Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis: Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen [2nd unrev. Edition] 9783110916102, 9783484102125


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German Pages 508 Year 1994

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Table of contents :
Vorwort
Einleitung
Erster Teil: Herkunft und Geschichte der Idee des goldenen Zeitalters seit dem Altertum
I. Kapitel: Die griechische Antike
1. Die mythische Grundüberlieferung: Hesiods Weltalter-Dichtung
2. Die eschatologische Entsprechung: die Vorstellungen vom ,Elysium‘ und den ,Inseln der Seligen‘
3. Die rationalistische und satirische Zersetzung des Mythos vom goldenen Zeitalter
4. Die Vorzeit-Mythen Platons und die platonische ,Utopie‘
5. Hellenistische Naturverklärung und stoischer Vermittlungsversuch (Poseidonios)
II. Kapitel: Die römische Antike
1. Die Erneuerung des griechischen Mythos
2. Die Wendung vom Mythos zum Symbol: Vergils Arkadien-Vorstellung
3. Die eschatologische Wendung: Vergils Verkündigung des goldenen Zeitalters in der vierten Ekloge
4. Der neue römische Geschichtsmythos: Vergils ‚Georgica‘ und ‚Aeneis‘
5. Politische Panegyrik und Zersetzung
III. Kapitel: Die Arkadien-Vorstellung als erste Überlieferungslinie vom Mittelalter zur Neuzeit
1. Die Eklogendichtung des Mittelalters
2. Die Erneuerung der Bukolik in der italienischen Renaissance und ihre europäischen Ausstrahlungen
3. Die deutsche Schäferdichtung des 17. Jahrhunderts
4. Das goldene Zeitalter in der Idyllendichtung und -theorie des 18. Jahrhunderts
5. Die Kritik an der Hirtenidylle und die Überwindung der arkadischen Vorstellungsform vom goldenen Zeitalter
IV. Kapitel: Der christliche Chiliasmus als zweite Überlieferungslinie vom Mittelalter zur Neuzeit
1. Die jüdische Apokalyptik und die christliche Vorstellungsform des ‚tausendjährigen Reiches‘
2. Der mittelalterliche Chiliasmus: das ‚Dritte Reich‘ Joachims von Fiore
3. Die Weltkaiser-Prophetie des Mittelalters und ihr Nachklang in der deutschen Kaisersage
4. Der pietistische Chiliasmus des 18. Jahrhunderts und seine Beziehung zur ‚güldenen Zeit‘
5. Der philosophische Chiliasmus: Lessing und die Romantiker
Zweiter Teil: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis
I. Kapitel: Die Frühzeit Hardenbergs und die Auseinandersetzung mit Hemsterhuis und Fichte
1. Die frühen Gedichte und Entwürfe 1788–1792
2. Hemsterhuis und Fichte
3. Die Idee des goldenen Zeitalters und des tausendjährigen Reiches in den philosophischen Studienheften von 1795-1797
4. Das Sophien-Erlebnis: Die „Wendung“ von der Jenseitshoffnung zur Diesseitsverwirklichung
II. Kapitel: Das goldene Zeitalter als „Vergangenheit“ und als „Zukunft“. Das Geschichtsverständnis des Novalis
1. Die triadische Grundfigur der Geschichte und ihre Abspiegelung in der Dichtung
2. Das goldene Zeitalter als „Vergangenheit“ (der Wechsel der Vorstellungsformen und die Transparenz des zugrundeliegenden Zeitschemas)
3. „Erinnerung“ und „Ahndung“ als Element des Dichters (die mystische Grundintention im Geschichtsverständnis des Novalis)
4. Der Krieg als „poetische“ Geschichtskategorie
5. Das goldene Zeitalter als „Zukunft“ (der Wechsel der Vorstellungsformen und die Transparenz des zugrundeliegenden Zeitsdiemas)
III. Kapitel: Das goldene Zeitalter als poetisches „Postulat“ und als „Approximationsprinzip“. Die Besonnenheit als Grundzug im Denken des Novalis
1. Erstes Paradigma: Der ewige Frieden im Reiche der Menschen (die Idee der „Monarchie“)
2. Die Wirksamkeit des Postulates und die „Philosophie dieser Aufgaben“ in den Fragmenten von 1798/99
3. Zweites Paradigma: Der ewige Frieden im Reiche des Wissens (die Idee der „Enzyklopädie“)
IV. Kapitel: Das „Gegenwärtigmachen des Nichtgegenwärtigen“ als Auftrag des Dichters
1. Das goldene Zeitalter als Einheit des Menschen mit der Natur (,Die Lehrlinge zu Sais‘)
2. Die Gestalt des „Kindes“ als Repräsentation des goldenen Zeitalters
V. Kapitel: Die religiöse Vorstellungsform des goldenen Zeitalters
1. Die Idee des tausendjährigen Reiches und des neuen Jerusalem (Paradigma: ,Die Christenheit oder Europa‘)
2. Die Geschichtsmythologie der ,Hymnen an die Nacht‘ und die mystische Gegenwärtigkeitserfahrung des Dichters
VI. Kapitel: Die poetische Vorstellungsform des goldenen Zeitalters (‚Heinrich von Ofterdingen‘)
1. Die Weltmission der Poesie
2. Die Auflösung der Zeit- und Raumstruktur: Der Weg des Dichters in das Reich der Poesie
3. Das Zielbild des goldenen Zeitalters: Die „Herstellung der Märchenwelt“
Anhang: Unveröffentlichte Jugendlyrik von Novalis
Literaturverzeichnis
Namenverzeichnis
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Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis: Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen [2nd unrev. Edition]
 9783110916102, 9783484102125

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Hans-Joachim Mahi

Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen 2., unveränderte Auflage

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1994

Gedruckt mit freundlicher Genehmigung des Carl Winter Universitätsverlags, Heidelberg.

Die vorliegende Auflage ist durch ein neues Vorwort ergänzt.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Mähl, Hans-Joachim: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis : Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen / Hans-Joachim Mähl. - 2., unveränd. Aufl. - Tübingen : Niemeyer, 1994 ISBN 3-484-10212-8 Photomechanischer Nachdruck 1994 Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen © Carl Winter Universitätsverlag, Heidelberg 1965 Alle Rechte vorbehalten. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Heinr. Koch, Tübingen

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist aus einer Studie über die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis hervorgegangen. Bei der weiteren Beschäftigung mit dem vielschichtigen Fragenkomplex sah sich der Verfasser veranlaßt, der Herkunft und Geschichte dieser klassischen Utopie nachzugehen, um so den geistes- und diditungsgesdiiditlidien Hintergrund zu erfassen, vor dem die Aneignung und schöpferische Anverwandlung durdi Novalis und die Frühromantiker in schärferen Konturen nachgezeichnet werden konnten. Diese Untersuchungen, deren besonderer Reiz in dem Aufspüren und Erschließen eines einmaligen historischen Wirkungszusammenhanges lag, sind zu einem selbständigen Teil der Arbeit herangewachsen; trotz ihrer Beziehung auf das Werk des Novalis, von dem sie ihren Ausgangspunkt genommen haben und an dem sie ihren ständigen Orientierungspunkt fanden, greifen sie über den ursprünglich vorgesehenen Ansatz hinaus und mögen als Vorarbeiten zu einer noch ungeschriebenen Geschichte der utopischen Denk- und Vorstellungsformen in der deutschen Dichtung bis zur Romantik verstanden werden. Dem Druck ist das Manuskript zugrundegelegt worden, das bereits im Sommer 1959 abgeschlossen und von der Philosophischen Fakultät der Universität Hamburg als Dissertation angenommen wurde. Durch meine Mitarbeit an der kritischen Novalis-Ausgabe, die seit dem Frühjahr 1960 zu einer neuen und unvorhergesehen langwierigen Bearbeitung des gesamten philosophischen Nachlasses führte, hat sich die Drucklegung leider immer wieder hinausgezögert. Doch konnten dafür einige neue Gesichtspunkte, die sich aus dem Studium der wieder zugänglich gewordenen Handschriften ergeben haben, bei der Überarbeitung des Manuskriptes berücksichtigt werden. Daneben sind eine Reihe von Kürzungen vorgenommen worden, während die mittlerweile erschienene Literatur zwar bibliographisch erfaßt wurde, aber zu einer Änderung der eigenen Untersuchungsergebnisse keine Veranlassung bot. Mein besonderer Dank gilt an dieser Stelle meinem verstorbenen Lehrer Hans Pyritz, dessen wissenschaftliche Gesinnung und persönliche Anteilnahme midi bei der Anlage und Entstehung dieser Arbeit geleitet haben. Danken möchte ich ferner Herrn Professor Dr. Adolf Bede, der mir in warmherziger Weise Rat und Förderung zuteil werden ließ, sowie Herrn Professor Dr. Richard Samuel, der mir innerhalb einer seit Jahren bestehenden brieflichen Korrespondenz und Zusammenarbeit auf editorischem Gebiet unveröffentlichte Abschriften aus dem Jugendnadilaß des Novalis zur Verfügung stellte, die im Rahmen dieser Arbeit ausgewertet und ζ. T. im Anhang mitgeteilt worden sind. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft danke idi für die großzügige Unterstützung bei der Drucklegung des Buches. Hamburg, im Herbst 1964

Hans-Joachim Mähl

Vorwort zur zweiten unveränderten Auflage Man mag sich fragen, ob eine Arbeit, die vor fast dreißig Jahren erschienen ist, in einem unveränderten photomechanischen Nachdruck der Wissenschaft erneut zugänglich gemacht werden soll. Zweifellos ist die Forschung mittlerweile, vor allem aufgrund der seither vorgelegten Bände der historisch-kritischen NovalisAusgabe, weiter fortgeschritten und hat neue Aspekte des umfangreichen und vielschichtigen Werkes freigelegt. Daß sie die Ergebnisse des vorliegenden Buches indessen nicht überholt hat, vielmehr an die hier erstmals gebahnten Wege angeknüpft hat und sie vielfach zu ergänzen und zu vertiefen bemüht war, ist mir in neueren Monographien mehrfach bestätigt worden. So hat das Buch sicherlich seinen „historischen Ort" und weist unverkennbar auf sein frühes Erscheinungsdatum von 1965 zurück, vor allem dadurch, daß es ideengeschichtlich angelegt ist (wenn auch in einem damals neu definierten Sinne) und der Ergänzung in sozialgeschichtlicher Hinsicht bedarf. Aber daß es weiterhin als „epochemachend" betrachtet (W. Frühwald) und auch in der jüngsten Forschungsdiskussion als ein „Standardwerk über Novalis" (L. Pikulik), als „vielleicht der bisher bedeutendste Beitrag zur Novalis-Forschung" (H. Uerlings) behandelt wird, ist von mir dankbar vermerkt worden und hat mich zu dieser Neuauflage ermutigt. Das Buch, ehemals im Carl Winter Universitätsverlag erschienen, war seit 1978 vergriffen. Eine geplante Neuauflage kam damals nicht zustande. Seither werde ich ständig von Fachkollegen des In- und Auslands und auch von Studierenden und anderen Interessierten bedrängt, es wieder im Druck zugänglich zu machen. Die wachsende Nachfrage erkläre ich mir einerseits aus dem lebhaften und ständig anwachsenden Interesse an dem Frühromantiker Novalis - davon legt auch die Gründung der Internationalen Novalis-Gesellschaft im Frühjahr 1992 Zeugnis ab, der mittlerweile führende Romantikforscher aus aller Welt als Mitglieder angehören - , andererseits aus dem aktuellen Interesse an der neueren Utopie-Forschung, die sich in vielen Publikationen äußert und zu der mein Buch einen frühen und wichtigen Beitrag lieferte. Die Alternative war freilich, ob das Buch in einer bearbeiteten und revidierten Fassung vorgelegt werden könnte. Dies hätte jedoch, schon durch die Umstellung der Novalis-Zitate auf den Text der historisch-kritischen Ausgabe, einen völligen Neusatz erfordert und damit die Kosten für den Verlag ins nicht mehr Verantwortbare gesteigert. Der daraus folgende Entschluß zu einem photomechanischen Nachdruck ist mir nicht leichtgefallen, schien jedoch der einzig gangbare Weg, um das Werk der Forschung und allen anderen Interessenten wieder zugänglich zu machen. Dem naheliegenden Einwand, daß Novalis hier noch nach der alten Ausgabe von P. Kluckhohn und R. Samuel (1929) zitiert wird, kann auf doppelte Weise begegnet werden. Einmal sind die neuen Handschriften, die in der

Vorwort zur zweiten unveränderten Auflage

VII

historisch-kritischen Ausgabe (1965-1988) erstmals veröffentlicht wurden, von mir als dem maßgeblich beteiligten Mitherausgeber der Edition schon in der Entstehungsphase des vorliegenden Buches mit einbezogen worden, so daß keine wesentlichen, aus dem handschriftlichen Befund erklärbaren Lücken zu registrieren sind. Auch die gelegentlichen Abweichungen vom Text der älteren Ausgabe beruhen bereits auf einer neuen Lesung der Handschriften und stellen stillschweigende Berichtigungen des Textes dar. Andererseite sind die Novalis-Zitate des Buches unschwer über das ausführliche Sach- und Begriffsregister des 5. Bandes der historisch-kritischen Ausgabe (S. 420-819) zu verifizieren und mit dem dort gedruckten Text in der Originalorthographie zu vergleichen. Der interessierte Leser möge dieses Hilfsmittel als Konkordanz nutzen; daß es sich dabei um einen Kompromiß handelt, der aus den erörterten Gründen zustande kam, sei freimütig zugestanden. Die Novalis-Forschung hat seit 1965, vor allem seit Erscheinen der Bände 2-4 der historisch-kritischen Ausgabe, einen spürbaren Aufschwung genommen, der an zahlreichen Publikationen ablesbar ist. W. Frühwald sprach bereits in einer Rezension des 2. Bandes (1965) von einem „Erdbeben" der Novalis-Forschung, dessen Bruchlinien exakt zu verfolgen seien: „Die Konsequenzen des im zweiten Band der neuen Ausgabe dargebotenen Novalisbildes sind schwerlich zu überschätzen, sie werden die gesamte Romantikforschung und selbst die benachbarte Goetheforschung beeinflussen" (in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 8, 1967, S. 347). Dieses hellsichtige Wort hat sich bestätigt. In einem kürzlich vorgelegten forschungsgeschichtlichen Werk von H. Uerlings wird daher mit Recht vermerkt: „Die Textgrundlage hat sich vor allem beim theoretischen Werk Hardenbergs mit der Historisch-kritischen Edition in den sechziger Jahren so grundlegend gewandelt, daß früher erschienene Arbeiten nur noch von begrenztem Wert sind" (Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. Werk und Forschung. Stuttgart 1991, S. 105). Heute ist die Ausgabe mit dem 5. Registerband (1988) vorläufig abgeschlossen; es steht allerdings noch ein 6. Ergänzungsband aus, der den vollständigen dichterischen Jugendnachlaß nach den von mir in Krakau entdeckten Handschriften und weitere, neu aufgetauchte Schriften aus der Berufstätigkeit enthalten wird. Wenn somit auch die im Anhang des vorliegenden Buches mitgeteilten Jugendgedichte Hardenbergs in den nächsten Jahren in einer textkritisch genaueren, erstmals wieder an den Handschriften überprüften Gestalt vorgelegt werden, so bleibt doch festzuhalten, daß im übrigen wichtige, aus den neuen Handschriften der historisch-kritischen Ausgabe gewonnene Einsichten schon während der Editionsarbeit in mein Buch eingegangen sind, wenn auch sicherlich, wie der Fortgang der Forschung bezeugt, nur in den damals möglichen und durch das Thema meiner Arbeit abgesteckten Grenzen. Wesentlich neue Erkenntnisse haben seither vor allem die historisch orientierten und auf die transzendentalphilosophischen Grundlagen des Werkes eingehenden Arbeiten von M. Frank (1972 ff.), H. Kurzke (1983), G. v. Molnár (1987), J. Neubauer (1971 ff.) und F. Strack (1982) erbracht. Skeptisch stehe ich dagegen den vielfach unternommenen Versuchen gegenüber, Novalis als Vorläufer postmoderner Theorien und poststrukturalistischer Verfahrensweisen einzuordnen und für einen gegenwärtigen Trend der Wis-

Vili

Vorwort zur zweiten unveränderten Auflage

senschaft in Anspruch zu nehmen. Besonders nachdrücklich sei hier aber auf die schon genannte Habilitationsschrift von H. Uerlings (1991) hingewiesen, in der die gesamte Novalis-Forschung bis 1990 einer kritischen Durchsicht unterzogen wird und die mir damit einen eingehenderen Bericht erspart: aus diesem souverän konzipierten, in seinem Urteil durchweg sehr sicheren forschungsgeschichtlichen Werk kann sich der Leser detailliert auch über den Fortgang der Novalis-Forschung seit 1965 informieren und aus der beigefügten Bibliographie die kaum noch überschaubare Flut an Publikationen entnehmen, die seither dem Frühromantiker gewidmet worden sind, gerade auch im angelsächsischen und französischen Sprachraum. Ein ähnlicher, aber noch auffälligerer Aufschwung ist für die Utopie-Forschung der 70er und 80er Jahre zu verzeichnen. Als ich mein Buch schrieb, war das Thema noch neu und sollte, wie ich damals glaubte, erst noch an Aktualität gewinnen. Markantestes Beispiel für diese mittlerweile eingetretene Aktualität sind die drei umfangreichen Bände, die aus der Arbeit einer Bielefelder Forschungsgruppe hervorgegangen sind: W. Voßkamp (Hrsg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Bd. 1-3, Stuttgart 1982. In den dort gesammelten Beiträgen sind auch zwei Arbeiten von mir enthalten, die unmittelbar an das vorliegende Buch anknüpfen und hier entwickelte Gedanken weiterführen: Der poetische Staat. Utopie und Utopiereflexion bei den Frühromantikern (Bd. 3, S. 273302), und: Die Republik des Diogenes. Utopische Fiktion und Fiktionsironie am Beispiel Wielands (Bd. 3, S. 50-85). Der zuerst genannte Aufsatz ist in gekürzter Form und unter anderem Titel auch in einem leichter zugänglichen und von der Romantik-Forschung eher rezipierten Werk erschienen: Philosophischer Chiliasmus. Zur Utopiereflexion bei den Frühromantikern, in: Die literarische Frühromantik, hrsg. von S. Vietta, Göttingen 1983, S. 149-179. Zur Einordnung des vorliegenden Buches in den heutigen Stand der Utopie-Forschung seien dem Leser vor allem diese beiden Arbeiten empfohlen. Am weitesten vorangeschritten und gegenüber meinem Buch zu neuen Einsichten gelangt ist die Erforschung der Schäferdichtung bzw. der Arkadien-Vorstellung als einer Uberlieferungslinie vom Mittelalter zur Neuzeit, mit der die antike Idee des goldenen Zeitalters vor allem ihren Weg ins 18. Jahrhundert gefunden hat. Sie ist freilich nur bei dem jugendlichen Hardenberg in der Nachahmung zeitgenössischer lyrischer Muster und Vorbilder besonders ausgeprägt. Hier sind vor allem die Arbeiten von K. Garber zu nennen: Der locus amoenus und der locus terribilis. Bild und Funktion der Natur in der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts, Köln-Wien 1974; (Hrsg.), Europäische Bukolik und Georgik. Darmstadt 1976 (= Wege der Forschung 355); Arkadien und Gesellschaft. Skizze zur Sozialgeschichte der Schäferdichtung als utopischer Literaturform Europas, in: Utopieforschung, hrsg. von W. Voßkamp, Stuttgart 1982, Bd. 2, S. 37-81. Von allen Kapitel meines Buches hätte dieses (S. 133-166) am ehesten eine Überarbeitung nahegelegt, auch aufgrund eigener weiterführender Forschungen, die in meine Vorlesungen eingegangen sind; indessen sei die Anknüpfung an mein Buch, die Garber wiederholt hervorgehoben hat, auch im Hinblick auf das Chiliasmus-Kapitel und die aus ihm gewonnenen Anregungen und Impulse, als Ausgleich dafür dankbar vermerkt.

Vorwort zur zweiten unveränderten Auflage

IX

Es bleibt die paradoxe Einsicht gegenüber diesem Neudruck, der Novalis einmal Ausdruck gegeben hat: „Das Neue interressirt weniger, weil man sieht, daß sich aus dem Alten so viel machen läßt" (II, 539). Und es bleibt der Dank an den Verleger, Herrn Robert Harsch-Niemeyer, der diesen Neudruck ermöglicht und mit großem Nachdruck in sein Verlagsprogramm aufgenommen hat. Daß ihm dafür auch die Leser Dank wissen, ist meine Hoffnung. Kiel, im März 1994

Hans-Joachim Mähl

Inhaltsverzeichnis Vorworte

V

Einleitung

1

Erster T e i l : Herkunft und Gesdiichte der Idee des g o l d e n e n Zeitalters seit d e m Altertum I. Kapitel : Die griediisdie Antike

11

1. Die mythische Grundüberlieferung: Hesiods Weltalter-Dichtung

13

2. Die esdiatologisdie Entsprechung: die Vorstellungen vom ,Elysium' und den .Inseln der Seligen'

20

3. Die rationalistische und satirische Zersetzung des Mythos vom goldenen Zeitalter

26

4. Die Vorzeit-Mythen Piatons und die platonische .Utopie'

34

5. Hellenistische Naturverklärung und stoischer Vermittlungsversuch (Poseidonios)

42

II. Kapitel: Die römische Antike

50

1.Die Erneuerung des griechischen Mythos

50

2. Die Wendung vom Mythos zum Symbol: Vergile Arkadien-Vorstellung . . .

58

3. Die esdiatologisdie Wendung: Vergils Verkündigung des goldenen Zeitalters in der vierten Ekloge

69

4. Der neue römische Geschiditsmythos: Vergils .Geórgica* und .Aeneis' . . . .

84

5. Politische Panegyrik und Zersetzung

95

III. Kapitel: Die Arkadien-Vorstellung als erste Überlieferungslinie vom Mittelalter zur Neuzeit

103

1. Die Eklogendiditung des Mittelalters

103

2. Die Erneuerung der Bukolik in der italienischen Renaissance und ihre europäischen Ausstrahlungen

112

3. Die deutsche Schäferdichtung des 17. Jahrhunderts

133

4. Das goldene Zeitalter in der Idyllendichtung und -theorie des 18. Jahrhunderts

145

5. Die Kritik an der Hirtenidylle und die Überwindung der arkadischen Vorstellungsform vom goldenen Zeitalter

166

Inhaltsverzeichnis IV. Kapitel: Der christliche Chiliasmus als zweite Uberlieferungslinie vom Mittelalter zur Neuzeit

XI

187

1. Die jüdische Apokalyptik und die christliche Vorstellungsform des .tausendjährigen Reiches' 2. Der mittelalterliche Chiliasmus: das .Dritte Reich' Joachims von Fiore . . . .

202

3. Die Weltkaiser-Prophetie des Mittelalters und ihr Nachklang in der deutschen Kaisersage 213 4. Der pietistische Chiliasmus des 18. Jahrhunderts und seine Beziehung zur .güldenen Zeit'

232

5. Der philosophische Chiliasmus: Lessing und die Romantiker

245

Z w e i t e r T e i l : D i e I d e e des g o l d e n e n Zeitalters im W e r k des N o v a l i s I. Kapitel: Die Frühzeit H a r d e n b e r g s und die Auseinandersetzung mit H e m sterhuis und Fichte

255

1. Die frühen Gedichte und Entwürfe 1788-1792

255

2. Hemsterhuis und Fichte

266

3. Die Idee des goldenen Zeitalters und des tausendjährigen Reiches in den philosophischen Studienheften von 1795-1797 287 4. Das Sophien-Erlebnis: Die „Wendung" von der Jenseitshoffnung zur Diesseitsverwirklidiung 297 II. Kapitel: Das goldene Zeitalter als „Vergangenheit" u n d als „Zukunft". Das Geschichtsverständnis des Novalis 305 1. Die triadisdie Grundfigur der Geschichte und ihre Abspiegelung in der Dichtung 305 2. Das goldene Zeitalter als „Vergangenheit" (der Wedisel der Vorstellungsformen und die Transparenz des zugrundeliegenden Zeitsdiemas)

310

3. „Erinnerung" und „Ahndung" als Element des Dichters (die mystische Grundintention im Gesdiichtsverständnis des Novalis)

314

4. Der Krieg als „poetische" Gesdiiditskategorie

320

5. Das goldene Zeitalter als „Zukunft" (der Wedisel der Vorstellungsformen und die Transparenz des zugrundeliegenden Zeitsdiemas)

322

III. Kapitel: Das goldene Zeitalter als poetisches „Postulat" u n d als „Approximationsprinzip". Die Besonnenheit als G r u n d z u g im Denken des Novalis 329 1. Erstes Paradigma: Der ewige Frieden im Reiche der Mensdien (die Idee der „Monarchie")

330

XII

Inhaltsverzeichnis

2. Die Wirksamkeit des Postulates und die „Philosophie dieser Aufgaben" in den Fragmenten von 1798/99

340

3. Zweites Paradigma: Der ewige Frieden im Reiche des Wissens (die Idee der „Enzyklopädie")

349

IV. Kapitel: D a s „Gegenwärtigmachen des Niditgegenwärtigen" als A u f t r a g des Dichters

354

1.Das goldene Zeitalter als Einheit des Menschen mit der Natur (,Die Lehrlinge zu Sais')

354

2. Die Gestalt des „Kindes" als Repräsentation des goldenen Zeitalters

362

. . . .

V. Kapitel: D i e religiöse Vorstellungsform des g o l d e n e n Zeitalters

372

1.Die Idee des tausendjährigen Reiches und des neuen Jerusalem (Paradigma: ,Die Christenheit oder Europa')

372

2. Die Gescbiditsmythologie der .Hymnen an die Nacht' und die mystische Gegenwärtigkeitserfahrung des Dichters

385

VI. Kapitel: D i e poetische Vorstellungsform des g o l d e n e n Zeitalters (.Heinrich von Ofterdingen')

397

1. Die Weltmission der Poesie

397

2. Die Auflösung der Zeit- und Raumstruktur: Der W e g des Dichters in das Reich der Poesie

406

3. Das Zielbild des goldenen Zeitalters: Die „Herstellung der Märchenwelt"

412

.

.

A n h a n g : Unveröffentlichte Jugendlyrik von N o v a l i s

425

Literaturverzeichnis

473

Namenverzeichnis

493

Einleitung In der frühromantisdien Idee des goldenen Zeitalters überschneiden sich eine Reihe von utopischen Motiven und Wunschvorstellungen, die eine Jahrtausende alte geschichtliche Entwicklung durchlaufen haben. Ewige Menschheitsträume leben hier als Bilder und Symbole wieder auf: - so der antike Mythos vom goldenen Zeitalter, der griechischen Ursprungs ist und seiner literarischen Überlieferung nach zuerst bei Hesiod auftaucht, aber im Sagengut fast aller Völker und Kulturkreise eine Entsprechung findet; - die Erwartung eines tausendjährigen Reiches in der jüdisch-apokalyptischen und christlichen Tradition, die den Glauben an ein kommendes goldenes Zeitalter als Wiederkehr der paradiesischen Urzeit allererst geweckt und die abendländische Geschichtsdeutung aufs tiefste beeinflußt hat; - die arkadische Wunschlandschaft der Hirten- und Schäferdichtung, die, auf Vergils Eklogen zurückgehend, seit der europäischen Renaissance die dichterische Vorstellungsform eines goldenen Zeitalters für Jahrhunderte fast ausschließlich bestimmt und in sich festgebannt hat; - die Idee einer Weltmonarchie und eines ewigen Weltfriedens, die seit der Verherrlichung des augusteischen Weltreiches in der klassischen römischen Dichtung ihren W e g durch die politische Ideengeschichte der Neuzeit angetreten, namentlich aber im Mittelalter, im Kampfe zwischen Sacerdotium und Imperium, die staufische Kaiserprophetie und -sage beherrscht hat; die Idee eines besten Staates, die, ebenfalls auf die griechische und römische Antike zurückführend, mit den neuzeitlichen Staatsentwürfen eines Thomas Morus, Campanella und Andreae die literarische Gattungsgeschichte der Utopie im engeren Sinne eröffnet und zunächst auf den,Staatsroman' festgelegt hat. Diese fünf großen Überlieferungslinien des utopischen Denkens und Dichtens im Abendland, deren gesonderte Betrachtung nicht darüber hinwegtäuschen darf, daß sie in vielfältigen inneren Entsprechungen zueinander stehen und in ständigen äußeren Berührungen ihren geschichtlichen W e g zurückgelegt haben - vereinigt und übergriffen von der ihnen allen gemeinsamen Vorstellung eines in räumlicher oder zeitlicher Ferne gespiegelten Idealzustandes der Menschheit - , treten im Werk des Novalis zusammen und werden hier in eigentümlich gewandelter Funktion als Fermente seines philosophisch-poetischen Weltbildes wirksam. Es ist von besonderem Reiz zu beobachten, wie der Dichter sich in den meisten Fällen bewußt der alten mythischen Wunschbilder und geschichtlichen Heilserwartungen bemächtigt hat, um in der lebendigen Gestalten- und Symbolwelt des dichterischen Werkes sein metaphysisches Grunderlebnis einer geheimen, innerlich erfahrenen Harmonie von Mensch, Natur und Gott ausformen zu können. Im ersten Teil dieser Arbeit wird daher der Versuch unternommen, in einigen Umrissen den Weg nachzuzeichnen, den die genannten utopischen Vorstellungen und traditionellen Bildmotive durch die Jahrhunderte genommen haben. Dabei erfordert der Sammelbegriff der „Utopie", der erst spät aus dem klassischen Werk 1

Mähl, Die Idee des goldenen Zeitalters

2

Einleitung

des Thomas Morus abgeleitet worden ist1, eine vorläufige Klärung. Bezeichnet der Name ursprünglich, seinem griechischen Wortsinn nach, nur dasjenige, was keinen Ort in der Wirklichkeit hat, d. h. ein Idealbild, das die vorhandene raum-zeitliche Wirklichkeit transzendiert und das daher in einem fiktiven Raum oder in einer fiktiven Zeit angesiedelt wird ( „ N i r g e n d l a n d „ N i r g e n d h e i m " ) , so hat sich aus der Gleichsetzung, wie sie schon im Titel des richtungweisenden Utopia-Romans der Renaissance zum Ausdruck kommt, die spätere, seit dem 19. Jahrhundert übliche Kennzeichnung der Utopie als einer Fiktion des besten Staates ergeben, die sich als primäres Begriffsmerkmal durchsetzt, während die ursprüngliche Wortbedeutung zurücktritt („Utopia" = „bester Staat"). Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird der Begriff über die bestimmte Gattung von Staatsschriften und -romanen hinaus auf alle illusionären und unerfüllbaren Wunschbilder ausgedehnt, so daß er nunmehr zwar retrospektiv auch alle älteren, hinter den historischen Ursprungsort des Wortes zurückreichenden Idealvorstellungen erfaßt, zugleich aber einen stark negativen, abschätzigen Wertakzent erhält („Utopia" = „Chimäre") 2 . W i r verwenden den Begriff hier in jener weiteren Bedeutung, die dem ursprünglichen Wortsinn entspricht: er bezeichnet unabhängig von der literarischen Gattungsform des Staatsromans eine allgemeine Denk- und Vorstellungsform, von der allerdings die negative W e r t u n g des 19. Jahrhunderts fernzuhalten ist. „Utopisch" meint somit nidits anderes als eine wiederkehrende, durch literarische Tradition gefestigte und durch übereinstimmende Formmerkmale ausgezeichnete Weise, bestimmte Idealvorstellungen in Wunschräumen oder Wunschzeiten zu lokalisieren, die sich ihrem Wesen nach der Wirklichkeit, d. h. den empirischen Raum- und Zeitmaßstäben entziehen, ja, deren Überwindung bewußt anstreben 3 . Da diese bildhafte Vergegenwärtigung eines räumlich nicht vorhandenen oder eines zeitlich nicht mehr bzw. nodi nicht vorhandenen Ideals der Einbildungskraft eine besondere Rolle zuweist, ist der Beitrag, den die Dichtungsgeschidite zur Entwicklung des utopischen Denkens geleistet hat, stärker zu berücksichtigen, als dies bisher geschehen ist; er ist jedenfalls größer, als es eine Betrachtung der Staatsschriften in der Nachfolge des Thomas Morus nahelegt. Im Unterschied zur bloßen „Idee" einer vollkommenen Welt oder eines vollkommenen Staates gehört es zum Wesen der Utopie, das Ideal auszu-

1 Libellus vere aureus nec minus salutaris quam festiuus De optimo reipublicae statu deque noua Insula Vtopia (Löwen 1516; Paris 1517; Basel 1518). 2 Vgl. R. FALKE, Utopie - logische Konstruktion und diimère. Ein Begriffswandel. In: GRM, NF. 6, 1956, S. 76 ff. Zur Begriffsbestimmung sei ferner auf folgende Arbeiten verwiesen: H. FREYER, Das Problem der Utopie. In: Deutsche Rundschau 183, 1920, S. 321 ff.; E. BLIESENER, Zum Begriff der Utopie. Diss. (Masdi.), Frankfurt a. M. 1950; R. RUYER, L'Utopie et les utopies. Paris 1950; E. JACKEL, Utopia und Utopie. Zum Ursprung eines Begriffs. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 7. Jg. 1956, S. 6 5 5 ff. 3 Vgl. A. DOREN, Wunschräume und Wunschzeiten. Vorträge der Bibliothek Warburg, hg. von F. Saxl, 1924-1925. Leipzig-Berlin 1927, S. 158 ff. - Da die Utopie keine literarische Gattung im strengen Sinne bildet und sich lediglich utopische Denk- und Vorstcllungsformen z. B. innerhalb der Schäferdichtung oder der Idylle, der Elegie, des Märchens, des Romans oder der Robinsonade näher umschreiben lassen, ist der Begriff um so brauchbarer definiert, je weiter er gefaßt wird. Eine der besten, da allgemeinsten Definitionen gibt R. RUYER am Beginn seines genannten Werkes (a. a. 0 . S. 3:„Une utopie est la description d'un monde imaginaire, en dehors de notre espace ou de notre temps, ou en tous cas, de l'espace et du temps historiques et géographiques. C'est la description d'un monde constitué sur des principes différents de ceux qui sont à l'oeuvre dans le monde réel").

Einleitung

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malen, d. h. in Bildern zu vergegenwärtigen - das der Wirklidikeit entzogene Wunsdibild in einer ästhetischen Sphäre Realität gewinnen zu lassen 4 . Daraus ergeben sich mehrere Folgerungen. Zunächst darf diese ästhetische Sphäre nicht auf ein bestimmtes literarisches Einkleidungsmotiv festgelegt werden, wie dies bei der Gattung des Staatsromans gesdiehen ist, der zumeist das Inselmotiv verwendet, um in einem fiktiven Wunschraum abseits der realen Geschichte die idealen Bedingungen für eine logische Konstruktion des vollkommenen Staatsgebildes zu gewinnen 5 . Es müssen vielmehr in die Begriffsbestimmung der Utopie alle jene Möglichkeiten einer zeitlichen Projektion aufgenommen werden, die in den Vorstellungen eines vergangenen goldenen Zeitalters oder eines kommenden tausendjährigen Reiches ihre traditionelle Ausprägung erhalten haben. Die Dimension der Zeit ist hier von entscheidender Bedeutung; denn im Gegensatz zur Wunschraum Vorstellung, in der die Geschichte gleichsam ignoriert und nicht nur die Gegenwart, sondern audi die geschichtlidien Ursprünge und Bedingungen des gegenwärtigen Menschheitszustandes verlassen werden, ist die Wunschzeitvorstellung immer geschichtsbezogen, enthält in dem Bilde des vergangenen oder zukünftigen Ideals immer zugleich eine Aussage über Ursprung, W e g und Ziel der Geschichte. Aus dem Leiden an der Gegenwart und aus dem Versuch einer Sinndeutung der Geschichte geht bereits der antike Mythos vom goldenen Zeitalter hervor, dem Hesiod die älteste, literarisch faßbare Form gegeben hat. - Weiterhin aber ist von der näheren Betrachtung und Untersuchung der Utopien jede negative Bewertung des imaginären oder illusionären Wunschbildes fernzuhalten - da alle Dichtung, wenn man die Konsequenzen zuende denkt, unter dieses Verdikt fallen müßte: als Fiktion, als Schein, als Flucht aus der empirischen in eine ästhetische Realität, die auch hier als eine Aufhebung oder gar Überwindung jener vorgegebenen Wirklidikeit angesehen werden kann·. 4 Wenn H. F R E Y E R ZU Vairasses .Histoire des Sevarambes' (1677) bemerkt: „An Stelle des politischen Willens, sie (die Utopie) zu verwirklichen, tritt der diditerisdie Wille, ihr ästhetische Realität zu geben", so gibt er damit gerade ein primäres Wesensmerkmal der literarischen Utopie an, während der politische Wille zur Verwirklichung als sekundär hinzutreten kann (Die politische Insel. Eine Geschichte der Utopien von Piaton bis zur Gegenwart. Leipzig 1936, S. 131). Dies ist auch gegen das soziologisch orientierte Blickfeld K . M A N N H E I M S einzuwenden, der in einer allerdings deflatorisch gemeinten Vorentscheidung die Verwirklichung oder den Willen zur Verwirklichung als Kriterium der Utopie anspricht (Ideologie und Utopie. 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1952, S. 169 ff.). Vgl. dagegen P . T I L L I C H S Kennzeichnung der absoluten, prinzipiell unverwirklichbaren Utopie (Politische Bedeutung der Utopie im Leben der Völker. Berlin 1951, S. 37 ff.). 5 Vgl. H. FREYER, Die politische Insel, a . a . O . S. 31 ff. u. 80 ff. - Aus der fast unübersehbaren Literatur zum utopischen Staatsroman, der außerhalb des Blickfeldes dieser Arbeit liegt, sei lediglich eine reichhaltige Auswahl-Bibliographie genannt: R. FALKE, Versuch einer Bibliographie der Utopien. In: Romanistisches Jahrbuch, Bd. VI, Hamburg 1953/54, S. 92 ff. 6 D a f ü r lassen sich vielfach Äußerungen moderner Autoren heranziehen, die den Blick für diese utopische Grundintention der Dichtung geweckt haben und die sich damit in einer auffallenden Entsprechung zu den poetologischen Gedankengängen des Novalis befinden. Vgl. etwa R O B E R T M U S I L , Der Mann ohne Eigenschaften. Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hg. von A. Frisé, Hamburg 1952, S. 16 f., 258, 1170, 1568 u. a.; Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden. Hamburg 1955, S. 672 u. 809/10: „Die Dichtung hat niAt die Aufgabe, das zu schildern, was ist, sondern das, was sein soll; oder das, was sein könnte, als eine Teillösung dessen, was sein soll". Ähnliches gilt von H O F M A N N S T H A L , der sich in den Fortsetzungsfragmenten seines Romans .Andreas oder die Vereinigten', übrigens untermischt mit wörtlichen Novalis-Zitaten, den Kernsatz notiert: „Poesie als Gegenwart. Das mystische Element der Poesie: die Überwindung der Zeit" (H. v. H O F M A N N S T H A L , Die Erzählungen. Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hg. von H. Steiner, Frankfurt a. M. 1953, S. 201). Vgl. dazu unsere Arbeit, S. 410 f.

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Die Simultaneität und Ubiquität des dichterischen Selbstbewußtseins läßt sich geradezu als die Urform und Urbedingung aller Utopien bestimmen 7 . - Und schließlich wird daraus deutlidi, daß der heute so fragwürdig gewordene Begriff der ,Ideengeschichte' in dieser Arbeit zwar aufgenommen wird, aber in einer sehr besonderen Weise verstanden werden will. Die „Idee" des goldenen Zeitalters ist sdion dort, wo sie im Bereidi der antiken Geistesgeschichte auftaucht und in ihren versdiiedenen Ausprägungen als Mythos, als philosophischer Gedanke und als dichterisches Symbol betrachtet werden kann, niemals bloßer Begriff, sondern immer zugleich auch Bild. An ihr hat nicht nur eine Geschichte des menschlichen Denkens, sondern ebensosehr eine Geschichte des menschlichen Fühlens, Vorstellens und Bildens Anteil. Das .Ideelle' ist hier immer zugleich das Ideale im Sinne einer konkreten, in Bildern ausgeformten und vergegenwärtigten Wunschvorstellung. Soweit wir also die Dichtungsgeschichte betrachten, um den Wandel der utopischen Ideen und traditionellen Bildmotive zu verfolgen, bedeutet dies keine Reduzierung der dichterischen Werke auf ihren .ideellen' Gehalt, sondern führt zu einer Untersuchung, die einer gerade in der Kritik an der älteren Ideengeschichte aufgeworfenen Frage begegnet: der Frage nämlich, „wie Ideen wirklich in die Literatur eingehen", d . h . über das Rohmaterial des Gedankens hinaus künstlerisch integriert werden können 8 . Handelt es sich hier doch von Anfang an um literarisch geformte, in der Dichtung aller Zeiten und Völker fortwirkende Ideen, die zwar in einen historischen Zusammenhang gebracht und in ihrem Funktionswandel untersucht werden sollen, deren utopischer Charakter aber per definitionem die Nähe zum Dichterischen wahrt und die gefährliche Abstraktion einer blutleeren und häufig konstruktiven Ideengeschichte aufzugeben zwingt·. Eine Nachzeichnung dieses historischen Zusammenhanges stößt naturgemäß auf methodische Schwierigkeiten. Zunächst in stofflicher Hinsicht, da unsere Untersuchung die benachbarten Forschungsbereiche der klassischen Altertumswissenschaften, der Orientalistik und der Religions- und Kirchengeschichte in die eigentlich literarhistorische Fragestellung einbeziehen muß, soweit das, zumindest unter Benutzung der bisher vorliegenden Forschungsergebnisse, möglich ist. Dann aber audi in formaler Hinsicht, da die beabsichtigte Darstellung der ideengeschichtlichen Überlieferungslinien infolge ihrer ständigen Überschneidungen und wechselseitigen Beeinflussung derart erschwert wird, daß nur durch die vereinfachende Herauslösung

7 Etwa im Sinne des Novalis: II, 35, N r . 109; III, 159/60, Nr. 542; III, 254, Nr. 998; III, 287, Nr. 38; III, 318, Nr. 250; III, 349, Nr. 443. 8 R. WELLEK/A. WARREN, Theorie der Literatur. Aus dem Englischen übertragen von E. u. M. Lohner. Bad Homburg v. d. H. 1959, S. 137. • Der G e f a h r einer solchen Konstruktion ideeller Zusammenhänge beugt bereits E. NORDEN vor, wenn er in seinem audi f ü r unsere Untersuchung bedeutsamen Werk ,Die Geburt des Kindes. Gesdiichte einer religiösen Idee' (Studien der Bibliothek Warburg, Bd. III, Leipzig-Berlin 1924) eine „Kontrolle der Ideengeschichte durch die Formengesdiichte" fordert und hinzufügt: „Bei der Ideengeschidite sind wir, wenn wir unser Augenmerk nur auf den Gehalt riditen, leicht der G e f a h r unterworfen, uns durch Konvergenz des Gleichartigen geschichtlichen Zusammenhang nur vorzutäuschen, also Genealogie zu treiben, wo es sich nur um Analogie handelt . . . Die Wiederkehr gleicher oder unbedeutend abgewandelter und angepaßter Formeln pflegt wirkliche Kontinuität zu verbürgen, da bei ihnen . . . die Wahrscheinlichkeit einer sich wiederholenden Urzeugung, .spontanen' Entstehens ganz gering ist" (a. a. 0 . S. 165).

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einzelner Probleme oder Problemketten Klarheit und Übersichtlichkeit erzielt werden kann. Es wird daher nicht der Anspruch erhoben, mit den folgenden Kapiteln des ersten Hauptteils eine vollständige .Geschichte' der Idee vom goldenen Zeitalter mit allen religionsgeschichtlichen Parallelvorstellungen darbieten zu können. Was geleistet werden kann, das ist, bescheidener formuliert, ein Hintergrundsbild, das den geistesgeschichtlichen Horizont unserer Untersuchung umrißhaft andeutet und dessen einzelne Motive jeweils am geeigneten Ort aufgenommen werden können, um zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie im Werk des Novalis beizutragen. Perspektivisch vertieft wird dieser Grundriß freilich durch die bibliographischen Angaben, die aus umfänglichen Studien zusammengestellt wurden und die - indem sie dem Leser ein weiteres Nachgehen und Verfolgen der hier nur angeschnittenen Fragen ermöglichen - den Stand der jeweils in Anspruch genommenen Spezialforschung einigermaßen vollständig spiegeln mögen. Das Thema unserer Untersuchung ist audi speziell für Novalis nodi nicht behandelt worden. Im erweiterten Rahmen hat es lediglich Julius Petersen 1926 in seinem Aufsatz ,Das goldene Zeitalter bei den deutschen Romantikern' 10 aufgegriffen. Er vermittelt ein anschauliches Bild der philosophischen und literarischen Zeitströmungen, das die Bedeutung der Idee des goldenen Zeitalters für die Romantik überhaupt und ihre charakteristische Ausbildung bei den einzelnen Vertretern erstmals im vollen Umfang beleuchtet. Es wird aber audi aus dem Zusammenhang einer solchen, notwendig summarisch verfahrenden Überschau deutlich, wie wenig angesichts der unentwirrbaren, einer allgemeinen Disposition des ausgehenden 18. Jahrhunderts entstammenden Übereinstimmung der Gedanken und ideellen Impulse auf diesem Gebiete mit komplizierten Einflußuntersudiungen und -theorien zu leisten ist. Es gilt hier das gleiche Prinzip, das sich vor allem audi bei der Aufnahme der alten utopischen Wunschvorstellungen und Bildmotive durch Novalis bewähren wird: daß es nämlich verfehlt wäre, komplexe Gestaltungs- und Stilphänomene auf ein außerhalb ihrer selbst liegendes Zentrum (z. B. ein historisches Herkunftsfeld) zurückzuführen. In diesem „exzentrischen" Verfahren, dem die Romantik-Forsdiung mit ihren Einflußtheorien immer wieder verfallen ist, wird die Aufgabe versäumt, das eigenste und unverwechselbare Strukturgesetz aufzudecken, das allererst den gewachsenen, aus einer Mitte begründeten und alles Fremde sich mühelos assimilierenden Sinnzusammenhang des dichterischen Werkes erkennen läßt. Zu dieser Aufgabe aber kann das geistesgeschiditlidie Blickfeld beitragen, wenn es nicht als ein Aufspüren und Nachweisen von „Einflüssen" verstanden wird, sondern an den überlieferten, ideellen Voraussetzungen gerade das schöpferische Eigengesetz eines Dichters vergleichend erschließt und über die bloße Statistik der traditionellen Bilder und Motive hinaus ihren eigentümlichen Stellenwert innerhalb des betrachteten Werkes auslotet, der das Altüberkommene mit neuem Sinn und neuer, früher nicht geahnter Leuchtkraft begabt 11 . In dieser Hinsicht muß dann allerdings auch die „Ge10 Die Ernte, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft (Franz Muncker zu seinem 70. Geburtstage), Halle/S. 1926, S. 117 ff. 11 Es versteht sich, daß damit die Topos-Forsdiung, wie sie von E. R. CURTIUS angeregt worden ist und auch uns durdi den Gegenstand unserer Untersuchung nahegelegt wird, nicht in der von Curtius

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sdiiditlidikeit" der Dichtung gegenüber neueren Interpretationstendenzen hervorgehoben und bejaht werden. Es schmälert nicht - um ein einziges Beispiel zu nennen - das Eigenrecht der Dichtung, wenn in Novalis' .Hymnen an die Nacht' das größte und kühnste Symbol des Dichters, das zu den rätselhaftesten Zügen dieses rätselhaften Werkes gehört, die „Sonne der Nacht" (I, 56), auf eine uralte chiliastische Tradition zurückgeführt wird und sich als bewußter Rückgriff des Dichters auf diese Tradition darbietet; es kann im Gegenteil unser Verstehen des Werkes nicht nur vertiefen, sondern allererst ermöglichen, wenn statt der gewagten Spekulationen über ein solches dichterisches Symbol - in denen sich weniger das Eigenrecht der Dichtung als das Eigenrecht der Interpreten behauptet und im intellektuellen Spiel mit der Dichtung auch behaupten will - die geschichtliche Tiefendimension erfaßt und behutsam gedeutet wird, in der sich Aneignung und schöpferische Umwandlung vollzogen haben. Es wird sich ferner - soviel sei zur Absicht und Zielsetzung des zweiten H a u p t teils gesagt - als methodisch notwendig erweisen, die Idee des goldenen Zeitalters im W e r k des Novalis nach ihren wechselnden „Vorstellungsformen" zu differenzieren. N u r dadurch ist es möglich, die vielfältigen und scheinbar widersprüchlichen Perspektiven, unter denen Novalis seiner alles umfassenden Einheitssehnsucht und -gewißheit Ausdruck verleihen kann, klar voneinander zu sondern und sie auf den gemeinsamen Fluchtpunkt zurückzuführen, der in der einmaligen dichterischen Existenz verankert liegt. (Daher auch das Biographische gerade bei Novalis nie ganz aus den Augen verloren werden darf und zur Erhellung des Werkes beitragen kann.) D a ß diese Differenzierung bisher in der Forschung nicht eindeutig durchgeführt worden ist, hat zu Verzeichnungen des Novalis-Bildes geführt, da unter Hervorhebung eines Aspektes nicht das eigentümliche Ganze seines Weltbildes wie seiner Gestaltungsweise ins Blickfeld gelangen konnte. Wenn ζ. B. Julius Petersen von der „fliegenden Ungeduld des todgezeichneten Hektikers" spricht, dem „weder die prophetische Gewißheit zukünftiger Erfüllung nodi das langsame Ansetzen zu einem allmählichen Erziehungswerk" genügen könne, da allem dem die Zeit im Wege sei12, so muß diese Auffassung von unserer Untersuchung her eine Korrektur erfahren, da auch das „Gegenwärtigmachen des Nichtgegenwärtigen" durch die „Wunderkraft der Fiktion" (III, 150) im Sinne des Novalis durchaus Teil jenes Erziehungsprozesses sein soll, an dessen empirisdi-gesdiiditlidiem Fortschreiten er trotz aller leidenschaftlichen Verkündigung seiner Postulate festhält. Wenn auf der anderen Seite etwa K. J. Obenauer als Vertreter einer älteren Forsdiungsriditung von der „flüssigen Allbildsamkeit", von der durch „Sehnsucht nach dem Zerfließen" gekennzeichneten Seele des Novalis spricht, die, „bis zu einer nirgends festzuhaltenden Flüchtigkeit des Wesens" gesteigert, auf der ständigen Suche nach dem „Gestaltlosen", dem Meer der Unendlichkeit sei 1 ', so wird unsere Untersuchung zeigen, daß diese mystische Auflösungstendenz nur die erste Stufe eines Erlösungsvorganges bezeichnet, der in der Heraufführung des goldenen Zeitalters auf eine neue, poetische Weltschöpfung abzielt - ja, daß man mit dem gleichen Recht, wie gerade die Aufnahme und Anverwandlung der alten utopischen Wunschbilder und mythischen gehandhabten Weise vertreten werden soll. Vgl. E. R. CURTIUS, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 2. Aufl., Bern 1954, sowie die kritisdien Anmerkungen K. 0 . CONRADYS zur „historischen Topik", die hier als eine Stimme unter vielen anderen angeführt seien: Die Erforschung der neulateinischen Literatur. Probleme und Aufgaben. In: Euphorion 49, 1955, S. 418 ff. (bes. S. 421). 12 Das goldene Zeitalter bei den deutschen Romantikern, a. a. 0 . S. 150. 1S Hölderlin/Novalis. Gesammelte Studien. J e n a 1925, S. 112 ff.

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Heilssymbole erweisen wird, von einer ständigen Suche nach dem „Gestalteten" spredien könnte, die der künstlerischen Sehnsucht Hardenbergs zugeordnet werden muß. Wenn schließlich Richard Samuel in seiner auch heute noch grundlegenden Arbeit von einem „Umschwung der Weltanschauung" bei Novalis spricht, durch den das Ideal des goldenen Zeitalters als unendliche Aufgabe und „ Approximationsprinzip " (III, 106) zu einem innerhalb der Geschichte sich verwirklichenden, in naher Zukunft erwarteten Zielbild umgeformt werde 14 , so verkennt er damit das eigentliche Problem, verkennt vor allem, daß neben der dichterischen Verkündigung nach wie vor die gedanklichen Reflexionen über die unendliche Annäherung an das geforderte Idealziel stehen und daß sich die zeitlichen Perspektiven in seinem Werk überlagern, statt sich abzulösen. Immer handelt es sich dabei um Urteile, die einen, an sich berechtigten Aspekt des Hardenbergschen Denkens hervorheben, ihn aber nicht im Zusammenhange des Gesamtwerkes betrachten und einordnen, so daß das eigentliche Geheimnis dieses genialsten Vertreters der Frühromantik, das Ineinander (und scheinbare Nebeneinander) seiner mystisch-zeitlosen Erfahrung einer „höheren Welt" und seiner geschiditsphilosophischen Zukunftserwartung eines „goldenen Zeitalters", nicht erhellt wird. Es gibt in der abendländischen Geistesgeschichte einen Vorgang, der dieses Schlüsselgeheimnis des Novalis (wie seines dichterischen Werkes) zumindest andeutungsweise begreiflich machen kann. Ernst Benz hat in seinen Nachforschungen zur Geschichtstheologie Joachims von Fiore und der Franziskaner-Spiritualen darauf aufmerksam gemacht, daß der Grundvorgang hier in einer Erhebung des mystischen Gedankens der Wiedergeburt zu einem Geschichtsprinzip gesehen werden muß: „Der Gedanke der Wiedergeburt wird von seiner seit Johannes festgelegten ungeschichtlichen Konzeption befreit, die in der Wiedergeburt den gesdiiditslosen Akt der Erneuerung des Menschen sieht, und wird zur Geschichtskategorie erhoben . . ,"15. „Was also der Mystik als der zeitlose Akt der Einigung, Vergeistigung und Vergottung erscheint, ist bei Joachim auf Grund der geschichtlichen Konzeption seines Geistgedankens als das geschichtliche Ziel der Zukunft und als zukünftige Erfüllung einer Endzeit-Verheißung gedacht . . . Die Verwandlung . . . meint nicht einen jederzeit erlebbaren Akt, sondern einen zeitbestimmten Vorgang in der Heilsgeschichte . . ." le . W i r werden sehen, daß dieses doppelte Verständnis der „Wiedergeburt" als eines zeitlos-mystischen Aktes und als einer endzeitlichen Geschichtskategorie ein wesentliches Problem für die Interpretation der Vorstellung vom goldenen Zeitalter bei Novalis darstellt, und wir werden die Auflösung dieses Problems im Rahmen unserer Untersuchung anzudeuten versuchen. Damit wird sowohl das Geschichtsverständnis des Dichters wie die Besonderheit seiner mystischen Erfahrung, die auf alle, audi die empirischen Denkbereiche übergreift, in eine neuartige und, wie wir glauben, für die Interpretation seines Werkes aufschlußreiche Beleuchtung treten. Es bedarf nach dem Vorausgegangenen keiner ausführlichen Begründung, daß audi die Form- und Stilinterpretation in unsere Untersuchung einbezogen wird. D i e „Idee" der goldenen Zeit ist gerade bei Novalis eine gestaltete, eine künstlerisch 14 Die poetische Staats- und Geschichtsauffassung Fr. v. Hardenbergs (Novalis). Deutsche Forschungen, H. 12. Frankfurt a. M. 1925, S. 56/96/169/296. 15 E. BENZ, Die Kategorien des esdiatologisdien Zeitbewußtseins. Studien zur Gesdiiditstheologie der Franziskanerspiritualen. In: DVjs. 11, 1933, S. 213. 16 E. BENZ, Ecclesia Spiritualis. Kirdienidee und Gesdiiditstheologie der Franziskanischen Reformation. Stuttgart 1934, S. 26.

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dargestellte Utopie, die sich nicht auf einen philosophischen Gedankengehalt abstrahieren läßt, ohne daß man zugleich entscheidende Strukturzüge aus den Augen verlieren muß. Das gilt für die „poetische" Philosophie der Fragmente wie für die Dichtung. Man hat in der Novalis-Forschung bisher allzusehr auf das Weltbild, statt auf die Gestaltungsweise gesehen; obwohl in dieser allein ein dichterisches Weltbild vollständig erfaßt und interpretiert werden kann. Bestimmte Formelemente, welche die „Idee" des goldenen Zeitalters bei Novalis prägen und in seinem Darstellungsverfahren zum Ausdruck kommen - beispielsweise in seiner „Tropen- und Rätselsprache" (II, 47) oder in seinem „kategorischen" Sprechstil (III, 193), über den er 1798/99 ausführliche Betrachtungen anstellt - , gehören untrennbar zum Gehalt dieser Idee, nicht im Sinne eines superadditum, sondern sie sind dieser Gehalt, sie stellen seine dichterische Modifizierung und Anverwandlung dar, die berücksichtigt werden muß. Nur so kann auch die Vieldeutigkeit als Stilprinzip verstanden werden, obwohl sie der gedanklichen Interpretation als Ärgernis erscheint und daher immer wieder zu dem abschätzigen Werturteil eines .flüchtigen' und .verantwortungslosen' Denkens bei Novalis geführt hat 17 . 1 7 Vgl. dazu schon W . MÜLLER-SEIDEL, Probleme neuerer Novalis-Forschung. In: G R M , N F . 3, 1958, S. 274 ff. - Novalis wird hier wie im Folgenden grundsätzlich nach der älteren Ausgabe Kluckhohns angeführt: Schriften, im Verein mit R. SAMUEL hg. von P. KLUCKHOHN. Nach den Handschriften ergänzte und neugeordnete Ausgabe. Bd. I - I V , Leipzig 1929. Nach der neuen, noch unvollständigen Edition wird nur dort zitiert, wo auf bisher unbekanntes Quellenmaterial oder auf Ergebnisse der Editionsarbeit Bezug genommen wird: Zweite, nadi den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage in vier Bänden und einem Begleitband. Bd. I : Das dichterische Werk, hg. von P.

KLUCKHOHN ( t ) u n d R . SAMUEL u n t e r M i t a r b e i t v o n H .

R I T T E R u n d G . SCHULZ, S t u t t g a r t

1960; Bd.

II:

D a s p h i l o s o p h i s c h e W e r k I, h g . v o n R . SAMUEL in Z u s a m m e n a r b e i t m i t H . - J . MÄHL u n d G . SCHULZ,

Stuttgart 1965. Gelegentliche Abweichungen vom T e x t der älteren Ausgabe beruhen auf einer neuen Lesung der Handschriften und stellen stillschweigende Berichtigungen des Textes dar. Hervorhebungen in den Zitaten stammen grundsätzlich vom Verfasser dieser Arbeit.

ERSTER TEIL

H E R K U N F T U N D G E S C H I C H T E DER IDEE DES G O L D E N E N ZEITALTERS SEIT DEM ALTERTUM

Es wandert eine schöne Sage Wie Veildienduft auf Erden um, Wie sehnend eine Liebesklage Geht sie bei Tag und Nadit herum. Das ist das Lied vom Völkerfrieden Und von der Menschheit letztem Glück, Von goldner Zeit, die einst hienieden, Der Traum als Wahrheit, kehrt zurück. Wo einig alle Völker beten Zum e i n e n König, Gott und Hirt: Von jenem Tag, wo den Propheten Ihr leuchtend Redit gesprochen wird. Gottfried Keller

I. Kapitel

Die griechische Antike

Die Idee eines goldenen Zeitalters ist so alt wie das Geschichtsbewußtsein der abendländischen Menschheit. Ihr erstes Auftaudien im griechischen Altertum, dort, wo die literarische Überlieferung mit Hesiod beginnt, deutet auf wesentlich ältere, volkstümlich verbreitete Mythen und Märdienberichte zurück, die sich mit verwandten Vorstellungen im gesamten indogermanischen Sprachgebiet berühren; der Glaube an eine paradiesische Urzeit ist überdies im Sagengut fast aller Völker und Kulturkreise verankert 1 . Aber ihre eigentümliche, gegenwartskritische Tendenz setzt zweifellos Zustände und Stimmungen voraus, die sich erst in Zeiten vorangeschrittener Kultur und Reflexion entwickeln konnten: Zeiten, in denen sich der Mensch als geschichtliches Wesen, als Gewordenes zu begreifen begann und deshalb, dem Vergangenen nachsinnend, die Gegenwart nicht mehr als unveränderlich-bestimmtes Schicksal hinnahm, sondern an ihren mythisch gedeuteten und verklärten U r sprüngen messen, beurteilen und verwerfen konnte. Dieses frühe Geschichtsbewußtsein und die mythologische Umschreibung der Urerfahrung, daß der erwachende Mensch sich aus dem harmonischen Verbände der Natur herausgerissen fühlt und, zerfallen mit der Umwelt und mit sich selbst, eine Rückkehr in die ursprüngliche Unschuld und Einheit alles Lebens ersehnt, sind die erste Voraussetzung für die allgemeine und weitverzweigte Überlieferung von einem goldenen Zeitalter am Beginn der Menschheitsgeschichte. „Daß die Welt im Argen liege, ist eine Klage, die so alt ist, als die Geschichte, selbst als die noch ältere Dichtkunst, ja gleich alt mit der ältesten unter allen Dichtungen, der Priesterreligion. Alle lassen gleichwohl die Welt vom Guten anfangen: vom goldenen Zeitalter, vom Leben im Paradiese, oder von einem nodi glücklichern in Gemeinschaft mit himmlischen Wesen. Aber dieses Glück lassen sie bald wie einen Traum verschwinden und nun den Verfall ins Böse . . . mit accelerirtem Falle eilen ..."*. 1 Hingewiesen sei hier nur auf die indisdie Lehre von den Weltzeitaltern, auf den eranisdien Mythos vom alten Himmelsgott Yima, auf die semitische Überlieferung vom verlorenen Paradiese, auf die germanische Edda mit ihrer Vorstellung vom „gullaldr" der Götter und ähnliche Oberlieferungen bei den Naturvölkern. Vgl. die im Literaturverzeichnis angeführten Untersuchungen von R. ROTH,

R . R E I T Z E N S T E I N , H . U S E N E R , H . GRESSMANN, A . O L R I K u n d K . SEELIGER. -

Die hier bestehenden

Zu-

sammenhänge sind sdion im 18. Jahrhundert, vor allem durch Herder, erkannt worden und in der romantischen Mythenforschung dann Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses geworden; sdion Friedrich Schlegel bemerkt zu der „merkwürdigen Diditung" Hesiods, daß sie „als Eine der vorzüglichsten Varianten von einer überall verbreiteten Urdiditung der ältesten Überlieferung zu sehr fruchtbaren Vergleichungen Anlaß geben würde" (Fried, v. Sdilegel's sämmtliche Werke. Zweite Original-Ausgabe. Bd. III, W i e n 1846, S. 157). 1 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793); Werke, hg. von A. Messer, Bd. III, S. 27 (Akademie-Ausgabe VI, 19).

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Die griediisdie Antike

Dennoch wird man sagen dürfen, daß erst mit der antiken Idee vom goldenen Zeitalter diese allgemeine, in der Religionsgeschichte aller Völker auftauchende Sage ihren literarisch festgeprägten und f ü r den abendländischen Kulturraum traditionsbestimmenden Ausdrude erfahren hat. Der griechische Geist hat auch hier die mythischen Vorstellungs- und geschichtsphilosophischen Denkformen allererst geschaffen, die in der abendländischen Diditungs- und Geistesgeschichte wirksam werden; durch das Medium des griechischen und römischen Denkens ist alles gegangen, was im Abendlande als lebendige Überlieferung ergriffen, umgeformt, angeeignet wurde®. Unter A u f n a h m e verwandter orientalischer, später christlich-chiliastischer Vorstellungen hat die Idee des goldenen Zeitalters durch zwei Jahrtausende hindurch ihre Wirkungsmacht bewiesen, in ständiger Auseinandersetzung mit dem rationalistischen Denken, aber immer wieder erneuert aus einer ursprünglichen und unzerstörbaren Sehnsucht, die sich, den drückenden Gegensätzen der Gegenwart entfliehend, in eine sagenumwobene Vorzeit der Unschuld, des Friedens und der Götternähe versenkt oder, im schmerzlichen Wissen um diese verlorene Glückseligkeit, ihre Rückkehr und Wiederherstellung am Ende aller Zeiten erhofft. Ursprung und Ziel der Geschichte werden schon in der antiken Überlieferung eng miteinander verknüpft; denn „der bloße Glaube an eine Vergangenheit, da nodi die Mcnsdien durch Unschuld und kindliche Eintracht glücklich waren, könnte uns gar nicht erfreuen, nodi uns zu irgend einem Tröste gereichen, wenn wir nidit tief in unserm Innern die Zukunft audi ahneten, da ein entflohenes schönes Zeitalter mit seinen Tugenden und Freuden zu uns zurückkehren wird. Diese Verbindung ist in sich nothwendig, und Niemand verstände sein Gefühl bei irgend einer frohen und wohlthätigen Erinnerung, der es nicht darin gedeutet hätte . .

Dabei ist es gerade der Raum der Dichtung, der diesem Urverlangen des menschlichen Geistes eine Heimstätte gewährt, da die dichterische Einbildungskraft die Schranken der Empirie, die Schranken der Zeit und des Raumes durchbricht, das mythisch Ferne naherüdkt, das Vergangene oder Zukünftige gegenwärtig macht und damit die der Wirklichkeit ewig entgegengesetzten Wunschbilder in die ästhetische Realität zu überführen vermag. Eine Geschichte dieser klassischen Utopie wäre eine Geschichte des menschlichen Geistes überhaupt, seiner Verwandlungen und Erneuerungen, seiner Enttäuschungen, seiner Resignation und seines ständig wiederholten Aufbruchs - aber zugleich auch ein Abbild der unveränderlichen menschlichen Natur, die unter wechselnden Vorstellungsformen den e i n e n T r a u m des universalen Friedensreiches auf Erden, der Erlösung von Krankheit, Schuld und Tod, des Einklangs aller Lebewesen und der Versöhnung des jetzt Entzweiten träumt. Daher kommt es, daß bei aller eigentümlichen U m p r ä g u n g durch die verschiedenen Zeiten und Völker, Kulturen und

* Der Rekurs auf die Antike wird uns audi innerhalb der literarischen Entwicklung immer wieder begegnen, während die nordische Mythologie, die f ü r die Aufnahme und Anverwandlung der antiken Überlieferung nicht ohne Bedeutung gewesen sein mag, bis zur Romantik hin kaum eine Rolle spielt. 4 August Ludwig Hülsen, Ueber die natürliche Gleichheit der Menschen, in: Athenaeum. Eine Zeitschrift von A. W . Schlegel und F. Schlegel. Zweiten Bandes Erstes Stüdt, Berlin 1799, S. 159.

Hesiods

Weltalter-DiAtung

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Religionen sich formelhaftes Vorstellungsgut, wiederkehrende Bilder und tradierte Geschichtsschemata nirgends stärker erweisen als gerade hier. „Ideale müssen sich gleichen" - dieses Wort des Novalis (II, 60) bestätigt sich dem Historiker, der den geschichtlichen Weg eines uralten Menschheitstraumes durch die Jahrhunderte zu verfolgen sucht. 1. Die mythische Grundüberlieferung: Hesiods Weltalter-Dichtung Die älteste Uberlieferung findet sich im griechisdien Altertum bei Hesiod, in dessen Dichtung .Werke und Tage' der Mythos von fünf großen Weltzeitaltern entfaltet wird. Das goldene Zeitalter unter der Herrsdiaft des alten Götterkönigs Kronos ist hier ein Gegenbild zur Wirklichkeit, zum recht- und friedlosen eisernen Geschlecht, dessen Mühsal und Leiden, Feindschaft und Mißgunst dem grübelnden Dichter aus Böotien eine Sinndeutung abnötigen. Das erste Menschengeschlecht, das die unsterblichen Götter schufen, lebte wie diese sorglosen Sinns, Fern v o n M ü h e n und Leid, und ihnen nahte kein schlimmes Alter, und immer regten sie gleich die H ä n d e und Füsse, Freuten sich an Gelagen, und l e d i g jeglichen Ü b e l s Starben sie, übermannt v o n Schlaf, und alles Gewünsdite H a t t e n sie. Frucht bescherte die nahrungspendende Erde Immer v o n selber, unendlidi und vielfach. Ganz nach G e f a l l e n Schufen sie ruhig ihr W e r k und w a r e n in Fülle gesegnet, Reidi a n H e r d e n und Vieh, geliebt v o n d e n seligen Göttern . . A

Es ist der Mythos, der von hier aus seinen Weg durch die Epochen der abendländischen Geistesgeschichte antritt, dessen einzelne Züge und Bildmotive immer wieder aufgenommen, abgewandelt, erweitert und ausgeschmückt werden: Das Motiv des ewigen Friedens, in welchem es weder Streit nodi Krieg gab, der ewigen Jugend, welche die Mensdien vor Krankheit und Alter bewahrte, des unbekannten Todes, welcher die Mensdien sanft wie im Schlafe überkam, der mütterlich schenkenden Erde, welche freiwillig ihre Früchte und Blumen darbrachte, der Nähe der Götter, welche die Mensdien liebten und mit ihnen verkehrten. Später treten nodi die traditionellen Motive des ewigen Frühlings, in welchem die Unterschiede der Jahreszeiten aufgehoben sind, der Natursprache, welche Mensdien, Tiere und Pflanzen miteinander verband, sowie der Gerechtigkeit ohne Gesetz und Zwang hinzu, welche die Menschen des goldenen Zeitalters vereinte, da ihnen das Recht ins Herz geschrieben war*. Diese Bilder enthalten im Keim alles, was das utopische Denken und 11 Hesiod, Werke und Tage, V. 118-118. Obersetzt von Th. v. Sdieffer, Sammlung Dieteridi, Bd. 38, Leipzig 1938. - Zum griechischen Text vgl. Hesiodi Carmina ree. A. Rzadi. Editio tertia, accedit certamen quod dicitur Homeri et Hesiodi. Leipzig 1913. • Das erste Auftaudien dieser Motive wird in den folgenden Abschnitten angedeutet und weiter verfolgt. Es bedarf keines Hinweises darauf, daß alle diese Topoi im Laufe ihrer Geschichte einem oft aufsdilußreidien Funktionswandel unterworfen sind, der sich besonders deutlich in ihrer frühromantischen Rezeption abzeichnen wird. Bei Novalis sei, dessen ungeachtet, schon hier auf folgende Stellen hingewiesen: 1. Zum Motiv des ewigen Friedens: „. . . aller Krieg . . . ist ein Denkmal der alten trüben Zeit . . ." (I, 217); „ . . . die heilige Zeit des ewigen Friedens . . (II, 84); „. . . die

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Die griechische

Antike

Dichten der Folgezeit in unerschöpflichen Variationen entfaltet hat; es sind die gleichen mythischen Vorstellungen, die Hemsterhuis im 18. Jahrhundert unter ausdrücklichem Hinweis auf Hesiod erneuern und in ihrem tieferen Wahrheitsgehalt erweisen will, die Shaftesbury aufnimmt und die vor allem in die Dichtung der deutschen Klassik und Romantik eingehen: Ein goldenes Zeitalter der kindlichen Menschheit, das man weniger als mythologische Umschreibung einer prähistorischen Entwicklungsstufe denn als Urbild menschlicher Sehnsucht, als zeitlos-gegenwärtiges Ideal einer durch Verstandesreflexion zerfallenen Wirklichkeit gegenüber begreift - eine „ I d e e " also, wie Friedrich Schlegel in seiner Betrachtung Hesiods das erste Weltalter „von einem im Anbeginn der Zeit durchaus schuldlos seligen, noch mit den Göttern vereinten und friedlichen Menschengeschlecht" interpretiert, während in den folgenden, abfallenden Weltaltern „die historische Farbe" nicht zu verkennen sei7. Hesiod dagegen will nichts anderes als einen alten Mythos berichten, der für ihn überlieferte Wahrheit bedeutet und der ihm in einem bestimmten Zusammenhang seines Nachdenkens über die zerrüttete, von Schuld und Ungerechtigkeit erfüllte Gegenwart als wesentliche Erklärung dienen kann. Daß seiner Schilderung des goldenen Weltalters ältere, volkstümliche Sagenvorstellungen zugrundeliegen, darf als Zwietracht erschien nur in den alten Sagen der Dichter, als eine ehmalige Feindin der Menschen . . . " (I, 120); . . . . Aus ist die Zeit der Fehden. Ein Leben sollt ihr sein . . . " (I, 206); . . . . Gegründet ist das Reich der Ewigkeit, In Lieb' und Frieden endigt sidi der Streit" (I, 218) u. a. 2. Zum Motiv der ewigen Jugend und des unbekannten Todes: „. . . Es war der Tod, der dieses Lustgelag Mit Angst und Schmerz und Tränen unterbrach" (I, 60); „ . . . Hinunter in das tiefe Meer Versank des Todes Graun . . ." (I, 77); „. . . Klingsohr, ewiger Dichter, stirbt nicht, bleibt in der Welt . . (I, 247); „. . . eine neue goldne Zeit . . ., eine . . . ewiges Leben entzündende Zeit . . . " (II, 79) u. a. 3. Zum Motiv der Götternähe: „. . . die alte goldne Zeit . . ., in der . . . ein himmlischer Umgang die Menschen zu Unsterblichen machte . . ." (I, 18); „. . . Wie diese Wellen, lebten wir in der goldnen Zeit; . . . wurden besucht von den Kindern des Himmels" (I, 36); „. . . ein ewig buntes Fest der Himmelskinder und Erdbewohner . . . " (I, 60); „ . . . diese unaufhörliche Mischung der Götterwelt in das Leben . . ." (II, 55) u. a. 4. Zum Motiv des ewigen Frühlings: „. . . Es war ein mächtiger Frühling über die Erde verbreitet . . ." (I, 215); „. . . die Erde, die ein ewiges Fest des Frühlings feierte . . ." (I, 217); „. . . in dieser Behausung der ewigen Jahreszeiten . . ." (I, 27); „. . . Die Vermählung der Jahrszeiten . . ." (I, 241; 249) u. a. 5. Zum Motiv der Natursprache: „. . . jene heilige Sprache . . . ein wunderbarer Gesang, dessen Töne tief in das Innere jeder Natur eindrangen . . . " (I, 38); „. . . Flüsse, Bäume, Blumen und Tiere hatten menschlichen Sinn . . . " (I, 60); „. . . von alten Zeiten . . .; wie da die Tiere und Bäume und Felsen mit den Menschen gesprochen hätten . . ." (I, 101); „ . . . Alles schien beseelt. Alles sprach und sang . . ." (I, 216) u. a. 6. Zum Motiv der Freiheit von Gesetz und Zwang, das bei Novalis zum Motiv der „Kindlichkeit" abgewandelt wird: . . . . Alle Geschlechter verehrten kindlich die zarte, tausendfältige Flamme . . . " (I, 60); „ . . . die unkindlichen, wachsenden Menschen . . ." (I, 61); „. . . Die Kindeslieb' und Kindestreu' Wohnt mir von jener goldnen Zeit nodi bei . . ." (I, 83); „. . . kindliches Zutrauen knüpfte die Menschen an ihre Verkündigungen . . ." (II, 67) u. a. Das Motiv der freiwillig schenkenden Erde klingt bei Novalis nur gelegentlich an („. . . Die Tiere nahten sich mit freundlichen Grüßen den erwachten Menschen. Die Pflanzen bewirteten sie mit Früchten und Düften, und schmückten sie auf das zierlichste . . . " I, 216), tritt aber sonst bezeichnender Weise zurück, da es als volkstümliches Schlaraffia-Motiv schon in der Antike durch seine zahllosen satirischen und märchenhaften Abwandlungen abgewertet worden war und überdies Hardenbergs entschiedener Ablehnung des „Eudämonismus" (IV, 223) widersprechen mußte. 7 Sämmtliche Werke, a. a. O. III, 158. - Daß diese ideelle Interpretation der „Urzeit" im 18. Jahrhundert vorherrscht, geht selbst noch aus Rousseaus Verteidigung seiner Lehre vom idealen Naturstand hervor, der, trotz aller Bemühungen um eine historische Begründung, bezeichnet wird als „im état qui n'existe plus, qui n'a peut-être point existé, qui probablement n'existera jamais, et dont il est pourtant nécessaire d'avoir des notions justes, pour bien juger de notre état présent" (Oeuvres Complètes de J. J. Rousseau, Edition de Ch. Lahure, T. I, Paris 1856, p. 79).

Hesiods

Weltalter-DiAtung

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sicher gelten; es kommt schon darin zum Ausdruck, daß er als Herrscher des Urzeitalters Kronos, den früheren, durch Zeus entthronten Gott, den Gott einer vorgriechischen Bevölkerung nennt, an den sich die mündlich verbreitete, f ü r Attika bezeugte und wahrscheinlich auch in das benachbarte Böotien herübergedrungene Volkssage von altersher geknüpft haben muß 8 . Ihre nähere Gestalt läßt sich indessen nicht mehr eindeutig bestimmen; aus den Hinweisen Piatons und anderer antiker Schriftsteller dürfen wir schließen, daß man im griechischen Altertum die Überlieferung von den Weltaltern auf Hesiod zurückführte und eine ältere Quelle nicht kannte. Das W e r k des böotischen Diditers und Sehers war es jedenfalls, diese älteren Sagen und Periodenlehren in eine mythische Geschichtsschau aufgenommen zu haben, deren weltumspannender Blidc das menschliche Schicksal von der fernsten Vergangenheit bis zur Zukunft durchdringt und mit düsterer Skepsis deutet. Denn der Lauf der Geschichte enthüllt sich als ein stufenweise vollzogener Abfall von der glückseligen Unschuld des ersten Menschengeschlechtes. Schon das zweite, silberne Gesdiledit, das die Götter schufen, konnte sich dem goldenen nicht vergleichen; wohl lebte das Kind unter der Mutter Obhut nodi hundert J a h r e in törichter Jugend, Reifte es aber sodann und erlangte die Blüte der Jugend, Lebten sie nur noch wenig und kurz und leidenbeladen Durdi ihren Unverstand; den frevlen Übermut konnten Untereinander sie nicht bezwingen und wollten die Götter Nidit verehren und nicht an Altären den Seligen opfern,

so daß sie Zeus schließlich voll Zorn vom Erdboden vertilgte (V. 127-142). Vollends das dritte, eherne Geschlecht, kraftvoll und gewaltig, aus harten Eschenstämmen geschaffen, lebte im dauernden Kriege, und Frevel war sein Tun, bis es unbekannt und namenlos, vom Tode überwältigt, in den dunklen Hades abschied Der schwarze Tod, so schlimm und entsetzlich sie waren, Packte sie, und sie schieden vom strahlenden Lichte der Sonne (V. 143-155).

Am ausführlichsten aber und mit den düstersten Farben schildert der Dichter sein eigenes Zeitalter, das eiserne Menschengeschlecht: Nicht bei Tage noch bei Nacht enden f ü r sie Mühe und Elend, und immer neue Sorgen schicken ihnen die Götter, bis dereinst alle Familienbande sich lösen, nicht der Vater dem Kinde, nicht das Kind dem Vater in Liebe zugetan sein werden, Gewalt und Lüge triumphieren, Aidos und Nemesis 9 , die schöne Gestalt in lichte Gewänder verhüllend, die Erde trauernd verlassen und zu den Göttern zurückkehren werden, und Zeus auch dies

8 Vgl. K. SEELIGER, Artikel . W e l t a l t e r " , in: Ausführliches Lexikon der Griechischen und Römischen Mythologie, hg. von W . H. ROSCHER, Bd. VI, Sp. 392-394. Ferner R. REITZENSTEIN, Alt-Griediisdie Theologie und ihre Quellen. Vorträge der Bibliothek Warburg, 1924-1925, Leipzig-Berlin 1927, S. 9 f . ; U. v. WILAMOWITZ-MOELLENDORFF, Hesiods Erga. Berlin 1928, S. 139ff. 9 Im allgemeinen mit „Scham" und „Recht" (im Sinne von „gerechter Vergeltung") übersetzt; dodi schließt gr. α Ι δ ώ ς den ganzen Bereich der Sittlichkeit ein und wird deshalb audi gelegentlich mit „Ehrfurcht" oder „heiliger Scheu" übersetzt. Da sich an diesen einzelnen Mythenzug später der für die römische Vorstellung vom goldenen Zeitalter so wesentliche Astraea-Mythos anschließt, der im 17. und 18. Jahrhundert erneuert wird, ist es ratsam, eine allzu begriffliche Übersetzung zu vermeiden. (Der Sinn ist natürlich, daß mit der Gerechtigkeit auch das im Menschen ihr zugeordnete sittliche Organ aus der W e l t schwindet.)

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Die griechische Antike

Geschlecht vom Erdboden vertilgen wird. Vor diesem unheilvollen Ausgang gibt es nach dem Zeugnis des Dichters weder Hilfe nodi Rettung (V. 174-201). Zwischen dieses eiserne Zeitalter mit seinem pessimistischen Zukunftsblickfeld und das voraufgegangene eherne, von dem her Krieg und Gewaltherrschaft in die Welt gekommen sein sollen, hat Hesiod noch ein viertes Gesdilecht der Heroen, der „Halbgötter" aus der Zeit der Kämpfe um Theben und Troja, eingefügt, das nicht nach einem Metall benannt ist, also eigentümlich für sich steht 10 . Es trägt als Idealisierung der heroischen Vergangenheit, wie sie durch das griechische Epos gegeben und unverlierbarer Bestand der Tradition geworden war, noch einmal lichte, versöhnliche Farben. Krieg und wilder Kampf hat zwar auch sie dahingerafft; dodi einige entrückte Zeus fern von den Menschen an die Grenzen der Erde: Dort leben sie leidlos auf den seligen Inseln am Okeanos, die glücklichen Heroen, und süße Frucht trägt ihnen dreimal im Jahr die Erde (V. 156—? 73). Soweit sind wir der Hesiodeisdien Dichtung von den fünf Weltaltern gefolgt. Es wird deutlich geworden sein, daß die bittere Charakteristik des eigenen, eisernen Zeitalters die innere Mitte des Gedichtes bildet, von der her das Ideal des goldenen Zeitalters zum Ausdrude einer schroffen Kritik der herrschenden Zustände, zum Ausdrude aber auch eines tiefen Leidens an der Redit- und Friedlosigkeit der Gegenwart des böotisdien Dichters wird. Ist doch die ganze Weltalter-Lehre in den äußeren Rahmen eines Mahnliedes an den streitsüchtigen Bruder Perses gestellt, der den Dichter in einem Prozeß um seinen Anteil am väterlichen Erbe betrogen zu haben scheint, und wendet sich darüber hinaus an alle Herrscher und Richter, die „das Recht durch falsche Sprüche verderben" 11 . Um die Frage der Gerechtigkeit und ihre Zerrüttung in der Gegenwart, um die Sinndeütung dieser mühevollen Gegenwart überhaupt kreist denn audi recht eigentlich das ganze Gedicht12, und der aitiologische Mythos der großen Weltzeitalter ist ein Versuch, den fortschreitenden Verfall der Menschengeschlechter begreiflich zu machen und ihm das Wunsch- und Kontrastbild 10 Hier vor allem wird deutlich, daß der Diditer eine ältere Oberlieferung aufgenommen hat, welche die Tendenz hatte, den Verfall der Menschheit zu schildern, und in selbständiger Ausgestaltung modifiziert hat. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, zu dieser vielumstrittenen und bis heute nicht eindeutig gelösten Problematik der Hesiod-Interpretation Stellung zu nehmen. Bereits Ed. MEYER (Hesiods Erga und das Gedicht von den fünf W é l t a l t e m . Genethliakon f. C. Robert, Berlin 1910, S. 159 ff.) hat die Eigentümlichkeit einer doppelten Reihung analysiert - (1. Das goldene / silberne / eherne Geschieht. 2. Das Heroengesdiledit / das eiserne Geschlecht / das erhoffte Gesdiledit einer besseren Zukunft) - und nachgewiesen, daß die Oberlagerung durdi eine künstliche, nidit auf editer Volkstradition beruhende Einsdiiebung des silbernen Gesdiledites erklärt werden müsse; daß ferner durch die aus traditionellen Gründen erfolgte Eingliederung des Heroengesdiledites eine Fortführung des ehernen zum eisernen Zeitalter notwendig geworden sei. Ihm schließt sich, wenn auch unter Ablehnung der kulturphilosophischen Ausdeutung im einzelnen, U. v. WILAMOVITZ-MOELLENDORFF a. a. O. S. 139 ff. an. Die Unstimmigkeiten lassen sich allerdings nicht restlos erklären; immerhin scheint ein älteres Triadenschema zugrundezuliegen, in weldiem das eherne Weltalter mit der Gegenwart identifiziert wurde. 11 V. 262. Die wiederholten Versuche, die Dichtung von den Weltaltern als ein in sich abgeschlossenes und selbständiges W e r k einem anderen Autor als dem Diditer der Mahnlieder an Perses zuzusdireiben (vgl. A. KIRCHHOFF, Hesiodos' Mahnlieder an Perses. Berlin 1889), dürften seit WILAMOWITZ-MOELLENDORFFS textkritischen Untersuchungen ( a . a . O . S. 132ff.) endgültig widerlegt sein. Vgl. schon K. SEELIGER, a. a. O. Sp. 375-376. 12 H. DILLER, Hesiod und die Anfänge der griechischen Philosophie. In: Antike und Abendland, Bd. II, Hamburg 1946, S. 140 ff.

Hesiods Weltalter-Dichtung

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einer ursprünglicheren, götternahen, glückseligen Mensdiheit entgegenzustellen. Menschen, die nie . . . die Pfade des R e c h t e s verlassen, Denen gedeiht die Stadt; es blühen in ihr die Bürger, Friede ernährt die Jugend im Lande, und nimmer bedroht sie Zeus, der Allüberschauer, mit Kampf und mit Drangsal des Krieges. Audi kein Hunger findet den W e g zu rechtlichen Richtern, Audi kein Unglück, sie sind nur tätig für Felder und Feste. Nahrung bringt ihnen die Erde genug, und Eichen am Berge Tragen in ihren Wipfeln die Früchte, inmitten die Bienen. Schafe schreiten viele, belastet von flockiger Wolle, Und es gebären die Weiber den Vätern gleichende Kinder. Blühend gedeihen sie dauernd im Glück . . . (V. 226-36).

