The United States from Watergate to Bush vs. Gore, Oxford 2007, S. 142ff.

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Gottesbeziehung der Gläubigen, die sich in der Regel durch ein Konversionserlebnis auszeichnet (daher die Überzeugung, ein born-again Christian, ein »wiedergeborener« Christ zu sein).12 Viele evangelikale Christen erkannten überall in den USA Zeichen des moralischen Niedergangs, die sie nicht selten auch als Zeichen biblischer Endzeiten werteten. Insgesamt jedoch zeigte sich der Protestantismus in den USA recht weltzugewandt, weshalb er auch relativ leicht zu politisieren war. Viele evangelikale Kirchenführer glaubten, dass nur eine moralische Erneuerung, basierend auf den Prinzipien des Christentums, eine Umkehr möglich mache. Für Amerikas konservative Protestanten stand – der strikten und zumeist auch nicht grundsätzlich in Frage gestellten Trennung von Religion und Staat zum Trotz – fest, dass die USA ein christliches und im Kern auch protestantisches Land seien und dass dieses Erbe um jeden Preis verteidigt werden müsse. Ihrer Überzeugung nach waren die Vereinigten Staaten tatsächlich als Nation auserwählt worden, um der Welt das Licht zu bringen oder doch zumindest als leuchtendes Beispiel zu dienen: eben »a city upon a hill«, ein modernes Israel. Doch Amerika, so empfanden sie, strahlte schon lange nicht mehr – nicht seit der Niederlage in Vietnam, seit den Exzessen einer promiskuitiven Jugendkultur, seitdem Amerikas Familien zerbrachen und seit dem moralischen Bankrott von Watergate. Amerika war ein krankes Land; die Rückkehr zum Christentum würde die Heilung bringen. Kurzum: In den USA wuchsen – und dieser Trend hält bis heute an – die spirituellen Ränder: Menschen ohne jede religiöse Bindung einerseits und besonders konservative, bibeltreue Christen andererseits. Und in den 1970er Jahren begannen Demokraten und Republikaner, an verschiedenen Orten zu beten.13 Amerikas Kirchengemeinden wurden homogener, auch politischer – eine Entwicklung, die ebenfalls bis in die Gegenwart reicht. Die »religiöse Mitte« verwaiste derweil. Man musste kein Prophet sein, um zu ahnen, dass dadurch kulturelle Konflikte vorprogrammiert waren. Besonders stark waren evangelikale Kirchen im Süden und im Westen der USA, also in Regionen, die – wir erwähnten es bereits – seit den 1950er Jahren wirtschaftlich prosperiert hatten, was auch die wirtschaftliche wie soziale Lage vieler Evangelikaler verändert hatte. Ihr nun höherer Status steigerte nicht nur ihre gesellschaftspolitische Partizipationsbereitschaft, da beides stets eng miteinander korreliert.14 Er machte sie auch empfänglicher für die Anti-Staats- und die Steuersenkungsrhetorik der Republikanischen Partei. 12  |  Vgl. Michael Lienish: Redeeming America: Piety and Politics in the New Christian Right, Chapel Hill 1993. 13  |  Vgl. Bill Bishop: The Big Sort: Why the Clustering of Like-Minded America Is Tearing Us Apart, New York 2008. 14  |  Wald/Calhoun-Brown: Religion and Politics, S. 223ff.

6. Kulturkrieg

Aber natürlich wirkten primär religiöse und gesellschaftspolitische Fragen mobilisierend. Nicht weniges davon fand auf lokaler Ebene statt: Proteste gegen Schulbücher, in denen Evolutionstheorie gelehrt wurde; Demonstration gegen Pornografie; Referenden, die Homosexualität aus dem öffentlichen Raum bannen wollten, und einiges andere mehr. Vor allem aber trieben zwei Entscheidungen aus Washington Amerikas Christen auf die Barrikaden. Erstens die geplante Verabschiedung des »Equal Rights Amendment« (ERA), das die Frauenrechte stärken sollte. 1972 bildete sich unter Phyllis Schlafly, der Ikone des Anti-Feminismus, die »Stop ERA«-Bewegung, der tatsächlich gelang, das Vorhaben zum Stillstand zu bringen. Zweitens – ein Spaltpilz des Politischen und extrem polarisierend bis in die Gegenwart – die Grundsatzentscheidung des Supreme Court zum Thema Abtreibung. Im Fall Roe v. Wade hatten die Bundesrichter das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch bestätigt und den Einzelstaaten verboten, davon abweichende Gesetze zu erlassen. Freilich: Was heute so unausweichlich erscheint – der enge Schulterschluss zwischen der Republikanischen Partei und konservativen Christen –, das schien lange Zeit ein Prozess mit offenem Ausgang zu sein. Jedenfalls war nicht sofort offensichtlich, wohin das politische Erwachen des amerikanischen Protestantismus parteipolitisch führen würde. Insofern liegt rückblickend auch eine gewisse Ironie darin, dass es mit Jimmy Carter ein Demokrat war, der 1976 nach dem Watergate-Skandal mit seinem Versprechen der moralischen Erneuerung maßgeblich zur Mobilisierung evangelikaler Christen beitrug und sie damit endgültig in die politische Arena hineinzog.15 Langfristig war dieses Segment angesichts der diametral entgegengesetzten ideologischen Richtungen, in welche die beiden Parteien sich bewegten, jedoch nicht von der Demokratischen Partei zu halten. 1979 mündeten die verschiedenen politischreligiösen Mobilisierungsbemühungen in der Gründung der Moral Majority, die sich zum Ziel setzte, dem moralischen Niedergang des Landes entgegenzuwirken. Einer ihrer Gründer war der bekannte Fernsehprediger Jerry Falwell. Aber zur Moral Majority gehörten von Anfang auch bekannte Gesichter des Bewegungskonservativismus mit engen Beziehungen zur Republikanischen Partei, etwa Paul Weyrich, der ein paar Jahre zuvor geholfen hatte, die Heritage Foundation zu gründen. Für viele liberale Zeitgenossen, aufgewachsen im Glauben an die Säkularisierung moderner Gesellschaften, waren die spektakulären Mobilisierungserfolge von Falwells Organisation ein regelrechter Schock: Nach nur einem Jahr ihrer Existenz hatte die Moral Majority – die Ende der 1980er Jahre zwar wieder von der Bildfläche verschwand, aber durch eine Reihe anderer Organisationen 15  |  Vgl. Andrew P. Hogue: Stumping God. Reagan, Carter, and the Invention of Political Faith, Waco 2012.

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ersetzt wurde – vier Millionen Mitglieder und zwei Millionen Spender, von denen nicht wenige als freiwillige Helfer aktiv in Präsidentschafts- und Kongresswahlen mitmischten.16 Die Sprache der Anführer der Moral Majority war hart und martialisch, oft auch militant. Ebenso wie die Antikommunisten der 1950er Jahre riefen sie eine epische Schlacht aus, bei der es keine neutralen Beobachter mehr geben könne. So urteilte Jerry Falwell: »We are born into a war zone where the forces of God do battle with the forces of evil.«17 Zu Ronald Reagans Sieg 1980 trug die Moral Majority ebenfalls maßgeblich bei. Nachdem Jimmy Carter 1976 gar noch eine knappe Mehrheit der Stimmen von evangelikalen Christen erhalten hatte, gewann Reagan diesen wichtigen Wählerblock 1980 mit über siebzig Prozent der Stimmen. Seitdem sind evangelikale Christen ein fester Bestandteil der Republikanischen Wählerkoalition. Gleichwohl soll die starke Fixierung auf Amerikas konservative Protestanten die andere wichtige Veränderung im Verhältnis zwischen Religion und Politik nicht aus dem Blick geraten lassen: Im Wahlverhalten lösten sich die Konfessionsschranken auf. Bis dato hatte die Konfession das Wahlverhalten der Amerikaner bestimmt, nicht etwa die individuelle Religiosität oder Frömmigkeit. Katholiken wählten traditionell stärker demokratisch, Protestanten mehrheitlich republikanisch. Das hatte kaum etwas mit genuinen Glaubensfragen zu tun. In der großen Einwanderungswelle um 1900 waren die Demokraten ganz einfach zur Interessenpartei katholischer Einwanderer aus Europa geworden, während Amerikas WASPs – kurz für White Anglo-Saxon Protestants – meist den Republikanern zuneigten. Wie in anderen protestantisch dominierten Ländern hielt man Katholiken auch in den USA für unzuverlässige Patrioten, die es im Zweifel mit Rom hielten. Aber die Moralisierung der amerikanischen Politik und die Bedrohung durch eine säkulare und sexuell promiskuitive Jugendbewegung ließen jetzt – neben dem sozialen Aufstieg vieler Katholiken – die Konfessionsunterschiede in den Hintergrund rücken. Schon 1968 hatte mit Richard Nixon zum ersten Mal ein Republikanischer Präsidentschaftskandidat eine knappe Mehrheit der Stimmen der Katholiken für sich gewinnen können. Seit den 1970er Jahren beobachteten Wahlforscher, dass die konservativen Elemente in beiden Konfessionen nun stärker für dieselbe Partei votierten – und das Gleiche galt andersherum auch für liberale Christen bzw. Konfessionslose. Konservative Protestanten sowie konservative Katholiken wählten tendenziell stärker republikanisch, liberale Christen beider Konfessionen stärker demokratisch. Bei der Präsidentschaftswahl 2012 erhielt Mitt Romney von Amerikanern, die

16  |  Vgl. Clyde Wilcox: Onward Christian Soldiers?, Boulder 1996, S. 96. 17  |  Zitiert nach Rodgers: Age of Fracture, S. 169.

6. Kulturkrieg

einmal oder mehrmals die Woche beteten, über sechzig Prozent der Stimmen.18 Vor allem die 1980er und 1990er Jahre wurden durch den Aufstieg der Christlichen Rechten die Jahre der Culture Wars. Abtreibung, Homosexualität, Schulgebet und schwieriger zu kategorisierende, weil sehr viel diffusere Themen, in denen es um die »Seele Amerikas« ging und um die Frage, ob sich das Land im »moralischen Abstieg« (moral decline) befinde, prägten die Diskussionen. Den Begriff des Culture War hatte der Soziologe James Davison Hunter 1991 in die Diskussion gebracht. Hunter zufolge teilte sich das Land zunehmend in zwei Lager mit Weltsichten, die kaum noch miteinander zu versöhnen waren. Auf der einen Seite, so Hunter, stand das »orthodoxe« Amerika: Dort glaubte man an eine transzendente Autorität, an überlieferte Normen und Werte, an eindeutige moralische Unterscheidungen zwischen Gut und Böse. Auf der anderen Seite des Culture War befand sich das »progressive« Amerika: Dort glaubte man an die Emanzipation von überkommenen Werten, an gesellschaftlichen Fortschritt und an die Relativität moralischer Grundsätze.19 Dieser tiefe moralische Konflikt prägte die amerikanische Politik seit Ende der 1970er Jahre.

18  |  Vgl. den Report des Pew Research Centers vom 12. Mai 2015: America’s Changing Religious Landscape, URL: www.pewforum.org/2015/05/12/americas-changing-reli gious-landscape/ [eingesehen am 03.10.2016]. 19 | Vgl. James Davison Hunter: Culture Wars: The Struggle to Define America, New York 1991.

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7. »It’s Morning in America«

Ronald Reagan und die unvollendete Revolution

Ende der 1970er Jahre war somit alles an seinem Platz. Die konservative Bewegung hatte ihren Höhepunkt fast erreicht: Sie verfügte über eine Armada von Zeitschriften und Zeitungen, besaß die Infrastruktur milliardenschwerer Think Tanks und hatte die Unterstützung zahlreicher mitgliederstarker Basisorganisationen. Die Republikanische Partei war zwar noch nicht vollständig erobert, war noch nicht ganz die stramm konservative Partei, die sie heute ist. Noch gab es Republikaner, die das Recht auf Abtreibung befürworteten, und auch solche, die nicht der Meinung waren, dass der Staat die Wurzel allen Übels sei. Gleichwohl: Für jeden, der sehen konnte, war unschwer zu erkennen, wohin die Reise führte. Die Kraftzentren der Partei lagen längst nicht mehr im Nordosten des Landes, sondern waren west- und südwärts gewandert. Schon in ein paar Jahren würde niemand mehr, der sich nicht stolz als »konservativ« bezeichnete, die Chance auf eine innerparteiliche Karriere in der Grand Old Party haben. Und schließlich: Der Zeitgeist hatte sich gewandelt. Ideen, die man vor zwanzig Jahren noch für rettungslos anachronistisch gehalten hatte, standen plötzlich im Zentrum vieler Debatten. Die spektakulären Wachstumsjahre nach 1945 gingen zu Ende, und mit ihnen eine Periode, die der britische Historiker Eric Hobsbawm als »Golden Age« der Moderne bezeichnet hat.1 Auf die wirtschaftlichen Krisen der 1970er Jahre hatten der amerikanische Liberalismus und die keynesianischen Ökonomen keine besonders überzeugenden Antworten gefunden. Phänomene wie »Stagflation« – eine Inflation bei gleichzeitiger wirtschaftlicher Rezession – hätte es nach den Theorien Keynes und der Adepten der britischen Ökonomen gar nicht geben dürfen. Das war kein amerikanisches Phänomen: Fast überall im Westen schien die Linke Ende der 1970er Jahre ebenso zerstritten wie ausgebrannt. Was wir heute Neoliberalis1 | Eric Hobsbawm: Age of Extremes: The Short Twentieth Century 1914-1991, London 1995, S. 223ff.

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mus nennen – die Idee, dass die Kräfte des Marktes am besten geeignet seien, um Wohlstand zu schaffen, und dass sich daher alles ihrem Effizienzdenken unterordnen müsse – begann in dieser Zeit, den öffentlichen Diskurs zu bestimmen. Allerdings hören da die globalen Gemeinsamkeiten auch schon wieder auf. Denn in den meisten europäischen Gesellschaften – sogar in Margaret Thatchers Großbritannien – funktionierte der neoliberale Diskurs vor allem als Erzählung von »Sachzwängen«: Man war gezwungen, die Märkte zu deregulieren, die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu verbessern und Sozialstandards zu senken, weil es aufgrund von globalen Entwicklungen, für die niemand persönlich verantwortlich zu machen war, Alternativen eben nicht gab.2 In den USA aber brauchte der globale Neoliberalismus keine Sachzwanglogik. Hier konnte er mit sehr viel machtvolleren Erzählungen verheiratet werden: den tief verwurzelten nationalen Mythen vom amerikanischen Individualismus; vom Unternehmer, der als zeitgemäße Entsprechung des Frontierman jetzt wagemutig jede Grenze überwand; von einem Land, in dem es jeder, der hart arbeitete, bis ganz nach oben schaffen könne, sofern er nicht staatlicherseits daran gehindert werde. Ronald Reagan, der Mann, der nicht nur dieses Denken wie kein anderer verkörperte, sondern auch all die verschiedenen Puzzleteile des amerikanischen Konservativismus für ein paar Jahre ineinanderfügte und zusammenhielt, profitierte zeitlebens davon, unterschätzt zu werden. Man konnte das allerdings schon verstehen, denn vieles war fraglos etwas merkwürdig: dass der »Hof-Astrologe« seiner Frau Nancy teilweise Einfluss auf den Terminplan nahm, weil am Tag wichtiger Entscheidungen die Sterne vermeintlich ungünstig standen; dass auch enge Freunde bisweilen irritiert waren, wenn Reagan Fakten und Fiktion miteinander vermischte und manche seiner angeblich auf persönlichen Erlebnissen beruhenden Anekdoten nachweislich aus Hollywoodfilmen stammten; seine Unfähigkeit (oder vielleicht auch nur seine Weigerung), sich auf gewissen, ihm eher fernliegenden Politikfeldern überhaupt mit grundlegenden Inhalten zu beschäftigen.3 Aber Reagan war weitaus komplexer, als man glauben mochte. Einer seiner Biografen – noch dazu derjenige, der das Privileg genoss, ihn über Jahre im Weißen Haus beobachten zu dürfen – verzweifelte an den Widersprüchen die2 | Vgl. zum Denken in Sachzwängen Willibald Steinmetz: Anbetung und Dämonisierung des ›Sachzwang‹. Zur Archäologie einer deutschen Redefigur, in: Michael Jeismann (Hg.): Obsessionen. Beherrschende Gedanken im wissenschaftlichen Zeitalter, Frankfurt a.M. 1995, S. 293-333. 3  |  Vgl. zu Reagan grundlegend die Biografie von Lou Cannon: President Reagan: The Role of a Lifetime, New York 1991.

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ses Mannes so sehr, dass er am Ende zu fiktionalen Mitteln greifen musste (er fügte sich selbst als Schulfreund von Reagan in die Geschichte), um sich auf den Heros des amerikanischen Konservativismus einen Reim zu machen.4 In jedem Fall war es eine kolossale – und für die amerikanische Linke auch folgenschwere – Fehleinschätzung, Reagan nur für einen telegenen, aber naiven Einfaltspinsel zu halten, der seine Instruktionen von höherer Stelle bekam. Reagan war sein eigener Herr. Er mochte kein Intellektueller sein; aber für einen Politiker war er ein belesener Mann. Reagan hatte die Werke libertärer Ökonomen tatsächlich intensiv studiert, vor allem Hayeks »Road to Serfdom«, zudem andere Werke aus dem konservativen Kanon – auch wenn er in ihnen vielleicht nur Bestätigungen dessen erkannte, was sich für ihn zum Zeitpunkt der Lektüre ohnehin bereits als unumstößliche Wahrheit herauskristallisiert hatte. Als er 1981 ins Weiße Haus einzog, war allerdings seine intellektuelle Neugierde bereits verschwunden. Reagan hatte aufgehört zu lesen, weil er ganz sicher zu wissen glaubte, was richtig und falsch war und was das Land brauchte. Man konnte das, und so sahen es fraglos die meisten Liberalen, für Ignoranz halten und Reagan für einen doktrinären Ideologen. Oder man sah es so wie Steven F. Hayward, ein konservativer amerikanischer Historiker. Angelehnt an Isaiah Berlins berühmte Unterscheidung der großen Meisterdenker in »Füchse«, die vieles wüssten, und »Igel«, die nur eine Sache wüssten, die aber ganz genau, bezeichnete Hayward Reagan als den Igel unter den Politikern. Reagan, so der Historiker, brauchte nicht »vieles« zu wissen, da er von einer fundamentalen Wahrheit überzeugt sei: Der Staat (government) sei eine Bedrohung der Freiheit, sowohl in seiner bösartigen Form des Kommunismus als auch in seiner vermeintlich wohlwollenden Variante der Verteilungsbürokratie. Er, der Staat, war, in Reagans eigenen Worten, nicht die Lösung, sondern das Problem.5 Mit Ronald Reagan setzte sich die Reihe der ideologischen Überläufer zum amerikanischen Konservativismus fort. Auch Reagan war ein Konvertit, wenngleich sein Weg nicht ganz so weit gewesen war wie der des Kommunisten Chambers oder des Trotzkisten Kristol. Doch immerhin: Bis in die 1940er Jahre hinein war Reagan ein überzeugter New-Deal-Liberaler gewesen. Reagan hatte kein plötzliches Damaskuserlebnis erfahren, seine Konversion war graduell verlaufen. Zum Umdenken hatte ihn zunächst die Konfrontation mit den Infiltrationsversuchen von Kommunisten in der Screen Actors Guild Association, der Schauspielergewerkschaft, gebracht, der er von 1947 bis 1952 als 4  |  Vgl. Edmund Morris: Dutch. A Memoir of Ronald Reagan, New York 1999. 5 | Vgl. Steven F. Hayward: The Age of Reagan: The Fall of the Old Liberal Order 1964-1980, New York 2011, S. XXIII.

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Präsident vorstand. Reagan fand, dass Amerikas Liberale viel zu nachsichtig mit den fellow travelers der Kommunistischen Partei umgingen und generell das Ausmaß der Gefahr völlig unterschätzten. Ein anderer Grund kam hinzu, einer, den Reagan nie abstritt: Als er nach seinem Durchbruch in Hollywood sehr hohe Gagen zu verdienen begann, fand er einfach, dass er weitaus zu hohe Steuern zahle. Und dann war es tatsächlich die Welt der Bücher, die Reagans Konversion ganz erheblich beschleunigte. Kein Werk machte mehr Eindruck auf ihn als Whittaker Chambers’ »Witness«, jenes Buch, das, wir sahen es, für viele Konvertiten eine Art Offenbarung war. Reagan konnte ganze Passagen auswendig, paraphrasierte und zitierte aus dem Buch und »quizzte« seine Mitarbeiter darüber, was Chambers’ Umkehr ausgelöst hatte; es war kein Zufall, dass er ihm als Präsident posthum die »Medal of Freedom« verlieh.6 Anders als andere Konvertiten freilich machte Reagan ob seiner Läuterung nie einen gequälten Eindruck. Und so existenziell Reagan die Auseinandersetzung mit der Sowjetunion, dem Evil Empire, moralisch auflud, so süffisant verspottete er den amerikanischen Liberalismus: als eine Torheit von Menschen, die es eben nicht besser wüssten. Ihnen war einfach nie zuteilgeworden, was er hatte erfahren dürfen: die Einsicht, dass sich all die guten Vorsätze am Ende in ihr Gegenteil verkehren würden. Als Reagan einmal auf einer Pressekonferenz, noch sehr zu Beginn seiner Präsidentschaft, für die wirtschaftlichen Probleme die Vorgängerregierung, den Kongress und überhaupt jeden außer sich selbst verantwortlich machte, wurde er von einem Reporter gefragt, ob er nicht selbst auch einen Anteil daran habe. Da antwortete der Präsident unter großem Gelächter: »Yes, because for many years, I used to be a Democrat.« So erzählte Reagan seine Geschichte oft nur als »halbe Konversion«. Denn schließlich sei er sich in manchem auch treu geblieben, während die Demokraten längst nicht mehr dieselbe Partei seien, für die er einst gestimmt habe. »I didn’t desert my party«, sagte er einmal, kurz nachdem er Präsident geworden war: »My party deserted me.« 7 Wie Daniel Oppenheimer schreibt, machte ihn ebendies zu einem perfekten Repräsentanten des Rechtsrucks, der die USA ab den 1970er Jahre erfasste. Reagan lieferte Millionen Amerikanern, die sich in seiner Geschichte wiederfanden, darunter vielen Ex-Gewerkschaftsmitgliedern, ein Drehbuch für den eigenen Seitenwechsel.8 Als Reagans schauspielerische Karriere in den 1950er Jahren zunehmend stagnierte, begann er für »General Electric« (GE) zu arbeiten. Dort erhielt seine 6 | Michael J. Lee: Creating Conservatism: Postward Words that Made an American Movement, East Lansing 2014, S. 167. 7  |  Zitiert nach Oppenheimer: Exit Right, S. 148. 8  |  Ebd., S. 151.

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Konversion ihren letzten Schliff: Reagans soziales Umfeld veränderte sich, und er sah die Welt immer stärker durch die Augen seiner Arbeitgeber, der Manager von GE.9 Reagan produzierte im Auftrag der Firma eine eigene wöchentliche Fernsehsendung und wurde auf landesweite Reisen in die verschiedenen Werke der Firma geschickt, um dort mit der Belegschaft zu sprechen. Am Anfang hielt Reagan die Leute noch mit Hollywoodklatsch bei Laune; aber mit der Zeit, als seine politische Lektüre intensiver wurde, sein Interesse für Politik stärker und Hollywood in immer weitere Ferne rückte, wurden seine Reden immer politischer. Für den ökonomischen Populismus, den er bald verkörpern sollte, war es ein perfektes Trainingsgelände: Reagan erklärte Arbeitern, die in der Regel gewerkschaftlich organisiert waren, warum Gewerkschaften schlecht seien, die meisten wohlfahrtsstaatlichen Leistungen kontraproduktiv wirkten und von Steuersenkungen alle gleichermaßen profitieren würden. Am Ende wurde es General Electric gar zu bunt und sie forderten Reagan auf, sich wieder auf das Showbusiness zu besinnen; Reagan lehnte ab – und so endete das Engagement. Das war 1962. Wahrscheinlich ahnte Reagan da schon, dass es ihn mit Macht in die Politik drängte. Aber wer weiß schon, was wirklich passiert wäre, wenn sich nicht einige Mitarbeiter der Goldwater-Kampagne im Oktober 1964 an den Ex-Hollywood-Star erinnert und zwei Wochen vor der Wahl reichlich Sendezeit gekauft hätten, um Reagan eine halbe Stunde lang zu einem Millionenpublikum reden zu lassen. Wie der Historiker David Farber schreibt, wiederholte Reagan da in großen Teilen seine über Jahre ausgefeilten Ansprachen an die GE-Arbeiter.10 Einerseits war es eine kristallin konservative Botschaft, die Reagan in seiner »A Time for Choosing«-Rede sendete. Sie hätte auch von Goldwater selbst stammen können oder vielleicht sogar von den radikalen Mitgliedern der John Birch Society: Reagan beschwor die Gefahren eines allmächtigen Zentralstaates, der den Amerikanern für immer ihre Freiheit nehmen würde, und wiederholte, was vor ihm schon Goldwater gesagt hatte: dass man in der Konfrontation mit der Sowjetunion lieber stehend sterben würde, als knieend weiterzuleben. Für Millionen Amerikaner, die ihn bis dahin nur als Schauspieler gekannt hatten und nichts wussten von seiner weltanschaulichen Evolution der letzten Jahre, war es entweder ein Schock oder aber eine Offenbarung. Gleichzeitig hatte Reagan eine gewisse Konzilianz an sich, einen Charme, der den Goldwaters der Partei völlig abging. Sein Pathos klang eben nicht nach den Birchers, sondern nach Jefferson, Lincoln und vor allem Roosevelt, den Reagan auch nach seiner Abwendung vom New-Deal-Liberalismus weiterhin zutiefst 9 | Vgl. Thomas W. Evans: The Education of Ronald Reagan: The General Electric Years and the Untold Story of His Conversion to Conservatism, New York 2006. 10  |  Farber: The Rise and Fall of Modern American Conservatism, S. 170.

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verehrte. Am Ende seines »A Time for Choosing«-Auftritts bediente er sich hemmungslos einer Rede Roosevelts aus dem Jahr 1936: »You and I have a rendezvous with destiny. We will preserve for our children this, the last best hope for man on earth, or we will sentence them to take the last step into a thousand years of darkness.«11 Die Rede – unter Aktivisten der Bewegung fortan nur ehrfürchtig »The Speech« genannt – elektrisierte Amerikas Konservative auf einen Schlag. In den Tagen danach stellte die Goldwater-Kampagne einen neuen Spendenrekord auf. Nur wenige Wochen später wendeten sich reiche Unternehmer aus Kalifornien an Reagan und beknieten ihn förmlich, 1966 bei der Gouverneurswahl gegen den populären Amtsinhaber Pat Brown anzutreten. Aber viel Überzeugungsarbeit war gar nicht mehr nötig: Reagan war längst entschlossen, das heiße Eisen, das er plötzlich im Feuer hatte, weiter zu schmieden. In vielerlei Hinsicht war Kalifornien – das heute als sehr liberaler Bundesstaat gilt – nach 1945 ein Treibhaus konservativer Mentalitäten gewesen: Dort entstanden landesweit die meisten antikommunistischen Basisgruppen; dort war die wirtschaftliche Elite extrem libertär eingestellt; und überdies expandierten in Kalifornien auch so stark wie kaum anderswo neue evangelikale Megachurches. Kein Ort in den USA stand schon damals so demonstrativ für Experimentierfreude und für die Idee, sich gänzlich neu erfinden zu können – und in keinen anderen Staat hatte es zwischen 1920 und 1960 auch nur annähernd so viele Amerikaner gezogen. Der Golden State galt schon damals als gesellschaftliches sowie politisches Labor; Kaliforniens Konservative amalgamierten bereits in den 1960er Jahren Elemente, die anderswo noch ohne Verbindung waren – und so vollzog Ronald Reagan dort seinen steilen politischen Aufstieg aus der Mitte einer konservativen Bewegung, die bald für das ganze Land stilbildend wurde.12 Aber nicht nur der US-Konservativismus erprobte sich dort. Das Kalifornien der 1960er Jahre war natürlich auch das Epizentrum der gesellschaftlichen Erschütterungen jener Dekade. Alles, was Amerikas Konservative in jener Zeit das Fürchten lehrte, konzentrierte sich im Grunde auf ein paar Quadratkilometern in der Bucht von San Francisco: An der University of California in Berkeley waren die Studentenproteste seit 1964, als sich das Free Speech Movement formiert hatte, nicht mehr abgeebbt; ein paar Kilometer westlich in San Francisco bildete Haight-Ashbury den Ursprungsort der Beatniks und 11 | Steven F. Hayward: Why Ronald Reagan’s ›A Time for Choosing‹ endures after all this time, The Washington Post, 23. Oktober 2014. URL: https://www.washington post.com/opinions/why-ronald-reagans-a-time-for-choosing-endures-after-all-thistime/2014/10/23/d833c49e-587a-11e4-bd61-346aee66ba29_stor y.html?utm_ term=.39a3fd81d76f [eingesehen am 02.10.2016]. 12  |  Vgl. McGirr: Suburban Warriors.

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der Hippiekultur; und im benachbarten Oakland gründete sich 1966 die militant-revolutionäre Black-Panther-Bewegung. Und es war auch in Kalifornien, genauer gesagt in Los Angeles, wo es 1965 zu einer der ersten und wohl heftigsten Rassenunruhen der 1960er Jahre kam. Reagan, der sich eigentlich für niedrige Steuern, den Abbau von seiner Ansicht nach unnützen und schädlichen wohlfahrtsstaatlichen Leistungen und außerdem für den Kampf gegen den Kommunismus interessierte, war flexibel genug, um das alles zu seinem Vorteil zu nutzen: Bei seiner Wahl 1966 und auch bei seiner Wiederwahl 1970 setzte er angesichts der Zustände im Golden State, ebenso wie einst Richard Nixon, auf Law and Order. Indes: Seine Ansprache war eine andere. Auch Reagan konnte hart und martialisch klingen, wenn er über die Zustände auf amerikanischen Campussen sprach, die eine Anlaufstelle für Kommunisten und ein Zentrum verwerflicher sexueller Praktiken geworden seien. 1969 ließ er in Berkeley eine friedliche Demonstration gegen ein Bauprojekt mit Hilfe der Nationalgarde blutig auflösen. Der halbe Staat Kalifornien war entsetzt; die andere Hälfte aber fühlte sich bestätigt, den richtigen Mann ins Amt gewählt zu haben. Reagan war, keine Frage, ein eifriger Kombattant in den Kulturkriegen dieser Jahre. Aber anders als Nixon und Wallace brach er vieles durch seinen Humor. In der Ridikülisierung seiner Gegner hatte er früh eine große Meisterschaft entwickelt – eine Fähigkeit, die man heute unter Amerikas Konservativen vergeblich sucht. Als er etwa von einem Zusammenstoß mit einem Kriegsgegner berichtete, charakterisierte Reagan ihn so: »His hair was cut like Tarzan, and he acted like Jane, and he smelled like Cheetah.«13 Das war wahrscheinlich eine Genugtuung für einen Mann, zu dessen größeren schauspielerischen Erfolgen »Bedtime for Bonzo« gehörte, ein Film, in dem nicht er, sondern der titelgebende Schimpanse die Hauptrolle spielte. Und praktisch nie setzte sich Reagan öffentlich ernsthaft mit den Anliegen seiner Gegner auseinander, nicht mit der Kritik am Vietnamkrieg, die ja grundsätzlich nicht wenige auch seiner potentiellen Wähler teilten, auch nicht mit dem Protest gegen die Diskriminierung von Afro-Amerikanern. Lieber erzählte der Gouverneur einem ebenso geschockten wie voyeuristisch-faszinierten Publikum von den unfassbaren, unerhörten Szenen, die ihm von Studentenpartys in Berkeley und anderen mit Steuermitteln finanzierten Hochschulen zugetragen wurden: »The hall was entirely dark except for the light from two movie screens. On these screens the nude torsos of men and women were portrayed, from time to time, in suggestive positions and movements. Three rock and roll bands played simultaneously. The smell of marijuana was thick throughout the hall. […] There were indications of other happenings

13  |  Zitiert nach Farber: The Rise and Fall of Modern American Conservatism, S. 178.

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which cannot be mentioned.«14 Welche Rolle spielten schon die politischen Inhalte, die von Angehörigen der Protestgeneration geäußert wurden, angesichts dieser schockierenden Vorkommnisse? Die Art und Weise, wie Reagan, der ein virtuoser Erzähler war, den Konflikt rahmte, war entpolitisierend und hochpolitisch zugleich. Raffiniert war es in jedem Fall. 1974 endete Reagans Zeit als Gouverneur von Kalifornien. Er war längst ein Politiker von nationaler Bekanntheit – und jetzt, viel mehr noch als es Barry Goldwater jemals gewesen war, der uneingeschränkte Hoffnungsträger der Konservativen in der Partei. 1976 beging er bereits einen Tabubruch, als er den amtierenden Präsidenten der eigenen Partei, Gerald Ford, in der Republikanischen Vorwahl herausforderte. Ford konnte sich knapp behaupten – aber das war so etwas wie das letzte Hurra der moderaten Kräfte in der Partei. 1980 gewann Reagan die Nominierung dann mit Leichtigkeit für sich und schlug in der Hauptwahl Jimmy Carter – und zwar deutlich. Reagans Wählerkoalition ähnelte auffallend jenem elektoralen Bündnis, dass zwölf bzw. acht Jahre zuvor Richard Nixon an die Macht gebracht hatte, was noch einmal nachhaltig unterstreicht, wie wichtig Nixon für die Entwicklung des amerikanischen Konservativismus gewesen war. Bis auf Georgia, Carters Heimat, gewann Reagan jeden Staat im Süden. Was jedoch für die Demokraten noch viel erschreckender gewesen sein muss: Entgegen den Empfehlungen ihrer Gewerkschaftsbosse stimmte die Mehrheit der weißen Arbeiter mit Gewerkschaftszugehörigkeit für Reagan. Damit korrespondierte eine andere Zahl: Ein Viertel der selbsterklärten Demokraten hatte für den Republikaner votiert; viele Journalisten und Wahlforscher betitelten diese Gruppe, die durch den neuen Populismus der Republikanischen Partei eingefangen wurde, auch wenn sie nicht alle ideologischen Prämissen der Partei teilte, als Reagan Democrats. Auch andere Charakteristika der Wahlentscheidung wiesen in diese Richtung: Reagan hatte Wähler ohne College-Abschluss – bis dahin eine beinahe uneinnehmbare Bastion der Demokraten – in sein Lager gezogen. Und ein letzter Punkt: Mit Reagan fand auch ein Gender Gap Eingang in die amerikanische Politik – unter Männern hatte er weitaus mehr Zustimmung erhalten als unter Frauen. Es ist offenkundig, wie stark die Charakteristika der Reagan Democrats soziodemografische Ähnlichkeiten mit den Trump-Wählern der Republikanischen Vorwahlen des Jahres 2016 aufweisen. Wie gesagt: Das meiste davon hatte sich bereits 1968 und 1972 angedeutet; aber mit Reagan schienen sich all diese Trends zu verstetigen. Das einzige, was Reagan wirklich neu in die Republikanische Wählerkoalition hineingebracht hatte, war die durch die Bemühungen der Moral Majority unterstützte Mobili-

14  |  Zitiert nach Gerard J. De Groot: Ronald Reagan and Student Unrest in California, 1966-1970, in: Pacific Historical Review, 65 (1996), S. 110.

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sierung evangelikaler Christen.15 Entscheidend war nicht nur, dass die meisten von ihnen sich für Reagan und nicht für Carter entschieden, sondern dass sie überhaupt zur Wahl mobilisiert worden waren. Es folgten die Jahre, die Republikanische Politiker und konservative Intellektuelle als träumerische Hochzeit erinnern. Niemals zuvor und auch nie mehr danach hatten sie so sehr das Gefühl, dem Land ihren Stempel aufzudrücken. Das war eben auch ein ganz klassisches Narrativ: Jahrzehntelang war man durch die Wüste marschiert, hatte eine deprimierende Niederlage nach der anderen einstecken müssen, war dem Ziel ein ums andere Mal scheinbar nähergekommen – um dann doch wieder um den Lohn betrogen zu werden oder einem falschen Propheten aufgesessen zu sein. Am Ende aber hatten sich die Anstrengungen ausgezahlt; jetzt lachte niemand mehr über sie. Unter Reagan fügte sich in fast wundersamer Weise alles ineinander, schienen die Friktionen innerhalb der Bewegung zu verschwinden. Wie wir gleich noch sehen werden, bekam dabei längst nicht jeder, was er wollte; doch Reagan wäre deswegen nie, so wie einst Nixon für seine »Ping-Pong-Diplomatie«, von den Gralshütern der konservativen Ideologie öffentlich attackiert worden. Wie viele erfolgreiche Politiker war auch Reagan eine Art Rorschachtest, in dem jeder Betrachter andere Sehnsüchte und Hoffnungen (oder auch Ängste) erkannte. In einer Hinsicht jedenfalls gelang Reagan fürwahr die Quadratur des Kreises: Er schuf eine Paradoxie, an der man sich intellektuell leicht die Zähne ausbeißen konnte. Auf der einen Seite wurde mit ihm noch viel offenkundiger als mit Barry Goldwater und dessen Frontier-Ideologie, dass der amerikanische Konservativismus zumindest potentiell fortschrittsbejahend war. Im Slogan von Reagans Kampagne bei seiner triumphalen Wiederwahl 1984 »It’s Morning in America« steckte bereits die Grundessenz seines Optimismus: Reagan war überzeugt, dass die besten Jahre der USA noch kommen würden. Amerika verkörperte für ihn, wie es der konservative Kolumnist David Brooks einmal schrieb, eine Gesellschaft der permanenten Revolution, in der nichts stillstehen und bleiben könne, wie es war.16 Für einen Konservativen strahlte er einen fraglos ungewöhnlichen Optimismus und Fortschrittsglauben aus. Reagan teilte keineswegs jene leicht apokalyptische Sicht der Dinge, die im Innern der Bewegung vorgeherrscht hatte, seitdem Whittaker Chambers 15 | Vgl. Farber: The Rise and Fall of Modern American Conservatism, S. 192. Vgl. auch für einen kompakten Überblick Roper Center: How Groups Voted in 1980, URL: http://ropercenter.cornell.edu/polls/us-elections/how-groups-voted/how-groups-vo ted-1980/ [eingesehen am 03.10.2016]. 16  |  David Brooks: Reagan’s Promised Land, The New York Times, 8. Juni 2004. URL: www.nytimes.com/2004/06/08/opinion/reagan-s-promised-land.html [eingesehen am 03.10.2016].

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vom Kommunismus zum Konservativismus konvertiert war und geglaubt hatte, damit auf die Seite der Verlierer gewechselt zu sein. Reagan zweifelte tatsächlich nie daran, wer im Wettbewerb der ideologischen Systeme am Ende die Oberhand gewinnen würde: natürlich die USA. Und so legte er seine Außenpolitik an, die, zumindest auf den ersten Blick, extrem konfrontativ ausgerichtet war. In einem Gespräch kurz vor Beginn seiner Präsidentschaft sagte er zu Richard Allen, seinem späteren nationalen Sicherheitsberater: »My idea of American policy towards the Soviet Union is simple and some would say simplistic. It is this: We win and they loose.«17 Und wie Goldwater besaß Reagan eine buchstäblich jungenhafte Begeisterung für die moderne Technologie, was nicht zuletzt auch sein Einsatz für das militärische Weltraumprogramm SDI belegte. Aber es gab noch eine andere Seite von Reagan; und diese Seite wies sehr viel mehr in jene Gegenwart, die Donald Trump hervorgebracht hat. Denn Reagan hatte auch einen nostalgischen Zug und beschrieb in seinen Reden ein heiles Amerika, das wahlweise klang wie das Amerika der 1950er Jahre oder auch wie das Pionierleben in der Dauererfolgssendung »Unsere kleine Farm«, der Serie über die Härten, aber auch den Zusammenhalt einer dörflichen Gemeinschaft in den 1880er Jahren. Es war ein Amerika der Gemeinschaftlichkeit, wo Nachbarn noch nicht ihre Haustüren abschließen mussten und man aufeinander Acht gab. Es war, ganz unverkennbar, das Amerika vor Rassenunruhen und brennenden Stars and Stripes auf den amerikanischen Campussen. Reagan war kein Rassist, aber er besaß auch keinerlei Sensibilität für dieses Thema. Und so geht man wohl nicht fehl in der Annahme, dass für die meisten seiner Wähler bei Reagans Geschichtsstunden ein ziemlich weißes Amerika vor ihren inneren Augen wiederauferstand. Reagans vergangenes Amerika war vor seinen Sündenfällen (Roosevelts New Deal, Johnsons Great Society) ein gutes Land gewesen; in der guten alten Zeit hatte es keinen Grund gegeben für Sozialprograme, für Busing und Fair Housing oder für Affirmative Action. Der amerikanische Historiker Sean Wilentz schrieb einmal, dass sich diese merkwürdig paradoxe Kombination aus nostalgischer Rückschau bei gleichzeitigem Zukunftsoptimismus am besten im Titel eines der Kino-Kassenschlager des Jahrzehnts ausdrückte: »Zurück in die Zukunft« (»Back to the Future«) aus dem Jahr 1985.18 In den 1980er Jahren gelang dem amerikanischen Konservativismus etwas Entscheidendes: Er gewann die Deutungshoheit über die Interpretation der amerikanischen Geschichte. In Reagans imaginärem Amerika der Vergangen17 | Zitiert nach Sean Wilentz: The Age of Reagan: A History 1974-2008, New York 2008, S. 151. 18 | Ebd.

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heit hatte ein zügelloser Staat durch seine Eingriffe den Kern des Landes beinahe zerstört: Der Wohlfahrtsstaat hatte versucht, die Solidaritätsstrukturen von Nachbarschaften und anderen Gemeinschaften überflüssig zu machen; er blockierte die individuelle Initiative; er unterminierte die Moral der Gesellschaft (indem er z.B. Schulgebete untersagte). So versuchte er aus freiheitsliebenden Amerikanern unterwürfige Empfänger staatlicher Leistungen zu machen. Für Amerikas Liberale war das in der Zukunft eine harte Nuss, die frustrierend schwierig zu knacken war. Denn es suggerierte erfolgreich, dass das vermeintliche Big Government der Gegenwart in etwa so »unamerikanisch« sei wie einst die britische Monarchie im Jahr 1776. Natürlich war das, vorsichtig gesagt, eine recht selektive Auslegung der amerikanischen Geschichte. Amerikas Kapitalismus, von der Gründerzeit über das Eisenbahnsystem bis hin zum Internet, war immer auch das Resultat des Zusammenspiels von privater Initiative und gewaltigen staatlichen Investitionen gewesen. Doch solche Argumente schienen reichlich abstrakt angesichts der machtvollen Usurpation der amerikanischen Geschichte durch Reagan und andere Konservative. Es war jedenfalls der Beginn einer ungeheuren und sich bis heute verschärfenden Politisierung der amerikanischen Geschichtspolitik, die längst zum eminenten Streitobjekt zwischen den Parteien geworden ist.19 Dementsprechend ist es kein Zufall, dass der konservative Widerstand gegen Barack Obama den Namen einer historischen Revolte im Hafen von Boston gegen die britische Krone trägt.20 Es ist eben so, wie es Eric Hobsbawm einmal ausdrückte: »If there is no suitable past, it can always be invented.«21 Was folgte, wird verschiedentlich als Reagan Revolution bezeichnet, womit in der Regel gemeint ist, dass das Land nach rechts kippte und dort noch lange nach Reagans Auszug aus dem Weißen Haus verharrte. Aber die Sache mit der Revolution war in Wahrheit ziemlich kompliziert. Denn mittlerweile meinen nicht wenige Historiker, dass es eigentlich gar keine Revolution gewesen sei, dass die wirklichen Erfolge eher bescheiden ausgefallen seien, und dass dort, wo Reagan erfolgreich war, er dieses genau dem Abschwören von den ehernen Prinzipien der konservativen Bewegung zu verdanken gehabt habe.22 Doch der Reihe nach. Reagans oberstes innenpolitisches Ziel ist fraglos leicht zu identifizieren: der Kampf gegen Big Government, der auf drei Säulen 19  |  Vgl. Dionne: Our Divided Political Heart. 20 | Vgl. zum Geschichtsverständnis der Tea Party: Jill Lepore: The Whites of Their Eyes: The Tea Party’s Revolution and the Battle over American History, Princeton 2010. 21  |  Eric J. Hobsbawm: On History, London 1997. 22  |  Vgl. Für einen knappen Überblick: Gil Troy: The Reagan Revolution. A Very Short Introduction, Oxford 2009; pointierter: David B. Courtwright: No Right Turn. Conservative Politics in a Liberal America, Cambridge, MA 2010.