Die Sinndeutung der Gegenwart aber bleibt in einem trüben Pessimismus befangen. Die Kluft zwischen der ältesten Vergangenheit und den jetzt lebenden Menschen, zwischen der Welt der gottgefügten Ordnung, Unschuld und Gerechtigkeit und der Welt zunehmender Entartung und offenbarer Ungerechtigkeit hat sich so vertieft, daß ein Ausgleich nicht mehr möglich erscheint und die Schilderung der Zukunft nur Züge eines endzeitlichen Unheils und Untergangs annehmen kann 13 . Wenn dereinst die Kinder bereits mit weißem Haar geboren werden, heißt es in prophetischem Vorblick, wird Zeus dies Geschlecht der Menschen verderben (V. 180/81). Nichts deutet auf eine Wiederherstellung des glücklichen Urzustandes, auf die esdiatologische Erwartung eines kommenden goldenen Zeitalters hin - nur ein Vers, in welchem der Dichter wünscht, er wäre bereits vor Anbruch des eisernen Weltalters gestorben oder erst nach seinem Untergang geboren (V. 175), verrät die leise Hoffnung einer besseren Zukunft, die der Dichter freilich nicht selbst erleben wird. Hinter der Geschichtsauffassung des Hesiod steht also keine transzendente oder immanente Notwendigkeit, die den Geschiditsprozeß zu einem vorbestimmten Endziel führt; die Gegenwart ist nicht eingebettet in einen sinnvollen Zeitablauf - sie ist kein Übergang, kein notwendiges Zwischenglied zwischen Vergangenheit und Zukunft (wie dies später für den Triadenschritt der abendländischen Geschichtsmetaphysik bestimmend wird) : sie ruht vielmehr abgeschlossen in sich selbst und enthält den Keim ihres Untergangs, der sich nicht anders als in den voraufgegangenen Weltaltern, nur schrecklicher, vollziehen wird. Das hängt auf der einen Seite wohl mit dem mythischen Charakter dieser Vorstellungen zusammen, denen das Bewußtsein einer kontinuierlichen Zeit, in welcher sich ein allmählicher, durch die Abfolge der Weltalter ineinandergreifender Wandel von den alten glückseligen Zuständen bis zur Gegenwart vollzogen haben könnte, noch fremd ist. Kennzeichnend dafür ist es, daß auch bei Hesiod eine Begründung 13 Zum Pessimismus Hesiods, der von W. Fuss in seiner Dissertation (Versudi einer Analyse von Hesiods Ε Ρ Γ Α K A I H M E P A I . Borna-Leipzig 1910) bestritten wird, vgl. K. SEELIGER, a. a. O. Sp. 381-82; femer A. DOREN, Wunschräume und Wunschzeiten, a . a . O . S. 163 f. - Sdion Friedridi Schlegel weist in seiner „Geschichte der Poesie der Griechen und Römer" von 1798 darauf hin, daß „Ansicht und Farbe" der seltsamen Dichtung von den Weltaltern „überall trübe" sei: „Die durch ihre tiefsinnige Einfalt und schönen Ernst anziehende Darstellung der verschiedenen Zeitalter sdiliesst mit der ausführlichsten Weissagung der unglüddichsten Zukunft" (Prosaische Jugendschriften, hg. von J. Minor, Bd. I, Wien 1882, S. 331 u. 332).

2 Mahl, Die Idee des goldenen Zeitalters

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Die griechische Antike

f ü r den fortschreitenden Verfall nicht eigentlidi gegeben wird: die einzelnen W e l t alter stehen vielmehr nebeneinander, ohne daß das goldene mit dem silbernen Menschengesdiledit, die unmittelbar voraufgehende Heroenzeit mit der eigenen Gegenwart verknüpft werden könnte. So dient der Mythos vom goldenen Zeitalter zwar einer Erklärung der gegenwärtigen Zustände, aber nicht in dem Sinne, daß hier die geschichtliche Gegenwart bestimmt erscheint durch eine fortlaufende Kausalkette geschichtlicher Ereignisse seit der frühesten Vergangenheit, sondern vielmehr in dem f ü r das ältere, mythische Denken der Griechen bezeichnenden Sinne, daß „die Vergangenheit als immerwährender Ursprung vergegenwärtigt" 1 4 , „die im Gegenwärtigen wirkenden Kräfte an ihrem mythischen Ursprung aufgewiesen werden" 1 5 . Indem das goldene Zeitalter als Sehnsuchtstraum der Vergangenheit, als Wunsch- und Kontrastbild zur entarteten Gegenwart, dem eisernen Zeitalter gegenübertritt und die Kluft zwischen dem mythischen „Einst" und dem geschichtlichen „Jetzt" schmerzlich spürbar werden läßt, vertieft sich auch die Kluft zwischen der Welt der täglichen E r f a h r u n g und dem Eigentlichen, Wesentlichen, wie die W e l t sein sollte, und es kündigen sich Unterschiede an, die dann die griechischen Dichter und Philosophen immer deutlicher sehen und durchdenken, wie diejenigen zwischen Schein und Sein, zwischen Wirklichkeit und Idee. Auf der anderen Seite aber äußert sich hier bei Hesiod eine Eigentümlichkeit der griechischen Geschichtsauffassung, die wir nach dem Vorgang Karl Reinhardts als „kyklisch" bezeichnen 16 und die sich im Vergleich zur ganz andersgearteten, eschatologischen Geschichtsdeutung des Judentums näher bestimmen läßt. Hesiod blickt zurück auf den Ursprung, der als goldenes Zeitalter den Lauf der Geschichte an das Göttliche anknüpft, aber er blickt nicht vorwärts auf das Ende dieses Geschichtslaufes, der wieder in das Göttliche einmünden könnte. Er weiß nichts von einem Gesamtsinn des Geschehens; die Geschichte hat f ü r ihn kein absolutes Ziel im einmaligen, zwischen Urzeit und Endzeit eingebetteten Verlauf. Das ist kennzeichnend f ü r ein bestimmtes, eben griechisches Verhältnis zur Geschichte, f ü r welches die Zeit nicht,

14 K. LÖTITH, Weltgesdiidite und HeilsgesAehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosopbie. Stuttgart 1953, S. 15. 15 B. SNELL, Die Entstehung des geschichtlichen Bewußtseins, in: Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen. 3. Aufl., H a m b u r g 1955, S. 214. Bei Hesiod wiederholt sidb in gewisser Weise, was Snell zu H o m e r bemerkt: „. . . das Verhältnis des Berichteten zur G e g e n w a r t des Sängers ist mythisch und nicht historisch . . . eine Kluft trennt den Sänger von dem, was er besingt . . . Die alte Zeit steht in ihrem eigenen Glanz der G e g e n w a r t gegenüber; Bedeutung f ü r die G e g e n w a r t h a t sie gewiss, aber nicht in dem Sinn, dass sie die eigene geschichtliche Situation erklären möchte, sondern weil die H e l d e n u n d Ereignisse gleichsam Muster sind, an denen wir uns u n d unser T u n verstehen und n a d i denen wir unser Streben richten können. D a s ist das Typische f ü r die mythische, f ü r die nichtgeschichtliche Vergangenheit . . (a. a. O. S. 204). Bei Hesiod bereitet sich allerdings schon eine neue Z e i t a u f f a s s u n g vor, insofern als er „das Vergangene und das Z u k ü n f t i g e " künden will (Theogonie V. 31/38) und in der T a t die Zeitenfolge vom uranfänglichen Chaos über die Göttergenerationen und die verschiedenen Menschengeschlechter bis zum gegenwärtigen eisernen Zeitalter im großartigen Überblick umspannt, aber „was er erzählt,' ist Mythos, . . . weil der Bezug zur G e g e n w a r t .mythisch' i s t . . (a. a. O. S. 214). 1Β K. REINHARDT, H e r o d o t s Persergeschichten, östliches und Westliches im O b e r g a n g von Sage zu Geschichte. In: Von W e r k e n und Formen, Godesberg 1948, S. 166 ff. Vgl. d a r a n a n k n ü p f e n d F. KLINGNER, Virgil und die geschichtliche W e l t , in: Römische Geisteswelt, 3. Aufl., München 1956, S. 290ff.; W . F. OTTO, H e r o d o t und Thukydides, in: G r o ß e Geschichtsdenker, hg. von R. S t a d e l m a n n , Tübingen u. Stuttgart 1949, S. 31 f.

Hesiods

Weltalter-Diditung

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dem Strom vergleichbar, in eine unbekannte Zukunft hinausdrängt, sondern, in sich selbst zurücklaufend, eine Kreisbewegung beschreibt, von deren Ende her die Vergangenheit überschaubar und der erfüllte Sinn des Geschehens deutbar wird. Nur in diesem Sinne ist jener vielumstrittene Wunsch Hesiods zu verstehen, erst nach dem Untergang des eisernen Menschengeschlechtes geboren zu sein: Hat sich ein Kreislauf der Geschichte geschlossen, so steht zwar ein neuer Anfang bevor, doch dieser „Zukunft" gilt nicht mehr der Blick des Sehers, der sich vielmehr dem Ende einer Weltperiode nahe weiß, ihren unheilvollen Ausgang verkündet und den damit abgelaufenen Zyklus übersieht und deutet. Das gilt nicht nur für Hesiod, sondern auch für die griechischen Geschichtsdenker der klassischen Zeit; ihnen allen bleibt die Geschichte ein Geschehen, das sich von der Vergangenheit bis zur Gegenwart in regelmäßigen, kleineren oder größeren Kreisläufen vollzieht, ohne daß diese Weltperioden ihrerseits von einem gemeinsamen Telos übergriffen würden, das in die Zukunft weist17. Das Judentum dagegen hat ein ganz anderes Geschiditsbewußtsein entwickelt, das sich der fernsten Vergangenheit über unzählige Stufen hinweg verbunden fühlte und in ihr ein Versprechen der Zukunft erblickte. Den Juden war die Rückführung aus Ägypten das große Beispiel f ü r die Sorge Gottes um sein auserwähltes Volk, so daß ihnen von daher die Gesamtgesdiidite seit der Erschaffung der Welt, seit Paradies und Sündenfall erfüllt schien von dem Wirken Gottes und alle geschichtlichen Ereignisse als notwendige Stationen auf dem Wege zu einem verheißenen Ziel betrachtet werden konnten. Von diesem Eschaton her, der Ankunft des Messias, der die Endzeit heraufführen und den drängenden Lauf der Geschichte mit einem irdisch-diesseitigen Gottesreich Israels beschließen sollte, gliederte sich ihnen die Geschichte zu einem sinnvollen, Urzeit und Endzeit zusammenschließenden Prozeß, und die Deutung der Vergangenheit war nichts anderes als eine rückwärts gewandte Prophétie, eine ferne Verheißung der Zukunft, wie sie im göttlichen Heilsplan von jeher beschlossen lag. Diese Zeitauffassung, welche die abendländisch-christliche Geschichtsdeutung aufs tiefste beeinflußt hat und ihr durch alle Säkularisierungsvorgänge hindurch erhalten blieb 18 , ist den klassischen Griechen fremd. So hat sich audi, wie wir sehen werden, die Hoffnung auf eine Wiederkehr des goldenen Zeitalters in Griechenland überhaupt erst spät, wahrscheinlich unter orientalischem Einfluß, von Osten nach Westen vordringend, entfalten können - um dann namentlich in der römischen Dichtung der augusteischen Blütezeit, unter dem Einfluß jüdisch-hellenistischer Sibyllenweissagungen, ihre literarisch fortwirkende Traditionsform zu erhalten.

Dagegen findet sich bereits bei Hesiod, in der Schilderung des Heroengeschlechtes, die weitere Vorstellung von einem Lande ewigen, ungetrübten Glückes, das fern am Rande der Welt, am strömenden Okeanos liegt: Die „Inseln der Seligen", wie es bei ihm heißt, zu denen einige der Heroen lebend entrückt worden sind, um dort ein göttergleiches Leben zu führen. Sie scheinen die letzte Zufluchtsstätte menschlicher Hoffnung zu sein, an welcher der alte Götterkönig Kronos, unter dessen Herrschaft 17 Vgl. K. REINHARDT, a. a. O. S. 168: „ . . . Es gibt keinen griechisdien Historiker, der sein Werk, was uns so nahe liegt, mit einem Ausblick in die Zukunft schlösse . . . " - Ähnlich Klingner, a. a. O. S. 290 ff. 18 Vgl. K. LÖTITH, a . A . O . S. 25 £F. : „Es scheint, als ob die beiden grossen Konzeptionen der Antike und des Christentums, zyklische Bewegung und eschatologisdie Ausrichtung, die grundsätzlichen Möglichkeiten des Gesdiiditsverständnisses erschöpft hätten . . . " Z u r Geschichtsbetrachtung als einer rüdcwärtsgewandten Prophetie vgl. die ständig wiederkehrenden Äußerungen des Novalis III, 284; III, 343; III, 292; I, 162; III, 299 u. a. m.

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einst das goldene Zeitalter auf Erden bestand, völlig abgesdiieden von der ihm durdi Zeus entrissenen Welt, wie in einem neuen, der Geschichte freilich enthobenen goldenen Weltalter über die Seligen waltet19. Es ist unverkennbar, daß der Dichter das Glüdc der elysischen Inseln und des vergangenen goldenen Zeitalters mit den gleichen Farben veranschaulicht. Wir werden damit zu einem neuen Vorstellungskreis geführt, der in Hesiods Weltalterlehre zwar nur ein Nebenmotiv darstellt, der sich aber in der späteren griediisdien Literatur zum utopischen Hauptmotiv entfaltet hat und, wie es scheint, ursprünglich dem hellenischen Glauben nach die esdiatologische Entsprechung zum goldenen Urzeitalter enthielt: Als Wunschraum, in welchem der Mensch zum Glück der Urtage zurückkehren kann.

2. Die esdiatologisdie Entsprechung: die Vorstellungen vom ,Elysium' und den .Inseln der Seligen' Die Vorstellung von einem glücklichen Leben auf unerreichbar fernen Inseln ist sicherlidi durdi die phönizisdie Seefahrerkunde von unbekannten Inseln und Ländern im Westen, jenseits des Mittelmeerbeckens, beeinflußt worden. Sdion bei Homer, dem im übrigen die Sage von einem vergangenen goldenen Zeitalter fremd ist, finden sich solche Vorstellungen, etwa in der Schilderung des Phaiakenlandes, das einsam im wellenwogenden Ozean ganz am Ende der Erde liegt, so daß kein Sterblicher sich ihm nähern kann, und dessen Bewohner, wie ihr König Alkinoos und seine Tochter Nausikaa den staunenden Fremdlingen berichten, von den Göttern besucht werden80. Ist hier bereits ein ständig wiederkehrender Mythenzug des goldenen Zeitalters - die Gottnähe der Menschen - deutlich spürbar, so bringt die Schilderung der Insel Syria durch den Hirten Eumaios einen weiteren merkwürdigen Anklang an die Weltalter-Diditung Hesiods; denn von ihren glücklichen Bewohnern heißt es : . . . niemals kommt dort der Hunger zum Volke, Keine andere hässlidie Krankheit quält dort die armen Sterblichen. Werden alt in der Stadt die Geschlechter der Mensdien, Dann kommt Artemis, kommt audi Apollon mit silbernem Bogen, Treten heran und töten mit ihren sanften Geschossen . . . 21 .

Zugrunde liegt diesem ganzen Vorstellungskreis der uralte Glaube an das selige Leben der Götter in einem fernen, mit allen Farben der Phantasie ausgemalten Wundergarten, wie er uns auch in der semitisdien Überlieferung vom Paradiese w Vers 169, nach dem Kronos über die Seligen herrschen soll, fehlt allerdings in der Mehrzahl der Handschriften, so daß er wohl eine spätere Interpolation darstellt (vgl. W I L A M O W I T Z - M O E L L E N DOKFF a. a. O. S. 60 f. zur Stelle). Das ist in unserem Zusammenhang unwesentlich; zeigt es doch nur, daß man die Nähe beider Vorstellungskreise frühzeitig empfand und durch den Götterkönig des goldenen Zeitalters eine Verbindung herstellen wollte. Vgl. K. SEELIGER, a . a . O . Sp. 381: „Das Leben unter Kronos im goldenen Zeitalter wurde auf das Leben im Elysion übertragen . . . " Odyssee VI, V. 201 ff.; VII, V. 201 ff. 11 Odyssee XV, V. 407 ff. Zit. nach: Homer, Odyssee. Griechisch u. deutsch, hg. von A. Weiher, München 1955.

Die Vorstellungen vom Elysium und den Inseln der Seligen

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oder Garten Eden entgegentritt 22 . Für die griechische Religion ist die Erden- und Menschennähe der Götter besonders charakteristisch; man denkt sie sich gern auf dem Gipfel eines Berges wohnend, der in den verschiedensten Landschaften und Kultorten lokalisiert werden kann - dort in unerreichbarer Ferne, doch den Menschen nahe, leben die unsterblichen Götter in ungetrübter, dem irdischen Verhängnis entzogener Seligkeit. Erst durch das aus Thessalien stammende, zu allgemein hellenischer Geltung gelangte Heldenlied Homers hat sich schließlich der thessalische Olympos als Götterberg schlechthin durchgesetzt; ihn schildert der Sänger der Odyssee: . . . dort thronen die Götter immer und sicher, Sagen die Menschen; ihn rüttelt kein W i n d , nie netzt ihn ein Regen, Schnee fällt niemals darauf, so liegt er in himmlischer Klarheit, Wolkenlos, umwallt v o n blendender Weisse. Dort oben Leben die seligen Götter in Freuden alle die T a g e . . . 23 .

Das Motiv des ewigen Frühlings, das hier erstmals auftaucht, ist für unsere ideengeschichtliche Betrachtung besonders aufschlußreich, denn es läßt sich zeigen, wie es zunächst als Kennzeichnung des seligen Götterlebens, übertragen dann auf die Schilderung der elysischen Gefilde und Inseln der Seligen, in die weitere Ausschmückung und Ausgestaltung eines vergangenen goldenen Zeitalters der Menschheit eindringt. Schon bei Empedokles finden sich Anklänge 24 , die dann in der römischen Antike, bei Vergil und Ovid, zur endgültigen und für die spätere Mythentradition verbindlichen Aufnahme dieses Wunschmotivs führen 25 . Neben dieser herrschenden Vorstellung vom Götterberge kannten die Griechen eine andere vom „Göttergarten" in weiter, menschenentrückter Ferne; noch über den Okeanos hinaus, der die Erde als breites Flußband umströmt, dort, wo das Meer nicht mehr befahrbar ist, also im echten Sinne jen-seits der Erde, suchten sie den Garten der goldenen Äpfel, in welchem nach ihrer alten Theogonie Zeus sein Bei22 Vgl. die neuere Untersuchung von J. KROLL, Elysium, in: Arbeitsgemeinsdiaft f. Forschung d. Landes Nordrhein-Westfalen, Geisteswissenschaften, H. 2, Köln u. Opladen 1953, S. 7 ff., die neben E. ROHDES klassischem Werk (Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. 7.-8. Aufl., Bd. I—II, Tübingen 1921) für diesen Abschnitt heranzuziehen ist. Die Beziehungen zur semitischen Überlieferung beleuchtet: A. BROCK-UTNE, Der Gottesgarten. Eine vergleichende religionsgeschichtliche Studie. Avhandlinger utgitt av det Norske Videnskaps-Akademi I Oslo, II. Hist.-Filos. Klasse 1935, No. 2. Oslo 1936. » Odyssee IV, V. 42 ff. 24 Empedokles, Fragment 78: „Bäume, die immer Blätter und immer Frucht tragen, strotzen da in der Fülle ihrer Früchte das ganze Jahr hindurch, entsprechend dem (damaligen) Klima . . . " (W. CAPELLE, Die Vorsokratiker. Die Fragmente und Quellenberichte. Stuttgart 1940, S. 208; zum griechischen Text vgl. H. DIELS, Die Fragmente der Vorsokratiker. 4. Aufl., hg. von W . KRANZ, Bd. I, Berlin 1922, S. 251). 25 So in Vergils Geórgica II, 338 ff., wo der große Weltenfrühling der Urzeit verherrlicht wird: .Ver illud erat, ver magnus agebat / orbis, et hibernis parcebant flatibus euri / . . . et exciperet caeli indulgentia terras . . ." Vor allem aber das in Ovids Metamorphosen I, 107 ff. entworfene Bild des ewigen Frühlings im goldenen Zeitalter geht als Topos durch die Jahrhunderte der europäischen Wirkungsgeschichte seit der Renaissance: .Ver erat aeternum, placidique tepentlbus auris / mulcebant zcphyri natos sine semine flores . . . " - Eine Untersuchung über diese ständige Anreicherung der Bildmotive und ihren Funktionswandel steht noch aus; sie wäre audi für die klassischen Altertumswissenschaften noch zu leisten, wie neuerdings K. BÜCHNER in seinem ausgezeichneten Vergil-Artikel (RE Pauly-Wissowa, II. Reihe, 15. Halbband, Stuttgart 1955, Sp. 1208) gelegentlich einer Erörterung offenkundig selbständig ausgestalteter Bildzüge in Vergils 4. Ekloge mit Bedauern feststellen mußte.

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Die griechische Antike

lager mit Hera gefeiert haben soll. Ihn bewachen die Hesperiden, die Töchter der Nacht, so daß kein Sterblicher Zugang erlangt 2 ". Diese Vorstellungen haben sich nun in der Folgezeit mit dem Glauben an ein elysisches Gefilde verbunden, zu dem die Lieblinge der Götter, die Helden der Vorzeit, entrückt worden sind - wie es wiederum in der Odyssee der Meergott Proteus dem Menelaos als selige Stätte seiner künftigen Entrückung schildert: . . . es sdiicken dich einst die unsterblichen Götter Weit, bis ans Ende der Welt, in Elysions ebne Gefilde. Dort ist der Blonde daheim, Rhadamanthys; dort wandeln die Menschen Leicht durdi das Leben. Nicht Regen, nicht Schnee, nicht Winter von Dauer Zephyros lässt allzeit seine hellen Winde dort wehen, Die ihm Okeanos schickt zur Erfrischung der Menschen . . ,27.

Es ist unschwer zu erkennen, daß die hier verheißene elysisdie Flur wie der Göttergarten der Hesperiden im fernen Westen, an den Grenzen der Erde liegt und mit den gleichen idealisierenden Farben des ewigen Frühlings und ungetrübten Lebens ausgemalt wird wie der Götterberg Olympos. Mit anderen Worten: Die Gefilde der Seligen, auf die sich die religiöse Sehnsucht der Griechen richtet, sind ursprünglich nichts anderes als der paradiesische Wohnsitz der Götter, an welchem der Heros, zur Unsterblichkeit versetzt, das mühelose Dasein der Götter teilt - wie es Hesiod von den Menschen der goldenen Urzeit verkündet hatte. Daß dieser Glaube an das Fortleben der Heroen im Elysium später audi auf Menschen der unmittelbaren Vergangenheit ausgeweitet, daß er schließlich, in der Orphik und in den Eleusinisdien Mysterien, auf alle Eingeweihten übertragen wurde, sei hier nur gestreift 28 . Wesentlich ist, daß sich damit innerhalb der griechischen Vorstellungswelt ein Wunschraum der bisher betrachteten Wunschzeit mit gleichem Anspruch zur Seite stellt, indem er wie diese dem mühevollen, friedlosen Menschenleben der Gegenwart ein lichteres Sehnsuchtsbild götternaher und glückseliger Menschen entgegenhält, das nicht auf die Vergangenheit beschränkt bleibt, sondern jenseits von Zeit und Geschichte die eschatologischen Hoffnungen bestimmt. Zur Festigung und Ausbreitung dieser Vorstellung hat wiederum die Weltalter-Dichtung Hesiods beigetragen, in welcher das Elysium, wohl unter dem Einfluß phönizisdier Sagen zur Insel-Vorstellung abgewandelt und ausgeschmückt, seine für die Traditionsgeschichte bedeutsame Aufnahme gefunden hat. Welches dieser Idealbilder - das des Göttergartens, der elysischen Gefilde oder des goldenen Zeitalters - das ältere und ursprünglichere gewesen ist, aus dessen Wurzel sich die anderen ableiten ließen, bleibt in der Forschung eine bis heute umstrittene Frage; offenkundig ist nur, daß sich alle drei Vorstellungskreise « Vgl. E. SITTIG, Artikel „Hesperiden", in: RE Pauly-Wissowa, Bd. VIII, Stuttgart 1913, Sp. 1243 ff. Die hier berührten mythischen Vorstellungen taudien sämtlich audi bei Novalis, mehr oder weniger flüchtig, im Zusammenhang mit seiner Vorstellung vom goldenen Zeitalter auf, so daß ihre Einordnung an dieser Stelle sinnvoll erscheint; zu den Hesperiden vgl. etwa I, 218 (»Die Hesperiden ließen zur Thronbesteigung Glück wünschen, und um Schutz in ihren Gärten bitten . . ."); dazu I, 214 („Bald wird ihr Garten wieder blühen und die goldne Frucht duften"); femer I, 241 („Heinrich kommt in die Gärten der Hesperiden"); I, 243 („Die Hesperiden sind Fremdlinge - ewige Fremden die Geheimnisse . .."). « Odyssee IV, V. 563 ff. 28 Zu dieser Ausweitung und Popularisierung vgl. E. ROHDE, Psyche, a . a . O . I, 146ff. 278 ff.; J. KROLL, Elysium, a. a. O. S. 15 u. 18 ff.

Die Vorstellungen

vom Elysium und den Inseln der Seligen

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auf das engste berühren und bis in die einzelnen Wunschmotive und Bilder hinein wechselseitig beeinflußt haben. Innerhalb der älteren Forschung vertritt Hermann Usener die Auffassung, daß die Vorstellungen von den elysisdien Gefilden und vom goldenen Zeitalter sich unabhängig voneinander aus derselben Wurzel entwickelt haben: aus der ältesten Vorstellung vom Götterlande. „Die Farben für diese Vorstellungen waren gegeben, das Götterland lieferte sie. Die Bilder von Himmel und Jenseits werden auf die Erde projiciert . . . so hat die griediisdie Sage das Bild des goldenen Zeitalters entwickelt . . ."*·. Dagegen hält es Erwin Rohde nicht für ausgeschlossen, daß die Sage vom goldenen Zeitalter älter sein könne als der Glaube an ein Elysium: „Beide Vorstellungen, jene ein verlorenes Kindheitsparadies in der Vergangenheit, diese den Auserwählten ein vollkommenes Glück in der Zukunft zeigend, sind einander nahe verwandt: es ist schwer zu sagen, welche von ihnen die andere beeinflusst haben mag, denn ganz von selber mussten die Farben ihrer Ausmalungen zusammenfliessen . . . So gut die Sage vom goldenen, saturnischen Zeitalter wie eine ausgeführtere Phantasie des Lebens auf seligen Inseln begegnen uns nicht vor Hesiod, aber die epische Dichtung hatte . . . ihm einzelne Beispiele der Entrückung an einen Ort der Seligkeit bereits dargeboten . . . Insofern tritt uns der Glaube an ein seliges Leben im Jenseits früher entgegen als die Sagen vom goldenen Zeitalter. Aber wie wir nicht den entferntesten Grund haben, anzunehmen, dass jener Glaube bei den Griechen ,νοη vornherein existirt' habe . . . , so kann es andererseits Zufall sein, dass vom goldenen Zeitalter kein älterer Zeuge als Hesiod berichtet, die Sage selbst k a n n viel älter sein . . ,"30. Auch in der neueren Forschung ist diese Frage umstritten; während Alfred Doren die mythologischen Vorstellungen vom Götterlande und den elysisdien Gefilden als ursprünglicher ansieht - „von hier aus erfolgt dann die Projektion eines solchen Wunschzustandes . . . in die Vergangenheit als .goldenes Zeitalter' . . ,"S1 - äußert sich K. Seeliger vorsichtiger und will die Vorstellungskreise zumindest ihrem Ursprung nach voneinander trennen: „Die derbe Volkssage vom goldenen Zeitalter, wie wir sie uns als Quelle der Hesiodisdien Dichtung denken, hat im übrigen mit dem Olymp oder einem Göttergarten nichts zu tun . . e r s t in späteren Darstellungen sind die drei Vorstellungen einander angeglichen worden: Götterland und Elysion haben die Schilderung des goldenen Zeitalters verfeinert, dieses dagegen das Elysion vergröbert . . ."S2. Die neueste Untersuchung von Josef Kroll läßt die Frage der Priorität unentschieden; zwar scheint audi seiner Auffassung nach die Vorstellung vom Götterlande die ältere Konzeption zu sein, dodi begnügt er sich damit, eine wechselseitige Beeinflussung zu konstatieren und das Elysium als esdiatologische „Dublette" des goldenen Zeitalters herauszuarbeiten, die schon bei Hesiod mit den gleichen Wunschfarben ausgestattet werde: „Die Motive gehen durcheinander, die Vorstellungen beeinflussen sich gegenseitig . . Die Annäherung an den Mythos vom goldenen Zeitalter, die bereits bei Hesiod erfolgt, ist jedenfalls, wie aus späteren Interpolationen der Weltalter-Dichtung hervorgeht, durch die Kronos-Sage verstärkt worden, so daß die Dichter und Sänger Griechenlands das Elysium immer wieder als eschatologisdie Entsprechung zum verlorenen goldenen Urzeitalter ausgemalt haben, das als soldies ein Sehnsuchtstraum der Vergangenheit bleiben mußte und nun mit Kronos seine letzte Zuflucht in den entrückten Gefilden der abgeschiedenen Seelen finden konnte. In der Schilderung Pindars etwa, die, der orphisdien Mysterienlehre nahestehend, das Land der Seligen verherrlicht, tauchen abermals die Motive des goldenen Zeitalters in Verbindung

** H. USENER, Die Sintfluthsagen. Bonn 1899, S. 202; vgl. insgesamt S. 197 ff. 80

E . ROHDE, Psyche, a . a . O . I, 106, A n m . 1.

31

A. DÖREN, W u n s A r ä u m e und Wunsdizeiten, a. a. O. S. 163, Anm. 7. Κ. SEELIGER, Artikel „Weltalter", a. a. 0 . Sp. 399.

M

·» J . KROLL, E l y s i u m , a . a . 0 . S. 23.

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Die griechische Antike

mit der Kronos-Herrsdiaft auf, wenn es heißt, daß die Frommen das Licht einer ewigen, nie untergehenden Sonne genießen und fern von aller Mühseligkeit, ohne Kenntnis des Ackerbaus und der Schiffahrt, in Gemeinschaft der Götter ihre T a g e tränenlos verbringen: „Die es aber vermochten, dreimal hier wie dort verweilend, die Seele von Unrecht völlig fernzuhalten, ziehen den W e g des Zeus zu des Kronos T u r m . Die Insel der Seligen dort umhaudien ozeanische Düfte; goldene Blüten flammen, die einen von herrlichen B ä u m e n auf der Erde, das W a s s e r nährt die anderen; mit deren Zweigen umwinden sie die A r m e und flediten sie K r ä n z e nach dem gerechten Ratschluss des Rhadamanthys, der Kronos, dem grossen V a t e r , willig zur Seite sitzt . .

Da es der griechischen Art entsprach, audi das jenseitige Glück immer nur als gesteigertes menschliches Glück zu verstehen, immer nur mit diesseitsfreudigen Augen ansehen und sich ausmalen zu können, mußte das Elysium als Wunsch- und Kontrastbild zur trüben Gegenwart naturgemäß die gleichen Züge wie das goldene Zeitalter Hesiods annehmen - nur daß es verlockender wirken konnte, das Land der glückseligen und götternahen Menschheit, statt in mythischer Vergangenheit, in gegenwärtiger, wenn auch unerreichbar ferner Wirklichkeit sich vorzustellen. Das zeigen vor allem jene utopischen Träume der Feme, die, wie bereits bei Homer deutlich wurde, die griechische Sehnsucht noch auf andere als religiöse Weise weckten und lebendig erhielten. Die älteste Utopie dieser Art scheint der Glaube an das apollinische Volk der Hyperboreer gewesen zu sein; von ihm ging die Sage, daß es jenseits der rhipäischen Berge, von denen der kalte Nordwind herabweht, von den Wohnstätten anderer Menschen durch endlose, wüste und eisstarrende Länder getrennt, in glücklicher Einsamkeit lebe, ohne Krankheit und Altersplagen, und daß es bei seinen fröhlichen Festmahlen und musischen Feiern von den Göttern selbst besucht werde 35 . Diese im ältesten Volksglauben verwurzelten Wunschvorstellungen, die desto sehnsüchtiger verfolgt werden, j e mehr man der eigenen Kultur müde wurde und in der unentdeckten Ferne, bei den Barbarenvölkern der nomadischen Skythen, bei den Aithiopern oder Indern, nach idealen Gegenbildern der gegenwärtigen, als unzulänglich empfundenen Wirklichkeit suchte, wurden dann in den zahlreichen Reiseromanen und ethnographischen Utopien der hellenistischen Zeit aufgegriffen. Die Wunschländer und -inseln eines Theopompos, Hekataios, Euhemeros oder Jambulos3® zeigen, wie hier das erträumte Glück nicht mehr in vergangener, mythischer Zeitferne, sondern in gegenwärtiger, wenn auch unerreichbarer Raumferne gesucht und - namentlich nachdem sich die Wunderwelt des Orients dem hellenischen Menschen erschlossen hatte mit allen Farben eines goldenen Zeitalters verschwenderisch ausgemalt wird. So kehren etwa in Theopompos' Schilderung der Wunderstadt Eusebes die gleichen

5 4 II. Olympische Ode, V. 124 £F. Unsere Übersetzung folgt KROLL, a. a. 0 . S. 22. Zum griechischen Text vgl. Pindari Carmina cum Fragmentis. Ed. B. Snell. Editio Altera, Leipzig 1955, S. 11. 5 5 Die Quellen sind übersichtlich zusammengestellt bei O. CRUSIUS, Artikel „Hyperboreer", in: Lexikon der Griechisdien und Römischen Mythologie, Bd. I, Sp. 2805 ff.

* · In Bruchstücken überliefert durch die Berichte Aelians und Diodors; neuerdings ediert in dem Sammelwerk von F. JACOBY, Die Fragmente der Griechisdien Historiker. 1. Teil, Berlin 1923 (Neudrude Leiden 1957); 2. Teil, Berlin 1927; 3. Teil, Leiden 1940/43 und 1950/54.

Die Vorstellungen

vom Elysium und den Inseln der Seligen

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Bilder und Formeln wieder, wie sie Hesiod überliefert hatte: Dort leben die Menschen in beständigem Frieden, und die Götter besuchen sie oft, um ihrer großen Frömmigkeit willen; die Erde bietet ihnen ohne Saat und Pflug ihre Gaben dar, ohne Krankheit verbringen sie ihr sorgloses Dasein, und heiter und lachend sinken sie in den Tod 37 . Während aber das alte Entrückungsmotiv in seiner literarischen Einkleidung als märchenhafte Schiffahrts- oder Schiffbruchsgeschichte noch einen Anklang an die sterblichen Menschen unerreichbare Elysiumsinsel spürbar werden läßt - so daß Erwin Rohdes Vermutung naheliegt, es handele sich bei diesen Utopien eigentlich um Nachklänge der Schilderung jener fernen Toteninseln oder „Seelenländer" 38 - ist ihnen allen trotz gelegentlicher politisch-didaktischer Tendenzen eine radikale Abkehr von der Geschichte und von der im Weltalter-Mythos zum Ausdrude kommenden Geschichtsdeutung gemeinsam. Schon die ständig wiederkehrende Darstellung solcher Wunschräume als ferner, sagenumwobener „Inseln", die, der irdischen Zeit entrückt, den glücklichen Urzustand bewahrt haben, zeigt sinnfällig diese isolierende Wendung, die der eigenen geschichtlichen Vergangenheit und Tradition zu entrinnen sucht, diese Preisgabe des Gesdiiditsbewußtseins überhaupt zugunsten einer die Schranken der alten Mythen überwuchernden Phantasie und zeitflüchtigen Fabulierlust. Daß es sich hierbei wirklich um räumliche „Reservate" des versunkenen goldenen Zeitalters handelt, zugleich aber um eine resignierende Absage an die Geschichte, wird noch an jener 16. Epode des Horaz spürbar, in welcher der römische Dichter, in verzweifelter Stimmung und Resignation über die Bürgerkriege seiner Zeit, die griechische Überlieferung von den Inseln der Seligen aufnimmt 39 , indem er die Besten der römischen Jugend auffordert, dem rettungslos verlorenen Rom für immer den Rücken zu kehren und zu den „arva beata", den „arva divites et ínsulas" auszuwandern, deren Schilderung alle Motive des goldenen Zeitalters und des Elysiums erschöpft. Als „Flucht" bezeichnet der Dichter selbst - wenige Jahre vor seinen Römer-Oden, in denen Augustus als Wiederhersteller des goldenen Zeitalters und Gründer eines weltumspannenden Friedensreiches gefeiert wird - diese Sehnsucht nach den reinen, unberührten Gestaden des Glückes, die Juppiter, als das goldene Zeitalter versank und dem ehernen, dann eisernen Platz machte, einem frommen Geschlecht als letzte Zuflucht und Rettung beschied : 37 Die Fragmente der Griechischen Historiker, a. a. O. II, Text Nr. 115. Zu diesen Utopien, auf die wir hier nicht näher eingehen können, vgl. neben dem klassischen Werk E. ROHDES (Der griechische Roman und seine Vorläufer. 3. Aufl., Leipzig 1914, S. 178 £f.: Ethnographisdie Utopien, Fabeln und Romane) vor allem noch: R. HELM, Der antike Roman. 2. Aufl., Studienhefte zur Altertumswissenschaft, H. 4, Göttingen 1956, S. 24 ff. - R. PÖHLMANN, Geschichte des antiken Kommunismus und Sozialismus. Bd. II, München 1901, S. 369 ff. - E. SALIN, Piaton und die griechische Utopie. München u. Leipzig 1921, S. 189 ff. - H. FREYER, Die politische Insel. Eine Geschichte der Utopien von Piaton bis zur Gegenwart. Leipzig 1936, S. 72 ff. 39 Der griechische Roman, a . a . O . S. 215, Anm. l a . Vgl. auch: Psyche, a . a . O . I, 315, Anm. 2: „Die ganze griechische Literatur der Wunschländer . . . macht im Grunde nur den Versuch, jene alten Phantasmen vom Seelenlande in das Leben und auf die bewohnte Erde herüberzuziehen . . 3 · Nach dem Vorgang des Sertorius, der, wie Plutarch berichtet, in den Wirren der römischen Bürgerkriege ernstlich den Plan verfolgte, auf den atlantischen Inseln der Seligen, befreit von Herrscherpflichten und ewigen Kriegen, sein Leben zu verbringen. Vgl. Plutardii Vitae Parallelae, ree. C. Sintenis, Vol. III, Leipzig 1881, p. 95 (Sertorius V I I I - I X ) .

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Die griechische Antike Iuppiter illa piae secrevit litora genti, Ut inquina vit aere tempus aureum: Aere, dehinc ferro duravit saecula, quorum Piis secunda vate me datur fuga . . .40.

Wir verfolgen diese Wunschraumvorstellungen, die für die Geschichte der abendländischen Utopie bedeutsam geworden sind, nicht weiter, sondern kehren zur Idee des goldenen Zeitalters zurück, deren Geschiditsbezogenheit gerade an den verwandten Elysiumsvorstellungen der frühen und den Glückseligkeitsutopien der späteren griechischen Zeit deutlich geworden ist. Immerhin haben wir in ihnen die Erklärung dafür zu erblicken, daß dem mythischen Denken der Griechen eine Wiederkehr des verlorenen goldenen Zeitalters fremd blieb und dennodi den aus der Vergangenheit genährten Sehnsuchtsträumen ein freundlicheres Gegenbild antworten konnte: Sei es das eschatologische Gegenbild der Elysiumsinsel, seien es die märchenhaft lockenden Bilder unerreichbar ferner Wunschländer, denen das Glück der Urzeit bewahrt blieb41.

3. Die rationalistische und satirische Zersetzung des Mythos vom goldenen Zeitalter Die mythische Überlieferung vom goldenen Zeitalter erfährt nach Hesiod im griechischen Denken der klassischen Zeit eine rationale Zersetzung durch die allmählich erwachende kulturhistorische Reflexion, deren einzelne Phasen zu skizzieren eine reizvolle Aufgabe darstellen würde - ist hier doch ein Prozeß der Auseinandersetzung zu beobachten, der in gewisser Weise spiegelbildlich, d. h. mit umgekehrten Vorzeichen, im Denken des 18. Jahrhunderts wiederkehrt und die gesdiichtsphilosophisdie Auseinandersetzung um Rousseau bestimmt. Und zwar vollzieht sich dieser Prozeß unter einem Leitbild, das, ebenfalls der mythischen Überlieferung entstammend, der pessimistischen Weltalter-Dichtung Hesiods entgegenzutreten berufen zu sein schien. Mehr als zwei Jahrhunderte nach Hesiod ist es Aisdiylos, der in seiner Prometheus-Tragödie einen alten Mythenstoff behandelt, der unter seiner Hand zu einer schöpferischen Umgestaltung der Tradition, ja, zu einer Umkehrung des herkömmlichen Bildes vom goldenen Urzeitalter führt. Ist die Tragödie ihrer Gesamtanlage nach eine Rechtfertigung titanischer Macht, ein bedeutsamer Schritt also über Hesiods Theogonie hinaus, so zeigt insbesondere die große Verteidigungsrede des Prometheus im Wechselgespräch mit dem Chor42, wie hier der Feuerdieb40 16. Epode, V. 63-66. Zit. n a d i : Die Gedichte des Horaz. Lateinisch u. deutsdi, hg. von H . F ä r ber, München 1954. Vgl. unsere Arbeit, S. 81 ff. 41 Die letzten literarischen A u s l ä u f e r dieses Vorstellungskreises im Altertum, die „Verae Historiae" des Lukian im zweiten nachchristlichen J a h r h u n d e r t , zeigen in geistvoll-parodistisdier Form, wie der Spätantike die utopischen Reiseabenteuer der hellenistischen E t h n o g r a p h e n als tolle Lügengeschichten ohne weiteres mit den überlieferten Vorstellungen von den „Inseln der Seligen" auf eine Stufe gerückt sind (Luciani Samosatensis Opera, ree. C. Jacobitz. Vol. II, Leipzig 1883, p. 30 ff.). 42 Der gefesselte Prometheus, V. 440-505. Z u m griechischen T e x t vgl. Aesdiyli Septem quae supersunt Tragoediae, ree. G . M u r r a y . O x f o r d 1952. D a n e b e n wurde die deutsche Ü b e r t r a g u n g von L. W o l d e (Aischylos. T r a g ö d i e n u n d F r a g m e n t e . Sammlung Dieterich, Bd. 17, W i e s b a d e n o. J.) herangezogen.

Die rationalistische und satirische Zersetzung des Mythos

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stahl in einer der Hesiodeischen Auffassung schlechthin entgegengesetzten Weise als Befreiungstat gedeutet wird. Prometheus wird zum Heiland einer Menschheit, die kein goldenes Zeitalter kannte, sondern in primitiver Hilflosigkeit dahinlebte, bis der menschenfreundlidie Titan ihr mit dem Feuer alle menschlichen Kulturerrungenschaften eröffnete - die Höhlenbewohner in der Kunst des Häuserbaus unterwies, ihnen Zahl und Schrift und Erinnerung schenkte, die Tiere unters Joch, die Pferde an den Wagen spannte, die Unwissenden Astronomie, Medizin und Schiffahrt lehrte und so aus dumpfer Unbeholfenheit und Armut allmählich zu einem menschenwürdigen Dasein führte. Wenn die stolze Rechtfertigungsrede des gefesselten Prometheus nach einer Schilderung aller Leiden, welche die kindischen Menschen vor seinem Unterricht erdulden mußten, mit den Worten schließt: Faß idi denn alles in ein kurzes Wort, so heißt's: Der Mensch hat kein Verstehn, das nidit Prometheus gab . . .4®,

so wird deutlich, daß hier der Glaube an den paradiesischen Urzustand des Menschengeschlechtes in sein Gegenteil verkehrt wurde. Eine ganze neue Geschichtsauffassung, die freilich, wie bei Hesiod, zunächst in mythisch-religiöse Vorstellungen gebunden bleibt, kündigt sich an 44 , und der Prometheus-Mythos ist es recht eigentlich, der dem pessimistischen Weltalter-Mythos urbildhaft entgegentritt und die Auseinandersetzungen der griechischen Denker in den folgenden Jahrhunderten beeinflußt. Denn während die griechische Dichtung weiterhin mit Vorliebe an der volkstümlicheren Vorstellung eines goldenen Zeitalters unter Kronos festhält, ist es die griechische Philosophie, die den alten Überlieferungen den Kampf ansagt, indem sie mit Hilfe einer kritisch-rationalistischen Mythendeutung allmählich ein neues Bild der menschlichen Urgeschichte entwickelt. Zwar finden sich nodi bei Empedokles Schilderungen des goldenen Zeitalters, die darauf hinweisen, daß der Mystiker und Naturphilosoph den alten Mythos aufgriff, um in ihm sein Lebensideal zu spiegeln: Nicht Kronos herrschte in jenem vergangenen Weltalter, sondern Kypris, die göttliche Mutter des Eros; daher gab es keinen Krieg, kein Sdiladitengetümmel, auch keine blutigen Opfer, sondern alle Geschöpfe lebten miteinander in Freundschaft, selbst die wilden Tiere waren zahm und zutraulich gegen die Menschen 45 . Aber schon Xenophanes scheint, wie aus seiner starken Opposition gegen die Göttermythen 4S 44

V. 505: „Πάσαι τέχναι βροτοΐσι/ν έκ Προμηΰέως."

Vgl. U. Ν. WILAMOVITZ-MOELLENDORFF, Aischylos. Interpretationen. Berlin 1914, S. 149: „Er hatte die trübe Auffassung des Lebens, die Hesiodos in den Erga vertritt, in das Gegenteil verkehrt und glaubte an ein Aufsteigen aus primitiver Hilflosigkeit, statt an den paradiesischen Zustand eines goldenen Zeitalters, von dem der W e g der Entwicklung nur abwärts geht . . Vgl. ferner die für diesen Abschnitt grundsätzlich heranzuziehende Schrift von W . GRAF UXKULL-GYLLENBAND, Griechische Kultur-Entstehungslehren. Bibliothek f. Philosophie, Bd. 26. Berlin 1924, S. 3 ff. 45 Empedokles, Fragment 128 u. 130 (H. DIELS, Die Fragmente der Vorsokratiker, a. a. Ο. I, S. 271 ff.). Aus den angeführten Stellen geht deutlich hervor, daß sich schon bei Empedokles eine neue W e n d u n g des Glaubens an ein goldenes Zeitalter vollzogen hat, denn die mythische Vorzeit dient im Grunde der Erklärung seiner philosophischen Überzeugungen: das orphisch-pythagoreische Ideal (Ablehnung des Fleischopfers und -genusses) wird in die Urzeit verlegt, damit der Prophet Empedokles veranschaulichen kann, wie die W e l t aussehen würde, wenn sein kosmisches Prinzip der Liebe die Herrschaft gewinnen und seine Grundauffassung von der Verwandtschaft alles Lebendigen ihren sinnfälligsten Ausdrude erhalten würde.

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Die griechische Antike

Homers und Hesiods erklärlich wäre, mit der Vorstellung von einem goldenen Zeitalter gebrochen und stattdessen einen allmählichen Aufstieg des Menschengeschlechtes aus primitiver Vorzeit gelehrt zu haben 46 . Zu Gegnern der mythischen Überlieferung aber wurden vor allem die Sophisten, die Vertreter jener neuen griechischen Geisteshaltung um die Mitte des 5. Jahrhunderts, die man gewöhnlich als „Aufklärung" bezeichnet - besteht ihr besonderer Wesenszug dodi darin, d a ß der griechische Mensch den alten Autoritäten und geschichtlichen Überlieferungen der Vergangenheit nun vorurteilsfrei, d. h. allein dem eigenen, kritisch-rationalen Denken vertrauend gegenübertritt und sie auf ihren Ursprung und ihre Berechtigung hin prüft 47 . Diese Emanzipation der Vernunft von der mythischen Vorstellungsweise, die gegenüber dem Naturgeschehen schon von den ionischen Denkern des 6. J a h r hunderts eingeleitet worden war, wendet sich mit den Sophisten vor allem dem Menschen als Glied der Gesellschaft zu, und mit den Problemen, die das Verhältnis des Einzelnen und seiner Freiheitsforderungen zur Herrschaft des Staates aufwarf, mußte naturgemäß ihr Blick auf die Entstehung dieses Staates und damit auf die U r a n f ä n g e aller menschlichen Kultur zurückgelenkt werden. Die kritische Destruktion des Mythos vom goldenen Zeitalter, die wir in unserem Zusammenhang zu betrachten haben, ist also eingebettet in einen größeren geistesgesdiichtlidien Prozeß, den man als den W e g des griechischen Denkens vom „Mythos" zum „Logos" beschreiben könnte 4 8 - wobei es stets um eine Auseinandersetzung oder Vermittlung zwischen den überlieferten, mythisch-religiösen Anschauungen und der philosophischen Verstandesreflexion geht. Der bedeutendste Vertreter der Sophistik, Protagoras von Abdera, hat seine A u f fassung vom Urzustand der Menschheit in einer Schrift niedergelegt, deren Inhalt uns durch den bekannten platonischen Dialog weitgehend erhalten ist4». Nicht nur die Tatsache, daß er dabei auf den Prometheus-Mythos zurückgreift, ist kennzeichnend f ü r den W a n d e l der Gesinnungen, sondern audi die A r t und Weise, wie er diese mythische Einkleidung seiner kulturhistorischen Betrachtung rechtfertigt. Denn während f ü r Hesiod der Mythos noch überlieferte Wahrheit ist, der ihm in bestimmtem Zusammenhange wesentlich wird und den er daher unbedenklich als tatsächlich

4 · Xenophanes, Fragment 18: „Die Götter haben den Sterblichen nicht von Anfang an alles offenbart, sondern erst nach und nach finden diese suchend das Bessere" (W. CAPELLE, a. a. O. S. 125; der griechische Text bei H. DIELS, a. a. Ο. I, 61). Zum ersten Male wird hier die Zeit als wesentliches Moment einer fortschreitenden Entwicklung des Menschengeschlechtes eingeführt. 47 Vgl. W . JAEGER, Paideia. Die Formung des griechischen Mensdien. Bd. I, Berlin 1936, S. 378 ff. Ferner K. GRONAU, Der Staat der Zukunft von Piaton bis Dante. Braunschweig, Berlin, Hamburg 1933, S . 4 3 f f . Der Begriff der „Aufklärung" ist allerdings mit Vorsidit zu gebrauchen, denn ein Vergleich mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, der dadurch nahegelegt wird, zeigt so tiefgreifende Unterschiede, daß solche Begriffsübertragungen von einer modernen Geistesbewegung auf die Antike besser vermieden werden sollten. 48 Vgl. W . NESTLE, Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates. 2. Aufl., Stuttgart 1942; sowie vom gleichen Verfasser: Griechische Geistesgeschichte von Homer bis Lukian, in ihrer Entfaltung vom mythischen zum rationalen Denken dargestellt. Stuttgart 1944, S. 95 ff. 48 Protagoras 320 C ff. Zum griechischen Text vgl. Piatonis Opera, ree. I. Burnet. Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis. Tom. III, Oxford 1954. D a ß der von Piaton berichtete Mythos tatsächlich von Protagoras stammt, ist heute allgemein anerkannt, vgl. CAPELLE a. a. 0 . S. 336, Anm. 1;

UXKULL-GYLLENBAND a . a . 0 . S . I S .

Die rationalistische und satirisAe Zersetzung des Mythos

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Geschehenes erzählen kann - ohne die Widersprüche zu scheuen, die durch eine solche systematische Zusammenfügung von Mythen verschiedenartigen Ursprungs entstehen 50 - , hat der Mythos für Protagoras sein ursprüngliches Wesen verloren; er enthält nicht mehr die unmittelbare Wahrheit, sondern wird zur bildhaften Fabel, zum „Märchen", das der (im Grunde entbehrlichen) Illustration des gemeinten Gedankenganges dienen kann 51 . In diesem Sinne einer lehrhaft aitiologischen Legende erzählt der Sophist von der Vorzeit, da die Götter die sterblichen Lebewesen aus Erde und Feuer bildeten und dem Prometheus und Epimetheus ihre notwendige Ausstattung übertrugen. Als nun Epimetheus allen Geschöpfen die ihnen angemessenen Fähigkeiten und Eigenschaften verliehen hatte, mußte er feststellen, daß er das Menschengeschlecht vergessen und gleichwohl alle vorhandenen Fähigkeiten bereits verbraucht hatte. Prometheus, den er in seiner Ratlosigkeit hinzuzog, sah den Menschen also nackt und unbewaffnet, ohne Schutz und ohne Möglichkeit zu seiner weiteren Erhaltung. Daher ersann er seine Rettung durch den Diebstahl der Künste des Hephaistos und der Athene, für den er später büßen mußte; erst diese Geschenke ermöglichten die menschliche Kulturentwicklung: „Als aber der Mensdi an der göttlichen G a b e Anteil erhalten hatte, da fasste er zuerst infolge seiner Verwandtschaft mit der Gottheit, als einziges unter den L e b e wesen, den Glauben an Götter und unternahm es, A l t ä r e und B i l d e r v o n G ö t t e r n zu errichten. D a n n teilte er alsbald einzelne L a u t e und W o r t e zergliedernd ab auf G r u n d seiner Kunst und e r f a n d W o h n u n g , Kleidung, Schuhwerk und Decken zum L a g e r und die Mittel zu seiner E r n ä h r u n g aus dem Erdreich . . . " 5 2 .

Aber noch fehlte den Menschen die Staatskunst, so daß sie, zerstreut und im ständigen Zwist lebend, entweder den wilden Tieren zum Raube fielen oder im Kampfe gegeneinander zugrundegingen. Da geriet Zeus in Sorge, daß ihr Geschlecht vollkommen ausgerottet werden könnte, und er entsandte den Hermes, der den Menschen Aidos und Dike, Ehrfurcht und Gerechtigkeit, bringen sollte, denn nur mit ihrer Hilfe können die Menschen in friedlicher Gemeinschaft leben und Staatsordnungen begründen. Die Auffassung, die diesem Mythos zugrundeliegt, ist deutlich umrissen: Sie verwirft die Vorstellung eines am Anfang der Menschheitsgeschichte stehenden goldenen Zeitalters, von dem der W e g der Entwicklung nur abwärts gehen kann, und setzt an seine Stelle den langsamen Aufstieg des Menschen aus einem Zustand der tierischen Roheit und Gesetzlosigkeit zur Kultur und Gemeinschaft. Diese Entwicklung, die sich unter dem Drude der Not und der gesammelten Erfahrungen vollzieht, ist eine durchaus natürliche; an die Stelle der kulturfördernden Gottheiten

8 0 Vgl. B. SNELL, Die Entdeckung des Geistes, a. a. O. S. 74-79 u. S. 122, wo auf diese Widersprüche bei Hesiod hingewiesen und aus ihnen die geistesgesdiichtlidie Situation des böotisdien Dichters entwidcelt wird. Die Übergangsstellung Hesiods zwisdien dem mythisdien Denken der archaischen Zeit und der philosophischen Abstraktion beleuchtet außerdem H. FRANKEL. Drei Interpretationen aus Hesiod. Festschrift f. R. Reitzenstein, Leipzig u. Berlin 1931, S. 1 ff. 5 1 Vgl. K. REINHARDT, Piatons Mythen. Bonn 1927, S. 42/43: „Protagoras hätte dasselbe auch in einem .Logos' auseinandersetzen können. Statt des Mythos läsen wir dann eine soziologische oder kulturgesdiiditliche Betrachtung . . ." 5 2 Protagoras 322 Α. Die deutsche Übertragung nadi W . CAPELLE, Die Vorsokratiker, a. a. O.

S. 339.

30

Die griechische

Antike

treten die eigenen Erfindungen des Menschen, die er dem prometheisdien Funken in sich - „seiner Verwandtschaft mit der Gottheit" - verdankt 53 . Die Schilderung der Verleihung von Aidos und Dike, durch welche die barbarische Vorzeit des Krieges und der Rechtlosigkeit allererst beendet wird, führt zwar auf die überlieferten Vorstellungen Hesiods zurück, zeigt aber gerade an diesem einzelnen Mythenzug den ganzen Wechsel der Auffassungsweise. Denn in Hesiods Weltalter-Dichtung weilen die beiden mythischen Gestalten der Ehrfurcht und gerechten Vergeltung, Aidos und Nemesis, in der goldenen Urzeit unter den Menschen und fliehen dann, durch die Entartung der Menschengeschlechter von der Erde vertrieben, im eisernen Zeitalter zu den Göttern zurück. Ähnlich ist es auch später noch bei dem hellenistischen Dichter der Sternenmythen, Aratos von Soloi, in dessen „Phainomena" Dike als Göttin des goldenen Zeitalters auf Erden erscheint, um erst im ehernen Zeitalter die verderbten Menschen zu verlassen und zum Himmel zurückzukehren, an dem sie als Sternbild der Jungfrau noch heute leuchtet54. Die zugrundeliegenden Geschichtsanschauungen überschneiden sich also kontradiktorisch - was hier im Laufe der Entwicklung verschwunden ist, gilt dort als im Laufe der Entwicklung allererst entstanden. Diese neue Konzeption einer primitiven Urgeschichte der Menschheit, die der alten Mythentradition unversöhnlich schroff entgegensteht 55 , bestimmt auch die philosophischen Anschauungen eines Demokrit, des eigentlichen Begründers der griechischen Kulturentstehungslehre, der das Leben der Urmenschen „ohne jede Ordnung, nach Art der Tiere" ausführlich schildert und die allmähliche Entstehung der Sprache, der Volksstämme und der verschiedenen Künste in einer später immer wiederkehrenden Weise behandelt 56 . Sie äußert sich ebenso in der um diese Zeit erwachenden griechischen Geschichtsschreibung eines Herodot und Thukydides, in welcher die Behandlung der Vorzeit, die Ardiaiologia, von einer neuen, rationalen Erkenntnishaltung getragen wird, der alle mythische Verklärung zum Opfer fallen mußte 57 . Wenn ein Historiker der peripatetischen Schule wie Dikaiarchos, als Ver53 Darin führt der sophistische Mythos über Aischylos hinaus, vgl. W . NESTLE, Griechische Geistesgeschichte von Homer bis Lukian, a. a. 0 . S. 164. 54 Aratos, Phainomena V. 96 ff. Zum griechischen Text vgl. Arati Phaenomena ree. E. Maass. Berlin 1893. Eine deutsche Übertragung dieser im 3. Jahrhundert entstandenen Dichtung von den Himmelserscheinungen bringt M. G. Hermann, Handbuch der Mythologie, Bd. III: Die astronomischen Mythen der Griechen. Berlin u. Stettin 1795, S. 133 ff. (ein Werk, das im Besitze des Novalis war). 55 Ganz ähnliche Gedanken finden sich etwa bei dem Dichter der Sophistik, Kritias, der in dem uns erhaltenen Fragment aus seinem Satyrspiel „Sisyphos" die Entstehung der Religion betrachtet und dabei die Vorzeit wie Protagoras schildert: „ . . . da war das Leben der Menschen jeder Ordnung bar, ähnlich dem der Raubtiere und es herrschte die rohe Gewalt . . (H. DIELS, Die Fragmente der Vorsokratiker, a. a. O. II, 320; die Übertragung nach W . CAPELLE, a. a. 0 . S. 378). 58 H. DIELS, Die Fragmente der Vorsokratiker, a. a. O. II, Nachträge S. X I I (die deutsche Übersetzung nach W . CAPELLE, a. a. O. S. 466). Das Fragment (Diodor I, 8) wird heute allgemein für Demokrit in Anspruch genommen; doch spiegelt es zugleich die spätere epikureische Auffassung, wie sie sich auch in Lucrez' großem Lehrgedicht „De Rerum Natura", Buch V, V. 925 ff., wiedergegeben findet. Vgl. UXKULL-GYLLENBAND, Griechische Kultur-Entstehungslehren, a. a. O. S. 25 ff. 57 Kennzeichnend dafür ist es, wenn etwa Thukydides mit den Worten beginnt: „. . . die ältere Vergangenheit genau zu ergründen, war unmöglich wegen ihrer Zeitenferne, aber nach den Zeugnissen, auf die ich nach eindringlichster Forschung mich verlassen muss, kann ich nicht glauben, dass sie gross war, weder in ihren Kriegen noch im übrigen . . Damit ist die mythische Vorzeit Homers entgöttert; ein sinnfälliges Zeugnis der neuen Geisteshaltung des Geschichtsschreibers. (Zit. nach K. REINHARDT, Piatons Mythen, a. a. 0 . S. 24).

Die rationalistische und satirische Zersetzung des Mythos

31

fasser der ersten großen Kulturgeschichte Griechenlands, an den Anfang der Geschichte nodi das goldene Zeitalter setzt, so ist das um die Wende des vierten zum dritten Jahrhundert bereits ungewöhnlich. Die Rationalisierung der Sage ist aber gerade bei ihm unverkennbar und läßt in ihren einzelnen Zügen interessante Rückschlüsse auf das Prinzip der pragmatisch-historischen Mythendeutung zu, das zu einer völligen Umformung der überlieferten Vorstellungen geführt hat 58 . Denn das goldene Zeitalter unter Kronos, so rechtfertigt Dikaiarchos seine vermittelnde Auffassung, muß als Wirklichkeit ohne übertriebene Verherrlichung genommen, das allzu Märdienhafte abgezogen werden, und es ergibt sich ein durchaus denkbarer Zustand des primitiven Lebens. Die erste Nahrung bestand aus wildwachsenden Früchten, denn der A deerbau war unbekannt; so enthält das Sagenmotiv der freiwillig schenkenden Erde einen historisch begründeten Kern. Daraus ergibt sich natürlich ein Leben ohne Mühe und Sorge, aber auch ohne Krankheit, denn die knapp bemessenen Lebensmittel gaben gerade die zweckdienliche Nahrung, eher zu wenig als zu viel, wodurch Krankheiten verhindert wurden. Auch war der Tod unbekannt, denn die damaligen Menschen ließen sich auf den nackten Erdboden als ihr Lager fallen und hauchten ihre Seele aus, ohne zu wissen, was ihnen geschah. Da ein Besitz, um den man kämpfen könnte, nicht vorhanden war, mußten Krieg und Streitigkeiten ausgeschlossen sein; das Leben der Urmenschen verlief so in Frieden, Gesundheit und gegenseitiger Freundschaft, weshalb es den späteren Geschlechtern naturgemäß und wünschenswert erscheinen mußte. Die Sage von einem goldenen Zeitalter als einer voraufgegangenen Welt wird von Dikaiarchos also historisch gedeutet; die mythischen Bilder enthalten einen geschichtlichen Kern, der aus der später erfolgten Ausschmückung und Idealisierung herausgelöst werden muß. Es ist - um eine Parallele zum 18. Jahrhundert zu ziehen - die gleiche Einstellung, die Friedrich Schlegel noch in seinen Griechen-Studien vertritt, wenn er das goldene Zeitalter als „ein verschönertes Bild" deutet, das der Nachgeborene von den „freien Wilden" der Urzeit entwirft: „Denn was ist das goldne Zeitalter anders, als ein verschönertes Bild von der sorgenlosen Freyheit des Wilden, den die E r d e noch ungezwungen nährt? Sie ist es, nach welcher der ackerbauende und städtebewohnende Mensdi, der so oft nur den Pflug der Bildung mit Schweiss und Pein treibt, ohne sidi an ihren Früchten zu laben, immer sehnsuchtsvoll zurückseufzt, und ihr alle Glückseligkeit leiht, die er vergebens wünschte, und alle Sittlichkeit, die er verloren zu haben glaubt . . . (Aber) welch' ein Zeitraum musste verfliessen, bis sich der mit den wilden Thieren und dem Hunger kämpfende Mensdi zu einer festlichen Weinlese erheben konnte, wie sie Horneros b e s c h r e i b t . . ." 5 *.

Dikaiarchos nimmt zwar einen etwas anderen Standpunkt ein als die Vertreter der konsequenten Kulturentstehungslehre nach dem Vorbild Demokrits, aber der Mythos wird ebenfalls aus den märchenhaften Wunschvorstellungen der Dichtung ins

5 8 Das behandelte Fragment ist durch Porphyrios, De abstinentia IV, 2 überliefert; abgedruckt bei F. W e h r l i , Die Sdraie des Aristoteles. Text und Kommentare. Heft 1: Dikaiarchos. Basel 1944, S. 23 ff. (Fr. 4 9 ) . 9 1 Gesdiichte der Poesie der Griechen und Römer (1798); Prosaisdie Jugendschriften, hg. von J . Minor, a. a. O. I, 246/47.

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Die grieAisAe

Antike

Gebiet der nüchternen Urgeschiditsforsdiung hinübergezogen und ihr dienstbar gemacht; es kann kein Zweifel daran sein, daß dem Schüler des Aristoteles die Vorzeit letztlich doch als barbarische Epoche erscheint 60 . Eine zweite, satirische Zersetzung des Mythos vom goldenen Zeitalter vollzieht sich dagegen in der griechischen Komödie der attischen Blütezeit, die, wie wir aus den erhaltenen, allerdings dürftigen Bruchstücken schließen können, sich mit Vorliebe Mythenparodien und -travestien zuwandte und daher auch das Leben im goldenen Zeitalter als beliebten Burleskenstoff aufgriff. Sie scheint sich dabei der volkstümlichen Traditionen bedient zu haben, wie sie namentlich in Athen verbreitet waren, wo durch die alljährliche Festfeier der sogenannten „Kronien" die Erinnerung an das goldene Zeitalter lebendig erhalten wurde 6 1 . Das Leben unter Kronos, das weder arm noch reich, weder Herren noch Knechte kannte, da die Natur allen Menschen freiwillig und gleichmäßig die Fülle ihrer Gaben schenkte, war gewissermaßen sprichwörtlich geworden, wie später die „Saturnia regna" innerhalb der römischen Vorstellungswelt, deren Gedächtnis ebenfalls durch die an den griechischen Brauch angelehnte Feier der „Saturnalien" begangen wurde. Unter diesem Blickfeld hat sich in der volkstümlichen Sagengestalt wohl schon frühzeitig eine sinnliche Ausmalung der glücklichen Urzeit mit stärkeren eudämonistischen Akzenten durchgesetzt, die nun die attischen Komödiendichter, da sie ihre Stoffe gern der Volkssage entlehnten, persiflierend und parodierend auf die Bühne brachten. Entsprach doch die übermütige Ausmalung des irdischen Wohllebens dem Geiste, der den öffentlichen Festraum des Gottes Dionysos, das athenische Theater der komischen Muse, in jener Zeit beherrschte. So bringen die Komödien eines Kratinos, Krates oder Telekleides 62 das goldene Wunschzeitalter mit allen Zerrbildern eines heiter-ironischen Spieles der Phantasie und Willkür zur Darstellung - eine Flucht aus der geschichtlichen Gegenwart in ein Traumland, das zugleich den alten Mythos in seiner volkstümlichen Gestalt satirisch durchsetzt und verspottet. A m ausführlichsten schildert Telekleides diese hedonistischen Wunschvorstellungen in seinen „ Amphiktyonen" : N u n will idi euch reden v o m Leben, das einst idi im A n f a n g den Menschen verliehen: Vor allem zuerst saß Friede im Reich ringsum: das flutschte euch nur so. Kein Greuel erwuchs auf der Erde, kein Schmerz, v o n selbst kam alles, was nötig. D a schäumte v o n W e i n der Gießbach einher, da stritten sich Schrippe und Milchbrot U n d winselten laut um den offenen Mund der Menschen: o schluckt uns hinunter; 80 Darauf deutet vor allem die Wendung hin, mit welcher Dikaiarchos die armselige Eidielnahrung der Urzeit aus einem bekannten griechischen Sprichwort ableitet; vgl. UXKULL-GYLLENBAND, a. a. O. S. 40. el Zur athenischen Festfeier der Kronien, bei der volle Ungebundenheit und Freiheit herrschte und die Sklaven selbst von ihren Herren bewirtet wurden, vgl. die Artikel „Kronos" und „Kronien"

v o n M . POHLENZ u n d M . NILSSON, i n : R E P a u l y - W i s s o w a , B d . X I , S t u t t g a r t 1922, Sp. 1975 f. u. 1982 ff.

Die vollständigste Quellenzusammenstellung bringt G. WISSOVAS Artikel „Saturnus" im Lexikon der Griechischen und Römisdien Mythologie, a. a. O. Bd. IV, Sp. 432 ff. Vgl. ferner R. PÖHLMANN, Die soziale Dichtung der Griechen, in: NJbb. I, Leipzig 1898, S. 25 ff. ·* Ediert von TH. KOCK, Comicorum Atticorum Fragmenta. Bd. I, Leipzig 1880, S. 64 (Kratinos, Fr. 165); I, 133 (Krates, Fr. 1); I, 209 (Telekleides, Fr. 1). Vgl. die ausführlidie Darstellung und Würdigung der attischen Komödie bei W . SCHMID/O. STÄHLIN, Geschichte der Griechischen Literatur (Handbudi der Altertumswissenschaften VII, 1), Bd. II, Mündien 1934, S. 523 ff. und Bd. IV, München 1946, S. 1 ff. (mit weiteren Literaturhinweisen).

Die

rationalistische

und

satirische

Zersetzung

des

S3

Mythos

Ihr liebt j a das W e i ß e , d a s Z a r t e so sehr! U n d d i e Fische, sie k a m e n n a d i H a u s e U n d k o c h t e n s i d i s e l b s t u n d t r u g e n sich a u f u n d l a g e n b e r e i t a u f d e m T i s c h e . A n d e n H ä u s e r n d a strömte ein Breifluß vorbei mit g e b r a t e n e m Fleisch auf

den

Wellen, U n d K a n ä l e v o n s a f t i g e n S a u c e n d a z u , sie l i e ß e n j e d e n , d e r n a h t e , D e n B i s s e n e i n t u n k e n i n s t r ö m e n d e s N a ß , d a ß lieblich er schmelz' a u f d e r Z u n g e . U n d die Kuchen, sie l a g e n m i t s ü ß e m G e w ü r z bestreut in d e n niedlichsten Schüsseln; U n d gebratene D r o s s e l n m i t Brötchen dazu, sie flogen in h u n g r i g e M ä u l e r , Und

man

hatte

beinahe

den

Kinnbadcenkrampf

vor

dem

Heeresgetümmel

der

K u c h e n . . .·».

W i r sehen: der alte Mythos ist hier ganz und gar zum Märdien vom Schlaraffenland geworden - eine offenkundige Travestierung des derben, sinnlichen Volksglaubens, der die Sage vom goldenen Zeitalter auf seine Art sich ausgemalt und das Motiv der unerschöpflich schenkenden Natur mit Märchenzügen aller Völker und Zeiten umgestaltet hatte 64 . Die Dichter der attischen Komödie brauchten diese Linien nur auszuziehen, um im heiteren Spiel die Wunschvorstellungen des Volkes, die sich von Anfang an mit der mündlichen Überlieferung des Mythos verbunden haben mochten, ins Burleske umschlagen und ihnen die geistvollste Satire zuteil werden zu lassen - insofern sind auch sie dem großen geistesgeschichtlichen Prozeß der „Aufklärung" verhaftet, der das perikleische Athen kennzeichnet. Und wieder wird die Verwandtschaft der Vorstellungen vom goldenen Zeitalter mit denen vom Elysium und seinen benachbarten Traumländern durch den Zerrspiegel der Komödie hindurch deutlich, wenn wir sehen, wie das Schlaraffenland gleichzeitig in die goldenen Gärten der Unterwelt oder zu den fernen Völkern des Orients verlegt werden kann: so erzählt bei Pherekrates eine aus dem Hades zurückkehrende Frau von den paradiesischen Zuständen dort unten fast wörtlich dasselbe, was bei Telekleides von der glücklichen Urzeit gilt 65 , und in den gleichfalls unter Pherekrates' Namen überlieferten „Persern" werden die sinnlichen Freuden der Kronos-Herrschaft auf ein sagenhaftes Wunderland übertragen, in dem es Wein regnet, die Dachrinnen Trauben, Käsekuchen und Brei spenden, während auf den Bäumen im Gebirge die Bratwürste wachsen··. Die alten, volkstümlichen Vorstellungen vom verlorenen Para-

" D i e deutsche Ü b e r t r a g u n g f o l g t J . GEFFCKEN, Griechische L i t e r a t u r g e s c h i c h t e , B d . I, H e i d e l b e r g 1926, S. 233. M D a ß in d e r T a t d e m M ä r c h e n v o m S c h l a r a f f e n l a n d , w i e es seit d e m 13. J a h r h u n d e r t d u r c h d i e r o m a n i s c h e n L i t e r a t u r e n w a n d e r t u n d in d e n d e u t s c h e n F a s t n a c h t s s p i e l e n des 15. u n d 16. J a h r h u n d e r t s , v o r a l l e m bei H a n s Sachs, a u f t a u c h t , d e r T r a u m v o m g o l d e n e n Z e i t a l t e r z u g r u n d e l i e g t , d e s s e n v o l k s t i i m l i d i - s d i w a n k h a f t e N e b e n f o r m es g e w i s s e r m a ß e n d a r s t e l l t , h a t b e r e i t s J . POESCHEL n a c h g e w i e s e n (Das M ä r c h e n v o m S c h l a r a f f e n l a n d e , i n : P B B 5, 1878, S. 389 ff.); b e i i h m w i r d d i e E n t s t e h u n g u n d A u s b r e i t u n g dieser Märchenvorstellungen durch die antike und europäische L i t e r a t u r hindurch verfolgt.

• 5 KOCK, C o m . A t t . F r a g m . I, 174 ff. ( P h e r e k r a t e s , F r . 108). D a ß d i e attische K o m ö d i e d a m i t f r e i lich d a s g o l d e n e Z e i t a l t e r in d i e Z u k u n f t (als E l y s i u m ) v e r l e g t h a b e , w i e E. ROHDE, Psyche, a. a. O . I, 315 A n m . 2, u n d R. PÖHLMANN, D i e s o z i a l e D i c h t u n g d e r G r i e c h e n , a. a. O . S. 27 b e h a u p t e n , ist k a u m e i n z u s e h e n ; w i r d d o d i n e b e n d i e s e n p a r o d i e r t e n „ W u n s c h r a u m ' - V o r s t e l l u n g e n stets d i e g o l d e n e Urzeit u n t e r K r o n o s b e h a n d e l t . E i n e A u s n a h m e m a c h t l e d i g l i c h d i e politische S a t i r e d e r „ E k k l e s i a z o u s e n " d e s A r i s t o p h a n e s , in w e l c h e r d i e S c h i a r a t i l a a u s w e l t e n t r ü d c t e r F e r n e u n m i t t e l b a r a u f d e n B o d e n d e r attischen W i r k l i c h k e i t v e r p f l a n z t w i r d u n d g e w i s s e s o z i a l - u t o p i s c h e Z u k u n f t s t r ä u m e m i t derbem H u m o r gegeißelt werden. M

5

KOCK, C o m . A t t . F r a g m . I, 182 ( P h e r e k r a t e s , F r . 130).

Mähl, Die Idee des goldenen Zeitalters

Die griechische Antike

34

diese in der Vergangenheit und von seinen räumlichen Reservaten in unerreichbaren oder jenseitigen Fernen werden ins Groteske gesteigert und dadurch in ihrer märchenhaften Wunschphantasie als lächerlich entlarvt 67 .

4. Die Vorzeit-Mythen Piatons und die platonische .Utopie' W i r haben verfolgt, wie die Sage vom goldenen Zeitalter durch die philosophische und kulturhistorische Reflexion über die Anfänge des Menschengeschlechtes verdrängt und der Satire preisgegeben wurde; im unversöhnlichen Gegensatz zur mythischen Überlieferung konnte sich die Auffassung durchsetzen, daß die Menschheit aus einem tierisch-rohen Zustand allmählich zur Kultur gelangt und damit in aufsteigender Entwicklung begriffen sei. Audi Piaton, bei dessen Behandlung wir uns auf wenige Andeutungen beschränken müssen, vermag diesen Widerspruch nicht zu überwinden, obwohl seine Stellung innerhalb der griechischen Geistesgeschichte eben dadurch gekennzeichnet ist, daß er den Versuch einer Erneuerung des durch das sophistische Denken zersetzten Mythos unternimmt - eine Erneuerung freilich, die zu einer spezifisch platonischen Anverwandlung führt, geboren aus der Sehnsucht des Philosophen, seine Lehre im gleichnishaft-anschaulichen Bilde darzustellen, „aus vergeblichem Wunsch und hoffnungsvollen Träumen wenigstens bis zu jenem poetischen Scheine einer Wirklichkeit sich zu erheben, welcher die Dichtung von der abstrakten Vorstellung des Denkers unterscheidet" 98 , und ihre Wirkung zugleich durch die Autorität uralter Überlieferungen zu verstärken, die eben „kein bloß erdichtetes Märchen (μύθον), sondern eine wahre Geschichte (άληθινόν λόγο ν)" enthalten®·. Dabei gilt es allerdings zu berücksichtigen, daß Piatons Auffassung und Behandlung des Mythos nicht einheitlich ist, sondern sich im Laufe seiner Entwicklung ändert. Von der „Fabel" oder dem „Märchen", das in seinen frühen und mittleren Dialogen der oft spielerischen, mit leiser Ironie vorgetragenen Veranschaulichung

• 7 W i e d e r ist es Lukian von Samosatha, in dessen spät-antiken Parodien sich die letzten literarischen Nachklänge dieser Sdilaraffia-Bilder der griechischen Komödie finden - so in seinem Dialog „Die Kronien", wo Kronos selbst die ihm zu Ehren veranstaltete Festfeier gegenüber seinem Priester in scherzhafter Form rechtfertigen muß, indem er auf die wenigen Tage hinweist, „wo ich mir . . . die Regierung vorbehalten habe, um den Mensdien in Erinnerung zu bringen, wie glücklich sie ehemals unter mir lebten, als ihnen die Erde nodi alles ohne Arbeit freiwillig gab, das Brot nidit als Korn in den Ähren, sondern schon fertig und gebadcen aus den Halmen herauswuchs, die T a f e l n sidi von selbst mit Speisen besetzten, der W e i n in Strömen daherfloß, und Milch- und Honigbäche aus den Felsen hervorquollen. Denn damals waren audi die Menschen nodi alle gut und von reinem gediegenen Golde . . . " . Ähnlich verfährt er in seinen „Briefen an Kronos", wo sidi der Dichter mit gespielter Ernsthaftigkeit darüber beschwert, daß die Festfeier zur Erinnerung an das goldene Zeitalter ihren Sinn verloren habe, da die Ungleichheit zwischen Sklaven und Freien, Armen und Reidien selbst an diesen Tagen kein Ende habe etc. Vgl. Luciani Samosatensis Opera, ree. C. Jacobitz. Vol. III, Leipzig 1867, p. 301 £f. (Saturnalia 7); p. 311 fif. (Epistolae Saturnales 20). Die deutsche Übersetzung nach: Lukian, Sämtlidie Werke, Bd. II, München-Leipzig 1911, S. 335 u. 346 ff. - Audi die bereits erwähnte parodistisdie Schilderung der „Inseln der Seligen" (Verae Historiae II, 5-29) trägt bis zur Groteske gesteigerte Züge des märchenhaften Schlaraffenlandes; vgl. Anm. 41. Ω

E. ROHDE, Der griechische Roman, a. a. 0 . S. 211. · · Timaios 26 E. Die deutsche Obersetzung folgt hier wie im ganzen Abschnitt der Ausgabe: Piaton, Sämtliche Werke. Bd. I—III, Heidelberg o. J . (1950). Aus dem vorliegenden Beispiel wird besonders deutlich, daß die Übersetzung bereits eine Interpretation enthalten kann.

Die Vorzeit-Mythen

Piatons

35

seiner Gedanken dient, führt der Weg zur „heiligen Sage", die im Spätwerk an älteste Überlieferungen erinnern und im mythischen Abbild einer vergangenen Weltzeit das Urbild der erschauten „Idee" zur Darstellung bringen soll70. So können wir etwa die häufigen Anspielungen auf Hesiod übergehen, die den Mythos von den Menschengesdileditern in einer verwandelten symbolischen Funktion aufgreifen, um mit ihm die Wesensart der gegenwärtig lebenden Menschen, im Interesse einer unerbittlichen Auslese des Staates, zu kennzeichnen, da sie der ersten Stufe der platonischen Mythenaneignung angehören: „Weisst du, . . . dass nach Hesiod zuerst unter den Mensdien ein goldenes Geschlecht lebte? . . . Er nennt, denke idi, das goldne Geschlecht nicht ein aus natürlichem Golde bestehendes, sondern ein gutes und edles. Zum Beweise dient mir, dass er audi uns das eiserne Geschlecht nennt . . . Glaubst du nicht, er werde audi von den jetzigen Mensdien zu jenem goldnen Gesdiledite jeden zählen, der gut ist? .. ."71.

Später allerdings ist das Bestreben unverkennbar, dort, wo vom Urzustand der Menschheit gesprochen wird, die bekannten mythischen Bilder aufzunehmen, d. h. an der Sage vom goldenen Zeitalter festzuhalten. Während im .Philebos' die Grundauffassung der Hesiodeisdien Weltalter-Dichtung bejaht wird, daß „die Alten . . . besser waren als wir und den Göttern näherstanden"72, führt Piaton im ,Politikos' dieses Bild der glücklichen Urzeit unter der Herrschaft des Kronos näher aus; es erscheint als Ideal der wahren, von den Göttern selbst geübten Herrscherkunst und eines friedlichen Zusammenlebens der Menschen, das in Gegensatz zu der folgenden, von den Göttern verlassenen und den menschlichen Trieben anheimgegebenen Weltzeit tritt. Es war ein anderer, vollkommenerer Weltenablauf, von dem die alten Sagen berichten, welche jetzt zu Unrecht von vielen ungläubig verworfen werden. Denn damals lenkte Gott selbst die Welt, und gute Geister (Dämonen) waren über alle Bereiche der Erde verteilt, die als getreue Hirten alle lebendigen Wesen unter ihrer Hut hielten, so daß jedes sich selbst genug war und Krieg oder Zwietracht unbekannt blieben: „Was aber von der Menschen mühelosem Leben gerühmt wird, wird folgendermassen erzählt. Gott selbst hütete sie und stand ihnen vor, wie jetzt die Menschen als ein anderes, göttlicheres Lebendige andere, geringere Gattungen des Lebenden hüten. Unter seiner Hut aber gab es keine bürgerlichen Verfassungen nodi audi Besitz von Weibern und Kindern . . . sondern dergleichen fehlte ihnen alles, Früdite aber hatten sie reichlich von Eichen und vielen anderen Gewächsen, nicht durch Ackerbau gezogene, sondern welche die Erde ihnen von selbst gab. Auch unbekleidet und ohne Lagerdecken weideten sie grösstenteils im Freien; denn die Witterung war beschwerdenlos f ü r sie eingerichtet, und weich war ihr Lager genug, weil reichliches Gras aus der Erde hervorwuchs. W i e also das Leben unter dem Kronos gewesen, . . . hörst du; das jetzige aber, unter dem Zeus, wie es heisst, kennst du selbst. Könntest du nun wohl . . . entscheiden, welches von beiden das glückseligere ist? . . ." 75 .

Die hier aufgenommene Sage vom goldenen Zeitalter wird aber - und darin äußert sich die erste, bedeutungsvolle Vermittlung Piatons - geschickt mit den der Prome70 Vgl. K. REINHARDT, Platona Mythen, Bonn 1927; das W e r k ist neben P. FRUTIGER, Les Mythes de Platon. Ë t u d e philosophique et littéraire. Paris 1930, f ü r diesen Abschnitt heranzuziehen. 71 Kratylos 398 Λ ; vgl. ferner Politela 415 A und 546 E (die Regenten sollen wachsam sein, „wenn es gilt, die bei Hesiod sowohl wie audi in unserem Staate vorkommenden Gesdilediter aus Gold, Silber, Erz und Eisen zu prüfen . . ."); ähnlidi Nomoi 645 A / B . 72 Philebos 16 C. 73 Politikos 271 E ff.