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beruhte – Steuersenkungen, Deregulierung und schließlich der Beschränkung öffentlicher Ausgaben. Am eindeutigsten fiel seine Bilanz im Feld der Deregulierungen und Privatisierungen aus, wenngleich manches davon schon unter Carter auf den Weg gebracht worden war. Auch in Bezug auf die Steuerpolitik scheint der Fall noch relativ eindeutig. Denn obgleich Liberale – um zu dokumentieren, dass Reagan im Zeitalter der Tea Party in der Republikanischen Partei als Sozialist gelten würde – heute nicht müde werden zu betonen, dass Reagan nach anfänglichen Senkungen verschiedene Steuern fast ein Dutzend Mal auch wieder erhöhte: Unter dem Strich hatte Reagan die Besteuerung der Amerikaner deutlich gesenkt. Insbesondere der Spitzensteuersatz, der bei Reagans Amtsantritt noch skandinavisch anmutende siebzig Prozent betragen hatte, wurde deutlich beschnitten.23 Ganz anders aber sah es mit den Plänen aus, die staatlichen Ausgaben zu senken – in diesem Bereich tat Reagan tatsächlich das exakte Gegenteil von dem, was sich viele Konservative erhofft hatten. Versuche, ernsthaft an Sozialprogrammen zu sparen, trafen auf heftigen Widerstand im Kongress – und zwar nicht nur vonseiten der Demokraten, sondern auch von Republikanischen Abgeordneten. Die öffentliche Meinung ließ sich dafür, sobald es konkret wurde, ebenfalls nur schwer mobilisieren. Reagans Mandat war stark, aber es entsprang eben doch verschiedenen Quellen. Die Kritik, ja das Verächtlichmachen von Big Government mochte in der seit den 1970er Jahren andauernden Vertrauenskrise populär sein. Aber ein Teil der Wählerschaft, der Reagan seinen Wahlsieg zu verdanken hatte – etwa die Reagan Democrats aus der weißen Arbeiterklasse und Mittelschicht –, hatte damit nicht gemeint, dass seine Ansprüche gekürzt werden sollten. Auch in der Reagan-Ära, so zeigte sich, hatten viele Amerikaner eine ambivalente, fast ein wenig schizophrene Einstellung gegenüber dem Staat. Sie waren, wie es die beiden Politologen Lloyd Free und Hadley Cantril schon 1968 gemutmaßt hatten, zwar »ideological conservatives«, aber »operational liberals«, wohinter sich eine im Grunde wohl banale Einsicht verbarg: Small Government klingt wie eine gute Idee – solange sie nicht die eigenen Leistungsansprüche betrifft.24 Und Reagan, der eben auch ein Pragmatiker war, registrierte die Grenzen seines Ansatzes und verabschiedete sich zumindest von den wildesten Plänen, etwa der Privatisierung der Sozialversicherung, relativ rasch und unsentimental. Für die libertären Hardliner in der Regierung und erst recht für viele libertäre Denker und Ökonomen der Bewegung war das ein schwerer Schlag – was aber merkwürdigerweise die wenigsten Reagan anlasteten, sondern nur als Beleg dafür nahmen, wie außerordentlich schwer die Bestie Big Government 23  |  Vgl. Troy: The Reagan Revolution, S. 53-70. 24 | Vgl. Lloyd A. Free/Hadley Cantril: The Political Beliefs of Americans, New York 1968.

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zu zähmen sei und dass der Präsident zu wenig Unterstützung erhalte. »Let Reagan be Reagan«, war ihre Losung. Aber: Das alles war Reagan – ein Ideologe, der sich am Ende doch stets mit den Gegebenheiten arrangieren konnte. In einer Hinsicht war die Analyse der Enttäuschten im Übrigen so falsch sicher nicht. Es ist eben stets leichter, den Wohlfahrtsstaat auszuweiten, als ihn zu beschneiden. Insofern fällt auch der Vergleich der »konservativen Doppelrevolution« in Großbritannien und den USA recht eindeutig aus: Im Vereinigten Königreich waren die strukturellen Reformen ungleich umfassender.25 Das lag zum einen vielleicht daran, dass der britische Wohlfahrtsstaat zuvor von einem weitaus üppigeren Ausmaß gewesen war und Thatcher daher viel brachialere Schneisen schlagen konnte. Doch primär hatte es damit zu tun, dass die britische Premierministerin institutionell unvergleichbar größere Machtressourcen besaß als Reagan, dem, wie vielen Präsidenten vor und nach ihm, das komplizierte amerikanische Regierungssystem mit seinen zahlreichen checks and balances schnell den Zahn zog. Für alles, was noch kommen sollte, war Reagans Scheitern an diesem Punkt jedenfalls ein Fanal, denn es signalisierte die Schwierigkeiten der praktischen Umsetzbarkeit des amerikanischen Konservativismus und seiner Prinzipien in Regierungspolitik. Doch verblüffenderweise sollten Amerikas Konservative darauf nicht mit Mäßigung reagieren, nicht mit einer Abschwächung ihrer Ziele – sondern den paradoxen Schluss ziehen, dass alles eine Frage einer noch stärkeren Prinzipientreue, einer noch größeren ideologischen Reinheit und eines noch mächtigeren Handlungswillens sei. Fortan sollten sie alle vier Jahre, bei jedem neuen Kandidaten, einen »neuen Reagan« erwarten – obwohl der alte Reagan vor dem Leviathan in Wahrheit oft genug sein Haupt gebeugt hatte. Es war schon damals der Kern der Krankheit, welche die Republikanische Partei bis heute plagt, und einer der Gründe, weshalb jeder Republikaner, der länger als eine Legislaturperiode im Kongress sitzt und sich dabei an realer Gesetzgebung beteiligt hat, als Teil des Establishments gilt. Reagan also senkte die Steuern, beschnitt aber ansonsten kaum die Ausgabenstruktur – und pumpte gleichzeitig gewaltige Summen in den Verteidigungshaushalt, dessen Etat sich von 1980 bis 1986 verdoppelte. Die enorme Verschuldung des Landes verdankt sich zu nicht geringen Teilen den acht Jahren seiner Präsidentschaft. Einige meinen, dahinter habe die Absicht gesteckt, dem Staat jeden zukünftigen Handlungsspielraum zu nehmen und ihn in der Zukunft zu strengen Kürzungen zu zwingen, die sogenannte »Starving the Beast«-Theorie. Belege gibt es dafür wenige. Die Wahrheit ist vielleicht noch etwas ernüchternder: Reagans Wirtschaftsberater waren wohl wirklich davon überzeugt, dass sich zumindest die massiven Steuersenkungen über kräftiges 25  |  Vgl. Paul Pierson: Dismantling the Welfare State? Reagan, Thatcher and the Politics of Retrenchment, Cambridge 1995.

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Wachstum von alleine finanzieren würden. Tatsächlich erlebten die USA nach einer Rezession 1981/82 einen starken wirtschaftlichen Aufschwung, der aber natürlich die Steuersenkungen (geschweige denn Reagans exorbitantes Aufrüstungsprogramm) in keiner Weise refinanzierte. Die Höhe des Verteidigungshaushalts war für Reagan ohnehin nicht diskutierbar; dieser, teilte er einmal einem Berater mit, sei nicht Teil des »normalen« Budgets.26 Denn Reagan musste aufrüsten. Er hatte über Jahre kritisiert, dass seit Nixon die Verteidigungsausgaben kaum gestiegen seien, während die Sowjets immer weiter aufgerüstet hätten. In außenpolitischer Hinsicht blieb sich der Präsident Reagan wohl am treuesten. Vom ersten Tag an schaltete er, jedenfalls rhetorisch, von der Entspannungspolitik (Detente) der Nixon-Fordund Carter-Periode auf Konfrontation um. Die Idee einer friedlichen Koexistenz mit der Sowjetunion hielt Reagan für bestenfalls naiv, oder, wie er es noch vor Beginn seiner Kandidatur als Republikanischer Präsidentschaftskandidat in der ihm eigenen Art ausgedrückt hatte: »Detente – isn’t that what a farmer has with his turkey – until Thanksgiving Day?«27 Bei bloßer Rhetorik blieb es nicht: Abrückend von der Politik Carters unterstützte die Reagan-Regierung überall auf der Welt antikommunistische Kräfte: von den Mujaheddin in Afghanistan bis zu den Contras in Nicaragua, was Reagan schließlich in die schwerste Krise seiner Präsidentschaft stürzte. Eine Unzahl von Arbeiten und Studien streiten um die Frage, inwiefern Reagans harte Haltung den Kalten Krieg für den Westen zu gewinnen half. In aller Tiefe können wir uns damit nicht beschäftigen. Zu behaupten, wie es manche Kritiker seiner Präsidentschaft tun, Reagans Politik habe den Konflikt noch verlängert, scheint aber doch recht zweifelhaft; die ganz gegenteilige Auffassung allerdings – formuliert z.B. vom konservativen US-Historiker Steven W. Hayward –, dass die Sowjets noch in den 1980er Jahren siegesgewiss auf dem Vormarsch gewesen seien,28 bevor Reagan sie in die Knie gezwungen habe, scheint regelrecht haltlos, nach allem, was man heute über den inneren Zustand der Sowjetunion in den siechenden Tagen der Breschnew-Ära weiß. Am Ende war der Fall des Eisernen Vorhangs vor allem ein später Erfolg der von George F. Kennan konzipierten Containment-Politik: den Einfluss der Russen so lange einzudämmen, bis die Systemwidersprüche der Sowjetunion und ihrer Satelliten allzu offenkundig würden (was Kennan im Übrigen auch so vorausgesagt hatte). 26 | Chester Patch: Sticking to his Gun: Reagan and National Security, in: Wilson E. Brownlee (Hg.): The Reagan Presidency: Pragmatic Conservatism and Its Legacies, Lawrence 2003, S. 90. 27  |  Zitiert nach John L. Gaddis: The Cold War. A New History, New York 2007, S. 217. 28  |  Vgl. Steven F. Hayward: The Age of Reagan. The Conservative Counterrevolution, 1980-1989, New York 2009, S. 96ff.

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An einem anderen Punkt jedoch ist Reagans Beitrag ziemlich klar: Als sich die Gelegenheit bot und Michail Gorbatschow (der im Unterschied zur CIA wusste, dass das System verrottet und vom Kollaps nicht mehr weit entfernt war), die Hand ausstreckte, da, eine einmalige historische Gelegenheit witternd, ergriff Reagan diese Chance – gegen den Widerstand antikommunistischer Hardliner in der eigenen Partei. Die Sache war allerdings, dass die meisten Konservativen sich in der Folgezeit nicht an den Reagan erinnerten, der in Reykjavik mit Gorbatschow einen entscheidenden Schritt zur Beendigung der Blockkonfrontation gemacht hatte, sondern an den Kalten Krieger Reagan, der mit der Androhung militärischer Gewalt seine Gegner niedergerungen und dabei niemals die grundsätzliche moralische Dimension des Konfliktes ausgespart hatte. Vieles spricht dafür, dass das ein gefährlicher und sogar verhängnisvoller Mythos war; denn er steigerte die manichäische Weltsicht vieler Konservativer – die dann trotz veränderter Welt- und Bedrohungslage nach dem 11. September 2001 im Krieg gegen den Terror eine simple, dichotomische, dem Kalten Krieg entstammende politische Freund-Feind-Codierung reaktivierten (sofern sie überhaupt jemals verschwunden war). Schließlich ist da der dritte und letzte Punkt, bei dem Reagans Anhänger sich einen Auf bruch zu ganz neuen Ufern erwartet hatten: die Wiederherstellung der öffentlichen Moral und die Rückkehr zu einem christlichen Amerika. Hier allerdings ist das Scheitern der Reagan Revolution zugleich wohl am klarsten, zumindest auf lange Sicht. Der Culture War konnte auch von Reagan nicht gewonnen werden. Zwar gab es in den 1980er Jahren einige popkulturelle Phänomene, die dafür zu sprechen schienen, dass traditionelle Familien- und Rollenbilder entweder eine Renaissance erfuhren oder aber, die wahrscheinlichere Möglichkeit, von der Mehrheit der Amerikaner ohnehin niemals in Frage gestellt worden waren.29 Da war z.B. der große Erfolg von »Family Ties«, einer Serie über eine amerikanische Mittelklassefamilie mit wenigen intergenerationellen Spannungen – sah man von den gelegentlichen politischen Kabalen zwischen den 68er-Eltern und ihrem tiefrepublikanischen Sprössling ab, gespielt von Michael J. Fox (in der Tat: Die Jugend war längst nicht mehr automatisch links. Bei seiner Wiederwahl 1984 erhielt Reagan bei den 18- bis 24-Jährigen 61 Prozent der Stimmen). Doch in anderer Hinsicht waren die 1980er Jahre kein Jahrzehnt der Restauration. Bisweilen wird behauptet, dass religiöse Fragen weder Reagan noch andere führende Republikanische Politiker ernsthaft interessiert hätten und es ihnen in Wahrheit lediglich um Steuersenkungen gegangen sei. In dieser Lesart war der Culture War nur vom Zaun gebrochen worden, um bestimmte 29  |  Vgl. Patterson: Restless Giant, S. 187ff.

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Wählersegmente zu aktivieren.30 Wahrscheinlich stimmt zwar, dass libertäre Vorstellungen vom Small Government im Zentrum der Partei standen; dennoch darf man nicht vergessen, dass Reagan mehrere Anläufe unternahm, den Anliegen der religiösen Rechten Geltung zu verschaffen. Um das Abtreibungsverbot des Supreme Court zu kippen, versuchte er in der amerikanischen Verfassung einen Zusatzartikel zu verankern, scheiterte damit aber am Kongress. Bei der Frage des Schulgebetes war es ähnlich. Es fehlten schlicht die politischen Mehrheiten; aber auch aus der Gesellschaft heraus hatte Reagan gewiss keinen ganz eindeutigen Auftrag zur gesellschaftlichen Restauration bekommen – dafür war, abermals, seine Wählerkoalition zu heterogen. Das nämlich war der große Widerspruch dieser Jahre: In den 1980er und 1990er Jahren feierte die religiöse Rechte einerseits große politische Erfolge. Die Moral Majority löste sich zwar bald auf, wurde aber ersetzt von einer Reihe anderer Gruppen. Da war etwa Ralph Reeds Christian Coalition, die in manchen Regionen der USA, vor allem im Süden, faktisch die Kontrolle über die lokalen Republikanischen Parteien ausübte.31 Fraglich aber ist, ob Amerika deswegen insgesamt nach rechts rückte. Viel mehr spricht wohl dafür, dass unter der Oberfläche – wenngleich gewiss unter viel größeren Widerständen als in anderen westlichen Gesellschaften – die 1960 eingesetzten Liberalisierungsprozesse doch wirksam blieben: Die Scheidungsraten stiegen weiter an; vorehelicher Sex blieb äußerst verbreitet und eher die Regel denn die Ausnahme; Homosexualität verschwand keineswegs aus der Öffentlichkeit; Pornografie war 1990 wohl kaum weniger präsent als 1960. Einzig die Kirchenzugehörigkeit der Amerikaner blieb (noch) relativ stabil in diesen Jahren, im markanten Gegensatz zu Entwicklungen in Europa; aber das war auch schon alles, was die Verteidiger des christlichen Amerika als Beruhigung empfunden haben dürften. Kurzum: Amerikas Religiöse Rechte gewannen an der Wahlurne; aber wie es aussah, verloren sie den Culture War. Und wie gesagt: Die konservative Bewegung reagierte auf die so offenkundigen Begrenzungen ihrer Möglichkeiten nicht mit Moderation und Mäßigung, sie fand nicht von der Revolution zum Reformismus. Vielleicht lag das ja auch daran, dass alle Welt die Reagan Revolution für so überaus erfolgreich hielt – allen voran die Demokraten. Dabei waren letztere auch in den 1970er bis 1990er Jahren strukturell nie so stark unterlegen, wie es die Republikaner in der New-Deal-/Great-Society-Ära gewesen waren. Von 1952 bis 1994 hielten die Demokraten immerhin über vierzig Jahre lang die Mehrheit im Repräsentan30 | Vgl. besonders prägnant: Thomas Frank: What’s the Matter with Kansas? How Conservatives Won the Heart of America, New York 2004; David B. Courtwright: No Right Turn. Conservative Politics in a Liberal America, Cambridge, MA 2010. 31  |  Vgl. William Martin: With God on our Side: The Rise of the Religious Right in America, New York 1996, S. 299-303.

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tenhaus, waren so auch während der Nixon- und Reagan-Jahre von der Macht nie völlig abgeschnitten. Eher war es so, dass sie ihren eigenen Ideen und Programmen nicht trauten und den Glauben verloren hatten, genuin dafür eine Mehrheit zu erhalten. Der amerikanische Politologe Samuel Lubell schuf 1952 eine einprägsame Metapher über die Zyklen des amerikanischen Parteiensystems: Im politischen Solarsystem der USA, so Lubell, sei eine Partei stets die Sonne, die andere der Mond: »It is within the majority party that the issues of any particular period are fought out; while the minority party shines in reflected radiance of the heat thus generated.«32 Als Lubell das schrieb, waren natürlich die Demokraten die Sonne, die Republikaner der Mond; in den 1980er und 1990er Jahren hatte sich die Konstellation völlig gedreht: Nun glaubten viele Demokraten, dass ihnen nichts anderes übrig blieb, denn als Reflektor der Mehrheitspartei zu funktionieren. Besonders galt das für einen spezifischen Teil der Partei. Eine der wirkungsmächtigsten Konsequenzen der Reagan Revolution war die Herausbildung eines Flügels innerhalb der Demokratischen Partei, der auf zahlreichen Politikfeldern die Annährung an konservative Positionen suchte. Das Zentrum dieses Flügels war der Democratic Leadership Council (DLC), eine informelle Gruppierung innerhalb der Partei, zu deren Mitgliedern auch Al Gore und Bill Clinton gehörten – für letzteren war der DLC ein wichtiges Sprungbrett, um nationale Bekanntheit zu erlangen. Seine Angehörigen waren der Meinung, dass die Demokraten zu stark als Partei von ethnischen Minderheiten, Wohlfahrtsempfängern und urbanen Intellektuellen wahrgenommen wurde und es an der Zeit sei, sehr viel stärker wieder weiße Wähler der Mittel- und Arbeiterklasse an die Partei zu binden. Viele Beobachter sahen dann auch Clintons Präsidentschaft ab 1992 als Verlängerung der Reagan-Jahre – so wie Eisenhowers Präsidentschaft 1952 keinen Bruch der New-Deal-Ordnung signalisiert hatte. Ganz fair mag das nicht sein: In den ersten zwei Jahren seiner Präsidentschaft versuchte sich Clinton immerhin auch an einigen progressiven Reformvorhaben, etwa an einer Krankenversicherung für alle Amerikaner, die, wenn sie denn verabschiedet worden wäre, ambitionierter ausgefallen wäre als beinahe zwei Jahrzehnte später Obamacare. Doch Clinton registrierte schnell, dass er mit solchen Initiativen wenig Aussicht auf Erfolg hatte. Zwei Jahre darauf schien seine Präsidentschaft fast schon in Scherben zu liegen: Bei den Zwischenwahlen 1994 verloren die Demokraten haushoch, und die Republikaner, unter ihnen eine neue Generation extrem konservativer Abgeordneter, eroberten den Kongress. Nach dem 1994er Fiasko verfestigte sich bei Clinton wie bei anderen Demokraten die Meinung, sich in einem Mitte-Rechts-Land nun einmal den Realitäten stellen zu müssen – und der Präsident begann eine Politik zu machen, die zumindest in Teilen 32  |  Samuel Lubell: The Future of American Politics, New York 1952, S. 200.

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stark auf konservativen Ideen auf baute. Wie Tony Blair in Großbritannien und Gerhard Schröder in Deutschland beschnitt auch Clinton wohlfahrtsstaatliche Leistungen bzw. erhöhte die Sanktionsmöglichkeiten gegen Empfänger von Sozialtransfers. Und auch er deregulierte den Finanzsektor. Schließlich erhob Clinton die Senkung des Haushaltsdefizits zu seinem erklärten Ziel. Die 1990er Jahre stellten auch in den USA, nicht anders als in Europa, ein Jahrzehnt der normativen Erschöpfung der politischen Linken dar, die auf die Herausforderung des Neoliberalismus keine autonome Antwort fand. In dieser Hinsicht hatte die Reagan Revolution die Parameter des politischen Diskurses wohl tatsächlich verschoben. Sogar das Wort »liberal« nahmen viele Demokraten nicht mehr zur Beschreibung des eigenen politischen Standortes in den Mund, weil es als kontaminiert galt. Gleichwohl: Der Mann, der wie kein anderer für die konservative Offensive des Jahres 1994 stand, gab sich auch mit Clintons Bereitschaft, den Positionen der Republikanischen Partei weit entgegenzukommen, nicht zufrieden. Newt Gingrich, der neue House Speaker, war zwar auch ein konservativer Ideologe, der mehr Memos, Aufsätze und auch Gesetzesentwürfe produzierte als jeder andere. Aber seine bleibende Leistung war vor allem die ideologische Homogenisierung und Disziplinierung der Republikaner im Kongress. Seit den ausgehenden 1980er Jahren war Gingrichs Einfluss in der Partei unaufhörlich gewachsen und er konnte nach seinen Präferenzen konservative Kandidaten rekrutieren und auswählen. Vor den Midterms 1994 schrieb er eine Art politisches Kurzprogramm und nannte das Ganze »Contract for America«. Fast alle Kandidaten der GOP unterzeichneten in einer feierlichen Zeremonie vor dem Kapitol den »Vertrag«, der vor allem niedrigere Steuern und einen Abbau der staatlichen Bürokratie vorsah. Das war ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg der »Nationalisierung« und Vereinheitlichung der amerikanischen Politik. Ob ein Republikaner im liberalen Massachusetts oder im konservativen Texas antrat: Zumindest theoretisch musste er nun überall das gleiche, konservative Programm verkaufen.33 Überhaupt begannen Amerikas Konservative in diesem Jahrzehnt, in dem der Kommunismus sich historisch erledigt und der amerikanische Liberalismus sich ideologisch weit auf sie zubewegt hatte, den »Feind« zunehmend in den eigenen Reihen zu wittern; vielleicht, weil ihnen die externen Feinde ausgingen. Zur Zielscheibe gerieten jetzt vor allem die verbliebenen moderaten oder liberalen Politiker in der Republikanischen Partei. Despektierlich wurden sie als RINOs bezeichnet: Republicans In Name Only. Damit 33 | Vgl. zur Rolle Gingrichs im Kongress Thomas E. Mann/Norman J. Ornstein: It’s Even Worse Than It Looks: How the American Constitutional System Collided with the New Politics of Extremism, New York 2012, S. 36-45.

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begann eine politische Säuberung, die aus der Republikanischen Partei endgültig eine streng-konservative Partei machte, deren Basis mit Argusaugen darüber wachte, dass man von ihren Positionen nicht abwich. Die zweite Entwicklung, für die Gingrich stand, war vermutlich noch weitaus folgenreicher: Dieser Mann, der bis auf eine kurze Zeit als Geschichtsprofessor an einem kleinen College in Georgia sein Leben mit der Politik verbracht hatte, versuchte eifrig, aus dem seit Watergate existierenden Anti-WashingtonAffekt politisches Kapital zu schlagen. An dieser Stelle spielte (und spielt) vermutlich auch die sprachliche Doppeldeutigkeit des englischen Begriffs Government eine Rolle, der ja gleichermaßen »Regierung« wie »Staat« bedeutet. Gingrich war überzeugt, dass das Verächtlichmachen von Washington und allem, wofür es stand, den Demokraten als Partei von Big Government mehr schaden würde als den Republikanern. Deswegen hatte er auch als Sprecher des Repräsentantenhauses keine Hemmungen, den gesamten Kongress als »korrupt« zu diffamieren. Das war auch der Grund, warum Gingrich seinen Abgeordneten »empfahl«, nicht mehr mit ihren Familien in Washington heimisch zu werden, sondern so oft wie möglich in ihrem Wahlkreis zu sein, um überzeugend die Rolle des Establishmentkritikers spielen zu können.34 Was so banal klingt, hatte ebenfalls schwerwiegende, von Gingrich vermutlich beabsichtigte Konsequenzen: Demokraten und Republikaner trafen sich, anders als in der Vergangenheit, außerhalb des Kapitols praktisch überhaupt nicht mehr. Das war gewiss nicht der primäre Grund für die toxische Polarisierung zwischen den Parteien; aber einfacher machte es die Kooperation über Parteigrenzen hinweg jedenfalls nicht, verstärkte noch die ohnehin schroffe Frontstellung auf dem Capitol Hill. Jedenfalls setzte die Anti-Washington-Rhetorik eine Art Teufelskreis in Gang: Jeder Kandidat versprach, in die Hauptstadt zu gehen und dort aufzuräumen; und jeder galt bald selbst als Teil des verhassten Establishments. Das wiederum musste weiter zur Politikverdrossenheit beitragen – was es wiederum noch notwendiger erscheinen ließ, sich vom Sündenpfuhl Washington abzugrenzen. Fairerweise sollte man erwähnen, dass die Anti-EstablishmentAttitüde für beide Seiten galt; in ihrer Verachtung aber ließen sich die Republikaner nur ungern überbieten. Unschwer lässt sich erkennen, auf welche Art von Politikertypus die permanente, sich ständig steigernde Stimulierung populistischer Ressentiments irgendwann zwangsläufig hinauslaufen musste. Am Ende hatte Gingrich zwar den Bogen überspannt: Seine Blockadepolitik, die 1995 fast zum Staatsbankrott geführt hatte (ein Drama, das sich später noch viele Mal wiederholen sollte), lasteten viele ihm an, nicht seinem Gegenspieler Clinton. Der Mann aus Arkansas wurde ein populärer Präsident, 34 | Juliet Eilperin: Fight Club Politics: How Partisanship Is Poisoning the House of Representatives, Oxford 2007, S. 30.

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und eine Mehrheit der Amerikaner verzieh ihm auch den Sex mit einer Praktikantin im Weißen Haus. Doch Clinton war eben nur erfolgreich gewesen, indem er den Konservativen ideologisch weit entgegengekommen war, er die ideologischen Grundprämissen der Reagan Revolution nicht angetastet hatte. Im Jahr 1996 hatte er dem Zeitgeist rhetorisch schließlich vollständigen Tribut gezollt; man könnte auch von einem Kotau sprechen, als er in seiner »State of the Union Rede« die Bilanz seiner ersten vier Amtsjahre zog: »We have worked to give the American people a smaller, less bureaucratic Government in Washington. And we have to give the American people one that lives within its means. The era of big Government is over.«35 Ronald Reagan hätte, wäre er nicht von seiner Alzheimer-Erkrankung bereits verzehrt gewesen, gewiss wohlwollend genickt. Und die konservative Bewegung – die aus den Grenzen ebendieser Revolution eigentlich andere Schlüsse hätte ziehen können – hatte die Republikanische Partei nun vollständig erobert. Als schließlich zu Beginn des neuen Millenniums wieder ein Republikaner ins Weiße Haus einzog, der aus der Mitte der Bewegung stammte, schien sie weiterhin die tonangebende Kraft der amerikanischen Politik zu sein. Jetzt endlich wollte sie erledigen, was unter Reagan liegen geblieben war. Tatsächlich aber begann bald ihr Abstieg.

35 | Das Transkript der Rede findet sich unter URL: www.presidency.ucsb.edu/ws/ ?pid=53091 [eingesehen am 02.10.2016].

8. American Angst

9/11, die Kreuzzüge des George W. Bush,



der amerikanische Konservativismus als Parallel-



gesellschaft und der Aufstand der Tea Party

Die Geschichte der Republikanischen Partei, die hier bislang erzählt worden ist, handelt von der permanenten Steigerung eines populistischen Politikstils. In dieser populistischen Erzählung war Amerika in zwei Sphären unterteilt: Es gab das heartland, wo die Menschen ehrlich, bodenständig, hartarbeitend, patriotisch und gottesfürchtig waren. Dem gegenüber stand der andere Teil des Landes, der sich aus einer urbanen Elite zusammensetzte, die im Washingtoner Beltway (der Highway, der Washington, D.C. umschließt), in der New Yorker Wall Street, den Hügeln von Hollywood oder den Hipster-Quartieren in San Francisco zu Hause war. Man könnte meinen, dass die Wall Street und das Schwulenviertel Castro in San Francisco kulturell sehr unterschiedliche Orte sein müssten; nicht so in dieser Erzählung, nach der die Menschen, die dort wohnten, in jedem Fall das Gegenteil von dem waren, was die Bewohner des heartland ausmachte. Und nicht nur das: Die urbane »Elite« des Landes schaute auch noch herab auf die Menschen des heartland, sie war arrogant und abgehoben, eben out of touch. Das war und ist auch medial ein populäres Narrativ. Kaum jemand hat diese Stereotypen so einflussreich verbreitet wie der moderat-konservative Publizist David Brooks. Sich selbst dabei raffinierterweise zum typischen Bewohner des »blauen«, urbanen Amerika stilisierend, berichtete Brooks im Jahr 2001 im Atlantic von seiner plötzlichen Erkenntnis – ausgelöst durch einen Roadtrip ins ländliche Pennsylvania –, im Grunde nichts über fly-over-Amerika zu wissen: »We in the costal metro Blue areas read more books and attend more plays than the people in the Red heartland. We’re more sophisticated and cosmopolitan – just ask us about our alumni trips to China or Provence, or our

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interest in Buddhism. But don’t ask us, please, what life in Red America is like. We don’t know.«1 Während die Konfliktstruktur des Landes seit den Zeiten des New Deal bis zu den 1960er Jahren primär sozioökonomisch geprägt gewesen war, wurde jetzt vor allem eine kulturelle Spaltung wahrgenommen. Es half wenig, dass manche Wahlforscher zu einem nüchternen Blick auf die Daten rieten, der zeige, dass die weiße Arbeiterklasse keineswegs mit fliegenden Fahnen überall im Land zu den Republikanern gewechselt war, sondern dass das Wahlverhalten maßgeblich von den Regionen abhing: Dort, wo Amerikas Konservative sowieso stark waren, etwa in den Regionen der Great Plains (wie Thomas Franks Kansas2), entlang der Appalachen und quasi überall im Süden, wählten weiße Amerikaner mit geringem Einkommen und niedrigem Bildungsgrad tatsächlich republikanisch; anderswo im Land allerdings, insbesondere dort, wo es noch gewerkschaftliche Strukturen gab, erreichten die Demokraten diese Wähler sehr wohl noch.3 Doch die Erzählung Middle America vs. eine kosmopolitische, urbane, liberale Elite war einfach zu verführerisch einprägsam – allein schon, weil die Wahltopografie des Landes zu Beginn des neuen Milleniums, bei der Wahl von George W. Bush vs. Al Gore, sehr eindeutig ein »blaues«, also Demokratisches Amerika entlang der Küstenregionen zeigte (seit den 1990er Jahren war auch Kalifornien aufgrund zahlreicher demografischer Verschiebungen eine sichere Bank für die Demokraten geworden), und ein »rotes«, also Republikanisches Amerika praktisch überall sonst. Die Republikaner liebten die Erzählung vom red and blue America; sie spielte erkennbar ihnen in die Karten, nicht den Demokraten. Mittlerweile versuchte fast jeder Republikaner nicht nur – das Erbe Newt Gingrichs zeigte Wirkung –, sich als Washington Outsider zu verkaufen, sondern auch, sich in einer Weise, die George Wallace vor Neid hätte erblassen lassen, als bodenständiger Durchschnittsamerikaner zu präsentieren; kein Wunder, konnte doch schon der Dijon-Senf auf einem Burger als Zeichen versnobter, feminisierter, frankophiler Entrücktheit gelten.4

1 | David Brooks: One Nation, Slightly Divisible, in: The Atlantic, Dezember 2001. URL: www.theatlantic.com/magazine/archive/2001/12/one-nation-slightly-divisible/ 376441/ [eingesehen am 03.10.2016]. 2  |  Vgl. Frank: What’s the Matter with Kansas? 3 | Vgl. Andrew Gelman: Red State, Blue State, Rich State, Poor State, Princeton 2010. 4 | Das war kein Witz: Als sich Barack Obama 2009 diese kulinarische Extravaganz erlaubte, machte der Fox-News-Moderator Sean Hannity daraus eine mittelgroße Geschichte: https://www.youtube.com/watch?v=cAvq12Sa3VE [eingesehen am 03.10.2016].

8. American Angst

Angesichts dieser bereits damals extrem präsenten populistischen Grundstimmung in der Partei kann man es eigentlich nur höchst erstaunlich finden, dass sich in den Republikanischen Vorwahlen 2000 ein Mann durchsetzte, dessen Familie seit einer gefühlten Ewigkeit zum politischen und gesellschaftlichen Establishment gehörte. Denn George W. Bush war ja nicht nur der Sohn des 41. Präsidenten der USA. Er entstammte einer Familie, die geradezu als Verkörperung des sogenannten WASP, des White Anglo-Saxon Protestant, erschien. Sein Stammbaum ging auf mindestens vier Generationen akkumulierten Wohlstands zurück. Der erste Bush, der 1988 ins Weiße Haus einzog, Georg W.s Vater George Walker Herbert Bush, war ein Cousin 15. Grades der britischen Queen. George W.s Urgroßvater hatte W.A. Harriman gegründet, die älteste Investmentbank der Wall Street. Alle männlichen Mitglieder der Familie studierten wie selbstverständlich in Yale und waren dort Mitglieder der elitären, leicht klandestinen Studentenverbindung »Skull and Bones«. Der Urlaubssitz der Familie lag, natürlich, in Kennebunkport, Maine, wo viele der oberen Zehntausend Neuenglands traditionell die Sommerfrische verbrachten.5 Weder George W. noch sein Vater George Herbert Walker waren die ersten Mitglieder der Familie Bush, die es in die Politik zog. Bereits George W.s Großvater, Prescott Bush, hatte in den 1950er und 1960er Jahren im amerikanischen Senat gesessen. Indes: Er war eine gänzlich andere Art von Republikaner, als es sein Sohn und erst recht sein Enkel werden sollten. Prescott gehörte zum moderaten Eisenhower-Rockefeller-Flügel der Partei. Er setzte sich für Geburtenkontrolle ein, unterstützte die Bürgerrechtsbewegung, machte sich für eine Anhebung des Mindestlohns stark und forderte eine höhere Einwanderungsquote. Den damals noch marginalisierten rechten Flügel der Partei fand er zum Gruseln, weil nicht nur intellektuell kümmerlich, sondern auch ästhetisch abstoßend. Als Joseph McCarthy einmal eine Veranstaltung der Partei in Connecticut besuchte, zu der zahlreiche seiner Anhänger strömten, meinte Prescott hinterher: »I never saw such a wild bunch of monkeys in any meeting I ever attended.«6 Prescott wurde noch in einen Kongress hineinsozialisiert, in dem die Grenzen zwischen den Parteien keineswegs starr verliefen, wenig Berührungsängste zwischen Demokraten und Republikanern bestanden und die Abgeordneten beider Parteien sich am Ende der Sitzungswoche, wie es sich für Gentlemen ziemte, auf einen Drink in einem Herrenclub trafen. Es war eine Welt, die bald sterben sollte. Und die Familiengeschichte der Bushs über drei Generationen ist auch eine Parabel auf die Entwicklung der 5  |  Vgl. zur Geschichte der Bush-Familie, wenngleich recht polemisch: Kevin Phillips: American Dynasty: Aristocracy, Fortune, and the Politics of Deceit in the House of Bush, New York 2004. 6  |  Zitiert nach Micklethwait/Wooldridge: The Right Nation, S. 29.

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Republikanischen Partei. Im Grunde ist es sogar eine Geschichte der USA selbst und davon, wie ein Ort die Menschen prägen kann. Sie beginnt damit, dass Prescotts Sohn und George W.s Vater, George H.W., dem nach seinem Abschuss in Yale ein Leben in einer alteingesessenen New Yorker Anwaltskanzlei oder einer aufstrebenden Investmentfirma vorherbestimmt schien, sich am Tag seiner Abschlussfeier im Jahr 1948 in seinen roten Studebaker setzte und 2.000 Meilen durchs Land fuhr: nach Odessa, West Texas, um dort einen Job in der Ölindustrie anzunehmen. Nicht nur verdiente er schnell ein Vermögen. Er lernte außerdem eine lokale Kultur kennen, die ihm fremd war: Sein Yale-Abschluss beeindruckte dort wenige Menschen und niemand interessierte sich für die Familienreisen der Bushs nach Europa. Er war nicht der einzige Ivy-Leaguer, den es in dieser Zeit in den Westen zog, um dort sein Glück zu versuchen. Aber sie alle mussten sich anpassen: an andere, direktere Umgangsformen, andere Referenzmaßstäbe sozialer Anerkennung (wie es ein Historiker ausdrückte: »The majority of Texans tended to admire or envy a family that owned 100.000 acres more than one that produced two great surgeons, a fine musician, or a new theory of relativity.« 7) und andere soziale Umgangsformen, wo die Beziehungen nicht im Faculty oder Business Club, sondern beim Kirchenpicknick gepflegt wurden. So gesehen war George H.W. Bush eine Figur des Übergangs: Er passte sich an Texas an; aber leicht fiel ihm das nicht.8 Aufgrund seiner zahlreichen Talente machte er schnell politische Karriere – er zog in den Kongress ein, wurde Chef der CIA und schließlich Vize-Präsident unter Reagan –; aber den Ivy Leaguer konnte er nie ganz hinter sich lassen. Obwohl er ein Texas-Republikaner war und davon profitierte, dass der Beginn seiner politischen Karriere mit dem durch Barry Goldwater ausgelösten Southern Realignment zusammenfiel, hatte er nichts von jener hemdsärmeligen, breitbeinigen Art, die Republikanern aus dem Sunbelt sonst zu eigen war. George H.W. war zwar bereits konservativer als sein Vater Prescott, aber angesichts der politischen Dynamiken dieser Jahre zählte man ihn bei den Vorwahlen der Republikaner 1980 zum moderaten Parteiflügel. Die Wirtschaftspolitik seines Konkurrenten Ronald Reagan mit ihrem Glauben an die budgetsanierende Wirkung von Steuersenkungen kanzelte er als »Voodoo-Economics«9 ab. Reagan ernannte Bush nach seiner Nominierung zwar zu seinem Vizepräsidentschaftskandidaten, um den arg gerupften moderaten Parteiflügel zu integrieren. Die konservative Partei7  |  Vgl. T.R. Fehrenbach: Lone Star. A History of Texas and the Texans, New York 2000, S. 672. 8 | Vgl. Jon Meacham: Destiny and Power: The American Odyssey of George Herbert Walker Bush, New York 2015. 9 | Alfred S. Regnery: Upstream: The Ascendance of American Conservatism, New York 2008, S. 314.

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basis aber fremdelte bis zum Schluss mit Bush; dass er 1988 dann doch ins Weiße Haus einzog, hatte er vor allem der Unterstützung Reagans zu verdanken. George Herbert Walker Bushs ältester Sohn war aus einem ganz anderen Holz geschnitzt. Als die Familie nach Odessa kam – von wo aus sie später ins nur wenige Kilometer entfernte Midland umzog –, war George W. gerade zwei Jahre alt; er wuchs als Sohn des Lone-Star-Staats auf. Nun darf man getrost davon ausgehen, dass Bush und jene, die seit den 1990er Jahren an seinem Image feilten, seine texanischen Wurzeln absichtsvoll besonders stark machten; denn kein anderer Staat verkörperte mittlerweile so sehr die Identität der Republikanischen Partei: rau und maskulin, tapfer und wehrhaft, wirtschaftlich prosperierend, gottesfürchtig, außerdem halb Süden und halb Westen und damit beide Hochburgen der Partei repräsentierend.10 Aber wie zahlreiche Biografen und Historiker nicht müde werden zu betonen, waren die erzählten Geschichten wohl tatsächlich wahr: George W. Bush liebte Texas und identifizierte sich mit der Kultur und den Menschen dort. In seiner eigenen Lebenserzählung verbrachte er dort eine glückliche Kindheit und Jugend – aus der er jäh herausgerissen und dorthin geschickt wurde, wo alle männlichen Mitglieder der Familie Bush zu Männern gemacht werden sollten: erst nach Andover, an eine private Highschool in Massachusetts, die Bush als kalt und distanziert empfand,11 dann nach Yale – an einen Ort, den er ebenfalls nie besonders zu lieben lernte. Es waren die 1960er Jahre, der Campus durch den Vietnamkrieg radikalisiert – aber George W. war schon damals ein Anti-68er. Nicht, dass er keine Ausschweifungen gekannt hätte; aber während die Männer seiner Generation lieber Marihuana rauchten, war Bush ein harter Trinker. In Yale gab es mehrere kleine, nicht wirklich spektakuläre Vorfälle, die ihn mit der Polizei Bekanntschaft machen ließen. Im Rahmen der amerikanischen Collegekultur stellte solcherlei noch keinen Riesenskandal dar. Aber es war doch unverkennbar, dass George W. aus der Art schlug: Seine Noten waren schlechter und sein Benehmen auch. Während alle Bushs bis dahin große Athleten gewesen waren, betätigte sich George W. in Andover als Cheerleader, was eine etwas drollige Vorstellung ist. Vor allem aber trank er eindeutig zu viel, was sich bald zu einem veritablen Problem auswachsen sollte und ihn zumindest an die Grenze zum Alkoholismus führte. Gemessen an den hohen Maßstäben seiner Familie war George W. Bush wohl das schwarze Schaf. Ein junger Mann, der Orientierung suchte, war er in jedem Fall. Bush jr. war froh, als er wieder nach Texas zurückkehren konnte.

10  |  Vgl. Sean P. Cunningham: Cowboy Conservatism: Texas and the Rise of the Modern Right, Lexington 2010. 11  |  Vgl. Micklethwait/Wooldridge: The Right Nation, S. 34.

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Es mag merkwürdig klingen: Aber ohne diese Schwächen und Verfehlungen hätte es George W. Bush als 43. Präsidenten der USA wohl niemals gegeben. Denn erst dadurch bot sich ihm die Möglichkeit, sich neu zu erfinden – und ein ganz anderer zu werden und zu sein, als es sein Familienerbe nahegelegt hätte. Denn natürlich, man ahnt es bereits, setzte sich mit Bush die Reihe prominenter Konvertiten im amerikanischen Konservativismus fort, wenngleich das Motiv dieses eine Mal rein religiöser Natur blieb. Der exakte Ablauf seiner Hinwendung zum Glauben war schon damals sehr umstritten und ein kleines Politikum. Bush selbst – und nur darauf kommt es im Grunde an, da es um die Inszenierung seiner Wandlung geht – behauptete, dass Anfang der 1980er Jahre mehrere Gespräche mit dem berühmten Fernsehprediger Billy Graham, einem engen Freund der Familie Bush, in Kennebunkport ein »Senfkorn« des Glaubens in seinem Herzen gepflanzt hätten, welches über die Jahre gewachsen sei. Bush veränderte sich, wurde ernsthafter und, wie er selbst sagte, ein besserer Vater und Ehemann. 1986, einen Tag nach seinem 40. Geburtstag, gab Bush das Trinken auf und rührte seitdem nie wieder einen Tropfen Alkohol an. Das jedenfalls ist die Geschichte, die Bush in seiner zum Präsidentschaftswahlkampf 2000 erschienenen Autobiografie »A Charge to Keep«12 erzählte. Bush machte die »Vom Saulus zum Paulus«-Geschichte des Alkoholsüchtigen, der »Jesus in seinem Herzen fand«, gar zum zentralen Baustein seiner Wahlkampagne.13 Das war schlichtweg deswegen genial, weil Bush dadurch nicht einmal die umstrittenen social issues wie Abtreibung oder gleichgeschlechtliche Ehe in den Vordergrund rücken musste, was ihm in der politischen Mitte hätte schaden können – Amerikas evangelikale Wähler, die ihn unterstützten wie keinen Republikaner vor ihm, begriffen ihn auch so als einen der ihren und verstanden unmittelbar die Botschaft der autobiografischen Geschichte seiner Läuterung.14 Schon Ende der 1970er hatte es George W. Bush wie seinen Vater und Großvater das erste Mal in die Politik gedrängt, natürlich in Texas, und ebenfalls, nachdem er dort zuvor für die Ölindustrie gearbeitet hatte. Der erste Versuch scheiterte: 1978 unterlag er bei seiner Bewerbung um einen Platz im amerikanischen Kongress. Sein Gegner hatte ihn erfolgreich als Söhnchen einer privilegierten Familie dargestellt, der schließlich nicht einmal ein echter Texaner war. Bush sollte das eine Lehre sein: Er würde sich nie wieder und von niemandem mehr, wie es so schön heißt, out-Texan lassen. Fortan war er bestrebt – was ja nicht simuliert war –, die neuenglischen Familienwurzeln he12  |  George W. Bush: A Charge to Keep, New York 1999. 13 | Vgl. David C. Bailey: Enacting Transformation: George W. Bush and The Pauline Conversion Narrative in »A Charge to Keep«, in: Rhetoric & Public Affairs, 11 (2008), S. 215-241, hier S. 216. 14 | Vgl. ebd.