S*

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Die griechische Antike

theus-Sage folgenden griechischen Kulturentstehungslehren in Verbindung gebracht, indem beide Überlieferungen für verschiedene, durch eine kosmische Veränderung des gesamten Weltlaufs getrennte Zeitalter der Menschheit in Anspruch genommen werden. D e n n als sich die Zeit erfüllt hatte, so erzählt der Mythos weiter, ließ Gott als Steuermann des A l l s gleichsam den Griff des Ruders fahren und zog sich von der W e l t zurück; die sich selbst überlassenen Menschen aber, die schwach und schutzlos geworden und den wilden Tieren preisgegeben waren, mußten von vorn beginnen, denn sie waren „in den ersten Zeiten völlig hilflos und kunstlos, weil die von selbst sich darbietende Nahrung ihnen ausgegangen und sich deren selbst zu verschaffen sie nodi nicht kundig waren .. . Alles dieses nun brachte sie in grosse Not. Weshalb denn die in alten Sagen schon gerühmten Gaben uns von den Göttern mit der nötigen Belehrung und Unterweisung geschenkt wurden, das Feuer nämlich vom Prometheus und die Künste vom Hephaistos und seiner Kunstverwandtin, Saat und Gewächse wiederum von anderen; und alles, was zur Ausstattung des menschlichen Lebens beigetragen, ist uns hieraus geworden, weil nämlich, wie gesagt ist, die Obhut der Götter den Menschen fehlte und sie nun sich selbst führen und selbst für sich Sorge tragen mussten .. ,"74. Dieser Mythenzug, nach welchem im goldenen Zeitalter die Götter selbst für die Menschen gesorgt und sie als gute Hirten geleitet haben, tritt bei Piaton beherrschend hervor und bestimmt seine Auffassung von der verlorenen Urzeit. Er kehrt auch in seinem Alterswerk, den .Gesetzen', wieder, wo die Herrschaft des Kronos, an der gemessen die beste, die es heutzutage gibt, immer nur ein unvollkommenes Abbild sein kann, mit ähnlichen Worten gerühmt wird. Dabei wird aber, deutlicher als sonst, der Urbild-Charakter dieser vergangenen Idealzeit als ständig wirksame, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft überspannende Forderung hervorgehoben: „Wir haben also eine alte mündliche Überlieferung von dem überglücklichen Leben der damaligen Menschen, - wie man da alles im Überfluss und von selber hatte, und die Ursache davon soll folgendes gewesen sein: - Kronos erkannte . . . , dass kein Mensch nach seiner Natur imstande ist, für alle menschlichen Angelegenheiten bei eigenem unbeschränktem Willen in genügender Weise zu sorgen, ohne dabei in ein volles Mass von Hochmut und Ungerechtigkeit zu verfallen. Aus diesen Erwägungen setzte er damals zu Königen und Regenten für unsere Städte nicht Menschen ein, sondern höhere Wesen von besserem, göttlichem Geschlecht . . . das Geschlecht der guten Dämonen, das sodann, mit grosser Leichtigkeit für sich selbst und zu grosser Erleichterung für die Menschen, die Sorge um uns übernahm, Frieden und sittliche Scheu (αιδώς), gute Gesetze und volle, volle Gerechtigkeit (δίκη) der Welt gewährte und dem Menschenvolk einen Zustand hohen Glücks und ungestörter innerer Eintracht schuf. Aber audi jetzt noch lehrt uns diese Sage mit entschiedener Wahrheit, dass alle Staaten, wo kein Gott, sondern nur ein Sterblicher das Regiment führt, niemals dem Unglück und den Drangsalen entrinnen können. Wir müssen, nach dem Sinn der Sage, vielmehr mit Anwendung aller Mittel das Leben, wie man's unter Kronos schildert, nachzuahmen suchen; wir müssen, soweit in uns ein Element des Ewigen, Göttlichen liegt, von diesem uns leiten lassen .. ,"75. Die Vorstellung von den göttlichen Hirten, unter deren Obhut die Menschheit einstmals ein friedliches und gerechtes Erdendasein geführt haben soll, berührt sich, wie 74

Politikos 274 Β f. ™ N o m o i 713 C ff.

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sdion hier vorausgeschickt werden muß, auf das engste mit der idealen HerrscherVorstellung des „guten Hirten" bei den alttestamentlichen Propheten, die später in den diristlich-diiliastischen Erwartungen eines kommenden Hirtenkönigs der Endzeit wiederkehrt. Es liegt nahe zu vermuten, daß die jüdisch-christliche Pastoralsymbolik nur deshalb eine so weitgehende Verbreitung und Beliebtheit erlangen konnte, weil in der hellenistischen Welt durch die vor allem von den Stoikern übernommene, platonische Auffassung der seligen Urzeit der Boden dafür bereitet war 76 . Ähnlich verhält es sich auch mit dem zweiten, im ,Politikos' auftauchenden Motiv einer Menschen und Tiere verbindenden Ursprache, das die traditionellen Sagen-Vorstellungen bedeutsam erweitert: nach Piaton besaßen die Schützlinge des Kronos das Vermögen, „nicht nur mit Menschen, sondern auch mit Tieren vernünftigen Umgang zu pflegen" und in ihren „Unterredungen mit den Tieren" tieferen Aufsdiluß über die Welt zu erhalten 77 . Dieser Gedanke einer seither verlorenen Natursprache, der schon bei Empedokles flüchtig angeklungen war, scheint orphischen Ursprungs zu sein (worauf auch die an orphisdi-pythagoreisdie Vorstellungen anknüpfende Weltzeiten-Lehre im ,Politikos' hindeutet) ; er hängt wahrscheinlich mit der griechischen Sagengestalt des thrakischen Tierbezauberers Orpheus oder einer ähnlichen Mythenfigur (Apollon) zusammen. Das Orpheus-Motiv fehlt zwar in der jüdischen Überlieferung, wird aber später in altchristlichen Legenden und Liedern aufgenommen und auf Adam, den ersten Menschen im Paradiese, übertragen 78 . In Griechenland dagegen fügt es sich den Vorstellungen vom goldenen Zeitalter ein; schon bei einem späteren, gelehrten Dichter wie Kallimachos wird gelegentlich darauf angespielt, daß in der Vorzeit die Tiere ebenso wie das Geschlecht des Prometheus gesprochen hätten 79 , und die Dichter aesopischer Tierfabeln, wie Babrios, nehmen diesen Sagenzug als wesentliches Vorstellungselement des goldenen Zeitalters auf - wie denn der Ursprung der Tierfabel überhaupt ins goldene Zeitalter verlegt wurde, in jenen glücklichen Naturzustand, da die Menschheit mit der Tierwelt noch einen unmittelbaren Verkehr unterhielt. Sie erweitern ihn dann sogar dahin, daß, wie die Tiere, so auch die gesamte Natur, Fels und Wald und Meer und Gewässer, einst der Rede mächtig gewesen seien80.

7 e Vgl. R. EISLER, Orphisch-dionysische Mysteriengedanken in der christlichen Antike. Vorträge der Bibliothek Warburg, 1922-1923, 2. Teil, Leipzig-Berlin 192J, S. 52 ff., sowie unsere Arbeit, S. 105 ff. 7 7 Politikos 272 C / D . Zu beachten ist freilich audi hier die ironisch-spielerische Behandlung dieses Mythenzuges; denn im gleichen Zusammenhang heißt es, daß das Gesdiledit des Kronos zweifellos glückseliger zu nennen sei, wenn es diese Gabe der Natursprache zur Vermehrung seiner Einsidit benutzt habe - wenn es jedoch nidits Gescheiteres zu tun hatte, als den Tieren solche „Geschichten" (gr. μϋθος) zu erzählen, wie wir auch jetzt noch von ihm, sei diese Frage wohl anders zu entscheiden (Politikos 272 D). Diese zwischen ironischem Spiel und tiefsinniger Deutung schwebende Haltung Piatons ist kennzeichnend für die Behandlung des Mythos in der mittleren Periode seines Werkes. 7 8 Vgl. EISLER, a. a. O. S. 23 ff. Die Nachwirkung dieses Motivs in der Romantik, die sich über die Adams-Mystik und Natursprachen-Spekulation der Pansophen des 17. Jahrhunderts vollzieht (Jakob Böhme), stellt die ursprüngliche Verbindung zum antiken goldenen Zeitalter wieder her. Vgl. dazu unsere Arbeit, S. 355 ff. 7 · Callimachus, ed. R. Pfeiffer. Vol. I : Fragmenta. Oxford 1949 (Fr. 192, 1-3). 80

Babrii Fabulae Aesopae, ed. 0 . Crusius. Editio maior, Leipzig 1897. Prooemion, S. 9 ff.

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Dennodi ist Piatons Auffassung nicht einheitlich; schon die Lehre von den Weltperioden im .Politikos' zeigt, wie hier im Widersprudi zur Überlieferung das goldene Zeitalter unter Kronos in einen vollkommeneren Weltlauf umgedeutet wird, der sich im ständigen Wechsel mit einem anderen, umgekehrten, ohne Lenkung sich selbst überlassenen Weltlauf vollziehen soll. Wenn es nach der Schilderung des jetzigen, verwirrten und verderbten Weltzeitalters heißt, daß Gott, besorgt um die gänzliche Zerrüttung der Welt, sich selbst wiederum an das Ruder stellen wird, „alles, was erkrankt und aufgelöst ist, durdi Umwendung in den ihm eigentümlichen Umlauf wieder in Ordnung bringt und so alles wieder bessernd die Welt unsterblich und unveraltet darstellt" 81 ,

so ist damit zwar ein Zukunftsblickfeld eröffnet, das, als „Ende von allem Bisherigen" gekennzeichnet, einer Wiederkehr des goldenen Zeitalters gleichkommt. Doch ist das damit erstmals durchschimmernde Triadenschema deutlich in die griechische Zyklen-Vorstellung der Geschichte eingebannt, denn es handelt sich um einen ständigen Wechsel der Weltperioden, der sich nach Piaton nicht einmalig, sondern nach notwendigen Gesetzen immer wieder vollziehen wird. Der zyklischen Folge von Weltperioden entspricht im ,Timaios' die Lehre von den wechselnden Kulturperioden, die durch kosmische Wendepunkte, durch Katastrophen des Himmels und der Erde, durch Brände und Sintfluten derart voneinander geschieden sind, daß die Erinnerung nur durch alte, später mißverstandene Sagenüberlieferungen von einer Weltzeit in die andere herabreicht: „Es haben sdion viele und vielerlei Vertilgungen der Menschen stattgefunden und werden audi fernerhin nodi stattfinden, die umfänglichsten durdi Feuer und Wasser, andere, geringere aber durch unzählige andere Ursachen" 82 .

Eine dieser Katastrophen erwähnt der Bericht von der großen Überschwemmung, der deukalionisdien Flut, in den .Gesetzen', nach welcher die wenigen geretteten Menschen, zumeist die Hirten der Gebirgsgegenden, das primitive Leben der ersten Menschen führen mußten, das jedoch ebenfalls mit den Zügen eines goldenen Zeitalters verklärt wird: „Fürs erste hatten sie einander lieb und standen freundlich zu einander wegen des Menschenmangels; sodann brauchten sie sich um ihren Lebensunterhalt nidit herumzuschlagen. Denn an Weiden gab es ja keinen Mangel . . . Arm waren sie bei diesen Verhältnissen nicht in hohem Grade und gerieten auch nicht unter dem zwingenden Einfluss der Armut in Händel unter einander. Aber auch reich konnte man nicht wohl werden, wenn man weder Gold nodi Silber besass, wie dies damals bei den Menschen der Fall war. Gibt es jedoch in einer Gesellschaft weder Reichtum nodi Armut, so müssen in derselben höchstwahrscheinlich die edelsten Sitten herrschen; denn da gibt es weder Übermut noch Ungerechtigkeit und auch keine Äusserungen von Eifersucht und Neid . . ."8'.

Von solchen Widersprüchen her drängt sich die Erkenntnis auf, daß es sich bei den Vorzeit-Mythen Piatons nicht eigentlich um eine geschichtlich gemeinte Urzeit han81 8! ω

Politikos 273 D. Timaios 22 C. Ähnlich Nomoi 782 A. Nomoi 677 A - 6 7 9 E.

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dein kann, um einen absoluten Anfang der Geschichte also und sein Verhältnis zur fortschreitenden Entwicklung der Menschheit (da diese der Katastrophenlehre und dem mit ihr gesetzten, wiederholten Neubeginn der Kulturentwicklung widersprechen würden): sondern vielmehr um eine mythenschaffende oder alte Mythen erneuernde Schau ewiggültiger „Ideen", deren Wirklichkeit in eine zwar nicht jenseitige, wohl aber vorweltliche Sphäre verlegt wird - hier wie dort für die Erinnerung das vollkommene Urbild gegenüber dem unvollkommenen Abbild, das ewige „Soll" gegenüber dem zeitlich-empirischen „Sein" beschwörend 84 . Das wird besonders deutlich, wenn wir den Urzeit-Mythos im .Kritias' betrachten, der das Bild eines idealen Ur-Athen entwirft und dem sagenhaften Atlantis entgegenstellt. Was im Mythos des ,Politikos' in zwei Weltzeiten auseinanderbrach, schließt sich im ,Kritias' zusammen auf der einen Ebene der historischen Zeit. Hier wird das platonische Idealbild des Staates, der „im Reiche der Gedanken liegende Staat", der aber keiner spielerisch-willkürlichen Phantasie entsprungen ist, sondern „im Himmel als ein heiliges Mustervorbild für jeden aufgestellt (ist), der ihn anschauen und durch seine Anschauung den Haushalt seines Inneren einrichten will" 85 , aus der Ideenwelt in die griechische Urgeschichte verlegt: die Utopie der ,Politeia' wird als verwirklicht gesehen in der Vergangenheit eines mythischen Athen. Ob Piaton, wie man vermutet hat, sein Staatsideal unter dem Drude der Anklagen und Entgegnungen in die Vergangenheit verlagerte, muß mehr als zweifelhaft erscheinen8®, denn die Vorzeit-Kategorie gehört, wie wir gesehen haben, von vornherein zum Formbestand seiner Mythenbildung, in welcher sich die Ideenschau realisiert - nicht anders als die Kategorie des Übersinnlichen und schlechthin Jenseitigen, die seine Schöpfungsmythen bestimmt. Das geschilderte Ur-Athen, von welchem ein ägyptischer Priester zu Sais dem Solon einstmals Kunde gegeben haben soll, führt daher audi in eine Vergangenheit zurück, die mit den immer wiederkehrenden Zügen des goldenen Zeitalters gekennzeichnet wird. Es ist die Zeit, in welcher die Götter, nachdem sie die Welt unter sich verteilt hatten, die Menschen nach ihrem Sinne aufzogen und lenkten „wie die Hirten ihre Herden" 87 , in welcher die Natur noch unversehrt war und eine „glückliche Mischung der Jahreszeiten" herrschte 88 . Es wird zugleich aber, deutlicher als bisher, als Erscheinung der Idee aufgefaßt, indem Kritias „die Bürger und den Staat, welche du gestern uns gleichsam nur wie in einer Dichtung geschildert hast, . . . jetzt in die Wirklichkeit, und zwar hierher (nach Athen) versetzen" will 89 , d. h. indem als historische Wirklichkeit gemalt wird, was bisher, in Piatons Staatsentwurf, nur ideale Existenz besaß. 84 In diesem Zusammenhang wird der Doppelcharakter der „Erinnerung" bedeutsam, die bei Piaton eben nicht nur die Rückbesinnung auf eine verschollene Vergangenheit bezeichnet, sondern zugleich die Wiedererinnerung der Seele an ihre vormalige Existenz und an die ihr zuteilgewordene unmittelbare Schau der Ideen, die nun halbvergessen im Inneren des Menschen schlummern und ihrer Erweckung harren. 85 Politela 592 Α. Zur Interpretation der platonischen Staatsutopie auf dem Hintergrunde der Ideenlehre vgl. K. GRONAU, Der Staat der Zukunft von Piaton bis Dante, a. a. 0 . S. 123 ff. sowie E. SALIN, Piaton und die griechische Utopie, a. a. 0 . S. 6 ff. 8Β TH. GOMPERZ, Griechische Denker. 3. Aufl., Bd. II, Leipzig 1912, S. 476. 87 Kritias 109 C. Vgl. die bereits angeführten Parallelstellen Politikos 271 E und Nomoi 713 C. 88 Timaios 24 D und Kritias 111 E. 89 Timaios 26 D.

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„Offenbar will Piaton hier nidit nur den Sinn sehnsuditsvoll in die Vergangenheit schweifen und auf ihr ruhen lassen", heißt es bei Karl Gronau, einem berufenen Deuter der platonischen Staatslehre, „sondern er will aus der angenommenen Tatsache, dass sein Staat sdion einmal Wirklichkeit war, den Beweis oder dodi die Möglichkeit für eine nodimalige Realisierbarkeit herleiten. Von dieser Wiederherstellung des Urzustandes ist alle Befreiung aus den Nöten der Zeit zu erhoffen. Neugeburt, Regeneration, ist für Piaton Wiederherstellung des alten Ideals"*0.

Damit ist die einzige Stelle im platonischen Spätwerk bezeichnet, wo der Mythos der idealen Vorzeit eindeutig in die Zukunft weist - in die Zukunft freilich nur insofern, als er die Ewigkeit der Idee vertritt, die sich als unüberhörbare Forderung über alle historischen Zeitphasen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft spannt. Wie die gegenwärtige Weltzeit im .Politikos' zu trübe, schwach und unvollkommen erschien, als daß Gott selbst in ihr das Steuer führen könnte, wie jedoch ihr eigenes unbeholfenes Rollen, in dumpfer „Erinnerung" einer besseren, durch alte Überlieferungen verbürgten Weltzeit, die Gewißheit erschließt, daß Gott einst selbst das Steuer geführt hat: ebenso entspricht innerhalb der historischen Dimension der unvollkommenen Staats- und Herrschaftsverfassung des gegenwärtigen Athen ein jenseitiges, urbildlich-reines Staatswesen und Bürgertum, das der Erinnerung in einer jetzt verschollenen Urzeit sich verkörpert. Wie die bessere Weltzeit jene Zeit war, da Gott selbst den Umlauf des Alls bestimmte und göttliche Hirten über alle Lebewesen wachten, so war die Urzeit Athens die Zeit, da die Götter die ihnen anvertrauten Menschen lenkten, nicht wie mit der Peitsche das Vieh, sondern wie mit dem Ruder gefügige Schiffe; wie in jener voraufgegangenen Weltperiode ein glücklicher Einklang zwischen Mensch und Natur herrschte und die Witterung beschwerdelos eingerichtet war, so trug audi Ur-Athens Boden alles in Schönheit und reichlicher Fülle, und es wird ausdrücklich von einer glücklichen Mischung der Jahreszeiten gesprochen. Das ideale Staatswesen der Vergangenheit wird also unverkennbar im goldenen Zeitalter angesiedelt; es trägt die gleichen mythischen Züge wie dieses, offenbart aber in seinem inneren Zusammenhang zur Utopie des platonischen „Zukunfts"-Staates die verborgene Funktion aller Vorzeit-Mythen Piatons in besonders eindringlicher Weise. Einmal muß das Vollkommene, das Urbild des Staates, d. h. die als „heiliges Mustervorbild" im Himmel errichtete Idee der Gerechtigkeit und gottgelenkten Ordnung sich verwirklicht haben; es ist die Sehnsucht, solche Wirklichkeit zu schauen, das Jenseits des Ideenreiches ins Diesseits der Geschichte zu überführen, die auch den Mythos von Ur-Athen geschaffen hat. Damit wird die platonische Erneuerung des Mythos vom goldenen Zeitalter als eines Mittlers zwischen Idee und Wirklichkeit, zwischen Ewigkeit und Zeit in helleres Licht gerückt: die sagenhafte Vergangenheit, die „Vorzeit", ist der scheinbar historische Raum, in welchem, der Erinnerung an alte, halbvergessene Traditionen folgend, die Welt der Ideen sich bildhaft verkörpern, der Gegenwart den reinen Spiegel unvergänglicher Urbilder vorhalten kann. Das ist der Sinn jener bereits zitierten Forderung Piatons, in welcher diese erzieherische Funktion des Mythos am

M

Der Staat der Zukunft von Piaton bis Dante, a. a. O. S. 187.

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schärfsten ausgesprochen wird: „Wir müssen, nach dem Sinn der Sage, . . . das Leben, wie man's unter Kronos schildert, nachzuahmen suchen; wir müssen, soweit in uns ein Element des Ewigen, Göttlichen liegt, von diesem uns leiten lassen"»1. Blicken wir zurück, so zeichnet sich die einmalige Stellung Piatons, wie schwierig sie audi im einzelnen zu bestimmen sein mag, für den von uns betrachteten Vorgang der Ideengesdiidite deutlich ab. Sdion bei Hesiod, dem das Leben der gegenwärtigen Menschheit elend und verdorben zu sein schien, hatte sich im Mythos vom goldenen Zeitalter ein Spannungsfeld zwischen der Welt unserer täglichen Erfahrung und der Welt, wie sie sein sollte, angekündigt - ein Spannungsfeld, das dann unter dem Einfluß des philosophischen Denkens immer schärfer in die beiden Sphären von Schein und Sein, Wirklichkeit und Idee auseinandertritt. Gleichzeitig war unter dem Einfluß der griechischen Kulturentstehungslehren das überlieferte, mythische Bild vom goldenen Zeitalter kritisch zersetzt oder dodi, in einem gewissen Kompromiß, der nüchternen Urgeschiditsforschung angeglichen worden, so daß eine Erneuerung des Mythos dieser veränderten Lage Rechnung tragen mußte. Bei Piaton vollzieht sich die Überführung des Urzeit-Mythos ins Reich der Idee, derart, daß die Ursprungsnähe der ältesten Epochen, die „den Göttern näherstanden", die deshalb die Grenze zwisdien Zeit und Ewigkeit, zwischen Diesseits und Jenseits berühren, die mythischen Bilder für die reinste Verkörperung des jenseitigen Reiches der ewigen Urbilder und Ideen herzuleihen vermag - Bilder, in denen der Riß zwisdien Ideen- und Ersdieinungswelt nodi nicht unversöhnlich geworden, die Augen der Sterblichen noch nicht verdunkelt sind für die höhere Wirklichkeit. Wenn daher Friedrich Schlegel, aus der Weltsicht des ausgehenden 18. Jahrhunderts heraus, das goldene Zeitalter Hesiods als „Idee" betrachtet, die sich von der „historischen Farbe" der folgenden, abfallenden Weltalter deutlich abhebe, so modernisiert er damit zweifellos den geistesgesdiiditlidien Standort des böotischen Dichters - hier bei Piaton dagegen ist der Mythos der goldenen Vorzeit wahrhaft als „Idee" zu deuten: als inneres, daher er-innertes „Gesetz", das aus der mythischen Vergangenheit in die Zukunft weist; als ewiges „Soll", das, aus der zeitlosen Ideenwelt in die Welt der Erscheinungen herabwirkend, sich bildhaft verkörpern will und deshalb in die geschichtliche Zeit eingehen muß, hier aber, an uralte Erinnerungen und Überlieferungen anknüpfend, den äußersten Grenzraum der Zeit und Geschichte als Erscheinungsform einer göttlichen Harmonie, Ordnung und Gerechtigkeit wählt. Daher kommt es, daß das goldene Zeitalter Hesiods als reine Vergangenheitsutopie zwar bei Piaton überwunden wird, denn die Idee ist zeitlos und zielt auf eine ständige Angleidiung aller empirischen Erscheinungen an die erschauten Urbilder; daß sich aber zugleich der letzthin geschichtslose Charakter dieser Beziehung von Vergangenheit und Zukunft, von Ideal und Wirklichkeit offenbart - denn das scheinbare „Nacheinander" der Zeit ist eine Form der mythischen Darstellung, die sich an anderen Stellen des platonischen Spätwerkes audi als „Ineinander" oder „Übereinander" von Ideen- und Erscheinungswelt äußern kann. Blicken wir aber auf die Geschichtsauffassung Piatons, so scheint sie eindeutig von seiner Welt- und Kulturperiodenlehre bestimmt zu sein, d. h. sie verharrt in jener dem griechischen Denken eigentümlichen Zyklen-Vorstellung, der jede absolute, aus der Urzeit in die Endzeit ablaufende Gesdiiditsentwicklung fremd bleibt".

"

Nomoi 713 E. Die auffallende N ä h e zu Novalis' Idee vom goldenen Zeitalter und seiner mythisdi-gesdiiditlidien Verkörperung in einer „Vorzeit", die sidi der Erinnerung als Antike, Frühdiristentum, Mittelalter etc. darbieten kann, d. h. f ü r welche die historische Zeit letztlich nur symbolische Hülle einer „inneren" Heimat des Geistes bleibt, kann hier nur berührt werden. Es handelt sidi natürlich nidit um eine Beeinflussung, sondern um eine Urverwandtschaft des Platonischen und des Hardenbergsdien Weltgefühls; beide stehen zwisdien zwei Welten des Übersinnlichen und des Sinnlichen, beide haben den A u f t r a g ihrer wechselseitigen Vermittlung und Durchdringung, sei es durch den Dichter, sei es durch den Philosophen; f ü r beide sind Jenseits und Diesseits nicht geschieden, sondern bleiben, wenngleich die „Erinnerung" daran verlorengegangen ist, verbunden als Urbild und Erscheinung, die eines des anderen bedürfen, um sinnliche Existenz zu erlangen oder zu erweisen; für beide sind die Erscheinungen, aus denen der Geist entschwunden ist, leere Bilder und Versteinerungen, die als Hieroglyphen eines höheren „Sinnes" wieder erweckt werden müssen, usw. Die Stellung des Novalis und M

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5. Hellenistische Naturverklärung und stoischer Vermittlungsversuch (Poseidonios) Es ist kennzeichnend für die fortschreitende Entwicklung des griechischen Geistes der nachklassischen Zeit, daß die Nadifolger Piatons, die bereits erwähnten Verfasser ethnographischer Utopien und Reiseromane, eher an das Wunderbild der Insel Atlantis anknüpften, um ihren Traum vom goldenen Zeitalter statt in mythischer, auf die eigene geschichtliche Gegenwart bezogener Zeitenferne in einer märchenhaften Raumferne zu suchen, die dem freieren und unverbindlicheren Spiel der Phantasie unerschöpfliche Möglichkeiten eröffnen mußte. Auf dieser späteren Stufe der hellenistischen Kultur setzt denn audi eine wachsende Kulturmüdigkeit und Sehnsucht nach den Urformen eines zwar primitiven, aber naturgemäßen Lebens ein, die als charakteristische Folgeerscheinung zu einer Umwandlung und Umdeutung des Prometheus-Mythos führt. Während schon in den ethnographischen Utopien sich der vollkommene Glückszustand der Menschheit als Beschränkung auf den einfachsten und frühesten Naturzustand ferner Völker darstellt, auch wenn die didaktisch-erbauliche Schilderung immer stärker von märchenhaften Phantasiezügen überwuchert wird 93 , erhebt die philosophische Besinnung des 3. und 2. Jahrhunderts v. Chr. ausdrücklich das primitive, bedürfnislose, als natürlich-unverdorben empfundene Leben der Urzeit zum Ideal einer von Kynikern und Epikureern gleichermaßen vertretenen Kulturfeindlichkeit und -skepsis 94 . Damit erfährt der für den Fortschrittsgedanken stellvertretende Prometheus-Mythos, ähnlich wie früher der Mythos vom goldenen Zeitalter, eine kritische Zersetzung und Negierung. die sich geistesgeschichtlich gesehen als eine Annäherung an die Auffassung Hesiods darstellt, wenn auch die mythischen Bilder vom goldenen Zeitalter nicht erneuert, sondern zum Teil fallengelassen, zum Teil naturalistisch interpretiert werden. Es sei nur mit Recht geschehen, daß Prometheus von Zeus bestraft worden wäre, wird uns eine Äußerung des Kynikers Diogenes überliefert; denn Prometheus habe durch die Kulturschöpfung nur Unglück über die Menschen gebracht - sie seien der Verweichlichung und Üppigkeit verfallen, bauten sich Häuser, seien nicht mehr mit der allein naturgemäßen, ohne Feuer zubereiteten Speise zufrieden, verfertigten sich kostbare Kleider und viele andere unnütze oder gar schädliche Dinge 95 . Die kul-

der Frühromantiker gegen die Aufklärung und ihre Erneuerung der alten Mythen erinnert durchaus an den Kampf Piatons gegen die Sophisten, wenngleich nicht übersehen werden darf, daß der geschichtliche Standort ein völlig anderer geworden ist. Vgl. dazu unsere Arbeit, vor allem S. 312 ff. u. 4 0 8 ff. " Vgl. E. ROHDE, Der griechische Roman, a. a. O. S. 241 ff. (zu Jambulos). 9 4 Diese Wendung deutet sich bereits bei Piaton an, wenn er in seinem Alterswerk, den „Gesetzen", den primitiven Kulturzustand schildert, auf den die Menschheit durch eine allgemeine Oberschwemmung zurückversetzt worden ist: An die Darstellung der rohen und dürftigen Lebensverhältnisse schließt sich fast unvermittelt ein verklärendes Bild jener Urmenschen an, die zwar „in allen Künsten und Gewerben unerfahrener und ungeschickter", dagegen „gutmütiger und tapferer, dabei gemässigter und in allen Stücken gerechter" gewesen seien, keinen Krieg kannten, sondern in beständiger Freundschaft lebten und frei von Obermut und anderen Fehlern waren (Nomoi 677 A 679 E).

9 5 Bei Dio Chrysostomos VI, 22 ff.; vgl. E. WEBER, De Dione Chrysostomo Cynicorum sectatore. Leipziger Studien zur classischen Philologie, Bd. 10, Leipzig 1887, S. 77 ff. Dazu E. NORDEN, Philo-

Hellenistische Naturverklärung und stoisAer Vermittlungsversuch

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turelle Entwicklung wird also ins Negative gekehrt, während der primitive Urzustand, dessen Schilderung sich gegenüber Hesiod durchaus den Ansichten der griechischen Kulturhistoriker annähert, als „naturgemäß" verklärt und der verderbten, unnatürlichen Lebensform einer kulturellen Spätzeit entgegengesetzt wird 96 . Diese Natursehnsucht und Verklärung des einfachen Lebens der Urmenschen tritt uns deutlich in jenem Lehrgedicht des Lukrez entgegen, das als Dokument der epikureischen Auffassung gelten darf: die Kulturentwicklung, die hier im V.Buch der „Rerum Natura" geschildert wird 97 , schließt sich zwar zunächst ganz den bekannten Kulturentstehungs-Lehren an, indem das Leben der ersten Menschen in seiner nackten Hilflosigkeit und barbarischen Armut ausführlich dargestellt wird; dodi folgt darauf eine moralische Betrachtung, die im Vergleich zur verdorbenen Gegenwart unvermittelt ein Preislied jenes Naturzustandes anstimmt. Damals gab es keinen Krieg, keine Sdiiffahrt, es stürzte noch nicht ein Tag vieltausend Männer in den Tod; während damals Mangel an Nahrung herrschte, begräbt uns heute der Überfluß, während man damals oft unbewußt am Gift zugrundeging, reicht man es heute heuchlerisch den nächsten Anverwandten: . . . at non multa virum sub signis milia ducta una dies dabat exitio, nec túrbida ponti aequora lidebant navis ad saxa virosque .. . improba navigli ratio tum caeca iacebat. tum penuria deinde cibi languentia leto membra dabat, contra nunc rerum copia neersat. illi inprudentes ipsi sibi saepe venenum vergebant, nunc dant soceris sollertius ipsi .. Die gleiche Auffassung der urgeschichtlichen Menschheit begegnet uns in einem Hesiod-Scholion des Tzetzes 99 , das von einer ganz naturalistischen Interpretation Hesiods ausgeht, um dann ebenfalls das primitive Leben als Ideal unschuldigen Glückes gegenüber der verderbten Kulturwelt zu preisen:

sophische Ansichten über die Entstehung des Menschengeschlechts, seine kulturelle Entwicklung und das goldne Zeitalter. Beiträge zur Geschichte der griechischen Philosophie, III. In: Jahrbücher f. classisdie Philologie, 19. Supplementband, Leipzig 1893, S. 416 f. " Diese veränderte Einstellung gegenüber dem Prometheus-Mythos entspricht - um wiederum eine Parallele zum 18. Jahrhundert zu ziehen - auffallend der Ansidit Rousseaus. In seinem „Discours sur les sciences et les arts", dessen Hauptzweck darin besteht, nachzuweisen, daß „avant que l'art eût façonné nos manières et apprit à nos passions à parler un langage apprêté, nos moeurs étoient rustiques, mais naturelles" (Oeuvres Complètes, a. a. O. T. I, p. 4), befindet sidi auf dem Titelblatt nicht zufällig eine Darstellung des fackeltragenden Prometheus, der einem sich neugierig nähernden Satyr zuruft: „Satyre, tu pleureras ta barbe de ton menton, car il brûle quand on y touche". Das wird in dem Discours selbst dahingehend gedeutet, daß Prometheus ein feindlicher Gott war, der durdi die Gabe des Feuers und der aus ihm resultierenden Künste die Ruhe und den Frieden des Menschengeschlechts gestört habe (a. a. O. I, 10). « T . Lucretius Carus, De Rerum Natura V, 925 ff. (hg. von H. Diels. Bd. I: Lateinisch, Berlin 1923; Bd. II: Deutsch, Berlin 1924). 118 De Rerum Natura V, V. 999-1001; 1006-1010. " Die Scholien des Tzetzes zu Hesiods Erga stammen aus dem 5. nachchristlichen Jahrhundert, gehen aber auf sehr viel ältere Meinungen zurück; unser Textstück (abgedruckt bei H. DIELS, Die Fragmente der Vorsokratiker, a. a. O. Bd. II, Nachträge S. X I V f.) gibt zunächst demokritische, dann wahrscheinlich epikureische Gedankengänge wieder. Vgl. UXKULL-GYLLENBAND, a. a. O. S. 33; E. NORDEN, a. a. O . S . 411 ff.

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„Die damaligen Mensdien, die nodi ganz einfältig und unerfahren waren, kannten nodi keinerlei Gewerbe oder Landbau nodi irgend etwas anderes . . . In soldier Lage führten sie (aber) ein einfaches und schlichtes Leben in Liebe und Freundschaft miteinander, aber nodi ohne Kenntnis des Gebrauches des Feuers. Sie hatten audi nodi keine Könige, keine Herrscher oder Herren, kannten weder Kriegszüge nodi Gewalttat nodi Raub, sondern kannten nur dies Leben in Freundschaft miteinander und in Freiheit und Einfachheit. Als sie dann aber, vorsorglicher und vorbedachter geworden, den Gebrauch des Feuers entdeckt hatten, da begehrten sie nach wärmeren, d. h. raffinierteren Dingen und kehrten ihr schlichtes und freies Leben und Dasein um durdi die Dinge, durch die die Welt geschmückt war und uns die angenehmen, ergötzlichen und üppigen Dinge zuteil werden, die uns nach Art eines Weibes umschmeicheln und uns zu üppiger Lebensweise verführen . . ." lu0 .

Auf dem Hintergrunde dieser philosophisdien Interpretation der Urgeschichte im Sinne eines neuen, der Gegenwart als Spiegel vorgehaltenen naturnahen Lebensideals, das bezeichnenderweise nun auch den Prometheus-Mythos einer satirischen Behandlung aussetzt 101 , haben wir jene sentimentale Natursehnsucht zu verstehen, die in der hellenistischen Dichtung dieses Zeitraums immer stärker hervortritt und im bukolischen Idyll eines Theokrit, Bion und Moschos ihren bekanntesten Ausdruck gefunden hat. Freilich darf audi hier nicht übersehen werden, daß die Vorstellung von einem goldenen Zeitalter mit ihren bestimmten, durch Hesiod festgelegten Wunschbildern nicht erneuert wird. Es handelt sich vielmehr darum, daß die im Laufe mehrerer Jahrhunderte zur Herrschaft gelangte Ansicht von einem ursprünglich rohen und hilflosen Menschengeschlecht durch eine neue Zeitstimmung aufgenommen und im Sinne der mittlerweile erwachten Kulturmüdigkeit und romantischen Idealisierung ferner Naturvölker derart umgedeutet wird, daß das Verhältnis von Urzustand und Gegenwart auf den unmittelbar empfundenen Gegensatz von Land- und Stadtleben übertragen werden und die Sehnsucht nach der einfachen, unverdorbenen Natur im Umkreis des ländlichen Lebens der Bauern, Hirten, Jäger und Fischer ihre dichterische Erfüllung suchen konnte. Der damit aktualisierte Kontrast wird allerdings als ein reizvolles Kunstmittel verstanden: wenn etwa in Theokrits Idyllen die Heimat der sizilischen Hirten und ihr ländliches Leben, Lieben und Singen in das verklärende Licht der Natursehnsucht getaucht wird, so bleibt die Dissonanz zwischen dem Bukolisch-Primitiven und dem GroßstädtischLiterarischen doch immer spürbar und verrät den sentimentalischen, distanziert ausgekosteten Standpunkt des Betrachters. Die einzige Stelle, die in Theokrits X I I . Idylle auf das goldene Zeitalter anspielt, deutet zwar auf die Vergangenheit zurück, meint aber bezeichnenderweise die fiktive Gegenwart der erfüllten Hirtenliebe, von welcher der Dichter wünscht, daß sie im Munde der Nachwelt als eine neue goldene Zeit besungen werden und fortleben solle 102 :

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Die deutsche Obersetzung nadi W. CAPELLI, Die Vorsokratiker, a. a. O. S. 468 f. Ein besonders aufscfclußreiches Zeugnis dafür, die römische Prometheus-Satire des Varrò, wird von E. NORDEN, a. a. O. S. 428 ff. ausführlich behandelt. 102 Theokritos, Bion und Moschos. Deutsch im Versmaß der Ursdirift von E. Mörike und F. Notter. 2. Aufl., Stuttgart 1883, S. 73 (Idylle XII, V. 10 ff.). Zum griediisdien Text vgl. Theocritus. Edited with a Translation and Commentary by A. S. F. Gow. Vol. I, Cambridge 1952, p. 92. - Eine engere Verknüpfung der bukolischen Landschaft mit der Vorstellung des goldenen Zeitalters erfolg« erst in Vergils Eklogen, vgl. unsere Arbeit, S. 59 ff. 101

Hellenistische Naturverklärung

und stoisAer VermittlungsversuA

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Dafi einträcht'ge Eroten das Herz durdihauditen uns Beiden, Und wir würden zum Lied für alle Gebor'nen der Zukunft: Wie dodi lebeten einst in der Vorzeit Jene zusammen! . . . Von neuem Blühte die goldene Zeit als der Liebende war der Geliebte! . . .

Dagegen hat die stoisdie Philosophie nodi einmal den Versuch unternommen, zwischen den unversöhnlich aufgebrochenen Widersprüchen des kulturellen Fortschrittsglaubens und den volkstümlicheren Vorstellungen von einem goldenen Zeitalter zu vermitteln, und zwar durch einen der universalsten Geister der Antike, der wie kein anderer bis ins späte Mittelalter hinein zu wirken und den Brückenschlag zwischen Antike und Christentum herzustellen berufen war: durch Poseidonios103. Das Lebensideal der Stoiker, das ebenfalls die Einfachheit, Natürlichkeit und Bedürfnislosigkeit der Lebensführung betonte, mußte sich zur Idealisierung der Vorzeit besonders veranlaßt fühlen. Hinzu kommt aber, daß ihre entschiedene Kampfstellung gegen den Rationalismus und Skeptizismus bewußt darauf gerichtet war, alte, volkstümliche Anschauungen und mythische Überlieferungen zu bewahren, so daß audi der Mythos vom goldenen Zeitalter durch die stoische Philosophie seine populärste und für die hellenistische Welt wirksamste Ausprägung erfahren hat104. Die Lehre des Poseidonios über den Urzustand der Menschheit ist aus dem kritischen Bericht abzuleiten, den Seneca mehr als hundert Jahre später in seinen „Moralischen Briefen an Ludíais" gibt. Dabei deuten die Einwände, die der Römer gegen seinen griechischen Vorläufer erhebt, auf jene bekannte Vorstellung hin, nach welcher die Kulturentwicklung das Verderben über das zuvor glückselige Menschengeschlecht gebracht habe. Audi in der römischen Stoa wird der Gegensatz von Natur und Kultur, von Land und Stadt, von bedürfnisloser Unschuld und verschwenderischer Entartung auf das Verhältnis von Urzeit und Gegenwart bezogen; der Urzustand wird zum Wunschbild, zum idealen Spiegel für die verdorbene Mitwelt: „Quid hominum ilio genere felicius? in commune rerum natura fruebantur. sufficiebat illa ut parens ita tubela omnium, haec erat publicarum opum secura possessio, quidni ego illud locupletissimum mortalium genus dixerim, in quo pauperem invenire non posses? . . . terra ipsa fertilior erat inlaborata et in usus populorum non diripientium larga . . . arma cessabant incruentaeque humano sanguine manus odium omne in feras verterant. illi quos aliquod nemus densum a sole protexerat, qui adversus saevitiam hiemas aut imbris vili receptáculo tuti sub fronde vivebant, placidas transigebant sine suspirio noctes. sollicitude nos in nostra purpura versât et acerrimis excitât stimulis: at quam mollem somnum illis dura tellus dabat!"105

105 Zum Folgenden vgl. vor allem: Κ. REINHARDT, Poseidonios. Mündien 1921, S. 392 ff. Vom gleichen Verfasser: Poseidonios über Ursprung und Entartung. Interpretation zweier kulturgeschichtlicher Fragmente. Orient und Antike, Heft 6. Heidelberg 1928. Ferner: W . JAEGER, Nemesios von Emesa. Quellenforschungen zum Neuplatonismus und seinen Anfängen bei Poseidonios. Berlin 1914, S. 120 ff. und UXKULL-GYLLENBAND, Griechische Kultur-Entstehungslehren, a. a. O. S. 44 ff. 104 M. POHLENZ, Die Stoa. Geschidite einer geistigen Bewegung. Bd. I, Göttingen 1948, S. 75 ff. u. 234 ff. In unserem Zusammenhang wird nur die Urzeit-Vorstellung behandelt; zur stoischen Lehre von den Weltperioden und der Wiederkehr eines goldenen Zeitalters nach Ablauf des großen „Weltjahres" vgl. unsere Arbeit, S. 76 f. 105 L. Annaei Seneca Opera quae supersunt. Vol. I I I : Ad Lucilium Epistularum Moralium. Ed. O. Hense. Leipzig 1898, p. 367 ff. (Ep. Mor. 90).

Die griechische

46

Antike

Während Seneca also jenes verklärte Bild der primitiven Urmensdiheit hervorhebt, das die römische Stoa, wenn audi unter einem stärker betonten ethischen Aspekt, mit der sentimentalisdien Natursehnsucht des Hellenismus verbindet, hatte die von ihm referierte Urgeschichte des Poseidonios offenbar eine Synthese zwischen der mythischen Uberlieferung und der wissenschaftlichen Erkenntnis herzustellen versucht. „Ilio ergo saeculo, quod aureum perhibent, penes sapientes fuisse regnum Posidonius iudicat",

d. h. der Auffassung des griechischen Philosophen nach lag am Anfang der Geschichte ein goldenes Zeitalter, das unter der Herrschaft der Weisen, der Philosophen stand106. Darin wirkt unverkennbar Piatons Vorstellung von den „göttlichen Hirten" nach, die aber philosophisch umgedeutet und als Vermittler der göttlichen Vernunft an die nodi unmündige Menschheit verstanden, vielleicht audi mit den Philosophenkönigen der platonischen Staatsutopie in Verbindung gebracht werden. Sie wurden die geistigen Führer der anfänglich primitiv, in Höhlen oder hohlen Baumstämmen lebenden Menschen, deren Nahrung in den wilden Früchten der unbebauten Erde bestand; erst durch sie wurden die Menschen zu einem glücklichen, in Frieden und Ordnung gelenkten und durch allmähliche Unterweisung in den verschiedenen Kunstfertigkeiten segensreichen Leben geführt. Dieser Zustand, den die Dichter später als das goldene Zeitalter besungen haben, steht zwar dem Ursprung nahe und wird ausdrücklich mit der ungeschwächten Zeugungskraft der Erde und der Gottnähe der ersten Menschen in Verbindung gebracht - so daß das unwillkürliche Wahlkönigtum der frühesten Gesellschaftsordnung wirklich die Besten, die Weisen als Träger der unfehlbaren göttlichen Vernunft, zur Herrschaft gelangen ließ - er wird aber andererseits als ein erstes, kulturelles Blütezeitalter beschrieben, für das z. B. die Erfindung der Künste unerläßlidi ist. Erst als in einer späteren Periode die Menschen der Unsitte verfielen und die anfängliche Königsherrschaft zur Tyrannis entartete, ergab sich das Bedürfnis nach Verfassung und Gesetz. Zwar wirkte der Urzustand noch nach, so daß die ältesten Gesetzgeber wiederum die Weisen wurden, aber diese mußten sich immer mehr vom öffentlichen Leben zurückziehen, eine fortschreitende Spaltung und Zersplitterung der Berufe setzte ein, und mit ihr kam es zu Streit, Krieg und Laster, die das Bild der Geschichte bis heute bestimmen. In dieser Auffassung, daß das goldene Zeitalter erst mit der Erfindung der Künste anhebe, daß ihm als einem frühen Kulturzeitalter unter der natürlichen Herrschaft der Weisen also eine Periode der rohen und primitiven Menschheit vorangegangen sein müsse107, liegt der Vermittlungsversuch des Poseidonios; der Mythos 108

Ep. Mor. 90, 5. 107 Wenn E. NORDEN annimmt, daß Poseidonios selbst vor das goldene Zeitalter noch eine Periode der Roheit und Wildheit gesetzt habe (a. a. O. S. 426), so wird das explicite wohl kaum der Fall gewesen sein, obwohl es die Konsequenz erfordert hätte; wir müssen hier vielmehr mit einem bezeichnenden Widerspruch seiner Darstellung rechnen. „Ein Wunschbild, das den Fortschritt Rückschritt werden lässt, kreuzt sich mit dem Gedanken der allmählichen Entwicklung, beides, streng genommen, unvereinbar und doch aus demselben schöpferischen Willen quellend . . ( K . REINHARDT, Poseidonios, a. a. O. S. 401). „In Poseidonios' Urgesdiidite ringt das stoisdie Dogma (sc. vom goldenen Zeitalter) mit der wissenschaftlichen Erkenntnis . . . " (UXKULL-GYLLENBAND, a. a. O. S. 45).

Hellenistische Naturverklärung und stoischer VermittlungsversuA

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vom goldenen Zeitalter mit seiner kulturpessimistischen Tendenz und der Prometheus-Mythos mit seinem kulturellen Fortschrittsglauben treten auf dieser Stufe des griechischen Denkens zu einem gewissen Kompromiß zusammen, der das Bild der vergangenen Idealzeit modifizieren mußte. So erscheint es charakteristisch, daß in der schon erwähnten Schilderung des goldenen Zeitalters durch Aratos, den der stoischen Philosophie nahestehenden Dichter der „Phainomena", trotz seiner sonst engen Anlehnung an Hesiod das Wunschmotiv der freiwillig, ohne Saat und Pflug fruchtbringenden Erde preisgegeben wird. Wenn hier der Ackerbau bereits im goldenen Zeitalter vorausgesetzt wird (V. 112), so haben wir darin ein bewußtes Abweichen von der mythischen Überlieferung zu erblicken, das durch die vermittelnde Auffassung der Stoiker motiviert wird: gilt dodi der Ackerbau allgemein als Ursprung aller Kultur108.

Die Einsprüche Senecas, der gegen die Auffassung des Poseidonios heftig polemisiert und bei jeder einzelnen, durch die Weisen vermittelten Kunstfertigkeit das Verderbliche ihrer Erfindung hervorhebt - „mihi crede, felix illud saeculum ante ardiitectus fuit, ante tectores: ista nata sunt iam nascente luxuria" 1 0 ' - zeigen allerdings auch, daß diese bedingte Anerkennung der Kulturentwicklung immer wieder mit dem Ideal der „Natürlichkeit" in Konflikt geraten mußte, das der Lebensstimmung kultureller Spätzeiten eigentümlich ist. Hier wie audi sonst tritt der Idee des goldenen Zeitalters jene Verklärung des primitiven Naturzustandes zur Seite, die, trotz aller Übergänge und erneuten Mythisierungstendenzen, ihrem Ursprung nach von jener älteren Vorstellung unterschieden werden muß. W e n n die Poseidonios-Forsdiung den großartigen Versuch einer Verschmelzung zweier im L a u f e der Jahrhunderte griechischen Denkens hervorgetretenen Anschauungsweisen hervorgehoben hat 110 , so ist das gewiß berechtigt; f ü r unseren Zusammenhang ist es bedeutsam, daß die Idee des goldenen Zeitalters damit erstmals dem Einspruch der wissenschaftlichen Erkenntnis über die primitiven A n f ä n g e des Menschengeschlechtes zu begegnen sucht, indem sie den mythischen A n f a n g aller Geschichte preisgibt und das goldene Zeitalter auf eine zwar frühzeitliche, aber bereits durdi Kultur geformte, dem Ursprung noch nahestehende, aber die rohe und unwissende Menschennatur durch weise Lenkung bändigende Geschichtsstufe verlegt. Dem entspricht es nur, wenn Poseidonios, trotz seiner Nähe zu Piaton, nicht den Übergang ins Mythische vollzieht, sondern scheinbar als Empiriker verfährt, der f ü r seine Schilderung der goldenen Urzeit das Anschauungsmaterial der fernen N a t u r und Barbarenvölker benutzt, die auf einer dem Urzustand näheren Kulturstufe stehengeblieben sind. Seine vermittelnde Auffassung ist freilich fast ohne Einfluß auf die dichterischen Darstellungen des goldenen Zeitalters geblieben, die auch innerhalb der römischen Antike der mythischen Überlieferung treu bleiben. Dagegen hat sie um so stärkeren Anklang in den philosophischen Kreisen Roms gefunden. Darüber hinaus aber hat seine Vorstellung vom idealen Urmenschen den größten Einfluß auf das Christen-

108 Vgl. die Zusammenstellung der Belege bei E. GRAF, Ad aureae aetatis fabulam symbola. Leipziger Studien zur classisdien Philologie, Bd. 8, Leipzig 1885, S. 43 f. u. 47 f. '»» Ep. Mor. 90, 9. 110

Κ . REINHARDT, P o s e i d o n i o s , a . a . O . S . 3 9 9 ; W . JAEGER, N e m e s i o s v o n E m e s a , a . a . O . S . 1 2 3 / 2 4 .

Die griechische Antike

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tum ausgeübt, wo die Genesis-Exegese der ältesten griechischen Kommentatoren auf die Lehren der Stoa zurückgreifen und das Paradies dem goldenen Zeitalter gleichsetzen konnte 111 ; sie hat in Verbindung mit der christlichen Adamsmystik, wie vor allem Konrad Burdach nachgewiesen hat 112 , bis ins späte Mittelalter nachgewirkt. Jedenfalls haben wir in ihr die erste Begründung dafür zu suchen, daß sich die Idee des goldenen Zeitalters siegreich gegen das rationalistische Denken behaupten und, in Verbindung mit dem orientalischen und jüdisch-christlichen Einflußstrom, der sich zunächst innerhalb der römischen Antike auswirkt, ihren Weg durch Mittelalter und Neuzeit antreten konnte.

W i r haben die griechische Ideengeschichte - dies sei zum Absdiluß des Kapitels gesagt - unter einem bestimmten Gesichtspunkt dargestellt, der sie uns paradigmatisch erscheinen läßt für gewisse, auch später immer wiederkehrende Grundformen der Einstellung und Auseinandersetzung 118 . Aus dem Leiden an der Gegenwart und als Versuch einer Sinndeutung dieser entarteten Gegenwart erwächst bei Hesiod der Mythos von einem vergangenen goldenen Weltalter, der, auf ältere Überlieferungen zurückgreifend, den Gang der Geschichte als fortschreitende Verschlechterung deutet und der Gegenwart den Spiegel einer glückseligen und götternahen Menschheit entgegenhält. Gegen diesen pessimistisch orientierten Urzeitglauben wendet sich der kulturelle Fortschrittsglaube, zunächst ebenfalls in einer mythischen Gestaltschöpfung (Prometheus), dann in der rationalistischen Ausdeutung und Argumentation der Sophisten, denen sich die griechischen Kulturhistoriker der klassischen Zeit anschließen, so daß die wissenschaftliche Erkenntnis schließlich in unversöhnlichem Gegensatz zu Mythos und Dichtung steht. Gleichzeitig greift die Komödie der attischen Blütezeit die volkstümlichen Vorstellungen vom goldenen Zeitalter auf, um sie in ihrer Travestierung zum derb-sinnlichen Schlaraffenland als ewigmenschlichen Wunschtraum zu entlarven und zu verspotten. Auf dieser Stufe der rationalistischen und satirischen Zersetzung bilden sich drei Möglichkeiten der Erneuerung des Mythos aus, die als idealtypische Ansätze gelten können und im Denken der Neuzeit fortgebildet werden: Bei Piaton erfolgt eine Transponierung der idealen UrzeitVorstellung in die Sphäre der Idee, die zwar nur im Mythos anschaulich wird, die

Vgl. K. GRONAU, Poseidonios und die jüdisch-christliche Genesisexegese. Leipzig 1914. Vom Mittelalter zur Reformation. Forschungen zur Gesdiidite der deutschen Bildung. Im Auftrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften hg. von K. Burdach. III. Band, 1. T e i l : Der Ackermann aus Böhmen. Berlin 1917, S. 314 ff. Vgl. ferner: Reformation Renaissance Humanismus. Berlin 1918, S. 38 ff.; Platonische, freireligiöse und persönliche Züge im .Ackermann aus Böhmen*. S B d. Preuß. Ak. d. Wiss. Phil.-Hist. Kl., Berlin 1933. 1 1 5 Zu dieser Darstellung besteht um so mehr Veranlassung, als in den Arbeiten J . Petersens sowie in der Dissertation A. Christiansens - den einzigen Untersuchungen zur Idee des goldenen Zeitalters im 18. Jahrhundert - die Antike völlig unberücksichtigt bleibt. Das erscheint in Anbetracht des antiken Ursprungs dieser Idee und der im Laufe ihrer Geschichte immer wieder mit besonderer Eindringlichkeit zu beobachtenden Nachwirkung antiker Vorbilder bis ins 18. Jahrhundert hinein als unzulässige Verkürzung des im übrigen betonten, geistesgeschichtlichen Blidcfeldes. Vgl. J . PETERSEN, Das goldene Zeitalter bei den deutschen Romantikern, a. a. O. S. 119ff.; Die Sehnsucht nach dem Dritten Reith in deutscher Sage und Dichtung. Stuttgart 1934; A. CHRISTIANSEN, Die Idee des goldenen Zeitalters bei Hölderlin. Diss. (Masch.), Tübingen 1946. 111 n t

Hellenistische 'Naturverklärung und stoischer Vermittlungsversuch

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aber als zeitlos-gegenwärtige Forderung alle Phasen der empirisdien Ersdieinungswelt überspannt, so daß audi der mythische Ursprungsraum der Geschichte, in welchem sie sich verkörpern kann, als jenseits von Zeit und Geschichte - als echte „Vorzeit" - verstanden werden muß. Im Hellenismus setzt dagegen eine Verklärung der primitiven Urzeit ein, die zwar den Mythos vom goldenen Zeitalter nicht erneuert, aber das von der kulturhistorischen Kritik entworfene Bild der urgeschichtlichen Menschheit sentimental erweidit und damit einer Idealisierung vorarbeitet, die sich gleichsam von hinten her dem Paradiese der mythischen Überlieferung wieder annähert. Und schließlich unternimmt die mittlere Stoa den Versudi, die ideale U r sfandslehre mit dem kulturellen Fortschrittsglauben in ein gewisses Gleichgewicht zu bringen, indem sie das goldene Zeitalter in eine frühe, auf die älteste Periode der Roheit und Unwissenheit folgende Kulturepoche unter der Herrschaft weiser Philosophenkönige verlegt. Diese drei Möglichkeiten einer Erneuerung des Mythos vom goldenen Zeitalter in einer Epoche des Denkens, welche die mythische Überlieferung nicht mehr fraglos als Geschichte hinnehmen kann, weisen bis ins 18. Jahrhundert vorauf, wo die ideelle Interpretation des Mythos vor allem von der Dichtung der deutschen Klassik, die Verklärung des primitiven Naturzustandes (mit allen Mythisierungstendenzen) vor allem von Rousseau, die Verlagerung des goldenen Zeitalters vom absoluten Anfang der Geschichte auf gewisse frühzeitliche, kindlichelementare, aber kulturell geformte Geschichtsepochen vor allem von der deutschen Frühromantik vertreten wird 114 . 1,4 Diese Übertragung auf das 18. Jahrhundert gilt natürlich nur in einer gewissen, idealtypisdien Vereinfachung und wird in den folgenden Kapiteln unserer Arbeit differenzierter dargestellt werden.

II. Kapitel

Die römische Antike

1. Die Erneuerung des griechischen Mythos Die Aufnahme und Anverwandlung des griechischen Mythos vom goldenen Zeitalter vollzieht sich in der römischen Antike vor allem auf zwei Ebenen. Sie wird zunächst durch die Angleidiung und wechselseitige Durchdringung des griechischen und des römischen Götterkultes mitsamt ihren mythologischen Vorstellungskreisen bestimmt. Daneben aber setzt sich die neue, veränderte Geschichtsauffassung des Römertums durch, das sich mit der Sage vom goldenen Zeitalter sein eigenes, spezifisch römisches Vergangenheitsideal schafft und dieses auf die Zukunft des römischen Weltreiches, auf das zunächst erwartete und prophetisch verkündete, dann in die Geschichte eintretende Friedenszeitalter des Augustus überträgt. Diese letztere, vor allem am Beispiel Vergils zu behandelnde Umformung der antiken Idee, in welcher der eigentliche und unverlierbare Beitrag des römischen Geistes zu der von uns angedeuteten Ideengesdiichte besteht, soll hier in ihren Voraussetzungen und vorbereitenden Stufen aufgezeigt werden, indem sie mit dem Fortleben der griechischen Mythentradition in der Dichtung und Geschichtsschreibung Roms in Zusammenhang gebracht wird. Der erste Schritt zu einer Anverwandlung der griechischen Überlieferung scheint mit der Übertragung der Kronos-Mythen auf den altitalischen Gott Saturnus vollzogen worden zu sein. Wir hatten bereits berührt, daß in Griechenland die Erinnerung an das goldene Zeitalter durch das alljährlich gefeierte Fest der „Krönten" lebendig erhalten wurde, an welchem volle Ungebundenheit und Freiheit herrschte und die Sklaven selbst von ihren Herren bewirtet wurden. Bei den Römern ist, wenn man der Darstellung des Livius folgen darf 1 , im Jahre 217 v. Chr. auf Anordnung der sibyllinisdien Bücher das Erntefest des Saturnus nach diesem hellenischen Brauch verbessert worden; diese Umgestaltung zur Feier der „Saturnalien" hat eine mittlerweile bereits vollzogene Gleichsetzung des Saturnus mit Kronos zur Voraussetzung2. So ist mit Kronos auch die Sage vom goldenen Zeitalter nach Rom gekommen, und zwar in der Form, daß Saturnus, nachdem er im Götterkriege seiner Macht beraubt und in den Tartarus geschleudert worden, als Flüchtling zu Schiff an die Küste von Latium gelangt sei, wo er, von Janus aufgenommen, mit ihm als König regiert und das noch wilde Urvolk Italiens durch Unterweisung im Ackerbau 1

Ab Urbe Condita Lib. XXII, 1, 19f.; vgl. K. SEELIGER, a. a. O. Sp. 414. Vgl. G. W I S S O T A , Artikel „Saturnus", in: Lexikon der Griedhisdien und Römischen Mythologie, a. a. O. Bd. IV, Sp. 432 ff. 8

Die Erneuerung des grieAisAen

Mythos

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und durch seine weise Gesetzgebung zur Gesittung und Kultur erhoben und damit ein goldenes Zeitalter in der Urgeschichte Roms geschaffen habe. Hier wird das goldene Zeitalter also bereits nicht mehr an den Anfang der Menschheitsgeschichte gesetzt, sondern folgt, auf das italische Urvolk übertragen, einer frühesten Periode des tierisch-rohen Naturzustandes. Es ist die vermittelnde Auffassung des Poseidonios, nach welcher die Weisen der Menschheit mit Ackerbau und Gesetz das goldene Zeitalter gebracht haben, die hier in den „Saturnia regna" der römischen MythenÜberlieferung deutlich nachwirkt3. Vor allem Vergil hat in seiner ,Aeneis' die Geschichte von der Einwanderung des Saturnus und seiner segensreichen Regierung in Latium zur römischen Nationalsage erhoben, wenn im achten Buch Euander dem Trojaner Aeneas die Urgeschichte Roms erzählt: Haec nemora indigenae Fauni Nymphaeque tenebant gensque virum truncis et duro robore natra, quis neque mos neque cultus erat, nec iungere tauros aut componere opes norant aut parcere parto, sed rami atque asper victu venatus alebat. Primus ab aetherio venit Saturnus Olympo, arma Iovis fugiens et regnis exsul ademptis. is genus indocile ac dispersum montibus altis composuit legesque dedit Latiumque vocari maluit, his quoniam latuisset tutus in oris. aurea quae perhibent ilio sub rege fuere saecula: sic placida populos in pace regebat . . Λ

Diese schöpferische Anverwandlung des Kronos-Mythos durch seine Übertragung auf die römische Urgeschichte und die saturnische Herrschaft in Latium legt den Grundstein für die Hoffnung auf ein kommendes goldenes Zeitalter, das die Geschichte Roms krönen und aus der mythischen Vergangenheit in die Zukunft der Roma aeterna, des weltumspannenden, allen Völkern Recht und Frieden schenkenden Imperium Romanum weisen soll. Diese Hoffnung, der wiederum Vergil in seiner ,Aeneis' den mächtigsten, auf Augustus als den „ di vus praesens" gegründeten Ausdrude verliehen hat hic vir hic est, tibi quem promitti saepius audis, Augustus Caesar, Divi genus, aurea condet saecula qui rursus Latió regnata per arva Saturno quondam . . . 5 -

diese den Griechen so fremde Zukunftshoffnung hängt mit dem neuen, römischen Geschichtsdenken zusammen, das sich grundlegend von der griechischen Geschichtsauffassung unterscheidet und daher die Idee des goldenen Zeitalters, die als solche stets eine bestimmte Deutung der Geschichte einschließt und in allen ihren Vor-

9 Vgl. E. NORDEN, Philosophische Ansichten über die Entstehung des Menschengeschlechts, seine kulturelle Entwicklung und das goldne Zeitalter, a. a. O. S. 425 ff., wo der Einfluß des Poseidonios auf Varrò, Cicero und die philosophischen Kreise Roms nachgewiesen wird. 4 Aeneis V i l i , V. 314 ff. (Vergil, Aeneis. Lateinisch u. deutsch. Eingeleitet u. übertragen von A. Vezin. Münster 1952). 5 Aeneis VI, V. 791 ff.

4*

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Die römisAe

Antike

stellungsformen mehr oder w e n i g e r deutlich abwandelt, entscheidend beeinflussen mußte. Das römische Geschichtsbewußtsein ist gekennzeichnet durch ein eigenartiges Verhältnis zur Vergangenheit, die sidi, anders als bei den Griechen, „mit ihrer Autorität gebietend und beschränkend und riditungweisend, mit ihrer geheiligten Ehrwürdigkeit fromme Anhänglichkeit, Hingabe und Liebe wirkend", in die Gegenwart hinein erstreckt und unmittelbar in das politische Leben des Römers eingreift*. Die Betrachtung der Vergangenheit, der Urgeschichte Roms, die schon frühzeitig durch Aeneas mit der griechischen Sage verbunden, das römische Selbstbewußtsein vor dem eingedrungenen Griechentum retten und seine Überlegenheit bewähren sollte, erweist sich auf dem Hintergrund einer solchen, dem römischen Denken eigentümlichen Gesamtansicht der Geschichte mehr und mehr als eine rüdcwärtsgewandte Prophetie: die mythische Vergangenheit Roms wird zum Versprechen der Zukunft, das mit dem Glauben an die Berufung Roms zur Weltherrschaft und an die fortschreitende Erfüllung der Verheißungen, unter denen es bereits in der Urzeit angetreten ist, ein neues goldenes Zeitalter des Friedens und der saturnischen Ordnung erwarten läßt. Ansätze zu einer solchen Gesamtansicht der römischen Geschichte finden sich schon bei Polybios um 150 v. Chr., dem ersten Universalhistoriker, dem alle Ereignisse auf ein bestimmtes Ziel, eben die Weltherrschaft Roms, zuzuführen scheinen - obwohl sich bei ihm das griechische Erbe in der unausgeglichen danebenstehenden Theorie vom Kreislauf der Verfassungen bemerkbar macht, nach welcher alle Staaten ihren naturgesetzlichen Wechsel von Wachstum und Größe bis zu Niedergang und Verfall durchlaufen müssen 7 . Völlig durchgeführt erscheinen diese Ansätze dann in der klassischen Geschichtsschreibung und Dichtung der augusteischen Blütezeit. Daß die Geschichte einmalig und unwiederholbar aus der frühesten Vergangenheit in die Gegenwart läuft und daß von ihrer inneren Richtungstendenz zugleich die Zukunft bestimmt wird - dieser der jüdischen und diristlich-eschatologischen Geschichtsauffassung so erstaunlich verwandte Gedanke unterscheidet sich grundlegend von der Zyklentheorie der Griechen, die das Auf und Ab der wechselnden Geschicke als immer wiederkehrende Kreislaufbewegung der Geschichte deutet, und macht von daher erst das starke römische Interesse an den Ursprüngen der Geschichte, an der mythischen Vorzeit verständlich. Die „eschatologische" Wendung, welche die Idee des goldenen Zeitalters im römischen Denken erfährt, hängt, wie am Beispiel der ,Aeneis' Vergils behandelt werden soll, mit dieser veränderten Gesdiiditseinstellung zusammen, von der her auch der gewiß vorhandene Einfluß jüdisdidiiliastischer Ideen bei Vergil allererst erklärt werden kann 8 . D a n e b e n ist jedoch die Dichtung des römischen Altertums v o m Fortleben der griechischen Mythentradition bestimmt, w i e sie in den .Metamorphosen' des Ovid, diesem wichtigsten Dokument für die Vermittlung des antiken Mythos a n das europäische Mittelalter, oder in den Dichtungen der römischen Elegiker Catull, Properz und Tibull zum Ausdruck kommt. H i e r wird die Sage v o m g o l d e n e n Zeitalter in der gleichen Form, w i e wir sie innerhalb der griechischen Geistes- und Diditungsgeschidite kennengelernt haben, a u f g e n o m m e n und mit dem gleichen pessimistischen Grundton, der durch die Verneinung der zerrütteten, in Krieg und Rechtlosigkeit g e f a l l e n e n G e g e n w a r t geweckt wird, dargestellt. Ein wesentliches hellenistisches Zwischenglied scheint dabei die Dichtung des Âratos gebildet zu haben - die schon erwähnten ,Phainomena', in denen der stoischen Kreisen nahestehende Dich• F. KLINGNER, Römische Geschichtsschreibung. In: Römische Geisteswelt, 3. Aufl., München 1956, S. 71. 7 Diese eigentümliche Zwischenstellung des Polybios behandeln: F. TAEGER, Die Ardiaeologie des Polybios. Stuttgart 1922; W . SIEGFRIED, Studien zur geschichtlichen Anschauung des Polybios. Berlin 1928; K. LÖWITH, Weltgeschichte und Heilsgesdiehen, a. a. O. S. 16. 8 Vgl. unsere Arbeit, S. 75 f. u. 89 ff.

Die Erneuerung des griechischen Mythos

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ter um 270 v. Chr. das astronomische System des Eudoxos von Knidos poetisch bearbeitet und zu einem umfangreichen Epos von den Himmelserscheinungen umgeformt hatte. In diesem Werk, von dessen Beliebtheit im römischen Altertum die zahlreichen lateinischen Übertragungen und Bearbeitungen durch Cicero, Caesar Germanicus, Avienus u. a. zeugen9, war das goldene Zeitalter als jene Urzeit geschildert worden, da Dike, die Göttin des Rechtes, noch unter den Menschen weilte und in ihrer Mitte das unschuldig-friedliche Dasein des ersten Menschengeschlechtes teilte - bis sie, über die folgenden, verderbten Geschlechter erzürnt, im ehernen Zeitalter die Erde verließ und zum Himmel zurückkehrte: . . . der Vorwelt Sage ist die nodi: Dass einst, weilend auf Erden, sie kam den Menschen erscheinend, Nie mied das uralte Geschlecht der Mannsen und Weibsen, Sondern in seiner Mitte, obgleich ein' unsterbliche, sass. Man Nannte Dike sie. Auf geräumige Anger und Märkte Führete sie die Greise versammlend, und zeigte er ämsig Weldi sey das Redit der Gesellschaft. Nicht kannte verderblich Gezänk man Weder neckende Händel, nodi Aufruhr. So lebte man damahls. Fern ab lag das gefährliche Meer, und Bedürfniss nodi führte Kein Schiff aus der Fremde herbey, dies thaten nur Stiere Und Pflug; selbst die Dike, die Fürstinn gerechter Völker Spendet' unzählbar die Gaben. So lange nur sprossten auf Erden Golden die Menschen, so lange audi weilte sie da; ward aber Seltner den silbernen, ganz so bereit zum Umgang nicht ferner, Missend die Sitten der alten Geschlechte . . . Als auch diese verstorben, hervor drauf andere traten, Nodi verderbtere Menschen als jene, von Erz war die Brut. Sie Sdiweisste zuerst die verwundenden, stets sie begleitenden Sdiwerdter, Schmeckte den pflügenden Stier. Auf flog nun, dieses Geschlechte Hassend, Dike gen Himmel, wo in der Gegend sie herrschet In der jetzt nodi des Nadits jungfräulich den Menschen sie leuchtet, Dem fernsiditigen Treiber benachbart .. . ,0 .

Diese Darstellung des Aratos, die zwar an Hesiod anknüpft, aber die von jenem verherrlichte Dike oder Astraea zur Göttin des goldenen Zeitalters erhebt, um so das Sternbild der Jungfrau mit der alten Überlieferung in Verbindung zu bringen, hat bei der römischen Aufnahme und Anverwandlung der Sage offenbar eine entscheidende Rolle gespielt. Für das Rechtsbewußtsein der Römer mußte diese Deutung des goldenen Zeitalters vom idealen Rechtsgedanken her, diese Verankerung der durch Dike verkörperten vollkommenen Gerechtigkeit in einer fernen, aber unvergessenen Urzeit besonders naheliegend sein. So finden wir bereits bei Vergil einen Lobpreis des italischen Urvolkes, das, wie sein königlicher Nachfahre Latinus hervorhebt, als saturnisches Geschlecht nicht unter dem Zwang der Gesetze gestanden, sondern aus eigenem Willen Gerechtigkeit geübt habe:

* Die f ü r unseren Zusammenhang wesentlichen Stellen sind abgedruckt im Anhang der anonym erschienenen Schrift von E. HÜBNER, Das Goldene Zeitalter. Berlin 1879. Vgl. als vollständige Textausgabe ferner: Arati Solensis Phaenomena et Prognostica interpretibus. M. Tullio Cicerone. Rufo Festo Avieno. Germanico Caesare, una cum eius commentariis. Köln 1569. 10 Aratos, Phainomena V. 99 ff. Die deutsche Übertragung nach: M. G. Hermann, Handbuch der Mythologie enthaltend die astronomischen Mythen der Griechen. Berlin u. Stettin 1795, S. 133 ff.

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Die römische

Antike

N e fugite hospitium n e v e ignorate Latinos, Saturni gentem, haud vinclo nec legibus aequam, sponte sua veterisque dei se more tenentem . . Es scheint d a h e r k e i n Z u f a l l zu sein, d a ß a u d i die klassische D a r s t e l l u n g , die der griechische M y t h o s in O v i d s . M e t a m o r p h o s e n ' g e f u n d e n hat, m i t d i e s e m

Mythen-

zug der idealen, ohne d e n Z w a n g der Gesetze freiwillig geübten Gerechtigkeit im g o l d e n e n Zeitalter anhebt u n d mit d e m Bilde der J u n g f r a u Astraea, die im eisernen Zeitalter als letzte H i m m e l s b e w o h n e r i n die bluttriefende Erde verläßt, endet: Aurea prima sata est aetas, quae vindice nullo sponte sua, sine lege fidem rectumque colebat. poena metusque aberant, nec verba minantia fixo aere ligabantur, nec supplex turba timebat iudicis ora sui, sed erant sine vindice tuti . . . Vieta iacet pietas, et virgo caede madentis, ultima caelestum, terras Astraea reliquit1*. D e r A s t r a e a - M y t h o s steht so sehr i m M i t t e l p u n k t der römischen V o r s t e l l u n g e n v o m g o l d e n e n Z e i t a l t e r - a u c h V e r g i l n i m m t i h n i n d e n . G e ó r g i c a ' a u f , w e n n er i n d e r B a u e r n w e l t die letzten S p u r e n d e r Gerechtigkeit entdeckt, d i e die z u m H i m m e l enteilende A s t r a e a zurückließ13 - , d a ß die Rückkehr der S t e r n e n j u n g f r a u d e n römischen Dichtern gleichbedeutend w i r d für die Rückkehr der saturnischen Herrschaft: „iam redit et V i r g o , r e d e u n t S a t u r n i a regna", h e i ß t es a n der e n t s c h e i d e n d e n Stelle der 4. E k l o g e V e r g i l s 1 4 . K e n n z e i c h n e n d d a f ü r i s t es, w e n n auch b e i C a t u l l , d e r v o r a l l e m d e n Verkehr der H i m m l i s c h e n mit d e n Sterblichen in seliger U r z e i t hervorhebt, das ü b e r k o m m e n e W u n s c h b i l d der G ö t t e r n ä h e a n das römische Z e n t r a l m o t i v der G e r e c h t i g k e i t g e k n ü p f t w i r d . D e n n erst a l s d i e M e n s c h e n G e r e c h t i g k e i t

flohen,

wandten

sich d i e G ö t t e r v o n i h n e n a b u n d w ü r d i g t e n s i e n i c h t m e h r i h r e s A n b l i c k s : Praesentes namque ante domos invisere castas heroum et sese mortali ostendere coetu caelicolae nondum spreta pietate solebant . . . sed postquam tellus scelere est imbuta nefando, iustitiamque omnes cupida de mente fugarunt, ... iustificam nobis mentem avertere deorum. quare nec talis dignantur visere coetus nec se contingi patiuntur lumine claro . . , 15 . 11 Aeneis VII, V. 202 ff. Daß diese Verse in einem gewissen Widerspruch stehen zu den bereits zitierten Versen Aeneis VII, 319 ff., nach welchen Saturnus allererst dem rohen Urvolk Italiens Gesetze gegeben und damit ein goldenes Zeitalter begründet habe, ist bereits antiken Vergil-Kommentatoren wie Servius aufgefallen; diese Unstimmigkeit deutet erneut auf den bereits im Hellenismus erkennbaren Versudi hin, die mythischen Vorstellungen mit der kulturhistorischen Erkenntnis in Einklang zu bringen. 18 Metamorphosen I, V. 89 ff. u. 149 f. (Publius Ovidius Naso, Metamorphosen. In deutsche Hexameter übertragen u. mit dem Text hg. von E. Rösch. München 1952). 18 Geórgica II, V. 478/74: „ . . . extrema per illos / Iustitia excedens terris vestigia fecit . . ." 14 Eel. 4, V. 6. - Daß das Rätselraten um die vergilische „Virgo" nicht abreißt und selbst einen so gelehrten Kenner wie E. NORDEN (Die Geburt des Kindes. Geschichte einer religiösen Idee. Studien der Bibliothek Warburg, Bd. III, Leipzig-Berlin 1924) beschäftigt, muß in Erstaunen versetzen, denn es kann gar kein Zweifel daran sein, daß Vergil hier keine graeco-ägyptisdie Mysterienweisheit aufnimmt, sondern auf die den Römern vertraute Gestalt der Astraea oder Dike bei Aratos anspielt. 15 Catullus 64, V. 384-86, 397-98, 406-08 (Catull. Lateinisch-deutsch. Ed. W . Eisenhut. München 1956).

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des griechischen

Mythos

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In diesem Mythenzug hat sidi das römische Denken seinen ihm gemäßen ideellen Schwerpunkt in der dichterischen Ausgestaltung des goldenen Zeitalters geschaffen. Es ist von den traditionellen Bildmotiven, die wir in Hesiods Weltalter-Diditung aufwiesen und die von dort aus ihre Wanderung durch die antike Ideengeschichte antraten, das letzte, das hier in der römischen Antike seine endgültige, für die Zukunft richtungweisende Ausformung gefunden hat 16 . Was dagegen bei Ovid zwischen der Schilderung des ohne Gesetz und Richter aus eigenem Antrieb recht handelnden, goldenen Menschengeschlechtes und der erzürnt die verderbte Erde verlassenden Göttin Astraea als Weltalter-Diditung dargeboten wird, entspricht den uns bekannten Zügen des griechischen Mythos bei Hesiod, erweitert um die aus der Elysiums-Vorstellung hinzugetretenen Bilder des ewigen Frühlings und der Honig und Nektar spendenden, paradiesischen Natur: V e r erat aeternum, p l a c i d i q u e tepentibus auris m u l c e b a n t zephyri natos sine s e m i n e flores, m o x etiam fruges tellus inarata ferebat, nec renovatus ager gravidis canebat aristis; ilumina i a m lactis, iam ilumina nectaris ibant, flavaque de viridi stillabant ilice m e l l a . . , 17 .

Die Völker lebten dahin in ewigem Frieden, denn es gab keine Waffen und keine Kriege; die Schiffahrt war unbekannt, und die Erde bot ohne Pflugschar und Ackerbau von sich aus alle Früchte des Waldes und der Felder dar: N o n d u m praecipites cingebant o p p i d a fossae: n o n tuba directi, n o n aeris cornua flexi, n o n g a l e a e , n o n ensis erant: sine militis usu m o l l i a securae p e r a g e b a n t otia gentes, ipsa quoque inmunis rastroque intacta nec ullis saucia v o m e r i b u s per se dabat o m n i a tellus . . , 18 .

Erst nachdem Saturnus in den Tartarus gestürzt worden und die Welt unter die Herrschaft Juppiters gekommen war, folgte das silberne Weltalter, in welchem Juppiter den Frühling verkürzte und mit Winter, Sommer und Herbst zu einem unbeständigen Jahreslauf zusammenfügte, so daß die Menschen vor dem brennenden Sommer und eisstarrenden Winter in Höhlen und Bäumen sich schützende Wohnungen suchen und der Erde durch Frondienst ihre Nahrung abzwingen mußten (I, le Eine interessante Ergänzung dazu bietet H. FUCHS in seinem Werk .Augustin und der antike Friedensgedanke', wenn er die römische Friedensidee von der griechischen abhebt und in jener vor allem den Ausdruck f ü r ein „wechselseitiges Rechtsverhältnis" sehen will: der Friede (pax) wird gewährleistet durch das Recht oder die Gerechtigkeit dessen, der als der Überlegene dem Gegner Frieden schenkt (pacisci " einen Vertrag schließen). Den Unterschied zum griechisdien Friedensideal arbeitet Fuchs sehr plastisch an dem auch von uns gebrachten Bilde Hesiods (Erga V. 223 ff.) heraus, das den Frieden als umfassende Segenszeit des Menschen beschreibt. ( = Neue philologische Untersuchungen, hg. von W . Jaeger, Heft 3. Berlin 1926, S. 39 ff. u. 167 ff.) - Auch hier liegt also einem Wunschmotiv, das unabtrennbar zur Vorstellung der aurea aetas gehört, der zentrale Rechtsgedanke des Römertums zugrunde. Es wird kaum zu bezweifeln sein, daß das, was hier an zwei überlieferten Topoi des Vorstellungskomplexes vom goldenen Zeitalter bemerkbar wird, sich auch an anderen, näher zu untersuchenden Vorstellungselementen zeigen lassen und damit den ideellen Schwerpunkt der römischen Mythen-Aneignung deutlich hervortreten lassen würde. 17 Metamorphosen I, V. 107-112. 18 Metamorphosen I, V. 97-102.

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113-124). Darauf folgte das eherne Menschengeschlecht, sdion wilderen Geistes und bereiter zum Griff nach der Waffe, doch noch nicht so entartet wie das letzte, eiserne Weltalter, in welchem Sdiam, Treue und Wahrheit flohen, Betrug und rohe Gewalt herrschten, die klirrenden Waffen zum Kriege erhoben wurden und nicht der Freund vor dem Freunde, die Gattin vor dem Gatten, der Vater vor dem Sohne sicher sein konnten (I, 125-148). In diesem allgemeinen Verderben verläßt Astraea, die letzte der Göttergestalten, die Erde. Ovid ist, wie wir erkennen, in allen diesen Zügen dem Vorbild Hesiods gefolgt, obwohl im einzelnen das Lehrgedicht des Lukrez mit seiner Schilderung des Urzustandes der Menschheit und deren späterer Verderbnis zur Ausschmückung des silbernen und eisernen Weltalters herangezogen worden ist1·. In dieser, durch Ovid dem Mittelalter überlieferten und von Renaissance und Humanismus unmittelbar erneuerten Form hat der antike Mythos vor allem seinen Gang durch die Neuzeit angetreten; die .Metamorphosen' bilden, schon im Mittelalter beliebt und immer wieder zitiert20, seit der Renaissance die Hauptquelle der Mythologie für alle Anspielungen in der Dichtung und bildenden Kunst bis zur Romantik hin21. Freilich zeigt die Behandlung der griechischen Mythen in ihrem oft spielerischen, oft ironisdi-psychologisierenden Formwillen, daß bei Ovid der Glaube an die Götter und die mit ihnen verknüpften Mythen gesdiwunden ist. Es ist eine Welt des schönen Scheins, die von ihm in ihren unerschöpflichen Verwandlungen dargestellt wird, ein Symbol der Wandelbarkeit alles Irdischen, dessen Grundton auf eine leise Trauer und Resignation gestimmt ist - denn nichts verharrt, und so ist auch das goldene Zeitalter versunken und durch das eiserne abgelöst worden: Nil equidem durare diu sub imagine eadem creder im: sic ad ferrum venistis ab auro . .

Dieser pessimistische Grundton - ein ganz anderer als bei Hesiod - bedingt, daß der Mythos als Welt des schönen Scheins zugleich in die Farben der Sehnsucht getaucht ist; „wie in eine Erlösung und einen jenseitigen Trost flieht Ovid in diese alte vollkommene Welt", von der ihn das Wissen um die entzauberte Welt der geschichtlichen Gegenwart trennt28. Es ist die gleiche Grundstimmung, die auch bei den römischen Elegikern vorherrscht, wenn sie das goldene Zeitalter als sehnsüchtigen Ruf in die Vergangenheit, als eine Rüdekehr des Geistes in seine reineren Ursprünge beschwören. Namentlich bei Tibullus erscheint, nach dem Urteil Karl Büchners, „der Gegensatz von eiserner und goldener Zeit . . . für seine Gedichte und sein Sinnen T . Lucretius Carus, De Rerum Natura V . V. 925 ff. Vgl. unsere Arbeit, S. 43 f. Zunächst hinter dem Einfluß Vergils zurückstehend, trotz kirchlicher Ablehnung aber im karolingischen Dichterkreis bekannt und beliebt, wird Ovid vor allem im Hodimittelalter als der am meisten nachahmenswerte antike Diditer gefeiert, und audi die .Metamorphosen', um 1210 von Albrecht von Halberstadt ins Mittelhochdeutsdie übersetzt, taudien von da an immer wieder in den Musterkatalogen lateinischer Schulautoren auf (vgl. E. R. CURTIUS, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, a. a. O. S. 58 ff. und H. LOHMEYER, Vergil im deutschen Geistesleben bis auf Notker I I I . Germanische Studien, Heft 96, Berlin 1930, S. 139 f.). 2 1 Vgl. W . KRAUS, Artikel „Ovidius Naso", in: R E Pauly-Wissowa, Bd. X V I I I , Stuttgart 1942, Sp. 1910 ff. 2 1 Metamorphosen X V , V . 259/60. " B. SNELL, Die Entdeckung des Geistes, a. a. O. S. 62/63. Vgl. dazu H. FRANKEL, Ovid. A poet between two worlds. Berkeley-Los Angeles 1945. 18

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konstitutiv"24. Der Rückzug aus der Welt in die Innerlichkeit, den die Elegie als neue römische Dichtungsgattung zunächst bedeutete, nimmt bei ihm die Form einer tiefen, leiderfüllten Klage über die zerrissene und kriegerisch-lärmende Gegenwart an, aus der ihn die Sehnsucht in ein vergangenes goldenes Zeitalter der Stille, des Friedens und der glückerfüllten Liebe zurückführt: Quis fuit, horrendos primus qui protulit enses? Quam férus et vere ferreus ille fuit! Tum caedes hominum generi, tum proelia nata, Tum brevior dirae mortis aperta viast . . . . . . nec bella fuerunt, Faginus adstabat cum scyphus ante dapes, Non arces, non vallus erat, somnumque petebat Securus varias dux gregis inter oves. Tunc mihi vita foret dulcís, nec tristia nossem Arma nec audissem corde micante tubam .. ,25.

Der Wunsch, in dieser unschuldigen und besseren Welt gelebt zu haben, drängt aus der Gegenwart heraus, deren kriegerisches Kontrastbild ständig anklingt. Aber das Zurückgleiten aus der eisernen Zeit in die Wunschwelt des alten goldenen Zeitalters, in welcher man keine Kriege kannte, in welcher es weder Burgen noch Befestigungen gab und der Hirte sorglos unter seinen friedlich weidenden Schafen schlummern konnte, dieses Zurückgleiten in eine Traumwelt der Reinheit, Harmonie und Ordnung eröffnet zugleich einen inneren Bezirk, der Halt und Schutz gegen die feindliche Umwelt gewährt und träumend als eine andere, s e e l i s c h e Möglichkeit des Daseins erfahren werden kann. Vor allem im Glück der erfüllten Liebe, im „amor mutuus", betritt man diesen Bezirk, der dem grausamen Walten der Geschichte entrückt ist - und der sehnsüchtige Zug zur Vergangenheit, die Klage um das verlorene goldene Zeitalter Saturns ist nichts anderes als ein Rückzug in diese Welt der Innerlichkeit, den die Liebe zu Delia dem Dichter eröffnet und durch den sie ihn das Wesen der goldenen Zeit tiefer als andere erleben ließ: Quam bene Saturno vivebant rege, priusquam Tellus in longas est patefacta vias! Nondum caeruleas pinus contempserat undas, Effusum ventis praebueratque sinum . . . Ilio non validus subiit iuga tempore taurus, Non domito frenos ore momordit equus, Non domus ulla fores habuit, non fixus in agris, Qui regeret certis finibus arva, lapis. Ipsae mella dabant quercus, ultroque ferebant Obvia securis ubera lactis oves. Non acies, non ira fuit, non bella, nec ensem Inmiti saevus duxerat arte faber. Nunc love sub domino caedes et vulnera semper, Nunc mare, nunc leti multa reperta viast . . 14 Römische Literaturgeschichte. Ihre Grundzüge in interpretierender Darstellung. Stuttgart 1957, S. 338. Vgl. zum Folgenden audi: H. KREFELD, Liebe, Landleben und Krieg bei Tibull. Diss. (Masch.), Marburg 1952. » Elegie I, 10, V. 1 ff. (Albii Tibulli Libri Quattuor. Ree. L. Mueller. Leipzig 1885. Vgl. dazu: Tibull, Gedichte. Lateinisch u. Deutsch von R. Helm. Berlin 1958). » Elegie I, 3, V. 35 ff.