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runterzuspielen, sich bisweilen sogar von ihnen zu distanzieren. Als er 1994 für das Amt des Gouverneurs antrat, war er nicht nur durch seine Konversion ein anderer Mann geworden. Bush, der in seinen Cowboystiefeln Wahlkampf machte, war in der Zwischenzeit auch General Manager des Baseballteams der Texas Rangers gewesen und hatte so seine Glaubwürdigkeit als authentischer Vertreter des Lone Star State aufpoliert. Dieses Mal sollte er gewinnen, und zwar deutlich. Das Gouverneursamt war das entscheidende Sprungbrett für seine Präsidentschaft. So war es eigentlich eine doppelte Wandlung: erst eine religiöse Konversion und dann – nur nach außen notwendig, weil er es innerlich nie anders gefühlt hatte – die Wandlung zum Texaner und das Abstreifen seiner familiären Verbindungen. Die Geschichte dieser Metamorphose erklärt zu einem gewissen Grad, warum Bush, zumindest bis zur Hälfte seiner zweiten Amtszeit, an der konservativen Parteibasis so überaus populär war, während das andere Lager eines schon zu diesem Zeitpunkt tief gespaltenen Landes ihm von Beginn an mit großem Misstrauen begegnete oder ihn schlichtweg für eine peinliche Witzfigur hielt. Liberale und Konservative lasen etwas völlig Unterschiedliches in dieser Lebensgeschichte. Wenn Liberale auf Bush schauten, dann sahen sie den bestenfalls mittelmäßig begabten Sohn einer ungeheuer privilegierten Familie, der all die Chancen im Leben ein paar Mal fast weggeschmissen hätte, sich durch seine Jugend und seine frühe Erwachsenenzeit getrunken hatte – um dann irgendwann dank des Namens und der exzellenten Verbindungen der Familie erst Gouverneur von Texas und schließlich sogar Präsident zu werden. Bushs Anhänger aber sahen einen gänzlich anderen Mann: jemanden, der gelitten hatte an dem Leben, das seine Familie für ihn vorgesehen hatte, der am Ivy-League-Druck fast zerbrochen wäre und deswegen mit dem Trinken angefangen hatte. Durch seine Wandlung, so interpretierten sie es, hatte sich Bush über seinen familiären Hintergrund erhoben, seine Herkunft abgestreift. Er war buchstäblich »wiedergeboren« worden: als gläubiger Christ und als Texaner. Das Verrückte war, das beide Geschichten gleichzeitig wahr waren. Das war zugegeben ein langer Prolog über die Familiengeschichte der Bushs; aber er ist hoffentlich hilfreich, um zu verstehen, welcher Mann da im Jahr 2000 in 1600 Pennsylvania Avenue einzog: jemand, der Jesus Christus ebenso in seinem Herzen trug wie Texas. Das war schon für normale Zeiten – was bedeutet: für jeden Tag seiner Präsidentschaft vor dem 11. September – relevant. Obgleich Bush bei seiner Wahl 2000 in der absoluten Stimmenzahl hinter dem Demokraten Al Gore gelegen und viele gemeint hatten, dies würde einen Kurs der Mitte einfordern, war Bushs Politik vom ersten Tag an darauf ausgerichtet, den verschiedenen Flügeln des amerikanischen Konservativismus zu geben, was sie begehrten. Es war, in den Worten eines Beobachters,

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»a radicalized form of Reaganism«15. Deutlicher als Reagan sich dies getraut hatte, versuchte Bush jr. den Forderungen der religiösen Rechten Geltung zu verschaffen: Er verbot die Stammzellenforschung, unterstützte Referenden gegen die Homo-Ehe und erhob einige prominente Köpfe der Religiösen Rechten in wichtige Regierungsämter. Auch wirtschaftspolitisch handelte er ganz nach Reagans Lehrbuch und beschloss gleich drei Mal gewaltige Steuersenkungen. Er hatte das zuvor angekündigt und dabei den Haushaltsüberschuss, der unter Clinton erwirtschaftet worden war, in einer interessanten Volte gar gegen die Demokraten gewendet: »The surplus is not the govenment’s money. It’s the people’s money«,16 was theoretisch stimmen mochte, aber einige Chuzpe verriet angesichts der Bilanz der konservativen Vorgängerregierungen auf diesem Gebiet. Ansonsten freilich waren Bushs Haltung und Politik gegenüber Big Government von gewissen Ambivalenzen geprägt; aber verschieben wir das noch einen Augenblick, denn als seine Präsidentschaft schlussendlich implodierte, sollten diese Widersprüche noch eine große Rolle spielen. Die Außenpolitik hingegen schien für Bush zunächst keine besondere Bedeutung zu haben. In seiner Rede zur Amtseinführung verlor er nur wenige Worte über Amerikas Rolle in der Welt. Aber auch hier war, längst vor dem 11. September, schnell offensichtlich, dass Bush sich stark in Richtung einer unilateralen Außenpolitik bewegte und kaum daran dachte, die einzige verbliebene Weltmacht in ein Korsett internationaler Verträge zu zwängen. Folgerichtig unterzeichneten die USA auch das Kyoto-Protokoll nicht. Eines aber schien ebenfalls eindeutig zu sein: Bush dachte eher an eine Verringerung des internationalen Engagements; im Wahlkampf hatte er allen interventionistischen Plänen eine Absage erteilt. Dann kam 9/11 – und alles änderte sich. Bevor man sich freilich der Außenpolitik zuwendet, sollte etwas anderes nicht unerwähnt bleiben: In einer Weise, die im Jahr 2016 wohl undenkbar erschiene für einen führenden Republikaner, streckte Bush der Muslim Community in den USA nach den Anschlägen die Hand aus und wiederholte ausdauernd immer wieder, dass die in den USA lebenden Muslime Amerika gewiss genauso liebten wie er und dass der Islam eine Religion des Friedens sei. Vergleicht man Bushs konzilianten Ton mit den Äußerungen der maßgeblichen Kandidaten der Republikanischen Vorwahl in den Jahren 2015/16, dann wird deutlich, wie rasant die Partei sich bei diesem Thema seitdem radikalisiert hat. Gleichwohl: Nach außen folgte auch Bush einem manichäischen Weltbild, das mit sehr wenigen Grauschattierungen auskam. Es war ganz einfach: Amerika war angegriffen worden, vom Bösen schlechthin; also würde man das Böse bekämpfen, bis es, so Bush wörtlich, ausgerottet sei (»rid the world 15  |  Vgl. Wilentz: The Age of Reagan, S. 434. 16  |  Vgl. Farber: The Rise and Fall of Modern American Conservatism, S. 235.

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of evil«). Für den Krieg in Afghanistan hatte Bush noch große internationale Unterstützung erhalten, aber seit dem Krieg im Irak manövrierte er sein Land in eine außenpolitische Sackgasse – und vor allem in den Höllenabgrund eines Konfliktes, der nicht zu lösen war. Man müsste sehr abschweifen, um sämtliche Beweggründe des Irakkriegs und somit seine Folgen bis in die Gegenwart zu analysieren.17 Für uns sind vor allem zwei Fragen interessant: Inwiefern hatte die Außenpolitik der USA in dieser Zeit etwas mit der ideologischen Ausrichtung des amerikanischen Konservativismus zu tun? Und dann: Was machten der Krieg – und seine Folgen – mit der konservativen Bewegung? Im Zentrum aller Spekulationen – und davon gibt es auch 13 Jahre nach Beginn des Irakkrieges noch eine ganze Menge – stand und steht eine kleine Clique von Intellektuellen und Regierungsmitarbeitern, die als »zweite Generation« von Neokonservativen bezeichnet werden. Der Begriff Generation ist in diesem Fall teilweise sogar buchstäblich zu nehmen, da einige, die zu diesem Zirkel gezählt werden, wie etwa Irving Kristols Sprössling Bill Kristol (der Gründer der konservativen Wochenzeitschrift The Weekly Standard) tatsächlich die Söhne und Töchter der Neokonservativen der 1960er und 1970er Jahre sind.18 Die Neokonservativen hätten, so eine gängige Interpretation, nach dem 11. September Einfluss auf die Regierung genommen, Zugang zum Präsidenten erhalten und ihn dann von ihren Plänen überzeugt: 9/11 zum Anlass zu nehmen, um eine Politik durchzusetzen, die eine hegemoniale Rolle der USA und durch militärische Einsätze die Demokratie in der Welt zu verbreiten suchte.19 Ideologisch sind die Neokonservativen insofern ein merkwürdiger Zwitter: Von der »realistischen« Schule der internationalen Beziehungen adaptierten sie die grundsätzlich skeptischen Grundannahmen – die Welt sei ein gefährlicher Ort und daher regiere oft genug das Gesetz des Stärkeren. Die Neokonservativen waren Unilateralisten und hielten internationale Organisationen wie die UN für schwach und ineffektiv. Doch gleichzeitig teilten sie auch einige Annahmen der »liberalen« oder institutionalistischen Schule, vor allem: Staaten definierten sich nicht nur über ihr durch die Geografie oder andere statische Faktoren bestimmtes nationales Interesse. Es sei keineswegs gleichgültig, welche Regierungsform ein Staat habe – Demokratien etwa führten keine Kriege gegen andere Demokratien. Wenn man also überall auf der Welt Demokratien schuf, dann … Es hatte, keine Frage, einen Hang zum Utopischen.20 17  |  Vgl. Bob Woodward: Bush at War, New York 2002. 18 | Vgl. Justin Vaisse: Neoconservatism. The Biography of a Movement, Cambridge 2010. 19  |  Vgl. Micklethwait/Wooldridge: The Right Nation, S. 198ff. 20  |  Vgl. Torben Lütjen: United States of Utopia. Über utopische Elemente im amerikanischen Konservativismus, in: INDES, H. 2/2012, S. 27-33.

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Im Wahlkampf 2000 hatten die Neokonservativen sich eher für Bushs Konkurrenten John McCain eingesetzt. Bush hatte wenig Sympathie für Nation Building erkennen lassen und generell eine viel zurückhaltendere Rolle der USA in der Welt propagiert. Das außenpolitische Personal, das er nach seinem Wahlsieg berief, gehörte ebenfalls nicht der Gruppe der Neokonservativen an, auch wenn es bei einigen ideologische Berührungspunkte gegeben haben mochte. Donald Rumsfeld im Verteidigungsministerium stand eher für eine nationalistische, streng auf das amerikanische Interesse ausgerichtete Außenpolitik; und so ähnlich ließe sich auch Vize-Präsident Dick Cheney (der die Außenpolitik für seine Domäne hielt) kategorisieren; die nationale Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice war Vertreterin der neorealistischen Schule und der Ex-General und neue Außenminister Colin Powell wiederum ein außenpolitischer Pragmatiker, der nur schwer auf eine Denkschule festzulegen war, aber in jedem Fall eine hohe Hemmschwelle gegenüber militärischen Einsätzen hatte. Der »ranghöchste« bekennende Neokonservative im gesamten Washingtoner Regierungsapparat war Paul Wolfowitz – undersecretary im Verteidigungsministerium. Natürlich schloss die weitgehende Marginalisierung der Neokonservativen im Personaltableau nicht aus, dass sie dennoch gehörigen Einfluss ausübten: direkt auf ihre Vorgesetzten, über die Beeinflussung der öffentlichen Meinung oder durch die zahlreichen Strategiepapiere, die in dieser Zeit in konservativen Think Tanks produziert wurden. Dennoch spricht vieles dafür, dass es keines Hijacking der Bush-Regierung bedurfte. Aus unterschiedlichen Gründen war man dort sehr früh zu dem Entschluss gekommen, insbesondere die politischen Verhältnisse im Nahen Osten neu zu ordnen. Aus durchaus unterschiedlichen Motiven hatten nicht wenige in der Administration ein Interesse am Sturz Saddam Husseins: weil sie tatsächlich glaubten, dass es im Irak Massenvernichtungswaffen gäbe und es daher um die nationale Sicherheit ginge; um einfach zu erledigen, was man 1991, beim ersten Golfkrieg, nicht zu Ende gebracht hatte (das spielte vor allem bei den Veteranen der Bush-sr.-Regierung, Cheney und Rumsfeld, eine Rolle); oder weil man, wie die Neokonservativen, eben tatsächlich den Irak zum erfolgreichen Modell einer funktionierenden liberalen Demokratie im Nahen Osten machen wollte. Bush waren alle Gründe recht. Denn in Wahrheit musste ihn niemand zum Jagen tragen, was allein schon die Tatsache bezeugt, dass ehemalige Mitglieder der Regierung davon berichten, dass der neue Präsident gleich in den ersten Tagen seiner Amtszeit den Sturz Saddam Husseins auf die Tagesordnung gesetzt habe.21 Nach dem 11. September steuerte Bush dann auch relativ zügig auf die Eskalation zu. Seine von wenig Zweifeln getrübte Entschlossenheit speiste 21  |  Vgl. Ron Suskind: The Price of Loyalty: George W. Bush, the White House, and the Education of Paul O’Neill, New York 2014, S. 70-75.

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sich aus verschiedenen Quellen. Das Bild vom schießwütigen Cowboy, der erst zieht und dann denkt, ist zwar ein furchtbares antiamerikanisches Klischee. Aber in Bushs Fall lässt sich sehr wohl sagen, dass das Motto seines Heimatsstaates »Don’t mess with Texas« auch seine eigene außenpolitische Maxime treffend beschrieb. Bush lebte in einer Welt, in der Feinde eben Feinde waren und Gewalt nicht unbeantwortet bleiben durfte. Oder, wie er es in einer simplen Dichotomie ausdrückte: »Either you are with us, or you are with the terrorists.« Doch war es vielleicht nicht nur sein innerer »Texaner«, der Bush einflüsterte, der Krieg im Irak – der die gesamte Region destabilisierte und schlussendlich den Islamischen Staat hervorbrachte – sei eine gute Idee. Womöglich spielte auch Bushs spezifische Religiosität eine Rolle. Jedenfalls war es so für viele der evangelikalen »Glaubensbrüder« des Methodisten Bush, die den Krieg unterstützten. Für sie fand der anvisierte Konflikt schließlich ja nicht irgendwo statt: sondern in jener Region, in der sich ja ohnehin das Schicksal der Welt entscheiden sollte und die letzte große Schlacht geschlagen werden würde. Amerikas Evangelikale waren starke Unterstützer Israels, was auch theologische Gründe hatte: Sie glaubten, dass die Wiederkehr Christi auf Erden in Israel stattfände, und zwar erst dann, wenn die Juden zum Christentum konvertiert wären. So war nicht verwunderlich, dass sie einen Krieg gegen ein Land unterstützten, von dem sich der Staat Israel zu Recht extrem bedroht fühlte. Und Bush, der – noch einmal – gegenüber den Muslimen im Land einen so versöhnlichen Ton anschlug, nutzte unglücklicherweise selbst eine stark religiös eingefärbte Rhetorik; etwa, wenn er den Krieg im Zweistromland als »Kreuzzug« bezeichnete (wovon er sich später distanzierte). Ähnlich verhielt es sich mit der Wortschöpfung der Axis of Evil, der »Achse des Bösen«, ein Label, dass einigen sogenannten »Schurkenstaaten« verliehen wurde. Das alles erinnerte in der moralischen Aufladung an Ronald Reagans Evil Empire. Es war die gleiche binäre Konfliktlogik. Und bald bestand – entgegen aller Evidenzen – zwischen den Motiven des Irakkrieges und dem Kampf gegen den Terror kein Unterschied mehr. Aber das Problem war, dass der Feind dieses Mal ein ganz anderer war. Al-Qaida etwa war kein Empire. Es war nicht einmal ein Land, sondern ein Terrornetzwerk, das nach dem Franchise-Prinzip funktionierte (so wie später auch der Islamische Staat, sofern er außerhalb Syriens und des Iraks den Terrorismus sponserte): Jeder war willkommen, wenn er sich zur Ideologie und Symbolik des Konzessionsverleihers bekannte und bereit war, in dessen Namen Gewalt, Furcht und Chaos zu verbreiten. Bush selbst hatte neun Tage nach dem 11. September bei einer Rede im Kongress den Vergleich zum japanischen Angriff auf Pearl Harbor gezogen. Damals waren Japan, und auch Nazi-Deutschland, in einem langen Krieg niedergerungen worden. Dieses Mal hatte man in wenigen Wochen Afghanistan von den Taliban befreit und zahlreiche Al-Qaida-Kämpfer getötet oder als Kriegsgefangene

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nach Guantanamo gebracht, und nicht wesentlich länger hatte man für den Sturz Saddam Husseins gebraucht. Danach war Bush mit einem Kampfjet auf einem Flugzeugträger gelandet, hatte dort eine Rede gehalten und festgestellt: »mission accomplished«. Doch natürlich war rein gar nichts erledigt: Der Irak begann kurz danach, in einen extrem blutigen Bürgerkrieg abzugleiten. Für das Zeitalter des Terrors mit seinen ungleichen Kräfteverhältnissen, asymmetrischen militärischen Auseinandersetzungen und permanenten potentiellen Bedrohungslagen war diese Rhetorik völlig ungeeignet. Sie schuf Erwartungen auf einen finalen Sieg, den es für diese Art von Konflikt einfach niemals geben konnte und geben kann. Auf den amerikanischen Konservativismus wirkte das außerordentlich desintegrierend. Kurzfristig schuf der »Krieg gegen den Terror« zwar Einigkeit. Bushs Chefstratege Karl Rove nutzte diese Einmütigkeit als Basis für den Wahlsieg 2004, indem er die Demokraten als »soft on terror« darstellte (obgleich sie in Wahrheit in ihrer Mehrheit törichterweise den Krieg im Irak unterstützt hatten). Der »Krieg gegen den Terror« stärkte insofern vorübergehend den Zusammenhalt von Gruppen, die in der Regel eher Verachtung füreinander übrighatten, wie eben im Fall der Neokonservativen und der Christlichen Rechten. Kurzfristig ersetzte er dadurch den Antikommunismus als Kitt, der die verschiedenen Fraktionen der konservativen Koalition zusammenhielt. Aber auf längere Sicht musste diese Diskrepanz zwischen Problembeschreibung und tatsächlicher Situation zur Ermüdung, auch zu einer moralischen Verwilderung der konservativen Parteibasis führen. Denn das Gefühl von Unsicherheit und Angst wich nicht, weder durch die rhetorische Bezeugung von Entschlossenheit noch, indem man die Anführer Al-Qaidas zur Strecke brachte. Laut den Umfragedaten von Gallup fürchteten vor dem 11. September nur 24 Prozent der Amerikaner, dass sie oder jemand aus ihrer Familie Opfer eines terroristischen Anschlags werden könnten. Unmittelbar nach dem 11. September waren es 59 Prozent. Danach blieb der Wert sehr hoch, sank dann 2011 (als Osama bin Laden von amerikanischen Spezialkräften exekutiert wurde). Ab 2012 stieg der Wert wieder – um dann im Dezember 2015, nach 15 Jahren des Anti-Terror-Kampfes, der ja wohlgemerkt nicht nur unter Republikanischer Ägide stattfand, fast wieder die Post-9/11-Werte zu erreichen.22 Es ist nicht originell, aber doch wahr, wenn man feststellt, dass die Angst in den letzten Jahren zu einem zentralen Bestandteil der amerikanischen Psyche geworden ist – der konservativen im Besonderen. Bei der Wahl 2004 kam Bush noch mit einem blauen Auge davon. Als aber das Desaster immer offenkundiger wurde, begann sein endgültiger Abstieg. 22 | Terrorism in the United States, URL: www.gallup.com/poll/4909/terrorism-unit ed-states.aspx [eingesehen am 03.10.2016].

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2006 kassierten die Republikaner bei den Zwischenwahlen eine katastrophale Niederlage. Doch vermutlich hätte es auch so im Gebälk des Konservativismus bald gehörig geknirscht. Denn im Grunde wiederholte sich die Geschichte: Als Ressentiment- und Wahlkampfmaschine war die konservative Bewegung schwer zu schlagen; aber als gesellschaftsverändernde Kraft – und das war eigentlich ihr Anspruch gewesen – scheiterte sie abermals. Amerikas konservative Christen mochten sich von Bush noch am wenigsten enttäuscht fühlen, da er alle ihre Anliegen nicht nur rhetorisch unterstützte, sondern z.B. auch durch die Nominierung konservativer Richter für den Supreme Court alles tat, was in seiner Macht stand. Nur war das nicht eben viel. Was in der Ära Reagan vielleicht noch zu ignorieren gewesen war, trat jetzt immer deutlicher zutage: Amerikas Konservative verloren den Kulturkrieg. Abgesehen vom Thema Abtreibung – bei dem viele Amerikaner ambivalent blieben – bewegte sich die öffentliche Meinung weg von den Haltungen der Religiösen Rechten. Deren Anführer registrierten dies nun selbst – bisweilen mit einem Anflug von Resignation. Aus den heißspornigen Kombattanten des Culture War waren mittlerweile ziemlich müde Krieger geworden. Paul Weyrich, einer der einflussreichsten Bewegungsunternehmer der 1970er und 1980er Jahre und Mitbegründer der Moral Majority, jedenfalls war nach vielen Schlachten – von denen die meisten verloren gegangen waren – bereits 1999 jenseits aller Illusionen. Weyrich sah durchaus die politischen Erfolge einer Bewegung, die zunächst die Republikanische Partei und schlussendlich sogar Amerika erobert hatte. Nur: Was hatte das schon bewirkt? »Politics itself«, schrieb Weyrich in einem Brief an die eigene Basis, »has failed. And politics has failed because of the collapse of the culture.«23 Alles, was Weyrich einfiel, war der Aufruf zum Rückzug: Amerikas Christen müssten wenigstens für sich ein aufrechtes, gottgefälliges Leben führen und sich von der Verdorbenheit der Mehrheitsgesellschaft fernhalten; auf mehr als eine solche »Quarantäne« war nicht zu hoffen. Im Grunde schloss sich da ein Kreis; denn diese Art von Weltabgewandtheit war genau das, was den evangelikalen Protestantismus bis in die 1960er Jahre hinein, vor seinem politischen Erwachen, ausgezeichnet hatte. Aber auch dort, wo die meisten Republikaner die eigentliche Entscheidungsschlacht suchten – auf dem Feld der Wirtschafts- und Sozialpolitik, sprich: im Kampf gegen Big Government –, wiederholte sich die Geschichte der enttäuschten Hoffnungen. Sie wiederholte sich sogar fast bis ins Detail: Auch Bush senkte wie einst Reagan die Steuern – und tat gleichzeitig nichts, um die Ausgaben des Staates zu verringern. Im Gegenteil: Manche Programme wie die Kostenübernahme von Medikamenten für Rentner oder in der Bildungspolitik der »No Child Left Behind Act« – für beide Programme gab es 23  |  Der Brief Weyrichs ist in Teilen abgedruckt in: Donald W. Whisenhunt: Reading the Twentieth Century: Documents in American History, Lanham 2009, S. 247-249.

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im Kongress auch Zustimmung von vielen Demokraten – verursachten noch zusätzliche Kosten. Und dann waren da natürlich die Ausgaben für den »Krieg gegen den Terror«. Seit Lyndon B. Johnson waren die Staatsausgaben nicht mehr so stark gestiegen wie unter Bush.24 Das Resultat war nicht weniger vorhersehbar als unter Reagan: Abermals stiegen das Haushaltsdefizit und die Staatsverschuldung enorm an. Die libertären Überzeugungstäter waren über Bush sehr frustriert: Für sie galt er schon früh in seiner ersten Amtszeit als Big-Government-Republikaner. Dass seine Regierung nach dem 11. September in zuvor wohl undenkbarer Weise begann, das Leben ihrer Bürger zu überwachen, besänftigte die Anhänger von Small Government auch nicht unbedingt. Die weltanschauliche Kernschmelze des amerikanischen Konservativismus aber folgte noch. In der Wirtschafts- und Finanzkrise wurde jede Gewissheit Republikanischer Politik der letzten vierzig Jahre auf die Probe gestellt. Die Krise war ausgelöst worden durch einen rapiden Verfall des US-Immobilienmarktes und hatte bereits seit dem Sommer 2007 geschwelt. Nun hätten die Krise an sich und ihre Ursachen vielleicht schon Anlass genug sein können, um einige der ideologischen Prämissen der konservativen Bewegung zu hinterfragen. Zwar hatte die Finanzkrise mehrere, komplexe Ursprünge. Aber dass sie vor allem mit den Gefahren eines unzureichend regulierten Finanzmarktes zu tun hatte, der – vereinfacht ausgedrückt – erlaubte, Schulden in Finanzprodukte zu verwandeln, und der außerdem dazu geführt hatte, dass die einstige, sehr sinnvolle Trennung von Investmentbanken und Geschäftsbanken aufgehoben worden war, lag auf der Hand. Die Deregulierung des Finanzsektors hatte schon unter dem Demokraten Jimmy Carter begonnen und war später auch vom Demokraten Bill Clinton fortgesetzt worden – aber 2007/08 waren es die Republikaner, die hier wie in anderen Bereichen noch immer das Hohelied auf die Deregulierung sangen. Im September 2008, nach dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers, stand das global hochvernetzte Finanzsystem vor dem totalen Kollaps. Und die Bush-Regierung tat, was Regierungen auch anderswo auf der Welt taten und wozu die ganz überwiegende Mehrheit der Ökonomen keine Alternativen sah: Sie rettete mit Sicherungseinlagen, zum Teil auch durch temporäre Vollverstaatlichung, das Bankensystem vor dem Zusammenbruch. Mit anderen Worten: Big Government musste einen aus den aus den Fugen geratenen Kapitalismus vor dem Untergang bewahren. Das war der Sieg der Sachzwanglogik über eine Regierung, die eigentlich mit eindeutigen weltanschaulichen Grundsätzen angetreten war. Noch schlimmer für viele Republikaner: Dieselbe Regierung arbeitete in der Übergangsphase, als der neue 24  |  Vgl. Stefan Bierling: Die Wirtschaft der USA unter George W. Bush, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B45/2004.

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Präsident Barack Obama bereits gewählt, aber noch nicht vereidigt war, gar (notgedrungen) mit den verhassten Demokraten zusammen. Dies war natürlich eine nachgerade perfekte Konstellation für eine populistische Erhebung: Ein Kartell politischer Eliten, die sich zuvor noch untereinander extrem voneinander abgegrenzt hatten, beschloss plötzlich in Rekordgeschwindigkeit und in überraschender Einigkeit ein ganzes Bündel politischer Maßnahmen, deren genaue Konsequenzen schwer zu überblicken waren und die eine Krise überwinden sollten, deren Ursache die wenigsten überhaupt verstanden. Und so entstand unter Amerikas Konservativen die Legende von einem Präsidenten, der scheiterte, weil er kein wirklicher Konservativer gewesen bzw. den eigenen Grundsätzen untreu geworden sei. Auch das ähnelte der Verarbeitung der ausgebliebenen Reagan Revolution: Abermals setzte sich die Interpretation durch, dass man die eigenen Prinzipien nicht hoch genug gehalten habe und daher gescheitert sei. Und diese Legende war wirkungsmächtig – ohne sie hätte sich die Tea Party dann 2009, nach dem Übergang von Bush zu Obama, wohl nicht in jener Form konstituieren können, wie sie es schließlich tat: als spontane Volkserhebung gegen das Establishment beider Parteien. Das war natürlich Unsinn; aber es war ein wirkungsmächtiger Unsinn, weil die Anhänger der Tea Party es bis zu einem gewissen Grad selber glaubten. In einer Umfrage von CBS im Jahr 2012 bezeichneten sich 41 Prozent von ihnen als »independents«, also als parteilich ungebundene Wähler.25 Aus anderen Umfragen freilich wissen wir, dass die Anhänger der Tea Party 2008 fast ausschließlich für John McCain und nicht für Barack Obama gestimmt haben.26 Für nicht wenige Kommentatoren – insbesondere für solche mit klaren liberalen Meinungen – war die Tea Party ohnehin keine »Soziale Bewegung«, sondern eine von reichen Industriellen, konservativen Medien wie Fox News und libertären Lobbygruppen orchestrierte und manipulierte Veranstaltung: keine grassroots, sondern AstroTurf, also Kunstrasen. Das war zwar nicht ganz verkehrt, aber eben auch nicht ganz richtig. Der Zorn, der sich Anfang 2009 entlud, als sich überall im Land lokale Tea-Party-Gruppen bildeten, die Demonstrationen organisierten und in der Sommerpause des Kongresses auf zahlreichen Town Hall Meetings ihrer Abgeordneten für Aufruhr sorgten, dieser Zorn war natürlich authentisch. Es waren keine bezahlten Claqueure, die fortan auf die Straße gingen. Gleichwohl: Eine ganz 25  |  Vgl. Brian Montopoli: Tea Party Supporters: Who They Are and What They Believe, in: CBS News, 12. Dezember 2012. URL: www.cbsnews.com/news/tea-party-suppor ters-who-they-are-and-what-they-believe/ [eingesehen am 02.10.2016]. 26  |  Theda Skocpol/Vanessa Williamson: The Tea Party and the Remaking of Republican Conservatism, New York 2012.

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spontan entstandene, eruptive Bewegung war die Tea Party gewiss ebenfalls nicht. Der typische Aktivist war weiß, nicht mehr weit entfernt vom Ruhestand oder bereits an diesem Punkt angelangt, materiell halbwegs abgesichert, wenngleich in der Regel nicht wirklich wohlhabend – und viele hatten bereits Erfahrung als politische Aktivisten gesammelt, sei es auch nur durch das Engagement für einen Republikanischen Abgeordneten. Ideologisch ordneten sie sich selbst als konservativer ein als der durchschnittliche Republikaner. Um es kurz und knapp zu sagen: Die Tea Party war der rechte Flügel der Republikanischen Partei. Und es stimmte schon, dass die Tea Party von Anfang an mächtige Verbündete hatte. Konservative Lobby- und Interessengruppen, vor allem die libertäre Lobbygruppe Americans for Prosperity, finanziert von den Brüdern Charles und David Koch, bemühten sich vom ersten Tag an, Botschaft und Struktur der Bewegung zu prägen, finanzierten mitunter auch die Aktionen lokaler Gruppen und koordinierten zudem die ersten überregionalen Zusammenschlüsse. Doch während solche Allianzen für soziale Bewegungen nicht ungewöhnlich sind, war ein anderer Alliierter der Tea Party schon speziell: Fox News. Der konservative Nachrichtensender, der wie kein anderes Medium und keine sonstige Organisation lange Zeit die Diskursgrenzen des amerikanischen Konservativismus festgelegt hat, berichtete vom ersten Tag an über den Protest der Tea Party und sorgte für eine rasche Multiplikation. Und Fox News sympathisierte natürlich sehr offen mit der Tea-Party-Bewegung; auch dort, wo es darum ging, die bisherige Politik der Republikaner zu kritisieren. Natürlich war die Tea Party primär gegen die neue Regierung mobilisiert, deren Politik sie wahlweise für »kommunistisch«, »sozialistisch« oder gar »faschistisch« hielt. Und man musste angesichts der sozialen Zusammensetzung ihrer Anhänger nicht weiter überrascht sein, dass die Wahl des ersten schwarzen Präsidenten, die demografischen Verschiebungen im Land, durch welche die USA immer bunter wurden, und der Eindruck eines generellen tiefgreifenden kulturellen Wandels ebenfalls eine große Rolle spielten; es war bereits die gleiche Verlustangst, das gleiche Gefühl, dass die USA zu einem anderen Land würden, als jenes, in dem man aufgewachsen war, die dann auch Donald Trumps Aufstieg ganz maßgeblich befördert hat.27 Ideologisch schlugen die meisten Beobachter die Tea Party der radikallibertären Seite der Bewegung zu, und im Kern war das gewiss richtig. Der Widerstand gegen Obamacare als Programm staatlicher Gesundheitsfürsorge stand schließlich im Vordergrund, ebenso die Kritik an den Staatsschulden. Und gerahmt wurde der Protest von der bekannten Abneigung gegen Big Government. Gleichwohl, aus der Perspektive des Jahres 2016 fallen fraglos einige Widersprüchlichkeiten, die schon 2009 für manche Irritation gesorgt hatten, 27 | Ebd.

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noch stärker ins Auge. Theda Skocpol und Vanesssa Williamson, die als zwei der ersten Politikwissenschaftlerinnen die Bewegung unters Mikroskop legten, registrierten in den Interviews, die sie mit Aktivisten führten, jedenfalls schnell, dass neben wirklich radikal-libertären Aktivisten die meisten Tea Partiers durchaus nicht alle Facetten des Wohlfahrtsstaates ablehnten. Gegen Obamacare kämpften sie, weil sie glaubten, dass die potentiellen Empfänger diese Leistung nicht verdient hätten – während sie ihre eigenen Ansprüche wie die Krankenversicherung für Amerikaner über 65 (Medicare) oder das staatliche Rentensystem (Social Security) selbstverständlich als gerechten Lohn eines mit harter Arbeit verbrachten Lebens betrachteten.28 Kurzum: Der Tea-Party-Protest verdankte sich nicht allein und vielleicht nicht einmal primär jener puristischen radikal-libertären Ideologie, für die sich die Intellektuellen und sonstigen Multiplikatoren der Bewegung begeisterten. Die nicht immer ganz kohärenten Ansichten vieler Aktivisten wurden zugespitzt in jenem häufig zitierten Satz auf dem Plakat eines Tea-PartyDemonstranten, der alles ad absurdum führte: »Get your government hands off my medicare.«29 Es ging eben auch um klassische Verteilungskonflikte in einer Situation, da die wirtschaftlichen Aussichten vieler Mittelklasseamerikaner durch die Finanzkrise, speziell durch die geplatzte Immobilienblase, trübe geworden waren. Viele Beobachter waren zudem schnell mit dem Vorwurf des Rassismus bei der Hand. Anders als wenig später bei Trump gab es bei der Tea Party keine wirklich starken Belege. Allerdings hatte Race bei der Frage, wer Leistungen des Sozialstaats verdient habe, auch schon vor der Tea Party unterschwellig stets eine gewisse Rolle beim konservativen Widerstand gegen die Ausweitung von Sozialleistungen gespielt; gänzlich abwegig also ist die Annahme nicht, dass dies auch hier der Fall war.30 Doch auch wenn die Tea Party ideologisch nicht ganz so konsistent war, wie zunächst viele glaubten, und sich mit ihr vielleicht sogar bereits jene Aufweichung konservativer Ideologie ankündigte, die sich bei Trump dann noch verstärken sollte: In mancher Hinsicht schöpfte sie sehr tief aus dem kollektiven Bewusstsein der konservativen Bewegung. Mit der Krise 2008 und der Wahl Obamas kehrte jener extreme Verschwörungsglaube zurück, der zwischen den 1930er und 1960er Jahren sehr präsent gewesen und dann, ohne je ganz zu verschwinden, von Persönlichkeiten wie William Buckley an die Ränder gedrängt worden war. Doch selbst zu ihren Hochzeiten war die John Birch Society eine 28 | Ebd. 29  |  Timothy Noah: The Medicare-Isn’t-Government Meme, in: Slate, 05. August 2009. URL: www.slate.com/articles/news_and_politics/prescriptions/2009/08/the_medicare isntgovernment_meme.html [eingesehen am 02.10.2016]. 30  |  Vgl. Gilens: Why Americans Hate Welfare.

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Minderheit gewesen. Jetzt aber eroberte das Verschwörungsdenken via Tea Party das Zentrum des amerikanischen Konservativismus. Nicht wenige Tea Partiers waren tatsächlich davon überzeugt, dass Obamas Gesundheitsreform zu sogenannten »death panels« führe würde, bei denen Regierungsbürokraten darüber entscheiden würden, ob die Weiterbehandlung älterer Patienten wirtschaftlich noch sinnvoll wäre.31 Dann war da natürlich der Präsident selbst als Anlaufpunkt der Paranoia, der entweder für einen Muslim gehalten oder dessen amerikanische Staatsbürgerschaft angezweifelt wurde.32 Und das waren nur die bekanntesten Beispiele. Wer einmal einen Abend mit der Tea Party verbracht hat, der stößt auf noch weitaus wahnwitzigere Vorstellungen, die zu zitieren man sich kaum traut. Wie Richard Hofstadter schon in den 1960er Jahren gezeigt hatte, war der »paranoid style«33 in der amerikanischen Psyche seit jeher tief verankert.34 Aber die Tea Party machte einen Fetisch daraus: Der Verschwörungsglaube, die Überzeugung, dass hinter den Kulissen dunkle Kräfte am Werke seien, das war vielleicht sogar ihr wichtigster Treibstoff. Doch woher kamen solcherlei, mit Verlaub und bei aller Bemühung um wissenschaftliche Objektivität, Wahnvorstellungen? Mag sein, dass es die Unsicherheiten im Zeitalter des Terrors waren. Vielleicht waren es auch der rapide gesellschaftliche Wandel und die neuen ökonomischen Unsicherheiten, die solcherlei Theorien blühen ließen. Hinzu aber kam vor allem, dass solche »Fehlinformationen« auch deswegen so ungestört florieren konnten, weil sich die Lebens- und Informationswelten von Demokraten und Republikanern extrem weit auseinanderentwickelt hatten. Lange angebahnt, kulminierte in den Obama-Jahren eine gefährliche Entwicklung: Das Land war in liberale und konservative »Echokammern«35 zerfallen, in denen völlig unterschiedliche Realitäten produziert wurden: schalldichte Räume, in die von außen nichts 31  |  Meirick, Patrick C.: »Motivated misperception? Party, education, partisan news, and belief in ›death panels‹«, in: Journalism & Mass Communication Quarterly, 90.1 (2013), S. 39-57. 32 | Im September 2015 waren unter Republikanern noch immer 43 Prozent der Meinung, Barack Obama sei ein Muslim, vgl. Sarah Pulliam Bailey: A Startling Number of Americans Still Believe President Obama is a Muslim, in: Washington Post, 14. September 2015. URL: https://www.washingtonpost.com/news/acts-of-faith/wp/ 2015/09/14/a-star tling-number-of-americans-still-believe-president-obama-is-amuslim/ [eingesehen am 03.10.2016]. 33 | Vgl. Richard Hofstadter: The Paranoid Style in American Politics and Other Essays, Cambridge 1996. 34  |  Vgl. aus jüngerer Zeit sehr lesenswert und mit einigen Korrekturen zu Hofstadters Klassiker: Jesse Walker: The United States of Paranoia: A Conspiracy Theory, New York 2013. 35  |  Vgl. Lütjen: Die Politik der Echokammer.

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hineindringt, während die Stimmen im Inneren sich um ein Vielfaches verstärken. Im Grunde hatten Amerikas Konservative darauf viele Jahre hingearbeitet: sich autonom zu machen von einem Mehrheitsdiskurs, den sie für liberal dominiert hielten; autark zu werden gegenüber einer Gesellschaft, die ihnen den rechtmäßigen Platz am Tisch verweigerte. Darum hatten sie eifrig Zeitschriften herausgebracht, eigene Buchverlage gegründet, schließlich Think Tanks aufgebaut, welche die Bewegung mit Gegenexpertise versorgten. Dabei wäre das seit den 1980er und 1990er Jahren eigentlich nicht mehr notwendig gewesen. Schließlich vegetierten konservative Ideen jetzt keineswegs mehr am Rande der Debatte, sondern beherrschten sie oft genug. Doch gerade in diesen Jahrzehnten begann sich der amerikanische Konservativismus als Eigenkultur zu organisieren. Insbesondere expandierten in dieser Zeit konservative Medienformate.36 Vor allem das konservative »Talk Radio« – wo in der Tat eine Person, unterbrochen von wenigen Höreranrufen, stundenlang monologisierte – trug stark zu einer aggressiven Meinungsbildung bei. Der Star des »Talk Radio« war ohne jede Frage Rush Limbaugh. In den 1990er Jahren, auf dem Höhepunkt seiner Popularität, erreichte er mit seiner Sendung, die auf 600 verschiedenen lokalen Radiosendern übertragen wurde, zwanzig Millionen Menschen pro Woche.37 Limbaugh und sein Konzept, Hörer, die zugeschaltet wurden und anderer Meinung waren, anzuschreien und sie dann abzuschalten, fand in der Folge unzählige Nachahmer. Doch der entscheidende Meilenstein in dieser Entwicklung war zweifellos die Gründung von Rupert Murdochs Fox News im Jahr 1996. Der Sender hat vor allem zur nationalen Vereinheitlichung der Denkweisen amerikanischer Konservativer beigetragen und ist so zu einem Leitmedium avanciert, das die Ereignisse in und um die konservative Bewegung berichtet, einordnet, kommentiert. Mit konventionellem Journalismus hat das alles allerdings nicht mehr viel zu tun. Ermöglicht durch die Abschaffung der sogenannten Fairness Doctrine in den Reagan-Jahren – die den Fernsehsendern vorschrieb, alternative Sichtweisen zu integrieren –, entstand mit Fox News ein eindeutig parteilich ausgerichtetes Format. Insbesondere seit 2009 – mit dem Einzug Barack Obamas ins Weiße Haus – liefen auf Fox News Sendeformate, die, hätte man sonst keine anderen Eindrücke, nur den Schluss nahelegen konnten, das Land stünde kurz vor dem Untergang. Und natürlich bestand und besteht die Fox News-Zuhörerschaft ganz überwiegend aus Republikanern. Fox News beherbergte auch den ungekrönten König aller Verschwörungstheorien: Glenn Beck. Bis zu drei Millionen Zuschauer schalteten an mehreren Abenden die Woche ein, wenn Beck auf einer Tafel mit der Kreide wilde Verbindungslinien 36 | Kathleen Hall Jamieson/Joseph N. Capella: Echo Chamber: Rush Limbaugh and the Conservative Media Establishment, Oxford 2008. 37  |  Vgl. Micklethwait/Wooldridge: The Right Nation, S. 113.

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zwischen – so dachte man bis dato – unzusammenhängenden Personen und Ereignissen zog, so lange, bis Obama, Stalin, Hitler und UN-Generalsekretär Ban Ki Moon alle irgendwie unter einer Decke steckten. Doch auch jenseits des Mediensystems hat sich die gleiche ideologische Segmentierung vollzogen.38 Die Chancen, dass sich die Anhänger der Parteien überhaupt auch nur begegnen, sind stark gesunken im Vergleich zu vor, sagen wir, vierzig Jahren: Bei der Wahl 1976 zwischen Gerald Ford und Jimmy Carter wohnte gerade einmal ein Viertel der US-Bürger in einem County (vergleichbar einem deutschen Landkreis), in dem einer der beiden Kandidaten mit einem Erdrutschsieg gewann; seit 2004 lebt schon jeder zweite Amerikaner in einem solchen County, Tendenz steigend.39 Die USA sind zu einem Land regionaler Hochburgen geworden, die von politischen Monokulturen geprägt sind. Es ist buchstäblich eine Abstimmung mit den Füßen geworden: Wenn Demokraten oder Republikaner umziehen, dann entscheiden sie sich immer häufiger für Orte, in denen bereits viele andere Demokraten bzw. Republikaner wohnen. Man könnte diese gesellschaftliche Segmentierung nach ideologischen Zugehörigkeiten weiter durchdeklinieren: Vom Heirats-40 bis zum Freizeitverhalten41 haben sich die Lebenswelten von Republikanern und Demokraten mittlerweile weit voneinander entfernt. So wurde der amerikanische Konservativismus endgültig intransigent und undurchdringlich für andere Wahrheiten. Für Amerikas Konservative gibt es keine zentrale Autorität mehr, die sie zumindest über die nachweisbaren Fehlinformationen aufklären könnte. Denn noch etwas ist hinzugekommen: Seit der Dämmerung der Bush-Jahre – und dann beschleunigt nach 2009 – hat im Inneren der Bewegung eine Geisteshaltung endgültig zu dominieren begonnen, die, ebenso wie das Verschwörungsdenken, zwar schon lange zum USKonservativismus gehört hatte, bisher jedoch von anderen, komplementären Tendenzen in Schach gehalten worden war: ein aggressiver Anti-Intellektualismus. Wie wir gesehen haben, war dieser spätestens bereits seit den 1960er Jahren wirkungsmächtig. Schon Wallace und Nixon hatten den praktischen Alltagsverstand des common man gegen die Ansichten abgehobener Theoreti38  |  Vgl. Lütjen: Die Politik der Echokammer. 39  |  Bill Bishop: The Big Sort: Why the Clustering of Like-Minded America is Tearing Us Apart, New York 2009. 40  |  Shanto Iyengar/Sood Gaurav/Yphtach Lelkes: Affect, Not Ideology: A Social Identity Perspective on Polarization, in: Public Opinion Quarterly, Jg. 76 (3) 2012, S. 405431; Shanto Iyengar/Sean J. Westwood: Fear and Loathing Across Party Lines. New Evidence of Group Polarization, in: American Journal of Political Science, 59 (2014), S. 690-707. 41 | Vgl. Michael Macy/Daniel J. DellaPosta/Yongren Shi: Why do Liberals Drink Lattes?, in: American Journal of Sociology, 120 (2015), S. 1473-1511.