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Freilich, das ständig wiederholte „non" in der Schilderung der seligen Urzeit und das dreimal hämmernde „nunc" am Ende zeigen, wie zwischen Sehnsucht und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart, Innen und Außen ein schmerzlich empfundener Kontrast besteht, aus dem die Elegien Tibulls leben und ihre sehnsüchtig drängende Gefühlsbewegung gewinnen. Das eiserne Zeitalter ist bei ihm, wie bei Catull und Properz, stets im Hintergrund gegenwärtig, und das goldene Zeitalter gilt als unwiederbringlich verloren: eine ferne Traumzeit, der man nur nachtrauern kann. Nur in der einfachen ländlichen Lebensordnung, im friedlichen Bezirk der Hirten und Bauern findet der Dichter eine Spur des goldenen Zeitalters bewahrt, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart hinüberführt: Quam potius laudandus hic est, quem prole parata Occupât in parva pigra senecta casa! Ipse suas sectatur oves, at filius agnos, Et calidam fesso conparat uxor aquam . . . Interea Pax arva colat. Pax candida primum Duxit araturos sub iugo panda boves, Pax aluit vites et sucos condidit uvae, Funderet ut nato testa paterna merum: Pace bidens vomerque vigent, at tristia duri Militis in tenebrie occupât arma situs . .

Mit diesen beiden Zügen: der Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die doch nur Symbol der inneren Welt des Dichters ist, ein Ausdruck seines Empfindens, seines Liebens und Leidens, und mit der Hinwendung zur ländlichen Heimat als letztem Abglanz des entschwundenen goldenen Zeitalters, die Tibullus als der .Bukoliker' unter den römischen Elegikern besingt - mit diesen beiden Zügen weist der später Geborene auf d e n Dichter des römischen Altertums zurück, dessen dichterisches Werk hier stellvertretend für die römische Aufnahme des Mythos vom goldenen Zeitalter behandelt werden kann: auf Vergil.

2. Die W e n d u n g vom Mythos zum Symbol: Vergils A r k a d i e n - V o r s t e l l u n g Vergil ist es redit eigentlich gewesen, der den Traum vom goldenen Zeitalter aus der griechischen Mythentradition in die römische Geschichte eingeführt, der ihn in eine unmittelbare Beziehung zur Wirklichkeit gestellt und ihm jene politische Wendung gegeben hat, von der ausgehend ein ganz neues Kapitel der Ideengeschichte anhebt. Die Umformung des Mythos in ein dichterisches Symbol, das als Deutung einer geschichtlichen Situation gemeint ist und in diesem prophetischen Geschichtswillen den Dichter zum Künder und Seher einer erneuerten goldenen Zeit werden läßt, ist durch zwei Jahrtausende hindurch immer wieder für die Rezeption des antiken Mythos kennzeichnend gewesen und hat in der von Vergil verkündeten und gefeierten römischen Weltreichs- und Friedensidee zugleich ihr unvergängliches Urbild gefunden. 17

Elegie I, 10, V. 39 ff.

Vergili

Arkadien-Vorstellung

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Aber am Beginn der vergilisdien Diditung steht nicht die Geschichte, sondern steht ein der Gesdiichte entrückter, traumhaft verklärter Bezirk, in welchen erst allmählich der große Atem der römischen Gesdiichte eindringt: die Welt der .Bucolica', jener zehn Hirtengedichte aus den Jahren 42-39 v. Chr., in denen sich der Traum vom goldenen Zeitalter mit der Hirtenwelt Theokrits zu einem imaginären, für alle kommenden Jahrhunderte dem Dichter zugeordneten Sehnsuchtsland verbunden hat. Am Beginn der vergilisdien Dichtung steht die Entdeckung Arkadiens - jenes zeitlos-fernen Reiches zwischen Mythos und ländlicher Alltagswelt, mit dem Vergil der verworrenen, trüben Gegenwart der römischen Bürgerkriege ein Bild des idyllischen Friedens, der Harmonie und des Geborgenseins entgegenstellt: . . . hie inter flumina nota et f o n t i s sacros frigus captabis opacum. h i n c tibi, quae semper, v i c i n o ab l i m i t e saepes H y b l a e i s apibus florem depasta salicti saepe levi s o m n u m suadebit inire susurro, h i n c alta sub rupe c a n e t f r o n d a t o r ad auras: nec tarnen interea raucae, tua cura, p a l u m b e s nec g e m e r e aeria cessabit turtur ab u l m o . . . 2 e .

Wie hier in der ersten Ekloge der Hirt Tityrus, dem inmitten der allgemeinen Wirrsal des Bürgerkrieges sein kleines Landgut erhalten blieb, von dem von Haus und Heimat vertriebenen Hirten Meliboeus um seines idyllischen Friedensglückes willen gepriesen wird T i t y r e , tu p a t u l a e recubans sub t e g m i n e f a g i silvestrem tenui m u s a m meditaris a v e n a : n o s patriae finis et dulcía linquimus arva. nos patriam fugimus 2 9 -

so hat Vergil selbst sein Arkadien, das den idealen Hintergrund dieser ländlichen Szenen und Gesänge bildet, als eine Zuflucht vor der Gesdiichte, vor dem Fluch des von Schuld und Leid erfüllten Weltgeschehens aufgefaßt 30 . Wie bei Hesiod, so ist auch bei ihm das tiefe, unheilbare Leiden an der zerrütteten Gegenwart der Ausgangspunkt, der seine Sehnsucht weckt und nach Arkadien führt - nicht in die Vergangenheit, in die goldene Vorzeit, sondern in einen Wunschraum, in dem er die verlorene Einheit und Harmonie des Lebens wiederfindet, deren er sich in seinem Innern versichert weiß, ohne in der äußeren Wirklichkeit einen Widerklang zu

28 Eel. 1, V. 51 ff. (Vergil, Landleben. Bucolica, Geórgica, Catalepton. Lateinisch u. deutsch, hg. von J . Götte. 2. Aufl., München 1953). ! · Ecl. 1, V. 1-4. Zu diesen berühmten Versen, die als Inbegriff der vergilisdien Bukolik gelten, vgl. unsere Arbeit S. 121 sowie im Anhang S. 449 f. 30 Vgl. F. KLINGNER, Virgil und die geschichtliche Welt. Römische Geisteswelt, a. a. O. S. 282. Daß Arkadien nur in den Eklogen 4, 8, 7 und 10 den Hintergrund bildet oder erwähnt wird, wie K. Büchner und G. Jachmann vor allem gegen Snells Arkadien-Deutung eingewendet haben, erscheint mir nicht stichhaltig; auch durch die Züge der italischen oder sizilischen Landschaft schimmert ein anderes, ferneres Land, das die Wirklichkeit verwandelt und dichterisch überhöht: „Wo immer vergilische Hirten uns begegnen, ob in Sizilien oder in Italien, immer sind wir mit ihnen in Arkadien" (J. GÖTTE, a. a. O. S. 254). Vgl. dagegen K. BÜCHNER, P. Vergilius Maro, a. a. 0 . Sp. 241, und G. JACHMANN, L'Arcadia come paesaggio bucolico. In: Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa, Vol. X X I , 1 9 5 2 , p. 13 ff.

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finden. Arkadien ist das Land, in dem Natur und Menschenwelt ineinanderklingen, in dem die Götter sich mitfühlend dem Dichter nähern, in dem der Gesang der Hirten von der belebten Natur verstanden und beantwortet wird - es nimmt Motive des goldenen Zeitalters in sich auf, die diese verlorene Harmonie, diese ursprüngliche Einheit des Menschen mit der Natur und den Göttern mythisch ausgemalt hatten; aber es formt sie um, denn es ist eine zeitlos-gegenwärtige Welt, in der sich dies alles ereignet, in der die dichterische Sehnsucht sich selbst ihre Erfüllung schafft. Um die bukolische Hirtenwelt Vergils zu verstehen, muß man sich als zeitgeschichtlichen Hintergrund die Ereignisse gegenwärtig halten, die diese Jahre um die Eklogendichtung bestimmen: die Bürgerkriege nach Cäsars Tod, gewaltsame Umstürze, Auflösung der überkommenen Ordnungen, Zerrissenheit und Rechtlosigkeit, schließlich das Elend der Landenteignungen, die auch den Dichter in einem mehr als äußeren Sinne heimatlos werden ließen. Wenn Vergil sich in diesen Jahren Arkadien zuwendet, wenn er in ihm eine innere Heimat findet, wo mit den Gesängen der Hirten ein reineres und unversehrteres Dasein aufklingen kann, so ist dieses Arkadien natürlich nicht das Bergland des griechischen Peloponnes, das als geographisch festumrissene Landschaft zu bestimmen wäre31, es ist aber auch nicht das sizilische Hirtenland des Theokrit, das dem römischen Dichter zu nahegerückt war, um als Traumland fern der geschichtlichen Gegenwart verklärt werden zu können32. Es ist nichts anderes als eine geheime, vom Dichter entdeckte Seite seines eigenen Daseins, die sich hier zum Bilde der arkadischen Landschaft verdichtet - mit Zügen der italischen Heimat Vergils, gewiß, und mit manchen literarischen Reminiszenzen an die sizilische Hirtenwelt, die Theokrit besungen hatte, aber doch im Grunde ein musisches Wunschland, eine „Seelenheimat" 3 ', in die der Dichter flüchten, in der sich sein Fühlen und Empfinden, sein Lieben und Leiden reiner und schöner entfalten kann als in der nahen, verwüsteten Wirklichkeit. Hier zuerst im Bereich der abendländischen Dichtung wird das Traumreich der P o e s i e zum Sinnbild des goldenen Zeitalters, das, der realen Gegenwart für immer entzogen, im Lande der Musen wiedergefunden werden kann.

31 Zu dieser Deutung neigt H. WENDEL, wenn sie in ihrer sonst anregenden Untersuchung zu dem Ergebnis kommt, daß „Arkadien . . . für Vergil ein konkret umrissenes, wirkliches Land mit eigenem historisdiem Traditionskomplex" sei, und lediglich ein allmähliches Hinüberspielen der Landschaftsadjektive wie „arkadisch" oder „maenalisch" auf die Ebene der Qualitätsadjektive beobaditen will (Arkadien im Umkreis bukolischer Dichtung in d e r Antike und in der französischen Literatur, Gießener Beiträge zur romanischen Philologie, Heft 26. Gießen 1933, S. 14 f.). Dagegen B. SNELL in seinem Vor allem für diesen Abschnitt heranzuziehenden Aufsatz: Arkadien. Die Entdeckung einer geistigen Landschaft. In: Die Entdeckung des Geistes, a. a. O. S. 371 ff. 33 Vgl. E. R. CURTIUS, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, a. a. O. S. 197: „Sizilien, längst römisdie Provinz geworden, w a r kein Traumland mehr . . .". Ähnlich M. POHLENZ, Das Schlußgedicht der Bucolica. Publicazioni della R. Accademia Virgiliana, Serie Miscellanea, Vol. IX, Mantova 1930, p. 211. - Die gleiche Frage hat übrigens schon Friedrich Schlegel höchst scharfsinnig f ü r die moderne Schäferdichtung aufgeworfen: „Ferner wünschte ich zu wissen, woher die Italienischen Idyllendichter Arkadien - nach Arkadien versetzen? . . . W a r Sizilien etwa zu nahe, zu bekannt, um es zur Heimath der fabelhaften Hirtenwelt zu machen? oder h a t es noch eine andre Ursache?" (Briefe an seinen Bruder August Wilhelm, hg. von O. Watzel, Berlin 1890, S. 254). 33 So KLINGNER, a. a. O. S. 236/37 und F. MAGNUS, Arkadien, die Heimat der Seele. Eine Untersuchung zu Vergils .Bucolica'. Diss. (Masch.), Hamburg 1945.

Vergib

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Denn Arkadien ist die Welt des Diditers: es ist die Heimat des Pan, der die Hirten im Flötenspiel und Gesang unterwiesen hat 84 , und nur in ihm hat der Gesang die Macht, die Wirklichkeit zu verwandeln, ins diditerisdie Gefühl hineinzunehmen und harmonisch aufzulösen, empfindsame Antwort in der ganzen Natur zu finden - wie der Gesang des Silen in der sechsten Ekloge das Wild und die Faune zum Tanze veranlaßt und selbst die knorrigen Eichen von den Bergeshöhen zum Tanze herabzieht 35 , und wie der Wettgesang der beiden Hirten Damon und Alphesiboeus die ganze Natur in einen zauberhaften Bann schlägt: Immemor herbarum quos est mirata iuvenca certantis, quorum stupefactae carmine lynces, et mutata suos requierunt flumina cursus . . .3*.

Wenn daher der Dichter Gallus in der zehnten Ekloge seinem Liebeskummer nachhängt, so nimmt die ganze Natur, die Bäume und Berge und Tiere Arkadiens, daran Anteil und antwortet mitfühlend seinem Leiden : Illum etiam lauri, etiam flevere myricae, pinifer illum etiam sola sub rupe iacentem Maenalus et gelidi fleverunt saxa Lycaei . .

ja, selbst die Götter, Pan und Apollo, nähern sich ihm - die Gestalten des griechischen Mythos, die dem Römer so ferngerückt sind, daß sie ihre neue Heimat in der Wunschlandschaft Arkadien finden und zu dichterischen Symbolen dieser dem Alltag und der gewalttätigen Wirklichkeit entrückten, höheren Kunstwelt werden können, in welcher das innige Fühlen und Leiden des Dichters seinen vollkommenen Widerklang finden darf: Omnes: ,unde amor iste' rogant ,tibi?' venit Apollo: ,Galle, quid insanis?' inquit, ,tua cura Lycoris perque nives alium perque hórrida castra secuta est.' venit et agresti capitis Silvanus honore florentis férulas et grandia lilia quassans. Pan deus Arcadiae venit, quem vidimus ipsi sanguineis ebuli bacis minioque rubentem . .

Gewiß sind das uralte Motive des Mythos vom goldenen Zeitalter, nadi welchen sich die Götter unter die Menschen gemischt und mit ihnen verkehrt haben, ebenso wie die Natur- und Menschenwelt verbindende Ursprache und die wirklidikeitsverwandelnde Macht des Gesanges auf eine weitverzweigte griechische Sagentradition M Ecl. 2, V . 31 ff.: „mecum una in silvis imitabere Pana canendo. / Pan primum calamos cera conìungere pluris / instituit, Pan curat ovis oviumque magistros . . 3 5 Ecl. 6, V . 27/28: „tum vero in numerum Faunosque ferasque videres / ludere, tum rígidas motare cacumina quercus . . . " . »· Ecl. 8, V . 2 ff. 3 7 Ecl. 10, V . 13ff. Ähnlidi Ecl. 1, V. 3 8 f . : „ipsae te, Tityre, pinus, / ipsi te fontes, ipsa haec arbusta vocabant . . .*. - Dieses Ineinanderklingen von Natur und Mensdienherz ist auch dort noch zu beobachten, wo es - wie in der 2. Ekloge, in welcher sich der Hirte Corydon in hoffnungsloser Liebe zu Alexis verzehrt - zu sdimerzlidi dissonierenden Tönen führt oder, in der 8. Ekloge, angesidits der Treulosigkeit der Geliebten, das Gefühl des Damon hervorruft, nun müsse auch die Natur die geordneten Bahnen verlassen und ihrerseits Ausdrude der verwirrten Mensdienwelt werden (Ecl. 8. V . 52 ff.). 3 " Ecl. 10, V. 21 ff.

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zurückweisen, die wir gelegentlich angedeutet haben. Aber im vergilisdien Arkadien wird alles in eine gegenwärtig erlebbare Landschaft transponiert und tritt damit in eine neue, empfindsame Beleuchtung, die den Griechen fremd war; ein neues Selbstgefühl des Dichters kommt zum Ausdruck, das sich für sein Träumen, Lieben und Klagen aus literarischen Erinnerungen die Symbolwelt schafft, in welcher es ungestört dem Spiel der Empfindungen, der inneren Musik der Seele nachlauschen kann. Wenn Vergil „ein großer Liebender unter den Dichtern" war, wie ihn Friedrich Klingner charakterisiert hat 89 , so war es eben dieses ihn bestimmende Gefühl, das über den Einzelnen hinausgreift und alle Menschen und Naturwesen umspannt - das ihn audi unter der zerrissenen Harmonie des Lebens tiefer leiden ließ und seine Sehnsucht nach Arkadien führte, wo diese Liebe ihre Erfüllung finden und selbst die Tiere, die stummen Bäume und Berge wie die fernen Götter zu teilnehmenden Wesen werden konnten. Das alles ist aber nicht mehr mythisch, es bezeichnet nichts Wirkliches, wenn audi unwiederbringlich Vergangenes, sondern hat metaphorische Bedeutung: „der Dichter steht deswegen zwischen den göttlichen Wesen und findet deswegen die Teilnahme der Natur, weil er inniger als andere Menschen fühlt und daher audi mehr an den Härten der Welt leidet" 40 . Das spricht Vergil noch nicht aus, aber dieser für die moderne Dichtung seit Goethes .Torquato Tasso' so bedeutsame Gedanke 41 klingt hier zuerst an. Arkadien ist ein Land der Symbole, in dem das Ländlich-Alltägliche sich mit dem Mythisch-Wunderbaren auf eine nur stimmungshaft faßbare Weise vermischt, und audi die mythischen Züge des goldenen Zeitalters, die mehr oder weniger deutlich auftaudien, sind zu S y m b o l e n geworden, zum Ausdruck eines neuen dichterischen Anspruchs, der die äußere Wirklichkeit ganz hineinholt und auflöst in Gefühl und Empfindung, der die verlorene Einheit und Harmonie des goldenen Zeitalters in einer selbsterschaffenen Wunsdiwelt sucht und wiederfindet. Die Dichtung tritt damit in einen Gegensatz zur Realität, sie eröffnet einen Raum, der zeitlos-gegenwärtig den mythischen Traum vergangener Glückseligkeit als i n n e r e W i r k l i c h k e i t nach außen treten läßt 42 . D i e Frage, w i e es zu dieser I d e a l i s i e r u n g u n d V e r k l ä r u n g einer Landschaft g e k o m m e n ist, hat uns hier näher zu beschäftigen, w e i l w i r m i t ihr eine A n t w o r t erhoffen dürfen auf den eigentümlichen V o r g a n g , durch welchen A r k a d i e n als eine geographisch u n d historisch festumrissene Landschaft zum W u n s c h b i l d des g o l d e n e n Zeitalters g e w o r d e n ist - ähnlich w i e später historisch festumrissene Z e i t e n verklärt w e r d e n k ö n n e n z u m W u n s c h b i l d einer i d e a l e n „Vorzeit", d i e e b e n f a l l s aus M y t h o s u n d Wirklichkeit z u s a m m e n g e s e t z t erscheint.

38

Römische Geisteswelt, a. a. O. S. 247. So SNELL, Die Entdeckung des Geistes, a. a. O. S. 392. 41 Vgl. W.-D. RASCH, Goethes „Torquato Tasso". Die Tragödie des Dichters. Stuttgart 1954, S. 74 ff. Dazu unsere Arbeit, S. 183 ff. 42 Vgl. W . SCHADETALDT, der darin die Eigenart Vergils als Begründer des „europäischen Lyrismus" sieht (Sinn und W e r d e n der vergilisdien Dichtung. Aus Roms Zeitwende: Erbe der Alten, Reihe 2, Heft X X , Leipzig 1931, S. 80), sowie die stilistische Deutung der Bucolica durch K. LATTE: „Wirklichkeit, Vorgänge als solche, verlieren ihr Eigenrecht als Gegenstände der Dichtung. Nur soweit sie Träger von Stimmungen und Gefühlen sind, oder soweit sie repräsentativ und bedeutsam sind, haben sie ein Recht auf dichterische Darstellung . . . Poesie wird Gegensatz zur Realität, das ganz andere, zu dem man aus den Forderungen des praktischen Lebens flüchten kann. Ihre Beziehung zum eigenen Dasein vollzieht sich mittelbar, in einer Brechung. Sie wird Gleichnis und Symbol. Erst diese Dinge sind es, auf denen die weltgeschichtliche Bedeutung Vergils beruht . . (Vergil. In: Antike und Abendland, Bd. IV, Hamburg 1954, S. 168/69). 40

Vergïls

Arkadien-Vorstellung

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Dazu bedarf es des Hinweises auf die älteren Überlieferungen, deren sidi der römische Dichter bediente und an denen seine Arkadien-Vorstellung ihre besondere Ausformung und Umgestaltung erweisen kann. Daß sich Vergil der bukolischen Dichtung zuwandte, hat seine Bedingung und wohl auch seinen Anlaß in einem literarischen Ereignis: durch Artemidor waren ihm Theokrits Hirtengedichte und diejenigen seiner hellenistischen Nachfolger bekannt geworden, in einer Ausgabe, die um das Jahr 70 v. Chr. veranstaltet worden war. Hier fand er in den Bildern eines einfachen ländlichen Lebens sizilischer Hirten, Fischer und Landleute jene Natursehnsucht zum Ausdruck gebracht, die im Griechenland des 3. Jahrhunderts als Erbe einer überfeinerten Bildung und städtischen Kulturmüdigkeit erwacht war und die seiner eigenen, ursprünglichen Neigung entgegenkommen mußte - Hirten, die der Heimat Theokrits entstammen und realistisch, zuweilen ironisch in ihrem alltäglichen Dasein, bei Arbeit, Spiel und Gesang geschildert werden, die sich in Wechsel- und Wettgesängen üben und vor allem ilirer Liebessehnsucht unermüdlich Ausdrude leihen. Vergils Eklogen wollen zunächst nichts anderes als diese bukolische Dichtungsgattung in die römische Welt einbürgern, und der Dichter ist sich seines Vermittlungsauftrages nicht ohne Stolz bewußt, wenn es am Anfang der 6. Ekloge heißt: Prima Syracosio dignata est ludere versu nostra ñeque erubuit silvas habitare Thalea 43 . Aber wenn Vergil audi in seiner frühesten Ekloge noch sizilische Hirten auftreten läßt und sich überhaupt eng an das Vorbild des Syrakusaners hält, so bestehen doch entscheidende Unterschiede zwischen dem sizilisdien Hirtenland und dem idealisierten, in die Ferne gerückten und verklärten Arkadien, das sich bei Vergil allmählich daraus entwickelt und mehr und mehr ablöst. Das Träumerisch-Sehnsüchtige, Empfindsame, das wir heute mit dem Begriff der „Idylle" verbinden, hat seine Quelle nicht in Theokrit 44 ; dieser schildert wirkliche Hirten seiner sizilisdien Heimat, in einer durchaus realistisch anmutenden Beobachtungsgabe, die trotz leiser Verklärung der gesunden ländlichen Lebensordnung sich Abstand und lächelnde Überlegenheit wahrt. Das kommt vor allem darin zum Ausdrude, daß sich unter der Hirtenmaske gelegentlich angesehene Freunde des Dichters oder der Dichter selbst verbergen können, womit die Spannung zwischen Wirklichkeit und Fiktion zum reizvollen Spiel wird - fällt dodi auf das derb und prall gezeichnete Leben der sizilisdien Hirten ständig ein leichter ironischer Schimmer, wenn so die Dissonanz zwischen der bukolischprimitiven Welt und ihren literarischen Betrachtern spürbar gemacht wird 45 . Vergil aber sucht ein ganz anderes Hirtenland, das er nicht mehr in der nahen römischen Provinz Sizilien ansiedeln konnte - ein Land, in dem Mythisches und Wirkliches ununtersdieidbar ineinanderfließen, in dem Götter und Menschen sich begegnen und die Hirtenlieder zur Stimme seines eigenen Innern werden können. Er schaut nicht beobachtend auf das Leben und Treiben der Landleute, wie Theokrit; das Gegenständliche tritt zurück, dafür wird alles Stimmung, Atmosphäre, und die Hirten der arkadischen Landschaft haben die seelische Empfindungsfähigkeit des Dichters übernommen. „In ihrem ländlichen Idyll herrscht die Ruhe des Feierabends über die harte tägliche Arbeit, der kühle Schatten tritt mehr hervor als die Unbilden des Wetters, der weiche Platz am Bach ist bedeutsamer als das rauhe Bergland. Die Hirten spielen länger Flöte und singen, als dass sie Molke seihen und Käse rühren. All das bahnt sich bei Theokrit schon an, aber Theokrit hat dodi noch viel Sinn für

« Ecl. 6, V . 1-2. 44 Dazu darf auch nicht die Bezeichnung seiner Gedichte als ε ι δ ύ λ λ ι α verleiten, denn diese besagt an sich nichts anderes als „kleine, für den Einzelvortrag bestimmte Form", im Gegensatz zu είδος, der Bezeichnung für die großen Werke der Chorlyrik Pindars (gr. ε ί δ ο ς α ρ μ ο ν ί α ς = Tonart), die dann auf die Werke der großen Epik übertragen wurde. „Eidyllia" bezeichnet also ursprünglich wie „Ekloge" (von gr. έ κ - λ έ γ ε ι ν = auswählen) nur den kleinen Bildausschnitt gegenüber dem großen epischen Gemälde. Zu dieser Bestimmung des Gattungsbegriffes vgl. E. MERKER, Artikel „Idylle". In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, Bd. II, Berlin 1926-28, S. 3 ff. 45 Vgl. B. SNELL, a. a. O. S. 376; zum Vergleich zwischen Theokrit und Vergil ferner F. KLINGNER, a. a. O. S. 229 und 258 ff.; K. BÜCHNER, P. Vergilius Maro (Sonderausgabe), a. a. O. Sp. 238 ff.

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Antike

das genaue, wirklidhkeitsgetreue Detail; Vergil sieht nur mehr das Empfindsame, Bedeutungsvolle" 4 '. Das läßt sich an einzelnen Motiven verfolgen, die Vergil von Theokrit übernimmt: Wenn es bei diesem etwa in der 11. Idylle heißt, daß die Herden des Polyphem des Abends von selbst heimkehren müssen, weil ihr unglücklich verliebter Hirte sich nicht um sie kümmert: Oftmals kehrten die Schafe von selbst in die Hürden am Abend Heim aus der grünenden Au; doch er, Galateia besingend, Schmachtete dort in Jammer am Felsengestade voll Seemos . . ,47, so löst Vergil diese Verse aus ihrem schlichten, sachlichen Zusammenhang heraus und deutet sie empfindsam um im Sinne einer arkadischen Harmonie von Natur und Menschenwelt: Ipsae lacte domum referent distenta capellae ubera, nec magnos metuent armenta leones . . ,48, d. h. er sieht in ihnen ein Bild des goldenen Zeitalters, da die menschenfreundlichen Tiere, ohne daß ihr Hirte sich darum sorgen muß, am Abend von selbst heimkehren. Das ist sehr charakteristisch für die Umstilisierung, die das sizilische Hirtenland Theokrits bei Vergil erfährt; fast unmerkbar, ohne es zu betonen, wandelt der römische Dichter theokritische Motive ab, die sich unter seiner Hand aus gegenständlich beobachteten Alltagsbildern zu gefühlvoll verklärten Bildern der arkadischen Landschaft umgestalten 4 '. Daß er dabei von der Grundstimmung eines goldenen Zeitalters ausgeht, erhellt die Tatsache, daß es sich im Grunde um nichts anderes als eine freie Variation des „ sua-sponte" -Motivs handelt, das von der freiwillig schenkenden Erde und den freiwillig rechthandelnden Menschen auf die weitere, belebte und unbelebte Natur übertragen wird. Nun gab es freilich auch eine griechische Überlieferung, die von der Berglandschaft Arkadien und seiner einfachen, von aller Kultur abgeschnittenen Hirtenbevölkerung berichtete. Es galt als Heimat des Urmenschen Pelasgos, von welchem der Sage nach das Menschengeschlecht abstammen sollte90, und seine Bewohner, die von Viehzucht und dürftigem Ackerbau lebten, rühmten sich ihrer Abkunft aus ältester Urzeit vor der Erschaffung des Mondes. Dennoch galten sie den Griechen, abgeschnitten vom Meer und allen Zentren des Handels und der Kultur, lange Jahrhunderte hindurch als primitives, zurückgebliebenes Bergvolk - „eichelessende Arkader", wie ein alter delphischer Orakelspruch bei Herodot sie nannte 91 . Erst als in frühhellenistischer Zeit jene sentimentale Natursehnsucht erwachte, unter deren Einwirkung das neue, naturgemäße Lebensideal der Kyniker und Stoiker entworfen wurde, wurde auch die Bahn frei für eine poetische Verklärung dieser kulturfeindlichen Einfachheit und primitiven Lebensweise: die Arkadier standen, wie ihr Landsmann, der griechische Historiker Polybios, in seinem großen Gesdiiditswerk aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. berichtet, „bei allen Griechen in einem gewissen Ruf der Tugend . . . , nicht nur

4

· SNELL, a . a . O . S . 3 7 8 / 7 9 .

47

Theokrit XI, V. 12 ff. Deutsch im Versmaß der Urschrift von E. Mörike und F. Notter, a. a. O.

S. 70. 48

Ecl. 4, V. 21-22. « Vgl. B. SNELL, Die 16. Epode von Horaz und Vergila 4. Ekloge. In: Hermes 73, 1938, S. 240 ff. Weitere Beispiele einer solchen Abwandlung theokritischer Motive bringt Snell in der schon mehrfach angeführten Arkadien-Abhandlung, a. a. 0 . S. 379, während andere Arbeiten (wie z. B. H. WENDEL, a. a. O. S. 29) die ständige Motiventlehnung zwar aufzeigen, den damit verbundenen Funktionswandel aber ganz unberücksichtigt lassen. „Man sollte überhaupt denken, dass der Vergleich mit Theokrit das A und O der Bucolicaphilologie wäre. Dem ist nidit so, obwohl hier einmal die Möglichkeit gegeben ist, ein römisches Dichtwerk mit seinem vorliegenden griechischen Hauptvorbild zu vergleichen . . . Eine Gesamtdarstellung fehlt . . (BÜCHNER, a. a. O. Sp. 239). 50 Vgl. J. KRISCHAN, Artikel „Pelasgos", in: RE Pauly-Wissowa, 37. Halbband, Stuttgart 1937, Sp.256 ff. 11 Herodot I, 66; I, 146; zitiert nach: A. GERCKE, Auch ich war in Arkadien geboren. In: NJbb. XXIV, Leipzig 1921, S. 31Λ.

Vergili

Arkadien-Vorstellung

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wegen ihrer in Sitte und Lebensweise sidi äussernden Gast- und Menschenfreundlichkeit, sondern hauptsächlich wegen ihrer Frömmigkeit"52, und ihre Unwissenheit und Abgeschlossenheit von aller Welt lieferte nun den idealen Hintergrund für dieses urtümlich-einfache Hirtendasein, das durch alle Zeiten hindurch bewahrt worden war. Daneben aber war Arkadien von jeher die Heimat des Hirtengottes Pan, der die Syrinx, die Hirtenflöte erfunden haben sollte.53 An diesen Sagenzug scheint sich die Vorstellung von der musischen Begabung der Arkadier geknüpft zu haben, von welcher wiederum Polybios in seinem Geschichtswerk ausführlich berichtet: „Die Tonkunst, die echte Tonkunst, in der alle Menschen sich nutzbringend üben, ist den Arkadern sogar unentbehrlich . . . Dies ist nämlich allen bekannt und vertraut, dass fast ausschliesslich bei den Arkadern zuerst die Knaben von Jugend auf gewöhnt werden, nach bestimmten Weisen Lob- und Danklieder zu singen, mit denen jeder nach väterlicher Sitte die einheimischen Heroen und Götter ehrt. Danach erlernen sie die Weisen des Philoxenos und Thimotheus, feiern alljährlich in den Theatern mit vielem Eifer die Dionysien mit Tanz- und Flötenspiel; die Knaben in den Knabenwettstreiten, die Jünglinge aber in den sogenannten Männerwettspielen. Zugleich aber audi durch das ganze Leben hindurch halten sie Wettkämpfe nicht so ab, dass sie fremde Vorträge anhören, sondern fordern sich untereinander zu Wechselgesängen heraus. Und in den übrigen Fächern gestehen zu müssen, nichts zu wissen, halten sie nicht für schimpflich, im Gesang jedoch dürfen sie nicht versagen, da seine Erlernung allen zur Pflicht gemacht wird, noch können sie, wenn sie es zugeben, sich weigern, da das bei ihnen als Unehre gilt . . ."54. Diese hohe Wertschätzung der Musik und des Gesanges, von welcher das ganze Leben der Arkadier bestimmt zu sein scheint, hat wohl entscheidend dazu beigetragen, daß Vergil den Schauplatz seiner Eklogen von Sizilien nach Arkadien verlegte: Insbesondere die Schilderung der „Wettgesänge" mag ihm vor Augen geschwebt haben, als er diesen Zug des historisch-realen Arkadien auf seine bukolische Ideallandschaft übertrug. Denn die Arkadier gelten auch ihm als „allein erfahren im Gesänge"55, als immer „bereit zum Wechseigesange" 5 ', und ihr Heimatland, das „immer den Liebesgesang der Hirten hört und den Pan, der auf der Hirtenflöte bläst"57, kann daher als Richter im Wettkampf der Sänger angerufen werden: Pan etiam, Arcadia mecum si iudice certet, Pan etiam Arcadia dicat se iudice victum . . ,58.

"

Polybii Historiae IV, 20 (ed. Th. Büttner-Wobst, Vol. II, Leipzig 1924). Die deutsdie Ober-

s e t z u n g nach H . WENDEL, a . a . O . S. 1 9 - 2 0 . 55

Ovid, Metamorphosen I, V. 689 ff. Zu den in Arkadien lokalisierten griediisdien Mythen vgl. die beiden Werke, die im Besitz des Novalis waren und von ihm benutzt wurden: M. G. Hermann, Handbuch der Mythologie, Bd. II, a. a. 0 . S. 167 ff. u. 188 ff. sowie K. Ph. Moritz, Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten, Neuausgabe Lahr 1948, S. 164/65: „In den mythologisdien Dichtungen der Alten erscheint Arkadien nicht ganz in dem reizenden Lichte des süßen Sdiäferlebens, dessen Szene die neuere Dichtung fast immer in dies Land versetzt . . . Bei den Alten . . . war mit der Idee von der Einfachheit der Sitten bei den Arkadiem zugleich der Begriff von einer gewissen Roheit und Trägheit verbunden, die man den Bewohnern dieses Hirtenlandes zuschrieb . . . Daß aber die Hirtengötter, nach der Sage der Vorzeit, hier vorzüglich ihre Gegenwart offenbarten und hier sogar ihren Ursprung hatten, . . . dies gab der gebirgigen Gegend . . . eine vorzügliche Heiligkeit. Der Name des Landes und die Namen der einzelnen Berge, die es in sich faßt, wurden in der Dichterspradie der Alten bedeutungsvoll, indem sie den Aufenthalt höherer Wesen unter den sterblidien Menschen bezeichneten." 54 Polybios IV, 20 (Anm. 52). Vgl. hierzu E. PANOFSKY, Et In Arcadia Ego. On the conception of transience in Poussin and Watteau. In: Philosophy and History. Essays presented to E. Cassirer. Oxford 1936, S. 225 ff. 55 Eel. 10, V. 32: „Arcades . . . soli cantare periti . . .". 5 · Eel. 7, V. 5: „Arcades ambo, et cantare pares et respondere parati . . .". 57 Ecl. 8, V. 23-24: „semper pastorum ille audit amores Panaque, qui primus calamos non passus inertis . . .". m Ecl. 4, V. 58/59. 5

Mahl, Die Idee des goldenen Zeitalters

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Die römisAe

Antike

Ob dabei Vergil auf dem Umweg über eine Polybios-Lektüre sein Arkadien als Land der Hirten, Dichter und Sänger gefunden oder ob er es als geeignetes Symbol für die erträumte Hirtenwelt aufgenommen hat, weil es die Heimat Pans, des Begründers der bukolischen Sangeskunst, war, bleibt in der Forsdiung eine heftig umstrittene Frage5'. Jedenfalls sind es diese und ähnlidie Assoziationen gewesen, die aus dem historisch-realen Arkadien durdi Vermittlung Vergile das paradiesische Traumland der bukolischen Dichtung gemacht haben. Der Versudi, für Arkadien selbst im Ausgang des 4. Jahrhunderts eine bodenständige Bukolik nadizuweisen, auf die Vergil und vor ihm schon Theokrit zurückgegriffen haben könnten, muß als gescheitert gelten"0. U m aber zu erkennen, w a s V e r g i l aus diesem A r k a d i e n der griechischen Überlieferung gemacht hat, muß die Dichtung eines anderen römischen Autors herangezogen werden, der ebenfalls Arkadien besungen hat: Ovid. In seinen ,Fasti', einer mythologischen Erklärung römischer Feste und Kultbräuche in Elegienform, hat der letzte der klassischen Dichter Roms ein ganz anderes Bild arkadischer Glückseligkeit entworfen, das überdies in eine ferne Urzeit zurückverlegt wird, und diese ovidische A u f f a s s u n g ist es, a n der die vergilische gemessen w e r d e n muß, um in ihrer B e sonderheit und schöpferischen Verwandlungskraft hervorzutreten· 1 . Nach Ovid lebten die Arkadier unter der Herrschaft Pans, des Hirtengottes, vor der Geburt Juppiters und vor der Erschaffung des Mondes, und führten das Leben roher, urzeitlicher Mensdien: Pana deum pecoris veteres coluisse feruntur Arcades, Arcadiis plurimus ille iugis . . . ante Iovem genitum terras habuisse feruntur Arcades, et Luna gens prior illa fuit. vita feris similis nullos agitata per usus, artis adhuc expers et rude vulgus erat. pro domibus frondes norant, pro frugibus herbas, nectar erat palmis hausta duabus aqua. nullus anhelabat sub adunco vomere taurus, nulla sub imperio terra colentis erat. nullus adhuc erat usus equi, se quisque ferebat, ibat ovis lana corpus amicta sua.

5i Die zuerst von E. KAPP (bei PANOFSKY, a. a. O. S. 226, Anm. 4) aufgestellte und dann von SNELL (a. a. O. S. 371) übernommene These, Vergil habe durdi die Polybios-Lektüre veranlaßt sein Hirtenland nach Arkadien verlegt, wird trotz einleuchtender Argumente neuerdings von G. JACHMANN (L'Arcadia come paesaggio bucolico, a. a. O. p. 13 ff.) und Κ. BÜCHNER bestritten: „. . . so wird man nicht den Umweg über eine gänzlidi unwahrscheinliche Polybioslektüre Vergile annehmen, sondern zum Sdiluss kommen, dass Vergil die Sangeskunst in Arkadien beheimatet sein lässt, weil es die Heimat Pans ist . . . " (P. Vergilius Maro, a. a. O. Sp. 242). Eine weitere Forsdiungsthese bringt die Einführung des arkadisdien Rahmens bei Vergil mit der durch seine Aeneis V i l i , V. 51 ff. bezeugten Vorstellung von der Verwandtschaft zwischen Römern und Arkadern zusammen (vgl. W . SCHMID, Eine frühchristliche Arkadienvorstellung. Gonvivium, Festgabe f. K. Ziegler. Stuttgart 1954, S. 129, Anm. 18). 60 Zuerst von R. REITZENSTEIN (Epigramm und Skolion, Gießen 1893, S. 131 u. 243 ff.) vertreten, von H. WENDEL, a. a. O. S. 19 ff. im einzelnen behandelt, wird diese mehr erschlossene als bewiesene arkadische Bukolik heute allgemein abgelehnt, so bei PANOFSKY, a. a. O. S. 225, Anm. 4, und bei SNELL, a. a. O. S. 372, Anm. 1/2, obwohl sie neuerdings wieder einen Fürsprecher in Jachmann erhalten hat. W i r schließen uns hier Panofsky an: „To our present knowledge Virgil is the first author who selected Arcadia as the realm of pastoral happiness" (a. a. 0 . S. 225/26, Anm. 4). el Das hat zuerst E. PANOFSKY, a. a. O. S. 226 f. und in seiner kritischen Rezension der Arbeit Herta Wendeis (A Bibliography of the Survival of the Classics, II: The publications of 1932-1933. Edited by the W a r b u r g Institute. London 1938, S. 250, Nr. 927) mit allem Nachdruck hervorgehoben.

Vergib

Arkadien-Vorstellung

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sub love durabant et corpora nuda gerebant docta graves imbres et tolerare notos, nunc quoque detecti referunt monumenta vetusti moris et antiquas testificantur opes . . . β! . Im Sinne eines aitiologischen Mythos wird hier das primitive, bedürfnislose Leben der Arkadier geschildert, das dem der wilden Tiere ähnlich war und aller Kunst entbehrte. U n d dodi fällt auf dieses rauhe Dasein des arkadischen Urvolkes ein Hauch des goldenen Zeitalters: sie wußten nichts von Landwirtschaft, Baukunst, Kleidung, Werkzeugen und Haustieren, aber eben deshalb lebten sie in unschuldiger Einfachheit und genügsamer Zufriedenheit, so daß ihnen das handgeschöpfte Quellwasser wie Nektar mundete. Offensichtlich hat auch Ovid auf die Schilderung des arkadischen Berglandes durch den Historiker Polybios zurückgegriffen, aber er verschmolz die dort erwähnten Kennzeichen mit den kosmogonischen Vorstellungen, die in den bereits angeführten, älteren griechischen Sagen von einem arkadischen U r menschentum vor der Erschaffung des Mondes eine bedeutsame Rolle spielten 63 . Er betonte also die Kennzeichen eines anfänglichen, primitiven Lebens auf niederer Kulturstufe, während er die Kennzeichen einer spezifisch musischen Begabung und Geistesart ganz ausschied; gleichzeitig schob er die Arkadien-Vorstellung in eine mythische Vergangenheit zurück. Das weist auf jene Auffassung des wahrhaft naturgemäßen Lebens voraus, wie es später, im 18. Jahrhundert, von Rousseau idealisiert und nicht zufällig mit dem antiken Arkadien des Polybios und Ovid in Verbindung gebracht wurde®4 - deutet aber zugleich die Möglichkeit einer H i s t o r i s i e r u n g der Arkadien-Vorstellung an, wie sie vereinzelt bereits in der Vergil-Exegese der Spätantike und dann vor allem in der bukolischen Theorie der Renaissance vollzogen wird, wo Vergils zeitlose Hirtenlandschaft als Zeugnis der Ursprünglichkeit, als arkadische „Urzeit" verstanden wird und die Hirtendichtung als das „vetustissimum genus", als Urdichtung der Menschheit, ihren poetologischen Ort am Beginn aller Kulturentwicklung zugewiesen erhält 8 5 .

62 Fasti II, V. 271/72 u. 289 ff. (P. Ovidius Naso, Die Fasten. Hg., übersetzt und kommentiert von F. Börner. Bd. I - I I , Heidelberg 1957-58). - Vgl. ferner Fasti V, V. 89/90: „Arcades hune Ladonque rapax et Maenalus ingens / rite colunt, luna eredita terra prior . . . " . ,s Es ist interessant zu beobachten, daß gerade diese ältere griechische Auffassung im 18. J a h r hundert durch Hemsterhuis erneuert wird, der an sie seine naturwissensdiaftlidien Theorien anknüpft, mit denen er den Verlust des goldenen Zeitalters begründen will („Alexis, ou de l'âge d'or"; Oeuvres Philosophiques de M. F. Hemsterhuis, Paris 1792, T . II, p. 140 ff. u. 179 ff.). Vgl. unsere Arbeit, S. 275 ff. M Unter dem Einfluß Rousseaus entstand der Roman „L'Arcadie" des Bernadin de Saint-Pierre, der zwar nicht vollendet wurde, dessen Vorrede aber den gemeinsam mit Rousseau konzipierten Plan erörtert, durch eine Geschichte des arkadischen Volkes das Bild eines natumahen, friedliebenden Volkes mit patriarchalischen Sitten vor aller verderblichen Zivilisation zu entwerfen: „Mon âme, méconte des siècles présents, prit son vol vers les siècles anciens et se reposa sur les peuples de l'Arcadie" (Oeuvres de Bernadin de Saint-Pierre, par L. Aimé-Martin. Paris 1836, p. 597). Im 18. Jahrhundert wird also noch einmal, aus der Unzufriedenheit an der eigenen Kultur und Gegenwart, das antike Arkadien des Polybios und Ovid beschworen, und dieses „Arkadien . . . ist der Mittelpunkt eines spekulativen Geschichtsbildes geworden" (W. KRAUSS, Über die Stellung der Bukolik in der ästhetischen Theorie des Humanismus. In: Archiv f ü r das Studium der neueren Sprachen, 93. Jg., Bd. 174, 1938, S. 193). 65

5*

Vgl. unsere Arbeit, S. 118 ff.

Die römisehe Antike

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Im Gegensatz zu Ovid, der, den überlieferten Sagen folgend, den arkadischprimitiven Hirtenstand in eine mythisdie Urzeit versetzt, überträgt Vergil die arkadische Unschuld und musisdie Empfindsamkeit - die er unter Vernachlässigung der „harten" Züge vielleicht aus der Schilderung des Polybios herauslas - in einen utopischen R a u m , der als Reich des Dichters gegenwärtig bleibt und daher immer wieder neu entdeckt und erobert werden kann. Er war es, der das mythisdie und das historische Arkadien zum paradiesischen Traumland verklärte, indem er dort, weit entfernt vom römischen Alltag, die Hirten Theokrits, die Corydon, Alexis, Meliboeus, Tityrus ansiedelte, deren griechische Namen in der lateinischen Dichtung so fremd und entrückt klingen mochten wie die mythischen Gestalten der Götter und Naturwesen, der Najaden, Nymphen und Dryaden, die er der griechischen Dichtung und Vorstellungswelt entnahm und in Arkadien heimisch werden ließ 69 . Gerade an dem Gegenbild Ovids können wir erkennen, daß die Entdeckung jenes imaginären Hirtenlandes, das seit der europäischen Renaissance unter dem Namen Arkadien immer wieder den Traum vom goldenen Zeitalter wecken und in sich festbannen sollte, Werk und Leistung dieses einen römischen Dichters ist; denn um es mit den Worten Erwin Panofskys zu sagen - „thanks to the imaginative power of a Roman poet, a somewhat bleak and chilly region of Greece became transfigured so as to survive in the memory of mankind as an ideal realm of perfect bliss"«'. Freilich bedarf unsere Darstellung einer gewissen Korrektur. Denn in diese an sich zeit- und gesdiiditslose Traumwelt Arkadiens dringen bei Vergil mehr und mehr die aktuellen Geschehnisse der römischen Geschichte ein, so daß die Hirtenlandschaft gleichsam transparent wird für die dahinterliegende Welt realpolitischer Ereignisse und Schicksale, die den Dichter und seine Zeit bedrängen. Vergegenwärtigt man sich die Reihenfolge der Entstehung der einzelnen Eklogen· 8 , so entdeckt man, wie am Rande dieser entrückten Welt, aus der zunächst nodi nichts hinausweist, eine andere, jenseits ihrer Grenzen liegende Wirklichkeit erscheint, aus deren Not und Verwüstung sich das Bild einer Zeitwende und eines göttlichen Heilsbringers erhebt - jenes Bild, mit dem Vergil seiner Sehnsucht nach Frieden und Harmonie, die für Arkadien bestimmend geworden ist, eine neue Beziehung zur Geschichte gegeben hat. Schon in der 5. Ekloge, dem Daphnis-Liede, in welchem Vergil dem bereits von Theokrit besungenen Schicksal des mythischen Hirtenjünglings Daphnis eine veränderte Fassung gibt, schimmert durch die Gestalt des sterbenden und verklärten Hirten die Idee eines Gottmenschen hindurch, dessen Tod die ganze Natur betrauert und dessen Apotheose eine neue goldene Weltzeit heraufführt«»: · · Vgl. B. SNELL, a. a. O. S. 3 7 2 / 7 3 u. 398.

• 7 Et In Arcadia Ego, a. a. O. S. 227. M Zuerst entstanden die 2., 3. und 5. Ekloge; die 7. sdilofi sich wahrscheinlich hier an; dann folgten die 9. und 1. Ekloge im Jahre der Adeerverteilung 41 v. Chr.; die 6. muß später als die 9. entstanden sein, während die 4. Ekloge durdi Pollios Konsulatsjahr 41 v. Chr. datiert wird. Die 8. gehört in das Jahr 39 v. Chr., in dem Pollio siegreich aus dem dalmatinischen Feldzug heimkehrte, und im gleichen Jahr dürfte die 10. Ekloge entstanden sein, mit der Vergil die Bucolica beschließt. V g l . K . BÜCHNER, a . a . 0 . S p . 2 3 1 £f.

· · Ecl.5. V. 60 £f.

Vergib Verkündigung des goldenen Zeitalters in der 4. Ekloge

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N e c lupus insidias pecori nec retia cervis ulla dolum meditantur; amat bonus otia Daphnis. ipsi laetitia voces ad sidera iactant intonsi montes; ipsae iam carmina rupes, ipsa sonant arbusta: .deus, deus ille, Menalca!'

Schon die alten antiken Erklärer haben hier an den Tod des Julius Caesar gedacht70, von dessen Apotheose als strahlendes Sternbild die 9. Ekloge berichtet, und deutlicher noch wird in der 1. Ekloge inmitten der behüteten Hirtenidylle, deren Hintergrund die harte Gegenwart der römischen Bürgerkriege bildet, „die Idee eines göttlichen Menschen, der das Unheil in der Welt wendet und Friedensglück bringt" 71 , auf den jungen Caesar Octavianus übertragen, an dessen Wirksamkeit sich die prophetischen Hoffnungen Vergils von nun an knüpfen sollten: O Meliboee, deus nobis haec otia fecit, namque erit ille mihi semper deus, illius aram saepe tener nostris ab ovilibus imbuet agnus 7 2 .

Gerade dieser Einbruch der Geschichte in die arkadische Hirtenwelt ist bedeutsam, denn er weist auf die Prophetie des kommenden goldenen Zeitalters voraus, die Vergil in seiner berühmtesten, vierten Ekloge gestaltet und mit welcher er recht eigentlich die arkadische Bukolik in eine engere, später ganz zusammenfallende Beziehung zur Vorstellung eines goldenen Zeitalters gebracht hat. Auf der anderen Seite aber wird deutlich, wie sich für Vergil auch das Politische unmittelbar an mythische Vorstellungen knüpft, und stärker noch als bisher zeigt sich gerade hier „das Ineinander und Nebeneinander von Wirklichem und Mythischem, das so charakteristisch ist für alles Arkadische"73.

3. Die eschatologische W e n d u n g : Vergils Verkündigung des goldenen Zeitalters in der vierten Ekloge Wenn Vergil in seiner 4. Ekloge, dem meist interpretierten Gedicht der Weltliteratur 74 , von der Geburt eines göttlichen Kindes die Wiederkehr der saturnischen Weltzeit, die „ultima aetas", erwartet, so gibt er der Geschichte damit eine Deutung, die den allgemeinen Erwartungen der Zeit um das Jahr 41 v. Chr. entsprach. Nach der heillosen Zerrissenheit der römischen Bürgerkriege war die Sehnsucht nach Ruhe und Frieden übermächtig geworden, und die eschatologische Hoff70

V g l . F . KLINGNER, a . a . O . S. 259 z u r S t e l l e .

71

F. KLINGNER, Virgils erste Ekloge. In: Hermes 62, 1927, S. 151. « Eel. 1, V. 6 ff. 7

> B . SNELL, a . a . O . S . 3 8 2 .

74

Die folgende Interpretation erhebt nicht den Anspruch, die verwirrende Anzahl von Meinungen und Thesen der klassischen Altertumswissenschaft um eine weitere zu vermehren. Sie gibt vielmehr eine Darstellung und Deutung, die aus der gründlichen Beschäftigung mit den im Literaturverzeichnis angeführten Werken erwachsen ist und die vorhandenen, oft sehr gegensätzlichen Forschungsstandpunkte abzuwägen und in der gebotenen Beschränkung zusammenzufassen sucht. Daher wird audi nur dort, wo es notwendig erscheint, unser eigenes Urteil ablehnend oder zustimmend zur kaum noch übersehbaren Fachliteratur in Beziehung gesetzt - ein Forsdiungsbericht, den man vor allem in K. BUCHNERS Vergil-Artikel (a. a. O. Sp. 175 ff.) nachlesen möge, liegt außerhalb unserer Absicht.

70

Die römische

Antike

nung auf einen gottgesandten Retter und Weltfriedenskaiser mochte, unter dem Einfluß orientalisch-hellenistischer Heilserwartungen und unter Berufung auf die in jener Zeit umlaufenden sibyllinischen Orakelsprüche, den Boden bereitet haben für die bei Vergil vollzogene Wendung des antiken Mythos, durch welche erstmals ein goldenes Zeitalter in der Zukunft der Menschheitsgeschichte auftaucht, das die überlieferten Wunschvorstellungen der mythischen Vergangenheit erneuert. Zwar wird man sagen dürfen, daß das Bild Arkadiens und das des kommenden goldenen Zeitalters der Sehnsucht eines und desselben Dichters entstammt, daß vielfältige Verbindungslinien zwischen der traumhaft-zeitlosen Hirtenlandschaft und dem hier verkündeten Endzeitalter der Geschichte aufzudecken sind - nicht umsonst hat Vergil diese „saeculi novi interpretado", wie der Codex Romanus das Gedieht später bezeichnet, seinem Eklogenzyklus eingefügt - , aber die 4. Ekloge wächst mit ihrem prophetischen Ernst und mit den in ihr anklingenden Vorstellungs- und Bedeutungsbereichen weit über den bukolischen Wunschraum hinaus. Der Dichter hat in ihr die Hirtenmaske abgestreift und steht als Vates, als der Seher und Künder einer seligen Weltzukunft da: Sicilides Musae, paulo maiora canamus! non omnis arbusta iuvant humilesque myricae; si canimus silvas, silvae sint consule dignae 75 .

Ein erhabenerer Gesang soll angestimmt werden, der aus der arkadischen Landschaft herausführt in die Welt der Geschichte und ihrer großen Mythen - jener Geschichte, deren Nöte und Hoffnungen bisher nur mit verhüllten und untergründigen Anspielungen durch den Hirtengesang hindurchschimmerten, die aber nun in idealer Erhöhung unvermittelt hervortritt als der Kairos, die entscheidende Wende im Schicksal der Völker. In der Tat ist niemals vor Vergil in der griechischen oder römischen Dichtung das Wunschbild des goldenen Zeitalters so direkt mit der geschichtlichen Wirklichkeit verknüpft worden wie hier in der 4. Ekloge, mit welcher der Dichter, mehr als zehn Jahre vor der Erfüllung seiner Friedensträume durch Augustus, die politische Ideologie des Römertums vorweggenommen, eine neue aetas aurea in Gestalt eines vom Himmel entsandten Knaben und kommenden Weltherrschers verkündet hat. Wenn der Konsul Asinius Pollio, an den Vergil sich wendet Teque adeo decus hoc aevi, te consule inibit, Pollio, et incipient magni procedere menses 7 · -

durch seinen maßgebenden Anteil an der Beendigung des perusinischen Krieges zwischen Marcus Antonius und Octavianus und am Friedensschluß von Brundisium im Jahre 40 v. Chr. hervorgetreten ist, so liegt es nahe, als äußeren Anlaß für die Entstehung der Ekloge diese Pax Brundisina anzusehen, an die sich damals überschwengliche Heilserwartungen und Friedenshoffnungen knüpfen mochten77. Aber

75 Ecl. 4, V. 1-3. - Vgl. die bisher unveröffentliditen Übertragungsversudie der 4. Ekloge durch Novalis; unsere Arbeit, S. 429ff. 7 « Ecl. 4, V. 11-12. 77 Zu diesem zeitgesdiiditlidien Hintergrund und zur damit verbundenen Datierungsfrage vgl. G. JACHMANN, Die vierte Ekloge Vergils. Arbeitsgemeinschaft f. Forschung d. Landes NordrheinWestfalen, Geisteswissens (haften, H. 2. Köln u. Opladen 1953, S. 58 f.

Vergib

Verkündigung

des goldenen Zeitalters

in der 4. Ekloge

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so berechtigt audi immer die Frage des Historikers nadi dem realen Anlaß und Hintergrund des ungewöhnlichen Liedes sein mag, letzten Endes soll nach des Dichters Absicht seine prophetische Deutung der Weltstunde dunkel und geheimnisvoll bleiben78. Eben diese Unbestimmtheit ermöglidit ihm die Aufnahme aller Mythen und Visionen der Antike, die mit feierlichen und mächtigen Akkorden schon in den ersten Versen des Gedichtes aufklingen: Ultima Cumaei venit iam carminis aetas; magnus ab integro saeclorum nascitur ordo, iam redit et Virgo, redeunt Saturnia regna; iam nova progenies cáelo demittitur alto, tu modo nascenti puero, quo ferrea primum desinet ac toto surget gens aurea mundo, casta fave Lucina: tuus iam regnat Apollo7®.

Wie das Lied der cumaeisdien Sibylle geweissagt hatte, naht schon das letzte Zeitalter der Menschheitsgeschichte, und die große Folge der Jahrhunderte erneuert sich aus ihrem Ursprung: schon kehrt die Jungfrau, Dike-Astraea, zurück und mit ihr die goldene Urzeit des Saturnus; schon wird ein neues Geschlecht vom hohen Himmel entsandt - Lucina, die Geburtsgöttin, wird angerufen um ihren Beistand bei der Geburt eines Knaben, durch den die eiserne Weltzeit enden und rings in der Welt ein neues goldenes Zeitalter aufsteigen wird, denn schon herrscht - ein letztes bestätigendes Zeichen - Apollo, der Gott der Sonne und ewig erneuerten Jugend 80 . In einem vierfach sich steigernden, einprägsamen „iam" wird eine Fülle von alten Überlieferungen und Symbolen zusammengehäuft, um der Erwartung des Dichters gesammelten Ausdruck zu verleihen, und eben in dieser „Symbolballung" haben wir, nach der Meinung Karl Büchners81, den Willen Vergils zu sehen, der die Unklarheit und Widersprüchlichkeit der damit vereinten mythischen Vorstellungen rechtfertigt und auflöst. Denn die sibyllinisdien Weissagungen von einem Endzeitalter der Geschichte decken sich kaum mit der orientalisch-stoischen Weltenjahr-Lehre, nach welcher dem großen Weltbrand ein neuer, sich wiederholender Kreislauf der Geschichte folgen soll, und diese wiederum läßt sich nur schwer mit den WeltalterVorstellungen Hesiods und dem Astraea-Mythos des Aratos vereinbaren. Sie alle aber werden ins Bewußtsein gerufen, um die Deutung der Weltstunde mit hämmernder Eindringlichkeit zu betonen: es ist Endzeit, die Geschichte schließt und erneuert sich zugleich in einem goldenen Zeitalter, zu dessen überlieferten Zügen

78 „Das Unbestimmte ist in dem Gedichte das eigentlich Bestimmende", urteilt E. N O R D E N in seinem bekannten, vor allem für die ideengeschichtlidien Hintergründe der Ekloge nodi immer grundlegenden Werk (Die Geburt des Kindes, a. a. O. S. 138). n Ecl. 4, V. 4 ff. - Wie in der griechischen Mythentradition wird auch hier nidit zwischen „Weltalter" und „ Menschengeschlecht" (aetas aurea, Saturnia regna, gens aurea) unterschieden. 80 Die vielfach aufgeworfene Frage nach der Bedeutung Apollons als Weltregent der ultima aetas veranlaßt E. Norden, an ägyptische Vorstellungen von der Sonnenherrschaft im neuen Zeitalter zu denken und Vergils Ekloge mit der dort verbreiteten, vom griediisdi-alexandrinisdien Helioskult aufgenommenen Erwartung der Epiphanie eines Sonnenkindes (Horus) in Verbindung zu bringen (a. a. O. S. 44 ff.) - eine These, der u. a. K. Büchner entgegentritt, wenn er in der Herrschaft Apollons lediglich eine Hindeutung auf den Gott Octavians (auf den auch später der Sieg von Actium zurückgeführt wurde) erblicken will (a. a. 0 . Sp. 188). 81 a. a. O. Sp. 188.

Die römische Antike

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ein bisher unbekannter hinzutritt, die Geburt eines Kindes, mit dessen Erscheinen sich die ersehnte Friedenszeit über die ganze Welt verbreiten soll. Bevor wir daher dieser eigentümlichen, zwischen literarischem Spiel und prophetischem Ernst schwebenden Zusammenschau fast unvereinbarer Überlieferungen 82 nachgehen, wird es notwendig sein, jenes neue, bisher nicht belegte Motiv weiter zu verfolgen, da es wahrscheinlich den Schlüssel für das Verständnis der gesamten Ekloge enthält. Von dem erwarteten Knaben wird in den folgenden Versen gesagt, daß er das Leben der Götter empfangen, die Heroen vereint mit den Göttern erschauen und selbst unter ihnen erscheinen werde, um schließlich den durch die Taten des Vaters befriedeten Erdkreis zu beherrschen: ille deum vitam accipiet divisque videbit permixtos heroas, et ipse videbitur illis, pacatumque reget patriis virtutibus orbem . . .8®

Hier tritt der elysisdie Vorstellungskreis hinzu, um die göttliche Abkunft des Kindes zu bezeichnen und zugleich, wie in der griechischen Überlieferung, das goldene Zeitalter als Gemeinschaft der Götter und Menschen durch die Erinnerung an das Heroenleben auf den seligen Inseln auszuschmücken. Die nun folgende Anrede an den Knaben aber läßt ein neues Wunschbild aufsteigen, das den unmittelbaren Bezug zur politischen Wirklichkeit aufgibt zugunsten einer idyllischen Ausmalung der beginnenden goldenen Zeit, in welcher die arkadische Hirtenlandschaft noch einmal in verklärter Märchenstimmung beschworen und die erhabene Geschichtsprophetie des Beginns in den bukolischen Rahmen der Eklogendichtung zurückgeleitet wird 84 . Die Erde wird dem Neugeborenen von selbst ihre Blumen und Früchte als Geschenke darbringen, freiwillig werden die Ziegen mit vollen Eutern heimwärts ziehen, und die Rinderherde sich nicht mehr fürchten vor mächtigen Löwen; in dieser Eintracht und Harmonie von Natur und Menschenwelt wird das Böse und Zerstörende verschwinden, die Schlange wird aussterben und das trügerische Gift-

82 D a ß die Widersprüchlichkeit der von Vergil aufgenommenen Überlieferungen auf eine „mit mehr oder minder Ernst gepaarte poetische Spielerei" hindeute, wird vor allem von P. CORSSEN (Die vierte Ekloge Vergils, in: Philologus 81, 1926, S. 32) und G. JACHMANN ( a . a . O . S. 59 ff.) gegen Eduard Nordens religionsgeschichtliche Untersuchung eingewendet; Jadimann sieht es geradezu als seine Aufgabe an, „die Auffassung der vierten Ekloge als eines literarischen Gebildes, nicht eines religiösen Hymnus wiederherzustellen und zu sichern" (a. a. O. S. 62). Aber aus der Unausgeglichenheit der assoziierten mythisdien Grundvorstellungen läßt sich nodi kein Schluß auf die literarische U n verbindlidhkeit des ganzen Gedichtes ziehen - wie dies in dem Urteil P. Corssens geschieht: „Von religiöser Empfindung ist in der vierten Ekloge nidits zu verspüren. Sie hat durchaus einen einseitig literarischen Charakter. Der Diditer spielt mit entlehnten Motiven, die er sich mit hoher Kunst zu eigen macht, ohne sie doch völlig miteinander ausgeglidien zu haben" (a. a. O. S. 69). Gerade die Wendung vom Mythos zum Symbol, die f ü r Vergil charakteristisch ist und die wir herauszuarbeiten versuchen, ermöglicht ein „Spielen" mit dem Überkommenen, dessen tieferer Ernst sich auf den gemeinten, mit werbender Eindringlichkeit verkündeten Glauben des Dichters bezieht (vgl. den Sdiluß dieses Abschnittes, S. 82 £f.). ω

Ecl. 4, V. 15-17. E. NORDEN, der mit Recht eine „Kontrolle der Ideengeschichte durdi die Formengeschidite" fordert (a. a. O. S. 165), hat darauf hingewiesen, daß Vergil ein Hirtenlied dichten will, also den bukolischen Stil wahren und das Erhabene (der Endzeitverkündigung) dem Idyllisdien unterordnen muß: „Prophetenwort und Hirtensdialmei, himmlische und irdische Töne, feierlicher Ernst und tändelndes Spiel vereinigen sich . . ( a . a. O. S. 10). 84

Vergils Verkündigung des goldenen Zeitalters in der 4. Ekloge

73

kraut, und überall werden nur sdimeidielnde Blumen blühen und assyrischer Balsam wachsen: At tibi prima, puer, nullo munuscula cultu errantis hederas passim cum baccare tellus mixtaque ridenti colocasia fundet acantho. ipsae lacte domum referent distenta capellae ubera, nec magnos metuent armenta leones, ipsa tibi blandos fundent cunabula flores, occidet et serpens, et fallax herba veneni occidet; Assyrium volgo nascetur amomum .. ,85 D i e überkommenen, seit Hesiod immer wiederkehrenden Wunschmotive des elysisdien Frühlings und der freiwillig schenkenden Erde 8 · mischen sich hier mit den Bildern eines friedlichen Zusammenlebens der Tiere inmitten einer Natur, in welcher das Böse, Zwietracht und T o d für immer verschwunden sind - Vorstellungen, die uns zwar aus dem orphisch-platonisdien Sagenkreis vertraut sind, die aber in ihrer Beziehung auf das sorglos in der W i e g e schlummernde, göttlidie Kind und auf das allererst mit seiner Geburt eintretende paradiesische Weltalter neuartig wirken. Hier ist denn auch der Ort, auf jene orientalisch-hellenistischen Vorstellungen hinzuweisen, von denen die 4. Ekloge Vergils offensichtlich beeinflußt ist, auf die der römische Dichter selbst mit seiner Berufung auf das Carmen Cumaeum hingedeutet hat und die sein Gedicht in einem religionsgeschichtlichen Zusammenhang erscheinen lassen, der es, mit Eduard Norden zu sprechen, als bukolische Variation eines damals weitverbreiteten Themas, als einzelne Stimme inmitten einer großen „Weltfuge" hervortreten läßt 87 . Den älteren Erklärern und Kommentatoren Vergils, wie Servius, scheint diese Quelle, in welcher die Wiederkehr des goldenen Zeitalters mit der Geburt eines kommenden, zur Weltherrschaft bestimmten Erlöserhelden und Friedenskönigs verknüpft worden sein muß, noch bekannt gewesen zu sein88. Ausdrücklich aber hat erst ein christlicher Kommentator um 300 n. Chr., Lactantius, Vergils Ekloge mit den messianisdien Weissagungen jüdisch-hellenistisdier Sibyllen in Verbindung gebracht, die in der Tat erstaunliche Entsprechungen enthalten - auch wenn das vom Dichter berufene Carmen Cumaeum weder in den von Lactantius angeführten Belegstellen noch in der aus dem 6. Jahrhundert n. Chr. erhaltenen Sammlung der ,Oracula Sibyllina' überliefert worden ist89. Mag nun wirklich ein zu Rom in Umlauf gesetz-

w E d . 4, V. 18 ff. " Vgl. in der römischen Dichtung vor allem Horaz, 16. Epode, V. 41 ff.; Tibull, Elegien I, 3, V. 35 ff.; Ovid, Metamorphosen I, V. 107 ff. 87 a. a. O. S. 168. D a ß sich die vierte Ekloge „aus griechisch-römischen Vorstellungen restlos erklären" läßt, wie P. COKSSEN, a. a. O. S. 63, aber audi Κ. BUCHNER gegen Norden geltend madien wollen („man braucht . . . griechisch-römische Vorstellungen nicht zu verlassen, um ein Verständnis zu erreichen", a . a . O . Sp. 178/79), muß zumindest zweifelhaft erscheinen; wenn sich Vergil auf ein Oraculum Sibyllinum beruft, so scheint damit der orientalische Einfluß, audi wenn er längst in der hellenistischen W e l t Fuß gefaßt hat und entsprechend umgewandelt worden ist, unwiderlegbar festzustehen. W i r können diesen ideengeschichtlichen Hintergrund hier nur andeuten - eine entscheidende Einschränkung Nordens, auf dessen Hypothesen wir nicht eingehen, wird sich am Schluß bei der Deutung des „göttlichen Kindes" ergeben (S. 82 ff.). 88 Vgl. P. CORSSEN, Die vierte Ekloge Vergils, a. a. O. S. 29. 89 Vgl. A. KURFESS, Sibyllinisdie Weissagungen. Urtext und Übersetzung. München 1951, S. 238 ff. (Lactantius) und S. 32 ff. (die sibyllinisdien Bücher in der endgültigen Redaktion, wie sie nadi mehreren, zunächst jüdischen, dann christlichen Bearbeitungen der ältesten Stücke „kaum vor Beginn des 6. Jahrhunderts" angesetzt werden darf). Die folgenden Zitate nach dieser kritischen Ausgabe.

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Die römische

Antike

ter, auf das Konsulatsjahr des Asinius Pollio bezogener Sibyllensprudi f ü r eben dieses J a h r den Anbrudi einer neuen aetas aurea verkündet haben oder nicht 90 - jedenfalls haben wir hier, in j e n e n prophetischen Spruchsammlungen, die, den Griechen aus dem Osten vermitt e l t " , vor allem in der alexandrinisdien Zeit unter dem N a m e n der ältesten Sibyllen weithin verbreitet worden sind* 2 und die audi in der römischen W e l t , am Kultort von Cumae, heimisch gewesen zu sein scheinen* 3 , die Vermittlung orientalisch-hellenistischer Heilserwartungen zu suchen, aus denen sidi die uns unbekannten Motive der vergilisdien Ekloge erklären lassen. Durch den B r a n d des Kapitols im J a h r e 83 v. Chr. w a r e n die libri fatales, die W a h r s a g e - und Kultanweisungsbücher des alten Rom, vernichtet u n d durch neuere Orakelsammlungen ersetzt worden, die m a n aus dem griechischen Osten, hauptsächlich aus Erythraia, holte 9 4 ; dadurdi scheint das mittlerweile im hellenistischen Raum verbreitete orientalische Gedankengut in Rom Eingang g e f u n d e n zu haben, und die staatliche Anerkennung dieser, im Gegensatz zu den alten Orakelsprüchen ausgedehnteren, in die geschichtliche Vergangenheit zurückführenden und aus ihr die Zukunftsprophetie rechtfertigenden sibyllinisdien Dichtung legt die Berufung eines römischen Autors auf sie nahe. Im ältesten, dritten Buch dieser ,Oracula Sibyllina', das offenbar jüdischen Ursprungs ist und im 1. J a h r h u n d e r t v. Chr. durch einen alexandrinisdien Kompilator ältere, teils babylonisdi-ägyptische, teils hebräische Bruchstücke zu einer zusammenhängenden Dichtung in griechischen Hexametern vereinigte' 5 , findet sich in der Schilderung des kommenden goldenen Zeitalters nun audi jenes Bild des Kindes inmitten einer befriedeten N a t u r , das Vergil in seiner 4. Ekloge anscheinend aufgegriffen und ausgestaltet hat: W ö l f e schmausen und L ä m m e r in Bergen, g a r innig gesellet, Gräser, u n d Panther, mit Böcklein vereinigt, gehn auf die Weide. U n d die Bären lagern mit schweifernden Kälbern zusammen; Der fleischhungrige Leu f r i ß t gleich einem Rind an der Krippe Stroh, und es f ü h r e n am Z a u m e ihn nodi kleinwinzige Knäblein. Denn ganz harmlos macht er auf E r d e n das wilde Getier, und Säuglinge schlafen mit Schlangen u n d Nattergezüchten zusammen Ohne G e f a h r ; denn über sie hält Gott selber die H ä n d e . . Diese Verse aber beziehen sidi auf einen messianisdien Heilskönig und Weltherrscher, der deutlich auf die Vorlage der sibyllinisdien Weissagung zurückweist: auf die israelitisch-jüdische Prophetie der vergangenen J a h r h u n d e r t e , in welcher erstmals ein Messias verkündigt worden war, der das Volk Israel aus seiner tiefsten Erniedrigung und Knechtschaft zu einem

90 Dieser Meinung Mommsens schließt sidi die Forschung heute allgemein an (vgl. G. JACHMANN, a. a. O. S. 49), obwohl gelegentlich audi die Möglichkeit einer fiktiven Quelle Vergile erwogen worden ist (F. MARX, Virgils vierte Ekloge, in: NJbb. I, Leipzig 1898, S. 126). „Zu zweifeln ist sicher nicht, dass Vergil Orientalia gekannt hat, aber ob es ein bestimmter Text ist oder das, was im Rom dieser Zeit in der Luft lag, scheint mir nidit ausgemacht" (BÜCHNER, a. a. 0 . Sp. 240). " Der älteste Kult der Sibyllenorakel ist wahrscheinlich im persisch-iranisdien Raum zu suchen, so daß die sibyllinisdien Weltalter-Vorstellungen auf den persischen Chiliasmus zurückzuführen wären; vgl. K. KERÉNYI, Das persische Millennium im Mahabharata, bei der Sibylle und Vergil, in: Klio 29, 1936, S. 1 ff.; R. REITZENSTEIN, Das iranische Erlösungsmysterium. Bonn 1921, S. 116 ff.; H. JUNKER, Über iranische Quellen der hellenistischen Aion-Vorstellung. Vorträge der Bibliothek Warburg, 1921-1922, Leipzig 1928, S. 125ff.; A. DOREN, Wunschräume und Wunschzeiten, a . a . O . S. 170 ff. 92 Vgl. M. J. WOLFF, Sibyllen und Sibyllinen, in: Archiv für Kulturgeschichte 24, 1934, S. 312 ff., sowie A. KURFESS, Sibyllinische Weissagungen, a. a. O. S. 5 ff. ·* Vgl. die Schilderung der Cumaeischen Sibyllengrotte in Vergib Aeneis VI, V. 42ff.; dazu die

E r l ä u t e r u n g e n v o n A . KURFESS, a . a . O . S. 14 ff. M

Vgl. W. HOFFMANN, Wandel und Herkunft der Sibyllinisdien Bücher in Rom. Diss., Leipzig

1933. 5

• Zur Textgesdiidite vgl. den ausführlichen Kommentar von A. KURFESS, a. a. O. S. 288 ff. · · Oracula Sibyllina I I I , V . 788 ff. Zum griechischen Text vgl. den Paralleldrudc bei A . KURFESS, a. a. O. S. 108.

Vergib Verkündigung

des goldenen Zeitalters in der 4. Ekloge

75

paradiesischen Gottesreich im Endzeitalter seiner wechselvollen Geschichte führen sollte. Und in der T a t finden wir bei dem Propheten Isaias bis in einzelne Bildzüge hinein wiederum die Vorlage der Sibylle, wenn es bei ihm heißt: „Parvulus enim natus est nobis, et filius datus est nobis: et factus est principatus super humerum ejus: et vocabitur nomen ejus: Admirabilis, consiliarius, Deus, fortis, pater futuri saeculi, princeps pacis . . ."· 7 . „Habitabit lupus cum agno, et pardus cum haedo accubabit: vitulus et leo, et ovis simul morabuntur, et puer parvulus minabit eos. Vitulus et ursus pascentur: simul requiescent catuli eorum, et leo quasi bos comedet paleas. Et delectabitur infans ab ubere super foramine aspidis, et in caverna reguli, qui ablactatus fuerit, manum suam mittet. Non nocebunt, et non occident in universo monte sancto meo . . ," m . In diesen älteren, jüdisdi-orientalischen Vorstellungen vom kommenden Messiasreidi ist daher wohl auch die esdiatologische Wendung begründet, die der antike Mythos vom goldenen Zeitalter bei Vergil erfährt. Denn im Orient, wahrscheinlich in Babylon", dem Land der frühen Sternkunde, dem Ursitz aller Vorstellungen von der Eingespanntheit des Menschenlebens in einen großen kosmischen Weltzusammenhang, in dem zugleich die Gottähnlidikeit des Herrsdiertums und seine Welterlösungsaufgabe zu den ältesten religiösen Grundvorstellungen gehört zu haben scheint100, ist auch die Lehre von der Entwicklung alles irdischen Geschehens im Sinne eines notwendig von einem gegebenen Anfang zu einem vorbestimmten Ende verlaufenden Geschichtsprozesses allererst entstanden und hat sidi von dort aus zunächst über die Welt des vorderen Orients verbreitet. „Aus dem Glauben an die Allwirksamkeit der Sterne, aus der Betrachtung des nach ewigen Gesetzen sidi vollziehenden W a n dellaufs der Planeten ergab sich mit einer gewissen inneren Logik, indem der irdische Mikrokosmos als Abbild des Makrokosmos gedeutet wurde, die Vorstellung von einem absoluten Anfang und audi vom absoluten Ende aller menschlichen Geschichte, zwischen welchen Polen ein dauerndes, in vorbestimmtem Rhythmus sich vollziehendes Werden eingespannt ist" 101 . Diesen gesetzhaften Rhythmus glaubte man in der Abfolge bestimmter Weltalter oder

07 98

Isaias 9, 6 (Biblia Sacra Vulgatae Editionis). Isaias 11, 6-9.

· · V g l . E . NORDEN, a . a . O .

S. 5 3 £F. ; H .

GRESSMANN, D e r U r s p r u n g

der

israelitisdi-jiidisdien

Eschatologie. Forschungen zur Religion u. Literatur d. Alten u. Neuen Testaments, Heft 6. Göttingen 1905, S. 193 ff.; H. GUNKEL, Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung über Genesis 1 und Apocalypse Joh. 12. 2. Aufl., Göttingen 1921; A. DOREN, Wunschräume und Wunschzeiten, a. a. O. S. 168ff.; F. KAMPERS, Vom Werdegange der abendländischen Kaisermystik. Leipzig-Berlin 1924, S. 86 ff. 100 KAMPERS, a. a. O. S. 86 ff. In Ägypten ist, wenn wir EDUARD NORDEN folgen, die prophetische Verkündigung eines Erlöserkönigs in den Anfangszeiten des mittleren Reiches laut geworden (a. a. 0 . S. 54 ff.); aus Ägypten stammt auch die Idee der göttlich-wunderbaren Geburt eines segenbringenden Kindes Horns (a. a. O. S. 73 ff.), die dann in das ägyptische Krönungszeremoniell bei der Einsetzung der Pharaonen übergegangen ist (KAMPERS, a. a. O. S. 70 ff.). 101 A. DÖREN, Wunschräume und Wunschzeiten, a. a. O. S. 169. Der Ursprung der Weltalterlehre muß demnach bei den Babyloniern gesucht werden, obwohl ihnen die Vorstellung von einem Ende aller Dinge nodi fremd war. Sie dachten sich das große „ W e l t e n j a h r " als immer wiederkehrend, so daß das letzte Zeitalter zugleich das erste eines neuen Weltenzyklus darstellt. Diese astrale, sich stets wiederholende Zeitenfolge ist erst später eschatologisch j ä h abgebrochen worden (KAMPERS, a. a. O. S. 91), vielleicht schon in der Weltzeitalter-Vorstellung der Eranier, die mit der Erlösung der Menschheit abschließt (vgl. R. REITZENSTEIN, Das iranische Erlösungsmysterium, a. a. O. S. 116 ff.), obwohl auch hier die Auffassung eines neu beginnenden Weltenablaufs immer wieder auftaucht (H. JUNKER, Über iranische Quellen der hellenistischen Aion-Vorstellung, a. a. 0 . S. 146: „Soweit ich sehe, wird der Gedanke der Wiederkehr des Gleichen in der mittelpersisdien Literatur nirgends ausdrücklich ausgesprochen, darf aber wohl überall vorausgesetzt werden, da j a schon die Bezeichnung der Bewegung im Weltall, vardiSn, .Umdrehung, Umwälzung', darauf hindeutet . . ."). So müssen wir annehmen, daß erst im jüdisch-israelitischen Glauben, der ebenso wie die persische Eschatologie auf babylonische Grundvorstellungen zurückführt, das „Postulat einer übersehbaren Geschichte mit Weltanfang und Weltende" aufgetaucht ist (A. DOREN, a. a. O. S. 168, Anm. 16).

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Die römische

Antike

Ä o n e n zu erkennen, die schließlich in einem letzten, prophetisch verkündeten Ä o n ihr Ende finden, der zwar, als erneuerte paradiesische Urzeit, den Beginn eines neuen Weltenzyklus bedeuten, der aber auch e w i g dauern und damit den esdiatologischen Absdiluß aller G e schichte darstellen kann 1 0 2 . Diese den klassischen Griechen fremde Geschichtsidee 103 wird weltgeschichtlich wirksam vor allem in d e n prophetischen Zeiten des Judentums. H i e r entfaltet sich aus dem Glauben an den einen, die Geschichte lenkenden und vorherbestimmenden Gott Israels und aus dem G l a u b e n an die heilsgeschichtliche Berufung des jüdischen Volkes jenes Geschichtsbild, dem alles zeitliche Geschehen v o n der frühesten Vergangenheit bis in die verheißene Zukunft hinein im Sinne eines n o t w e n d i g e n Prozesses einmalig und unwiederholbar abläuft und dem alle geschichtlichen Ereignisse damit nur als Stationen auf diesem W e g e zum messianisdien Endreich erscheinen 104 . Im Unterschied zu den Griechen aber konnte ein solches eschatologisdies Geschiditsbewußtsein den klassischen Römer w a h l v e r w a n d t berühren; denn es fand seine eigentümliche Entsprechung in der römischen Geschichtsbetrachtung, die, w i e bereits berührt, die Zentralstellung Roms innerhalb der Weltgeschichte und seinen wachsenden Weltherrschaftsanspruch mehr und mehr als das geheime Telos aller geschichtlichen Ereignisse seit der frühesten Vergangenheit anzusehen geneigt war und v o n daher d e n Ablauf

108 Zum .ewigen Äon" vgl. das ursprünglich griechische, in altslawischer Übersetzung erhaltene 2. Henodi-Buch, Cap. LXV, 5-10: „Wenn aber enden wird alle Kreatur, die der Herr gemacht, und jeder Mensdi gehen wird zum großen Gericht des Herrn, alsdann werden die Zeiten vernichtet werden, und Jahre werden fortan nicht sein und Monate und Tage und Stunden werden fortan nicht gezählt werden, sondern es beginnt der Eine Aeon. Und alle Gerechten . . . werden gesammelt werden im Aeon der Gerechten, und sie werden ewig sein; und fortan wird unter ihnen nicht sein Arbeit, noch Schmerz, noch Leid, noch Harren, noch Not, noch Gewalttat, noch Nacht, noch Finsternis, sondern ein großes beständiges Licht wird unter ihnen sein, und der große Aeon eine unzerstörbare Mauer, und das große Paradies wird ihnen Obdach und ewige Wohnung sein . . . " (G. N. BONWETSCH, Die Bücher der Geheimnisse Henochs. Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur, Bd. 44, H. 2. Leipzig 1922, S. 102/03). 103 Sie ist lediglich in ihrer zyklischen Form, als Lehre vom großen „Weltenjahr", frühzeitig aus dem Orient in orphisdi-pythagoreische Vorstellungen übergegangen und hat, vermittelt durch Piaton (Timaios 39 D), die stoische Weltenjahrlehre mit ihrer Vorstellung des Weltbrandes und des darauf wiederkehrenden goldenen Zeitalters als Beginn eines neuen Kreislaufes beeinflußt. In diesem Sinne heißt es bei dem Stoiker Nemesios: „Die Planeten kehren zu demselben Himmelszeichen zurück, wo jeder einzelne Planet im Anfang stand, als sich die Welt zum erstenmal zusammensetzte; in bestimmten Zeitumläufen bringen die Planeten Verbrennung und Vernichtung der Dinge zustande; danach tritt die Welt wieder von Grund auf an dieselbe Stelle, und während sich die Sterne wiederum ähnlich drehen, wird jedes einzelne Ding, das in der früheren Zeit entstanden ist, ohne Veränderung wiederhergestellt. . ." (Zit. nach: B. L. VAN DER WAERDEN, Das große J a h r und die ewige Wiederkehr, in: Hermes 80, 1952, S. 131; vgl. ferner P. HENSEL, Die Lehre vom großen Weltjahr. Kleine Schriften, Greiz 1920, S. 122 ff.). Das ist der stoische „ordo saeclorum", den Vergil Ecl. 4, 5 in eigentümlichem Widerspruch zu der von der Sibylle verkündeten „ultima aetas" aufnimmt - aber die Erneuerung des Weltalter-Zyklus wird hier nicht mehr mit einer vorhergehenden Weltkatastrophe in Verbindung gebracht: ein Zeichen, daß es dem römischen Dichter nur auf das damit verstärkte Endzeitbewußtsein ankommt. IM Vgl. unsere Arbeit, S. 18 u. 189 ff. Besonders deutlich wird der Endzeitcharakter des damit anbrechenden Gottesreiches in der jüdischen Apokalyptik, wo, wie etwa im 2. Buch des Propheten Daniel, die Weltzeitalter-Lehre in die Vorstellung von vier einander ablösenden Weltreichen übersetzt wird, die ebenfalls nach den Metallen als golden, silbern, ehern und eisern-tönern bezeichnet werden, denen dann aber als fünftes das irdische Gottesreich Israels folgen wird, das alle früheren Königreiche zermalmen und zerstören, selbst aber „nimmermehr zerstört" werden wird (Dan. 2, 35 ff.). Hier zuerst ist die Grundidee einer durch transzendente Gewalt bestimmten und vorwärtsgetriebenen Abfolge mehrerer, in sich geschlossener Zeitperioden, die durch eine Reihe von Weltmonarchien bezeichnet werden, mit dem esdiatologischen Abschluß eines unzerstörbaren, messianischen Endreiches in voller Konsequenz durchgeführt worden und vom Beginn eines neuen, sich wiederholenden Kreislaufes nicht mehr die Rede. Vgl. M. NOTH, Das Geschichtsverständnis der alttestamentlichen Apokalyptik. Arbeitsgemeinschaft f. Forschung d. Landes Nordrhein-Westfalen, Geisteswissenschaften, H. 21. Köln u. Opladen 1954, S. 7 ff.