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ker ins Feld geführt und gegen »Pseudo-Intellektuelle« und abgehobene Gesellschaftsplaner gehetzt. Auch Reagan hatte mit solchen Stilmitteln gearbeitet, George W. Bush ebenfalls, und beide oft auf eine durchaus selbstironische Art und Weise. Doch der Anti-Intellektualismus früherer Jahre hatte in seinem Kern immerhin noch einen beachtenswerten Gedanken mit sich geführt und die weltanschauliche Grundausrichtung der Bewegung ergänzt: Ging es dabei doch auch um die Mahnung, dass Politik eben nicht am Reißbrett funktioniere, dass Pläne zu komplex sein und oft genug scheitern können, weil Entwicklungen einfach zu unvorhersehbar seien – und man insofern gut daran tue, praktisches, durch Erfahrung gewonnenes Wissen der abstrakten Expertentheorie vorzuziehen.42 Überhaupt, das wusste schon Richard Hofstadter, der den Begriff in den 1960er Jahren popularisiert hatte,43 hatte diese Geisteshaltung historisch ja durchaus ihre demokratische, emanzipatorische Seite gehabt, da sie Mitsprache einforderte und aus guten Gründen nicht jedes Expertenurteil stillschweigend und ehrfürchtig akzeptieren wollte. Der Anti-Intellektualismus, der sich seit 2009 ausbreitete, war freilich von einem anderen Kaliber: reflexhafter, ressentimentbeladener, auch weitaus aggressiver. Und niemand verkörperte ihn so perfekt wie Sarah Palin, die Gouverneurin von Alaska und Vizepräsidentschaftskandidatin 2008. In vielerlei Hinsicht war sie ein Vorbote all dessen, was noch kommen sollte; vielleicht aber war sie auch schon der Dammbruch. 2008 war Palin noch eine Sensation; im Republikanischen Vorwahlkampf 2016 wäre sie vermutlich weiter kaum aufgefallen. Und es ist insofern von einiger Ironie, dass sie wohl, wie es oft heißt, eine »Erfindung« jener konservativen Intellektuellen war, die sich heute am lautstärksten über die intellektuelle Regression des amerikanischen Konservativismus beklagen. Sie schoben sie nach vorn, als offenkundig wurde, dass ein großer Teil der Parteibasis mit dem als zu moderat geltenden McCain fremdelte.44 Und Palin gab der Basis, wonach sie verlangte – vor allem eine beißende, ja geifernde Opposition gegen die Demokraten und Obama. »We need a commander-in-chief, not a professor of law«, sagte sie über Barack Obama, den ehemaligen Dozenten für Verfassungsrecht an der University of Chicago.45 Wann immer sie außerhalb der urbanen Zentren des Landes auftrat – und dort trat sie meistens auf –, sprach sie davon, wie froh sie sei, endlich wieder in Real 42  |  Vgl. dazu aus konservativer Sicht explizit Michael Oakeshotts Ideologie-Kritik in: Michael J. Oakeshott: Rationalism in Politics and Other Essays, Indianapolis 1991. 43  |  Richard Hofstadter: Anti-Intellectualism in American Life, New York 1964. 44  |  Vgl. Jane Meyer: The Insiders, How John McCain Came to Pick Sarah Palin, in: The New Yorker, 27. Oktober 2008. 45 | Torben Lütjen: Die populistische Versuchung. Zur Aktualität der Tradition des Anti-Intellektualismus in den USA, in: Universitas, H. 7/2010.

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America zu sein, in den Kleinstädten und Dörfern der USA, den »pro-America areas of this great nation«46. Palins Anti-Intellektualismus war mehr als nur Strategie, war nicht nur eine kalkulierte Provokation, obwohl er das gewiss auch war. Palin musste sich nicht verstellen; Sarah Barracuda hatte, mit Verlaub, bei vielen Sachthemen oft wirklich keinen blassen Schimmer. Doch sie zelebrierte das förmlich, feierte sich so als authentische Vertreterin des heartland. Und jedes Mal, wenn sie ihre Unwissenheit lustvoll zur Schau stellte und die »Mainstreammedien« sie dafür attackierten, dann lief alles nach dem Drehbuch dieser populistischen Erzählung: Denn dann waren es wieder nur die arroganten »Eliten«, die nicht ertragen konnten, dass endlich jemand aus der Mitte des Volkes, nämlich die Hockey Mom Sarah Palin aus Wasilla, Alaska, bis ganz nach oben strebte.47 Die Ehrerbietung für Palin – deren Schwächen auch manche ihrer Anhänger durchaus sahen – zeigte, wie groß mittlerweile der Hass auf alles war, was jenseits der eigenen Lebenswelt lag und nicht genau das bestätigte, was man doch ganz sicher zu wissen glaubte. Palin, die 2009 dann wie viele andere an der konservativen Basis populäre Politiker einen Vertrag bei Fox News unterschrieb, war in der Frühphase der Tea Party eine Ikone der Bewegung. Aber wirklich zu führen war die Tea Party, diese dezentrale, lokale, nach dem Netzwerkprinzip orientierte Bewegung, nicht. Ihre Helden stiegen oft genauso schnell ab, wie sie aufgestiegen waren. Schon gar nicht zu kontrollieren war sie von der Republikanischen Partei. Bei den Kongresswahlen 2010 traten in den innerparteilichen Vorwahlen zahlreiche Tea-Party-Kandidaten gegen sogenannte Establishment-Republikaner an; und nicht wenige setzten sich tatsächlich durch. Die Wahlen selbst liefen gut für die Republikaner, da die Demokratische Parteibasis im Anschluss an die hochfliegenden Erwartungen nach Obamas Amtsantritt verkatert in der Realität aufgewacht war und viele der Wahl fernblieben. Und so wurden zahlreiche Tea-Party-Republikaner in den Kongress gespült. Es war ein Wahlsieg für die Grand Old Party; aber es jagte auch eine Schockwelle durch die Partei. Bis dahin hatte es noch Republikanische Politiker gegeben, die zumindest leise Kritik an der Tea Party geübt hatten; danach aber waren die meisten so eingeschüchtert, dass jeder Widerstand verschwand. Überhaupt: Tea Party war ein Label, das sich jeder anhängen konnte – was die meisten dann auch taten. Nach 2010 konnte man daher getrost feststellen: Die

46  |  Lyndsey Layton: Palin Apologizes for ›Real America‹ Comments, in: The Washington Post, 22. Oktober 2008. URL: www.washingtonpost.com/wp-dyn/content/artic le/2008/10/21/AR2008102102449.html [eingesehen am 03.10.2016]. 47  |  Vgl. Torben Lütjen: Kreuzzug gegen die Aufklärung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. November 2010.

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Tea Party war die Republikanische Partei; der radical fringe hatte die Partei selbst erobert. Damit begann die Geschichte der Gegenwart der Republikanischen Partei. Fortan ging es nur noch um Fundamentalopposition um jeden Preis. Denn die konservative Parteibasis lehnte die Politik Obamas nicht einfach nur ab. Sie sah die Demokraten nicht einfach nur als politische Gegner an. Sie hasste Obama und alles, wofür er stand. 2016 meinten laut einer Umfrage bereits 45 Prozent der Republikaner, dass die Demokraten »a threat to the nations’s well-being« seien.48 Und die Republikaner im Kongress überzogen das Land mit einer politischen Totalblockade. Es gab jetzt keinen Unterschied mehr zwischen den Scharfmachern von Fox News, den Aktivisten der Tea Party und Republikanischen Politikern: Die meisten von ihnen benutzten inzwischen dieselben Vokabeln, dieselbe Semantik, sie alle sahen das Land ebenfalls stets am Rande des Abgrunds. Ganz gewiss glaubten nicht alle Republikanischen Politiker auch nur die Hälfte davon. Es war eine Appeasement-Politik à la Chamberlain gegenüber der eigenen gefürchteten Basis, und das Resultat war das gleiche: Es gab nichts, was dem Aggressor Satisfaktion hätte verschaffen können. Oder jedenfalls nichts, was in irgendeiner Art realistisch gewesen wäre. Wer in der Folge als Republikaner in den Kongress gewählt werden wollte, der musste eine Liste von Unmöglichkeiten versprechen: Obamacare zurückzunehmen (was nicht in der Macht der Abgeordneten lag), die Staatsverschuldung endlich zu senken und dafür auch ein government shutdown zu riskieren (was am Ende niemand wagte, weil die öffentliche Meinung dagegen war) und andere Dinge, die außerhalb der eigenen Reichweite lagen. Wer sich doch auf Kompromisse einließ, galt bald selbst als Teil des verhassten Establishments: So konnte man wie Marco Rubio, der Senator aus Florida, der 2010 noch als Liebling der Tea Party galt, und der es dann bei der Frage der Einwanderungsreform gewagt hatte, ein Stück auf die Demokraten zuzugehen, bald selbst am Pranger stehen. Selten einmal stimmte so sehr das Sprichwort aus der Französischen Revolution: Die Revolution war dabei, ihre eigenen Kinder zu fressen. Es war ein ziemlicher Teufelskreis, an dessen Ende das Vertrauen der Republikanischen Wähler auch in die eigene Partei vollends zerstört sein musste. Und während die Politik lahmgelegt war, veränderte sich das Land in den Obama-Jahren auch ohne viel Zutun aus Washington weiterhin in eine Richtung, die vielen weißen, mittelalten, konservativen Mitteklasseangehörigen nicht gefiel: Amerika wurde urbaner, vielfältiger, im Ganzen auch liberaler. Nur die Echokammer funktionierte nach wie vor tadellos. 2012, bei der Wahl Romney 48 | Pew Research Center: Partisanship and Political Animosity in 2016, 22. Juni 2016. URL: www.people-press.org/2016/06/22/partisanship-and-political-animosi ty-in-2016/ [eingesehen am 04.10.2016].

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gegen Obama, erzählten die Experten der Republikaner bei Fox News den ganzen Tag rauf und runter, dass Obamas Tage im Amt wohl gezählt seien, dass die doch recht deutlichen Meinungsumfragen dieser Zeit, die etwas ganz anderes zu verheißen schienen, nicht stimmen würden. Aber: Obama gewann tatsächlich und trat eine zweite Amtszeit an. Viele Republikaner fühlten sich betrogen – und nicht allein von den Demokraten und dem »liberalen Establishment«, sondern auch von den eigenen Leuten. Sie waren Sturm gelaufen und nichts war passiert. Viele Steigerungsmöglichkeiten, ihre Wut zu artikulieren, gab es freilich nicht angesichts der Tatsache, dass die Rhetorik der Partei schon vor langer Zeit jedes Maß verloren hatte. Hätte man denken sollen. Doch dann kam Donald Trump.

9. Wer dem Affen zu viel Zucker gibt …

Donald Trump und die Auflösung



einer politischen Bewegung Mildred: Hey Johnny, what are you rebelling against? Johnny: What’ve you got? (aus dem Film »The Wild One« [1953] mit Marlon Brando)

Um dies voranzustellen: Die Republikanische Partei des Jahres 2016 ist nicht die Partei Donald Trumps. Viele Sympathisanten, Mandatsträger und Funktionäre der Partei schlagen seit Monaten die Hände über dem Kopf zusammen und fragen sich, wie es so weit kommen konnte – sie verabscheuen Trump, verachten ihn mitunter geradezu. Freilich lehnen manche von ihnen Trump aus gänzlich anderen Gründen ab als die meisten Europäer: Sie reiben sich daran, dass ihm viele der ideologischen Prämissen des amerikanischen Konservativismus nicht unbedingt eine Herzensangelegenheit sind, dass er sich weder um libertäre Prinzipien von Small Government schert, noch glaubt, dass Amerikas christliche Seele gerettet werden müsste. Solange das Bewerberfeld der Republikanischen Vorwahlen weit und fragmentiert war, hatte Trump auch bei seinen Siegen in den einzelnen Bundesstaaten selten mehr als ein Drittel der Stimmen auf sich vereinigen können. Und viele derjenigen, die ihn nicht wählten, blieben bis zum Schluss bei ihrer Ablehnung und hätten so ziemlich jeden anderen Republikanischen Kandidaten bevorzugt. Die meisten dieser Republikaner werden am Ende wohl dennoch für Trump stimmen. Das ist eine Konsequenz der scharfen Lagerpolarisierung in den USA, die es den meisten Amerikanern unmöglich macht, der Gegenseite – und sei es durch Wahlenthaltung – zum Erfolg zu verhelfen. Das alles gilt noch mehr für das Jahr 2016, in dem Hillary Clinton zum Objekt eines historisch wohl präzedenzlosen Hasses geworden ist. Beim ersten Hören mag es vielleicht noch amüsant klingen, wenn eine Umfrage besagt, dass ein Drittel der potenziellen Trump-Wähler glaubte, die Demokratin stehe – buchstäblich – mit dem

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Teufel im Bunde.1 Doch es zeigt auch, wie fundamental moralisch viele Republikaner die Auseinandersetzung mit der Gegenseite einschätzen. Trump gewann die Nominierung der Republikanischen Partei, weil ein sehr spezifischer Teil der Republikanischen Wählerkoalition bedingungslos zu ihm hielt: Zwar besteht seine Anhängerschaft, anders als die Medien oft vermitteln, nicht ausschließlich aus ökonomisch vollständig Marginalisierten.2 Dennoch lässt sich das Profil seiner Unterstützerbasis relativ scharf umreißen. Verglichen mit allen Republikanischen Vorwahlkandidaten hat Trump nicht nur diejenigen für sich gewonnen, die über das geringste Einkommen verfügen. Viel signifikanter ist, dass er mit gewaltigem Vorsprung auch jene Republikanischen Vorwähler mit den niedrigsten Bildungsqualifikationen auf seine Seite gezogen hat. In den aktuellen Umfragen zur Präsidentschaftswahl zwischen Trump und Clinton ist diese »Bildungs-Lücke« extrem ausgeprägt: Laut einer Umfrage vom August 2016 führte Trump in der Gruppe der weißen Amerikaner ohne College-Abschluss mit einem Vorsprung von sagenhaften 42 Prozent.3 Weitere Merkmale stechen ins Auge: Mehr Männer als Frauen haben für Trump gestimmt; seine Wähler sind etwas weniger religiös als der Republikanische Durchschnitt; und sie verorten sich selbst ideologisch diffuser als andere Republikaner, bekunden also seltener, sie seien »conservative« oder »very conservative«. Und so ist, mancher Differenzierungen zum Trotz, am Ende doch ziemlich eindeutig, welcher Gruppe Trump seinen Aufstieg zu verdanken hat: tatsächlich vor allem dem Segment der White Working Class, das er ziemlich brachial aus der Republikanischen Wählerkoalition herausgebrochen hat. Genau dieser Gruppe sind wir in diesem Buch immer wieder begegnet, unter verschiedenen Namen und Bezeichnungen: Wir trafen sie als jene weißen Amerikaner, die 1964 und auch 1968 George Wallace zujubelten und die 1972 einen Teil von Richard Nixons Silent Majority bildeten; etwas später liefen wir ihnen wieder über den Weg, als sie Ronald Reagan zu ihrem Helden erkoren und ihm als sogenannte Reagan Democrats 1980 und 1984 ins Weiße Haus verhalfen. Dabei sind sie unsichere Kantonisten: Wenn ein Demokrat 1  |  Die konkrete Frage lautete: »Do you think Hillary Clinton has ties to Lucifer, or not?, vgl. die Umfrage von Public Policy Polling vom 30. Juli 2016 unter URL: http://www. publicpolicypolling.com/main/2016/07/clinton-image-improves-following-conventionsleads-trump-by-5.html [eingesehen am 06.102016]. 2  |  Vgl. Nate Silver: The Mythology Of Trump’s ›Working Class‹ Support, in: FiveThirty Eight, 3. Mai 2016. URL: https://fivethirtyeight.com/features/the-mythology-of-trumpsworking-class-support/ [eingesehen am 03.10.2016]. 3  |  Vgl. Philip Bump: The demographic and support shifts at the core of Donald Trump’s electoral problem, in: Washington Post, 29. August 2016.

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zur Stelle war, der ihre Sprache sprach – wie beispielsweise Bill Clinton 1992 und 1996 –, dann waren sie vielleicht sogar bereit, ihm eine Chance zu geben. Denn ihr Herz ist nicht unzertrennlich mit dem Programm der Republikanischen Partei verbunden. Sie haben weder Friedrich August von Hayek noch Milton Friedman gelesen und sie sind nach vier Jahrzehnten Deregulierungspolitik auch nicht davon überzeugt, dass der Markt alles für sie richten könne oder dass eine weitere Steuersenkung ihnen helfen werde, die Hypothek für ihr Haus zu zahlen oder die horrenden Studiengebühren aufzubringen, damit ihre Kinder das College besuchen können. Nicht wenige von ihnen sind religiös; doch Themen wie Abtreibung und Stammzellenforschung rangieren auf ihrer Prioritätenliste nicht besonders weit oben – mit den Eiferern von der Religiösen Rechten haben sie ohnehin nicht viel am Hut. Und obwohl sie einen Ultra-Patriotismus vertreten, haben sie ebenfalls nicht die geringsten Sympathien für eine starke globale Rolle der USA. Denn sie sind ziemlich müde geworden: von verlustreichen Kriegen, in denen vor allem die Söhne und Töchter des heartland geblutet haben; vom ständigen Kampf gegen den wirtschaftlichen Abstieg; von den Versprechungen beider Parteien, die ihren relativen Statusverlust doch nicht haben aufhalten können.4 Sie sind außerdem autoritär und reagieren sensibel auf das, was sie als äußere Bedrohungen wahrnehmen; seien es Terroranschläge, Verschiebungen in der ethnischen Struktur der Bevölkerung oder wirtschaftliche Krisen.5 Und schließlich: Sie sind nostalgisch und in dieser Sehnsucht nach einer besseren Zeit tatsächlich auf eine Art und Weise konservativ, die dem amerikanischen Konservativismus als Realphänomen lange fremd war. So ist es kein Wunder, dass die am häufigsten wiederkehrenden Worte in der Rhetorik Donald Trumps »Back« und »Again« sind.6 Die Demokraten hingegen haben seit Langem den Anschluss an dieses Wählersegment verloren. Sogar 2012, als ihnen ziemlich erfolgreich gelang, den Kandidaten der Gegenseite, Mitt Romney, als eiskalten Fondsmanager zu stilisieren, lag Obama in dieser Wählergruppe mit 31 Prozent hinten. Gleichwohl: Die White Working Class war lange Zeit keine so verlässliche Republikanische Stammwählerschaft wie etwa die streng religiösen Wähler, die sich 4  |  Vgl. J.D. Vance: Hillbilly Elegy: A Memoir of a Family and Culture in Crisis, New York 2016. 5  |  Vgl. Amanda Taub: The Rise of American Authoritarianism, in: Vox, 01. März 2016, URL: http://www.vox.com/2016/3/1/11127424/trump-authoritarianism [eingesehen am 06.10.2016]. 6 | Vgl. Ronald Brownstein: Trump’s Rhetoric of White Nostalgia. Trump’s core promise is to return to white, working-class Americans what they feel they’ve lost, in: The Atlantic, 02. Juni 2016, URL: http://www.theatlantic.com/politics/archive/2016/06/ trumps-rhetoric-of-white-nostalgia/485192/ [eingesehen am 05.10.2016].