Vergils

Verkündigung

des goldenen

Zeitalters

in der 4. Ekloge

77

der Gesdiidite in einem nidit mehr zyklischen, sondern linearen Sinne auf das kommende W e l t i m p e r i u m der Römer beziehen konnte. Ob Vergil v o n d e n jüdisdi-prophetischen Quellen Kenntnis gehabt hat, wird m a n nach den Forschungen Eduard N o r d e n s u. a. 105 zumindest stark in Z w e i f e l ziehen müssen; d a ß er aber mittelbar, in der durch die Sibyllenorakel überlieferten Form, v o n diesen heilsgeschichtlichen Erwartungen des Judentums beeinflußt wurde, kann kaum bestritten werden 1 0 6 . N u r so läßt sidi das bei d e n klassischen Autoren nidit belegte Bild des idyllischen Tierfriedens zwischen L ö w e n und Rindern, nur so audi das offensichtlich der orientalischen Vorstellungswelt entstammende Motiv der aussterbenden Giftschlange und des überall wachsenden assyrischen Balsamkrautes erklären 1 0 7 . N u r so wird schließlich das schlummernde oder spielende Kind inmitten der gefahrlos-friedlichen N a t u r zu einem überlieferten T o p o s des g o l d e n e n Zeitalters, der in den jüdisch-hellenistischen Sibyllenweissagungen als dichterische Paraphrase des Isaías immer wieder aufgetaucht sein wird 1 0 8 . W e n n w i r das dritte Buch der ,Oracula Sibyllina' näher betrachten, so erkennen w i r außerdem, d a ß hier die A b f o l g e der großen Weltzeitalter unter deutlichem A n k l a n g an Hesiod, aber auch an orientalische Weltalter-Vorstellungen, in den Mittelpunkt der eschatologisdien Verkündigung tritt 10 '. D a s älteste Stück dieses Buches beginnt mit der Urzeit, dem seligen Menschengeschlecht der Chaldäer, den gerechtesten und glücklichsten aller M e n schen 110 , um über die A b f o l g e v o n neun W e l t a l t e r n h i n w e g ein zehntes Weltalter, die ultima aetas Vergils, heraufgeführt durch einen gottentsandten König und Weltherrscher, zu verkünden:

105 NORDEN, a. a. O. S. 52; dieser Meinung schließt sich auch A. KURFESS an (Vergil und die Sibyllinen, in: Z f R G G 3, 1951, S. 253 ff.). 10« Vgl. A. KURFESS, Horaz und Vergil und die jüdische Sibylle, in: Pastor bonus, Trier 1934, S. 414ff.; Vergil und die Sibyllinen, a. a. O. S. 253/54; F. DORNSEIFF, Verschmähtes zu Vergil, Horaz und Properz. SB d. Sädis. Ak. d. Wiss. z. Leipzig, Phil.-Hist. Kl. Bd. 97, H. 6, Berlin 1951. 107 W i r kennen zwar zahlreiche Nadiahmungen dieser Verse in der römischen Dichtung nadi Vergil, aber Vorbilder oder Parallelen lassen sidi nur aus der jüdischen und jüdisdi-hellenistisdien Literatur nachweisen; weder bei Hesiod und Aratos, noch bei Theokrit findet sich die Freundschaft zwischen „armenta" und „leones" (V. 22); das „occidet et serpens et fallax herba veneni" (V. 24) wird selbst von Ovid (Metamorphosen I, V. 89 ff.) nidit aufgenommen, ebenso fehlt der Hinweis auf das „Assyrium amomum" (V. 25; vgl. aber Isaias 55, 13: „pro saliunca ascendet abies, et pro Urtica crescet myrtus"). Bereits R. C. KUKULA (Römische Säkularpoesie, Leipzig 1911, S. 62 f.) weist darauf hin, daß Vergil die Löwen von der jüdisdi-hellenistisdien Sibylle übernommen haben müsse, deren Heimat nicht Italien, sondern das löwenreidie Ägypten gewesen sei: „Ja, die Löwen waren geradezu notwendig für den Stil des Orakels und wurden mit Absicht beibehalten, um den Leser an die Quelle der Prophezeiung zu erinnern . . . Denn auch sonst weist nodi mandierlei auf Vergils vertraute Bekanntschaft mit der jüdischen Sibylle hin . . ." (Der nun folgende Hinweis auf V. 39 „omnis feret omnia tellus" ist allerdings verfehlt, denn Vergil hat hier sicherlich nicht das Or. Sib. III, 271 im Auge gehabt, sondern den seit Hesiod traditionellen Topos von der freiwillig und im Überfluß schenkenden Erde.) „Angelpunkt aber bleibt wohl jene Idee vom kommenden Heiland und Gottmensdien, die so spezifisch jüdisch und sibyllistisdi ist, daß m. E. eine direkte Beziehung Vergils zu dem . . . durdi Iesaias beeinflußten III. Sibyllenbuche nicht geleugnet werden kann." 108 Daß Vergil die Schilderung des Naturfriedens gerade in die früheste Kindheit des kommenden Weltherrsdiers verlegt, erklärt sidi eben aus der topischen Verknüpfung, in welcher die entsprechenden Sibyllenverse sie mit dem „puer parvulus" und „infans" des Isaias bringen. 100 Vgl. R. RZACH, Sibyllinisdie Weltalter, in: Wiener Studien, B. 34, 1912, S. 114 ff. Anklänge an Hesiod finden sich vor allem in Or. Sib. I, 65 ff. (jüdisch-christlich überformt), während die Weltalter-Vorstellungen der jüdischen Ursibylle (Or. Sib. III, 97 ff.) auf babylonische Mythen zurückgehen, die allerdings nur schwach durch die späteren Bearbeitungen hindurchschimmern (vgl. A. KURFESS im Kommentar zur Stelle, a. a. O. S. 288 ff.). 110 Or. Sib. III, V. 218 ff. Die Rüdewendung auf die früheste Vergangenheit ist charakteristisch für die sibyllinisdie Dichtung überhaupt, die, im Gegensatz zu den alten Orakelsprüchen, die beabsichtigte Unheils- oder Heilsprophetie in Form einer weit ausholenden Geschichtserzählung vorträgt: „Anfang nehmend vom ersten Gesdiledit der sterblichen Menschen / Bis zum Ende der Zeiten will einzeln idi künden den Menschen / Alles, was früher gewesen, was ist und was künftighin sein wird . . . " (Or. Sib. I, Iff.).

78

Die römische Antike Dann wird Gott vom Aufgang der Sonne entsenden den König, Welcher die ganze Erde befreit vom Übel des Krieges; Töten wird er die einen, den andern erfüllen den Treueid . . , m

Nach einer ausführlichen Schilderung des esdiatologischen Heilskrieges, durch den die heidnische Welt unterworfen werden wird 112 , folgt die Ausmalung der dann anbrechenden, goldenen Endzeit und des großen Weltfriedensreiches, die alle Wunschmotive der uns aus antiken Quellen bekannten aurea-aetas-Thematik mit den verwandten oder gleidilautenden aus der jüdischen Prophetie und Apokalyptik vereinigt: W e n n nun seine Vollendung auch dieser Glückstag erhält, dann W i r d zu den Menschen kommen der Anfang herrlicher Zeiten. Denn im Übermaß spendet die Allmutter Erde den Menschen Allen köstlichste Frucht von Korn und Wein und von ö l , und Süße Quellen läßt sie entspringen von weißlicher Milch; dann Sind wieder Städte und fette Fluren voll Reichtum; kein Sdiwert gibt's Jetzt mehr auf Erden noch Kampfesgetöse; es wird fernerhin nicht Tief aufstöhnend erschüttert die Erde; es herrscht nicht Krieg mehr Dann auf Erden nodi dürrender Mißwachs, nicht Hunger mehr gibt es, Audi nicht erntevernichtender Hagel, vielmehr wird auf Erden Überall herrschen ein tiefer Frieden unter den Menschen: Und ein König wird Freund sein dem andern bis zu der Zeiten Ende, ein allgemeines Gesetz überall auf der Erde W i r d der Unsterbliche schaffen am Sternenhimmel den Menschen Für alles, was die armseligen Sterblidien haben g e l e i s t e t . . . U n d dann wird er ein Reich f ü r ewige Zeiten errichten Unter den Frommen, denn ihnen allen verhieß er zu öffnen Erde und Welt und der Seligkeit Tore, die Fülle der Freuden Und unsterblichen, ewigen Geist und frohe Gesinnung . . , l l s W i r erkennen, daß also auch die Weltherrscher-Idee, die in Vergib 4. Ekloge entscheidend hervortritt und an die redit eigentlich die Heraufführung des neuen goldenen Zeitalters geknüpft wird, bereits in diesen älteren, orientalisch-hellenistischen Vorstellungen ihre W u r zeln hat. Durch Franz Boll ist nachgewiesen worden, daß sich die sibyllinisdie Prophetie hier auf Alexander den Großen bezieht, den schon bald nach seinem Tode mit Sagen und Mythen umwobenen Weltherrscher der Antike, der nach Vorbild des orientalischen Königskultes schon bei Lebzeiten zum Gottkaiser und Sohn des Zeus erhoben worden war 114 ; aus den Berührungen zum Alexander-Roman des Pseudo-Kallisthenes kann gefolgert werden, daß die Sibylle nach damals beliebtem Muster ihre Autorität durch ein vaticinium post eventum zu begründen suchte und die Idee eines Weltherrschers und Weltheilands, die allerdings älteren, orientalischen Ursprungs ist, aus der Geschichte des großen Makedoniers allererst ab111 Or. Sib. III, V. 652-54 (zum griechischen Text vgl. A. KURFESS, a. a. O. S. 102). Das zehnte Weltalter spielt audi sonst die Rolle des erneuerten goldenen Zeitalters und messianisdien Gottesreidies, vgl. Or. Sib. IV, 47: „All dies wird einst erfüllt im zehnten Gesdilechte der Menschen . . 112 Or. Sib. III, V. 663 ff. - G. ERDMANN (Die Vorgeschichte des Lukas- und Matthäusevangeliums und Vergils vierte Ekloge, Göttingen 1932, S. 82) sieht in diesem dreiaktigen Aufbau der sibyllinischen Eschatologie eine Vorlage für Vergil, der die Schilderung des erwarteten goldenen Zeitalters durch den gottgesandten Knaben ebenfalls unterbricht, um V. 31 ff. den Kriegszug gegen Osten als notwendige Voraussetzung f ü r die Verwirklichung des Weltfriedens darzustellen. Das ist gegen P. CORSSEN einzuwenden, der in dieser „Unterbrechung" gerade einen Beweis d a f ü r erblickt, daß Vergil seine Schilderung der goldenen Zeit nicht dem Carmen Cumaeum nachgebildet habe (a. a. 0 . S. 65). 113 Or. Sib. III, V. 741 ff. (zum griediisdien Text vgl. A. KURFESS, a. a. O. S. 106/108). 114 F. BOLL, Sulla quarta écloga di Virgilio. Memoria della R. Accademia d. scienze dell' istituto di Bologna, 1923, p. 12 ff. Vgl. ferner F. KAMPERS, a. a. O. S. 69 ff., sowie vom gleichen Verfasser: Alexander der Grosse und die Idee des Weltimperiums in Prophetie und Sage. Freiburg i. B. 1901; Die Geburtsurkunde der abendländischen Kaiseridee, in: Historisches Jahrbuch der Görresgesellsdiaft, Bd. 36, München 1915, S. 233 ff.

Vergili

Verkündigung

des goldenen

Zeitalters

79

in der 4. Ekloge

leitete 1 1 5 . Andererseits wissen wir, w i e weitverbreitet und mächtig in der ganzen hellenistisdien W e l t der letzten beiden Jahrhunderte vor der Z e i t w e n d e j e n e Heilsbringer- und Soter-Erwartungen waren, die sidi an die Gestalt A l e x a n d e r s knüpften und v o n seiner W i e derkehr ein weltumspannendes Friedensreich auf Erden erhofften - eine apokalyptische Grundstimmung, d i e auch auf Rom übergriff und die römische W e l t nach der A g o n i e der Republik mit neuen H o f f n u n g e n erregte 1 1 '. D i e s e hellenistische Weltherrsdier-Idee, die in die sibyllinische Prophetie g e g a n g e n ist u n d sich s d i o n h i e r m i t d e m W e l t a l t e r - M y t h o s u n d d e r

ein-

Erwartung

eines wiederkehrenden g o l d e n e n Zeitalters als bestimmendes G r u n d m o t i v verbunden hat, w i r d v o n Vergil vor allem in den nun f o l g e n d e n Versen der vierten Ekloge aufgenommen. D e n n die nächsten Strophen verlassen das paradiesische Idyll

des

göttlichen Kindes inmitten eines v o l l k o m m e n e n N a t u r - u n d Menschenfriedens u n d knüpfen, i m eigentümlichen Widerspruch dazu, die allmähliche E n t f a l t u n g des g o l denen Zeitalters an die Altersstufen des heranwachsenden Knaben. N o d i

bleiben

S p u r e n v o m F r e v e l d e r U r z e i t zurück, n o c h s i n d K r i e g e n o t w e n d i g , u n d d e r K n a b e w i r d v o n d e n H e l d e n t a t e n d e s V a t e r s l e s e n , w ä h r e n d d i e N a t u r sich s c h o n a u f d i e große W a n d l u n g vorbereitet117: ein neuer Achill wird g e g e n T r o j a entsandt werden, ein neuer heroischer Kriegszug w i r d g e g e n den Osten g e f ü h r t w e r d e n 1 1 8 - bis schließlich, w e n n d e r K n a b e z u m M a n n e h e r a n g e r e i f t ist, d a s g o l d e n e Z e i t a l t e r m ä r c h e n h a f t e Wirklichkeit w e r d e n u n d alle überlieferten V o r s t e l l u n g e n v o n einer glücklichen U r z e i t aufs n e u e e r f ü l l e n w i r d : Hinc, ubi iam firmata virum te fecerit aetas, cedet et ipse mari vector, nec nautia pinus mutabit merces: omnis feret omnia tellus. 115 P. CORSSEN, Die vierte Ekloge Vergib, a. a. O. S. 32, sowie F. KAMPERS, Vom Werdegange der abendländischen Kaisermystik, a. a. O. S. 69. IN Vgl. W . W . TARN, Alexander Helios and the Golden Age, in: Journal of Roman Studies, Vol.22, 1932, p. 135ff. Ursprung und Wesen der hellenistischen Soter-Idee und ihr Übergreifen auf die römische Welt hat zusammenfassend F. DORNSEIFF in Pauly-Wissowas RE (2. Reihe, Bd. III, Sp. 1211 £f.) behandelt; bei ihm findet sich audi die ältere Literatur verzeichnet. Als Ergebnis der hier bestehenden ideengesdiichtlidien Zusammenhänge darf daran festgehalten werden, daß im Weltherrsdiertum Alexanders die orientalischen Hoffnungen auf einen Gottkönig und ein Weltfriedensreidi der Endzeit verwirklicht schienen, daß an seine Gestalt der Soterbegriff der hellenistischen Periode anknüpft, um von den alexandrinischen Juden andererseits in Beziehung zum Messiasglauben gesetzt zu werden: so kann es in Vergils Ekloge zu einer VersAmelzung „römischer Herrschafts- und orientalischer Messiasmotive" kommen (F. KAMPERS, Die Geburtsurkunde der abendländischen Kaiseridee, a. a. O. S. 255), die als ein »Höhepunkt patriotischer Sibyllinik" angesehen werden darf (Ε. BIKKEL, Politische Sibylleneklogen, in: Rheinisches Museum für Philologie, NF. Bd. 97, 1954, S. 219). 117 Ecl. 4, V. 28 ff.: „molli paulatim flavescet campus arista, / incultisque rubens pendebit sentibus uva, / et durae quercus sudabunt roscida mella . . . " Auch hier werden also schwächere Züge des goldenen Zeitalters aufgenommen: die goldenen Ähren werden reifen, vom wilden Dornbusch werden Trauben herabhängen, und aus knorrigen Eichen wird süßer Honig hervorquellen (vgl. Horaz, 16. Epode, V. 44 ff.; Ovid, Metamorphosen I, V. 110 ff.). 118 Ecl. 4, V. 35/36: „. . . erunt etiam altera bella, / atque iterum ad Troiam magnus mittetur Achilles . . Daß mit der heroischen Heldengestalt Achills zugleich das Bild Alexanders aufsteigt und auf Octavian bezogen wird, hat vor allem E. BICKEL, Politische Sibylleneklogen, a. a. O. S. 215 ff. nachgewiesen; auch die sibyllinische Weltherrscherprophetie sieht den Ablauf der Weltgeschichte in den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Orient und Okzident, aus denen das kommende Endfriedensreich erwachsen wird und für die der griechische Zug gegen T r o j a das Grundmodell darstellt. Wenn daher „ Vergil in seiner sibyllinischen Prophetie Octavian als den kommenden Gesamtherrscher der Römerwelt nach siegreichem Zug gegen den Osten ansprechen wollte, so war dessen Bezeichnung mit dem Namen .Achilles' diejenige Allegorie, die alles sagte, was gesagt werden

d u r f t e " (E. BICKEL, a . a . O . S. 215).

Die römische

80

Antike

n o n rastros patietur humus, n o n v i n e a f a l c e m ; robustus quoque i a m tauris iuga solvet arator; nec varios discet mentiri l a n a colores, ipse sed i n pratis aries i a m s u a v e rubenti murice, i a m croceo mutabit v e l l e r a luto; sponte sua s a n d y x pascentis vestiet agnos . . . " · B a l d ist d i e Z e i t g e k o m m e n , d a d e r K n a b e s e i n e Herrschaft a n t r e t e n u n d s e i n e s t r a h lende Lebensbahn eröffnen wird - begrüßt und bejubelt von der ganzen unendlichen Natur, die in ihm den neuen Äon, das nahende goldene Zeitalter empfängt, wie der vergöttlichte D a p h n i s v o n allen Bergen, W ä l d e r n und Fluren in jubelndem G e s a n g begrüßt worden war: Adspice convexo nutantem pondere mundum, terrasque tractusque maris c a e l u m q u e p r o f u n d u m , adspice, venturo laetentur ut o m n i a saeclo! 1 2 0 D e r D i c h t e r a b e r w ü n s c h t sich, b i s z u d i e s e r E r f ü l l u n g a l l e r H o f f n u n g e n l e b e n u n d die T a t e n des Knaben besingen zu können -

d a n n w ü r d e n selbst die

mythischen

S ä n g e r Orpheus u n d Linus, d a n n w ü r d e selbst P a n vor d e m Richterstuhl A r k a d i e n s sich b e s i e g t e r k l ä r e n m ü s s e n : O mihi tum l o n g a e spiritus et quantum P a n etiam, A r c a d i a Pan etiam Arcadia

m a n e a t pars ultima vitae, sat erit tua dicere f a c t a . . . m e c u m si i u d i c e certet, dicat se iudice v i c t u m . . , m

M i t diesen Versen, die noch e i n m a l A r k a d i e n , d e n Schauplatz der Eklogendiditung, in die E r i n n e r u n g rufen, schließt das Gedicht u n d kehrt aus der h y m n i s c h e n Feier d e r n e u e n W e l t z e i t s i n n f ä l l i g i n s i d y l l i s c h - u m g r e n z t e B i l d zurück, v o n d e m es a u s g e g a n g e n war122. D a s rätselhafte Gedicht,

ein Sammelbecken

der verschiedenartigsten

Einflüsse

u n d doch e i n durchaus e i g e n e s W e r k des römischen Dichters, d a s als solches seine ungewöhnliche Wirkungsgeschichte angetreten hat, wirft eine Reihe v o n Fragen auf,

u · Ecl. 4, V. 87 ff. Die letzten vier Verse stellen einen von Vergil selbständig ausgestalteten, märchenhaften Zug des goldenen Zeitalters dar, der keinerlei Vorbild im antiken Schrifttum hat; ein Zeichen, wie der Dichter den überlieferten Topos der freiwillig sdienkenden Natur ins Bukolische überträgt und stimmungsvoll ausmalt. 120 Ecl. 4, V. 50 ff. (Ähnlich Ecl. 5, V. 62 ff.). Es erscheint in unserem Zusammenhang bedeutsam, daß sich das gleiche Bild, nadi dem Vorgang des Isaias (55, 12: „Quia in laetitia egrediemini, et in pace deducemini: montes et colles cantabunt coram vobis laudem, et omnia ligna regionis plaudent manu . . ."), auch in der sibyllinischen Diditung findet: „Ober des Kindes Geburt frohlockte jubelnd die Erde / U n d es lachte der himmlische T h r o n und vor W o n n e das Weltall . . . " (Or. Sib. V i l i , V. 474/75). Solche und ähnliche, näher zu untersuchende Motivanklänge stützen doch wohl die Annahme, daß das Carmen Cumaeum, auf das Vergil sich ausdrücklich beruft, dem Gedankenkreise der jüdisch-hellenistischen Sibyllen nicht allzu fern gestanden hat, und widerlegen die Auffassung KARL BÜCHNERS: „. . . nicht belegt ist die Vorstellung vom schwankenden Weltall, das sich über die kommende goldene Zeit freut" (a. a. O. Sp. 187). 121 Ecl. 4, V. 53/54 und 58/59. - Vielleicht darf man in dem Wunsche Vergils, bis zur Erfüllung leben zu dürfen, eine Anspielung auf Hesiod erblidten, dessen pessimistischer Wunsch, bereits vor Anbrach des eisernen Weltalters gestorben oder erst nach seinem Untergang geboren zu sein, hier aufgenommen und positiv gewendet wird. 122 Ecl. 4, V. 60ff.: „incipe, parve puer, risu cognoscere matrem: / matri longa decern tulerunt fastidia menses . . ." Zur Interpretation dieses Bildes vgl. K. BÜCHNER, a. a. O. Sp. 182 f.

Vergib Verkündigung des goldenen Zeitalters in der 4. Ekloge

81

die wir abschließend behandeln müssen. Daß in ihm zum ersten Mal in der abendländischen Dichtung die antike Vorstellung vom goldenen Zeitalter in die Zukunft transponiert worden ist, mithin von einer esdiatologisdien Wendung innerhalb der Ideengeschichte gesprochen werden kann, wurde bereits berührt. Das damit in Erscheinung tretende, neue Gesdiiditsbewußtsein des Römertums kann nicht besser gekennzeichnet werden als durch eine Gegenüberstellung der 4. Ekloge zu jener wahlverwandten 16. Epode des Horaz, in welcher der Vergil befreundete Dichter fast gleichzeitig128 die römische Jugend auffordert, dem verdorbenen, kriegszerrissenen Rom den Rücken zu kehren und zu den seligen Inseln auszufahren, auf denen Juppiter den frommen Menschen das Glück der goldenen Urzeit bewahrte. Und in der Tat kehren hier alle Züge wieder, die bei Vergil die Vorstellung der idealen Weltzukunft bestimmen; es ist das selige Land, . . . ubi cererem tellus inarata quotannis Et inputata floret usque vinea, Germinat et numquam fallentis termes olivae, Suamque pulla ficus ornât arborem, Mella cava manent ex ilice, montibus altis Levis crepante lympha desilit pede. Illic iniussae veniunt ad mulctra capeiIae Refertque tenta grex amicus ubera Nec vespertinus circumgemit ursus ovile, Nec intumescit alta viperis humus . . . m

Aber gerade die auffällige Übereinstimmung, die zwischen dieser Schilderung der glückseligen Inseln und dem von Vergil verkündeten, kommenden goldenen Zeitalter besteht125, offenbart den tieferen Unterschied zwischen beiden Dichtern. Wenn bei Horaz als letzte Zuflucht aus der geschichtlichen Gegenwart ein ferner Wunschraum auftaucht, den er als Vates, als Seher und Künder wie Vergil, dem römischen Volke entgegenhält, um es zur Umkehr oder Abkehr von der fluchbeladenen Wirklichkeit Roms zu bewegen, so liegt darin eine pessimistische Absage an die Geschichte überhaupt; es handelt sich um einen Ort der E n t r ü c k u n g , ähnlich dem Arkadien Vergils, der als solcher der elysisdien Vorstellungssphäre angehört: abseits von der Geschichte, in plötzlich aufsteigender, traumhafter Vollendung die gleichen idealen 125 Die Frage der Priorität ist in der Forschung heftig umstritten; ich schließe midi hier (gegen A. KURFESS, Vergil und Horaz, in: Philologus 91, 1936, S . 412 £f. und B . S N E I L , Die 16. Epode von Horaz und Vergils 4. Ekloge, in: Hermes 73, 1938, S. 237 ff.) der Auffassung an, die zuletzt K. B Ü C H NER ausführlich begründet hat (a. a. 0 . Sp. 184/85): das Gedicht des Horaz ist nodi in den Wirren des Bürgerkrieges von 41-40 v. Chr. entstanden und geht der 4. Ekloge, die in gewisser Weise als eine Antwort auf den Pessimismus des jungen Horaz aufgefaßt werden kann, zeitlich voraus. Zu dieser Argumentation vgl. P. CORSSEN, a . a . O . S . 67 f.; E. BICHEL, a . a . O . S . 222 f.; am ausführlichsten

W . WIMMEL, i n : H e r m e s 81, 1953, S. 317 ff. 111

16. Epode, V. 43-52. Vgl. Horaz V. 43 (tellus inarata) und Vergil V. 18/19 (nullo cultu tellus): die freiwillig schenkende Erde; Horaz V. 44 (inputata floret usque vinea) und Vergil V. 29 (incultisque rubens pendebit sentibus uva): die überall reifenden Weintrauben; Horaz V. 47 (mella cava manent ex ilice) und Vergil V. 30 (durae quercus sudabunt roscia mella): der den Eidien entquellende Honig; Horaz V. 49 (illic iniussae veniunt ad mulctra capellae refertque tenta grex amicus ubera) und Vergil V. 21 (ipsae lacte domum referent distenta capellae ubera): die freiwillig heimkehrenden Herden; Horaz V. 52 (nec intumescit alta viperis humus) und Vergil V. 25 (occidet et serpens): das Fehlen der Giftschlangen u. a. m. 125

6

Mahl, Die Idee des goldenen Zeitalters

Die römisAe Antike

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Zustände spiegelnd, wie sie die Idee des goldenen Zeitalters nun in ein allmählich sich entfaltendes, geschichtliches Entwicklungsbild faßt. Die sagenhaften glückseligen Inseln sind dem römischen Dichter freilich keine Wirklichkeit mehr, so wenig wie Vergil das selbsterschaffene Wunschland Arkadien, und der Ruf zur Auswanderung ist nicht real gemeint, sondern als „eine in räumlichen Anschauungen ausgedrückte Abkehr von dem schuldbeladenen . . . Wesen und Treiben ringsum" 12 '. Es ist die Sehnsucht nach den reineren Bezirken des Lebens, nach einem schuldlos-glücklichen Menschengeschlecht, wie sie bei den Elegikern Roms in der Klage um das verlorene goldene Zeitalter immer wieder aufklingt, die Horaz hier aus der zeitlichen in die räumliche Ferne überträgt und in dem kühnen Symbol seiner elysisdien Inseln dichterisch veranschaulicht. Auch er tritt als prophetischer Führer vor die versammelten Römer, rüttelt sie auf und zeigt ihnen den Weg zu ihrem Heile; auch er deutet die Schicksalsstunde wie Vergil - aber indem er den nahenden Untergang Roms verkündet und dazu aufruft, sich loszureißen aus dem geahnten Verderben, zu flüchten in einen zeitlos-entrückten Bezirk, der dem geschichtlichen Verhängnis entgegengesetzt werden, in dessen räumlich gespiegelter Ferne allein nodi das Traumbild des goldenen Zeitalters angesiedelt werden kann. Vergil aber antwortet dem Jüngeren, indem er sich der Geschichte zuwendet, sie gläubig bejaht und in ihr die große Wende vorbereitet sieht, die ihn, seinen ahnungsvollen Wunsch erfüllend, zum Propheten und Sänger des kommenden augusteischen Welt- und Friedensreiches werden läßt. Das ist das erste, was wir festhalten müssen: durch Vergil ist die Idee des goldenen Zeitalters der römischen Geschichte zurückgewonnen und mit ihr unlöslich verknüpft worden. Das zweite aber verbindet Vergil mit Horaz. Denn wenn audi der Glaube an die Rettergestalt Octavians zur Verkündigung eines kommenden goldenen Zeitalters führt, das nicht mehr einem dichterischen Raum der Entrückung angehört, sondern in der G e s c h i c h t e sich entfalten und ihre sagenhafte Urzeit, die „Saturnia regna", erneuern soll, so bedeutet doch dieser Glaube nicht, daß die damit auftauchende Weltherrscher-Idee, die unsere ideengesdiichtlidie Betrachtung um ein entscheidendes, seit Vergil immer wiederkehrendes Motiv der aurea-aetas-Vorstellungen erweitert 127 , als bloße Übernahme jener Mythentradition zu verstehen wäre, die sich an die älteren, orientalischen Heilserwartungen eines göttlichen Kindes anschließt und von Vergil als Glied einer langen Oberlieferungskette aufgenommen worden ist. Denn es darf nicht übersehen werden - und das gilt zugleidi als Einschränkung gegenüber Eduard Nordens umfassenden religionsgeschichtlichen Untersuchungen, die uns erstmals den weitverzweigten, bis in die altägyptischen Isis-Kulte zurückreichenden Wurzelgrund dieser Mythenüberlieferung aufgezeigt haben - daß es bei Vergil nidit eigentlich dieses geheimnisvolle Kind ist, mit dem man den Begriff eines Weltheilands und Erlöserkönigs verbinden könnte. Daß sidi 1M

F. KLINGNER, Gedanken über Horaz. Römisdie Geisteswelt, a. a. 0 . S. 337. W i r werden diesem Motiv vor allem bei der Weitkaiser-Idee des Mittelalters wieder gegnen, wo es freilich in einen engeren Zusammenhang mit dem zweiten Überlieferungstrrr, aos christlichen Chiliasmus tritt und als weitverbreitete Prophetie vom kommenden „Weltmonr.ivVn" die von Novalis und der deutschen Romantik aufgenommene staufische Kaisersage beeinflußt. vgl. unsere Arbeit, S. 213 £f. 127

Vergili Verkündigung

des goldenen Zeitalters in der 4. Ekloge

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die Heilsbringer-Idee bereits in den Eklogen angekündigt hatte und daß ihre Übertragung von der mythischen Hirtengestalt des Daphnis auf Octavian in der 4. Ekloge nodi deutlicher als bisher hervortritt, ist schon berührt worden. Das Rätselraten um den Knaben aber, das seit der antiken Vergil-Exegese nicht abgerissen ist und bis heute die Forschung unaufhörlich beschäftigt hat, erübrigt sich, wenn man bemerkt, daß die Aufgabe des Weltretters und Welteroberers eigentlich dem unbekannten Vater zufällt, während das Kind, mit dessen Wachstum sich die allmähliche Entfaltung des goldenen Zeitalters verbindet, lediglich in die Rechte des Vaters eintreten und den befriedeten orbis terrarum regieren wird, wenn die erwartete Heilszeit bereits geschichtliche Wirklichkeit geworden ist. Mit Recht hat man daher die Frage aufgeworfen, ob Vergil hier wirklich den orientalisch-jüdischen Gedanken von der Geburt eines messianischen Heilskönigs aufgenommen oder ob er ihn nicht vielmehr als ein Symbol unter anderen verwendet hat, um das unmittelbar bevorstehende, mit gläubiger Erwartung verkündete neue saeculum zu veranschaulichen 128 : denn mit dem verheißenen Kinde wird die neue Weltzeit geboren, mit seinen Altersstufen verbindet sich ihre stufenweise gedachte Verwirklichung, mit seiner männlichen Reife gelangt sie zum Höhepunkt und zur Vollendung. Mag sein, daß Vergil, indem er die Form des „carmen genethliakon", des Glückwunschgedichtes zur Feier der Geburt oder des Geburtstages einer dem Dichter nahestehenden Persönlichkeit, aufgriff, von einem erwarteten Sohn des Konsuls Pollio sprach und zugleich, geschützt durch diese vieldeutige Anrede, Anspielungen auf Octavian hinzufügte 129 - die Ekloge als Ganzes darf so wenig als panegyrische Klientenpoesie verstanden werden, wie die in ihr vereinigten mythischen Vorstellungen wörtlich genommen werden können: daß Vergil von ihnen Kenntnis gehabt und sie daher in seine große Zukunftsvision aufgenommen hat, kann nicht bezweifelt werden, daß er aber in dem göttlichen Kinde weniger den heilsbewirkenden Messias der jüdischhellenistischen Sibyllenorakel als vielmehr ein S i n n b i l d der erwarteten goldenen Zeit erblickte, ist ebenso deutlich, und an diese g l a u b t e er mit der ganzen Inbrunst seines Römerherzens, das sich dem aufsteigenden Stern Octavians zugewendet hatte. „Der Knabe ist das goldene Zeitalter, es bleibt keine andere Möglichkeit", heißt es bei Karl Büchner, dem neuesten, die ältere Forschung zusammenfassenden Interpreten Vergils. „Es ist eine Transponierung idealer Gehalte ins Konkrete, ist ein Symbol. Als solches ist es nicht kühner als die beata arva im Weltmeer als Rest der goldenen Zeit . . . Dem horazisdien Symbol der goldenen Zeit antwortet das vergilisdie. Seine 188 Dieser Auffassung schließen sidi heute, entgegen den historisdien Hypothesen der vergangenen Forsdiung, die meisten Vergil-Kommentatoren an; audb wenn sie darin keinen Anschluß an die hellenistische Aion-Mystik erblicken, die E. NORDEN zur Erklärung herangezogen hatte (der Knabe stelle die religiöse Inkarnation des heraufziehenden neuen Aions dar, heißt es a. a. O. S. 45 ff.), sondern von einem vergilisdien Sinnbild der aurea aetas sprechen (vgl. neben K. BÜCHNER, a. a. O. Sp. 189 ff. auch A. GRAF SCHENK v. STAUFFENBERG, Dichtung und Staat in der antiken Welt, Mündben o. J., S . 13 ff.). 12 · Nach dieser formalen Gattungsbestimmung behandelt F. MARX ( a . a . O . S. 105ff.) die vierte Ekloge und sucht im einzelnen nachzuweisen, daß der Aufbau des Gedichtes den Vorschriften der antiken Rhetorik für ein solches carmen genethliakon vollkommen entspreche; auch Theokrits X V I I . Idylle (ein Preislied auf die Geburt des Ptolemaios) und Catulls Elegie 64, V. 326 ff. (eine Weissagung der Parzen auf die Geburt des Achilles und sein künftiges Heroenleben) können als formale Vorlagen auf Vergil eingewirkt haben, ohne daß damit ein wesentliches Deutungsprinzip gewonnen wäre.

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Die römische Antike

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Hauptidee ist das allmähliche Heraufwachsen dieser Hoffnung, das sidi organisch und generationenhaft vollzieht . . . Daß Vergil dabei an Octavian denkt, wird niemand bezweifeln, der Vergil kennt . . ."13e« C. F. Zemitz, Versuch in Moralischen und Sdiäfer-Gedichten . . ., a. a. O. S. 53 („Das Regenwetter, ein Schäferstüdc"). 1β ·* Kleine Lyrische Gedichte von C. F. Weisse, a. a. Ο. I, 201-204 („Das goldne und eiserne Zeitalter"). Zum spielerischen Charakter dieser aurea-aetas-Thematik vgl. auch das nach aufgegebenen Worten verfaßte Gedicht „Das goldene Zeitalter" von J o h a n n Georg Jacobi, das mit einer scherzhaften Huldigungspointe an die Fürstin von Anhalt-Bernburg schließt (J. G. Jacobi's Gedichte. Neueste Auflage, W i e n 1818, 1. Theil, S. 64 f.). 187 Batteux, Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz . . . Zweyte, verbesserte und vermehrte Auflage, Leipzig 1759, S. 510/11; 472; 513/14. - Es ist bezeichnend, daß Schlegel nunmehr drei Gattungen der Schäferpoesie unterscheidet, die im Sinne einer Rangordnung zu verstehen sind: Das zeitlose Arkadien schildert der Dichter ,durài Hälfe der Einbildungskraft",

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Die Arkadien-Vorstellung

In Ramlers Abhandlung ,Vom Schäfergedichte' wird zunächst der Streit zwischen den Vertretern der allegorischen, aus dem 17. Jahrhundert überkommenen und der neueren, historisch gemeinten und begründeten Schäferdichtung endgültig geschlichtet, denn diese ist „eine Nachahmung des Landlebens, mit allen Reizungen vorgestellt, die ihm möglich sind" : „Wenn diese Beschreibung richtig ist, so madit sie dem Streit auf einmal ein Ende, der sich zwischen den Anhängern der alten und der neueren Schäfergedichte erhoben hat. Es wird also nicht genug seyn, daß man eine Materie, die an sidi selbst nichts schäfermäßiges hat, bloß mit einigen Bluhmenkränzen behänge: man wird das Sdiäferleben selber zeigen müssen, aber geschmückt mit allen Annehmlichkeiten, deren es fähig ist . . ," 188 .

Durch diese idealisierende Ausschmückung wird das Schäferleben „ein Gemälde vom goldenen Weltalter", und da es als solches ein „Reich der Freyheit, des Friedens, der unschuldigsten Ergötzlichkeiten" darstellen soll, darf nicht alles, was auf dem Lande vorgeht, in die Schäferdichtung aufgenommen werden; „man muß nur das wählen, was gefällt, was einnehmend ist", so daß alle Grobheiten, alle harten Lebensumstände, vor allem aber auch alle grausamen und tragischen Begebenheiten, die in den barocken Schäferroman nodi Eingang hatten finden können, ausgeschlossen werden. „Ein Schäfer, der sich vor der Thüre seiner Schäferinn erhenkt, ist kein Arkadisches Schauspiel: weil man in dem Schäferleben solche starken Leidenschaften nidit kennen muß, die zu einer solchen Ausschweifung Anlaß geben könnten"18·. Der Charakter der Schäfer ergibt sich vielmehr aus der lieblichen Landschaft Arkadiens, in welche man sie versetzt: „Die Wiesen sind dort allzeit grün, die Schatten immer kühl, die Luft beständig rein. Eben so müssen audi die Personen und die Handlungen in einem Sdiäfergedichte eine liebliche und ladiende Gestalt annehmen . . ," 1 · 0 .

Die arkadische, d. h. gefällige und reizende Stilisierung wird also für Ramler eine grundlegende Forderung, durch welche man aus dem Landleben der Gegenwart ein Gemälde vom goldenen Zeitalter herstellen kann; alle Leidenschaften wie Furcht, Traurigkeit, Hoffnung, Freude, Liebe, Eifersucht und Mitleid müssen daher mit „Arkadischer Farbe" dargestellt werden. Die gleichförmige Typenhaftigkeit der Schäfer, die später den Hauptangriffspunkt Herders bilden sollte, findet hier ihre einleuchtende Erklärung: sie werden, ähnlich wie dies J. A. Schlegel gefordert hatte, aus der „reizenden Scene der Natur" entwickelt und sind als Gattungswesen vom Geist dieser regelmäßig wiederkehrenden Ideallandschaft geprägt 181 . Aber neben das goldne Weltalter „durch Hälfe der Mythologiedie Patriarchenzeit oder die Jahre der Erzväter aber „durch Hülfe der wahren GesAiAte", so daß diese letzte Gattung einen besonderen Vorteil bekommt (a. a. O. S. 514). « β Ramler-Batteux, a. a. Ο. I, 362. 188 Ramler-Batteux, a. a. Ο. I, 363 ff. 190 Ramler-Batteux, a. a. Ο. I, 367/68. Vgl. die fast gleidilautenden Bestimmungen J . A. Sdilegels, a. a. O. S. 489 („. . . Mit einem Worte, die wahre mensAliAe GlüAseligkeit muß, wenn sie in dem ihr zuständigen Elemente seyn soll, in Gegenden versetzt werden, wo alles umher FröhliAkeit und Ruhe athmet"). 1 , 1 Sdilegel-Batteux, a. a. O. S. 492. - Eine sehr lebendige Illustration für diese stereotype Koppelung Arkadiens mit den Idealvorstellungen vom goldenen Zeitalter, in welcher die Typisierung der Sdiäfer notwendig begründet ist, bieten etwa Gellerts .Beurtheilungen einiger Fabeln aus den Belusti-

Die Idyllendiditung und -theorie des 18. Jahrhunderts

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der ästhetischen Wertung der Schäferdichtung, ihrer „poetischen Güte", ist für Ramler die moralische nicht minder wichtig, denn er hält daran fest, daß die Schäfer „alle moralisch gut seyn" müssen und daß diese moralische Güte in der „Übereinstimmung unserer Aufführung mit der wahren, oder angenommenen Regel und Richtschnur guter Sitten" bestehe182. Seine theoretischen Forderungen sieht er denn audi durch die ersten Idyllen Geßners bereits erfüllt, deren arkadische Hirtenlandschaft, von einer ewigen Frühlingsstimmung getragen, zerstörende Leidenschaften und tragische Konflikte verbannt und „von Großmuth und von Tugend", „von der immer frohen Unschuld" und „Liebe" der Hirten belebt wird193. Ihm gesteht Ramler in der vierten Auflage seiner Schrift von 1774 zu, daß er im Geiste Theokrits, der in seinen Idyllen „die naive und liebreizende Natur geschildert", gedichtet habe, dabei aber alles vermieden habe, „was uns Neuern bey dem alten Griechen zwar nach, der Natur geschildert, aber ein wenig zu bäurisch dünkt. Im übrigen findet man hier gleiche Süßigkeit, gleiche Naivität, gleiche Unschuld in den Sitten.. ," 1M . In der Tat verstand Geßner seine Idyllen, wohl unter dem Einfluß Ramlers, als eine Nachahmung des Theokrit, der bis zu Herder hin - mit den notwendigen Einschränkungen, die sich aus der verneinenden Stellungnahme zum bäuerlichen Landleben der Gegenwart ergaben - neben Vergil gestellt und als „Vater der Schäfergedichte" betrachtet werden konnte195. In diesem Muster habe er seine Regeln gesucht, bekennt Geßner in der Vorrede zu seinen gesammelten Idyllen, denn bei ihm finde man die „Einfalt der Sitten und der Empfindungen", den „höchsten Grad der Naivitet", die „sanfte Mine der Unschuld", die seine Hirten von der gezierten Denkart und Galanterie französischer Schäfereien abhebe und ihrem Gesang jene „angenehme Nachläßigkeit" verleihe, „welche die Poesie in ihrer ersten Kindheit muß gehabt haben"199. Die wenigen Ausdrücke und Bilder, die „bey so sehr abgeänderten Sitten uns verächtlich worden sind", habe schon Vergil, der Nachahmer des Theokrit, weggelassen. Mit dieser Berufung auf die antiken Vorbilder, die Geßner, ebenso wie den von ihm 1754 übersetzten spätantiken Hirtenroman .Daphnis und Chloe' des Longus, als Zeugnisse der Ursprünglichkeit liest und versteht, wird

gungen', wenn er hier die ersten Verse eines f r ü h e n Gedichtes ,Der Schäfer und die Sirene' kritisiert: „Ein S d i ä f e r aus der göldnen Zeit, / Ein Thyrsis im A r k a d e r l a n d e , / T r i e b öfters n a d i des Meeres Strande, / In ruhiger Gelassenheit . . . " A n diesen Versen rügt Geliert bezeichnenderweise die W e i t schweifigkeit, denn es verstehe sich, d a ß ein S d i ä f e r in A r k a d i e n und d a m i t im goldenen Zeitalter beheimatet sei: „Giebt es außer A r k a d i e n auch Thyrsis? Oder dichten -wir unsre SAäfer, wenn wir weldie sAaffen, niAt in dieses Land hinein, oder aus ihm heraus?" Das gleiche gelte von der ruhigen Gelassenheit u n d Z u f r i e d e n h e i t : „Endlich setzt m a n voraus, d a ß ein arkadisdier Sdiäfer ein zufriedenes Geschöpf ist; m a n m u ß es d a h e r nicht w e i t l ä u f t i g erweisen, sondern n u r im Vorbeygehen erw ä h n e n . . ." (C. F. Geliert's sämmtlidie Schriften, a. a. Ο. I, 294-301). m Ramler-Batteux, a. a. Ο. I, 369. 1(3 Vgl. die Z u e i g n u n g d e r Idyllen ,An D a p h n e n ' , in welcher „die f r o h e n L i e d e r . . ., die meine Muse oft den H i r t e n abhorcht", in diesem Sinne charakterisiert w e r d e n (Geßners Sdiriften, a. a. O. II, 9/10). 1M Ramler-Batteux, a. a. Ο. I, 444. 1,5 Ramler-Batteux, a. a. Ο. I, 379. D a ß nicht erst Vergil und die spätantike Bukolik, sondern auch bereits Theokrit von einer sentimentalisdien Sehnsucht n a d i dem verlorenen goldenen Zeitalter erfüllt ist, geht z. B. aus Theokrits Idylle X I I , V. 10 ff. hervor. » · G e ß n e r s Schriften, a. a. 0 . II, 6 / 7 (,An den Leser'). 11 Mahl, Die Idee des goldenen Zeitalters

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Die

Arkadien-Vorstellung

die Idyllendichtung auf den historischen Boden einer erträumten „Vorzeit" zurückgeführt und Arkadien als eine bloß poetische Fiktion, als eine „angenehme Erdichtung" abgelehnt. Denn es ist „eine der angenehmsten Verfassungen, in die uns die Einbildungskraft und ein stilles Gemüth setzen können, wenn wir uns mittelst derselben aus unsern Sitten weg, in ein goldnes Weltalter setzen . . . " Die Idylle schildert „Gemähide von stiller Ruhe und sanftem ungestörtem Glück", „Scenen, die der Diditer aus der unverdorbenen Natur herholt" und „mit würdigen Bewohnern" bevölkert; sie „giebt uns Züge aus dem Leben glücklicher Leute, wie sie sich bey der natürlichsten Einfalt der Sitten, der Lebensart und ihrer Neigungen . . . betragen. Sie sind frey von allen den sclavisdien Verhältnissen, und von allen den Bedürfnissen, die nur die unglückliche Entfernung von der Natur nothwendig machet . . . Kurz, sie schildert uns ein goldnes Weltalter, das gewiß einmal da gewesen ist; denn davon kann uns die Geschichte der Patriarchen überzeugen; und die Einfalt der Sitten, die uns Homer schildert, scheint audi in den kriegerischen Zeiten noch ein Ueberbleibsel desselben gewesen zu seyn .. ,"197.

So sollen Geßners Idyllen, im Gegensatz zur arkadischen Schäferwelt der galanten französischen Hofpoesie, das Ideal eines vermeintlichen Naturzustandes der Menschheit spiegeln, von dem nodi die Geschichte der Patriarchen und die Sittenschilderungen Homers ein historisches Zeugnis ablegen; ihre Verlegung in ein „entferntes Weltalter" soll zugleich einen solchen Idealzustand glaubhaft erscheinen lassen, der, wie es Geßner wohl bewußt ist, dem gegenwärtigen Landleben mit seiner „sauren Arbeit" und „Armuth" keineswegs entspricht. Fast alle seiner Idyllen spielen daher audi, wie schon die wiederkehrenden Themen ,Der Tod Abels', ,Der erste Schiffer', ,Ein Gemäld aus der Sündfluth', ,Lycas, oder die Erfindung der Gärten', ,Die Erfindung des Saitenspiels und des Gesanges' verraten, in jenem Kindheitsstand der Menschen, in welchem die bukolische Theorie von jeher diese Dichtungsgattung angesiedelt hatte „in der ersten Jugend der Tage, da die wenigen Bedürfnisse der Unschuld und die Natur unter den noch unverdorbenen Menschen die jungen Künste erzeugten" 1 ' 8 -

und audi die Liebe, auf die schon Scaliger das erste Erwachen der bukolischen Muse in Urzeiten zurückgeführt hatte, steht bei Geßner im Mittelpunkt seiner arkadischen Hirtenwelt und ihrer Gesänge. Sie ist es, die das inselhafte Hirtenglück bestimmt und den „einfältigen Empfindungen eines unverdorbenen Herzens" mit den sanften, immer gemäßigten Regungen der Sehnsucht, Freude und Eifersucht Leben einhauchen kann; sie ist es, die den Geselligkeitstrieb begründet und aus der Einsamkeit zu Freundschaft, Ehe und patriarchalischen Familienverbänden führt; sie ist es, die alle Künste ins Leben ruft, den ersten Garten als Stätte seliger Liebeserinnerungen, den ersten Gesang und das harmonisch begleitende Saitenspiel, den ersten Kuß, der den schnäbelnden Tauben abgelauscht wird, die erste Seefahrt übers Meer, die den liebenden Hirten zur einsamen Insel seiner Melida führt 199 . Dabei wird deutlich, daß Geßner durchaus noch der Rokoko-Lebensstimmung verhaftet bleibt und nicht einseitig als Wegbereiter Rousseaus und seiner kulturkritischen i n

Geßners Schriften, a. a. Ο. II, 5/6. Geßners Schriften, a. a. Ο. II, 50/51 (Beginn der Idylle ,Die Erfindung des Saitenspiels und des Gesanges'). 199 Vgl. Geßners Schriften, a. a. Ο. II, 7; II, 32 ff.; II, 50 ff.; II, 25 ff.; I, 217 ff. 198

Die Idyllendiditung

und -theorie des 18. Jahrhunderts

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Tendenzen interpretiert werden darf. D e n n diese Entstehung der Künste, in weldie die Entwicklung der menschlichen Kultur und Gesellschaft symbolisdi eingeschlossen ist, wird von ihm bejaht: es läßt sich kein auffälligerer Z u g dafür anführen, als wenn die Erfindung der Schiffahrt, die in der alten Mythentradition stets als A n brudi des eisernen Zeitalters gedeutet und unter den ständig wiederkehrenden Wunschbildern vom goldenen Zeitalter negierend erwähnt worden war 200 , von Geßner eben ins goldene Zeitalter verlegt und als glückliche Erfindungsgabe eines liebenden Hirten gefeiert wird: „Wir sehen's, o wir sehen in der Zukunft deine verbesserte Kunst! Nationen decken mit Fahrzeugen den Ocean, und sdrwimmen zu fernen Nationen; Völker, ungleich an Sitten, durch ganze Meere gesondert, empfangen sidi erstaunt am friedsamen Ufer; sie holen und bringen sich fremde Schätze, und Ueberfluß und Wissenschaft und neue Künste. Auf unwirthbaren Meeren findt dann der Schiffer den ungepfadeten Weg, und sdiwimmt auf unermeßlidier Tiefe. Er trotzet kühn des tobenden Sturms, wenn Himmel und Erde wüthen, und ungeheure Wellen mit seinem Fahrzeug spielen. So kühn und erßndsam ist Prometheus Gesdüecht·, Feuer der Götter lodert in ihrem Busen, und drohende Gefahr befeuert den unaufhaltsamen Muth .. ."2M. D i e Idylle vom ersten Schiffer endet daher audi mit einem eigentümlich positiven Ausblick in die Zukunft, in welcher die Enkel am U f e r der seligen Insel eine „volkreiche Stadt" begründen, die sie „Cythera" nennen: „Hohe Thürme und Tempel warfen ihren Schimmer weit in das laconische Meer; der schönste von allen war der Liebe geheiligt . . . Glück und Ueberfluß wohnten in ihren Mauern, und die reich beladenen Schiffe des Oceans sammelten sich in ihrem sichern Hafen."102 Äußert sich hier, in der Vereinigung der beiden, überlieferungsgesdiichtlich gesehen unversöhnlichen Mythen vom goldenen Weltalter und von Prometheus, eine gewisse Unentsdiiedenheit Geßners, da er im Sinne der galanten Rokoko-Auffassung alle Kulturentwicklung an das Motiv der Liebe anknüpft und das W e s e n der Liebe sich allererst in der naturgebotenen Gemeinsamkeit und Gesellschaft zu erfüllen scheint, so tritt sein Arkadien auch sonst in eine eigentümliche Mittelstellung zwischen dem vergangenen Naturzustand der ersten Menschen und dem stilisierten, auf „angenehme Einfalt" reduzierten Kulturzustand der Rokoko-Menschen. W i e die

240 Vgl. Aratos, Phainomena V. 107 ff.; Lucretius, De Rerum Natura V, V. 1000ff.; Vergil, Ecl. 4, V. 32 und 3 8 f . ; Tibull, Elegien I, 3, V. 37 ff.; Carmina Einsidlensia 2, V. 36 u. a. m. 201 Geßners Schriften, a. a. O. I, 240. 202 Geßners Sdiriften, a. a. O. I, 248. - Der Name .Cythera' deutet auf jene ionisdie Insel, die den Kult der Aphrodite-Urania über ganz Griechenland verbreitete und als Heiligtum dieser Göttin von Sagen umwoben wurde; sie spielt in dem überlieferten Wunschbild von fernen, seligen Inseln namentlich im 17. und 18. Jahrhundert eine besondere Rolle, wie das berühmte Gemälde von Antoine W a t t e a u zeigt, das die Liebesinsel Cythera als Wunschtraum der schäferlich gestimmten Rokoko-Gesellschaft Frankreichs darstellt. Aber auch der Reisebericht des französischen Kapitäns Bougainville, den er 1772 über die damals neu entdeckte Südsee-Insel Tahiti herausgab, spricht im Hinblick auf den vermeintlich idealen Naturzustand der Eingeborenen von der „nouvelle Cythêre", die das Zeitalter Rousseaus bei den fernen Naturvölkern zu finden glaubte: übrigens ein auffälliges Zeichen dafür, wie der arkadische Schäfertraum des Rokoko durchaus Berührungspunkte mit der sentimentalen Natursehnsucht der 60er und 70er J a h r e besitzt und sich in bestimmten, utopischen Idealvorstellungen trotz der gewandelten Zeitstimmung mit ihr treffen kann. Vgl. W . VOLK, Die Entdeckung Tahitis und das Wunschbild der seligen Insel in der deutschen Literatur. Diss., Heidelberg 1934 (zu Georg Forster).

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Die Arkadien-Vorstellung

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Erfindung der Gärten bejaht wird, durch welche die Natur zu einem „Blumenhain", zur „kleinen Insel" von Dornbüschen und wilden Rosen umgrenzt wird 203 , so entspricht auch der Vorliebe Geßners für die ungekünstelte, einfache Natur, deren „harmonische Unordnung" er in „ländlichen Wiesen" und „verwilderten Hainen" sucht, weiterhin eine paradiesische Gartenlandschaft, die den Menschen „sanftes Entzücken" ablockt204, und die nächtliche Liebesgrotten-Szene aus der goldenen Vorzeit des ersten Schiffers könnte einer Parklandschaft des Rokoko entstammen: » . . . A m o r f ü h r t e sichtbar sie i n e i n e d u f t e n d e L a u b e v o n J a s m i n e n u n d Rosen; eine s a n f t e Q u e l l e rieselte a n ihrer Seite. Liebesgötter spielten durch die R a n k e n der Laube, u n d s a n f t e W i n d e flatterten mit wohlriechenden F l ü g e l n um d i e L i e b e n d e n her . . .""β.

Denn audi das anakreontische Spiel mit antiken Göttern und mythischen Fabelwesen fehlt in seinen Idyllen nicht. Die von Gottsched verbannten Nymphen und Faune bevölkern wieder die nächtlichen Haine und Grotten Arkadiens, und die helfenden, anteilnehmenden Götter, Amor, Pan, Apollo, Phoebus, sind den Hirten nahe, ebnen die Wege übers Meer, betören die spröden und unwissenden Schäferinnen, lehren den verliebten Hirten das Saitenspiel und halten ihrem sorglosen Müßiggang beim Weiden der Herden alle Unbilden fern. Aber diese Züge des antiken Arkadien und goldenen Zeitalters sind, wie es Ramler gefordert hatte, von dem „hyperbolischen Wunderbaren befreyt, womit die Poeten die Beschreibung desselben überladen", und so wird audi das Motiv des ewigen Frühlings nicht wörtlich genommen, sondern so dargestellt, daß dem alten Palemón in der Rückschau auf sein Leben zu Mute ist, als hätte er „nur einen langen Frühling gelebt" 209 . Überdies steht Geßners Arkadien mit seiner heiter-antiken Lebensfreude auf dem biblisch-frommen Boden der Patriarchaden Bodmers, so daß in ihm Gottesfurcht, Tugend, Mitleid, Dankbarkeit und Wohltätigkeit eine feste sittliche Lebensordnung bilden, die alle Hirten leitet und ihre Handlungsweise bestimmt: die Götter lieben Lycas, weil er „tugendhaft" ist207; im Anblick der Hirten soll man nach Geßners Willen gerührt empfinden, „daß Tugendhafte glücklich sind", ja, daß „unser wahres Glück . . . die Tugend" ist208; alle Hirten Geßners könnten das Gelübde Daphnes wiederholen: „Tugend und Unschuld, und die Furcht der Götter sollen das Glück meines Lebens seyn .. ."2M. Wollte Geßner also ein goldenes Zeitalter schildern, in dem das „Angenehme" eines sorgenlosen Hirtendaseins bis in die sprachliche Sphäre hinein beherrschend hervortritt 210 , so mußte dodi auch für ihn das utile dem dulce, das prodesse dem delectare 203

Geßners Sdiriften, a. a. O. II, 33. Geßners Sdiriften, a. a. O. II, 81. Mit dieser Betonung der „harmonischen Unordnung" wendet sich Geßner freilich vom französischen Gartenideal ab und wird zum Wegbereiter der naturhaften englischen Gartenkunst - die aber eben doch »Kunst" bleibt. 205 Geßners Schriften, a. a. O. I, 248. Vgl. hierzu die ausgezeichnete Stilanalyse A. ANGERS, Landschaftsstil des Rokoko, a. a. 0 . S. 152 ff. 208 Geßners Schriften, a. a. O. II, 35. 207 Geßners Schriften, a. a. O. II, 21 (.Lycas und Milon'). 208 Geßners Schriften, a. a. O. II, 99 (,Der Herbstmorgen') und II, 85 (,Der Wunsdi'). 2M Geßners Schriften, a. a. O. II, 120 (.Daphne'). 210 Schon in der Vorrede Geßners äußert sich diese Bevorzugung eines Adjektivs, das neben der ästhetischen Komponente vor allem auch die sentimentalische Gebrochenheit seiner Naturbetrachtung 804

Die ldyïlendiditung

und -theorie des 18.

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übergeordnet und das arkadisdie Liebesglück der Urzeit durch die Tugend unverdorbener Hirten und Hirtinnen gerechtfertigt werden. Erst diese „moralische Schönheit" Arkadiens schien ihm geeignet, den Verstand auf eine edle Art zu ergötzen und das mitfühlende Herz zu bessern. In dieser Form haben die Idyllen Geßners die europäische Kulturwelt ergriffen und dazu beigetragen, daß bis ins ausgehende 18. Jahrhundert hinein die Idee des goldenen Zeitalters in diese arkadische Vorstellungsform eines Hirten- und Sdiäfertums der Urzeit gebannt blieb; in Geßner feierte man nicht nur den neuen Theokrit, sondern audi den „Sänger der goldenen Zeit" schlechthin 211 . Vor allem auf Frankreich, wo mittlerweile die Frühschriften Rousseaus die regressive Geschichtsbetrachtung verstärkt und die Sehnsucht nach dem verlorenen Urzustand der Menschheit kulturphilosophisch begründet hatten, wirkte seine Idyllendichtung ein und führte zur Ablösung der höfisch-galanten Schäferpoesie. W e n n hier Léonard in seinen ,Idylles Morales' von 1766 das glückliche Leben der arkadischen Hirten schildert, so verbindet er damit von vornherein den Gedanken, daß das goldene Zeitalter nur in den „âmes vertueuses" Wirklichkeit geworden sein, in ihnen aber audi erneuert und zeitlos-gegenwärtige Erfahrung werden könne: „Que nous importe! nous réalisons le siècle d'Astrée, nous retrouvons ses biens dans la modération de nos désirs . . . Honorer les Dieux, aimer nos frères, et suivre les loix, voilà toute notre histoire!"nt Es ist, als sei der christliche Prädikant der mittelalterlichen Bukolik wieder in die arkadische Hirtenlandschaft zurückgekehrt, um hier das säkularisierte Evangelium der Tugend und Moral im Aufklärungszeitalter zu verkünden, wie es auch Geßner bei aller empfindsamen Tönung seiner Sprache letztlich am Herzen lag. Die „schöne, . . . erhebende Fiktion" aber, mit welcher die Idyllen Geßners den Idealzustand der Menschheit „aus dem Gedränge des bürgerlichen Lebens heraus in den einfachen Hirtenstand verlegt" und ihm seine Stelle „vor dem Anfang der Kultur in dem kindlichen Alter der Menschheit angewiesen" hatten 2 1 3 , fand audi über den Aufbruch eines neuen Fühlens und Denkens hinweg, das mit dem Sturm und Drang anhebt und bei den Frühromantikern mit ihrer Utopie vom goldenen

(in der Wirkung auf den Betrachter hin) kennzeichnet - wenn er von der „angenehmsten Verfassung", von der „angenehmen Einfalt der Natur", von den „angenehmsten Bildern aus der Natur" usw. spricht. 2 1 1 So Otto Heinrich Graf von Lochen in einem Distichon, das ich der Monographie von R. PISSIN (0. H. Graf von Loeben. Sein Leben und seine Werke. Berlin 1905, S. 31) entnehme; es wurde veröffentlicht in der Zeitschrift .Georgia oder der Mensch im Leben und im Staate', hg. von H.J.Kilian, Jg. 1807, Nr. 96. - Vgl. im übrigen P. VAN TIEGHEM, Les idylles de Gessner et le rêve pastoral dans le préromantisme européen, in: Revue de littérature comparée, T . IV, Paris 1924, p. 41 FF. 8 1 8 Oeuvres de Léonard, T. I, Paris 1787, p. 157 f. Vgl. H. WENDEL, Arkadien im Umkreis bukolischer Dichtung in der Antike und in der französischen Literatur, a . a . O . S. 92 ff.; H. BROGLÉ, Die französische Hirtendichtung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, dargestellt in ihrem besonderen Verhältnis zu Salomon Geßner. Diss., Leipzig 1903, S. 25 ff.; A. RAUCHFUSS, Der französische Hirtenroman am Ende des 18. Jahrhunderts in seinem Verhältnis zu Salomon Geßner. Diss., Leipzig

1912.

1 1 1 Schiller, Ober naive und sentimentalisdie Dichtung (Sämtliche Werke, Säkular-Ausgabe, Bd. X I I , S. 224 u. 222 f.).

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Die

Arkadien-Vorstellung

Zeitalter seinen Höhepunkt findet, immer wieder Anhänger und Verehrer. Sie klingt noch in den Worten eines späten Nachfahren, des Romantikers und NovalisEpigonen Otto Heinrich Graf von Loeben, nach, der unter seinem Dichternamen Isidorus Orientalis zunächst den Ofterdingen-Roman des Novalis mit seiner Apotheose des kommenden goldenen Zeitalters zu vollenden unternahm, dann aber zur arkadischen Hirtenidylle zurückkehrte, weil ihm, wie er in seinem 1811 erschienenen Schäferroman .Arkadien' schreibt, „die Schäferei unter allen irdischen Beschäftigungen als die unbescholtenste" erschien, „von der es am denkbarsten sei, daß sie unter dem Paradieseshimmel fortgeführt werden könne" 214 . Der edite Geist dieser Dichtungsart lebt auch für ihn in „Geßners Meisterwerken", denn hier sind „die Vorstellungen von einer gewesenen goldenen Zeit, ... von der uns alle Mythen reden, ... ihrer schmerzlichen Sehnsucht entkleidet, mit abgelegtem Glänze, in die heitere Gegenwart des wohlbejahrten Idylls, wie die verkleideten Götter bei Philemon und Bauzis eingekehrt."21*

5. Die Kritik an der Hirtenidylle und die Überwindung der arkadischen Vorstellungsform vom goldenen Zeitalter Erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts taucht das in ein verlorenes Arkadien gebannte Wunschbild des goldenen Zeitalters wieder aus seiner Vergangenheitsferne auf und wird als utopisches Zielbild wirksam, das aus der mythischen Urzeit in die Zukunft der Menschheitsgeschichte weist. Es entzündet sich in einem dreifachen Widerspruch, der zugleich die Arkadien-Vorstellung aus der Beschränkung des idyllischen Bildes befreit und zur zeitlos-gegenwärtigen Idee eines inneren Einklangs des Menschen mit der Natur und seiner im Sittlichen wiedergewonnenen Unschuld und Kindlichkeit erhebt. Durch eine „Verwechslung" war, wie es Jean Paul später ausspricht, die Idylle auf das Hirtenleben bezogen, durch eine zweite gar ins goldene Zeitalter versetzt worden; aber „die seelige Erde des Saturns ist kein Schafpferch", und das Schäferleben mit seiner „Ruhe und Langweile" kein wenn auch nodi so beschränktes Glück219. Die Idylle löst sich vom goldenen Zeitalter und gewinnt andere inhaltliche Bestimmungen; die Vorstellung vom goldenen Zeitalter löst sich vom Hirtenleben und wird damit frei für ein neues, geschichtliches ! 1 4 Zit. nach R. PISSIN, a. a. 0 . S. 242. Da Loeben bereits 1812 dieses „Thier von einem Buch" verurteilte und Fouqué den ausdrücklichen Auftrag erteilte, alle erreichbaren Exemplare zu verbrennen, ist der literarhistorisch so interessante Roman, der nach Jahren einer zwar epigonalen, aber rauschhaft durchlebten romantischen Phase Loebens eine Rückkehr zur Schäferdichtung des 17. Jahrhunderts bedeutet, an deren Vorbilder Cervantes, Montemayor, d'Urfé und Guarini er sich ausdrücklich anschließt, heute verschollen; das von Pissin benutzte Exemplar der Berliner Staatsbibliothek war mir nicht mehr zugänglich. 2 1 5 Lotosblätter. Fragmente von Isidorus herausgegeben, bei Carl Friedrich Kunz, 1817. Bd. I, S. 109. - Zur schäferlichen Eklogendichtung Loebens aus den Jahren 1802-1810 vgl. die Auswahl: 0 . H. Graf v. Loeben, Gedichte, hg. von R. Pissin. Deutsche Literaturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts, Berlin 1905; sowie H. KUMMER, Der Romantiker O. H. Graf v. Loeben und die Antike. Hermaea, Heft 25, Halle/S. 1929, S. 44 ff. 21 · Jean Pauls Sämtliche Werke. Hist.-krit. Ausgabe, Abt. I, Bd. 11: Vorschule der Aesthetik. Weimar 1935, S. 241/42.

Die Kritik an der

Hirtenidylle

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Sendungsbewußtsein, das von der frühromantischen Generation aufgenommen und dichterisch gestaltet wird. 1. Zunächst ist es Herder, der 1767 in seinen Fragmenten ,Ueber die neuere Deutsche Litteratur' Theokrit und Geßner miteinander vergleicht und die arkadisdiidealisierende Darstellungsweise Geßners zugunsten der neugesehenen, realistischen Darstellungsweise Theokrits ablehnt. Zum ersten Male wird hier eine klare Grenzscheidung dessen vollzogen, was bisher - unter ausdrücklicher Ausklammerung gewisser, als störend empfundener „bäurischer" Züge bei dem Griechen - in einem Atem genannt worden war. Dabei erkennt Herder sehr wohl die Eigenart Geßners und die Intention seiner Idyllen: „Er nahm sidi ein hödist verschönertes Ideal: er setzte sich aus unsern Sitten weg, in ein goldnes Zeitalter, in die unverdorbene Natur, in die beliebten Gegenden glüdclidier Hirten, von unverdorbenem Herzen und Verstände . . . Schön ist die Seele der Geßnersdien Schäfer: sanft die Aufwallungen ihres Herzens, und gülden ihr Lebensalter. Entbrannt in die veredelte Natur sdiuff er sidi ein Elysium, das insonderheit für unser Moralisches Gefühl, für unsere feine Gesellschaftsneigungen, für die uns zu Theil gewordne Bildung reizender, beßer, und audi vielleicht intereßanter ist, als Alles im alten Griechen .. ." 217 . Aber die Wertmaßstäbe haben sidi nun verschoben, und das ideale Hirtentum des goldenen Weltalters, das Geßner zu schildern unternommen hatte, wird von einem neuen, ästhetischen Ideal „würklicher Naturbilder" abgelöst: „Ein Schäfer mit höchst verschönerten Empfindungen hört auf, Schäfer zu seyn, er wandelt in der himmlischen Milchstraße, er wird ein Poetischer Gott. Sein ist nicht mehr ein Land der Erde, sondern ein Elysium der Götter: er handelt nicht, sondern beschäftigt sidi höchstens, um seine Idealgröße zu zeigen: er wird aus einem Menschen ein Engel. Seine Zeit ein einmal beliebtes Arkadien, ein Figment der goldnen Zeit. - Und profitirt der Dichter dabei? Ohnmöglidi! Uns rührt nichts, was nicht mehr Mensch ist . . . Das Ideal der Vollkommenheit ... verbanne ich(s) aus Arkadien·, es schafft Unfruchtbarkeit, Einförmigkeit, und schränkt die Erfindung ein . . . Wenn das Ideal die hödiste Schönheit bleibt·, so steht Virgil über Theokrit, Geßner über Virgil, und Fontenelle über Geßner; und idi rangire umgekehrt."2Ιβ Damit hat sich eine entscheidende Neuorientierung der Idyllendichtung als Gattungsform vollzogen, die den bisherigen theoretischen Bestimmungen entgegengesetzt ist - denn nicht mehr das moralische Ideal der Vollkommenheit und, auf den Betrachter bezogen, der Besserung, sondern das ästhetische Ideal der Illusion und, auf den Betrachter bezogen, des „höchsten Wohlgefallens" gilt Herder als der Maßstab, an dem ein Schäfergedicht beurteilt werden muß. Bisher war das „Angenehme" eindeutig dem „Belehrenden" unterstellt, das eine als ästhetisches Reizmittel für die Bewirkung des anderen angesehen worden - und erst diese moralische Tendenz hatte seit dem 17. Jahrhundert, mit nur allmählich, fast unmerklich sich versdiieben1 1 7 Sämmtlidie Werke, hg. von B . Suphan. Bd. I, Berlin 1877, S. 346 u. 348 (Textvarianten zum Erstdrude aus dem Manuskript). 8 1 8 Suphan, a. a. Ο. I, 341 u. 343 (mit drei Textvarianten aus dem Manuskript). Herder bezieht sidi in dieser Abhandlung auf die Berliner Literaturbriefe, in denen Moses Mendelssohn die Sdiäfertheorie J . A. Schlegels kritisdi besprodien und dabei „die wahre Idylle Theokrits, Virgils und Gessners" auf eine Stufe gestellt hatte (Briefe die Neueste Litteratur betreffend, Berlin 1762, Theil 5, S. 113 ff.).

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Die

Arkadien-Vorstellung

den Akzenten bis zu Geßner hin, die vorwiegend inhaltliche Bestimmung der Sdiäferdiditung als einer Absdiilderung des goldenen Weltalters uñd des arkadischen Liebesglücks künstlerisch legitimieren können! Herder dagegen „rangirt" nunmehr entschlossen um: „Das Ideal des Sdiäfergedidits ist: wenn man Empfindungen und Leidenschaften der Mensdien in kleinen Gesellschaften so sinnlich zeigt, daß wir auf den Augenblick mit ihnen Schäfer werden, und so weit verschönert zeigt, daß wir es den Augenblick werden wollen; kurz bis zur Illusion und zum höchsten Wohlgefallen erhebt sich der Zweck der Idylle, nicht aber bis zum Ausdruck der Vollkommenheit, oder zur Moralischen Besserung .. ,"21·.

Statt der inhaltlichen Bestimmung der Schäferdichtung tritt nun die formale in den Vordergrund, und diese muß notwendig das Idealbild des goldenen Zeitalters, dessen moralische Sdiönheit auf Kosten der „poetischen Idyllenschönheit" hergestellt wird, als unsinnlich und abstrakt verwerfen. Zugleich aber wird die bisher festgehaltene Ursprungstheorie der Schäferdichtung, die, wie wir gesehen haben, jene inhaltliche Bestimmung immer wieder gestützt und allererst begründet hatte, von Herder in ihrem Kern erschüttert: denn die ältesten Landgedichte haben zweifellos „die Natur porträtirt", nicht aber, wie Ramler wollte, durch den Mund der ersten Hirten „ihren eigenen glückseligen Zustand" besungen - „Porträte, und schlechte Porträte sind eher, als Ideale, als höchst verschönerte

Ideale",

heißt es nun im H i n -

blick auf die ältesten, verlorengegangenen bukolischen Gedichte. Theokrit verschönerte freilich schon die Natur, und vielleicht war dies der Grund dafür, daß er „nach unserm Kalender die Epoche des Schäfergedichts" einleitete und „auch feinen Zeitaltern" gefallen konnte. Aber eben das, was die Schäfertheorien bis zu Geßner hin als störend, als „grob und plump" an ihm beurteilt hatten - in der durchaus richtigen Erkenntnis, daß er Schäfer schildere, „wie sie etwa zu seiner Zeit waren, nicht wie sie hätten seyn sollen" - , wird nun für Herder zum Angelpunkt einer entscheidenden Revision des Kunsturteils: denn Theokrit wollte eben kein goldenes Zeitalter schildern, er wollte „sinnlich . . . reizen und . . . überreden" und gewann dadurch „Gemälde aus dem Leben" statt eines blassen, „abgezogenen Ideals": „Das ganze goldene Weltalter, in welches die Schweizer die alten Schäfer sezzen, ist also eine schöne Grille. Die Griechischen Idyllendichter wissen von einer vollkommen goldnen Zeit nur im seligen Elysium der Götter, und in der Jugend der Welt, wo die Helden lebten: da schöpften die Corybanten aus Milchströmen ihre Begeisterung; aber Theokrits Schäfer schöpfen klares Wasser: ja audi da nidit einmal waren die Helden den seligen Göttern gleich: und Theokrits Schäfer sollten es seyn? Ist Alcimadure, ist Battus, ist Polyphem, ist der arme Fischer denn in dem glücklichen, reizenden Alter, wie man das goldne mahlt? Aber was gewinnt Theokrit dabei? Er kann würkliche Sitten schildern. Da er sein Gemälde aus dem Leben porträtirte, und bis auf einen gewissen Grad erhöhete; so konnte er auch Leben in dasselbe bringen.""®

Diese neue Einsicht Herders trifft für die griechischen Idylliker zwar zu, übersieht aber in bewußter polemischer Zuspitzung, daß die Verlegung des Schäfertums ins goldene Zeitalter nur von Vergil und seiner arkadischen Hirtenwelt her verständ» · Suphan, a. a. O. I, 843 f. 110 Suphan, a. a. O. I, 344 f.; die vorhergehenden Zitate I, 339 (mit einer Textvariante aus dem Manuskript).

Die Kritik an der Hirtenidylle

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lidi wird und an diesem antiken Vorbild gemessen keineswegs nur eine „schöne Grille" dazustellen braucht - wenn man eben die ideale Urzeit-Vorstellung, die unter dem Einfluß der Berichte des Polybios und des Ovid Vergils Arkadien als Wunschraum des Dichters überformt und gleichsam historisiert hatte, als die eigentliche Intention der bukolischen Dichtungsgattung seit der Renaissance betrachtet. Aber die in dieser Kritik zum Ausdruck kommende Vorrangstellung, welche nun die griechischen Dichter gegenüber den Römern, Homer und Theokrit gegenüber Vergil gewinnen, ermöglicht es Herder, die Naturwahrheit Theokrits den „allerliebsten Schäfertändeleien" Geßners, den „klaren Wassertrank aus dem Pierischen Quell der Musen" dem verzuckerten Trank des Schweizers entgegenzustellen221: dieses neue, ästhetische Ideal der Naturwahrheit läßt die Wunschbilder vom goldenen Zeitalter als „unwahr" erscheinen und verblassen. Denn die Hirten Geßners sind nach einem „gewissen Moralischen Ideal" gebildet worden und haben dadurch die „Bestimmtheit der Charaktere" eingebüßt; ihre Unschuld folgt nicht aus ihrer Unwissenheit und Naturnähe, sondern aus jenem künstlichen Unschuldsstand, in den man sie versetzt hat: „lauter Schäferlarven, keine Gesichter: Schäfer, nicht Menschens". Die Mannigfaltigkeit des Lebens leidet bei diesem Ideal noch mehr: „hier der Liebhaber, dort die Schöne; immer aber derselbe Schäfer, nur in einer andern Situation". Damit wird die „Naivität", die noch Ramler an Geßner so gerühmt hatte, in ihrer sentimentalischen Stilisierung erkannt: sie ist eine Tochter der „Idealischen Kunst", aber nicht der „einfältigen Natur", von der Geßner doch ständig spricht; seine Schäfer sind „ergözzende Puppen", „unbestimmte Mittelarten zwischen Engeln und sinnlichen Geschöpfen". Herder aber stellt die Forderung auf, statt sich in „Idealische Träume" zu vertiefen und „Misgeburten" zur Welt zu bringen, lieber „wie der Griechische Zeuxis würklidie Naturbilder zu studiren", d. h. Leidenschaften und Handlungen, die Geßner als zerstörend oder verächtlich aus Arkadien verbannt hatte, so sinnlich zu schildern, daß uns ländliche Naturszenen und ländliche Menschen in den Sitten ihrer Zeit entgegentreten, die zwar nicht mehr dem Ideal der moralischen Vollkommenheit - das man im Hirtenleben des goldenen Zeitalters angesiedelt hatte - , wohl aber dem neuen Ideal der ästhetischen Vollkommenheit und Naturwahrheit genügen können222. Damit ist jene Ablösung der Idylle aus dem arkadischen Vorstellungsbereich eingeleitet, wie sie dann die Dichter des Sturms und Drangs, vor allem der Maler Friedrich Müller mit seinen pfälzischen Gegenwarts-Idyllen seit 1775, aufgenommen und vollendet haben. Wenn hier bei Müller, nach Idyllen auf antikem oder biblisch-patriarchalischem Hintergrund, aus denen aber bereits der neue Geist eines leidenschaftlich-bewegten Naturmenschentums spricht, der letzte Rest literarischer Konvention in den Idyllen ,Die Schafschur' oder ,Das Nußkernen' getilgt wird, in denen das bäuerliche Leben der Heimat in derb zupackendem Realismus ohne jedes antik-schäferliche Stimmungskolorit gestaltet und im Kampfe gegen höfische Vorrechte und moralische Konventionen, den Tendenzen der Geniebewegung folgend, lebendige Charaktere, Leidenschaften und soziale Konflikte geschildert werden a l

Suphan, a. a. Ο. I, 347. Suphan, a. a. Ο. I, 346; 347; 349.

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Die

Arkadien-Vorstellung

so ist Herders Forderung nach „Illusion" und „würklichen Naturbildern" freilich erfüllt, damit aber audi, gemessen an der älteren, drei Jahrhunderte gültigen Gattungstheorie, die eigentliche Intention der bukolischen Dichtung verlassen und nicht nur das arkadische Wunschbild vom goldenen Zeitalter ganz abgestreift, sondern audi die von Herder noch festgehaltene Forderung nach einer „verschönerten Natur" nahezu preisgegeben worden 223 . So ist audi die Idyllendichtung Müllers fast ohne Nachfolger geblieben; die Mundart-Idyllen von Johann Heinrich Voß, die seit 1776 entstehen, schlagen den gemäßigteren Weg einer leisen Verklärung des ländlichen Alltags und einfachen Lebens ein, teilen aber den durch Müller eröffneten Zug zum dörflichen Gegenwarts-Idyll und zeigen, daß das Schäfertum der Vergangenheit mit Herders Einspruch prinzipiell abgetan und unzeitgemäß geworden war. Die Polemik gegen die „Unnatur" empfindsamer Schäferdichtung wird überdies von der ganzen Generation der Geniezeit aufgenommen, wie als stellvertretendes Beispiel jene parodistische Schäferszene aus Friedrich Maximilian Klingers Schauspiel,Sturm und Drang' von 1776 zeigt, in welcher der junge Schwärmer La Feu sich entschließt, mit Lady Kathrin den arkadischen Liebestraum weltflüchtig zu erneuern: „La Feu. O goldne Zeit! O Herlidikeit! Ad> der ewige, der ewige Frühlingsmorgen in meinem kranken Herzen! Sehn Sie nun, meine Liebe! mein ganzes künftiges Leben, mödit idi so eben, fern von allen Mensdien, in einen poetischen, arcadisdien Traum verwandeln. Wir säßen an einer kühlen Quelle; unter den Schatten der Bäume, Hand an Hand, besängen die Wunder des Herzens und der Liebe . . . Ewiger Friede in uns, mit uns, und allen, dauernde Freude sollte um uns herrschen . . . Meine Diana! einen süßen, sanften Traum wollen wir träumen, immer so süß wie der erste Kuß der Liebe. Nur phantastisch! Blumenreich! Lady Kathrin. Sie entzücken midi! La Feu. Idi bin willens ein Sdiäfer zu werden. Das war mein Gedanke von lange her. Nur fehlte mirs an einer Schäferin, die hab ich in Ihnen gefunden, lieblidie Seele! Lady Kathrin. O Mylord! und Sdiäfdien, einen Schäferhut, Schäferstab, Sdiäferkleid weiß mit roth! Idi hab nodi solche eine Maske aus London mitgebracht. Ich sterbe für Freude bey denen süßen Gedanken. La Feu. Idi kleide mich in einen unschuldigen Schäfer. Wir kaufen uns eine Heerde. Wild sdienkt uns einen von seinen Hunden. Und so wollen wir das Leben wegphantasiren. Ewig in Friede, ewig in Liebe leben! o der Seeligkeit! . .

2. Stand der Aufbruch des Sturms und Drangs unter dem Zeichen Rousseaus, der mittlerweile in Frankreich sein Evangelium der Natur verkündet hatte, so entzündet sich der zweite Widerspruch gegen die arkadische Vorstellungsform des goldenen Zeitalters an jener Auseinandersetzung mit Rousseau, die das gesdiiditsphilosophisdie Denken des ausgehenden 18. Jahrhunderts bestimmt 225 . Die ,Romane . . . von 123 Vgl. K. MÖLLENBROCK, Die Idyllen des Malers Müller, in: Dichtung und Volkstum (NF. Euphorion) 40, 1939, S. 145 ff. 224 Friedrich Maximilian Klingers dramatisdie Jugendwerke, hg. von H. Berendt und K. Wolff. Bd. II, Leipzig 1913, S. 338/39. 225 Da wir hier ein von der Forschung gründlidier bearbeitetes Feld betreten, können wir uns auf wenige Andeutungen beschränken, die vor allem die Ablösung des Hirtentums als Idealvorstellung der uranfänglichen Menschheit näher beleuchten. Für alle weiteren Zusammenhänge vgl. vor allem R. BUCK, Rousseau und die deutsche Romantik. Neue deutsche Forschungen, Bd. 233. Berlin 1939, und das noch immer instruktive Werk von R. FESTER, Rousseau und die deutsche Geschichtsphilosophie. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Idealismus. Leipzig 1890; ferner die entsprechenden Ab-

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Hirtenidylle

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d e r a l l g e m e i n f o r t g e h e n d e n V e r b e ß e r u n g der W e l t ' 2 2 8 w a r e n durch die beiden F r ü h schriften des französischen Denkers, die 1750 u n d 1755 erschienen, gründlich zerstört w o r d e n , i n d e m hier g e g e n ü b e r der A u f k l ä r u n g ein entschiedenes V e r d i k t über alle Kulturentwicklung ausgesprochen u n d die menschliche Fähigkeit der V e r v o l l k o m m n u n g g e r a d e z u f ü r das E l e n d der G e g e n w a r t verantwortlich gemacht w o r d e n w a r . Rousseau sehnte sich nach j e n e m g o l d e n e n Z e i t a l t e r eines rohen, a b e r u n schuldigen N a t u r z u s t a n d e s zurück, aus d e m er, ähnlich wie die a n t i k e n Stoiker, die Menschheit k o m m e n w ä h n t e u n d in d e m diese verhängnisvolle Fähigkeit der P e r fektibilität n o d i schlummerte, weil eine gütige N a t u r d e m Menschen alles gewährte, was seine u n b e f r i e d i g t e n B e d ü r f n i s s e h ä t t e wecken können 2 2 7 . Dieses neue Bild der Urzeit, wie es Rousseau als I d e a l seines J a h r h u n d e r t s e n t w a r f - durch die E r k e n n t n i s v e r a n l a ß t , d a ß hohe K u l t u r u n d S i t t e n v e r d e r b n i s stets H a n d in H a n d g e g a n g e n seien 2 2 8 - , w a r freilich nicht m e h r d a s goldene Z e i t a l t e r d e r mythischen T r a d i t i o n . Es w a r , trotz aller A n k n ü p f u n g a n biblische P a r a d i e s e s - u n d antike W e l t a l t e r M y t h e n , ein p r i m i t i v e r N a t u r z u s t a n d , d e r den einsam durch die W ä l d e r s t r e i f e n d e n Urmenschen verherrlichte, so, wie er aus den H ä n d e n der N a t u r h e r v o r g e g a n g e n sein m u ß t e — „errant dans les forêts, sans industrie, sans paroles, sans domicile, sans guerre et sans liaisons, sans nul besoin de ses semblables, comme sans nul désir de leur nuire, peut-être même sans jamais en reconnoitre aucun individuellement, l'homme sauvage, sujet à peu de passions, et se suffisant à lui-même"229 u n d eben dieses I d e a l b i l d des Naturmenschen, d a s vom G e g e n b i l d des e n t a r t e t e n Kulturmenschen h e r e n t w o r f e n w o r d e n w a r u n d diese n e g a t i v e K o n t r a s t f u n k t i o n nicht v e r l e u g n e n k o n n t e u n d wollte, ergriff die europäische Geisteswelt in der zweiten H ä l f t e des 18. J a h r h u n d e r t s mit a l l e m Reiz einer leidenschaftlich v e r t r e t e n e n P a r a d o x i e . „Ces temps de barbarie étoient le siècle d'or", h a t t e Rousseau lakonisch erklärt, „non parce que les hommes étoient unis, mais parce qu'ils étoient séparés. Chacun, dit-on, s'estimoit le maître de tout; cela peut-être: mais nul ne connoissoit et ne désiroit que ce qui étoit sous la main; ses besoins, loin de le rapprocher de ses semblables, l'en éloignoient. Les hommes, si l'on veut, s'attaquoient dans le rencontre, mais ils se rencontroient rarement. Partout rêgnoit l'état de guerre, et toute la terre étoit en paix .. ,"230. schnitte bei R. SAMUEL, Die poetische Staats- und Geschichtsauffassung Friedrich von Hardenbergs, a. a. O. S. 160 ff., und J . PETERSEN, Das goldene Zeitalter bei den deutschen Romantikern, a. a. 0 . S. 135 ff. 228 Herder, Audi eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774). Sämmtliche Werke, hg. von B. Suphan, Bd. V, Berlin 1891, S. 511. 127 Discours sur l'origine de l'inégalité parmi les hommes (Oeuvres Complètes de J . J . Rousseau, a . a . O . T . I, p. 7Iff.). Zum Verhältnis Rousseaus zu Seneca, das schon Diderot zu der Behauptung veranlaßte, Rousseau habe lediglich den römischen Stoiker ausgeschrieben, vgl. K. WEIGAND (Jean Jacques Rousseau, Discours sur les Sciences et les Arts / Discours sur l'Origine de l'Inégalité parmi les Hommes. Mit Einleitung, Übersetzung und Anmerkungen. Phil. Bibliothek, Bd. 243. Hamburg 1955) S. L X V I ff. 228 Si le rétablissement des sciences et des arts a contribué à épurer les mœurs (Oeuvres Complètes, a. a. O. I, 1 ff.). 228 Oeuvres Complètes, a. a. Ο. I, 102. 230 Oeuvres Complètes, a. a. Ο. I, 385 (Essai sur l'origine des langues). Diese wohl interessanteste Schrift Rousseaus ist fast gleichzeitig mit dem zweiten Discours entstanden, aber erst 1761/62 fertiggestellt und 1782 postum veröffentlicht worden.

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Arkadien-Vorstellung

Es ist das sorglose Jäger- und Hirtenleben, das Rousseau in diesem goldenen Zeitalter der Barbarei verwirklicht sieht - „les premiers hommes furent chasseurs ou bergers, et non pas laboureurs; les premiers biens furent des troupeaux, et non pas des champs"2'1 - und das in dieser neuen Beleuchtung auf die bukolische Dichtung zurückwirken mußte. Den Ruf nach einer Rückkehr zur Natur, der sich an den Frühsdhriften Rousseaus entzündete, hatte der Franzose freilich in einer so mißverständlichen Schärfe nicht ausgesprochen - „la nature humaine ne rétrograde pas", wie ihm wohl bewußt war232 - , sondern vielmehr die gesellschafts- und kulturkritische Polemik als die eigentliche Funktion seiner hypothetischen Urgeschichte hingestellt. Trotz seines wiederholten Anspruchs, den idealen Naturzustand durch die Erfahrungen der Völkerkunde auch der wissenschaftlichen Erkenntnis annehmbar erscheinen zu lassen, ist ihm der unschuldig-glückliche, bedürfnislos durch die Wälder ziehende Urmensch weniger eine historische Wahrheit („vérité historique") als eine I d e e , um den gegenwärtigen Kulturzustand kritisch beurteilen zu können: „Car ce n'est ficiel dans la plus, qui n'a est pourtant présent..

pas une légère entreprise de démêler ce qu'il y a d'originaire et d'artinature actuelle de l'homme, et de bien connoître un état qui n'existe peut-être point existé, qui probablement n'existera jamais, et dont il nécessaire d'avoir des notions justes, pour bien juger de notre état

Andererseits mischen sich aber auch bezeichnende Widersprüche in seine Vorstellungen vom vergangenen goldenen Zeitalter. Denn schon in seinem zweiten .Discours sur l'origine de l'inégalité parmi les hommes' sieht Rousseau den Idealzustand auf einer ersten Stufe der geselligen Annäherung verwirklicht, auf welcher sich die ältesten patriarchalischen Familienverbände gebildet haben, auf welcher Gesang und Tanz als ,Kinder der Liebe und der Muße' die zufällig zusammenkommenden ,S1

Oeuvres Complètes, a. a. O. I, 385; vgl. I, 388 („le b a r b a r e est berger"). Vgl. dazu H . RÖHRS, J e a n - J a c q u e s Rousseau. Vision u n d Wirklichkeit. H e i d e l b e r g 1957, S. 26 ff. - In seinem zweiten Discours von 1755 lehnt Rousseau die Sdilußfolgerungen seiner G e g n e r ausdrücklich a b - „Quoi donc! faut-il détruire les sociétés, a n é a n t i r le tien et le mien, et retourner vivre dans les forêts avec ours? conséquence à la manière de mes adversaires, que j ' a i m e a u t a n t prévenir que de leur laisser la honte de l a tirer" - , um die Rückkehr zur f r ü h e n und ersten Unschuld f ü r Mensdien, welche die ursprüngliche E i n f a l t f ü r immer verloren haben, welche sich nidit m e h r von G r a s und Eicheln e r n ä h r e n nodi auf Gesetze verzichten können („hommes semblables à moi"!), von einem Gesinnungswandel u n d einer neuen M o r a l i t ä t („exercice des vertus") a b h ä n g i g zu machen (Oeuvres Complètes, a. a. O. I, 138). ,M

255 Oeuvres Complètes, a. a. O. I, 79 (die Entgegenstellung zur „vérité historique" I, 83). Die Kontroversen, die sidi aus d e r I n t e r p r e t a t i o n dieser u n d ähnlicher Stellen i n n e r h a l b d e r RousseauForschung erhoben haben, können h i e r nidit b e r ü h r t w e r d e n ; wenn H e r m a n n Röhrs a. a. O. S. 85 ff. den ganzen N a t u r z u s t a n d Rousseaus als „regulatives Prinzip" a u f f a ß t , das von vornherein auf eine künftige Gesellschaftsordnung u n d die in i h r zu verwirklichende „ I d e e " des Mensdien abzielt, so übersieht er dabei, d a ß Rousseau diesen N a t u r z u s t a n d auf Sdiritt und T r i t t historisch zu b e g r ü n d e n sudit u n d das M a t e r i a l d a f ü r den völkerkundlichen Berichten seiner Zeit e n t n i m m t ; auch w ä r e die W i r kungsgesdiidite Rousseaus ohne diese in ihm angelegte Unentsdiiedenheit kaum verständlich. G e r a d e die Frühromantiker, die gegen eine ideelle I n t e r p r e t a t i o n gewiß nichts einzuwenden gehabt hätten, w e r f e n Rousseau eine „rohsinnliche", „plumpe, knechtische Gesinnung" vor (Novalis II, 339) u n d erklären, d a ß sein idealer Naturmensch auf „empiristischen Vorurteilen" beruhe (Friedrich Schlegel, bei W i n d i s d i m a n n II, 451 f.), was sich zweifellos nidit n u r auf seine Geistfeindlichkeit bezieht („que l'état de réflexion est un état contre nature, et que l'homme qui médite est un a n i m a l dépravé", a. a. O. I, 87), sondern auch auf seine Konstruktion eines Urmenschen aus dem M a t e r i a l d e r empirischen Völkerkunde, die d e r von den Romantikern festgehaltenen mythisdien Urzeit „grobsinnliche" Z ü g e verleihen mußte.

Die Kritik an der

Hirtenidylle

173

Menschen vereinigen und ein glückliches Gleichgewicht zwischen dem ersten, primitiven Naturzustand und der beginnenden Kultur- und Gesellschaftsentwicklung zu herrschen scheint: „Les hommes errant jusqu'ici dans les bois, ayant pris une assiette plus fixe, se rapprochent lentement, se réunissent en diverses troupes . . . Un voisinage permanent ne peut manquer d'engendrer enfin quelque liaison entre diverses familles . . . Le diant et la danse, vrais enfants de l'amour et du loisir, devinrent l'amusement ou plutôt l'occupation des hommes et des femmes oisifs et attroupés . . . Ce période du développement des facultés humaines, tenant un juste milieu entre l'indolence de l'état primitif et la pétulante activité de notre amour-propre, dut être l'époque la plus heureuse et la plus durable ... Cet état étoit ... le meilleur à l'homme .. ,"8M.

Obwohl in dieser frühesten Kultur- und Geselligkeitsstufe der Keim des Verderbens, der erste Schritt zur Ungleichheit und Selbstsucht, bereits angelegt ist236, bezeichnet sie Rousseau als die glücklichste und dauerhafteste Epoche der Menschheit, als die wahrhafte Jugend der Welt („la véritable jeunesse du monde"), als ein goldenes Zeitalter, von dem es auf ewig zu bedauern sein werde, daß die Menschheit es um eines scheinbaren Fortschrittes willen verlassen habe - denn sie war dazu geschaffen, für immer darin zu verharren 2 3 '. Diese Unentsdiiedenheit zwischen der Verklärung des wilden Naturmenschentums und eines kulturell fortgeschrittenen Patriarchenalters, das sich unter dem sanften Himmel des Orients („un printemps perpétuel sur la terre"), begünstigt durch den fruchtbaren Boden des biblischen Chaldäa („les pays gras et fertiles"), vor aller sozialen und völkischen Differenzierung entfaltet haben soll237, mag durch die Erkenntnis veranlaßt worden sein, daß erst auf dieser späteren Stufe der glückliche Urzustand dem denkenden und fühlenden Menschen spürbar geworden sei, mithin allererst von einem goldenen Zeitalter gesprochen werden könne - während der noch nicht reflektierende, nur wahrnehmende Naturmensch weder glücklich noch unglücklich genannt werden darf. Darauf deuten die Bemerkungen hin, die Rousseau in seinem ersten Entwurf zum .Contrat social' niedergelegt hat: Friede und Unschuld, so heißt es hier, sind uns für immer entgangen, bevor wir ihre Wonnen genossen haben; denn den beschränkten Menschen der ersten Zeiten waren sie nicht fühlbar und den aufgeklärten Menschen der späteren Zeiten waren sie entglitten - so blieb das glückliche Leben des goldenen Zeitalters dem Menschengeschlecht stets ein fremder Zustand, entweder weil es ihn verkannt hat, als es ihn genießen konnte, oder weil es ihn verloren hatte, als es ihn hätte kennen und empfinden können: „La paix et l'innocence nous ont édiappé pour jamais, avant que nous en eussions goûté les délices. Insensible aux stupides hommes des premiers temps, échappée aux hommes éclairés des temps postérieurs, l'heureuse vie de l'âge d'or fut toujours un état étranger à la race humaine, ou pour l'avoir méconnu quand elle en pouvait jouir, ou pour l'avoir perdu quand elle aurait pu le connaître . . ."2®8. 854

Oeuvres Complètes, a. a. O. I, 108-110. îJ5 Vgl. Oeuvres Complètes, a. a. O. I, 109: . . . . ce fut là le premier pas vers l'inégalité, et vers le vice en même temps . . 236 Oeuvres Complètes, a. a. O. I, 110 („. . . le genre humain étoit fait pour y rester toujours . . ."). 837 Oeuvres Complètes, a. a. O. I, 388 ff. (Essai sur l'origine des langues, diap. IX). 238 Edition Weigand, a. a. O. S. 286 ff. (De la société générale du genre humain). Es handelt sidi um das 2. Kapitel in der ersten Fassung des Contrat social, das in der Endfassung fortgefallen ist,

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Die

Arkadien-Vorstellung

In jedem Fall aber ist der Mensch, angetrieben von seiner Selbstsucht und seiner ihm neue Wünsche und Bedürfnisse vorgaukelnden Einbildungskraft, aus diesem Kindheitszustand eines primitiven oder patriarchalischen Glücks in das Zeitalter sozialer Ungleichheit und sittlichen Verderbens eingetreten, das als solches nur von dem entworfenen idealen Vergangenheitsbild her mit Schrecken erkannt werden kann und den Wunsch nach einer Rückkehr zu seiner natürlichen Unschuld und Harmonie hervorrufen soll: „II y a, je le sens, un âge auquel l'homme individuel voudroit s'arrêter: tu chercheras l'âge auquel tu désirerois que ton espèce se fût arrêtée. Mécontent de ton état présent par des raisons qui annoncent à ta postérité malheureuse de plus grands mécontentemens encore, peut-être voudrois-tu pouvoir rétrograder; et ce sentiment doit faire l'éloge de tes premiers aieux, la critique de tes contemporains, et l'effroi de ceux qui auront le malheur de vivre après toi .. ,"23'. Gegen diese kulturpessimistische Tendenz, von welcher die Wirkungsgeschichte Rousseaus in Deutschland recht eigentlich bestimmt wurde 240 , richtete sich der W i derspruch der deutschen Geschichtsphilosophie. Schon Herder hatte in seiner Bückeburger Abhandlung ,Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit' von 1774 zwar ähnlich wie Rousseau das Patriarchenalter des Orients, „das Hirtenleben im schönsten Klima der Welt, wo die freiwillige Natur den einfachsten Bedürfnißen so zuvor oder zu H ü l f e kommt", gerühmt und als goldenes Zeitalter der kindlichen Menschheit verherrlicht „ewig wird, außer dem tausendjährigen Reiche und dem Hirngespinste der Dichter, ewig wird Patriarchengegend und Patriarchenzelt das goldne Zeitalter der Kindlichen Menschheit bleiben"241 - , aber er hatte zugleich das Weiterrücken der Geschichte nach Analogie der menschlichen Lebensalter als unaufhaltsam und notwendig bezeichnet, denn „das Menschliche G e f ä ß ist einmal keiner Vollkommenheit fähig: muß immer verlaßen, indem

aber besonders wichtig erscheint, weil Rousseau hier versucht, die Brücke vom zweiten Discours zum Contrat social zu schlagen (d. h. von der Urstandslehre zum idealen Staatsentwurf). 230 Oeuvres Complètes, a. a. O. I, 84 (in diesen ersten Abschnitten des zweiten Discours hat Rousseau seine eigentlidie Absicht in einem unmißverständlichen Appell an den Leser ausgesprochen). 240 Von der späteren Entwicklung Rousseaus hat man in Deutschland kaum Kenntnis genommen (vgl. R. BUCK, Rousseau und die deutsche Romantik, a. a. O. S. 35 ff.); seine Wirkungsgeschichte steht und fällt mit den pessimistischen Frühschriften. Für Rousseau aber verbindet sich in seinen späteren Werken, wie hier nur angedeutet werden soll, die Sehnsucht nach dem verlorenen goldenen Zeitalter durchaus mit dem Willen zu seiner künftigen Erneuerung; in seinem 1762 erschienenen Erziehungsroman ,Emile ou de l'éducation' bezeichnet er zwar das goldene Zeitalter als eine Chimäre, solange Herz und Geschmack verdorben seien und die Sehnsucht nach seiner Rückkehr ein eitler, die Wirklichkeit überfliegender Wunsch: aber seine Wiederkehr sei gleichwohl der wahren Liebe möglich, und nur diese, nicht die Verstandeskraft oder herkömmliche Erziehung zur Perfektibilität, könne das vergangene Glüdc zurückrufen (vgl. R. FESTER, Rousseau und die deutsche Gcschichtsphilosophie, a. a. O. S. 38). Und in dem gleichzeitig veröffentlichten .Contrat social' erhebt er sich zu dem vielsagenden Zugeständnis an seine Gegner, daß das Ideal der wahren Freiheit und Sittlichkeit nicht hinter, sondern vor uns liege, ja, daß wir ohne die mit dem Verlust des Naturzustandes verknüpfte Entartung den Augenblick segnen müßten, der den Menschen aus einem beschränkten, tierischen Geschöpf allererst zum wahren Menschen und zum Träger der Intelligenz gemacht, ihn von der Knechtschaft seiner Triebe befreit und die wahre, sittliche Freiheit zu erkennen gelehrt habe (vgl. H. ROHRS, Rousseau, a. a. O. S. 105 ff.). 241 Suphan, a. a. O. V, 480/81.

Die Kritik an der Hirtenidylle

175

es weiter rückt". So erscheint ihm auch die Ablösung des Hirtenlebens mit seinem „wehrlosen, zerstreuten, Ruheliebenden, Heerdenähnlichen Zustand" und der A u f stieg der Menschheit zur ersten Kulturblüte Griechenlands als sinnvoll und mit größerem Rechte als ein Eintritt ins goldene Zeitalter betrachtet werden zu müssen: „wie wir d i e Jahre fürs güldne Alter und für ein Elysium unsrer Erinnerung halten, (denn wer erinnert sidi seiner unentwickelten Kindheit?) die am glänzendsten ins Auge fallen, eben im Aufbrechen der Blüthe, alle unsre künftige Wirksamkeit und Hofnungen im Schoose tragend .. ."242. Für den Kulturphilosophen Herder verblaßt daher trotz aller rousseauistisdien Stimmungen der paradiesische Kindheitszustand der Menschheit gegenüber dem Farbenreichtum der folgenden geschichtlichen Kulturepochen, deren jede ihr eigenes Wachstumsgesetz, ihr eigenes Blühen und Welken und mithin ihr eigenes goldenes Zeitalter in sich trägt; denn jede menschliche Vollkommenheit ist f ü r ihn „National, Säkular, und . . . Individuell" 2 4 3 . Es gibt keine absolute, unwandelbare Glückseligkeit, an welcher die Vorstellung vom goldenen Zeitalter sich orientieren könnte „selbst das Bild der Glückseligkeit wandelt mit jedem Zustande und Himmelsstriche" - und daher hat jedes Volk, jeder Kulturkreis sein goldenes Zeitalter, „jede Nation . . . ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt" 244 . Diese relativen Höhepunkte der Kultur- und Menschheitsentwicklung, diese „National- und Säkulartugenden" sind es. die Herder nun hervorhebt und von deren geschichtlicher Erkenntnis und Betrachtung her er zwar einen sichtbaren Fortschritt der Universalgeschichte verneinen und dem unsichtbaren Gang Gottes durch alle Jahrtausende, Weltteile und Menschengeschlechter überantworten muß, zugleich aber „das Zeitalter fremder Wunschwanderungen, und ausländischer Hoffnungsfahrten" als Krankheit und dekadente Gegenwartsflucht verurteilen kann 2 4 5 . Dieser kulturhistorische Relativismus ist ein wichtiges Zwischenglied f ü r die Überwindung der regressiven Geschichtsbetrachtung Rousseaus, denn in ihm ist die Vorstellung des goldenen Zeitalters bereits vom Naturzustand des patriarchalischen 242

Suphan, a. a. O. V, 494/95; die vorhergehenden Zitate V, 498 u. 483. » Suphan, a. a. O. V, 505. Suphan, a. a. O. V, 509. 245 Suphan, a. a. O. V, 510. Aus diesem Grunde lehnt Herder auch die Idee eines Weltbürgertums als verwerfliche Utopie einer „güldnen Zeit" ab und fordert demgegenüber edite „Nationalcharaktere" (a. a. O. V, 551). - Der eigentümliche Widerspruch, der sidi schon in dieser Abhandlung äußert und durdi welchen sich Herders gesdiiditsphilosophisdie Idee des goldenen Zeitalters so schwer auf eine Formel bringen läßt, kann hier nur angedeutet werden. W ä h r e n d die Wellenbewegungen der Geschichte mit ihren wechselnden Kulturperioden eine chiliastische Zukunftsschau ausschließen, andererseits aber dodi ein Stufengang der Geschichte angenommen wird, bei dem ein Volk sich auf dem Rüdcen des anderen erhebt („wahrhaftig Fortgang, fortgehende Entwicklung", a. a. O. V, 513), zeichnet sidi in Herders späterer Ausbildung seines /famamiätsgedankens nach der Bückeburger Periode ein übergreifendes Geschichtsprinzip ab, das in eine unendlidie Zukunft weist und erst im Jenseits wahrhafte Erfüllung finden kann: „So muß diese sdiönste Blüthe des mensdilichen Lebens nothwendig dort zu der erquickenden Gestalt, zu der umsdiattenden Höhe gelangen, nach der in allen Verbindungen der Erde unser Herz vergebens dürstet" (Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 1784; Suphan, a. a. O. X I I I , 197). U n d ganz wie Kant meinte Herder schließlich, daß die Erwartung eines tausendjährigen Reidies zu den Illusionen des Sdiwärmertums gehöre und daß „ein ewiger Friede förmlidi erst am jüngsten Tage geschlossen werden wird" (Briefe zur Beförderung der Humanität, 10. Sammlung, 1797; Suphan, a. a. O. XVIII, 274 f.). M

244

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Die

Arkadien-Vorstellung

Hirtenlebens abgelöst und als kulturelle Blütezeit, als Schöpfung des Menschen also begriffen worden - eine Vorstellung, die von nun an symbolisdi auf jede .Vorzeit' übertragen werden kann, in welcher sich der Geist einer Kulturepoche oder eines Volkes am vollkommensten ausgeprägt hat. Die zeit- und raumflüditige Sehnsucht nach Arkadien wird wieder in die Geschichte zurückgeführt und erfährt in ihrem vielfältigen Auf und Ab den schöpferischen Gestaltungswillen der Menschheit, der „mit jedem Zustande und Himmelsstriche 1 ' sein goldenes Zeitalter der Glückseligkeit hervorbringen kann. Hier zuerst ist jener idealtypische Begriff einer .goldenen Zeit' in den Vordergrund getreten, der auch dem heutigen Wortgebraudi in seiner unverbindlich-relativierenden Bedeutung zugrundeliegt. Ausdrücklicher nodi setzt sich Kant in seinem Aufsatz über den ,Muthmaßlichen A n f a n g der Menschengeschichte' von 1786 mit Rousseau auseinander und verneint eine Rückkehr des Menschen in den vorhistorischen, d. h. kulturlosen Zustand des Hirtenlebens. Rousseau ist dem „Schattenbild des von Dichtern so gepriesenen goldenen Zeitalters" erlegen, „wo eine Entledigung von allem eingebildeten Bedürfnisse, das uns die Üppigkeit aufladet, sein soll, eine Genügsamkeit mit dem bloßen Bedarf der Natur, eine durchgängige Gleichheit der Menschen, ein immerwährender Friede unter ihnen, mit einem Worte der reine Genuß eines sorgenfreien, in Faulheit verträumten oder mit kindischem Spiel vertändelten Lebens·. - eine Sehnsucht, die die Robinsone und die Reisen nach den Südseeinseln so reizend macht, überhaupt aber den Überdruß beweiset, den der denkende Mensch am civilisirten Leben fühlt . . ,"24e.

Demgegenüber wird nun an dem unaufhörlichen Fortschreiten als Bestimmung der Menschheitsgeschichte festgehalten, denn „der Ausgang des Menschen aus dem . . . Paradiese" ist nichts anderes als „der Übergang aus der Rohigkeit eines bloß thierischen Geschöpfes in die Menschheit, aus dem Gängelwagen des Instincts zur Leitung der Vernunft, mit einem Worte, aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit" 2 4 7 . W e n n damit auch der W i d e r s t r e i t von N a t u r und Kultur als leitendes Prinzip der Geschichte anerkannt wird, so verlagert sich dodi das Ziel der Sehnsucht aus der Vergangenheit in die Zukunft: denn das letzte Ziel der Geschichte wird ein Zustand sein, der diesen Widerstreit auflöst, in dem „vollkommene Kunst wieder Natur wird"248. Damit ist das große T h e m a angeschlagen, das die deutsche idealistische Geschichtsphilosophie beherrscht und das auch von den Frühromantikern aufgenommen wird 249 . Von diesem höchsten Ziel aller Kulturentwicklung her, das Kant freilich in eine unendliche Zukunft versetzt, kann die „leere Sehnsucht" nach dem verlorenen goldenen Zeitalter zurückgewiesen werden: „Die Nichtigkeit dieses Wunsches zur Rückkehr in jene Zeit der Einfalt und U n schuld wird hinreichend gezeigt, wenn man . . . belehrt wird: der Mensch könne sich darin nicht erhalten, darum weil er ihm nicht genügt; noch weniger sei er geneigt, jemals wieder in denselben zurückzukehren . . . Und so ist der Aussdilag einer durch Philosophie versuchten ältesten Mensdiengeschidite: Zufriedenheit mit der Vorse-

« · Kants Werke, hg. von A. Messer, a. a. O. Bd. III, S. 658 (Akademie-Ausgabe VIII, 122). Werke, a. a. O. III, 650 (A.-A. VIII, 115). 248 Werke, a. a. O. III, 653 (A.-A. VIII, 117/18). 249 Vgl. unsere Arbeit, S. 306 ff.

Die Kritik an der

Hirtenidylle

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hung und dem Gange menschlicher Dinge im Ganzen, der nicht vom Guten anhebend zum Bösen fortgeht, sondern sich vom Schlechtem zum Besseren allmählig entwikkelt.. ,"2M.

Damit ist die Idee des goldenen Zeitalters, indem sie sich vom Hirtentum der Urzeit gelöst und seine „Gemächlichkeit", seinen „Frieden" als notwendig zu überwindende Kindheitsstufe abgestreift hat, für die Verklärung des Zukunftszieles freigeworden, das nun zugleich den kulturhistorischen Relativismus Herders umwandelt in ein Triadenschema des Geschichtsprozesses, der aus der unbewußten Einfalt und Sorglosigkeit des Naturzustandes über die Zerrissenheit und Zwietracht der Kulturentwicklung in eine harmonische Endzeit als Synthese beider weist. Diesen Gedanken Kants greift Schiller bereits 1790 in seinem Aufsatz ,Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde' auf, wenn er hier ebenfalls den „gleichförmigen Genuß . . . des Hirtenstandes" als vernunftlosen Naturzustand der Menschheit ablehnt und ein anderes, höheres Paradies gegenüber Rousseau beschreibt, das die verlorene Unschuld und Glückseligkeit durch freie, schöpferische Tätigkeit des Menschen wiederkehren läßt: „Sanft und lachend war . . . der Anfang des Menschen . . . Setzen wir . . . , die Vorsehung wäre auf dieser Stufe mit ihm still gestanden, so wäre aus dem Menschen das glücklichste . . . aller Tiere geworden - aber aus der Vormundschaft des Naturtriebs wär' er niemals getreten, frei und also moralisch wären seine Handlungen niemals geworden ... In einer wollüstigen Ruhe hätte er eine ewige Kindheit verlebt ... Aber . . . die Kräfte, die in ihm lagen, riefen ihn zu einer ganz andern Glückseligkeit . . . Er sollte den Stand der Unschuld, den er jetzt verlor, wieder aufsuchen lernen durch seine Vernunft, und als ein freier vernünftiger Geist dahin zurück kommen, wovon er als Pflanze und als eine Kreatur des Instinkts ausgegangen war; aus einem Paradies der Unwissenheit und Knechtschaft sollte er sich, wär' es auch nach späten Jahrtausenden, zu einem Paradies der Erkenntnis und der Freiheit hinauf arbeiten . . ," 2 ".

Dieser .philosophische Chiliasmus'252, von dem das ganze ausgehende 18. Jahrhundert ergriffen wird, findet seinen radikalsten Ausdrude in Fidites Auseinandersetzung mit Rousseau, die er in seiner fünften Vorlesung ,Über die Bestimmung des Gelehrten' 1794 vorgetragen hat und die nicht nur auf Schiller, sondern vor allem auch auf die Frühromantiker des Jenaer Kreises den stärksten Einfluß ausüben sollte. Denn hier wird nicht nur die regressive Geschichtsbetrachtung Rousseaus zurückgewiesen - „ihm ist Rückkehr Fortgang; ihm ist jener verlassene Naturstand das letzte Ziel, zu welchem die jetzt verdorbene und verbildete Menschheit endlich gelangen muß" 25S - , sondern zugleich das ganze goldene Zeitalter der Vergangenheit als Trug- und Sehnsuchtsbild einer „leidenden Empfindlichkeit" abgelehnt. Es gab kein goldenes Zeitalter im Naturstande; in ihm lebte der Mensch „wie das Tier auf der Weide neben ihm", und es war seine Bestimmung als Mensch, nicht in diesem 250 Werke, a. a. 0 . III, 658/59 (A.-A. VIII, 122/23). Vgl. die fast gleichlaufenden Gedanken in Kants Abhandlung ,Idee zu einer allgemeinen Gesdiidite in weltbürgerlidier Absicht', die 1784, ebenfalls in der Berlinischen Monatsschrift, ersdiien (a. a. O. III, 621 ff.; A.-A. VIII, 15 £f.). »» Schillers Sämtlidie Werke, Säkular-Ausgabe, Bd. XIII, hg. von R. Fester, S. 25/26. Der Aufsatz ersdiien 1790 in der ,Thalia' und nimmt in einer Anmerkung ausdrücklich Bezug auf Kants Abhandlung von 1786. 252 Nach einer BegrifTsprägung Kants: a. a. O. III, 42; 144; 631 u. a. (A.-A. VI, 34; 136; VIII, 27). 253 Fidites Werke, hg. von F. Medicus. Bd. I, Leipzig 1911, S. 264. 12 Mäht, Die Idee des goldenen Zeitalters

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Arkadien-Vorstellung

dürftigen Zustande zu bleiben, sondern fortzuschreiten auf dem Wege der Vernunft- und Kulturentwicklung254. Die vollkommene Herrschaft der Vernunft über die rohe Natur ist das wahre Ziel der Weltgeschichte, ist der idealische Zustand, der in einer unerreichbaren Zukunft liegt, und damit jenes „goldene Zeitalter des Sinnengenusses ohne körperliche Arbeit, den die alten Dichter beschreiben" : „Vor uns also liegt, was Rousseau unter dem Namen des Naturstandes, und jene Dichter unter der Benennung des goldenen Zeitalters, hinter uns setzen .. ,"255.

3. Aus dieser neuen Gesinnung heraus entzündet sich nun der dritte Widerspruch, der sich in Sdiillers Abhandlung ,Über naive und sentimentalische Dichtung' von 1795/96 gegen die überlieferte Schäfer- und Hirtenidylle erhebt und uns damit in unseren dichtungsgeschichtlichen Zusammenhang zurückführt. Denn nicht ohne Grund steht auch hier die Polemik gegen Rousseau an entscheidender Stelle, so daß der Vorwurf, der gegen den sentimentalisdien Philosophen und Dichter erhoben wird, zugleich diejenige Dichtungsgattung treffen muß, welche wie er die verlorene Natur - „das aus der Welt verschwundene goldene Alter"25® - sucht und nicht elegisch betrauern, nicht satirisch an der Wirklichkeit rächen, sondern im Idealbild unschuldiger und glücklicher Menschen zur Darstellung bringen will. Das Ideal aber, das Rousseau aufgestellt hat, dem auch die Idyllendichtung von altersher gefolgt ist, wird nun mit äußerster Schärfe verurteilt: „Seine leidenschaftliche Empfindlichkeit ist schuld, daß er die Menschheit, um nur des Streits in derselben recht bald los zu werden, lieber zu der geistlosen Einförmigkeit des ersten Standes zurückgeführt, als jenen Streit in der geistreichen Harmonie einer völlig durchgeführten Bildung geendigt sehen, daß er die Kunst lieber gar nicht anfangen lassen, als ihre Vollendung erwarten will, kurz, daß er das Ziel lieber niedriger steckt und das Ideal lieber herabsetzt, um es nur desto schneller, um es nur desto sicherer zu erreichen."257

Die überkommene Form der Schäferidylle ist aus der gleichen, sentimentalisdien Sehnsucht nach der Natur, nach der ursprünglichen Unschuld und Harmonie des Menschengeschlechtes erwachsen, und sie hat ihren Schauplatz „in den einfachen Hirtenstand" verlegt, weil diese Unschuld und Harmonie mit der späteren Kulturund Gesellschaftsentwicklung unvereinbar schien: „Unter einem glücklichen Himmel, in den einfachen Verhältnissen des ersten Standes, bei einem beschränkten Wissen wird die Natur leicht befriedigt . . . Alle Völker, die eine Geschichte haben, haben ein Paradies, einen Stand der Unschuld, ein goldnes Alter; ja jeder einzelne Mensch hat sein Paradies, sein goldnes Alter, dessen er sich . . . mit mehr oder weniger Begeisterung erinnert . . ,"258.

Wird hier, wie schon vorher, das goldene Zeitalter mit dem kindlichen Lebensalter verglichen - jenes ist eine „Darstellung unserer verlorenen Kindheit", und das Gefühl, mit dem wir ihm nachtrauern, ist „dem Gefühle . . . nahe verwandt, womit 254

Ficbtes Werke, a. a. Ο. I, 268 f. Fichtcs Werke, a. a. Ο. I, 270. Vgl. die ausführlichere Behandlung Fidites (neben Hemsterhuis) im zweiten Teil unserer Arbeit, S. 282 ff. » · Säkular-Ausgabe, Bd. XII, hg. von O. Walzel, S. 203. 257 Säkular-Ausgabe, a. a. Ο. XII, 205. 258 Säkular-Ausgabe, a. a. Ο. XII, 224. 255

Die Kritik an der

Hirtenidylle

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wir das entflohene Alter der Kindheit und der kindlichen Unschuld beklagen"868 - , so ist für Schiller die Kindheit zugleich „eine Vergegenwärtigung des I d e a l s , nicht zwar des erfüllten, aber des aufgegebenen", das durch die Bedürftigkeit und Beschränktheit dieses Zustandes hindurchleuditet als Bestimmung des Menschen und seine unendliche M ö g l i c h k e i t 2 8 0 . In genauer Entsprechung dazu wird nun auch jene „Unschuld des Hirtenstandes", mit welcher die Idylle das goldene Zeitalter der Menschheit zur Darstellung bringen will, als etwas unwiederbringlich Verlorenes angesehen, das, wenn es als Ideal erneuert werden soll, nur in eine unendliche Zukunft weisen kann. Eben darin aber liegt der Mangel der Schäferdichtung: „Sie haben ein Ideal ausgeführt und dodi die enge, dürftige Hirtenwelt beibehalten, da sie dodi schlechterdings entweder für das Ideal eine andere Welt, oder für die Hirtenwelt eine andre Darstellung hätten wählen sollen . . ." 2el .

Die Hirtenidylle bleibt zwar „eine schöne, eine erhebende Fiktion . . . für den Menschen, der von der Einfalt der Natur einmal abgewichen" ist, um sich „von den Verderbnissen der Kunst in diesem treuen Spiegel wieder reinigen zu können"262, aber das gilt nur von der naiven Dichtung, die diese Einfalt besitzt und nicht sentimentalisch sucht, die Natur i s t und sie deshalb nicht idealisch verklärt, sondern als ein solcher „treuer Spiegel" zur Darstellung bringen kann. Ein Hirte Geßners dagegen „kann uns nicht als Natur, nicht durch Wahrheit der Nachahmung entzücken, denn dazu ist er ein zu ideales Wesen; ebenso wenig kann er uns als ein Ideal durdi das Unendliche des Gedankens befriedigen, denn dazu ist er ein viel zu dürftiges Geschöpf ..

Es ist der gleiche Vorwurf, den schon Herder gegen Geßners Hirten als unbestimmte Mittelarten zwischen Engeln und sinnlichen Geschöpfen erhoben hatte, den Schiller hier wiederholt, wenn er sie „weder ganz Natur nodi ganz Ideal" nennt. Aber während Herder daran seine Forderung nach „würklidien Naturbildern" anschloß, will Schiller der sentimentalischen Idylle, die notwendig zum Ideal strebt, einen neuen Weg eröffnen. Denn ein solcher glücklicher Zustand, den man in die „enge, dürftige Hirtenwelt" eingeschlossen und festgebannt habe, liegt nicht nur vor dem Anfang aller Kulturentwicklung, sondern muß audi als ihr letztes Ziel angesehen werden. Die Schäferdichter aber „stellen unglücklicher Weise das Ziel hinter uns, dem sie uns dodi entgegen führen sollten, und können uns daher bloß das traurige Gefühl eines Verlustes, nicht das fröhliche der Hoffnung einflößen"264. Daher wird die Forderung nach einer neuen Idylle erhoben, die sidi von Arkadien und der Hirtenwelt abgelöst hat und dem höchsten Ideal der Zukunft eine „sinnliche Bekräftigung" zu 2S * Säkular-Ausgabe, a. a. Ο. XII, 163 und 180/81. Diese symbolische Übertragung auf das kindliche Lebensalter sdieint in der damit verbundenen, psydiologisdien Vertiefung der Urzeit-Vorstellung erst im 18. Jahrhundert, seit Rousseau und Herder, üblich geworden zu sein (obwohl schon die Antike den Vergleich zwischen Welt- und Lebensaltern kennt); vgl. unsere Arbeit, S. 363 ff. 260 Säkular-Ausgabe, a. a. Ο. XII, 165 (.In dem Kinde ist die Anlage und Bestimmung, in uns die Erfüllung dargestellt, welche immer unendlich weit hinter jener zurückbleibt"). M1 Säkular-Ausgabe, a. a. Ο. XII, 226. Säkular-Ausgabe, a. a. Ο. XII, 224. «« Säkular-Ausgabe, a. a. Ο. XII, 226. Säkular-Ausgabe, a. a. Ο. XII, 224.

12*

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Arkadien-Vorstellung

verleihen, die Idee eines kommenden goldenen Zeitalters zur Anschauung zu bringen vermag: „Er [sc. der moderne Dichter] führe uns nicht rückwärts in unsre Kindheit, um uns mit den kostbarsten Erwerbungen des Verstandes eine Ruhe erkaufen zu lassen, die nicht länger dauern kann als der Schlaf unsrer Geisteskräfte, sondern führe uns vorwärts zu unsrer Mündigkeit, um uns die höhere Harmonie zu empfinden zu geben, die den Kämpfer belohnet, die den Überwinder beglückt. Er madie sich die Aufgabe einer Idylle, welche . . . , mit einem Wort, den Menschen, der nun einmal nicht mehr nach Arkadien zurück kann, bis nach Elysium führt .. ,"245.

Damit ist das Stidiwort gefallen, das den Umbruch der Zeit wie kein anderes beleuchtet - das Stidiwort, das über der ganzen frühromantischen Bewegung stehen könnte, die in der Tat den Wegweiser von Arkadien auf Elysium umgestellt hat. Das Hirtentum ist kein Ideal mehr, es ist entweder N a t u r , harmonische Einfalt und Unschuld vor aller Kulturentwicklung, und als solche unwiederbringlich verloren - „sie liegt hinter dir, sie muß ewig hinter dir liegen" 2 " - oder, vom sentimentalisdien Dichter als I d e a l gesucht, eine enge und dürftige Welt, die der Mensch wie seine Kindheit verlassen hat und der er zwar nachtrauern kann - „solange wir bloße Naturkinder waren, waren wir glücklich und vollkommen" 267 - , die aber nur in der unendlichen Zukunft eines vollendeten Entwicklungsganges als höhere Harmonie und Unschuld wiedergefunden, d. h. wissend und willentlich erneuert werden kann. Wenn Schiller später in seinem Gedicht ,Die vier Weltalter' das erste, vermeintlich goldene Zeitalter des Hirtenlebens beschreibt, so klingt hier deutlich die neue Wertung hindurch, die diesen sorglosen Urzustand nicht mehr als Ideal behandeln kann: Erst regierte Saturnus schlicht und gerecht, Da war es heute wie morgen, Da lebten die Hirten, ein harmlos Geschlecht, Und brauchten für gar nichts zu sorgen; Sie liebten, und taten weiter nichts mehr, Die Erde gab alles freiwillig her . . . 2 ω

Und in der Tat wird in diesem Gedicht das saturnische Weltalter, wie schon bei Herder, negativ von der Kulturblüte Griechenlands abgehoben, dem dritten „Alter der göttlichen Phantasie", das in einer glücklichen Mitte zwischen Kultur und Natur für Schiller den Idealzustand verkörpert - denn im Griechentum der perikleischen Blütezeit „artete die Kultur nicht so weit aus, daß die Natur darüber verlassen wurde"; es war „einig mit sich selbst und glücklich im Gefühl seiner Menschheit", während wir, „uneinig mit uns selbst und unglücklich in unsern Erfahrungen von Menschheit, kein dringenderes Interesse haben, als aus derselben herauszufliehen" 2 8 9 . Als eine solche F l u c h t wird nun die sentimentalische Idylle mit ihrem 2 , 5 Säkular-Ausgabe, a. a. Ο. X I I , 228. Zu dem theoretischen Entwurf einer solchen .utopischen Idylle' und ihrer Problematik vgl. unsere Arbeit, S. 404 ff. 2 8 6 Säkular-Ausgabe, a. a. Ο. X I I , 178. 2 6 7 Säkular-Ausgabe, a. a. Ο. X I I , 177. 2 , 8 Säkular-Ausgabe, a. a. Ο. I, 14 (das Gedicht stammt aus dem Jahre 1802). Vgl. dazu H. RÜDIGER, Schiller und das Pastorale, in: Euphorion 53, 1959, S. 229 ff. 2 1 9 Säkular-Ausgabe, a. a. Ο. X I I , 181/82. Dagegen wird dann in der berühmten Formel Sdiillers der Weg des modernen Diditers als Weg des Menschen überhaupt umschrieben: .Die Natur macht

Die Kritik an der Hirtenidylle

181

„Trugbild" einer vergangenen goldenen Zeit betraditet. Ihr gilt daher das paradoxe Wort August Wilhelm Schlegels, das sich dem radikalen Standpunkt Fidites anzuschließen scheint und dodi der romantischen Vergangenheitssehnsucht ganz und gar entgegengesetzt ist: „Das Trugbild einer gewesenen goldnen Zeit ist eins der gross ten Hindernisse gegen die Annäherung der goldnen Zeit die nodi kommen soll. Ist die goldne Zeit gewesen, so war sie nicht redit golden. Gold kann nicht rosten, oder verwittern: es geht aus allen Vermisdiungen und Zersetzungen unzerstörbar acht wieder hervor. Will die goldne Zeit nidit ewig fortgehend beharren, so mag sie lieber gar nicht anheben, so taugt sie nur zu Elegien über ihren Verlust."170

Was in diesem Worte zum Ausdrude kommt, ist nidits anderes als der Aufbrudi von Arkadien nach Elysium, ist die hoffnungsvolle Verheißung einer Wiederherstellung des verlorenen Menschheitsglückes, mit welcher die Idee des goldenen Zeitalters aus dem bukolisdien Vorstellungsbereich herausgelöst wird. Denn das Hirtentum, das als Kindheitsstadium der Menschheit eine notwendig überwundene Stufe darstellt und daher eine nur relative Vollkommenheit besessen haben kann, ist, als Idealbild des goldenen Zeitalters verklärt und vom sentimentalisdien Dichter als solches aufgesucht, in der Tat das größte Hindernis auf dem Wege in die Zukunft, die ein goldenes Zeitalter der vollendeten Geschichte und Menschheitsentwicklung bringen soll. Die romantische Vergangenheitssehnsudit dagegen, die Vorstellung einer goldenen , Vorzeit', der wir bei Novalis begegnen werden, erweist sich schon auf diesem Hintergrunde nidit als Fludit, als Rüdekehr in die arkadische Hirtenwelt, sondern als mythische „Erinnerung", die zur „Ahndung" der verheißenen Zukunft werden und „zum Verkörpern, zur assimilierenden Wirksamkeit" antreiben soll871. Es ist die gleidie Auffassung, wie sie Hölderlin schon 1794 im Thalia-Fragment des .Hyperion' ausgesprochen hat: „Mir wuchs ja nur darum kein Arkadien auf, daß das Dürftige, das in mir denkt und lebt, sich ausbreiten sollte, und das Unendliche umfassen . . „ D i e Einfalt und Unschuld der ersten Zeit erstirbt, daß sie wiederkehre in der vollendeten Bildung, und der heilige Friede des Paradieses gehet unter, daß, was nur Gabe der Natur war, wiederaufblühe, als errungnes Eigentum der Menschheit.. "m.

Mit Schillers Abhandlung aber ist zugleich die Ursprungstheorie der Schäferdichtung endgültig widerlegt worden. Schon Friedrich Schlegel betont 1797 in seiner Vorrede zum .Studium der Griechischen Poesie', übrigens an enger Anlehnung an Sdiillers Terminologie278, den sentimentalisdien Charakter der bukolischen Idylle, die als „Rückkehr von verderbter Kunst zur verlohrnen Natur der erste Keim der sentimentalen [sc. modernen] Poesie" sei874. Was nodi im 18. Jahrhundert als Zeugten mit sich eins, die Kunst trennt und entzweiet ihn, durch das Ideal kehrt er zur Einheit zurück." Diese Einheit ist freilich nur in Form einer unendlichen Annäherung zu erreidien (a. a. Ο. XII, 189 f.). 170 Athenäums-Fragment Nr. 243; Minor, a. a. 0 . II, 243. 171 Novalis, Blütenstaub-Fragment Nr. 109 (II, 35). 171 Hölderlin, Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe, Bd. III: Hyperion, hg. von Fr. Beissner. Stuttgart 1957, S. 171 u. 180. 179 Vgl. dazu O. WALZEL, Romantisches. I. Frühe Kunstschau Friedrich Schlegels. Mnemosyne, Heft 18. Bonn 1934, S. 26 £F. und R. BRINKMANN, Romantische Dichtungstheorie in Friedrich Sdilegels Frühschriften und Schillers Begriffe des Naiven und Sentimentalischen, in: DVjs. 32, 1958, S. 344 ff. 874 Prosaische Jugendschriften, hg. von J. Minor, a. a. Ο. I, 80.

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Die Arkadien-Vorstellung

nis der Ursprünglidikeit gelesen, was seit Scaliger als „vetustissimum genus" an den Anfang aller Poesie gestellt und als „Urdichtung" aufgefaßt worden war, das wird nun als „Spätling" behandelt, als „künstliche Kopie der Natürlichkeit", die einem „gelehrten, künstlichen Zeitalter" ihre Entstehung verdanke und aus dem „Ueberdruss an der ausgearteten städtischen Bildung" hervorgegangen sei. Mithin muß auch ihre „Darstellung eines goldnen Zeitalters der Unschuld" auf T ä u s c h u n g berechnet sein, um den notwendigen Glauben an das Ideal hervorzubringen, während die objektive Poesie der Alten sich mit dem „ästhetischen Schein" als der Wahrheit der Dichtung begnügt und keinen Anspruch auf Realität zu erheben braucht: „Du musst an das goldne Zeitalter, an den Himmel auf Erden wenigstens vorübergehend ernstliA glauben, wenn die sentimentale Idylle dich entzücken soll . . ,"175.

Wenn aber somit die ganze Schäferpoesie bereits aus einer Sehnsucht nach dem verlorenen goldenen Zeitalter hervorgegangen ist, so ist das Interesse, das sie an der Realität ihres Idealbildes und an seiner Kontrastierung mit der wirklichen Umwelt des „Publikums" nimmt, eine „schlechthin verwerfliche ästhetische Heteronomie", so daß die „übermässige Bewunderung des Virgilius", aber auch der griechischen Bukoliker dahinfällt. Denn das Schöne wird, in engem Anschluß an Kant und Schiller, eben dadurdi charakterisiert, daß „das Wohlgefallen an demselben uninteressirt" sei27·. Für unseren Zusammenhang bedeutsam ist die Tatsache, daß damit nicht nur die Vorrangstellung und mythische Dignität der Schäferdiditung für immer zerstört ist, sondern auch ihr ureigenstes Thema des goldenen Zeitalters als ,Bildungsillusion' entlarvt wird: denn diese alexandrinischen Schäfer haben zwar „ihren eigenen glückseligen Zustand" besungen, wie Ramler hervorgehoben hatte, aber nicht aus dem Besitz, sondern aus der Sehnsucht, nicht aus der Nachahmung der Natur, sondern aus der sentimentalischen Reflexion heraus, die alle Züge des „Ueberdrusses", d. h. der negativen Kontrastierung zur städtischen Kulturwelt und Dekadenz an sich trägt.

Wir stehen damit am Ende des Weges, den die bukolische Vorstellungsform des goldenen Zeitalters seit der Renaissance durchlaufen hat, und wir stehen zugleich am Beginn der frühromantischen Bewegung. Eine letzte Frage aber soll abschließend behandelt werden. Wenn sich die Idylle seit Herder vom überlieferten Arkadien gelöst, wenn die Idee des goldenen Zeitalters im Aufbruch einer neuen Geschiditsgesinnung das bukolische Menschen- und Landschaftsbild preisgegeben und sich in die Zukunft verlagert hat - was wird aus Arkadien, der Wunschlandschaft Vergils, dem Lande der Dichter, der Liebe und eines musischen Hirtentums, von dem wir ausgegangen waren? Seine romantische Metamorphose werden wir in der

t n

Minor, a. a. Ο. I, 81. Die vorhergehenden Zitate: I, 80; 164; 168; 80. Minor, a . a . O . I, 164; 167; 82. Als „ästhetische Heteronomie" bezeichnet Schlegel ganz allgemein „die Herrschaft des Interessanten, Charakteristischen, Manierirten" (I, 121). - Die Vorrede Schlegels von 1797 ist hier mit den entsprechenden Stellen aus der bereits 1795 gesdiriebenen Abhandlung zusammengezogen worden. 174

Die Kritik an der Hirtenidylle

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Wandlung verfolgen können, die sidi von der arkadisdi-anakreontischen Jugendlyrik des Novalis bis zu den .Lehrlingen zu Sais' vollzieht, deren Thema - die Darstellung einer goldenen Zeit als Einklang des Menschen mit der Natur - das Arkadien-Motiv aufnimmt, aber in neuer, mythisch-naturphilosophischer Schau umformt 277 . Daneben aber tritt jene klassische Metamorphose Arkadiens, wie sie in der Dichtung Goethes und Schillers zum Ausdrude kommt und in gewisser Weise als ein neuerlicher Enthistorisierungsvorgang gedeutet werden darf. Wenn in Goethes .Torquato Tasso' von 1789 die arkadische Landschaft nodi einmal als das Land des goldenen Zeitalters beschworen wird - sogar unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Hirtendichtungen Tassos und Guarinis - , dann ist es wieder zum Lande des Diditers geworden, wie schon bei Vergil, eine zeitlose Heimat der Seele, die die Beschränkung des bukolisdien Bildes durchbricht und zum Sinnbild des dichterischen Wesens wird: Sein Auge weilt auf dieser Erde kaum; Sein Ohr vernimmt den Einklang der Natur; . . . Das weit Zerstreute sammelt sein Gemüt, Und sein Gefühl belebt das Unbelebte . .

Der Dichter bewahrt das Bild Arkadiens in sich als Gleichnis seines eigenen Wesens, eine Welt, in weldier Einklang, nicht Zwietracht herrscht, in welcher das schmerzlich Getrennte vereinigt, das Unbelebte belebt erscheint, in welcher alle Geschöpfe, Pflanze, Tier und Mensch einander liebend und teilnehmend zugeneigt sind - eine Welt aber, die kein Gegenbild in der äußeren Wirklichkeit findet und daher in mythische Zeitenferne entrückt werden muß: Die goldne Zeit, wohin ist sie geflohn, Nach der sich jedes Herz vergebens sehnt? Da auf der freien Erde Menschen sich Wie frohe Herden im Genuß verbreiteten; Da ein uralter Baum auf bunter Wiese Dem Hirten und der Hirtin Schatten gab, Ein jüngeres Gebüsch die zarten Zweige Um sehnsuchtsvolle Liebe traulich sdhlang; Wo klar und still auf immer reinem Sande Der weiche Fluß die Nymphe sanft umfing; Wo in dem Grase die gescheuchte Schlange Unschädlich sich verlor . . . Wo jeder Vogel in der freien Luft Und jedes Tier, durch Berg' und Täler schweifend, Zum Menschen spradi: Erlaubt ist, was gefällt 17 ·.

Dieses Bild der goldenen Urzeit, das Tasso in sidi trägt, ist das unvergängliche, zeitlose Arkadien des Dichters, ein imaginäres Traumreidi zwar, das die Gefahr des

177

Vgl. unsere Arbeit, S. 354 ff., insbesondere Anm. 8. Torquato Tasso I, 1, V. 159 ff. (Jubiläums-Ausgabe, Bd. XII, hg. von A. Köster, S. 99). Torquato Tasso II, 1, V. 979 ff. ( a . a . O . XII, 129/30). Zur Interpretation vgl. vor allem W.-D. RASCH, Goethes .Torquato Tasso". Die Tragödie des Diditers. Stuttgart 1954, S. 74 ff., und L. BLUMENTHAL, Arkadien in Goethes .Tasso". In: Goethe. Neue Folge des Jahrbuchs der GoetheGesellsdiaft, Bd. 21, 1959, S. 1 ff. 178 m

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Die

Arkadien-Vorstellung

Sidiverlierens in sich birgt - und in der Tat bei Tasso zum tragisdi-unauflösbaren Konflikt mit der Wirklichkeit führt - , das aber zugleidi einen Maßstab bedeutet, an dem diese Wirklichkeit erkannt und beurteilt werden kann. Und wenn mit dieser Erneuerung der arkadischen Hirtenwelt, die schon bei Vergil auf den Dichter bezogen und als Ausdruck seiner sehnsüditig-liebenden Seele gedeutet worden war, die Welt der U r z e i t aufzusteigen scheint, so korrigiert eben die Prinzessin Tassos Klage durdi den leisen, verständnisvollen Hinweis, daß das, was die äußere Wirklidikeit nie gewähren kann und wahrscheinlich niemals gewährt hat, im Innern des Menschen damals wie heute Gegenwart werden kann: Die goldne Zeit, womit der Dichter uns Zu sdimeidieln pflegt, die schöne Zeit, sie war, So scheint es mir, so wenig, als sie ist; Und war sie je, so war sie nur gewiß, W i e sie uns immer wieder werden kann. Nodi treffen sich verwandte Herzen an Und teilen den Genuß der schönen Welt; Nur in dem Wahlsprudi ändert sich, mein Freund, Ein einzig Wort: Erlaubt ist, was sidi ziemt 180 .

Wenn hier die Antithese Guarinis zu Tasso wörtlich aufgenommen wird, so hat sich dodi ihr Sinn verwandelt: nicht der Urzeit mehr gilt diese Korrektur, in welcher der unschuldige Naturtrieb das sittliche Gesetz vertreten konnte, sondern der gegenwärtigen Wirklichkeit, der Tassos Arkadien ein Traumreich bleiben muß, weil die Menschen sich aus dem harmonischen Verband der Natur gelöst haben und eine neue Harmonie nur auf dem Wege der sittlichen Bildung wiedergewinnen können. Auf diesem Wege aber kann auch Arkadien als i n n e r e W i r k l i c h k e i t bewahrt werden, jenseits der Geschichte, weil es das Land der menschlichen Seele ist, die aus der zerrissenen Welt hinflüchtet in eine andere, ihr gemäßere Welt des liebenden Einklangs aller Wesen, und, da der Dichter tiefer liebt und tiefer leidet an dem Zwiespalt der Wirklichkeit als andere Menschen: weil es das Land des Dichters ist, der den geheimen „Einklang der Natur" vernimmt und von ihm künden soll. Es ist die gleiche Verlagerung Arkadiens und des in ihm beheimateten goldenen Zeitalters in die zeitlose Innerlichkeit, die Schiller in seinem Gedicht ,Der Genius' zum Ausdruck bringen will: Aber die glückliche Zeit ist dahin! Vermessene Willkür Hat der getreuen Natur göttlichen Frieden gestört. Das entweihte Gefühl ist nicht mehr Stimme der Götter, Und das Orakel verstummt in der entadelten Brust. Nur in dem stilleren Selbst vernimmt es der horchende Geist nodi, Und den heiligen Sinn hütet das mystische Wort. Hier beschwört es der Forscher, der reines Herzens hinabsteigt, U n d die verlorne Natur gibt ihm die Weisheit zurück . . . , M

Die ideelle Interpretation Arkadiens in der deutschen Klassik besteht also darin, daß das antike Idealland hier nicht mehr als E n t r ü c k u n g in eine verlorene Ver«"> Torquato Tasso II, 1, V. 998 ff. (a. a. Ο. XII, 130). 181 Säkular-Ausgabe, a. a. Ο. I, 125 (das Gedicht wurde bereits 1795 unter dem Titel „Natur und Schule" in den Hören veröffentlidit).

Die Kritik an der

Hirtenidylle

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gangenheit, sondern als S i n n b i l d einer innerlich errungenen Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst und mit der Natur betrachtet wird Es ist nidit draußen, da sudit es der Tor, Es ist in dir, du bringst es ewig hervor I 8 Î . -

Wenn aber Kant im Zusammenhang mit den Erwartungen eines kommenden goldenen Zeitalters der vollendeten Humanität vom „philosophisdien Chiliasmus" gesprochen hatte, so werden wir damit bereits auf eine andere Überlieferungslinie hingewiesen, die mit der jüdisch-christlichen Vorstellungsform eines .tausendjährigen Reiches' ebenfalls vom Mittelalter zur Neuzeit führt und die, in ständiger Berührung und Auseinandersetzung mit der antiken Idee des goldenen Zeitalters, im 18. Jahrhundert die frühromantische Ausbildung dieser Idee entscheidend beeinflußt hat. Freilich erweist sich in Kants übertragener Bedeutung - „man sieht: die Philosophie könne auch ihren Chiliasmus haben; aber einen solchen, zu dessen Herbeiführung ihre Idee . . . selbst beförderlich werden kann, der also nichts weniger als schwärmerisch ist"288 - nicht eigentlich der theokratisdie Charakter dieser christlichen Heilserwartung als bestimmend, sondern eher ihr konsequenter Zukunftsaspekt, der dem Chiliasmus, anders als der Vorstellung vom goldenen Zeitalter, von jeher eigentümlich war und von dem sich wahrscheinlich alle eschatologischen Geschichtsdeutungen der Neuzeit in einer mehr oder weniger säkularisierten Form ableiten lassen. Dieser „philosophische Chiliasm, der auf den Zustand eines ewigen . . . Friedens hofft" 284 , ist für Kant keine Schwärmerei, sondern entspricht dem in der Auseinandersetzung mit Rousseau proklamierten Idealziel der Geschichte und kann sich in symbolischer Auslegung sogar der Bilder und Wunschvorstellungen des christlichen Chiliasmus bedienen: „Man kann es . . . als eine bloß zur größern Belebung der Hoffnung und Muths und Nachstrebung zu demselben abgezweckte symbolische Vorstellung auslegen, wenn dieser Geschiditserzählung [sc. der Bibel] nodi eine Weissagung . . . von der Vollendung dieser großen Weltveränderung in dem Gemälde eines sichtbaren Reichs Gottes auf Erden (unter der Regierung seines wieder herabgekommenen Stellvertreters und Statthalters) und der Glückseligkeit, die unter ihm . . . hier auf Erden genossen werden soll, . . . beigefügt wird, und so das Ende der Welt den Besdiluß der Geschichte m a c h t . . . Diese Vorstellung . . . ist ein schönes Ideal der ... moralischen, im Glauben vorausgesehenen Weltepoche bis zu ihrer Vollendung ... Die Erscheinung des Antichrists, der Chiliasm, die Ankündigung der Naheit des Weltendes können vor der Vernunft ihre gute symbolische Bedeutung annehmen, und die letztere . . . drückt sehr gut die Nothwendigkeit aus, . . . uns jederzeit wirklich als berufene Bürger eines göttlichen . . . Staats anzusehen . . ," ΐβ5 .

Das tausendjährige Reich Gottes auf Erden und das kommende goldene Zeitalter waren am Ausgang des 18. Jahrhunderts also durchaus fluktuierende Anschauungen, 181 Säkular-Ausgabe, a . a . O . I, 165 („Die Worte des Wahns", 1800 als Bestätigung und Vertiefung der „Worte des Glaubens" von 1797 entstanden). - Goethes spätere, differenziertere Auffassung Arkadiens als eines „halb wahren, halb poetischen Naturzustandes" (Wilhelm Tischbeins Idyllen, hg. von E. Trunz, Hamburg 1947, S. 17) und ihre dichterische Gestaltung im zweiten Teil des ,Kaust' bleibt hier unberücksichtigt. M» Kants Werke, a. a. O. III, 631 (Akademie-Ausgabe VIII, 27). «κ Werke, a. a. 0 . III, 42 (A.-A. VI, 34). «ω Werke, a. a. 0 . III, 143/45 (A.-A. VI, 134/36).

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Die Arkadien-Vorstellung

die sich zu e i n e m Glauben und e i n e r Hoffnung vereinigen konnten. Wir werden daher dieser theokratisch-religiösen Vorstellungsform, die wir schon in der römischen Antike, bei Vergil, als Einflußsphäre aufdecken konnten und die namentlich auf Novalis, durdi seine pietistische Herkunft vermittelt, eingewirkt hat, in einem letzten Kapitel unserer ideengesdiichtlidien Untersuchung nachgehen müssen.

IV. Kapitel

Der christliche Chiliasmus als zweite Überlieferungslinie vom Mittelalter zur Neuzeit

Der Chiliasmus, der sidi wie ein mächtiger, wenn audi im wesentlichen unterirdischer Strom durch die gesamte Religions- und Geistesgeschichte hindurchzieht, ist von der Gewißheit getragen, daß eine Erneuerung des paradiesischen Urzustandes und eine Erfüllung aller menschlichen Heilsträume in naher Zukunft bevorstehe; er erhofft den Anbruch eines .tausendjährigen Reiches', das durch Christus, den wiederkehrenden Messias und Heilsbringer, vor dem Ende der Geschichte auf Erden begründet werden und die auferstandenen Märtyrer und standhaften Gläubigen nach allen Drangsalen und Verfolgungen zu einem glückseligen Leben in Frieden und Gerechtigkeit vereinigen soll. Betrachtet man den Chiliasmus nadi den für ihn wesentlichen Grundvorstellungen - sein Name beruht auf dem an sich nebensächlichen Zug, daß dieses Zwischenreich vor dem Anbruch des Jüngsten Gerichtes und dem damit eröffneten neuen, himmlischen Äon nadi der herrschenden Meinung tausend Jahre dauern wird 1 - , so erscheint er älter als das Christentum und gehört der allgemeinen Religionsgeschichte an. Die Geschichtsauffassung, die ihm zugrundeliegt, ist von der transzendenten Thematik aller großen Erlösungsreligionen, vor allem der iranischen und jüdisdien, bestimmt, denen die irdische Geschichte immer als ein Wegestück zwischen dem absoluten Anfang und dem absoluten Ende der Menschheitsgesdiidite erscheint: jenen heilsgeschichtlichen Polen, die ihrerseits durch das nicht menschliche, sondern göttliche Handeln im voraus bestimmt sind und damit der irdischen Geschichte Ursprung und Ziel zuweisen2. Dieser Glaube an eine durch transzendente Macht bewirkte Lenkung der Geschichte, dieses Gefühl des Menschen, Werkzeug und Mittler eines notwendig sich erfüllenden, göttlichen Heilsplanes zu sein, ist allen diiliastisdien Zukunftserwartungen eigentümlich und verleiht ihnen gerade in Zeiten der tiefsten Not, der verheerendsten Kriege und Heimsuchungen den Ton einer unbeirrbaren Prophetie; es ist das erste, kennzeichnende Glaubensmotiv, das der Chiliasmus in die antiken Träume von einem goldenen Zeitalter hineingetragen hat. Was ihm vorschwebt, ist weder ein ferner, sagenhafter Wunschraum noch eine ferne, mythisch verklärte Wunschzeit, sondern „das Ende

1 Vgl. W. BAUER, Artikel .Chiliasmuj", in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. II, 1954, Sp. 1073 ff. Zur Zahlensymbolik der .tausend" Jahre, die sieh ähnlich in iranischen und jüdischhellenistischen Weltalter-Vorstellungen findet, vgl. A. WIKENHAUSER, Die Herkunft der Idee des tausendjährigen Reiches in der Johannes-Apokalypse, in: Römische Quartalschrift f. christliche Altertumskunde u. f. Kirchengeschichte, Bd. 45, 1937, S. 1 ff., insbesondere S. 23 f. * Vgl. unsere Arbeit, S. 74 ff.

188

Der christliche

eines A n f a n g s , der bereits . . .

Chiliasmus

geschichtliche W i r k l i c h k e i t g e w o r d e n ist, d a s

Ziel

e i n e s P f e i l e s , d e r b e r e i t s a b g e s c h o s s e n ist, d e r T r e f f p u n k t e i n e r B e w e g u n g , d i e b e r e i t s b i s n a h e a n i h r E n d e g e k o m m e n ist" 3 . D i e s e s G e s c h i c h t s b e w u ß t s e i n v e r b i n d e t sidi n u n m i t e i n e m zweiten, darin n o t w e n d i g verankerten G l a u b e n s m o t i v , der erhofften A n k u n f t eines göttlichen Herrschers, eines Friedensfürsten oder g o t t g e s a n d ten Erlöserkindes, d i e d e n Einbruch der T r a n s z e n d e n z in die Geschichte s i n n f ä l l i g verkörpern und in deren H ä n d e die W i e d e r k e h r des goldenen Zeitalters, die H e r aufführung des großen Weltfriedensreiches a m E n d e aller T a g e gelegt

werden

k a n n . „ M e n s c h e n h ä n d e t h u n n i c h t s d a b e i " , h e i ß t e s n o c h i m 18. J a h r h u n d e r t

bei

F r i e d r i c h C h r i s t o p h O e t i n g e r 4 . D i e A i e w i ß i - E r w a r t u n g ist a l s o m i t d e r V o r s t e l l u n g d e s t a u s e n d j ä h r i g e n Reiches u n t r e n n b a r v e r k n ü p f t u n d w i r d als solche durch a l l e s ä k u l a r e n u n d s p i r i t u a l i s t i s c h e n D e u t u n g e n h i n d u r c h b e w a h r t ; v o n ihr h e r e r h ä l t d i e (hiliastische P r o p h e t i e ihren i m e n g e r e n S i n n e religiösen, d. h. ekstatischen

Glau-

benscharakter, d e r sie d e m menschlichen P l a n e n u n d H a n d e l n entrückt u n d n u r in der verheißungsvollen A u s m a l u n g des k o m m e n d e n

Glückszustandes

in e i n e

un-

m i t t e l b a r e , v o m f r ü h c h r i s t l i c h e n C h i l i a s m u s b i s z u m P i e t i s m u s d e s 18. J a h r h u n d e r t s h i n sogar ausdrücklich b e t o n t e B e z i e h u n g zur a n t i k e n I d e e des g o l d e n e n Zeitalters treten läßt. D i e s e Beziehungen zu v e r f o l g e n soll der Sinn der f o l g e n d e n Untersuchung sein. W i r können hier weniger denn j e eine ,Geschichte' des christlichen Chiliasmus entwerfen; dafür sei auf die entsprechende, allerdings dürftige Literatur verwiesen 5 . Vielmehr w o l l e n wir uns auf d e n auch diditungsgesdiiditlidi bedeutsamen Aspekt beschränken, der die hier im religiösen Vorstellungsbereich auftauchenden Wunschbilder des tausendjährigen Reiches in eine unmittelbare Nachbarschaft zur Idee des goldenen Zeitalters rückt, und einige Stationen aus der Gesdiidite des Chiliasmus hervorheben, die seine innere Kontinuität bis zum Pietismus des 18. Jahrhunderts hin beweisen. Dabei werden uns vor allem j e n e literarisch f a ß baren und a n ausgewählten Quellen exemplarisch verdeutlichten Endzeiterwartungen beschäftigen, die das pietistisdi-diiliastische Bild der kommenden „güldenen Zeit" unter Christus als dem „Weltmonarchen" bestimmt haben und die für unsere N o v a l i s - U n t e r suchung besonders aufsdilußreidi sind'.

» E. BENZ, Die Geschiditsmetaphysik Jakob Böhmes, in: DVjs. Bd. 13, 1935, S. 452. 4 F. C. Oetinger, Die güldene Zeit oder Sammlung wichtiger Betrachtungen von etlichen Gelehrten zur Ermunterung in diesen bedenklichen Zeiten zusammen getragen (1759). Sämmtlidie Schriften, hg. von K. Ch. E. Ehmann. Zweite Abtheilung: Theosophisdie Sdiriften. Bd. VI, Stuttgart 1864, S. 13. 8 Es erscheint kennzeichnend für die Forsdiungslage, daß an Gesamtdarstellungen des Chiliasmus noch immer Heinrich Corrodis .Kritische Geschichte des Chiliasmus', einseitig vom Standpunkt der Aufklärung her geschrieben und entsprechend negativ wertend, unentbehrlich ist; vor allem im III. Band wird hier eine Fülle von heute kaum mehr zugänglichem Material zur Geschichte des Chiliasmus im 16.-18. Jahrhundert herangezogen (H. Corrodi, Kritische Geschichte des Chiliasmus, Oder der Meynungen über das Tausendjährige Reich Christi. 2. [Titel-]AufI., Bd. I-III, 1. 2., Zürich 1794; die 1. Aufl. erschien in Frankfurt-Leipzig 1781). Einen wertvollen, allerdings sehr knappen Überblick und eine reichhaltige Bibliographie zur neueren Zeit bietet A. PAUST, Das .Tausendjährige Reich' in Geschichte und neuester Literatur. Alere Flammam, Georg Minde-Pouet zum fünfzigsten Geburtstage gewidmet. Leipzig 1921, S. 60 ff. Die letzte und, soweit ich sehe, einzige Gesamtdarstellung nach Corrodi gibt W . NIGG in seinem Werk: Das ewige Reich. Geschichte einer Hoffnung. 2., überarbeitete Aufl., Zürich 1954; das Buch vertritt einen apologetischen Standpunkt, ist aber in den Quellenangaben nicht immer zuverlässig, offenbar zumeist aus zweiter Hand schöpfend, und schwankt zwischen einer populär-erbaulidien und wissenschaftlich-exakten Darstellung. - Zum mittelalterlichen Chiliasmus vgl. neuerdings N. COHN, Das Ringen um das Tausendjährige Reich, Bern-München 1961; auf weitere Literatur zu den einzelnen Phasen des Chiliasmus wird im Folgenden hingewiesen werden. 6 Vgl. unsere Arbeit, S. 243ff.; 348 f.; 381 ff.

Die jüdische

Apokalyptik

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1. Die jiidisdie Apokalyptik und die christliche Vorstellungsform des .tausendjährigen Reiches' Der Chiliasmus ist dem Christentum aus älteren, jüdischen Heilserwartungen zugeflossen. Schon in der israelitischen Prophetie und späteren Apokalyptik wird ein messianisches Endreich verkündigt und ausgemalt, das neben dem neuen MittlerMotiv eines gottgesandten Königs und Weltherrschers die älteren, uns bekannten Wunschvorstellungen vom goldenen Zeitalter in sich vereint7. Charakteristisch dafür ist vor allem Isaias, auf den sich audi der christliche Chiliasmus späterer Zeiten immer wieder berufen wird. Er verkündet die Geburt eines Kindes, eines Gotthelden und Friedensfürsten, der auf dem Throne Davids über alle Königreiche der Erde herrschen und ewigen Frieden und Gerechtigkeit über die Welt verbreiten wird: „Et vocabitur nomen ejus: Admirabilis, consiliarius, Deus, fortis, pater futuri saeculi, princeps pacis. Multiplicabitur ejus imperium, et pacis non erit finis: super solium David, et super regnum ejus sedebit, ut confirmet illud, et corroboret in judicio et justitia, amodo et usque in sempiternum . . ."8.

Das ideale Weltreich, das so mit dem Erscheinen des geweissagten Messias verknüpft wird, wird als das Reich Israels begriffen, das nach den tiefsten Erniedrigungen und Heimsuchungen seiner leiderfüllten Geschichte alle Heidenvölker unterwerfen und im Bundesschluß mit Gott ewige Dauer erlangen wird·. Vor allem in der spätjüdischen Apokalyptik, im zweiten Buche des Propheten Daniel, hat dieser Gedanke von der Weltherrschaft Zions sich zu dem geschiditsphilosophischen Bilde der vier großen, einander ablösenden Weltmonarchien verdichtet, die, im Anklang an die Weltalterlehre Hesiods, ebenfalls nach den Metallen als golden, silbern, ehern und eisern-tönern bezeichnet werden, denen dann aber als letzte das irdische Gottesreich der Juden folgen und ewigen Frieden und Glückseligkeit über die Auserwählten bringen wird: „In diebus autem regnorum illorum suscitabit Deus caeli regnum, quod in aeternum non dissipabitur, et regnum ejus alteri populo non tradetur: comminuet autem, et consumet universa regna haec, et ipsum stabit in aeternum . . ."10.

Mit dieser Geschichtsdeutung, die später, auf das babylonische, persisch-assyrische, griechische und römische Weltreich übertragen, die Grundlage der gesamten mittel7 Zum Ursprung der israelitisdi-jüdisdien Eschatologie vgl. vor allem das gleichnamige Budi von H. GRESSMANN, a . a . O . S. 193ff. (,Die Heilseschatologie: Das goldene Zeitalter'); ferner H. G U N K E L , Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit, a. a. O.; A. F R H R . VON G A L L , Βασιλεία τοΰ θεοΰ. Eine religionsgesdiiditlidie Studie zur vorkirdilidien Eschatologie. Religionswissensdiaftl. Bibliothek, Bd. 7. Heidelberg 1926. Die beste und zusammenfassende Darstellung zur Herkunft und Wirkungsgesdiidite der Messias-Erwartung bietet das umfängliche Werk von H. GRESSMANN, Der Messias. Forschungen zur Religion u. Literatur des Alten u. Neuen Testaments, NF. Heft 26. Göttingen 1929. 8 Isaias 9, 6-7 (Biblia Sacra Vulgatae Editionis). Ein Eingehen auf textkritisdie Fragen erübrigt sich, da es uns hier nur auf eine systematisdie Zusammenstellung der alttestamentlidien Verheißungsmotive ankommt. • Vgl. Isaias 49, 23; 54, 3; 66, 18; Zacharias 9, 10; Oracula Sibyllina III, 652 ff. u. a. m. 10 Daniel 2, 44. Zur Interpretation vgl. M. NOTH, Das Gesdiichtsverständnis der alttestamentlidien Apokalyptik, a. a. O.

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Der dmstlidie

Chiliasmus

alterlidi-diristlidien Weltdironistik bilden sollte11, verbinden sidi nun aber jene Wunschvorstellungen, die uns bereits in der antiken Überlieferung vom goldenen Zeitalter begegnet waren. Der ewige Frieden, der das kommende Messiasreich erfüllen wird 12 , hält auch in die Natur seinen Einzug: Wolf und Lamm, Kalb und junger Löwe werden einträchtig nebeneinander weiden, und das Kind wird gefahrlos an der Höhle der Otter spielen können; Berge und Hügel und Wälder werden jubeln über den Anbruch der neuen Heilszeit; alle Täler werden erhöht und alle Berge erniedrigt werden, so daß eine Aussöhnung der Gegensätze eintritt und die paradiesische Harmonie des Endreichs in einer Umwandlung und Erneuerung der ganzen Natur ihren Ausdrude findet: „Habitabit lupus cum agno, et pardus cum haedo accubabit: vitulus et leo, et ovis simul morabuntur, et puer parvulus minabit eos . . . Et delectabitur infans ab ubere super foramine aspidis . . . Montes et colles cantabunt coram vobis laudem, et omnia ligna regionis plaudent manu . . . Omnis vallis exaltabitur, et omnis mons et collis humiliabitur, et erunt prava in directa, et aspera in vias planas . .

Überfluß und Reichtum werden herrschen, denn die Berge werden von süßem Wein triefen und die Hügel von Milch fließen; alle köstlichen Früdite von Korn und Wein und ö l wird die fruchtbare Erde freigebig den Menschen spenden: „Et erit in die illa: stillabunt montes dulcedinem, et colles fluent lacté . . . " u . Auch die Tagesund Jahreszeiten werden sich verwandeln; es wird weder Hitze noch Kälte geben, die Sonne wird nicht mehr untergehen und der Mond wird seinen Schein nicht verlieren, so daß ein ewiger Frühling und ein beständiger Tag über den gerechten, gotterleuchteten Menschen der Endzeit walten wird: „Et erit dies una, . . . non dies ñeque nox, et in tempore vesperi erit lux . . „ N o n occidet ultra sol tuus, et luna tua non minuetur, quia erit tibi Dominus in lucem sempiternam . . ."15.

Es handelt sich um eine Wiederkehr der glücklichen Paradieseszeit, wie sie allerdings erst von der spätjüdischen Apokalyptik klar ausgesprochen wird: „Vobis enim apertus est paradisus"19. Der großen Umwandlung in der Natur entspricht daher 11

Vgl. unsere Arbeit, S. 213 ff. Isaías 2, 4: „Et conflabunt gladios suos in vomeres, et lanceas suas in falces: non levabit gens contra gentem gladium, nec exercebuntur ultra ad proelium"; ähnlich Hosea 2, 20; Micha 4, 3 u. a. m. " Isaías 11, 6-8; 55, 12; 40, 4; vgl. audi Or. Sib. III, 785 ff. u. a. m. 14 Joel 4, 18; vgl. auch Amos 9, 13; vor allem aber die ausführliche Schilderung Or. Sib. III, 741 ff. (Ed. A. KURFESS, a. a. O. S. 106/107). Zur Herkunft dieser Motive aus dem Vorstellungsbereich des Götterlandes in Babylonien vgl. H. GRESSMANN, Der Ursprung der israelitisch-jüdischen Eschatologie, a. a. O. S. 211 ff. 15 Zacharias 14, 7 und Isaías 60, 20; vgl. auch Or. Sib. VIII, 214 f. („Aber wenn Gott dann die Zeiten geändert . . .Winter zum Sommer gemacht, dann erfüllen sich all seine Worte . . Ed. A. KURFESS, a. a. O. S. 171). In diesem Motiv klingt zwar die antike Vorstellung vom ewigen Frühling, die aus dem griechischen Götterland und Elysium ins goldene Zeitalter hinübergewandert war, deutlich genug an; aber sie wird schon bei Isaias allegorisch auf das einige Liât Gottes bezogen. Im christlichen Chiliasmus finden sich dann beide Vorstellungen in einer charakteristischen Grenzverwischung: die Vermählung der Jahres- und Tageszeiten (vgl. etwa Lactantius, Divinarum Institutionum Lib. VII, 16, 9; VII, 24, 7; später bei Novalis I, 249) und das ewige SonnenliAt Gottes, das die Scheidung von Tag und Nacht aufhebt (vgl. etwa Joh.-Apk. 22, 5; später bei Novalis I, 64: „Und unser aller Sonne / Ist Gottes Angesicht"). U 4. Esra 7, 36; vgl. ferner Or. Sib. III, 769; 2. Henoch 65, 10; 1. Baruch-Apk. 4, 6; Joh.-Apk. 2, 7 u. a. m. Näheres zur Wiederkehr des Paradieses in den Anschauungen der spätjüdischen Apokalyptik findet sich vor allem bei P. VOLZ, Jüdische Eschatologie von Daniel bis Akiba. Tübingen 1903, S. 344 ff. 11

Die jüdisdie

Apokalyptik

191

audi die innere und äußere Umwandlung des Mensdien. Denn wenn die neue Zeit anbricht, werden nidit mehr Satzungen und Statute sein Handeln bestimmen, sondern das Gesetz Gottes wird in sein Inneres gelegt und ihm ins Herz geschrieben werden: „Dabo legem meam in visceribus eorum, et in corde eorum scribam eam"17. Damit kehrt die alte Gerechtigkeit der Urzeit zurück18, und audi Krankheit und Alter werden, wie im Paradiese, unbekannt sein1». Prüfen wir die Bilder, die dieser Ausmalung des messianisdien Reiches zugrundeliegen, so erkennen wir, daß es sich um eine Abwandlung der utopischen Urmotive handelt, die uns in der antiken Überlieferung vom goldenen Zeitalter begegnet waren. Der Harmonie zwischen Mensdi und Natur entsprechen die Bilder des seligen Tierfriedens und der freiwillig, im Überfluß schenkenden Erde, der Harmonie zwischen den Menschen entspricht das Bild von der Zerstörung aller Waffen und dem damit anbrechenden ewigen Frieden unter den Völkern der Erde, der Harmonie zwischen Mensdien und Göttern entspricht das Bild des gottgesandten Heilands, der dieses Endzeitalter heraufführen und es zu einem Gottesreidi gestalten wird, in dem Gott selbst, den Glanz der Sonne und des Mondes verdrängend, sein immerwährendes Licht dem auserwählten Volk schenken wird. Hier sind in der Tat fast alle Wunschmotive vorgeprägt, mit denen später der christliche Chiliasmus, unter Ausweitung des jüdisch-nationalen Heilsanspruches auf die ganze christliche Welt, das Glück des tausendjährigen Reiches ausschmücken wird; als Wiederkehr des Paradieses bringt es zugleich eine Erneuerung jener dreifachen Harmonie von Gott, Mensch und Natur, die audi den Urzeit-Vorstellungen des griechischen und römischen Weltalter-Mythos zugrundelag. Aber während das Judentum das messianisdie Weltreich zunächst als endgültige, dabei dennoch irdisdi-politisdi gedachte Vollendung der Weltgeschichte gedeutet hatte, mußte das Christentum, nachdem schon unter dem Einfluß der Apokalyptik die Jenseitsgedanken von Auferstehung, Weltgericht, ewigem Leben und ewigem Tode das esdiatologisdie Bild des kommenden Äons immer stärker bestimmt hatten, das messianisdie Erdenreidi auf einen Z w i s c h e n z u s t a n d beschränken, der vor dem letzten Entscheidungskampf und der dann anbrechenden ewigen Seligkeit für die Gläubigen noch einmal alle irdisdien Hoffnungen auf sidi versammeln konnte20. Das Gottesreich, das Christus verkündigt hatte, war nicht von dieser Welt 21 ; der 17

Jeremias 31, 33; vgl. Isaías 11, 9; Ezechiel 11, 19; 36, 26 u. a. m. Besonders deutlich wird diese Anknüpfung bei der jüdischen Ursibylle, Or. Sib. III, 218ff.: „Uralt ist eine Stadt auf Erden, das Ur der Chaldäer; / Daraus ist das Geschlecht der gerechtesten Mensdien entsprossen, / Die stets guter Gesinnung und herrlicher Werke bedacht sind . . und Or. Sib. III, 373 ff. darauf die Schilderung der kommenden Glückszeit: „Rechtlichkeit wird kommen vom sternreichen Himmel auf Erden / Und die Gerechtigkeit, und in ihrem Gefolge zieht ein die / Maßvolle Eintracht bei allen Mensdien und Liebe und Treue, / Freundschaft sogar mit den Fremden, es schwindet gänzlich auf Erden / Armut, es schwindet die Not, auch Gesetzlosigkeit und die Schelsudit.. (Ed. A. KURFESS, a. a. O. S. 8 0 / 8 1 u. 8 8 ff.). 1( Isaias 6 5 , 2 0 ; Zacharias 8 , 4 ; vgl. H . GRESSMANN, a. a. O . S . 2 0 4 f. 10 Die Auffassung eines Zwischenreiches ist bereits im Henoch-Buch 93, 1-14, in den Or. Sib. III, 652 ff., in 4. Esra 7, 28ff., in der Banich-Apk. 29, 3; 30, 1; 40, 3; 74, 2 vorbereitet; vgl. dazu A. W I K E N H A U S E R , Das Problem des tausendjährigen Reiches in der Johannes-Apokalypse, in: Römische Quartalschrift 40, 1932, S. 23 f., und J. SICKENBERGER, Das Tausendjährige Reich in der Apocalypse. Festschrift f. Sebastian Merkle, hg. von W. Schellberg. Düsseldorf 1922, S. 300 ff. « Joh.-Ev. 18, 36. 18

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Der christliche

Chiliasmus

ewige Frieden, den er seinen Jüngern verheißen konnte und wollte, gehörte nicht zu den Gaben dieser Welt 22 . Das tausendjährige Reich, das in seiner Botschaft vom kommenden Gottesreidi keinen Raum hatte, muß daher als der Versuch der urdiristlidien Gemeinde gedeutet werden, an den jüdischen Überlieferungen festzuhalten und angesichts der Enttäuschung über das ausbleibende Weltende die weiterhin erwartete Wiederkehr Christi mit einem irdischen Ausgleich für die harten Verfolgungen und das Märtyrerschicksal vieler Gläubigen zu verbinden. In dieser Form hat die Apokalypse des Johannes, um 90 n. Chr. unter dem deutlichen Einfluß der jüdisch-apokalyptischen und sibyllinisdien Literatur entstanden28, dem christlichen Chiliasmus seinen für die kommenden Jahrhunderte wegweisenden, kirchlicherseits schon frühzeitig bekämpften und umgedeuteten Ausdruck verliehen. Hier wird, nach einer Schilderung des eschatologischen Heilskrieges zwischen dem wiederkehrenden Christus und den heidnischen Völkerheeren, im 20. Kapitel die Herabkunft eines Engels vom Himmel prophezeit, der den Drachen, den Satan und Antichristen, auf tausend Jahre fesseln und in den Abgrund werfen wird; daraufhin werden die verfolgten und hingerichteten Christen auferweckt werden und mit Christus tausend Jahre in Gerechtigkeit und Frieden herrschen: „Et vidi Angelum descendentem de caelo, . . . et apprehendit draconem, serpentem antiquum, qui est diabolus et satanas; et ligavit eum per annos mille; et misit eum in abyssum, et clausit, et signavit super illum, ut non seducat amplius gentes, donee consummentur mille anni . . . Et vidi sedes, et sederunt super eas, et judicium datum est illis; et animas decollatorum propter testimonium Jesu et propter verbum Dei; . . . et vixerunt et regnaverunt cum Christo mille annis. Ceteri mortuorum non vixerunt, donec consummentur mille anni; haec est resurrectio prima . .

Erst wenn diese tausend Jahre der Christus-Herrschaft auf Erden vollendet sind, wird der Satan losgebunden, und es beginnt der letzte, zerstörende Glaubenskrieg, der zum Weltuntergang und zum Jüngsten Gericht führen wird. Dann werden Himmel und Erde und Meer vergangen sein, und man wird einen neuen Himmel und eine neue Erde („caelum novum et terram novam") sehen: die heilige Stadt, das neue Jerusalem, wird sich vom Himmel herabsenken auf die Erde und den herrlich geschmückten Mittelpunkt des neuen Gottesreiches bilden, das nicht mehr von dieser Welt ist. In ihm wird es keine Nacht mehr geben, sondern Gottes Licht wird über alle Seligen leuchten; erst dieses Reich wird dauern in alle Ewigkeit („in saecula saeculorum")25.