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als Kombattanten in einem Kulturkrieg wähnten, oder wie die wohlhabenden und eher libertär eingestellten Amerikaner, die in den zersiedelten Suburbs des Sunbelt lebten und nichts mehr hassten, als Steuern zu zahlen. (Natürlich kann es zwischen all diesen Gruppen auch Überschneidungen geben; aber wer etwas plastisch verdeutlichen will, wird um Vereinfachungen und Etymologisierungen nicht umhinkommen.) Angezogen wurden die Angehörigen der White Working Class über Jahrzehnte von einer harten, symbolisch hochgradig aufgeladenen Identitätspolitik, die verschiedene Signale sendete. Da war zunächst unzweifelhaft der Appell an rassistische Vorurteilsstrukturen, die Ausrufung von Law and Order gegen den »Verfall der Kultur« in amerikanischen Großstädten. Als Dog-Whistle Politics – nur eine bestimmte Gruppe soll die Frequenz empfangen – bezeichnet man jene kommunikative Strategie, der zufolge jeder auch ohne explizite Äußerungen weiß, wer und was gemeint ist (wenn z.B. Ronald Reagan von »Cadillac-driving welfare queens« sprach, dann war seinen Unterstützern klar, dass es implizit um afro-amerikanische Empfängerinnen von Wohlfahrtsleistungen ging). Trump hingegen hat, salopp ausgedrückt, die Hundepfeife einfach weggelassen – und wenn er Mexikaner als »Mörder« und »Vergewaltiger« bezeichnete, offen ausgesprochen, was zuvor noch etwas subtiler kommuniziert worden war. Aber das war nicht alles; und es wäre auch eine unzutreffende Verkürzung, alle Motivationen dieser Wählergruppe mit Rassismus zu erklären. Amerikas Konservative fingen diese Wähler auch – und vermutlich war das im Zeitverlauf sogar noch weitaus wichtiger – mit einer geradezu klassischen populistischen Erzählung ein. Sie erfanden eine vermeintliche liberale Elite, die voll Verachtung auf die Menschen des amerikanischen heartland schaue. Natürlich ließ sich nie genau sagen, wer Teil dieser dubiosen liberalen Elite sein sollte, der Begriff war vollständig diffus. Doch das war ja gerade das Raffinierte – denn so schien man einer besonders verschwörerischen Clique manipulativer Meinungsführer gegenüberzustehen. Mit einem beißenden Anti-Intellektualismus agitierten Amerikas Konservative mal gegen die Professoren an den Elite-Universitäten der Ostküste, dann wieder gegen die »Mainstreammedien« und die Filmproduzenten von Hollywood, gegen Feministinnen, Regierungsbürokraten und Bürgerrechtler und überhaupt gegen jeden, dessen Weltbild im Widerspruch zur Ideologie des amerikanischen Konservativismus stand. Vielleicht glaubten viele Konservative ja tatsächlich, dass die Angehörigen der amerikanischen Arbeiter- und Mittelklasse in ihrer Mehrheit enthusiastische Befürworter von Small Government und immer weiterer Steuersenkungen wären – anders jedenfalls sind einige über Jahre aufgestaute Missverständnisse, die dann mit Trump nachgerade explodierten, kaum zu erklären. Aber ganz vertrauten sie der Überzeugungskraft des eigenen Programms offensichtlich nicht – waren doch andere Botschaften in Wahrheit sehr viel wichtiger. Vor al-

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lem benutzten sie die Vielfalt von Lebensstilen, von divergierenden ways of life, um die sozioökonomische Konfliktlinie des Landes durch eine kulturelle zu ersetzen, und bemühten sich, auf diese Weise Amerikas Demokraten als elitäre Schnösel zu karikieren, die jeden Bezug zum hart arbeitenden Teil des Volkes verloren hätten. Als Paradebeispiel gilt bis heute ein Werbespot, den die konservative Lobbygruppe Club for Growth bereits 2004 gegen Howard Dean, den linken Senator von Vermont und Kandidaten der Demokratischen Präsidentschaftsvorwahl, geschaltet hatte: »Howard Dean should take his tax-hiking, government-expanding, latte-drinking, sushi-eating, Volvo-driving, New York Times-reading, body-piercing, Hollywood-loving, left-wing freak show back to Vermont, where it belongs.« 7 Als diese Erzählung funktionierte, waren es die wunderbarsten Jahre des amerikanischen Konservativismus, der etwa in den Bush-Jahren mehrmals Steuersenkungen für die Oberschicht durchsetzte – und dafür gewählt wurde von Menschen, die von alledem herzlich wenig hatten. Aber das Bündnis zwischen der Republikanischen Partei und Joe Six-Pack blieb stets fragil. Es beruhte eben nicht auf ökonomischen Interessen. Es war nicht wirklich ideologischer Natur wie bei den Libertären, bei vielen auch nicht durch religiöse Gefühle abgesichert. Es war das reine Ressentiment, welches das Bündnis zusammenhielt. Um es zu erhalten, mussten die Attacken ständig gesteigert werden, musste der Feind immer größer gezeichnet werden, buchstäblich ins Riesenhafte wachsen. Damit begann die Geschichte des Kontrollverlustes des amerikanischen Konservativismus über seine eigene Erzählung. Denn bald war das Problem nicht länger allein der amerikanische Liberalismus. In der fortgesetzten Steigerung galt nun ganz Washington als korrupt und innerlich verfault, bevölkert von einer politischen Klasse, die mit dem Rest des Landes völlig out of touch sei. Spätestens seit den 1990er Jahren versprach jeder Kongress- und Präsidentschaftskandidat der Republikanischen Partei, mit »Washington aufräumen« zu wollen: Das war gleichsam Ausdruck wie Verstärker einer grenzenlosen Politik- und Politikerverachtung. Niemand wollte mehr zum »Establishment« gehören, jeder war jetzt ein »Maverick«, ein Rebell und Außenseiter. Diese Attitüde war anti-politisch und, wie alle Populismen, auch absolut institutionenfeindlich. Im Präsidentschaftswahlkampf 2016 hat all das seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Man muss nur Revue passieren lassen, wie sehr sich jeder Republikanische Politiker dort als »Anti-Politiker« inszenierte. Bei manchen bedurfte es noch nicht mal einer Inszenierung: etwa beim Neurochirurgen 7 | Der Werbespot ist nachzusehen unter URL: https://www.youtube.com/watch?v =K4-vEwD_7Hk [eingesehen am 06.10.2016].

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Ben Carson, der so tief im Mariannengraben der paranoiden amerikanischen Rechten tauchte wie kein anderer und der als Qualifikation für das höchste Staatsamt angab, er sei gewohnt, unter Druck Entscheidungen über Leben und Tod zu treffen; oder bei Carly Fiorina, der ehemaligen Managerin von HewlettPackard, die – ein nicht mehr ganz so neuer Slogan – damit warb, das Land wie ein Unternehmen führen zu wollen. Doch auch die echten Politiker im Feld versuchten alles, um bloß nicht als Teil des verhassten Establishments zu erscheinen. Sogar an Marco Rubio, dem Tea-Party-Liebling von 2010, drohte das ungeliebte Label zu haften, weil er sich als Senator an, nun ja, realen Gesetzesentwürfen versucht hatte. Um diesem Vorwurf zu entgehen, musste man schon eine ganz und gar destruktive Politik der totalen Obstruktion in Washington betrieben haben: Das war die Rolle des texanischen Senators Ted Cruz, der wohl kaum zufällig lange Zeit Trumps ärgster Widersacher war. Man könnte das weiter durchspielen, für jeden Kandidaten. Vielleicht der einzige, der die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens angesichts seiner eigenen Biografie einsah und daher nicht die Anti-Establishment-Karte zog, war der Abkömmling einer Präsidentendynastie: Jeb Bush. Relativ schnell sah er dann allerdings auch die Sinnlosigkeit seiner ganzen Kandidatur ein. Er, auf den die meisten Experten ihr Geld gesetzt hatten, war in fast schon tragischer Weise chancenlos in diesem Jahr des Aufruhrs und der der innerparteilichen Rebellion. Indes: Auch die Verrenkungen der anderen Kandidaten waren relativ zwecklos. Denn niemand verkörperte die Politikverachtung, das Anti-Establishment-Denken perfekter als Donald Trump. Und niemand war bereit, so offen und brutal die Grenzen des politischen Diskurses zu sprengen. Ein Dutzend Mal war man sich sicher, dass Trump nun endgültig einen Schritt zu weit gegangen war: Als er einen behinderten Journalisten bloßstellte; als er einer Moderatorin, die kritische Nachfragen an ihn richtete, Menstruationsbeschwerden attestierte; als er den Kriegshelden John McCain, der Jahre der Folter in Vietnam erlebte hatte, damit beleidigte, dass er Helden bevorzuge, die nicht in Gefangenschaft geraten seien. Ohne Weiteres ließe sich eine schier endlose Liste an Verfehlungen zusammenstellen – jede einzelne hätte einen normalen Politiker in normalen Zeiten längst zu Fall bringen müssen. Und eigentlich ist das ja auch seit jeher die Achillesferse der populistischen Mobilisierung gewesen: Dass die immanente Steigerungslogik der populistischen Provokation erfordert, stets noch ein Brikett nachzulegen, weiter aus vollen Backen ins Feuer zu blasen – bis dem Provokateur am Ende doch etwas herausrutscht, das ihm schadet. Allein: Trump schadete nichts davon. Die Basis der Partei war längst in einem Maße verwildert und enthemmt, wie es selbst die anderen geübten, gewiss ebenfalls kaltblütigen Regelverletzer unter seinen Konkurrenten nicht hatten antizipieren können.

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Und die Momente, in denen sogar seine Anhänger zumindest einen Anflug von Entgleisung empfanden: War nicht genau das ein Beweis dafür – so die von amerikanischen Reportern auf Trump-Kundgebungen hundertfach angeführte Standarderklärung –, dass Trump eben kein Politiker war, sondern einfach redete, wie ihm der Schnabel gewachsen war? Es stimmt ja: Man mag Trump sonst alles vorwerfen – aber ein Politiker ist er gewiss nicht. So ist es in diesem Jahr des Anti-Eliten-, Anti-Establishment- und Anti-System-Affekts fast unmöglich gewesen, mit Trumps Provokationen mitzuhalten. Kaum begannen auch die anderen von einer Mauer an der mexikanischen Grenze zu schwadronieren – da hatte Trump schon die Registrierung der in den USA lebenden Muslime gefordert. Und dass er, außerhalb seiner Anhängerschaft, maximal verurteilt und angegriffen wurde, stärkte noch seine Position als mutiger Gegenspieler einer vermeintlich übermächtigen Political Correctness. Etwas, das dämmerte auch vielen Konservativen, war da aus dem Ruder gelaufen. Und sie waren nicht ganz unschuldig daran: Über Jahrzehnte hatten sie dem Affen immer wieder Zucker gegeben; jetzt saß ihnen ein 400-PfundGorilla auf dem Schoß. Das Jahr 2016 sah also eine beispiellose Radikalisierung und sprachliche Enthemmung. Und doch steht Trump gleichzeitig, so merkwürdig das klingen mag, auch für einen Prozess der ideologischen Aufweichung. An der Spitze der Partei von William Buckley und Irving Kristol, die so weltanschaulich puristische Politiker wie Barry Goldwater hervorgebracht hat, befindet sich plötzlich jemand, der sich kaum für die ideologischen Maxime der konservativen Bewegung interessiert und ihnen in Teilen sogar offen widerspricht. Trump ist kein Verfechter von Small Government. Natürlich hat er, wie alle Populisten rechts der Mitte, Steuersenkungen versprochen. Aber nie hat er angedroht, die Sozialausgaben zu beschneiden – und zwar aus gutem Grund: Das würde schließlich seine eigene Klientel treffen. In diesem Atemzug ist auch seine allseits durchschaute 180-Grad-Wende bei Themen wie Abtreibung oder gleichgeschlechtlicher Ehe zu nennen. Zum Verteidiger christlicher Moralvorstellungen taugt der New Yorker Immobilien-Tycoon schon aus biografischen Gründen nicht. Trump interessiert sich auch ganz generell nicht für politische Ideen; und das Medium Buch, das beim Auf bau der konservativen Bewegung eine so wichtige Rolle gespielt hat, hat er nach Ansicht eines seiner Biografen seit drei Jahrzehnten nicht mehr angerührt. Natürlich hatte dieser Anti-Intellektualismus schon lange vor Trump eine Heimat in der Republikanischen Partei gefunden – er war aber stets von einem dicht gewobenen Netz aus Think Tanks und dem konservativen publizistischen Universum umgeben gewesen. Trump jedoch brauchte von alledem nichts und ignorierte es komplett. Tatsächlich ist Twitter das Medium, das kongenial zu ihm passt. 140 Zeichen: Mehr bedarf es für Donald Trump nicht, um ein weiteres Mal die Welt zu erklären und die Empörungsschraube noch eine Windung weiterzudrehen.

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Kurzum: Trump hat die populistische Mentalität der Republikanischen Partei radikalisiert – und sie gleichzeitig ideologisch entkernt. Damit hat er die Partei fraglos näher an den Politikstil des europäischen Rechtspopulismus herangeführt. In der Tat gibt es einige frappante Gemeinsamkeiten: die extreme Personalisierung; den Tabubruch als Methode; den Hang zum Verschwörungsdenken; den Anti-Intellektualismus; und dann eben auch die Konzentration auf einen aggressiven Ethno-Nationalismus – bei gleichzeitiger Flexibilität auf vielen anderen Politikfeldern. Der britische Politologe Paul Taggart sprach einmal vom »empty heart of populism« 8 und meinte damit die ideologische Leere im Inneren der populistischen Bewegung, deren Zielorientierung oft unklar bleibt. Seit über einem Jahr fragen sich viele, warum Trumps Anhängern nicht klar werde, dass sich seine Politikvorschläge in einem Phantasiereich bewegen. Doch versucht man, sich ein systematisches Bild von Trumps Unterstützern zu machen,9 beschleicht einen die Vermutung, dass sie weniger naiv sind als gemeinhin angenommen. Sie glauben ebenfalls nicht wirklich daran, dass an der Grenze zu Mexiko eine Mauer stehen wird oder dass elf Millionen Menschen deportiert werden – es geht ihnen um die Symbolik dieser Forderungen. Und auch sonst gehen sie ziemlich illusionslos, ja geradezu zynisch-aufgeklärt an die Sache heran. Was also, salopp gesagt, wenn Trumps Anhänger wissen, dass er einfach nur das Blaue vom Himmel verspricht, wenn sie die ganze Travestie seiner Wahlkampagne durchschauen? Und was, wenn es ihnen um »Politik« überhaupt nicht geht? Was, wenn sie sich allein daran ergötzen, mit welcher Lust Trump alle Konventionen des Politikbetriebes durchbricht und seine Konkurrenten damit schier in die Verzweiflung treibt? Es wäre eine abermalige Verhöhnung der Politik. Man könnte hier auch ein Phänomen erkennen, das in Europa – mit seinem ganz anders gearteten Wahlsystem, bei dem auch solche Parteien in das Parlament einziehen, die niemals die Chance haben, in Koalitionen einzutreten – als Protestwahl bezeichnet wird. Die Stimmenabgabe zielt dann nicht auf eine reale Veränderung von Politik, sondern ist vor allem expressiv zu verstehen: als eine ungefilterte Äußerung der reinen Wut und als Bestätigung der eigenen Identität – weil man sich von der Politik als Instrument zur Veränderung der Gesellschaft ohnehin und sowieso schon lange nichts mehr verspricht. Und damit sind wir beinahe am Ende angelangt. Allerdings, zwei für den Autor unangenehme Fragen lauern da noch. Die eine ist fast ein wenig absurd. 8  |  Vgl. Paul Taggart: Populism, Buckingham 2000, S. 4. 9  |  Vgl. stellvertretend für eine wahre Flut von Reportagen extrem ausführlich George Saunders: Who are all these Trump Supporters?, in: New Yorker, 11. Juli 2016, URL: http://www.newyorker.com/magazine/2016/07/11/george-saunders-goes-to-trumprallies [eingesehen am 06.10.2016].

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Die letzten Zeilen dieses Buches wurden Anfang Oktober 2016 geschrieben, nicht länger als einen Monat vor der Präsidentschaftswahl am 8. November. Und wie wir gesehen haben, ist 2016 ein Wahljahr, in dem man sich schnell zum Gespött machen kann. Machen wir es dennoch kurz, ohne dabei freilich, wie der eingangs dieses Buches zitierte Journalist, zu versprechen, die eigenen Seiten zu verspeisen, falls es schiefgeht: Es spricht außerordentlich wenig dafür, dass Donald Trump im Januar 2017 den Amtseid als neuer Präsident der Vereinigten Staaten schwören wird; es sei denn, es geschehen umstürzende Ereignisse, von denen jetzt noch nichts zu ahnen ist. Man muss dafür gar nicht die Stärken oder Schwächen der Kandidaten analysieren oder generell das Auf und Ab, das jede Kampagne begleitet. Es ist viel einfacher: Die Demokraten haben derzeit einen strukturellen Vorteil bei Präsidentschaftswahlen, der es jedem Republikaner schwer machen würde, die erforderliche Zahl von Wahlmännerstimmen im Electoral College zu erreichen. In lediglich etwa einem Dutzend Bundesstaaten ist der Wahlausgang überhaupt umkämpft – die anderen sind eine so sichere Bank für die eine oder andere Partei, dass ein Großteil der 538 Wahlmänner praktisch schon vergeben ist. Und von den zehn bis zwölf Battleground States, sowohl auf die Demokraten als auch Republikaner fast ihre gesamten Anstrengungen ausrichten, hat Obama 2008 und 2012 beinahe alle gewonnen. Seitdem, dazu kommen wir gleich, haben die demografischen Verschiebungen im Land die Lage nicht unbedingt einfacher gemacht für die Grand Old Party. Überdies ist Amerika so stark polarisiert, dass es für beide Parteien extrem schwierig ist, Wähler der Gegenseite hinüberzuziehen; und die Zahl der echten Independents, also der parteilich wirklich ungebundenen Wähler, ist in Wahrheit sehr gering. Kurz gesagt: Trump müsste schon eine große Zahl neuer Wähler aktivieren – und genau darauf richten sich die Hoffnungen seines Lagers. Immerhin konnte die Republikanische Vorwahl 2016 eine Rekordbeteiligung verzeichnen. Tatsächlich jedoch dürfte er das Republikanische Elektorat kaum nennenswert vergrößert haben. Trumps Wähler hatten zwar, das ist wahr, vorher nur selten an den Primaries der Partei partizipiert; bei den nationalen Hauptwahlen zum Kongress und für das Weiße Haus hatten sie sich jedoch schon zuvor beteiligt – und dabei Republikanisch gewählt.10 So ist schwer vorstellbar, woher Trump jene Wähler nehmen soll, die den Kandidaten einer ohnehin schon strukturell unterlegenen Partei ins Weiße Haus hieven sollen. Und damit sind wir beim letzten, sehr viel wichtigeren Punkt angelangt. Das Problem ist nur: So einfach die Frage nach dem Sieger der Präsidentschaftswahl zu beantworten war (mögliche Blamagen inklusive), so schwierig 10  |  Vgl. Shane Goldmacher: Donald Trump Is Not Expanding the GOP, in: Politico, 17. Mai 2016, URL: http://www.politico.com/magazine/story/2016/05/donald-trump2016-polling-turnout-early-voting-data-213897 [eingesehen am 06.10.2016].

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ist eine Antwort auf die zweite Frage, da sie von einer Zukunft handelt, die völlig im Ungewissen liegt: Was sind die Aussichten der Republikanischen Partei und des amerikanischen Konservativismus nach Trump? Die Frage ist deshalb so schwer zu beantworten, weil alle Szenarien gleichermaßen unwahrscheinlich anmuten. Einerseits wird die Wahl 2016 die letzte Wahl sein, in der eine Strategie wie jene von Trump überhaupt noch verfängt. Denn, das ist oft genug betont worden: Die Partei hat in den letzten Jahrzehnten den Anschluss an alle wachsenden Segmente der amerikanischen Bevölkerung verloren. Das gilt für US-Bürger mit höheren Bildungsabschlüssen, für berufstätige Frauen, natürlich vor allem für die wachsende Zahl ethnischer Minderheiten. Dass dies nicht schon stärker zur Chancenlosigkeit der Republikaner geführt hat, verdankt sich allein der Tatsache, dass Hispanics und Afro-Amerikaner stärker zur Wahlenthaltung neigen. Dennoch wurde diese Disparität zu einem immer größeren Problem. Bis 1960 waren 95 Prozent der amerikanischen Wähler Weiße; 1992 waren es immerhin noch knapp über achtzig Prozent; 2012 dann, bei der letzten Wahl, waren es nur noch 73 Prozent. Das ist immer noch ein starker Block, aber da Republikaner unter Hispanics und Asian-Americans wenig und unter Afro-Amerikanern praktisch gar keinen Rückhalt besitzen, müssen sie sich eine immer größere Scheibe des Weißen Amerikas herausschneiden. Bei seinem sehr deutlichen Sieg 1984 genügten Ronald Reagan noch 56 Prozent der Stimmen der weißen Amerikaner. Über dreißig Jahre später gewann Mitt Romney 59 Prozent ihrer Stimmen – und verlor doch deutlich.11 Weitaus mehr Stimmen werden 2016 aus diesen Block kaum herauszupressen sein; dafür gibt es dann doch zu viele weiße Amerikaner, die für die Republikaner niemals zu erreichen sind. Das Problem hätte allerdings auch ohne Trump bestanden. Die überwiegende Mehrheit des »reformistischen« Flügels der Republikanischen Partei war nach der Wahlniederlage von 2012 der Meinung, dass man – abgesehen von der Einwanderungsreform, bei der man in der Tat auf die Demokraten zugehen wollte – alles beim Alten belassen könnte und einfach versuchen müsste, eine bessere Ansprache für Hispanics zu finden. Es ging nicht um Anpassung, sondern um Überzeugung. Wahrscheinlich war dieses Denken ebenfalls ein Erbe der Bewegungsgeschichte; denn schließlich: Hatte man nicht früher die eigenen Ideen auch in Zeiten der Niederlage hochgehalten und war dafür belohnt worden? Um es kurz zu machen: Im Grunde wollen die Republikaner programmatisch gar nichts ändern. Das aber müssten sie wohl tun, um langfristig mehr11  |  Vgl. Clare Malone: The End Of A Republican Party. Racial and cultural resentment have replaced the party’s small government ethos, in: fivethirtyeight, 18. Juli 2016, URL: http://fivethirtyeight.com/features/the-end-of-a-republican-party/ [eingesehen am 06.10.2016].

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heitsfähig zu sein. Doch jetzt kommt eben der Umstand zum Tragen, der alles verkompliziert: Wer sollte der Träger einer solchen Reform sein und wie könnte sie sich vollziehen? Es gibt in der Partei derzeit einen so unumstößlichen Primat des Basiswillens, dass die Veränderung von dort kommen müsste; das aber ist ein fast schon drolliger Gedanke. So könnte sich am Ende, trotz aller Spekulationen über ein bevorstehendes großes Realignment – gemeint ist damit eine umfassende Neuordnung der Wählerkoalitionen beider Parteien –, vielleicht auch einfach gar nichts ändern. Denn die Republikaner haben als Trost nicht nur den Kongress, wo sie insbesondere im Repräsentantenhaus aufgrund der Zuschneidung der Wahlkreise noch einige Zeit gute Chancen auf eine Mehrheit haben. Auch verfügen sie über das Residuum der eigenen Echokammer: einen autarken Kosmos aus Fox News, konservativen Zeitschriften, konservativer Unterhaltungsindustrie und ideologisch homogenen Nachbarschaften. Auch jetzt ist ja erstaunlich, wie siegesgewiss zumindest die Trump-Anhänger unter den Republikanern sind. Für sie kann es am 8. November ein böses Erwachen geben. Und da Trump schon jetzt die Legitimität der Wahl vorsorglich angezweifelt hat, wird das Verschwörungsdenken vielleicht – sofern dies noch möglich ist – noch einmal zulegen; ebenso das Gefühl, fremd im eigenen Land zu sein. So oder so: Es ist eine ungewisse Zukunft, die über der Republikanischen Partei liegt. Und damit unweigerlich auch über Amerika.

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D anksagung

Mein Dank geht an: Katharina Rahlf von Splendid. Text- und Webdesign für das wunderbare Lektorat; Florian Schmidt für die engagierte Hilfe bei der Sichtung und Recherche der Literatur; Anna, Thore und Amira dafür, dass sie es in letzter Zeit mit mir ausgehalten haben; und an meine Eltern, weil sie – wie immer – zur Stelle waren, wenn man sie am meisten brauchte.

L iter atur

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