22

Joh.-Ev. 14, 27. Vgl. W. NIGG, Das ewige Reidi, a. a. O. S. 29 ff. Vgl. die neuere Arbeit von H . BIETENHARD, Das tausendjährige Reidh. Eine biblisdi-theologisdie Studie. Diss. (Basel), Bern 1 9 4 4 , sowie A. WIKENHAUSER, Die Herkunft der Idee des tausendjährigen Reiches in der Johannes-Apokalypse, a. a. 0 . 24 Joh.-Apk. 20, 1-5. Neben diesem locus classicus für den diristlidien Chiliasmus wäre nur nodi die umstrittene Stelle bei Paulus, 1. Korinther 15, 23-25 zu nennen, wo die Vorstellung eines Zwisdhenreidhes bei der Wiederkunft Christi angedeutet wird: „Oportet autem illum regnare, donec ponat omnes inimìcos sub pedibus ejus ... Cum autem subjecta fuerint illi omnia: tunc et ipse Filius subjectus erit ei, qui subjecit sibi omnia, ut sit Deus omnia in omnibus . . .". 25 Joh.-Apk. 20, 7ff. u. 21, Iff. Zur Vorstellung des „neuen Jerusalem", die im Chiliasmus eine große Rolle zu spielen berufen war, vgl. H. BIETENHARD, Die himmlisdie Welt im Urdiristentum und Spätjudentum. Wissensdbaftl. Untersudhungen zum Neuen Testament, Bd. 2. Tübingen 1951, S. 192 ff. 15

Die diristlidie

Vorstellung}form

des tausendjährigen

Reiches

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Das 20. Kapitel der Johannes-Apokalypse ist gleidisam die Magna Charta des gesamten diristlidien Chiliasmus der folgenden Jahrhunderte geworden; es lieferte den Grundriß für alle Diesseitshoffnungen des Christentums, dessen Ausmalung in mehr oder weniger sinnlichen Farben der jeweiligen Zeitstimmung und ihren religiösen, politischen oder sozialen Wunschträumen überlassen blieb. Das tausendjährige Reich wird zwar von dem neuen, ewigen Jerusalem am Ende aller Tage getrennt - kann es doch die jenseitige Seligkeit des verheißenen Gottesreiches nicht ersetzen und bildet nur ihre irdische Vorstufe, gleichsam ihre „faktische Prophétie" 2 · - , aber der schon frühzeitig entbrennende Kampf um die Rechtgläubigkeit dieser irdischen Heilserwartung zeigt, daß den Spiritualisierungstendenzen des Christentums hier eine Grenze gesetzt war. Das entscheidende Motiv dafür wird deutlich, wenn wir die Äußerungen eines Irenäus oder Tertullian, zweier überzeugter Vertreter des frühchristlichen Chialismus im ausgehenden 2. Jahrhundert n. Chr., zur Verteidigung ihrer Lehre heranziehen. Denn das tausendjährige Reich, so heißt es bei Irenäus in seiner Kampfschrift gegen die Häresien, dürfe nidit allegorisch verstanden werden; in d i e s e r Welt, in der die Christen geduldet und gelitten haben, werden sie gerechterweise auch die Früchte ihrer Geduld empfangen: „In qua enim conditione laboraverunt, sive afflicti sunt, omnibus modis probati per sufferentiam, justum est in ipsa recipere eos fructus sufferentiae; et qua conditione interfecti sunt propter Dei dilectionem, in ipsa vivifican; et in qua conditione servitutem sustinuerunt, in ipsa regnare eos

Und ähnlich erklärt Tertullian in seiner Kampfschrift gegen Marcion, daß an der Verheißung eines Reiches auf Erden vor dem Eintritt des Himmelreiches festgehalten werden müsse, denn es sei gerecht und Gottes würdig, daß seine Diener an dem gleichen Orte, wo sie um seines Namens willen Leiden erduldeten, auch frohlocken: „Nam et confitemur in terra nobis regnum repromissum, sed ante caelum, sed alio statu; utpote post resurrectionem in mille annos, in civitate divini operis Jerusalem cáelo delata . . . Siquidem et justum, et Deo dignum, illic quoque exultare fámulos ejus, ubi sunt et afflicti in nomine ipsius

Der Chiliasmus erweist sich damit als der Versuch, in den Zeiten der Christenverfolgungen und -leiden an einem i r d i s c h e n Ausgleich der göttlichen Gerechtigkeit festzuhalten und das verheißene Friedensreich Christi als letztes Ziel der vom Glaubenskampf zerrissenen Weltgeschichte zu verkünden29.

H. FREYER, Die politische Insel. Eine Geschichte der Utopien von Piaton bis zur Gegenwart. Leipzig 1936, S. 85. " Irenäus, Adversus Haereses Lib. V, 82, 1 (Migne, Patrologia Graeca, Tom. VII, p. 1210). Zum Chiliasmus des Irenäus vgl. ferner Lib. V, 30, 4 und V, 35, 1 ff. Bedeutsam erscheint vor allem die Ablehnung der allegorischen Auslegung des tausendjährigen Reiches, die sich durch den ganzen späteren Chiliasmus hindurchzieht: .Et nihil allegorisari potest, sed omnia firma et vera, et substantiam habentia, ad fruitionem hominum justorum a Deo facta" (Lib. V, 35, 2; Patrologia Graeca VII, 1220). 28 Tertullian, Adversus Marcionem Lib. III, 24 (Migne, Patrologia Latina, Tom. II, p. 384/85). 29 Eine ähnliche Argumentation zur Rechtgläubigkeit der Lehre vom tausendjährigen Reich findet sich noch bei Johann Caspar Lavater, Aussichten in die Ewigkeit, in Briefen an Hrn. Joh. Georg Zimmermann. Zwote verbesserte Auflage, Bd. I, Hamburg 1773, S. 93 f. (unter Hinweis auf Irenäus und Tertullian). 13 Mähl, Die Idee des goldenen Zeitalters

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Der christliche

Chiliasmus

Mit dieser irdischen Zukunftshoffnung war jedoch dem Christentum die Möglichkeit gegeben, alle antiken Überlieferungen vom goldenen Zeitalter als verschleierte Weissagungen auf Christus und das von ihm zu begründende tausendjährige Reich zu deuten. Der Hinweis auf die fast gleichlautenden prophetischen Erwartungen des Alten Testamentes konnte sich dabei mit einer gewagten, aber bis zum Pietismus des 18. Jahrhunderts hin mit Ernst vertretenen Entlehnungstheorie verbinden. Schon bei Lactantius heißt es um die Wende des 3. und 4. Jahrhunderts n. Chr., daß mit dem tausendjährigen Reiche endlich alles das eintreffen werde, wovon die heidnischen Dichter verkündet hätten, daß es im goldenen Zeitalter schon unter des Saturnus Herrschaft eingetroffen sei. Dieser Irrtum sei dadurch entstanden, daß ihnen durch den göttlichen Geist die wunderbaren Erscheinungen der Zukunft dargeboten worden seien, daß sie aber, als in die heiligen Geheimnisse Uneingeweihte, glauben mußten, alles sei in grauer Vorzeit schon erfüllt worden - was ja, wie Lactantius ausdrücklich hinzufügt, unter eines Menschen Herrschaft unmöglich sich erfüllen konnte - , so daß die Sage vom goldenen Zeitalter irrigerweise in dieser Form einer Verklärung der Urzeit verbreitet worden sei : „Denique tune fient illa, quae poetae aureis temporibus facta esse jam Saturno regnante dixerunt. quorum error hinc exortus est, quod prophetae futurorum pleraque sic proferunt et enuntiant quasi iam peracta. visiones enim divino spiritu offerebantur oculis eorum, et videbant ilia in conspectu suo quasi fieri, ac terminari. quae vaticinia eorum cum paulatim fama vulgasset, quoniam profani sacramenta ignorabant quatenus dicerentur, completa iam esse veteribus saeculis ilia omnia putaverunt, quae utique fieri complerique non poterant homine regnante ..

Ähnlich äußert sich noch der Hauptvertreter des schwäbischen Pietismus im 18. Jahrhundert, Friedrich Christoph Oetinger, wenn er in seiner Betrachtung der .güldenen Zeit', worunter er das kommende Reich Christi verstehen will, auf die alten antiken Dichter hinweist und ihre Schilderungen mit Tertullian auf die alttestamentlichen Propheten oder jüdisch-hellenistischen Sibyllen zurückführt: „Von der güldenen Zeit haben sdion die ältesten Scribenten, als Hesiodus, Homerus, Virgilius, Ovidius Meldung gethan. Sie haben es theils aus den Sibyllinisdien Weissagungen, welche noch zu Ciceros Zeiten in Rom von dem Magistrat verwahrt worden, theils aus den Propheten selbst genommen, und haben es hernach mit Fabeln . . . überkleidet. Tertullianus in seiner Apologie sagt es den Heiden in das Gesicht: wer ist unter den Poeten, wer ist unter den Philosophen, der nicht aus der Quelle der Propheten geschöpft? Daß aber die Sibyllen von Christo und seiner güldenen Zeit geschrieben, und daß audi die Poeten vieles daraus genommen, das erklärt Cicero und Virgilius . . . in seiner vierten Ekloge . . ."31. 80 Lactantii Divinarum Institutionum Lib. VII, 24, 9-10 (Migne, Patrologia Latina, Tom. VI, p. 810). - Es erscheint mir bedeutsam, dafi dieses Argument fast gleidilautend im .philosophischen Chiliasmus' des 18. Jahrhunderts wiederkehrt. Audi in Fichtes bereits erwähnter Auseinandersetzung mit Rousseau wird das goldene Zeitalter der Diditer als Irrtum hingestellt: „Es ist . . . überhaupt eine besonders in der Vorwelt häufig vorkommende Erscheinung, dafi das, was wir w e r d e n sollen, gesdiildert wird, als etwas, das wir schon g e w e s e n sind, und dafi das, was wir zu erreichen haben, vorgestellt wird als etwas Verlornes . . ." (Fichtes Werke, a. a. O. I, 270/71). Zugrunde liegt in beiden Fällen, und darin offenbart sidi ein wichtiges, gemeinsames Strukturelement (trotz aller Unterschiede der Argumentation), die angespannte Glaubenskraft des Chiliasten, der ganz auf ein in der Zukunft liegendes Ziel der Menschheitsgeschichte gerichtet ist und ihm alle verführerische Farbenpracht verleihen möchte, die den Blick früher in eine paradiesische Vergangenheit zurückgelenkt hat. " Oetinger, Sämmtliche Schriften, a. a. O. VI, 3.

Die Aristlidie

Vorstellungsform

des tausendjährigen

Reiches

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Aus diesen Worten Oetingers geht bereits hervor, daß die Übernahme der antiken Vorstellungen vom goldenen Zeitalter durch die zunächst jüdische, dann christliche Bearbeitung der .Oracula Sibyllina' vorbereitet und motiviert wurde - jener im letzten Jahrhundert vor der Zeitenwende weitverbreiteten heidnischen Weissagungsliteratur, die, auf ältere Orakelspriiche zurückgreifend, vor allem die Messias-Erwartung in den Mittelpunkt ihrer eschatologischen Verkündigung gestellt hatte32. In den ältesten Stücken dieser Orakelsammlung, die erst zu Beginn des 6. Jahrhunderts in der heute vorliegenden Form von zwölf Büchern zusammengestellt und im christlichen Sinne redigiert wurde, wird bereits auf das goldene Weltalter Hesiods Bezug genommen und im Rahmen einer prophetischen Geschichtserzählung die Wiederkehr der glückseligen Urzeit durch einen vom Osten entsandten Erlöserkönig in Aussicht gestellt83. Damit konnten sie nicht nur für Christus und das auf seine Wiederkunft bezogene tausendjährige Reich in Anspruch genommen werden eine Tendenz, die durch die späteren, christlichen Sibyllen-Dichtungen vom 1. bis 3. Jahrhundert n. Chr. verstärkt wurde84 - sondern auch eine Heranziehung der heidnischen Poeten rechtfertigen, die in ähnlicher Weise von einer goldenen Urzeit des Menschengeschlechtes berichtet oder, wie Vergil in seiner vierten Ekloge, unter dem Einfluß der in Rom umlaufenden Sibyllensprüche sogar ein k o m m e n d e s goldenes Zeitalter verkündigt hatten. Die interpretado Christiana Vergils, auf die wir bereits in anderem Zusammenhang hingewiesen haben, wurde daher auch für diesen Zusammenfluß der antiken und der christlichen Idee von besonderer Bedeutung. „Sâturnus riche komet wider", das konnte nun, wie es in einem Weihnachtsspiel des 13. Jahrhunderts sinnfällig zum Ausdruck kommt, auf das kommende Gottesreidi bezogen und als Vorahnung der christlichen Heilsidee verstanden werden35.

" Vgl. unsere Arbeit, S. 73 ff. - Es ist sehr aufsdilußreidi, daß audi Novalis offenbar mit der sibyllinischen Überlieferung vertraut war. In einer neu aufgefundenen Handschrift aus dem Sommer 1800 bat er sich unter den verschiedensten Stichworten zur griechischen und germanisdien Mythologie sowie zur Sage und Gesdiidite aller Völker auch das Stichwort „SibyllinisAe BüAer" notiert - ein Hinweis, der wahrscheinlich auf den zweiten Teil des ,Ofterdingen' zu beziehen ist und bei der dort geplanten Verknüpfung der „entferntesten und verschiedenartigsten Sagen" verwertet werden sollte (vgl. R. SAMUEL, Novellenentwürfe und Aufzeichnungen Friedrich von Hardenbergs, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, Bd. V, Stuttgart 1961, S. 189). Auch eine frühere Notiz aus dem .Allgemeinen Brouillon' beweist eine gewisse Vertrautheit, denn das Stichwort »Die Versteigerung der Sibylle" (III, 115, Nr. 336) bezieht sich offenbar auf den Handel zwischen der Sibylle von Cumae und dem Tarquinius Priscus (vgl. dazu A. KURFESS, a. a. 0 . S. 15). « Vor allem Or. Sib. III, 218 ff. u. III, 652 ff. Diese Stellen gehören, wie mittlerweile als unumstrittenes Ergebnis der Forschung festgehalten werden darf, zum Kernbestand einer jüdischen Ursibylle, der mit anderen, jüngeren Sibyllenweissagungen im 1. Jahrhundert v. Chr. durch einen jüdischen Kompilator zur heute vorliegenden Gestalt des III. Buches verschmolzen worden ist (vgl. A. KURFESS, a. a. O. S. 80 ff. u. 288 f.). Aber auch in Or. Sib. I, 65 ff. u. I, 283 ff. wird der Hesiodeische Mythos von den fünf Zeitaltem aufgenommen; charakteristisch für die christliche Redaktion ist dabei die Vorstellung eines doppelten goldenen Zeitalters·, unmittelbar nach der Paradiesesaustreibung („. . . denn nicht von drückender Sorge / Starben sie aufgezehrt, nur wie vom Schlaf überwunden. / Das waren glückliche, treffliche Menschen; sie liebte der König / Gott, ihr unsterblicher Schutzherr . . .", I, 70 ff.) und nach der Sintflut im Patriarchengeschlecht Noahs („. . . Da erblühete bald wiederum ein neues Weltalter, / Erste und beste, j a goldene Zeit, die sechste, seitdem ward / Erstgebildet der Mensch, das himmlische Zeitalter heißt sie, / Weil alle Dinge vom Herrn fürsorglich werden geleitet . . .", I, 283 ff.); zum griechischen Text vgl. A. KURFESS, a. a. O. S. 34 ff. u. 46f. M Vgl. Or. Sib. IV, 45 ff.; IV, 187 ff.; VIII, 414 f. (sämtlich aus nachchristlicher Zeit). M Ich entnehme diesen Hinweis A. KURFESS, a. a. O. S. 344; das angeführte Weihnachtsspiel (nach PIPER, Virgilius als Theolog und Prophet des Heidentums in der Kirche, in: Evangelischer Kalender, 13*

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Der AristliAe Chiliasmus

Wenn Konstantin I. die vierte Ekloge des Römers bereits auf Christus deutet, so verbindet er damit allerdings eine durchgehende allegorisdie Auslegung audi der utopisdien Wunschbilder vom kommenden goldenen Zeitalter; ihm geht es nidit um eine Ausschmückung des tausendjährigen Reiches, sondern um einen Erweis der Gottheit Christi, die den heidnisdien Lästerern durch ihre eigenen Schriften einsichtig gemacht werden muß se . Damit keiner der römischen Machthaber ihn beschuldigen könne, er wolle den uralten Götterglauben seiner Vorfahren ausrotten, habe Vergil dunkel und in allegorischer Weise sprechen müssen; in Wahrheit aber soll nicht nur der kommende Weltherrscher auf Christus, die wiederkehrende Jungfrau auf Maria hindeuten, die beide zum zweiten Male kommen werden, den ganzen Erdkreis zu erleichtern, sondern es müssen audi die prophetischen Zukunftsbilder von der üppig aufblühenden Natur auf die überall wadisende Zahl der Gottesverehrer, der den harten Fichtenstämmen entquellende Honig auf den bekehrten, früher verstockten Sinn der ungläubigen Menschen, die Heldentaten des neuen Achilles auf die Werke der gerechten Menschen und die Gesetze der gottgeliebten Kirche bezogen werden: denn diese allein verbürgen ein Leben der Gerechtigkeit und Glückseligkeit 37 . Im Gegensatz zu dieser allegorisdien Interpretation, die das allzu MythischWunderbare der geschilderten Heilszeit unter Hinweis auf die dichterische Freiheit Vergils entschuldigen zu müssen glaubt, wird aber bereits bei dem Hauptvertreter des frühdiristlidien Chiliasmus im Abendland, bei Firmianus Lactantius, das erwartete tausendjährige Reich mit aller Farbenpracht des goldenen Zeitalters ausgemalt und dabei ausdrücklich neben den sibyllinisdien Verheißungen auch die 4. Ekloge Vergils im wörtlichen Verstände, ohne allegorisdie Abstriche, herangezogen. In seinen ,Divinae Institutiones' entwirft der zum Christentum bekehrte Rhetor aus Nikodemia ein glühendes Bild der diiliastischen Heilszeit, die durdi Christus, den König und Gott („rex ac deus"), heraufgeführt werden wird; sie ist ihm nichts anderes als das goldene Zeitalter, von dem die heidnisdien Diditer gesprochen haben: „Et idem postea cum rursus advenerit in potestate ac claritate, ut omnem animam judicet et iustos restituât ad vitam, tunc vere totius terrae regimen obtinebit; tunc sublato de rebus humanis omni malo, a u r e u m s a e c u l u m , u t p o e t a e v o c a n t , id est i u s t u m ac p a c i f i c u m t e m p us o r i e t u r ..

Der wiederkehrende Christus, der mit feurigem Glänze vom Himmel herabsteigen, mit unzählbarer Engelsmadit die heidnisdien Völkerscharen unterwerfen und ihren

Berlin 1862, S. 57 ff.) war mir leider nicht zugänglich. In ihm soll Vergil selbst auftreten und die folgenden Worte sprechen : ,Diu lezte zìt sol komen, / dà von Sibillâ het gesaget, / Sâturnus riche komet wider, / üz dem himel hô her nider / wirt ein núwez Kind gesant . . .'. M Eusebius' Werke, hg. von J. A. Heikel, Bd. I, Leipzig 1902, S. 179 ff. (Griechischer Textabdruck und deutsche Obersetzung bei A. KURFESS, a. a. O. S. 208 ff.) - Dieser apologetischen Tendenz folgend tritt auch in den Weihnachtsspielen des Mittelalters die Sibylle auf, um durch Heidenmund die Gottheit Christi zu erweisen: ,Si non suis vatibus, / credant vel gentilibus / sibillinis versibus / hec predicta!" (Das Benediktbeurer Weihnachtsspiel aus den .Carmina Burana', ed. K. Langosch, Geistliche Spiele, Darmstadt 1957, S. 148). ®7 Vgl. A. KURFESS, a. a. O. S. 212 ff. (.Konstantins Rede an die Versammlung der Heiligen'). Lactantii Div. Inst. Lib. IV, 12; Patrologia Lat. VI, 482.

Die christliche Vorstellungsform des tausendjährigen Reiches

197

Fürsten, den Antichristen, in Ketten sdilagen wird 3 », ist jener vom Osten entsandte Gottkönig, den die Sibyllensprüche von altersher geweissagt hatten 4 0 ; mit ihm wird die mißhandelte Erde endlich zur Ruhe kommen und die W e l t f ü r tausend J a h r e den ersehnten Frieden erhalten. Denn der gerechte und siegreiche König („rex ille iustus et victor") wird ein großes Gericht auf Erden über Lebende und Tote halten und die verstorbenen, f ü r gerecht befundenen Christen wieder auferwecken; mit ihnen vereint wird er, nachdem der Friede hergestellt, das Böse unterdrückt und die Heidenvölker den Christen zur dauernden Dienstbarkeit überantwortet worden sind, seine gerechte Herrschaft ausüben und die heilige Stadt („civitas sancta") gründen, die zum Mittelpunkt des himmlischen Reiches („caelestis imperii") mitten auf der Erde („in medio terrae") werden soll 41 . D a n n werden alle Wunderdinge eintreffen, mit denen die Dichter das goldene Zeitalter unter des Saturnus Herrschaft irrtümlich ausgeschmückt haben: „Tune auferentur a mundo tenebrae illae, quibus obfundetur atque occaecabitur caelum, et luna claritudinem solis accipiet ..., sol autem septies tanto quam nunc est clarior fiet. terra vero aperiet fecunditatem suam et ubérrimas fruges sua sponte generabit, rupes montium melle sudabunt, per rivos vina decurrent et ilumina lacte inundabunt: mundus denique ipse gaudebit et omnis rerum natura laetabitur erepta et liberata domino mali et impietatis et sceleris et erroris. non bestiae per hoc tempus sanguine alentur, non aves praeda, sed quieta et placida erunt omnia, leones et vituli ad praesepe simul stabunt, lupus ovem non rapiet, canis non venabitur, accipitres et aquilae non nocebunt, infans cum serpentibus ludet.. ."4I. D a n n wird aber audi das eintreffen, was der römische Dichter in seiner vierten Ekloge geweissagt hatte: Der Schiffer wird das Meer räumen, die Erde wird freiwillig alle Früchte tragen, Trauben werden an Dornbüschen hängen und süßer Honig aus den Eichen träufeln, und die Ziegen werden von selbst ihre milchstrotzenden Euter heimwärts tragen, ohne Furcht vor den mächtigen Löwen 4 3 . Denn vor ihm haben die Sibyllen ähnliches verkündet, und diese stimmen wiederum mit den Propheten überein, so daß alle Erwartungen wahr und zuverlässig sind: „Quare cum haec omnia vera et certa sint prophetarum omnium consona adnuntatione praedicta"44. So richten sich alle Hoffnungen auf dieses Reich der Gerechten („regnum iustorum"), das tausend J a h r e währen wird; in ihm werden die Menschen ein ganz ruhiges und üppiges Leben führen und mit Gott zugleich herrschen („vivent homines tranquillissimam et copiosissimam vitam et regnabunt cum deo pariter"). In dieser leidenschaftlichen Verkündigung des tausendjährigen Reiches durch Lactantius fehlt keines der mythischen Bilder, die ihm aus dem biblisdien und römisch-hellenistischen Vorstellungsbereich zugeflossen sind; sogar das von Vergil selbständig erfundene, vor ihm nicht belegte Wunderbild der sich purpurrot und safrangelb färbenden Schafwolle - eine hyperbolische Steigerung des „sua-sponte"' · Lactantii Epitome Divinarum Institutionum ad Pentadium Fratrem, Cap. 72; Patrologia Lat. VI, 1 0 9 1 . (Daneben wurde der Text bei A . KURFESS, a. a. O . S . 2 4 8 verglichen und in den folgenden Textstellen einige Konjekturen sowie Verbesserungen von offensiditlidien Druckfehlern übernommen.) *o Patrologia Lat. VI, 7 9 6 ( A . KURFESS, a. a. O . S . 2 3 4 ) . 41 Patrologia Lat. VI, 809 (A· KURFESS, a. a. O. S. 240). a Patrologia Lat. VI, 809/10 (A. KURFESS, a. a. O. S. 240/41). 4 > Patrologia Lat. VI, 810 (A. KURFESS, a. a. O. S. 242). 44 Patrologia Lat. VI, 1092 (A. KURFESS, a. a. O. S. 250).

Der diristlidie

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Chiliasmus

Motivs - wird von Lactantius ausdrücklich herangezogen. Die verheißene ChristusHerrschaft hat alle anderen Heilsträume der Menschheit entmachtet und in sich aufgenommen, zugleich aber aus der Vergangenheit in die Zukunft verlagert: ein sinnfälliges Zeugnis für den ersten großen Assimilierungsprozeß, der im frühchristlichen Chiliasmus vollzogen wird45. Das tausendjährige Reich wird der Wunschraum, in dem sich alle irdischen, ununterdrückbaren Hoffnungen des Christentums um den ideellen Schwerpunkt der kommenden Messias-Herrschaft sammeln und die verführerischen Mythen der antiken Welt verdrängen, bzw. in sich aufnehmen konnten. Dabei wird allerdings weiterhin an der Vorläufigkeit dieser irdischen Heilszeit wie aller damit verknüpften irdischen Glückserwartungen festgehalten, obwohl das in seltsamem, kaum verhülltem Widerspruch zu der ausführlichen, in sinnlichen Farben schwelgenden Schilderung steht. Aber auch Lactantius trennt streng schriftgemäß das tausendjährige Reich von der ewigen Seligkeit des Gottesreiches am Ende aller Tage. Nachdem die tausend Jahre verflossen sind, wird der Fürst der Dämonen wieder gelöst, und der heidnische Völkersturm brandet erneut gegen die heilige Stadt der Gerechten, bis Gott die Erde im Feuer und Schwefelsturm untergehen läßt und das letzte Gericht stattfindet, nach welchem die Welt erneuert und die Gerechten in Engelsgestalt („in figuras angelorum") umgewandelt werden: dann bricht das Reich Gottes an, das kein Ende haben wird („regnurn dei, quod finem non habebity». Auf diese, in ähnlicher Form ständig wiederkehrenden Schilderungen des tausendjährigen Reiches47 gründet sich der Chiliasmus der ersten nachchristlichen Jahrhunderte, zwar frühzeitig bekämpft von einer geistigeren, vor allem durch Orígenes vertretenen Auffassung des kommenden Gottesreiches, die sich gegen das jüdisch-

45 In seinem Auszug aus den .Göttlichen Unterweisungen' (Epitome, Cap. 72, 1 ff.) h a t Lactanz noch einmal eine Zusammenfassung seiner chiliastisdien Lehre gegeben, in welcher diese einzelnen, überkommenen Wunschbilder besonders k n a p p und klar zusammentreten zum Gemälde der seligen Friedenszeit unter Christus; hier heißt es: „Rex ille iustus et victor . . . condet sanctam civitatem et erit hoc regnum iustorum mille annis. per idem tempus et stellae candidiores erunt et claritas solis augebitur et luna non patietur deminutionem . . . Omnem f r u g e m terra sine labore hominum procreabit. stillabunt mella de rupibus, lactis et vini fontes exuberabunt. bestiae deposita feritate mansuescent, lupus inter pecudes errabit innoxius, vitulus cum leone pascetur, columba cum accipitre congregabitur, serpens virus non habebit, nullum animal vivet ex sanguine, omnibus enim deus copiosum atque innocentem victum ministrabit . . (Patrologia Lat. VI, 1091/92; A. KURFESS, a. a. O. S. 248 ff.). - Das P a r a d i e s der Bibel und das Arkadien Vergils sind hier zusammengeflossen in Bildern, die bis ins 18. J a h r h u n d e r t weiterwirken und nodi bei Novalis in der sinnbildlichen Form seiner .Tropen- und Rätselsprache' wiederkehren: „ W e n n die Taube Gesellschafterin und Liebling des Adlers wird, so ist die goldene Zeit in der Nähe oder gar schon da . . . " (II, 60).

«

Epitome,

Cap.

7 2 , 6 ff. ( P a t r o l o g i a

Lat. VI,

1092; A .

KURFESS, a . a . O .

S. 2 5 0 / 5 1 ) .

Für

die

fließenden Obergänge zwischen diesem und jenem Reidi erscheint es bezeichnend, d a ß bei Lactantius bereits j e n e V e r w a n d l u n g der Nacht in einen beständigen T a g , die in der Johannes-Apokalypse dem ewigen Gottesreich zugesprochen worden war, f ü r das tausendjährige Reich in Anspruch genommen wird; vgl. Div. Inst. Lib. VII, 24, 7 und Epitome 72, 4. Eine ähnliche, charakteristische Verwischung der Grenzen wird sich immer wieder bei dem neuen, erst nach dem Weltgericht verheißenen Jerusalem zeigen: auch die Chiliasten berufen sich auf die heilige Stadt als Mittelpunkt des t a u s e n d j ä h r i g e n Christus-Reiches (vgl. bereits Tertullian, S. 193). 47 Neben Lactantius wären hier vor allem Iustinus, Papias, die Montanisten, Irenaus, Tertullian u. a. heranzuziehen; ihre Behandlung würde indessen zu einer eintönigen und ermüdenden W i e d e r holung führen, da die Grundvorstellungen sich weitgehend decken. D a h e r ist hier Lactanz als besonders eindrudcsvolles Beispiel f ü r den frühchristlichen Chiliasmus herausgegriffen worden.

Die christliche Vorstellungsform

des tausendjährigen

Reidies

199

apokalyptische Schrifttum wehrt und seine Aufnahme in den kirchlichen Kanon verhindert, aber dennoch bis zum Ausgang des 4. Jahrhunderts immer wieder emporflammend und seine Rechtgläubigkeit leidenschaftlich verteidigend. Einen grundlegenden Wandel bewirkte erst die mit dem Übertritt Kaiser Konstantins allmählich sich anbahnende Konsolidierung des Christentums als Staatskirche. Die Erhebung des Christentums zur Weltreligion, durch welche die Ecclesia Catholica mit ihrem universalen Verkündigungsanspruch dem politisch-universalen Herrschaftsanspruch der römischen Reichsidee eingefügt werden und ihm neue Geltungskraft verleihen sollte, hatte eine veränderte Weltlage geschaffen, in welcher die diiliastisdien Hoffnungen und Reichserwartungen der verfolgten Christensekten notwendig zurücktreten mußten. Den entscheidenden Einschnitt dokumentiert hier das Werk Augustine, der sich gegen die Erwartung eines tausendjährigen Reiches wendet und mit seiner bald zur offiziellen Geltung gelangten Lehre den Chiliasmus in häretische Unterströmungen abdrängt, d. h. zu einer oppositionellen, im ganzen Mittelalter gegen die Kirche geriditeten Bewegung werden läßt. Im Umbruch zweier Zeiten, zwischen Antike und Mittelalter stehend, hat Augustinus mit seiner ,Civitas Dei' nicht nur das politische Programm der kommenden mittelalterlidien Kirche, sondern auch die gesdiichtsphilosophischen Anschauungen des ganzen Mittelalters entscheidend mitbestimmt48. Ihm selbst erschien das irdische Glücksverlangen, zu dem er sich in seinen früheren Schriften bekannt hatte, als sinnloser Trieb, solange es nicht seine Ruhe und Erfüllung in Gott gefunden hatte; das höchste Gut des Christen lag für ihn jenseits dieser Welt, und der Frieden, den das Christentum den Völkern zu bringen verheißen hatte, war ihm der ewige Frieden des künftigen Gottesreidies, das die wahre Heimat des Mensdien darstellt 4 '. Von dieser lebendigen Jenseitshoffnung her mußte ihm der Chiliasmus, der dem irdischen Glücksverlangen so nachdrücklich Geltung verschaffen wollte, als eine Lehre der ,fleischlich Gesinnten' erscheinen („nullo modo ista possunt nisi a carnalibus credi"), denen Augustinus freilich selbst einmal angehört hatte („nam etiam nos hoc opinati fuimus aliquando") 50 . Aber die Verheißungen Christi gelten in Wahrheit nicht diesem, sondern dem künftigen Leben; im Himmel ist uns verheißen, was wir auf Erden vergeblidi suchen: „Futura promisit qui resurrexit, pacem in hac terra et requiem in hac vita non promisit. omnis homo requiem quaerit; bonam rem quaerit, sed non in regione sua illam quaerit. non est pax in hac vita: in caelo nobis promissum est quod in terra quaerimus"M.

Mit diesem ergreifenden Glaubensbekenntnis zum jenseitigen Gottesreich, in dem alle mensdilidien Heilsträume erst ihre Erfüllung finden können, verband sich für 48 Aus der umfänglichen Literatur zu Augustinus seien unter unserem Gesichtspunkt als besonders wesentlich die im Literaturverzeichnis ( B III) genannten Untersuchungen von E . T R O E L T S C H , E . B E R N HEIM, R. REITZENSTEIN, E . SALIN, H. E G E R und E . L E V ALTER hervorgehoben. 4 · Vgl. die tiefdringende und den Unterschied dieses christlichen zum antiken, griechischen und römischen Friedensgedanken sehr plastisch herausarbeitende Untersuchung von H. FUCHS, Augustin und der antike Friedensgedanke. Untersuchungen zum neunzehnten Buch der Civitas Dei, a. a. O. S. 39 ff. u. 167 ff. 50 De Civitate Dei Lib. XX, 7 (Patrologia Lat., Tom. XLI, p. 667). 51 Enarratio in Psalmum XLVIII, 6 (Patrologia Lat., Tom. XXXVI, p. 560).

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Der christliche Chiliasmus

Augustin eine notwendige Scheidung jener beiden Welten, in denen der Christ lebt, der „civitas terrena" und der „ ci vi tas caelestis", die er mit einer Schärfe auseinanderriß, wie es in dieser verneinenden Abwertung des irdischen Reiches selbst in urchristlichen Zeiten nicht geschehen war. Den äußeren Anlaß dafür bot ihm die Eroberung Roms durch Alarich im Jahre 410, ein Ereignis, das die junge christliche Staatskirche bis in die Grundfesten erschütterte - schien doch der Bestand des römischen Weltreiches durch die Auslegung der bekannten Prophetie Daniels bis zum Ende der Welt gesichert zu sein und galt als die Grundlage des christlichen Missionierungswerkes, um dessentwillen Gott die Welt fortbestehen ließ. In der dadurch veranlaßten Erörterung des Sinns und Ziels der Weltgeschichte ging Augustin allerdings über die zeitgeschichtlichen Bedrängnisse weit hinaus und entwarf die erste christliche Geschichtsphilosophie in Form eines heilsgeschichtlichen Erlösungsdramas, das sich von der jenseitigen Engelswelt über die adamische Urzeit und den Sündenfall mit allen seinen Folgeerscheinungen bis zum himmlischen Gottesreich am Ende aller Tage spannte und dessen bewegendes Prinzip eben der Kampf und die unversöhnliche Antithetik zwischen der „civitas terrena" und der „civitas caelestis" bildete - jene im Weltstaat der Römer, diese im Gottesstaat der christlichen Kirdie sich spiegelnd: „Fecerunt itaque civitates duas amores duo; terrenam scilicet amor sui usque ad contemptum Dei, caelestem vero amor Dei usque ad contemptum sui. Denique ilia in se ipsa, haec in Domino gloriatur . . . " Im 15. bis 18. Buch wird dann gezeigt, „quisnam sit duarum civitatum, caelestis atque terrenae, ab initio usque in finem permixtarum mortalis excursus ... diversa fide, diversa spe, diverso amore, donec ultimo judicio separentur, et percipiat unaquaeque suum finem, cujus nullus est finis . . ."S!.

Im Weltstaat und im Gottesstaat ringen also nach Augustine Auffassung zwei Glaubensmädite miteinander, deren Streit, mit dem Brudermord Kains anhebend 53 und seither nie verebbend, erst durch den endgültigen Sieg des Gottesstaates entschieden werden wird - jener Civitas Dei, die sich zwar in der Ecclesia Catholica sichtbar abbildet, die aber erst in dem himmlischen Reich jenseits von Raum und Zeit ihr Ziel und ihre vollkommene Enthüllung findet54. Damit wird ihm aber auch das erwartete tausendjährige Reich der Chiliasten zu einer Irrlehre, die den geistig Gesinnten („qui spirituales sunt") als eine verblendete Abkehr von der heiligen Institution der Kirche erscheinen muß. Denn, wie Augustin im 20. Buch seiner ,Civitas Dei' ausführt, die verheißene Herrschaft der Gläubigen mit Christus findet bereits im Rahmen der Kirdie statt; diese ist die irdische Darstellung des Gottesreiches, "

De Civitate Dei Lib. X I V , 28 u. X V I I I , 54 (Patrologia Lat. XLI, 436 u. 620). De Civitate Dei Lib. X V , 5: „Primus itaque fuit terrenae civitatis conditor fratricida: nam suum fratrem civem civitatis aetemae in hac terra peregrinantem invidentia victus occidit . . . " (Patrologia Lat. XLI, 441). Der gleiche Brudermord wiederholt sich dann bei der Gründung der Stadt Rom, wo Romulus den Remus tötet: das Kainszeichen des irdischen Staates, der sich für Augustin im Imperium Romanum verkörpert. 54 W e n n K. GRONAU (Der Staat der Zukunft von Piaton bis Dante, a. a. O. S. 231 ff.) in dieser . I d e e " des Gottesstaates eine innere Beziehung zu Piatons Idealstaat sehen will, der ebenfalls . i m Himmel als ein heiliges Mustervorbild" verankert ist und nach dem herrschenden Gott genannt werden soll (Politela 592 A; Nomoi 713 A), so trifft das zwar das Verhältnis von Urbild und Abbild, vom himmlischen und irdischen Gottesstaat, und bestätigt den wiederholt hervorgehobenen Einfluß des Piatonismus auf Augustin, geht aber an seinem christlidien Realismus vorbei, der ein anderer ist als der platonische Ideenrealismus. 5S

Die Aristlidie Vorstellungsform des tausendjährigen Reiches

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und in ihr entfaltet sich, während jene tausend Jahre ablaufen, die Herrschaft Christi und der um ihn versammelten Gläubigen über die Welt. Das gilt auch von der Fesselung des Satans und Antichristen, die spiritualistisdi verstanden werden muß: denn durdi die Kirche ist das Böse ausgegrenzt und in den Abgrund der Gottlosen verstoßen worden, so daß es über die Gläubigen keine Gewalt mehr hat 65 . Das gilt aber ferner audi von der ersten Auferstehung der toten Märtyrer und Glaubenszeugen, denn ihre Seelen sind nicht getrennt von der Kirche, dem gegenwärtigen Reich Christi, sondern leben in der unsichtbaren Gemeinschaft weiter und herrschen sdion jetzt mit Christus, wie es in der Apokalypse verkündigt worden ist: „Animae scilicet martyrum nondum sibi corporibus suis redditis. Neque enim piorum animae mortuorum separantur ab Ecclesia, quae nunc etiam est regnum Christi. Alioquin nec ad altare Dei fieret eorum memoria in communicatione corporis Christi . . . Quamvis ergo cum suis corporibus nondum, jam tarnen eorum animae regnant cum ilio, dum isti mille anni decurrunt .. ."5®.

Diese große, geistige Gemeinschaft der Gläubigen aller Völker aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist für Augustin der tragende Grund der in ihrer äußeren Organisation s i c h t b a r gewordenen christlichen Kirche, die damit als irdische Repräsentation des Gottesstaates gelten darf 5 7 ; sie ist wahrhaft schon jetzt das Reich Christi und das Himmelreich („regnum ejus, regnumve caelorum"), das mit der ersten Ankunft Christi angebrochen ist und tausend Jahre währen wird 58 . Das Gottesreich, das h i e r die Kirche ist („regnum ejus, quod est hic Ecclesia"), wird allerdings erst in dem himmlischen Gottesreich, das Augustinus in den Sdilußkapiteln des 22. Budies mit der ganzen Inbrunst einer religiös-vergeistigten Jenseitsschau herbeisehnt, seine Vollendung finden: „Ecce quod erit in fine sine fine. Nam quis alius noster est finis, nisi pervenire ad regnum, cujus nullus est finis?"5* Mag auch der Kirchenbegriff Augustine in der angedeuteten Weise schillern und mit dem irdischen Gottesstaat bald die sichtbare Institution der katholischen Kirche, bald die unsichtbare, ihr zugrundeliegende geistige Gemeinschaft aller Gläubigen um Christus gemeint sein - entscheidend bleibt, daß damit die Erwartungen des Chiliasmus entkräftet und nicht ein k o m m e n d e s tausendjähriges Reich, sondern die Kirche selbst als die verheißene irdische Verwirklichung des Gottesreidies hingestellt worden sind. Damit hat Augustinus die offizielle Kirchenlehre des Mittelalters begründet und nicht nur dem Papsttum die Waffen geliefert, um seine politischen Herrschaftsansprüche und seinen Kampf gegen das Kaisertum zu legitimieren, sondern audi die diiliastischen Heilserwartungen aus der mythisch ausgemalten Zukunft auf den Boden der Gegenwart zurückgeführt: das tausendjährige Reich hat 55

De Ci vi tate Dei Lib. X X , 7 (Patrologia Lat. XLI, 668 f.). «· De Civitate Dei Lib. X X , 9 (Patrologia Lat. X L I , 674). 57 Grundsätzlich ist bei Augustinus die siAtbare Kirdic nicht identisch mit dem Gottesstaat, dodi finden sidi bereits, der Auffassung des Mittelalters vorgreifend, Lib. I, 35; II, 29; V, 18; X I I I , 16 Äußerungen, welche diese Trennung von Urbild (Gottesstaat) und Abbild (Kirdie) nidit mehr deutlich durchführen: das bestimmt dann die geschichtlichen Folgewirkungen in der katholisdien Kirche des Mittelalters, in weldier der Kampf zwisdien Papsttum und Kaisertum in der T a t als Kampf zwischen der civitas caelestis und civitas terrena aufgefaßt wird. se De Civitate Dei Lib. X X , 9 (Patrologia Lat. XLI, 672). Die Zahl „1000" hat dabei für Augustin symbolisdie Bedeutung. 58 De Civitate Dei Lib. X X I I , 30 (Patrologia Lat. X L I , 804).

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Der christliche Chiliasmus

längst begonnen, es hat mit dem. ersten Erscheinen Christi auf Erden seinen Anfang genommen und entfaltet sich seither in der christlichen Kirche. Die symbolische Auslegung der tausend Jahre konnte dabei auch über die apokalyptischen Weltuntergangserwartungen hinweghelfen, die mit dieser kirchlichen Lehre notwendig um die Jahrtausendwende aufbrechen mußten und in der Tat das Denken dieser Zeit mit erregender Unruhe und Todesangst beschäftigt haben60. Aus der Kirche aber war damit die chiliastische Sehnsucht verbannt und mußte sich in unterirdischen Strömungen und sektiererhaften Bewegungen ihren Weg durch das Mittelalter bahnen. Erst auf dem Höhepunkt des Machtkampfes zwischen Papsttum und Kaisertum, zwischen .Sacerdotium' und .Imperium' flammte der Chiliasmus in vielfältiger Gestalt wieder auf. Vor allem die mit der Erwartung des tausendjährigen Reiches untrennbar verbundene, gleichsam seine dunkle Kehrseite bildende Verkündigung des Antichristen und seiner Schreckensherrschaft trat nun in den Vordergrund, um damit freilich zugleich neue Hoffnungen auf das ihm folgende, mit seiner Unterwerfung anbrechende Weltfriedensreich zu wecken. Während das Papsttum als Statthalter Christi auf Erden die Verwirklichung dieses Gottesreiches im Raum der Kirche für sich in Anspruch nahm und die Antichrist-Thematik als polemische Waffe gegen das weltliche Kaisertum wandte, während dieses Kaisertum, einer seit langem angebahnten, geschichtlich folgenreichen sibyllinischen Tradition aus dem Osten Geltung verschaffend, die aus dem römischen Altertum überkommene Weltherrscher- und Messias-Erwartung in säkularisierter Form auf sich übertrug und gegen das Papsttum als Verkörperung des Antichristen ausspielte - erlebten gleichzeitig die diristlidi-chiliastischen Heilserwartungen in der Geschichtstheologie Joachims von Fiore und der ihm folgenden Franziskaner-Spiritualen ihren zwar verwandelten, aber geistesgeschichtlich wohl bedeutendsten und bis an die Schwelle der Neuzeit folgenreichsten Ausdrude, der allerdings auf die bekannte mythische Ausmalung des kommenden Reiches verzichtete, dafür aber durch eine spirituell verstandene ChristusWiederkehr den Grundstein für alle chiliastisdien Bewegungen des 15. und 16. Jahrhunderts, ja, noch für den .philosophischen Chiliasmus' des ausgehenden 18. Jahrhunderts legte und mit dem in ihm zum Durchbruch kommenden, t r i a d i s c h e n Verständnis der Heilsgeschichte die abendländische Geschichtsmetaphysik von der Renaissance bis zur Romantik hin entscheidend vorgeprägt hat.

2. Der mittelalterliche Chiliasmus: das ,Dritte Reith' Joachims von Fiore Die Geschichtsanschauungen des Mittelalters sind, trotz einzelner divergierender Tendenzen, von einer einheitlichen, universal-christlichen Betrachtungsweise bestimmt: grundsätzlich ist die Weltgeschichte mit dem Erscheinen Christi abgeschlossen; man steht am Ende des irdischen Geschichtsablaufes und erwartet in naher Zueo Zu diesen Weltuntergangserwartungen vgl. A. A. VASILIEV, Medieval Ideas of the End of the World, in: Byzantion 16, 1942/43, S. 462 £F. ; ferner W. NIGG, Das ewige Reich, a. a. O. S. 103 ff.

Das,Dritte Reich' Joachims von Fiore

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kunft den Anbrach der letzten Dinge, das Gottesreich 61 . W e n n man, wie im Mittelalter allgemein üblich, das Sechstagewerk Gottes der Weltgeschichte als Periodenprinzip zugrundelegte, so konnten zwar über die Einteilung des vorchristlichen Zeitraums Unstimmigkeiten herrschen; immer aber wurde — wie dies vor allem seit Bedas ,Chronicon sive de sex aetatibus mundi' als Grundlage der gesamten mittelalterlichen Historiographie festgelegt worden war 9 2 - die nachchristliche Zeit als das sechste Weltzeitalter, als letzte Weltzeit also vor dem großen Weltensabbath angesehen: als irdische Vollendungsstufe, die ins ersehnte Jenseits hinüberführt. Durch Augustinus war der chiliastische Gedanke, der mit seiner ekstatischen Zukunftserwartung die einzige sprengende Kraft in diesem christlichen Geschichtsbild darstellen konnte, in die Form der bestehenden Kirche umgedeutet worden, so daß die letzte Weltzeit zugleidi als Entfaltung des kirchlichen Reiches, des Sacerdotium, und der in ihm verkörperten Christus-Herrschaft über die Welt begriffen werden konnte. Diese für das Mittelalter bindende Geschichtslehre, die auch dem später zu behandelnden Kampf mit dem Kaisertum und mit der von ihm vertretenen römischchristlichen Imperiums-Idee zugrundeliegt, wurde gegen Ende des 12. Jahrhunderts durch einen neuen, spiritualistischen Chiliasmus durchbrochen, der freilich erst zwei Generationen später im Franziskaner-Orden seine revolutionäre Kraft gewinnen und geschichtlich wirksam werden sollte. Die Schlüsselstellung, die in diesem Zusammenhang der Zisterzienser-Abt Gioacchino da Fiore aus Kalabrien mit seiner um 1190 verkündeten Lehre von einem dritten Reich des heiligen Geistes einnimmt, ist erst von der neueren Forschung im vollen Umfang erkannt worden 63 . In ihm kam, wie es Herbert Grundmann wiederholt formuliert hat, „statt des Endzeitbewußtseins aller katholischen Eschatologie . . . ein ganz neuartiges Epodienbewußtsein zum Durchbrach, das von der Zukunft nicht nur das Weltende, sondern vorher noch entscheidende Wandlungen und ganz neue Möglichkeiten höherer Vollkommenheit des menschlichen irdischen Daseins erwartete und damit auch forderte" 6 4 . W e n n dieses Epodienbewußtsein, das vom Mittelalter in die beginnende Neuzeit hinüberführt und in der T a t die Geschichtsansdiauung der Renaissance entscheidend beein-

6 1 Vgl. H. GRUNDMANN, Die Grundzüge der mittelalterlichen Geschichtsanschauungen, in: Archiv für Kulturgeschichte 24, 1934, S. 326 ff., und Κ. A. FINK, Joachim von Fiore und die Krise des mittelalterlichen Geschichtsdenkens. Große Geschichtsdenker, hg. von R. Stadelmann, a. a. O. S. 95 ff. 82 Venerabili Bedae . . . Chronicon Breve a mundi exordio usque ad annum Christi D C C X (Patrologia Lat., Tom. X C I V , p. 1161 ff.). 6 8 Als bahnbrechend seien hier vor allem die Arbeiten von H. GRUNDMANN genannt: Studien über Joachim von Floris. Beiträge z. Kulturgeschichte d. Mittelalters u. d. Renaissance, hg. von W . Goetz, Bd. 32. Leipzig 1927 (mit Hinweisen auf die ältere Literatur); Kleine Beiträge über Joachim von Fiore, in: Z f K G 48, 1929, S. 137 ff.; Neue Forschungen über Joachim von Fiore. Münstersche Forschungen, Heft 1. Marburg 1950 (mit ausführlichen Hinweisen auf die neuere Literatur). Daneben sind von besonderer Bedeutung die Arbeiten von E. BENZ: Joachim-Studien I—III, in: Z f K G 50, 1931, S. 24 ff.; 51, 1932, S. 415 ff.; 53, 1934, S. 52 ff.; Ecclesia Spiritualis. Kirchenidee und Geschichtstheologie der Franziskanischen Reformation. Stuttgart 1934. Das W e r k von J . Ch. HUCK, Joachim von Floris und die joachitische Literatur. Freiburg i. Br. 1938, bringt zwar wertvolles ungedrudctes Material, bemüht sich aber, übrigens auf der Linie der italienischen Joachim-Forschung (H. GRUNDMANN, Neue Forschungen, a. a. 0 . S. 64 ff.), um einen Nachweis der Katholizität Joachims und läßt demgegenüber die eigentlich revolutionäre Lehre vom dritten Zeitalter gleichsam entschuldigend als eine „mehr kühn-visionär als nüchtern-historisch geübte Exegese" zurücktreten (a. a. O. S. 230). 6 4 Neue Forschungen über Joachim von Fiore, a. a. O. S. 81. Vgl. die fast gleichlautenden Bemerkungen in den Studien über Joachim von Floris, a. a. O. S. 153 f.

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Der christliche Chiliasmus

flußt hat, zu Lebzeiten Joachims nodi nicht anstößig und umstürzlerisch wirkte, sondern erst nach seinem Tode zur kirchlichen Verurteilung führte, so liegt das vornehmlich daran, daß sich Joachim selbst der Kluft, die sich zwischen seinen prophetischen Grundgedanken und der offiziellen kirchlichen Lehre auftat, kaum bewußt geworden ist; dazu bedurfte es erst der Franziskaner-Spiritualen, die sich als Träger der von Joachim verkündigten Geistkirche und als Heilsbringer des dritten Reiches fühlen konnten und damit allerdings in einen unversöhnlichen Gegensatz zur Papstkirche geraten mußten 65 . Gegenüber Augustine Ausschaltung chiliastischer Heilsträume aus der christlichen Kirchenlehre hat Joachim von Fiore zwar auch die zur Häresie gewordene Erwartung eines tausendjährigen Reiches als Ziel aller irdischen Entwicklung verworfen, so daß man ihn im Sinne der altkirchlichen Überlieferung kaum einen Chiliasten nennen kann·® - andererseits aber muß man sein Verhältnis zu der seit Augustin festgelegten kirchlichen Tradition, die in den Formen und Normen der Kirche von Christus über die Gegenwart bis zum bevorstehenden Weltende hin die letzte und höchste, im wesentlichen unveränderliche und endgültige Möglichkeit des irdischen Daseins sah und eine höhere Vollkommenheit erst im Jenseits erwartete, eben doch als c h i l i a s t i s c h bestimmen: denn Joachim erwartet diese höhere Vollkommenheit, diese von ihm erschaute und mit immer neuen Wendungen umschriebene ideale Endzeit von einer nahe bevorstehenden Zukunft. Ihm war die Christus-Kirche des Mittelalters nicht eine endgültige, letzte, sondern eine vorletzte Stufe in der heilsgeschichtlichen Entwicklungslinie,· ihm war das Evangelium, wie es die Kirche verkündigte, nicht der für immer verbindliche und unüberbietbare Ausdruck der christlichen Erlösungsbotschaft: beide sind nicht der Abschluß der irdischen Geschichte, sondern werden abgelöst von einem neuen, prophetisch erwarteten Endzeitalter, in dem die Kirche des Geistes („secundum spiritum") an die Stelle der Christus-Kirche („secundum filium"), in dem das von der Apokalypse geweissagte ewige Evangelium („evangelium aeternum") an die Stelle des Neuen Testamentes („evangelium Christi") treten wird' 7 . Mit dieser Überzeugung aber stand der Kalabreser Abt außerhalb der mittelalterlichen Kirchenlehre, und seine Endzeiterwartung stempelt ihn trotz der spiritualistischen Deutung des tausendjährigen Reiches und des wiederkehrenden Christus - der bisher als seine unabdingbare Voraussetzung gedacht worden war - zum Chiliasten. 65 Die Folgewirkungen d e r Lehre Joachims in der franziskanischen Reformationsbewegung beh a n d e l t vor allem E. BENZ in seinem grundlegenden W e r k : Ecclesia Spiritualis, a . a . O . S. 175ff.; daneben ist das in 1. Aufl. 1929 erschienene W e r k von A. DEMPF, Sacrum Imperium. Geschichte- und Staatsphilosophie des Mittelalters und der politischen Renaissance. 2., unveränderte Aufl., D a r m s t a d t 1954, S. 285 ff., heranzuziehen (das gleichsam das katholische Korreferat zu Benz enthält). M Das ist vor allem gegen W . NIGG einzuwenden, der Joachim allzu einseitig unter die Chiliasten einordnet und von seinem „ T a u s e n d j ä h r i g e n Reith der Heiligen" spricht, obwohl dieser Ausdruck bei Joachim vermieden wird (a. a. O. S. 119); er betont allerdings audi die „erlösende Synthese von Chiliasmus und Spiritualismus", die Joachim gegenüber der alten Kirche vollzogen habe (a. a. 0 . S. 121). " Vgl. Joh.-Apk. 14, 6: „Et vidi alteram Angelum volantem per medium caeli, habenlem Evangelium aeternum, ut evangelizaret sedentibus super terram, et super omnem g entern et tribum, et populum . . ." Diese Stelle wird seit Joachim zur Kernverheißung aller spiritualistisch orientierten Chiliasten; mit ihr verbindet sich sinnfällig die Vorstellung einer durch dieses neue Evangelium des Geistes geeinten Menschheit, eines christlichen Universalreiches auf Erden.

Das ,Dritte Reich,' JoaAims von Fiore

205

W i e schon einmal in frühchristlicher Zeit, in der Montanisten-Bewegung des 2. Jahrhunderts in Kleinasien, ein drittes Zeitalter des Geistes verkündet worden war, das durch spirituelle Gotterleuchtung das erhoffte tausendjährige Reich und neue Jerusalem in Phrygien Gegenwart werden ließ 68 , so gelangte Joachim durch eine in jahrzehntelangem Bibelstudium geübte allegorisch-typologische Schriftauslegung des Alten und Neuen Testamentes zu seiner entscheidenden Entdeckung einer trinitarisch verankerten Dreiteilung der Welt- und Heilsgeschichte, nach welcher auf die Weltzeit des Vaters, des Alten Testamentes, und auf die in jener bereits p r ä figurierte Weltzeit des Sohnes, des Neuen Testamentes, nodi eine dritte Weltzeit des Geistes folgen muß, die sich wiederum in den Figuren und Ereignissen des Neuen Testamentes abzeichnet und aus ihnen mit Hilfe der „intelligentia spiri tualis" in Form eines komplizierten symbolischen Gleichungssystems gefolgert werden kann. Diese ,Concordia novi ac veteris testamenti' 69 war es, die Joachim in einem sehr nüchternen, gemessen an der hermeneutischen Tradition der patristischen und mittelalterlichen Schrifterklärung nicht ungewöhnlichen Bibelstudium plötzlich aufleuchtete und die ihn, wie er es selbst beschrieben hat, in der Auslegung der Johannes-Apokalypse dann den entscheidenden Schlüssel f ü r eine Zusammenschau der drei Weltzeitalter finden ließ: „Als idi um die Matutin aus dem Sdilaf erwadite, da nahm ich zur Meditation dieses Buch in die Hand . . . Da durdifuhr plötzlich . . . zu der Stunde, in der unser Löwe vom Stamme Juda auferstanden ist . . . , eine Helligkeit der Erkenntnis die Augen meines Geistes und es enthüllte sich mir die Erfüllung (plenitudo) dieses Buches und die symmetrische innere Bezogenheit (concordia) des Alten und Neuen Testamentes"70.

Dieses Schema der concordia, der zwingenden inneren Verknüpfung von Heilspersonen und Heilsereignissen in den beiden bisher abgelaufenen Weltperioden - nach welcher, der typologisdien Schriftexegese folgend, in jeder Figur ein Bild, ein H i n weis, eine Verheißung auf eine bestimmte kommende Figur gesehen werden kann - überzieht das Alte und das Neue Testament mit einem dichten Netz von Beziehungspunkten, aus denen sich schließlich die Prophetie des noch ausstehenden, drit-

68

Vgl. G. N. BONWETSCH, Die Geschichte des Montanismus. Erlangen 1881. " Nach dem Titel der ersten von den drei Hauptsdiriften Joachims, die zu Beginn der Reformationszeit, Venedig 1519, im Drude erschien - neben der ,Expositio in Apocalypsim' (Venedig 1527) und dem .Psalterium decern diordarum' (Venedig 1527). 70 Expositio in Apocalypsim, fol. 39 c; zit. nach E. BENZ, Ecclesia Spiritualis, a. a. O. S. 4. Da mir die Venezianischen Erstausgaben der Schriften Joachims, die im Augenblick nodi immer die einzige gedruckte Quelle der Joachim-Forsdiung darstellen, nicht zugänglich waren, wird im Folgenden nach E. Benz und H. Grundmann, a. a. O. zitiert; lediglich eine vierte, einwandfrei Joadiim zugewiesene Schrift, der .Tractatus super quatuor evangelia', ist mittlerweile von E. BUONAIUTI ediert und von mir eingesehen worden (Fonti per la storia d'Italia, Scrittori secolo X I I , Roma 1930). Daneben wurde das von H. Grundmann im Auszug mitgeteilte Figurenbuch Joadiims, das den sehr interessanten Entwurf einer Ordensverfassung der Endzeit enthält, herangezogen: ,Dispositio novi ordinis pertinens ad tercium statum ad instar superne Jerusalem' (Neue Forschungen, a. a. O. S. 116 ff.). Den ,Liber figurarum' edierte vollständig L. TONDELLI (Il libro delle figure dell'abate Gioacchino da Fiore, Torino 1940). - Die von Grundmann längst in Aussicht gestellte, immer wieder verzögerte kritische Ausgabe der drei Hauptschriften Joachims wird in den nächsten Jahren (neben einigen pseudojoadiitisdien Propheten-Kommentaren und ähnlichen Schriften aus dem 13. und 14. J a h r h u n dert) in den Monumenta Germaniae Histórica, im Rahmen einer neuen Reihe von geistesgeschichtlichen Quellen des Mittelalters, erscheinen.

206

Der Aristlidie

Chiliasmus

ten Status der Heilsgeschichte erheben kann. Denn wenn audi das exegetische Ziel Joachims, die Aufdeckung der weltgeschichtlichen Korrespondenz des alten und des neuen Bundes, durdiaus im Rahmen der mittelalterlichen Kirchenlehre blieb, so trieb ihn dodi die Auslegung der Apokalypse über diese bereits abgelaufene, gleichsam nachträglich abzulesende Figuraldeutung hinaus in eine verheißene Zukunft, die sidi ihm zu einer letzten, irdischen Heilszeit vor dem Weltende konkretisiert. Die fortschreitende Entwicklung, die sich aus der vielfältigen und von Joachim in endlos-ermüdender Häufung zusammengetragenen Korrespondenz der beiden ersten Heilsstadien ablesen läßt, ist nicht abgeschlossen; die Aussendung des heiligen Geistes, das Wirken der „intelligentia spiritualis", ist ein Ereignis, das nicht mehr in die vier Evangelien fällt, das nicht mehr geschichtlich ist, sondern gedeutet werden muß als der Geist, der aus den beiden Stadien des Alten und Neuen Testamentes hervorgeht und sie auf einer höheren Stufe zur Erfüllung gelangen läßt: in jenem „evangelium aeternum", das die kommende Geistkirche erfüllen wird 71 . Die gegenwärtige Kirche als das Reich Christi ist also nur eine Vorform, eine Verheißung dieser endzeitlichen Erfüllung, die Joachim als unmittelbar bevorstehend ansieht, auf deren Schwelle er selbst zu stehen glaubt: „Auf drei Weltordnungen (status) weisen uns die Geheimnisse der Heiligen Schrift: auf die erste, in der wir unter dem Gesetz waren, auf die zweite, in der wir unter der Gnade sind, auf die dritte, welche wir schon aus der Nähe erwarten, in der wir unter einer reicheren Gnade sein werden . . . Der erste status also steht in der Wissenschaft, der zweite in der teilweise vollendeten Weisheit, der dritte in der Fülle der Erkenntnis. Der erste in der Knechtschaft der Sklaven, der zweite in der Knechtschaft der Söhne, der dritte in der Freiheit. Der erste in der Furcht, der zweite im Glauben, der dritte in der Liebe. Der erste ist der status der Knechte, der zweite der Freien, der dritte der Freunde . . . Der erste steht im Licht der Gestirne, der zweite im Lidit der Morgenröte, der dritte in der Helle des Tages. Der erste steht im Winter, der zweite im Frühlingsanfang, der dritte im Sommer. Der erste bringt Primeln, der zweite Rosen, der dritte Lilien. Der erste bringt Gras, der zweite Halme, der dritte Ähren. Der erste bringt Wasser, der zweite Wein, der dritte ö l . . . Der erste status bezieht sidi auf den Vater . . . , der zweite auf den Sohn . . . , der dritte auf den Heiligen Geist . . ."72.

Das Neue und Umstürzende der Geschichtslehre Joachims tritt in dieser scheinbar endlosen Wiederholung des Steigerungsprinzips der drei Weltalter klar in Erscheinung: der Anspruch der Papstkirche, die bis zum Weltende gültige und letzte Gestalt des Gottesreiches zu sein, wird aufgehoben; der Geschichtsablauf teilt sidi nicht mehr in die beiden großen Weltperioden ante und post Christum, sondern drängt mit seinem im göttlichen Heilsplan vorgezeichneten Triadenschritt auf ein drittes Zeitalter, das nicht der kirchlichen Lehre gemäß ins Jenseits verlegt wird, sondern 71 Vgl. A. DEMPP, Sacrum Imperium, a . a . O . S. 277 f.; E. BENZ, Ecclesia Spiritualis, a . a . O . S. 25ff.u. 245 ff. 72 Aus dem Protokoll von Anagni, übersetzt von E. BENZ, Ecclesia Spiritualis, a. a. 0 . S. 9. Dieses Protokoll der päpstlichen Untersudiungskommission von 1255 gibt eine Zusammenfassung der Dreizeitenlehre, wie sie nicht von Joachim selbst, sondern von dem Franziskaner Gerardino von Borgo San Donnino formuliert worden ist (vgl. H . DENIFLE, Das Evangelium aeternum und die Kommission von Anagni, Archiv für Litteratur- u. Kirchengeschichte d. Mittelalters, Bd. I, 1885, S. 102 f.). Daneben sind jedodi die fast gleidilautenden Besdireibungen der drei Weltzeitalter in der .Expositio in Apocalypsim', fol. 82 c (bei E. BUONAIUTI, Gioacchino da Fiore. I Tempi, la Vita, il Messaggio. Rom 1931, S. 135), zu vergleichen.

Das,Dritte

Reith'

Joachims

von

Fiore

207

diesseitig gedacht werden muß. Triadisch war bereits das Geschichtsverständnis der paulinisdien Theologie gewesen, wenn im Römerbrief Christus als der neue Adam bezeichnet wurde, der die Schöpfung nach dem Sündenfall wieder auf ihre paradiesische Vollkommenheitsstufe hebt, und diese Adamsmystik war durch den Triadenschritt des naturhaften, des mosaischen und des evangelischen Gesetzes unterstrichen worden78. Aber hier gipfelte die Geschichtsentwicklung in Christus, und mit ihm hob auch das letzte Zeitalter der christlichen Kirche nach mittelalterlicher Auffassung an. Bei Joachim dagegen schiebt sich der Triadenschritt unter Fortlassung des Naturgesetzes um ein Glied weiter vorwärts, und eben das damit verkündigte, im Diesseits nodi zu erwartende ,tertium saeculum' bringt den festgefügten Kirdienbegriff des Mittelalters ins Wanken und eröffnet dem Chiliasmus eine neue, bis zu den Schwärmersekten der Reformationszeit leidenschaftlich gegen die Kirche anbrandende Zukunftshoffnung. Für Joachim stellt sich freilich dieses dritte Reich nicht als das mythisch ausgemalte, von den irdischen Glückserwartungen des alttestamentlidien und des heidnisch-antiken goldenen Zeitalters verklärte tausendjährige Reich der frühchristlichen Chiliasten dar. Ebenso wie die erhoffte, bei Lactantius in dramatisdi-erregten Bildern geschilderte Wiederkehr Christi74 nun spiritualistisdi gedeutet und das kommende Reich der Joachiten von der zum vollen Durchbruch gelangenden Geisterleuchtung, von dem Wirken der „homines spirituales" abhängig gemacht wird und unter diesen werden die M ö n c h s o r d e n verstanden, deren Vorläufer für Joachim der heilige Benedictus ist - , ebenso wird auch der ideale Heilsstand des dritten Zeitalters durch das kontemplative Leben der Mönche bezeichnet, die den Laien des Alten und den Klerikern des Neuen Testamentes folgen werden und in denen nach Aufhebung des Klerikerstandes die Geistkirche der Zukunft verwirklidit werden soll. Dann wird der wörtliche Buchstabenverstand der Heiligen SArift („secundum literam") der neuen, geistigen Gotteserkenntnis weichen, dann wird der Glaube an die Sakramente der Kirche, die nur vorübergehende zeitliche Bilder sind, überflüssig sein und das durch sie Bezeichnete („quod per ea significatur"), der ewige Sinn, unmittelbar zugänglich sein: „So l a n g e ist es nötig, dass w i r j e n e B i l d e r (figuras) ergreifen, als w i r durdi einen S p i e g e l u n d i n R ä t s e l n sehen u n d s o l a n g e w i r j e n e W a h r h e i t , d i e j e n e Zeichen bed e u t e n (significant), nidit w i s s e n können. W e n n aber der Geist der W a h r h e i t k o m m t u n d uns a l l e W a h r h e i t l e h r e n wird, w a s s o l l e n w i r d a n n w e i t e r m i t d e n B i l d e r n a n fangen?"75

7S

Römer 5, 12 ff. u. 2, 14 ff.; 8, 2 ff. Vgl. Lactantius, Epitome Div. Inst., Cap. 72, 1: »Tunc caelum intempesta nocte patefiet et descendet Christus in virtute magna et anteibit eum claritas ignea et virtus inaestimabilis angelorum . . etc. (Patrologia Lat. VI, 1091). 75 Zit. nach E. BENZ, Ecclesia Spiritualis, a. a. O. S. 18. Es handelt sidi um die bei Joachim ständig wiederkehrende Berufung auf das Paulus-Wort (2. Kor. 3, 6), nach welchem der Buchstabe tötet, der Geist aber lebendig madit („littera enim occidit, Spiritus autem vivificat"), die von allen Spiritualisten der folgenden Jahrhunderte bis zur Romantik hin aufgenommen wird. Vgl. .Concordia novi ac veteris testamenti', fol. 18b: „Erkenne darum in BuAstaben des alten Testamentes, das . . . die Wissenschaft des Anfangs ist, das Bild des Vaters; im BuAstaben des neuen Testamentes . . . das Bild des Sohnes; in der geistigen Erkenntnis (intellectus spiritualis), die aus beiden zusammen hervorgeht, das Bild des heiligen Geistes . . , E x p o s i t i o in Apocalypsim', fol. 96: „In der T a t werden in Zu74

208

Der christliche Chiliasmus

D a n n wird schließlich das Ordensideal der Mönche („ordo monachorum") zum Gemeinschaftsprinzip der neuen Kirche werden und den alten Klerikerstand („ordo clericorum") ablösen, und in ihm wird ein Leben der Freiheit und des Friedens, ohne Z w a n g und Gewalt, ohne Unterschied der Klassen und des Besitzes, in vollkommener Erkenntnis und Anbetung Gottes möglich sein 76 . In dieser sparsamstrengen Kennzeichnung des kommenden Reiches kehren zwar alte chiliastische Idealvorstellungen wieder, aber sie enthüllen sich hier, in Joachims Entwurf einer neuen Ordensverfassung der Endzeit („pertinens ad tercium statum ad instar superne Jerusalem"), als eine von den Mönchsorden des Mittelalters ausgehende, gegen die Verweltlichung und politische Machtstellung der Papstkirche gerichtete Tendenz, die mit der vollkommenen spirituellen Gotteserkenntnis zugleich die hierarchischen und sakramentalen Institutionen dieser Kirche im Kern erschüttern und mit ihren am mönchischen Gemeinschaftsleben orientierten s o z i a l e n Idealvorstellungen dem Chiliasmus der folgenden Jahrhunderte seinen neuen, revolutionären Impuls vermitteln sollte. Zu dieser Verheißung des kommenden Ordens als Wegbereiter eines Reiches von innerlich gewandelten und gotterleuchteten Menschen, dessen Eintritt Joachim selbst f ü r die Mitte des 13. Jahrhunderts, für die nächste Zukunft also berechnet hatte, kommt aber noch ein weiterer Gedanke von geschichtlicher Tragweite. Denn der Kalabreser Abt, der sich nach seiner entscheidenden exegetischen Entdeckung von seinem Zisterzienser-Orden gelöst hatte und ins wilde Silagebirge aufgestiegen war, um hier eine Einsiedlergemeinschaft als Keimzelle eines neuen, strengeren Mönchsordens zu begründen 7 7 , fühlte sich selbst als noch zum zweiten Weltstatus gehörend und nur als Seher, als Prophet der verheißenen Zukunft; andererseits aber bedurfte der heilsgeschichtlichen Konkordanz gemäß auch die neue Weltzeit eines messianischen Führers, eines „ N o vus Dux", den Joachim im Engel der Apokalypse verheißen sah: „Et vidi alterum Angelum, ascendentem ab ortu solis, habentem signum Dei v i v i . . ," 78 . Dieser Engel wird, wie es in der .Concordia' heißt, nicht buchstäblich kunft nidit nur die historischen Darstellungen und (die) welche nach Erde schmecken dahinschwinden, sondern es werden auch die mystischen Reden aufhören, die den Verständigen durch Bilder und Gleichnisse eingegeben werden. Nickt mehr durch irgendwelche Bilder, sondern im Geiste v/erden wir das Angesicht unseres Gottes, des Urhebers, schauen . . . " . - Vgl. die hieran anknüpfende Verkündigung des ewigen Evangeliums und dritten Zeitalters durch Lessing (unsere Arbeit, S. 245 ff.) und ihre Aufnahme bei den Romantikern; f ü r Novalis sind vor allem die an Lessing und Schleiermadier anknüpfenden Bemerkungen III, 284 (Nr. 12), III, 288 (Nr. 44), III, 293 (Nr. 90), III, 319 (Nr. 261), III, 321 (Nr. 270), III, 341 (Nr. 411) charakteristisch. 76 Für diese Zukunftsschau ist besonders wesentlich Joachims Entwurf einer Ordensverfassung, in dem sehr konkret alle Weltstände und ihre Lebensformen im kommenden Geistzeitalter erörtert werden; sie bilden, was wiederum dem diiliastisdben Vorstellungsbereidi angehört, in einer strahlenförmigen Anordnung, deren Mittelpunkt die viri spirituales (die eigentlichen, strengen Mönche des Endzeit-Ordens) darstellen, die Himmelsstadt Jerusalem auf Erden (.Dispositio novi ordinis . . .'; kritischer Textabdruck bei H. GRUNDMANN, Neue Forschungen, a . a . O . S. 116ff.; vgl. dazu Grundmanns Kommentar S. 85 ff.). Erst diese Darstellung, die bisher kaum Beachtung gefunden hat und von Benz, Dempf, Nigg u. a. nicht berücksichtigt wird, reiht Joachims Prophetic in die Kette der großen chiliastischen Utopien der Menschheit ein! 77 Vgl. die näheren Hinweise bei H. GRUNDMANN, Neue Forschungen, a. a. 0 . S. 47 f. 78 Joh.-Apk. 7, 2. Der Heilstitel „NOVUS D U X " hat seinen Ursprung in der im MatthäusEvangelium (2, 6) zitierten Bethlehem-Verheißung des Propheten Micha (5, 2), nach welcher der Messias im Vulgata-Text als D U X erscheint: „Et tu Bethlehem terra Juda, nequaquam minima es in principibus J u d a : ex te enim exiet dux, qui regat populum meurn Israel."

Das ,Dritte Reith' Joachims von Fiore

209

mit dem Schritt seiner Füße aufsteigen und keine Weltveränderung („immutatio locorum") bringen, sondern eine g e i s t i g e W a n d l u n g , weil ihm die volle Freiheit gegeben sein wird, den christlichen Glauben zu erneuern und über alle Völker der Erde zu verbreiten („plena libertas a d innovandam christianam religionem et a d praedicandum verbum dei incipiente iam regnante domino exercituum super omnem terram"). In den wenigen Andeutungen, die sich in Joachims Schriften über diesen neuen Messias ( „ d u x novus de Babylone"), der a m Beginn des dritten Reiches erscheinen wird, finden, ist nur seine Heilsmission klar umrissen 7 9 ; er selbst trägt bald die verklärten Z ü g e eines Engelpapstes ( „ p a p a angelicus"), bald eines Hohenpriesters im neuen J e r u s a l e m („universalis pontifex novi J e r u s a l e m " ) , bald gar eines neuen „homo Christus", auf den sich die ganze Fülle der Verheißungen des dritten Zeitalters herabsenken soll. In diesen unbestimmten Andeutungen aber lag nicht nur ein weitreichender prophetischer Sprengstoff für d a s ganze ausgehende Mittelalter verborgen, in dem die Idee eines weltbeherrschenden, endzeitlichen „Engelpapstes" eine große Rolle zu spielen berufen war 8 0 , sondern lag auch f ü r die Franziskaner-Spiritualen die Möglichkeit, diese Verheißung auf ihren Führer und Ordensgründer, Franziskus von Assisi, zu beziehen und ihn zum Messias des neuen dritten Reiches zu machen. U n d wenn Joachim in seiner ,Expositio in A p o c a lypsim' betonte, daß audi der Antichrist schon in die Welt eingetreten und nur die Stunde seiner Enthüllung noch nicht gekommen sei 81 , so zeigt die prophetische A n kündigung dieser, f ü r d a s Endzeitbewußtsein des Mittelalters ebenfalls zentralen Gestalt des Widersachers, die von den Joachiten bald auf den Papst, bald auf den Stauferkaiser Friedrich II. gedeutet wurde, daß es sich in der T a t um eine c h i l i a s t i s e h e Zukunftserwartung handelt: denn d a s Erscheinen des Antichristen bringt bei Joachim nicht d a s Weltende, den Weltuntergang, sondern, wie im altkirchlichen Chiliasmus, zunächst nur das E n d e der gegenwärtigen, zweiten Weltperiode und leitet d a s messianisdie Friedensreich des dritten Zeitalters ein 8 2 . Wir können den Weg, den der spiritualistische Chiliasmus Joachims von Fiore im ausgehenden Mittelalter nimmt, hier nur flüchtig skizzieren. Es mußten erst zwei Generationen vergehen und jene Gestalten in die Geschichte eingetreten sein, die als Erfüllung seiner Prophezeiungen gelten konnten, der Ordensgründer Franz von Assisi und der Stauferkaiser Friedrich II., bevor die diiliastisdien Ideen Joachims ihre revolutionäre Sprengkraft entla7 9 Concordia novi ac veteris testamenti IV, 31; Expositio in Apocalypsim VII, 2: Er wird den christlichen Glauben erneuern, die gereinigte und geläuterte Geistkirdie des dritten Zeitalters begründen, alle Völker der Erde unter sich vereinigen und das Johannes-Wort (10, 16: „et fiet unum ovile, et unus pastor") verwirklichen. Vgl. A. DEMPF, a. a. O. S. 273; E. BENZ, a. a. O. S. 44 f. 8 0 Vgl. vor allem F. BAETHGEN, Der Engelpapst. Idee und Erscheinung. Leipzig 1943, S. 23 ff., wo von Joachim ausgehend die Engelpapst-Prophetien des späten Mittelalters ausführlich behandelt und auch die sehr aufschlußreichen Beziehungen zur Weltkaiser-Prophetie erörtert werden; ferner H. GRUNDMANN, Die Papstprophetien des Mittelalters, in: Archiv für Kulturgeschichte 19, 1928, S. 77 ff. 8 1 Expositio in Apocalypsim III, 12, fol. 133 a; vgl. H. GRUNDMANN, Neue Forschungen, a. a. O.

S . 4 9 f . , u n d A . DEMPF, a . a . O . S . 2 7 9 f . 8 2 Zu der mit dem mittelalterlichen Chiliasmus unlöslich verbundenen Antichrist-Erwartung, die im nächsten Abschnitt noch ausführlicher behandelt werden wird, vgl. das grundlegende Werk von W. BOUSSET, Der Antichrist in der Überlieferung des Judentums, des Neuen Testaments und der alten Kirche. 3. Aufl., Göttingen 1926. Bei Joachim hat sich auch hier gegenüber dem altkirchlichen Chiliasmus eine Spiritualisierung der überlieferten Vorstellungen insofern vollzogen, als er zwischen dem mystischen Antichrist am Ende des zweiten Reiches, der sich verschiedener Masken und menschlicher Werkzeuge bedienen kann, und dem eigentlichen, offenen Antichrist am Weltende unterscheidet.

14

M ä h l , D i e I d e e des g o l d e n e n Z e i t a l t e r s

210

Der (hristlìAe

Chiliasmus

den konnten8®. Das Ideal des vollkommenen Lebens, der „evangelica perfectio" und „conformitas cum Christo", das Franz von Assisi vorsdiwebte, mußte in dem von ihm begründeten Minoriten-Orden schon frühzeitig das Gefühl hervorrufen, der auserwählte Orden der verheißenen Geistkirche der Endzeit zu sein. Das Eindringen joadiitisdier Ideen in den Franziskaner-Orden läßt darüber hinaus sich fast auf das Jahr genau bestimmen; denn um 1241 wird, wie ein Augenzeuge berichtet, durch den Zuflucht suchenden Abt des Klosters San Giovanni di Fiore dem Minoriten-Konvent zu Pisa die erste Kenntnis der Sdiriften Joachims vermittelt 84 , und kaum ein Jahrzehnt später ist es der Franziskaner Gerardino von Borgo San Donnino, der die drei Hauptschriften Joachims mit einer Einführung, dem ,liber introductorius in Evangelium Aeternum', veröffentlicht 85 . In diesem Titel kommt bereits die entscheidende und folgenreiche Umdeutung zum Ausdruck, denn jetzt sind es die Schriften Joachims, die als das geweissagte Evangelium Aeternum, als die Heilige Schrift der neuen Ecclesia Spiritualis gelten, und in ihnen verkörpert sich jene reine, geistige Schau der göttlichen Geheimnisse, die in dem Evangelium Christi durch Bilder und Rätsel verhüllt sind. Zugleich aber wird nun auch Franziskus, der heilige Gründer des Ordens, als der Engel der Apokalypse erkannt und gedeutet, der das Siegel des sechsten Zeitalters eröffnet: er ist der von Joachim verheißene Messias des neuen Reiches. Diese Aktualisierung der joadiitischen Botschaft, dieses im radikalen Flügel des Franziskaner-Ordens sich durchsetzende ekstatische Bewußtsein, daß die von Franziskus ausgehende religiöse Erneuerung die Erfüllung aller Verheißungen von der kommenden Geistkirche der Endzeit sei, bestimmt die nun folgenden, zahllosen pseudojoachitisdien Schriften und Propheten-Kommentare des 13. und 14. Jahrhunderts, in denen das zunächst vorsichtig formulierte Bild des erwarteten dritten Reiches mit flammenderen, apokalyptisch erregten Farben ausgemalt wird. So verkündigt bereits um 1250 ein Joachim zugeschriebener Jeremiaskommentar, die ,Interpretado praeclara abbatis Joachim in Hieremiam prophetam' 88 , ein Strafgericht Gottes über die Papstkirche und einen kommenden Mönchsorden, der als Prediger der Wahrheit das Evangelium Aeternum über die ganze Erde verbreiten werde; hinter ihm taucht die Heilsgestalt eines Engelpapstes auf, der die gereinigte und geläuterte Geistkirche begründen, alle Völker der Erde, Griechen, Juden, Heiden und Christen, unter sieh vereinigen und damit das Johannes-Wort von dem Einen Hirten und der Einen Herde am Ende aller Zeiten verwirklichen werde. Auch nachdem sich die Kirche gegen die spiritualistische Bewegung wendet und eine päpstliche Kommission zu Anagni 1255 die ketzerischen Gedanken und Sätze Joachims aus dem von Gerardino veröffentlichten Werk zusammenstellt und verwirft, trägt die Welle der franziskanischen Reformation die Prophetie des dritten Reiches weiter und verkündet das „novum et solemne saeculum", dessen Anbruch zunächst mit Joachim für das Jahr 1260, dann, als diese Hoffnungen mit dem plötzlichen Tode Friedrichs II. und der beginnenden Verfolgung durch die Papstkirche zusammenbrechen, in weiterer Zukunft erwartet wird. Die Wahl des Einsiedlers Peter von Morrone zum Papst Coelestin V. scheint für kurze Zeit die spiritualistischen Träume vom Engelpapst und der damit anbrechenden Heilszeit zu erfüllen87. Aber nach seiner Abdankung 1292 kommt der erbittertste Gegner der FranziskanerSpiritualen, Papst Bonifaz VIII., zur Herrschaft, und in den nun einsetzenden blutigen Verfolgungskämpfen bricht noch einmal die apokalyptische Erregung in einem ihrer bedeutendsten Vertreter, in Petrus Johannis Olivi durch, der um 1299 seine .Postilla in Apocalypsim' schreibt. In diesem Werk werden die radikalsten Folgerungen der joachitischen Geschichts85 Zum Folgenden vgl. die ausführlichen Darstellungen von E. BENZ, Ecclesia Spiritualis, a. a. 0 . S. 175 ff., und A. DEMPF, Sacrum Imperium, a. a. O. S. 285 ff. 84 Der durch Salimbene überlieferte Bericht ist abgedruckt bei E. BENZ, a. a. O. S. 175 ff. 85

E.

BENZ, a . a . O .

S . 2 4 4 ff. u n d

A.

DEMPF,

a. a. O.

S. 3 0 4 ff. D a s

Protokoll

der

päpstlichen

Untersuchungskommission zu Anagni überliefert uns neben einer kurzen Exzerptsammlung Pariser Professoren (1255) die einzig erhaltenen, allerdings entscheidenden Stellen aus diesem geschichtlich bedeutsamen ,Liber introductorius'; dazu E. BENZ, Joachim-Studien II: Die Excerptsätze der Pariser Professoren aus dem Evangelium Aeternum, in: Z f K G 51, 1932, S. 415 ff. e« Drudeausgaben erschienen in Venedig 1516 und 1525 sowie in Köln 1577; vgl. die Behandlung bei H. GRUNDMANN, Studien über Joachim von Floris, a. a. O. S. 16 f. 87

V g l . F . BAETHGEN, D e r E n g e l p a p s t , a . a . O . S . 5 4 ff. u . 1 1 0 ff.

Das,Dritte ReiA' Joachims von Fiore

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prophetie gezogen und Franz von Assisi als Eröffner des neuen Zeitalters, als „capitaneus" der Geisteskirdie, als Urbild des „homo novus", ja, als zweiter Christus gefeiert, der wie der Heiland von den Toten auferstehen werde, dessen Orden aber bereits als eine Auferstehung seines mystischen Leibes zu verstehen sei; über die Papstkirdie dagegen, die „ecclesia carnalis", werde ein Strafgericht hereinbrechen, sie werde der Verdammnis anheimfallen und ihre Heilsmission auf die neuen Menschen der „ecclesia spiritualis" übertragen müssen88. Damit ist die revolutionäre Wendung in letzter Schärfe vollzogen, und das dritte Reich wird, weit über Joachim hinaus, als Überwindung der babylonischen Papstkirdie („meretrix magna babylonis"), des Antidiristen schlechthin, angesehen; die neue Mensdiheit, der „populus sanctorum", soll als Orden des neuen Jerusalem an die Stelle der mittelalterlichen Kirdie treten und das dritte Zeitalter eröffnen, „welches dauern wird bis zum Ende der Welt" 8 ·. Mit diesem Ziel einer umfassenden Reformation wird deutlich, wie das triadische Gesdiiditsverständnis der Joadiiten nunmehr von einer mittleren Verfallszeit ausgeht, die sich in der gegenwärtigen Papstkirdie verkörpert, so daß die verkündete Idealzeit in gewisser Weise als Wiederherstellung der reinen Urkirdie, über die Verderbnisse der Gegenwart hinweg, begriffen werden kann: das medium aevum wird, anders als bei Joadlim, ganz im Sinne der späteren Geschichtsmetaphysik als A b f a l l und T i e f s t a n d gegenüber Vergangenheit und Zukunft betrachtet. Die Sdiriften Olivis werden um 1310 verbrannt; aber von den spiritualistisdien Sekten der Beguinen und Beguarden wird der Häretiker weiterhin als Heiliger verehrt, und in dieser Form einer verketzerten, in einzelne Sekten und Schwärmergruppen aufgespaltenen Bewegung dringt der joadiitische Spiritualismus des Spätmittelalters bis an die Schwelle der Neuzeit vor. Aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts ist uns eine Schrift der FranziskanerSpiritualen erhalten, der ,Liber de Flore', der durdi die darin entworfene Zukunftsvision als stellvertretend für alle Flugschriften und Prophetien dieses Zeitraums gelten kann' 0 . In Form einer Genealogie („de summis pontificibus ab Innocentio quarto usque ad antidiristum") werden hier für die nächste Zukunft vier Engelpäpste angekündigt, die mit Hilfe eines edlen Königs aus fränkischem Geschlecht ein christliches Universalreidi auf Erden errichten werden; unter ihnen sollen sich die diiliastischen Heilsträume der Mensdiheit endlich erfüllen: ewiger Frieden wird herrschen, sogar die Herstellung von Waffen wird verboten sein, alle Schlechtigkeit wird durdi väterliche Liebe, Güte und Gerechtigkeit überwunden, Juden und Heiden werden bekehrt, die Reform der Kirdie durchgeführt, der schädliche Reichtum den Prälaten genommen und den Armen überwiesen. Dann werden selbst die Tiere die Wildheit ihrer Natur vergessen·1, und die Elemente werden sidi vor dem Engelpapst neigen und sich seinem Willen fügen, so daß man in Zukunft trockenen Fußes von Europa nach Asien zu gelangen vermag. Dann werden alle Verheißungen des Johannes, alle Worte Daniels sich erfüllen und die göttlichen Geheimnisse für jeden offen zu Tage liegen. In dieser verschwenderischen Ausmalung der erträumten Endzeit durch die altüberkommenen Weissagungsmotive gipfelt die mönchisch-strenge Prophetie Joachims und verliert sich zugleich in den Sekten- und Sdiwärmerbewegungen des 14. und 15. Jahrhunderts, in denen bald die religiösen Hoffnungen auf eine Reform der Kirche, bald die sozialen Hoffnungen auf einen Ausgleich der Besitzverhältnisse, bald die politischen Hoffnungen auf eine friedlich geeinte Welt unter dem Zeichen des Kreuzes oder des erneuerten römischen Weltkaisertums dominieren. Noch am Beginn der Renaissance, um 1350, ging von dem zur Sekte gewordenen franziskanischen Spiritualismus ein unmittelbarer Impuls auf die rätselvolle, von Burdach viel88 Vgl. E. BENZ, Ecclesia Spiritualis, a . a . O . S. 258 ff.; Die Geschidits théologie der Franziskanerspiritualen des 13. und 14. Jahrhunderts nach neuen Quellen, in: ZfKG 52, 1933, S. 90 ff.; A. DEMPF, Sacrum Imperium, a. a. O. S. 312 ff. 8 · Zit. nach E. BENZ, Ecclesia Spiritualis, a. a. O. S. 293. 90 H. G R U N D M A N N , Liber de Flore. Eine Schrift der Franziskaner-Spiritualen aus dem Anfang des M.Jahrhunderts. In: Historisches Jahrbuch der Görresgesellsdhaft, Bd. 49, München 1929, S. 33 ff. 11 Offenbar hat das altüberkommene Motiv des Tierfriedens im goldenen Zeitalter und tausendjährigen Reich durch Franz von Assisi besondere Bedeutung erlangt; vgl. L. JUNGE, Die Tierlegenden des heiligen Franz von Assisi. Königsberger Historische Forschungen, Bd. 4. Königsberg 1932, S. 6 ff.

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Der àristliche

Chiliasmus

leicht überzeichnete Persönlichkeit des Volkstribunen Cola di Rienzo über, dem nach seinem eigenen Bekenntnis durdi die spiritualistisdien Eremiten des Maiella-Gebirges die Prophetien Joachims vermittelt wurden. Sein berühmter Brief an Karl IV., in dem er das politische und geistige Programm der „reformatio universalis" und „renovatio mundi" entwirft, kann geradezu als ein Versuch gedeutet werden, die Ideen Joachims und seiner Nachfolger in die Wirklichkeit umzusetzen. Denn in der ausführlichen Begründung seines Programms kehrt der Gedanke des dritten Reiches, des nahe bevorstehenden Endzeitalters der Geschichte das er in einem geistlichen und einem weltlichen Führer, dem Hirten der Endkirche und dem Kaiser des Endreiches, verwirklicht sehen möchte - ebenso wieder wie die Berufung auf die Verheißungen Joachims, der dieses Zeitalter vom fortschreitenden Wirken der „intelligentia spiritualis" abhängig gemacht hatte. Das Reich des Heiligen Geistes sei nahe, heißt es in seinem Manifest an Karl IV., der geweissagte Engelhirte („pastor angelicus") und römische Weltkaiser („Romanus Caesar") seien dafür bereits erwählt; ein Frater Angelus habe ihm bei den Eremiten im Appenin enthüllt, daß Gott eine Reformation des ganzen Zeitalters beabsichtige („quod Deus intendit ad universalem reformationem, a multis viris spiritualibus iatn praedictam"): „Et quod in brevi erunt magnae novitates", heißt es weiter, „praesertim pro reformatione Ecclesiae ad statum pristinae sanctitatis, cum magna pace non solum inter Christicolas, sed inter Christianos et etiam Saracenos, quos sub uno proxime futuro pastore Spiritus Sancti gratia perlustrabit; asserens, quod tempus instat, in quo Spiritus Sancti tempus ingreditur, in quo Deus ab hominibus cognoscetur; item quod ad huiusmodi spiritualis negotii prosecutionem electus sit a Deo vir sanctus, revelatione divina ab omnibus cognoscendus, qui una cum electo imperatore orbem terrarum multipliciter reformabunt . . ," 92 In diesen Anschauungen Rienzos erfährt der Chiliasmus Joachims seine politische und geistige Umwandlung in die Hoffnungen der anbrechenden Renaissance. Und wenn auch die messianischen Heilspläne des römischen Abenteurers nur zu bald an der nüchternen Haltung Karls IV. scheiterten, der in seinem Antwortbrief die Lehre der Spiritualisten ausdrücklich verwirft 93 , so ist doch das Geschichtsbewußtsein der Renaissance, wie die Forschungen Konrad Burdachs gezeigt haben, entscheidend von der Prophetie des dritten Zeitalters bestimmt worden: der Begriff der „Neuzeit", der damals geboren wurde, tritt mit dem in ihm verankerten triadischen Geschichtsverständnis, das die Zukunft als Wiedergeburt des idealen Altertums über das Verfallsstadium der Gegenwart hinweg, als drittes Zeitalter der Erfüllung also begreift, von solchen diiliastisdien Heilsakzenten geprägt ins Bewußtsein der nachmittelalterlichen Menschheit ein 94 . 9 2 Briefwechsel des Cola di Rienzo, hg. von K. Burdadi und P. Piur. Vom Mittelalter zur Reformation II, 3, Berlin 1912, S. 194, Nr. 49 (Rienzo an Karl IV., J u l i 1350). Vgl. den Textabdruck des gleichen Briefes bei H. RUPPRICH, Die Frühzeit des Humanismus und der Renaissance in Deutschland. D L E , Reihe Humanismus und Renaissance, Bd. 1, Leipzig 1938, S. 5 0 / 5 1 . 9:1 „Multi credunt esse magnifici in spiritu et intellectu, quorum fundamentum aedificatum est super columnas superbiae et vanitatis . . heißt es in dem Antwortsdireiben; vgl. dazu P. PIUR, Cola di Rienzo, Wien 1931, S. 156 ff., und E. BENZ, Ecclesia Spiritualis, a. a. O. S. 387 ff. 9 4 Vgl. K. BURDACH, Reformation Renaissance Humanismus, a. a. O. S. 38 ff. - Zur Korrektur Burdadis, vor allem was seine Einschätzung der zwielichtigen Gestalt Rienzos betrifft, vgl. sdion K. BRANDI, Cola di Rienzo und sein Verhältnis zu Renaissance und Humanismus, in: D V j s . 4, 1926, S. 5 9 5 ff.

Die Weltkaiser-Prophetie

des

Mittelalters

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3. Die Weltkaiser-Prophetie des Mittelalters und ihr Nachklang in der deutschen Kaisersage Wie bereits bei Rienzo deutlich wurde, können sich die chiliastischen Erwartungen eines dritten Zeitalters und Engelpapstes mit den Erwartungen eines erneuerten Imperium Romanum und Weltkaisers verbinden. Wir werden damit auf eine zweite, vom Chiliasmus abhängige und mit ihm unlöslich verschlungene mittelalterliche Ideenüberlieferung verwiesen, die in der staufischen Weitkaiser-Idee ihren Höhepunkt erlebt und als solche entscheidend in die eschatologisdien Ideenkämpfe der Joachiten und Franziskaner-Spiritualen im 13. Jahrhundert eingegriffen hat. Denn wie sich alle Auseinandersetzungen des Mittelalters auf den beiden Ebenen der damaligen Weltordnung, auf der religiösen Ebene der Kirche und auf der politischen Ebene des Reiches abspielen, so sind auch seine Heilserwartungen durch zwei zunächst einander entgegengesetzte, wenn auch im christlichen Glauben verankerte Pole bestimmt: sie richten sich entweder auf den verheißenen NOVUS DUX der kommenden Geistkirche, den Engelpapst der Endzeit - oder, in der gleichen Verklärung des damit anbrechenden goldenen Zeitalters, auf einen Weltkaiser, einen Erneuerer des christlich-römischen Imperiums, einen Friedensfürsten, der, einer alten sibyllinischen Prophetie aus dem Osten folgend, am Ende aller Tage erwartet wird und die zweite mythische M i t t l e r g e s t a l t der christlichen Endzeithoffnungen darstellt. In Friedrich II. gipfelt diese seit dem 9. Jahrhundert im Abendland verbreitete Kaiser-Prophetie und geht in das Selbstbewußtsein des letzten großen Stauferkaisers ein; an ihn, der von den Franziskaner-Spiritualen zum Antichristen erklärt und als der heilsgeschichtlich vorbestimmte, dämonische Gegenspieler der Endzeit angesehen wird, heftet sich daher audi die spätere Kaisersage, die nach dem Ausgang des Mittelalters im Volksglauben fortlebt, seine Verheißungen und Weissagungen durch die Jahrhunderte trägt und von der Romantik zu neuem, dichterischem Leben erweckt wird 95 . Die antike Idee von dem Weltberuf und der Weltdauer des römischen Reiches, wie sie vor allem von Vergil verkündet worden war, hatte audi im Frühchristentum ihre Bedeutung nicht verloren; sie war bereits von der alten Kirche aufgenommen und umgedeutet worden, indem sie auf den großen Abfall am Ende aller Tage, auf das Erscheinen des Antichristen bezogen wurde 9 ·. Denn das Imperium Romanum galt seit der klassischen Auslegung des Hieronymus"? als letzte der vier großen Weltmonarchien, die sich nach der bekannten Prophetie Daniels ablösen und dem ω

Vgl. unsere Arbeit, S. 231 f. u. 414 ff. Zum Folgenden vgl. F. SCHNEIDER. Rom und Romgedanke im Mittelalter, a . a . O . S. 5 5 f f . : ferner F. KAMPERS, Die Idee von der Ablösung der W e l t r e i d i e in esdiatologischer Beleuchtung, in: Historisches Jahrbuch d e r Görresgesellschaft, Bd. 19, München 1898, S. 423 ff.; W . REHM, D e r U n t e r gang Roms im abendländischen Denken, a. a. O. S. 15 ff.; F. KLINGNER, Rom als Idee. Romisdie Geisteswelt. a. a. O. S. 561 ff.; M. BOLVIN, Die christlichen Vorstellungen vom W e l t b e r u f der Roma aeterna bis auf Leo den G r o ß e n . Diss., Münster 1922, S. 49ff.; E. PFEIL, Die fränkische und deutsche Romidee des f r ü h e n Mittelalters. Forschungen zur mittelalterlichen u. neueren Gesdiichte, H . 3. München 1929, S . 29 ff. u. 36 ff. 97 Hieronymi Commentariorum in Danielem P r o p h e t a m ad P a m m a d i u m et Marcellam Liber unus; Patrologia Lat., Tom. X X V , p. 491 ff. ββ

Der christliche Chiliasmus

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ewigen Gottesreidi am Ende der irdischen Geschichte voraufgehen sollten. Es wurde nach einer schon im frühen Mittelalter vielzitierten Stelle des 2. ThessalonicherBriefes als die den Antidiristen niederhaltende Ordnungsmacht aufgefaßt, die bis zum Anbruch des esdiatologischen Kampfes das Böse in Schranken halten und der Kirdie den notwendigen Raum für ihr christliches Missionierungswerk sichern sollte. Erst wenn der große Abfall von Rom erfolgt, wird sich der Sohn des Verderbens, der Widersacher offensichtlich enthüllen: „Ne quis vos seducat ullo modo, quoniam, nisi venerit discessio primum, et revelatus fuerit homo peccati, filius perditionis, qui adversatur et extollitur supra omne, quod dicitur Deus .. ,"ίβ Diese Ankündigung des Antidiristen ist bereits von Tertullian auf das Ende des römischen Weltreiches bezogen worden, wenn er in seiner Auslegung der prophetischen Apostelworte von der „discessio" die Frage aufwirft: „Quis, nisi Romanus status? cujus abcessio in decern reges dispersa Antidiristum superducet . . Dem römischen Reidi war damit, wie alle mittelalterlichen Weltchroniken seit dem 9. Jahrhundert als grundlegendes Prinzip der säkularen Geschichtsbetrachtung wiederholen, eine bestimmte, allerdings nur mittelbare heilsgeschichtliche Funktion zugewiesen worden - eine Auffassung, die bereits durch den Fall Roms im J a h r e 410 eine ungeheure Aktualität gewinnen mußte: schien es dodi, als sei damit der A n bruch des Jüngsten Tages nahe herbeigekommen und das Auftreten des Antidiristen unmittelbar zu erwarten. Aber während Augustinus in seiner durch dieses Mahnund Verfallszeidien veranlaßten christlichen Geschichtsdeutung den heidnischen Romgedanken scharf zurückgewiesen und ihm als dem zweiten Babylon, d. h. der Verkörperung eines irdischen Maditreiches, das regnum Christi als ein in der Kirche verkörpertes Gottesreidi entgegengesetzt hatte, bedurfte es mannigfacher politischer und geistiger Veränderungen, vor allem audi der Einwirkungen aus dem byzantinisdien Osten, bevor aus dieser ersten entschiedenen Verneinung des Imperiums eine Bejahung und die Hoffnung auf ein wiederkehrendes, im christlichen Glauben geeintes „Imperium Romanorum et Christianorum" werden konnte 100 . Das heidnisdie Rom, das Babylon der Antike mochte untergehen, wenn nur die Hoffnung auf ein erneuertes, christliches Rom blieb, das als Werkzeug der göttlichen Vorsehung zur Ausbreitung des Christentums erscheinen und die Welt vor dem hereinbrechenden Chaos der Antichrist-Herrschaft retten konnte. Denn solange die letzte der vier Weltmonarchien besteht, das ist der gemeinsame, Antike und Christentum verbindende Rom-Glaube, kann der Widersacher sein Reich nicht erriditen; „quando

• 8 2. Thessal. 2, 3-4. (Vgl. W. BOUSSET, Der Antichrist in der Oberlieferung des Judentums, des Neuen Testaments und der alten Kirche, a. a. 0 . S. 28 ff.) " Tertulliani Liber De Resurrectione Carnis, cap. XXIV; Patrologia Lat. II, 876. Vgl. die fast gleichlautende Deutung in Tertullians Apologeticum cap. X X X I I (Patrologia Lat. I, 447: von der Erhaltung des römischen Reiches sei die Fortdauer der Welt abhängig); ähnlich Lactantius, Div. Inst. Lib. VII, 25: „Illa, illa est civitas, quae adhuc sustentât omnia . . . cuius interitu mundus ipse lapsurus est . . (Patrologia Lat. VI, 811). 100

V g l . F . KLINGNER, a. a . 0 . S. 5 7 1 ff.; E . PFEIL, a . a . 0 . S. 2 9 ff.

Die Weltkaiser-Prophetie

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Mittelalters

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cadet Roma, cadet et mundus"101. Aus dieser grundlegenden, esdiatologisdh verankerten Geschichtsansdiauung erwachsen nicht nur jene Theorien von der „translatio imperii", mit welcher die verschiedenen, innerhalb des alten römischen Reichsraumes entstehenden romanisch-germanischen Königreiche das Erbe Roms anzutreten beanspruchten 102 , sondern wird audi eine neue politische Sehnsucht erweckt, die sich angesichts des verfallenden Weltreiches und des Ansturms heidnischer Völker gegen die Grenzen des christlichen Abendlandes auf einen Herrscher der Endzeit, auf einen messianisdien Weltkaiser richtet, der als letzter der irdischen Regenten eine Heils- und Friedenszeit über den Erdkreis zu bringen berufen sein und mit ihr ein Bollwerk gegen die drohende Herrschaft des Antichristen aufrichten soll. In diesem Glauben leben die antiken Weltherrscher-Ideen, die sich schon frühzeitig von der religiösen Messias-Erwartung des Orients abgezweigt und zunächst durch die Alexandersage, dann durch Vergils Verkündigung des kommenden Caesar Augustus ihren dichterisch weiterwirkenden Ausdruck erhalten hatten, im christlichen Abendlande wieder auf und bestimmen in der Folgezeit nicht nur die Rivalität zwischen den fränkischen und deutschen Weltherrschaftsansprüchen, sondern auch den mittelalterlichen Kampf zwischen Papsttum und Kaisertum. Dabei stellt sich aber durch die Antichristsage eine Verbindung zur christlichen Eschatologie und zur Erwartung des tausendjährigen Reiches her. Denn während die antike Weltherrscher- und Heilsidee zunächst ganz dem frühchristlichen Chiliasmus hatte weichen müssen, während, wie wir am Beispiel des Lactantius beleuchtet haben, vor Christus als dem „rex iustus et victor" und seinem tausendjährigen Reich der geweissagte römische Weltherrscher zurücktreten mußte und das von ihm erhoffte goldene Zeitalter durch die interpretado Christiana Vergils auf Christus bezogen, als s ä k u l a r e Heilserwartung also entmachtet werden konnte - waren im byzantinischen Osten, wo sich Orient und Occident berührten, die sibyllinischen Weissagungen nicht verstummt und hatten bereits in dem ersten christlichen Kaiser Konstantin den Begründer eines neuen Weltreiches angekündigt, der dem Schreckensherrscher aus Babylon, dem Perserkönig, als Retter der Christenheit entgegentreten und nach Niederwerfung der Perser sein tausendjähriges Friedensreich errichten würde 103 .

101

W . REHM, Der Untergang Roms im abendländischen Denken, a. a. O. S. 27. ιοί Vgl. dazu W . GOEZ, Translatio Imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Tübingen 195S. ios Vgl. F. KAMPERS, Die deutsdie Kaiseridee in Prophetic und Sage. München 1896, S. 16 f. Kampers, dessen Forschungen wesentlich diesem einen Thema der Kaiserprophetie und -sage gewidmet waren, hat in seinen zahlreichen Arbeiten in immer wiederholten Ansätzen den wohl entscheidenden Beitrag zu Herkunft und Geschichte dieser Ideenüberlieferung geleistet; neben dem oben genannten Werk sind vor allem heranzuziehen seine Bücher und Aufsätze: Alexander der Große und die Idee des Weltimperiums in Prophetie und Sage, Freiburg i. Br. 1901; Die Geburtsurkunde der abendländischen Kaiseridee, in: Historisches Jahrbuch der Görresgesellschaft, Bd. 36, München 1915, S. 233ff.; Aus der Genesis der abendländisdien Kaiseridee, in: Mitteilungen d. schlesisdien Gesellschaft f. Volkskunde, Bd. 17, Breslau 1916, S. 137 ff.; Vom Werdegange der abendländischen Kaisermystik, Berlin-Leipzig 1924. Aus der älteren und neueren Literatur sind für diesen Komplex der antiken und mittelalterlichen Ideengeschichte neben Kampers vor allem bedeutsam: H. GRAUERT, Zur deutschen Kaisersage, in: Historisches Jahrbuch der Görresgesellschaft, Bd. 13, München 1892, S. 100ff.; E. SACKUR, Sibyllinische Texte und Forschungen. Halle a. S. 1898; F. PFISTER, Die deutsdie Kaisersage in ihren antiken Wurzeln. Würzburg 1928.

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Der christliche Chiliasmus

Die damit einsetzende, eigentümliche Umformung der chiliastischen Gedankenwelt, in welcher nun nicht mehr der zu Auferstehung und Gericht wiederkehrende Christus, sondern ein irdischer Endkaiser die entscheidende Rolle spielt, kann nur aus den schweren Bedrängnissen des Ostreiches durch die Perser- und Araber-Einfälle erklärt werden, in denen die apokalyptischen Antichrist-Erwartungen mit erregender Aktualität aufflackerten und das Trost- und Hoffnungsbild des in der sibyllinischen Tradition von jeher verankerten gottgesandten Messias-Kaisers erneut heraufbeschworen wurde. Die Erwartungen, die man auf Konstantin den Großen setzte, blieben unerfüllt; aber nicht lange nach seinem Tode, um das J a h r 360, ist jene merkwürdige Sibyllenweissagung entstanden, die unter dem Namen der Tiburtinisdien Sibylle, an alte römische Prophetien anknüpfend 104 , ins westliche Abendland gelangt ist und hier in immer neuen Bearbeitungen und Umdeutungen die mittelalterliche Kaiserprophetie bestimmt hat. Ohne diesen sibyllinischen Grundtext aus dem byzantinischen Osten, wie er von der Forschung aus der ältesten, uns erhaltenen langobardischen Handschrift des Jahres 1047 rekonstruiert worden ist, sind die gesamten, bis ins 14. Jahrhundert umlaufenden Kaiser-Vaticinien, die durch Einsetzung entsprechender fränkisch-deutscher Fürstennamen den wechselnden Zeitverhältnissen angepaßt werden konnten, nicht zu verstehen 105 . In dieser frühesten, sogenannten Konstantin-Sibylle wird eine lange Geschlechterfolge von Königen geweissagt, als deren letzter sich ein Griechenkönig namens Constans erheben und ein weltumfassendes Christenreich begründen soll, das mit Zügen des goldenen Zeitalters verklärt wird; er wird alle Heidenvölker unterwerfen und sie bekehren, so daß auf allen Tempeln der W e l t das Kreuz Christi errichtet werden kann. W e n n nach den 112 Jahren seiner Herrschaft der Antichrist mit seinen einst von Alexander eingeschlossenen Schreckensvölkern Gog und Magog erscheinen und gegen das Christenreich anstürmen wird, wird der König der Römer sein Heer zusammenrufen und ihn bis zur Vernichtung schlagen: dann wird er nach Jerusalem kommen, sein Diadem vom Haupte nehmen, seine königliche Gewandung ablegen und das letzte irdische Weltreich Gottvater und Christus überantworten. Auf dieses Ende des Imperium Romanum folgt die Herrschaft des Antichristus, der schließlich auf dem ö l b e r g vom Erzengel Michael getötet werden und damit das Jüngste Gericht eröffnen wird: „Et tunc surget rex Grecorum, cuius nomen Constans, et ipse erit rex Romanorum et Grecorum . . . Et ipsius regnum C et X I I annis terminabitur. In Ulis ergo diebus erunt divitiae multe et terra abundanter dabit fructum ... Et ipse rex scripturam habebit 104 V o n d e r T i b u r t i n i s d i e n S i b y l l e w a r in R o m die S a g e verbreitet, sie h a b e O c t a v i a n die G e b u r t Christi geweissagt; diese V e r s i o n , die im späteren M i t t e l a l t e r , v o r allem in den L e g e n d a a u r e a des J a c o b u s de V o r a g i n e (cap. 6), ausgeschmückt wurde, v e r h a l f den unter dem N a m e n der T i b u r t i n i s d i e n S i b y l l e umlaufenden W e i s s a g u n g e n im M i t t e l a l t e r zu e i n e r besonderen G e l t u n g - neben den beiden S i b y l l e n von C u m a e a und E r i t h r a e a , die schon durch L a c t a n t i u s in die christliche W e i s s a g u n g s l i t e r a t u r e i n g e f ü h r t worden w a r e n . V g l . im einzelnen E . SACKUR, Sibyllinische T e x t e und Forschungen, a. a. 0 . S. 125 ff., und A . KURFESS, S i b y l l i n i s d i e W e i s s a g u n g e n , a. a. O. S. 345 ff. los D i e Rekonstruktion dieses ältesten G r u n d t e x t e s h a t erstmals F . KAMPERS unternommen (Die deutsche Kaiseridee in P r o p h e t i c und S a g e , a. a. O. S . 18 ff. mit A n m e r k u n g e n ) ; sie wurde dann durch E . SACKUR im wesentlichen bestätigt und in s e i n e r nodi i m m e r m a ß g e b e n d e n Edition durch einen Vergleich a l l e r v o r h a n d e n e n Handschriften kritisch nachgewiesen (Sibyllinisdie T e x t e und Forschungen, a. a. O . S . 126 ff. u. 162). I h m schließt sich A . KURFESS, a. a. O . S . 3 4 6 an.

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ante oculos dicentem: ,Rex Romanorum omne sibi vindicet regnum diristianorum'. Omnes ergo ínsulas et civitates paganorum devastabit et universa idolorum templa destruet, et omnes paganos ad babtismum convocabit et per omnia templa crux Iesu Christi erigetur . . . In ilio tempore surget princeps iniquitatis de tribu Dan, qui vocabitur Antichristus . . . Et exurgent ab aquilone spurcissime gentes, quas Alexander inclusit, Gog videlicet et Magog . . . Cum autem audierit rex Romanorum, convocato exercitu debellabit eos atque prosternet usque ad internicionem et postea veniet Jerusalem, et ibi deposito capitis diademate et omni habitu regali relinquet regnum diristianorum Deo patri et Iesu Christo filio eius. Et cum cessaverit Imperium Romanum, tunc revelabitur manifeste Antichristus .. .",oe

Dieser Gedanke vom Endkaiser der irdischen Geschichte, der das im christlichen Geiste geeinte römisdie Weltreich noch einmal erneuern, den Antichristen besiegen und dann in Jerusalem an heiliger Stätte seine Herrschaft Gott übergeben werde, ist im westlichen Abendland offenbar sdion seit der Karolingerzeit verbreitet worden. Neben der Tiburtinischen Sibylle spielte dabei die sogenannte MethodiusApokalypse eine große Rolle, die, Ende des 7. Jahrhunderts in Syrien unter dem Drude der Araberherrschaft entstanden, in ähnlicher Weise einen König der Griechen und Römer ankündigte, der am Ende der Zeiten alle heidnischen Völker unterwerfen und auf dem ganzen Erdkreis eine glückselige Friedenszeit heraufführen werde: „. . . et erit pax et tranquillitas magna super terram qualis nodum esset facta, sed ñeque fiet similis illa eo quod novissima est et in fine saeculorum. Erit enim laetitia(m) super terram et commorabuntur homines in pace . . ,"107

Die verheißungsvolle Ausmalung des letzten Weltreiches macht deutlich, daß es in der Tat an die Stelle des tausendjährigen Reiches der Chiliasten getreten ist, daß die Erwartung eines messianisch verklärten Weltkaisers die als Häresie verworfene chiliastische Erwartung der ersten Wiederkunft Christi verdrängt, gleichzeitig aber durch ihre Anlehnung an die Antichrist-Sage eine enge Beziehung zur christlichen Eschatologie hergestellt hat. Denn auch in dieser handschriftlich weitverbreiteten, dem vierhundert Jahre älteren Bischof Methodius von Patara fälschlich zugeschriebenen Prophetie gibt der Anbruch des ersehnten Weltfriedensreiches zugleich das Zeichen für das Auftreten des Antichristus und der von ihm entfesselten, mythischen Völkerscharen: sobald das geschieht, wird der König der Römer auf Golgatha seine Krone ablegen und das letzte Christenreich Gott überantworten, damit alle Herrschaft und Gewalt ein Ende habe und die Schreckenstage des Antichristen über die Menschheit hereinbrechen können. Erst nach ihnen wird Christus erscheinen und den

10 · E. SACKUR, Sibyllinisdie Texte und Forschungen (Pseudomethodius, Adso und die Tiburtinische Sibylle), a. a. O. S. 185 f. Eine spätere, kritische Edition mit deutscher Übersetzung bringt A. KURFESS, a. a. O. S. 276 ff. - Zum Depositionsakt in Jerusalem, der als beherrschender Zug der mittelalterlichen Endkaiser-Prophetie gelten kann, vgl. E. SACKUR, a. a. O. S. 164-168; hier wird der Nachweis erbracht, daß audi dieser eschatologisdie Gedanke einer Oberantwortung der Weltherrschaft in einem zuerst im christlichen Byzanz von Konstantin geübten Brauch seine Wurzel hat, nach welchem Kronen und andere Abzeichen königlicher W ü r d e in der Hagia Sophia als Zeichen christlicher Devotion niedergelegt wurden: was wiederum den S. 162 f. begründeten Datierungsversuch Sackurs bestätigt. Zum Einfluß der Alexandersage vgl. F. KAMPERS, Die deutsche Kaiseridee, a. a. O. S. 20 ff. 107 Sermo De Regnum Cantium Et In Novissimis Temporibus Certa Demonstratio, ed. E. SACKUR, a. a. O. S . 91.

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Der christliche

Chiliasmus

Widersacher durch den Hauch seines Mundes töten; dann beginnt das Jüngste Gericht1®«. Aus diesen und ähnlichen Überlieferungen, in denen statt des tausendjährigen Christus-Reiches ein irdisches Weltreich der Römer und Christen prophezeit und mit der Antichrist-Lehre der alten Kirche zu einer eschatologisdien Einheit verschmolzen wird, geht dann im 10. Jahrhundert jenes Werk hervor, das recht eigentlich die mittelalterliche Tradition vom Erscheinen des Antichristen und zugleich die abendländische Kaiserprophetie in ihrer Übertragung auf die verschiedensten Dynastien und Herrscherhäuser begründet hat: die ,Epistola Adsonis Ad Gerbergam Reginam De Ortu Et Tempore Antichristi' 109 . Diese kleine, aber bedeutsame Schrift, mit welcher der Abt Adso von Montiérender um 954 auf Wunsch der Königin Gerberga, Tochter des deutschen Königs Heinrich I. und Gemahlin Ludwigs IV. von Frankreich, die überlieferten Vorstellungen vom Antichristen und der letzten Weltzeit zusammenfaßte, deutet den Kern der sibyllinischen Weissagungen vom römischen Messias-Kaiser bereits auf das erneuerte abendländische Kaisertum um - wohl nicht ohne Hinblick auf die kritische Jahrtausendwende, gleichsam als Trostschrift gedacht und von der Hoffnung auf ein Fortbestehen des verfallenden karolingischen Herrscherhauses erfüllt. Denn wenn audi Adso, wie alle mittelalterlichen Historiographen, den Inzidenzpunkt für das Erscheinen des Antichristen im Abfall vom römischen Reiche erblickt110, so beruft er sich trotz drohender Anzeichen des beginnenden Verfalls („videamus Romanorum regnum ex maxima parte destructum") dennoch auf eine weitverbreitete, offenbar schon von Gelehrten am Hofe Karls des Großen vertretene Meinung, nach welcher aus dem fränkischen Königshause noch ein großer Weltherrscher und König der Endzeit hervorgehen solle, der die Sdirekkenstage des Widersachers hinausschieben und unmittelbar zuvor das geweissagte Weltfriedensreich begründen werde. Erst nach dieser glücklichen Zeit werden sich die Worte des Apostels Paulus erfüllen - denn dann wird der letzte Frankenkönig 108 E. SACKUR, a . a . O . S. 9 3 / 9 4 : „Et cum apparuerit filius perditionis, ascendit rex Romanorum sursum in Golgatha, in quo confixum est lignum sanctae crucis. In quo loco pro nobis Dominus mortem sustenuit, et tollit rex coronam de capite suo et ponet eam super crucem, et expandit manus suas in caelum et tradii regnum christianorum Deo et patri et adsumetur crux in caelum simul cum coronam regis . . . Tunc distruet[ur] omnem principatum et potestatem, ut appareat manifestus filius perditionis . . . " - Bei unserem lateinisdien T e x t handelt es sidi um eine Übertragung des griechisch abgefaßten Originals, die im 8. Jahrhundert durdi einen Mönch Petrus am Karolingerhof erfolgt sein muß; aus den vier ältesten lateinisdien Handschriften wurde der kritisdie T e x t bei E. Sackur hergestellt. D i e Methodius-Apokalypse hat auf die mittelalterliche Geschichtsschreibung einen Einfluß ausgeübt, wie kaum eine andere Schrift, vom Kanon und den Kirchenvätern abgesehen. In zahllosen H a n d schriften bis ins 14. Jahrhundert hinein verbreitet, wird sie von fast allen Weltchronisten des Mittelalters herangezogen (Otto v. Freising, Engelbert v. Admont, Gottfried v. Viterbo u. a.); Ende des 15. Jahrhunderts erscheint sie in ersten Druckausgaben (u. a. von Sebastian Brant 1498 in Basel herausgegeben) und erlebt in dieser Form nodi zahlreiche A u f l a g e n bis ins 17. Jahrhundert hinein (vgl.

E . SACKUR, a . a . 0 . S . 3 f f . ; A . KURFESS, a . a . O . S . 3 4 7 ) . 10 · Ed. E. SACKUR, a. a. O. S. 104 ff. Dieser bisher einzige, kritische Neudruck ist gegenüber dem unter den Werken Alcuins abgedruckten, völlig verderbten T e x t bei Migne (Patrologia Lat., Tom. CI, p. 1289 ff.) unbedingt heranzuziehen. 110 Eine unmittelbare Abhängigkeit von der Tiburtinisdien Sibylle und von der Methodius-Apokalypse scheidet nach E. SACKUR ( a . a . O . S. 102f.) bei Adso aus; als Quelle gilt vor allem H a y m o von Halberstadt (um 8S0), dessen Auslegung des 2. Thessalonidier-Briefes die traditionelle Auffassung vom Erscheinen des Antichristen und vom Ende des letzten römischen Weltreiches ausführlich referiert (Patrologia Lat., Tom. C X V I I , p. 777 ff.).

Die Weltkaiser-Prophetie

des

Mittelalters

219

nach J e r u s a l e m k o m m e n , auf d e m ö l b e r g K r o n e u n d Zepter n i e d e r l e g e n u n d mit d e m E n d e des römisch-christlichen Imperiums das Zeichen für die E n t h ü l l u n g

des

Antichristen geben: „Inde ergo dicit P a u l u s apostolus, A n t i d i r i s t u m non antea in m u n d u m esse venturum, nisi venerit discessio primum, id est, nisi prius discesserint o m n i a regna a R o m a n o imperio, que p r i d e m subdita erant. Hoc autem tempus nondum venit, quia, . . . quamdiu reges Francorum duraverint, qui Romanum Imperium tenere debent, Romani regni dignitas ex toto non peribit . . . Q u i d a m v e r o doctores nostri dicunt 1 1 1 , quod unus ex regibus Francorum Romanum Imperium ex integro tenebit, qui in novissimo tempore erit. Et ipse erit maximus et omnium regum ultimus. Qui p o s t q u a m regnum feliciter gubernaverit, ad u l t i m u m I e r o s o l i m a m v e n i e t et in m o n t e O l i v e t i sceptrum et coron a m suam deponet. H i c erit finis et consummatio R o m a n o r u m diristianorumque i m p e rii. Statimque secundum p r e d i c t a m Pauli apostoli sententiam A n t i d i r i s t u m dicunt m o x affuturum, et tunc revelabitur q u i d e m h o m o peccati, Antidiristus v i d e l i c e t . . . " m . D i e hier bei A d s o erstmals in Erscheinung tretende dynastische U m d e u t u n g

der

sibyllinisdien Prophetie, die einem bestimmten Herrsdierhause huldigt, indem

sie

a u s i h m d e n v e r h e i ß e n e n K a i s e r d e r E n d z e i t h e r v o r g e h e n l ä ß t , z i e h t sich v o n n u n a n durch d a s g a n z e M i t t e l a l t e r u n d ruft e i n e F l u t v o n f r a n z ö s i s c h e n u n d Sibyllenweissagungen

hervor,

die nach d e m Z e r f a l l

des

deutschen

fränkisch-karolingischen

Reiches113 d e n K a m p f u m die römische Kaiserkrone u n d u m d e n damit v e r b u n d e n e n Weltherrschaftsanspruch

prophetisch untermalen114.

Die

Idee

der

Weltmonarchie

u n d d e s W e l t f r i e d e n s a l s E r f ü l l u n g a l l e r s ä k u l a r e n H e i l s t r ä u m e k a n n sich i n d i e s e r eschatologisdi gestimmten Zeit offenbar nur als Endzeiterwartung, als

Erwartung

einer letzten irdischen Geschichtsepoche, die das Erscheinen des Antichristen

aus-

l ö s e n m u ß , v o r d e m christlichen G l a u b e n rechtfertigen u n d als solche machtpolitisch m a n i f e s t i e r e n . A u s d e r M i t t e d e s 12. J a h r h u n d e r t s ist u n s a l s e r s t e r H ö h e p u n k t d i e ser E n t w i c k l u n g auf deutschem B o d e n e i n e b e d e u t e n d e , in ihrer liturgisch-strengen F o r m höchst eindrucksvolle D i c h t u n g v o m Antichrist u n d v o m E n d e des

heiligen

Hl Vgl. E. SACKUR, a. a. O. S. 168f.: „Adso beruft sich auf Quidam doctores nostri; es sind Franken, nach denen das römische Reidb in seiner ganzen Ausdehnung von einem Könige der Franken zuletzt beherrscht wird: eine Vorstellung, die nur der Zeit Karls des Großen oder Ludwigs des Frommen entstammen kann, so lange das fränkische Reich in seiner Integrität bestand und als Fortsetzung des alten römischen aufgefaßt werden konnte. Die doctores sind Gelehrte am Hofe Karls und Ludwigs, die die Kriterien des römischen Reiches auf das fränkische übertrugen, und diese mögen aus der tiburtinisdien Sibylle . . . geschöpft haben . . Das widerlegt alle früheren Auffassungen, wie sie audi noch von KAMPERS (Die deutsche Kaiseridee in Prophetie und Sage, a. a. O. S. 43 ff.) vertreten werden. 118 E. SACKUR, a . a . O . S. 110. Zur beherrschenden Stellung dieser Schrift Adsos für die mittelalterlichen Vorstellungen vom Antichrist und Kaiser der Endzeit vgl. G. v. ZEZSCHWITZ, Das mittelalterliche Drama vom Ende des römischen Kaisertums deutscher Nation und von der Erscheinung des Antichrists, Leipzig 1877, S. 35 ff. (der hier unternommene, erstmalige Versuch einer umfassenden Genesis der Kaiseridee ist allerdings durch jüngere Forschungen überholt); A. DEMPF, Sacrum Imperium, a . a . O . S. 254 ff.; A. DÖRRER in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. III, Berlin 1943, Sp. 87 ff. lls Ober die Bedeutung Karls des Großen und des von ihm erneuerten christlich-römischen Universalreiches f ü r die mittelalterliche Kaiserprophetie, die sich in Frankreich fortan an seinen Namen heftet, sowie über die Karlslegenden als eine älteste Erscheinungsform der abendländischen Kaisersage vergleiche man: F. KAMPERS, Die deutsche Kaiseridee, a. a. O. S. 34 ff., und R. FOLZ, Le souvenir et la légende de Charlemagne dans l'Empire germanique médiéval. Publications de l'université de Dijon, nouvelle série, T . VII, Paris 1950. 114

V g l . F . KAMPERS, D i e d e u t s c h e K a i s e r i d e e , a. a . 0 . S. 45 ff.; E . SACKUR, a . a . O . S. 134 ff.

220

Der christliche

Chiliasmus

römischen Reiches deutscher Nation erhalten, in welcher das neue, staufisdie Reichsbewußtsein ebenso wie die esdiatologisdie Grundstimmung des Kreuzzugs jahrhunderts ihren dramatisch-anschaulichen Ausdruck erhalten haben. In diesem um 1170 im Benediktinerkloster Tegernsee entstandenen, lateinischen ,Ludus de Antichristo', dessen unbekannter Verfasser dem Hofkreis Friedrich Barbarossas nahegestanden haben muß 115 , wird der durch Adso überlieferte Stoff vom letzten Weltkaiser und vom Erscheinen des Antichristen mit lebendigem Zeitgehalt erfüllt und auf die deutschen Verhältnisse übertragen: denn nun ist es der d e u t s c h e König, dem sich in einer Reihe von Auftritten und Schlachtenschilderungen der fränkische König („rex Francorum"), der griechische König („rex Grecorum"), der König von Jerusalem („rex Ierosolimorum") und schließlich der Heidenkönig von Babylon („rex Babylonis") beugen müssen: ihm als dem römischen Kaiser gebührt die Weltherrschaft, die er am Ende aller Tage erringen wird. Das Selbstbewußtsein des staufischen Kaisertums spiegelt sich in den Worten des mythischen Endkaisers, mit denen er sich gegen den fränkischen Herrschaftsanspruch wendet: Sicut scripta tradunt hystoriographorum, Totus mundus fuerat fiscus Romanorum. H o c primorum strenuitas elaboravit, Sed posterorum desidia dissipavit. Sub his imperii dilapsa est potestas, Q u a m nostre repetit potencie maiestas . . , 11β

W a s das Tegernseer Klosterdrama von allen früheren und späteren AntichristDichtungen unterscheidet, ist eben dieses im ersten Teil des liturgischen Spiels zum Ausdrude kommende Bewußtsein einer politischen und zugleich heilsgeschichtlich begründeten Sendung des staufischen Kaiserhauses: ihm gilt die sibyllinische Prophétie, ihm wird die Weltherrschaft der Endzeit zugesprochen, nicht als einem Eroberer, sondern als dem rechtmäßigen Erben des alten, römischen Imperiums, und seines Amtes ist es, den allgemeinen Frieden in der Welt vor dem Anbruch der letzten Dinge herzustellen. Der Traum vom Weltkaisertum, der sich, nachdem ihn Dante im ausgehenden Mittelalter zum letzten Mal programmatisch ausgesprochen hatte, nur in Gestalt der deutschen Kaisersage bis zur Romantik hin erhalten konnte und als märchenhaftes Wunschmotiv in den Bereich der Dichtung einging, ist für den unbekannten Mönch des staufischen Mittelalters noch eine liturgisch gestaltbare Wirklichkeit, die als solche fest mit der christlichen Eschatologie verknüpft ist. Denn die Idee der christlichen Universalmonarchie gehört, wie in der sibyllinisdien Tradition zum Ausdruck kommt, zu den überlieferten Endzeit-Vorstellungen und ist in dieser Form auf das römisch-deutsche Reich übergegangen; erst wenn sich die Kaiserprophétie erfüllt hat, wird, wie es der zweite Teil des ,Ludus de Antichristo' darstellt, die Herrschaft des Antichristen beginnen. Nachdem das ersehnte Weltreich 115 Vgl. A. DÖRRER, Artikel „Ludus de Antichristo", in: Die deutsche Literatur des Mittelalters, Verfasserlexikon, a. a. 0 . III, 87 ff., sowie K. LANGOSCH, Geistliche Spiele. Lateinisdie Dramen des Mittelalters mit deutsdien Versen. Darmstadt 1957, S. 249 ff. u. 267 ff. 118 Ludus de Antidiristo I, 1, V. 1-6 (ed. K. LANGOSCH, a. a. O. S. 196/97). Die Verse kehren jeweils zu Beginn der nächsten Auftritte (I, 2; I, 3) liturgisch wieder, was ihre Bedeutung und sakrale Weihe unterstreicht. Neben Langosch wurden die kritischen Textausgaben von W . MEYER (Miindien 1882) und von Fr. WILHELM (Mündien 1912) herangezogen.

Die Weltkaiser-Prophetie

des

Mittelalters

221

hergestellt und der König von Babylon mit seinen Heidenvölkern besiegt worden ist, betritt audi der deutsche Weltkaiser den befreiten Tempel von Jerusalem, legt Krone und Zepter am Altar nieder und übergibt das irdische Reich Gott als dem König der Könige: Suscipe, quod offero! nam corde benigno Tibi regi regum Imperium resigno, Per quem reges regnant, qui solus imperator Dici potes et es cunctorum gubernator . . , 117 .

Von diesem lateinischen Antidirist-Spiel, das man eine „Allegorese des staufischen Reichsbewußtseins" genannt hat 118 , das aber zugleich die esdiatologisdien Spannungen und Erwartungen des Mittelalters wie in einem Brennpunkt in sich vereint und mit der Kaiserprophetie als der letzten irdischen Sehnsucht des mittelalterlichen Menschen in Zusammenhang bringt, führt nur ein Schritt zu jener geschichtlichen Persönlichkeit des Hochmittelalters, die alle diese Prophetien auf sich zu versammeln und sie bewußt im Kampfe mit dem Papsttum auszuspielen vermochte: zu dem Staufer Friedrich II., dessen Weltkaisertum zumindest als Ziel und brennender Lebensimpuls den Anbrudi des letzten Reiches zu verkündigen schien und an den sich daher auch nach seinem unerwarteten Tode, der seinen Welteroberungsplänen ein jähes Ende setzte, die deutsche Kaisersage anschloß, um von seiner erhofften Wiederkehr die Erfüllung aller irdischen Heilsträume abhängig zu machen. Das Bild dieser dämonischen, im Zwielicht der M e i n u n g e n stehenden und schon zu Lebzeiten mythisdi a u f g e f a ß t e n Gestalt des Stauferkaisers zu zeichnen, m u ß einem Historiker vorbehalten bleiben 11 ®. Vor allem Franz Kampers hat in immer neu ansetzenden Forschung e n zu zeigen versucht, w i e die Kaiserprophetie des Mittelalters in dem messianischen Selbstbewußtsein Friedrich II. ihren vollkommenen Ausdrude erfahren und nach seinem T o d e zur allmählichen Entfaltung und verwirrend vielschichtigen Genesis der deutschen Kaisersage geführt hat 120 . In den zahlreichen Proklamationen und Staatsbriefen Friedrichs II. kommt j e d e n f a l l s der Anspruch, der verheißene Friedens- und Endkaiser der sibyllinischen Tradition zu sein, so rhetorisch-machtvoll zum Ausdruck, d a ß man ihn kaum mit dem H i n weis auf die zweifellos vorhandenen Einflüsse des byzantinischen Herrsdierkultes abschwächen und motivieren kann 1 ". D e n n Friedrich II. hat die Rolle, die ihm auf dem H ö h e p u n k t e des Machtkampfes zwischen der Papstkirche und dem weltlichen Kaisertum zufiel, mit vollem 117

Ludus de Antidiristo I, 4, V. 31-34 (ed. K. LANGOSCH, a. a. O. S. 206/07). K. LANGOSCH, a. a. O. S. 256. Zur Deutung des Ludus vgl. die im Verfasserlexikon, a. a. 0 . III, 184/85, genannte Literatur, die von K. Langosch im Nachtragsband V, Berlin 1955, Sp. 632-634, vervollständigt wurde. Als besonders wesentlich unter unserem Blickpunkt sind neben den schon genannten Werken hervorzuheben: W. KAMLAH, Der Ludus de Antidiristo, in: Historisdie Vierteljahrschrift 28, 1934, S. 53 ff.; P. STEIGLEDER, Das Spiel vom Antichrist. Eine geistesgesdiiditliche Untersuchung. Diss., Bonn 1938; K. HAUCK, Zur Genealogie und Gestalt des staufisdien Ludus de Antidiristo, in: GRM 33, 1951, S. 11 ff. 1W Vgl. die beiden aus dem George-Kreis hervorgegangenen Werke von E. KANTOROWICZ, Kaiser Friedrich der Zweite. 4. Aufl., Berlin 1936, und W. VON DEN STEINEN, Das Kaisertum Friedrichs II. nach den Anschauungen seiner Staatsbriefe. Berlin 1922; dazu als knappen, aber wesentlichen Umriß: K. HAMPE, Das Hodimittelalter. 4. Aufl., Münster-Köln 1953, S. 371 ff., und F. BAETHGEN, Kaiser Friedrich II., in: Die Großen Deutschen. Deutsche Biographie, Bd. I, Berlin 1956, S. 154 ff. 1M Die deutsche Kaiseridee in Prophetie und Sage, a. a. O. S. 69ff.; Vom Werdegange der abendländischen Kaisermystik, a . a . O . S. 2 ff. u. 137 ff.; Kaiser Friedrich II., der Wegbereiter der Renaissance. Monographien zur Weltgeschichte, Bd. 34. Bielefeld-Leipzig 1929; Die Fortuna Caesarea Kaiser Friedrichs II., in: Historisches Jahrbuch der Görresgesellschaft, Bd. 48, München 1928, S. 208 ff. 111 Vgl. E. KANTOROTICZ, Kaiser Friedrich II. und das Königsbild des Hellenismus. Varia Variorum, Festgabe f. K. Reinhardt. Münster-Köln 1952, S. 169 ff. - Kantorowicz hat in diesem Aufsatz eine Reihe von Parallelen zur hellenistischen Lehre vom Mittlertum des Herrschers aufgewiesen, die zu118

222

Der diristlidie

Chiliasmus

B e w u ß t s e i n repräsentiert u n d seine messianisdie S e n d u n g , d i e in d e n B r i e f e n u n d M a n i f e s t e n seiner Staatskanzlei, v o r a l l e m seines Kanzlers und L o g o t h e t e n Petrus d e V i n e a , f e s t g e l e g t u n d i m m e r erneut umschrieben wurde, i n d i e politische Wirklichkeit umzusetzen gesucht. G e l a n g es i h m doch, w a s n o d i k e i n e m deutschen Kaiser g e l u n g e n w a r : trotz des päpstlichen Bannstrahls in J e r u s a l e m einzuziehen u n d sich die Krone der h e i l i g e n Stadt, der „civitas sancta", a u f s H a u p t zu setzen. D i e B e f r e i u n g Jerusalems w a r ein entscheidendes M o t i v der sibyllinischen Kaiserprophetie g e w e s e n , sie hatte der g a n z e n K r e u z z u g s b e w e g u n g des 12. Jahrhunderts e i n e chiliastische T ö n u n g gegeben 1 2 8 : mit d e m Einzug in J e r u s a l e m m u ß t e sich daher das E r f ü l l u n g s b e w u ß t s e i n verbinden, der v e r h e i ß e n e Endkaiser der G e schichte zu sein. U n d i n der T a t verkündet das Kreuzzugsmanifest, das Friedrich II. 1229 erläßt, zum ersten M a l e s e i n e E r h ö h u n g zum g o t t e r w ä h l t e n M e s s i a s k ö n i g und „ D o m i n u s M u n d i ", der a l l e r d i n g s nicht w i e der Heilskaiser der sibyllinischen Prophetie Krone u n d Imperium a m h e i l i g e n G r a b e niederlegt, s o n d e r n ein neues, paradiesisches Reich des Friedens u n d der Gerechtigkeit auf E r d e n errichten will 1 2 3 . Deutlicher noch spricht es die V o r r e d e zum ,Liber Augustalis', d e m 1231 erlassenen sizilischen Gesetzeswerk aus, w i e Friedrich II. sich selbst u n d seine W e l t e r l ö s u n g s a u f g a b e v e r s t a n d e n w i s s e n w o l l t e . D e n n hier w i r d es als seine heilsgesdiiehtlidie S e n d u n g verkündigt, m i t d e m römischen W e l t k a i s e r t u m zugleich das v e r l o r e n e P a r a d i e s des „mit d e m D i a d e m v o n Ehre u n d R u h m gekrönten" ersten Menschen A d a m wiederherzustellen - w o m i t nicht nur das k o m m e n d e Reich als Erneuerung der glücklichen Urzeit umschrieben, sondern auch die p a u l i n i s d i e A d a m s m y s t i k v o n Christus auf d e n messianischen Weltherrscher übertragen wird 1 2 4 . D a s bringt die L o b r e d e des Petrus v o n V i n e a , die bereits ihren b e r u f e n e n Interprenädist das römische, dann das byzantinische Kaiserbild entscheidend beeinflußt hat und am Hofe Friedridis II. aufgenommen worden sein soll. Dazu gehört die hellenistische Vorstellung des Königs als eines Repräsentanten der Gottheit auf Erden (im byzantinischen Herrscherkult sinngemäß zur Christomimesis abgewandelt), die Lehre vom Mittlertum des Kaisers als einer „lex animata" (Gott hat den Herrscher als das beseelte Gesetz zu den Menschen herabgesandt), die auf den Kaiser übertragene Adamsmystik (er ist als einziger von Gott unmittelbar nach seinem Ebenbild geschaffen und damit, wie Christus, ein „neuer Adam"). Diese von der byzantinischen Hofrhetorik festgelegten Formeln verleihen dem Bilde des Herrschers messianisdie Züge, die aber im Sinne der panegyrisch ausgeschmückten Lehre von seiner Christomimesis verstanden und interpretiert werden müssen (S. 178 ff.). - Zweifellos bestehen hier Einflüsse, wie sie auch von der älteren, bei Kantorowicz genannten Forschung betont worden sind. Aber eben diese Mittlervorstellung bestimmt audi die Prophetie Joachims vom kommenden Novus Dux des dritten Reiches und die Kaiserprophetie der sibyllinischen Tradition (die aus Byzanz stammt!), so daß mit dem bloßen Hinweis auf rhetorische Formeln des Herrscherkultes der von Friedrich II. erhobene Messias-Anspruch nicht entkräftet werden kann: er unterstreicht ihn vielmehr, wenn man ihn auf dem Hintergrunde der von uns behandelten Endkaiser-Idee betrachtet. 12! Vgl. C. ERDMANN, Endkaiserglaube und Kreuzzugsgedanke im 11. Jahrhundert, in: Z f K G 51, 1932, S. 384 ff., sowie vom gleichen Verfasser: Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens. 2. Aufl., Darmstadt 1955, S. 278 ff. - Die interessante Deutung Erdmanns, die ein bisher von der historischen Forschung kaum beachtetes Nebenmotiv der ganzen Kreuzzugsidee hervorhebt, unterstreicht die von W . NIGG geäußerte Ansicht, daß „die Kreuzzugsbewegung . . . unter anderem ein verdrängter Chiliasmus" sei, was dort allerdings kaum begründet und auch nicht mit dem Endkaiser-, sondern mit dem Antichrist-Glauben in Verbindung gebracht wird (a. a. 0 . S. 110 ff.). Zu dem festliegenden Motiv der Übergabe der Weltherrschaft in Jerusalem kommt natürlich der audi in der Kaiserprophetie mitschwingende diiliastische Glaube, daß das tausendjährige Reich (das hier freilich in kürzeren Zeiträumen gedacht wird, in der Tiburtina sind es 112 Jahre) seinen Mittelpunkt in der sancta civitas, dem irdischen Abbild des himmlischen Jerusalem, finden muß. 12S Vgl. W . v. D. STEINEN, Staatsbriefe Kaiser Friedrichs des Zweiten. Breslau 1923, S. 30 (Kreuzzugsmanifest vom 18. März 1229, in der Fassung an den König von England). - Da mir die Ausgabe von A. HUILLARD-BRÉHOLLES, Historia diplomatica Friderici secundi, 12 Bde., Paris 1852-61, nicht zugänglich war, wird im Folgenden die deutsche Übersetzung v. d. Steinens angeführt; lediglich das Mandatum ad Civitatem Jesii wurde der neueren Edition in den Monumenta Germaniae Histórica entnommen. 124 Staatsbriefe Kaiser Friedrichs des Zweiten, a. a. O. S. 34 ff. Vgl. dazu die Ausführungen K. BURDACHS (Rienzo und die geistige W a n d l u n g seiner Zeit, a. a. O. S. 296 ff.), die allerdings die von Kantorowicz nachgewiesenen Parallelen zum byzantinischen Herrscherkult nicht berücksichtigen (a. a. O. S. 171 ff.).

Die Weltkaiser-Prophetie

des

Mittelalters

223

ten gefunden hat 126 , in der Verherrlichung des Kaisers und der von ihm heraufgeführten Endzeit noch verheißungsvoller zum Ausdruck: Friedrich II. ist der vollkommene Mensch, der den Sündenfall Adams überwunden hat und daher zum Sdiöpfer des paradiesischen Endreiches berufen ist; in ihm lebt die Gerechtigkeit, die er über die Welt verbreiten wird, in ihm sind alle Gegensätze versöhnt, so daß er der Welt den ersehnten Frieden zu geben vermag. Er ist es, von dem die Propheten Ezechiel und Jeremias sprachen, er ist der verheißene Messias der Welt, bei dessen Erscheinen die Natur jubelt und die Schwerter zu Pflugscharen umgeschmiedet werden - er ist es (und damit mündet der Lobpreis unverkennbar in die sibyllinisdie Weltkaiser-Prophetie), der von Gott gesandt worden ist, um den Gerichtstag aufzuhalten, das Auftreten des Antichristen zu verhindern und der zum Untergang bestimmten Welt eine letzte Heils- und Friedenszeit zu schenken: „Wahrlich, es verehren ihn Erde und Meer und bejubeln geziemend die Lüfte, ihn . . . , der Welt als wahrer Kaiser von der göttlichen Hoheit verliehen, als des Friedens Freund, der Liebe Schutzherr, des Rechts Begründer, der Gerechtigkeit Bewahrer, der Macht Sohn . . . Dieser ist es von dem Ezechiels Worte künden . . . Dieser ist es von dem Jeremias spricht . . . Denn unter seinen Zeiten werden die Verbände der Bosheit zerrissen, wird machtvolle Sicherheit gesät: nun schmiedet man die Schwerter zu Pflugscharen, da j a der Bund des Friedens alle Angst erstickt . . . O wunderbare göttliche Milde, du den Hochmut zu bändigen bereite hast der zum Untergange bestimmten Welt durch einen so reinen Fürsten ebenso planvoll wie heilsam geholfen . . ."12e In dieser Rede kommt mehr zum Ausdruck als jenes rhetorisch-enkomiastische Kaiserbild, das dem byzantinischen Herrscherkult entnommen ist und das Gottmittlertum des Caesar Augustus in den verschiedensten Formeln seiner „Christomimesis" zu umschreiben gestattete - in dieser Rede wird, wie übrigens auch von historischer Seite anerkannt" 7 , in der rhetorischen Geste der Adulatio das messianische Selbstbewußtsein des Kaisers gefeiert, der sich als Träger einer Endzeitverheißung versteht und damit das staufische Imperium, jedenfalls seiner Idee nadi, in eine unmittelbare, von den Joachiten und Franziskaner-Spiritualen wohl begriffene Parallele zu dem verheißenen dritten Reich des Geistes, der Ecclesia spiritualis Joachims von Fiore setzt. Ernst Benz spricht hier mit Recht von einer „staufischen Kaisertheologie", in welcher der prophetisch angekündigte Novus Dux auf den Weltkaiser, die Erwartungen der kommenden Geistkirche - unter Berufung auf die gleichen alttestamentlidien Weissagungen! - auf die politische Reichsidee, das „Sacrum Imperium" bezogen werden, das der dem Untergang geweihten Welt die ersehnte pax und iustitia wiederschenken soll128. Damit stehen sich die beiden Endzeiterwartungen des 13. Jahrhunderts, die Weltkaiser-Prophetie und die Prophetie der Geistkirche, und in Friedrich II. und Franz von Assisi zugleich Messias und Messias unversöhnlich gegenüber. Diese esdiatologische Kontroverse wird unterstrichen durch jenen Erlaß Friedrichs II. an seine Geburtsstadt Jesi aus dem Jahre 1239, in welchem in der Tat die Verheißung des Propheten Micha vom kommenden Messias und Dux, die zur Grundlage auch der joachitisdien Mittlervorstellung geworden war, wörtlich auf den Kaiser übertragen wird und in ihm den Friedensfürsten und Weltherrscher der sibyllinisdien Tradition begrüßt: 125 W . VON DEN STEINEN, Das Kaisertum Friedrichs II. nach den Anschauungen seiner Staatsbriefe, a. a. O.; vgl. ferner die Interpretation von E. BENZ, Ecclesia Spiritualis, a. a. O. S. 227 ff. 12

' Staatsbriefe Kaiser Friedrichs des Zweiten, a. a. O. S. 103 f. F. BAETHGEN, Kaiser Friedrich II., a. a. O. S. 164. - Von den Historikern wird freilich die Frage aufgeworfen, ob der Kult des Messias-Kaisers nicht zu einem guten Teil auf Rechnung der Umgebung Friedrichs II. zu setzen sei, ob sich hier „wirklich der innerste Nerv seines eignen Herrsdierbewußtseins offenbare" (BAETHGEN, S. 164). Die politische Haltung des Kaisers ist in der T a t sehr viel nüchterner, sehr viel vorsichtiger und berechnender, als es dieser messianische Herrschaftsanspruch vermuten läßt. Es mag wohl sein, dafi sich Friedrich II. des esdiatologisdien Ideengutes seiner Zeit bediente, um es für seine ehrgeizigen Weltreichspläne auszunutzen - aber ich wage nicht zu entscheiden, ob er daneben nicht mittelalterlicher Mensch genug war, um sich als der Endkaiser einer jahrhundertealten Prophetie fühlen zu können. 128 Ecclesia Spiritualis, a. a. O. S. 225 ff. 127

224

Der christliche

Chiliasmus

„Si loca nativitatis indifferente quodam native voluntatis affectu specialiter ab omnibus diliguntur, . . . non dispari ratione natura succedente ducimur et tenemur, Esium nobilem Mardiie civitatem, insigne originis nostre principium, ubi nos diva mater nostra eduxit in lucem, ubi nostra cunabula claruerunt, intima dilectione complecti, ut a memoria nostra non possit excidere locus eius, et Bethleem nostra, terra Cesaris et origo, pectori nostro maneat altius radicata. Unde tu, Bethleem civitas Mar Aie, non minima es in generis nostri principibus. Ex te enim DUX exiit, Romani princeps imperii, qui populum tuum reget et proteget et alienis ultra subesse manibus non permittet" 12 *. In diesen Worten gipfelt der messianisdie Herrschaftsanspruch des Staufers und strahlt auf seine Geburtsstadt, das neue Bethlehem, zurück - denn hier wird ihm jener Heilstitel beigelegt, der nicht nur auf Christus gerichtet ist, sondern in den Ohren des prophetisch erregten Jahrhunderts die endzeitliche Führerschaft im geistlichen oder säkularen Sinne verspricht. Mit ihm usurpiert der kommende Weltkaiser die Endzeitverheißungen und -erwartungen seiner Zeit und fesselt sie an seine Person, gibt ihnen aber zugleich eine entschiedene Wendung ins Politische: denn der angekündigte princeps Romani imperii ist kein demütiger Asket und Mönch, sondern der Endkaiser der Sibyllen und Propheten, der seine Geburtsstadt aufruft, das Joch der päpstlichen Herrschaft abzuschütteln, der das christliche Weltimperium aufrichtet, Redit und Gerechtigkeit auf Erden durchsetzt, die Völker unterwirft und so das Reich des Friedens heraufführt 1 3 0 . Der Kampf mit dem Papsttum, der in diesen Jahrzehnten seinen Höhepunkt erreicht, unterstreicht die esdiatologisdie Komponente des staufischen Herrschaftsanspruches nur: denn während der fast hundertjährige Gregor IX. den Kaiser zum Antichristen erklärt, zum Tier aus dem Abgrund, wie es in seiner teuflischen Umkehrung der christlichen Heilsbotschaft von der Apokalypse geweissagt worden ist 181 , brandmarkt Friedrich II. in seinem Gegenmanifest wiederum den Papst als Widerchristen und großen Drachen, der am Ende aller Tage den Erdkreis verführe 132 , und verstärkt audi sonst, in bewußter Ausnutzung der Zeitstimmung für seine politischen Zwedce, die Antichrist-Erwartungen, die mit der Endkaiser-Prophetie unlöslich verbunden waren wenn er etwa 1249 nach einem Anschlag auf sein Leben in einem Manifest an die Könige und Völker der Erde von „diesen jüngsten Tagen" spricht, „in denen die Zeit, wir zweifeln nicht nach dem was geschieht, ihr Äußerstes erreichen soll" 133 . Die Hoffnungen und Befürchtungen seiner Zeit müssen sich denn auch auf ihn - den Welterlöser in den Augen seiner Anhänger, den Weltverniditer in den Augen seiner Gegner - mit einer so leidenschaftlichen Erregung gerichtet haben, daß nach seinem plötzlichen Tode 1250 der Glaube an seine heilsgeschichtlich vorbestimmte Aufgabe nicht erschüttert werden kann: die Sage von seiner Wiederkehr, die sich zunächst in Italien erhebt und von seiner Entrückung in die Tiefe des Ätna spricht, wird bezeichnenderweise von den beiden Seiten seiner Gegner und seiner Anhänger genährt; aus dieser ersten Keimzelle geht die deutsche Kaisersage der späteren Jahrhunderte hervor, die sich damit als ein versöhnlicherer Nachhall und volkstümlicher Nachklang der gewaltigen Ideenkämpfe des Mittelalters erweist.

Schon unmittelbar nach dem Tode Friedrichs II. verbreitete sich in Unteritalien ein Sibyllenspruch, der in Form einer dunklen und vieldeutigen Weissagung sein 129 Monumenta Germaniae Histórica, Legum Sectio 4, Constitutiones Tom. II, 1896, N r . 219, p. 304 (Mandatum ad Civitatem Jesii). 130 In der Schlußwendung des zitierten Briefes („Steh denn auf, erste Mutter, und entrüttle didi dem fremden Jodi: . . . wir haben beschlossen, eudi . . . vom Drude des Beleidigers zu befreien . . . (und) wollen euch vom Eide entbinden, den ihr der Kirche unter W a h r u n g des kaiserlichen Rechtes geleistet habt . . .") liegt gerade das, was die Zeitgenossen als das Satanisch-Antidiristlidie empfunden haben müssen: Friedrich II. usurpiert sich die Heilsverheißungen und -titel des Messias, um seine Untertanen zum Kampfe gegen die Kirdie Christi zu führen. 131 W . v. D. STEINEN, Staatsbriefe, a. a. O. S. 61/62 (An die Kardinäle, nach Erlaß des zweiten Bannes 1239). 132 Staatsbriefe, a. a. O. S. 62 ff. 133 Staatsbriefe, a. a. O. S. 100 f.

Die Weltkaiser-Prophetie

des Mittelalters

225

geheimnisvolles Fortleben verkündete: „Sonabit et in populis: Vivit, non vivit" 1 ' 4 . Während in den Kreisen der Joadiiten und Franziskaner-Spiritualen dieser Glaube durch die Erschütterungen und Zweifel, die der frühe Tod des zum Antichristen designierten Kaisers auslösen mußte, bestärkt wurde 135 , hielten die Anhänger der Kaiseridee in Deutschland, als die Kunde vom Tode des Staufers über die Alpen drang, ebenfalls an ihrem Glauben fest, daß der letzte große Weltkaiser der Geschidite in Friedrich erschienen sei und daher wiederkehren werde, um sein Werk zu vollenden 13 '. Der Weg, den Kaiserprophetie und -sage von diesem doppelten Ausgangspunkt her im späteren Mittelalter nehmen, kann hier nur in Umrissen angedeutet werden. Wohl unter dem Einfluß alter germanischer Mythen, die von dem ins Berginnere versetzten Gott Wodan erzählen und die von den Normannen nadi Sizilien gebracht worden waren, entsteht hier, in dem Erbland Friedrich II., die durch Thomas von Eccleston überlieferte Sage, daß ein Mönch den Kaiser unter wunderbaren Naturerscheinungen in den Ätna habe einziehen sehen, in dem nach altem Volksglauben schon König Artus seinen letzten Aufenthaltsort gefunden haben sollte 137 . So lebt bereits im 13. Jahrhundert auf Sizilien, freilich nur vorübergehend, die Sage vom bergentrückten Stauferkaiser auf und mischt sich in die Zweifel an dem Tode Friedrichs; falsche Propheten, die unter dem Namen Friedrichs in der Umgebung des Berges auftauchen und sich für den wiedergekehrten Stauferkaiser ausgeben, bestärken diesen Volksglauben und treten bald audi auf deutschem Boden in Erscheinung 138 . In der ,Weltchronik' des Jans Enikel vom Ende des 13. Jahrhunderts, die von der Schöpfung der Welt bis zum Tode Friedrichs II. führt, wird am Schluß bereits auf das Vorhandensein einer solchen Sage in welsdien Landen hingewiesen: D a r nâdi der keiser w a r t verholn den kristen allen v o r verstoln, w a n niemen west diu m a e r e w a er hin komen waere, ob er waere tôt an der zît. dà von ist waerlîdi noch ein strît in W a l h e n l a n t über al. die (einen) jehent mit gròzem sdial daz er sì erstorben und in ein g r a p verborgen, sô habent sümlídi disen strît, er lebe nodi in der Werlte wit. 1 3 4 O. HOLDER-EGGER, Italienisdie Prophetien des 13. Jahrhunderts. Neues Archiv d. Gesellschaft f. ältere deutsche Geschichtskunde, Bd. X V , Hannover 1889, S. 168; vgl. H. GRAUERT, Zur deutsdien Kaisersage, a. a. O. S. 107, und F. KAMPEKS, Die deutsche Kaiseridee, a. a. O. S. 84. 135 Vgl. die ausführliche Wiedergabe und Kommentierung des Berichtes, den Salimbene von der ersten Aufnahme der Todesnachridit überliefert hat, bei E. BENZ, Ecclesia Spiritualis, a. a. O. S. 208 ff. („Es gibt keine Analogie aus moderner Geschichte zu dem ungeheuren Eindruck, den der frühe, zu frühe Tod des . . . Kaisers auf die spiritualistischen Kreise macht . . . Der Tod Friedrichs II. ist der Zusammenbruch der wörtlich verstandenen joadiitischen Eschatologie . . ."). ise Vgl. F. KAMPERS, Die deutsche Kaiseridee, a. a. O. S. 87 ff. 137 Vgl. F. KAMPERS, Vom Werdegange der abendländischen Kaisermystik, a . a . O . S. 138 f. Die lateinische Quelle (Ex Thomae de Eccleston libro de adventu minorum in Angliam) ist bei KAMPERS, Die deutsche Kaiseridee, a. a. O. S. 202 abgedruckt. 138 Vgl. F. KAMPEKS, Die deutsche Kaiseridee, a. a. O. S. 85 ff. u. 203 (mit den entsprechenden Belegen).

15

M ä h l , D i e I d e e des g o l d e n e n Z e i t a l t e r s

226

Der christlìdie Chiliasmus welhez under in (beiden) diu wârheit sì, des maeres bin ich von in fri . . .1SÍ.

U m 1348 ist es ein Schweizer Chronist, Johannes von Winterthur, der zum ersten Male einen ausführlichen Bericht über den weitverbreiteten, von ihm verurteilten Aberglauben des Volkes gibt. U m jene Zeit, heißt es in seinem lateinischen ,Chronicon', da sich der Todestag des Staufers zum hundertsten Male jähren sollte, sei bei zahlreichen Leuten jedes Standes die Meinung vertreten worden, Kaiser Friedrich II. werde mit großer Heeresmacht wiederkehren, die Herrlichkeit des Reiches erneuern, die Kirche reformieren, Armut und Reichtum einem gerechten Ausgleich zuführen, die Mönche und Nonnen zur Ehe veranlassen, die Kleriker aber unbarmherzig verfolgen und aus dem L a n d e jagen. Nach Wiederherstellung seines Reiches, das er gerechter und ruhmvoller denn je regieren werde, solle er dann über das Meer fahren und auf dem ö l b e r g zu Jerusalem Krone und Reich niederlegen, wie es in den alten Weissagungen verheißen sei 140 . In diesem nüchternen Bericht des Schweizer Minoriten wird deutlich, wie die Doppelrolle, die der Stauferkaiser in den Endzeiterwartungen des 13. Jahrhunderts einnahm, in der frühesten Sagengestalt nodi nachschwingt: denn Friedrich II. erscheint hier als die letzte Hoffnung des verfallenden Reiches und doch zugleich als der Verfolger der Kirche, als welcher er die Antichrist-Erwartungen seiner Gegner bestimmt hatte. In ähnlicher Gestalt bewahrt uns ein Meistersang aus der Mitte des 14. Jahrhunderts die Friedrichssage: Diu reht gelidi bringt er her wider, der selbe keiser her, manik schad der Werlte vrum(en) al zuo der selben zit, und alliu heidenisdiiu ridi' diu werdent dem selben keiser undertan . . . Diu kloster diu zestoert er gar, der viirst gar hoch geborn, er gibt die nunnen zuo der e, daz sag ich iu viir war, si muezen (uns) buwen win unt korn: wan daz gesdiiht, so kument uns guotiu jar . . ,141

Schon früher jedoch war, nachdem die Ätna-Sage in Sizilien verklungen war, von den stauferfeindlidien Joachiten die Kaiserprophetie erneuert worden, indem sie nun aus der Nachkommenschaft Friedrichs II. den großen Bedrücker und Antichristen am Ende der Zeiten verkündeten, der die Verheißungen Joachims bei Einbruch des dritten Reiches erfüllen und das teuflische Zerstörungswerk des vorzeitig dahingerafften Kaisers fortsetzen würde - wie etwa Petrus Johannis Olivi in seiner Postille zur Apokalypse, wenn er die Erwartung ausspricht, iss Weltchronik V. 28945 ff. (nach der Edition von Moriz Haupt, in: Z f d A 5, 1845, S. 292/93; in Verbindung mit dem dort veröffentliditen Volksbuch vom Kaiser Friedrich durch F. PFEIFFER). Eine spätere Edition von Jansen Enikels Werken ist durdi Ph. STRAUCH in den Monumenta Germaniae Histórica (Deutsdie Chroniken, Bd. III, 1) 1891 erfolgt (unser Zitat ebd. S. 574). 140 Johannis Vitodurani Chronicon, ed. G. v. Wyss. Archiv für Schweizerische Gesdiidite, Bd. X I , Zürich 1856, S. 249 f. Eine ausführliche Wiedergabe des Berichtes findet sich bei R. SCHRÖDER, Die deutsdie Kaisersage. Heidelberg 1891, S. 20 f., sowie bei KAMPERS, Die deutsche Kaiseridee, a . a . O . S . 103 f. 141 F. H. VON DER HAGEN, Minnesinger. Deutsche Liederdichter des zwölften, dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts, aus allen bekannten Handschriften und früheren Drucken . . ., 3. Theil, Leipzig 1838, S. 349 (aus der Münchener Handschrift).

Die Weltkaiser-Prophetie

des Mittelalters

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„quod Fredericus praefatus cum suo semine sit respectu huius temporis quasi caput

occisum et quod, tempore mistici Antidiristi ita reviviscat in aliquo de semine eius,

ut non solum Romanum imperium, sed etiam, francis ab ipso devictis, obtineat regnum Francorum quinqué caeteris regibus Christianorum sibi cohaerentibus . . ." 1 4 î

Audi in dieser Form einer Erwartung, die sich auf einen dritten Friedrich aus dem Geschlecht des Stauferkaisers richtet, scheint die Kaiserprophetie in Deutschland Aufnahme gefunden zu haben und dabei, ähnlich wie die erste Friedrichssage, positiv umgewandelt worden zu sein. Denn hier konzentrieren sich die Hoffnungen auf einen thüringischen Markgrafen, Friedrich den Freidigen, den Enkel des Stauferkaisers, der sich nicht ohne Absicht ,Friedrich III., durch Gottes Gnade König von Jerusalem und Sizilien', nennen ließ und in dem man den verheißenen Endkaiser erblickte, der die Macht des gesunkenen Reiches erneuern, die sozialen Nöte beseitigen, die Kirche reformieren und das heilige Jerusalem befreien werde 143 . Ein auf ihn gerichtetes Vaticinium verkündet neben dem wunderbaren Zeichen seiner Erwählung, das ihm von Geburt her durch ein goldenes Kreuzeszeichen zwischen den Schultern verliehen sei, daß seine Macht sich bis ans Ende der Welt dehnen und unter ihm eine neue Glückszeit anbrechen werde: „Orietur enim ramus de radice regni Fridericus nomine orientalis, qui debellabit leonem et ad nidiilum rediget, ita ut memoria sua non sit amplius super terram.

Cuius potencie bradiia extendentur usque ad finem mundi. Ipse enim imperans imperabit et sub eo summus pontifex capietur . . ," 1 4 4

Der nun beginnende, dynastisch orientierte Weissagungskampf, der auf die alte Tiburtinische Sibylle zurückgreift und sie, wie eine Donaueschinger Handschrift des 15. Jahrhunderts in lateinischer Fassung beweist 145 , erneut den Zeitverhältnissen durch Einsetzung aktueller Fürstennamen anpaßt, läßt auch in Frankreich die älteren Karls-Prophetien wieder aufleben, die auf die verschiedenen, durch ihren Namen prädestinierten Könige des Hauses Valois übertragen werden. Der deutschen, nodi immer dem Staufertum verbundenen Kaiseridee tritt damit die fränkisdikarolingische Kaisertradition entgegen, und während in Deutschland nach dem Tode Friedrichs des Freidigen 1324 die Erwartungen der Zeit in jenen merkwürdigen Dichtungen des 14. und 15. Jahrhunderts ihren Ausdruck finden, die den Namen .Sibyllen Weissagung' führen und einen kommenden Kaiser Friedrich verkünden,

1 4 2 H. GRAUERT, Zur deutschen Kaisersage, a. a. 0 . S. 108 (hier findet sidi der vollständige Abschnitt aus Olivis Postilla in Apocalypsim abgedruckt); zu weiteren joadiitisdien Prophetien eines Antidiristen aus der Nachkommenschaft Friedridis II. vgl. F. KAMPERS, Die deutsdie Kaiseridee, a. a. O. S. 89 ff.). 1 4 S Vgl. F. KAMPERS, Die deutsdie Kaiseridee, a. a. 0 . S. 107 ff. Als erster hat H. GRAUERT (a. a. O. S. 111 ff.) auf die Bedeutung der thüringischen Markgrafen für die Genesis der deutschen Kaisersage hingewiesen; Kampers hat diesen Nachweis verstärkt, indem er für die spätere Ausbildung der Sage den starken Anteil thüringisdier Lokalsagen herausarbeitete und damit den für unsere Novalis-Untersuchung nicht unwesentlichen Nadiweis erbrachte, daß die Kaisersage in einer alten thüringischen Erzähltradition am frühesten Wurzeln gefaßt hat (a. a. O. S. 107 ff.). 144

Abdrudc des Vaticiniums bei H. GRAUERT, Zur deutschen Kaisersage, a. a. O. S. 113.

Ediert den Nadiweis der Tiburtina läuterungen S. 145

15*

von F. VOGT, Ueber Sibyllen Weissagung, in: P B B 4, 1877, S. 86 f. - Vogt hat zuerst geführt, daß es sidi bei dieser Handschrift um das entscheidende Mittelglied zwisdien und den Sibyllen-Diditungen des 14. und 15. Jahrhunderts handelt (vgl. seine Er88 ff.). Dazu F . KAMPERS, Die deutsdie Kaiseridee, a. a. O. S. 120 ff.

228

Der christliche

Chiliasmus

der v o r d e m E n d e der Z e i t e n erscheinen, das h e i l i g e L a n d erobern u n d dort seinen Schild a n e i n e n dürren B a u m h ä n g e n werde146, w i r d in Frankreich der K a m p f

um

d i e Erbschaft des h e i l i g e n römischen Reiches m i t d e n gleichen sibyllinischen W a f f e n g e f ü h r t , so d a ß sich d i e K a r l s - u n d F r i e d r i c h s p r o p h e t i e n i n e i n e m f ö r m l i c h e n F l u g sdiriftenstreit b e f e h d e n u n d so die politischen A u s e i n a n d e r s e t z u n g e n der Z e i t auf literarischer E b e n e spiegeln147. I m m e r aber g i p f e l t die V e r k ü n d i g u n g in j e n e m letzt e n Kaiser der Geschichte, der auf deutschem B o d e n , in einer M i s c h u n g der F r i e d richssage mit der älteren sibyllinischen Grundtradition, z w a r Kaiser Friedrich g e n a n n t w i r d , a b e r a l s m ä c h t i g e r W e l t h e r r s c h e r d e r Z u k u n f t e r s c h e i n t , d e r nicht a u s drücklich m i t e i n e r W i e d e r k e h r F r i e d r i c h s I I . i n V e r b i n d u n g g e b r a c h t w i r d : . . . it kompt nodi darzo wail, dat got einen keiser g e v e n sal. den hat he behalden in siner gewalt, he gift im kraft manidifalt. sin nam wirt genant Frederick, und vergadert dat diristenvolk a n sich, he wirt sere striden in godes ere und gewint dat heiige graf over mere, dair steit ein durre boum der is groiz, und sal dair stain loifelos biz dat keiser Frederidi dairan sinen schilt gehangen mach und kan: so wirt der boum w e d e r groin gar. und dairna kompt d a n ein guit jair und wirt in der werlt wail stain . . , 148 Ist i n d i e s e r n i e d e r r h e i n i s c h e n F a s s u n g d e r S i b y l l e n - W e i s s a g u n g a u s d e r z w e i t e n H ä l f t e d e s 14. J a h r h u n d e r t s d e r A n k l a n g a n d i e F r i e d r i c h s s a g e n o c h zu s p ü r e n u n d audi die i m Mittelalter seit A d s o beherrschende A n t i c h r i s t - T r a d i t i o n w e i t e r

aus-

14« VG], neben dem schon genannten Aufsatz von F. Vogt die neuere Arbeit von G. ZEDLER, Die Sibyllenweissagung. Eine in Thüringen entstandene Dichtung aus dem Jahre 1361. In: ZfdPh 61, 1936, S. 136 if. und 274 ff. - Zedier, der sämtliche Handschriften der Sibyllenweissagung berücksichtigt und auf eine thüringische Vorlage des Jahres 1361 zurückführen möchte, weist übrigens nach, daß es sich bei der Friedrichsprophetie um eine späte Einlage handeln muß, wie aus der doppelten Ankündigung des Antichristen vor und nach dieser Prophetie hervorgehe; dieses Argument ist natürlich nicht stichhaltig, da schon die älteste sibyllinische Tradition ein doppeltes Auftreten des Antichristen kennt (das wiederum auf Joh.-Apk. 20, 1 ff. und 20, 7 ff. zurückgeht). 147

Vgl. F. KAMPERS, Die deutsche Kaiseridee, a. a. O. S. 110 ff. Geistliche Gedichte des XIV. und XV. Jahrhunderts vom Niderrhein, hg. von O. Schade. Hannover 1854, S. 314. Es handelt sich hier um eine niederdeutsche Bearbeitung des unter Karl IV. entstandenen Sibyllenbuches („Sibillen Boich"), das Schade erstmals nach zwei Kölner Drucken von 1513 und 1515 ediert hat. V O G T stützt sich in seinem Aufsatz a . a . O . S. 48 ff. auf 15 ihm bekannt gewordene Handschriften, die sich bei Z E D L E R a. a. O. S. 136 ff. nodi um zwei weitere auf 17 vermehrt haben: ein Zeichen für die Verbreitung dieser Sibyllenweissagung über den ganzen deutschen Sprachraum. Eine kritische Edition aus neuerer Zeit fehlt (sie war von Zedier geplant). Eine Baselei Handschrift ist von Wilhelm Wackernagel auszugsweise ediert worden (Die altdeutschen Handschriften der Basier Universitätsbibliothek, Basel 1836, S. 55). - Die Sibylle tritt hier, wie auch sonst, als die Königin von Saba auf, die dem König Salomon die Geschichte des römischen Kaiserreiches weissagt. Der dürre Baum, der am Ende der Zeiten durch Friedrich neu erblühen soll, ist das Holz des Kreuzes Christi, das aus dem Lebensbaum des Paradieses geschnitten ist; zur Geschichte dieses Motives, das das ältere Motiv der Tiburtina und Methodius-Apokalypse von der Kronen-Niederlegung auf Golgatha abgelöst hat, vgl. F. KAMPERS, Mittelalterliche Sagen vom Paradiese und vom Holze Christi, Köln 1897, sowie vom gleichen Verfasser: Die deutsche Kaiseridee, a. a. O. S. 78 ff. u. 102 ff. 148

Die Weltkaiser-Prophetie

des

Mittelalters

229

g e s p o n n e n - „ U n d w a n n e d i t a l l e t v e r g a n g e n ist, / so kompt einer der heischt E n d e christ " 1 4 9 - , so geht d i e Kaiserprophetie v o n n u n a n e i g e n e W e g e u n d löst sich v o m B i l d e des letzten g r o ß e n Stauferkaisers, u m i m Z u s a m m e n h a n g m i t d e n chiliastis d i e n Schwärmer- u n d S e k t e n b e w e g u n g e n des 15. J a h r h u n d e r t s v o n e i n e m k o m m e n d e n Weltherrscher d i e H e r s t e l l u n g des W e l t f r i e d e n s , d i e R e f o r m a t i o n der Kiri e

u n d e i n e gerechte soziale O r d n u n g zu erträumen 1 5 0 . D i e Kaisersage d a g e g e n ,

w i e sie v o r a l l e m in T h ü r i n g e n , w o h l v o n d e m s a g e n h a f t e n B i l d e Friedrichs des F r e i d i g e n beeinflußt, festeren F u ß f a ß t u n d v o m V o l k s m u n d m i t d e m K y f f h ä u s e r B e r g in V e r b i n d u n g gebracht wird, der schon früher G e g e n s t a n d lokaler S a g e n g e w e s e n zu sein scheint 1 5 1 , bleibt d e m Stauferkaiser treu und erzählt v o n seiner W i e derkehr v o r d e m Anbruch des J ü n g s t e n T a g e s . So schreibt J o h a n n e s Rothe in seiner .Düringischen Chronik' u m 1430, d i e noch v o n N o v a l i s später als Q u e l l e für d e n O f t e r d i n g e n - R o m a n benutzt w e r d e n sollte, v o n d e m ketzerischen

Volksglauben

seiner Z e i t : „Vonn dissem keisser Frederiche dem ketzer erhub sich eyne nuwe ketzerey die nodi heymelidien under den cristen ist, unde die glouben des gentzlidien, das keisser Frederich nodi lebe unde lebinde bleiben sulle bis an den jungisten tagk unde das keyn reditir keysser noch om worden sey adir werden sulle unde das her wander zu Kuffhussen yn Doringen uf dem wüsten slosse unde oudi uf a n d e r n wüsten bürgen die zu dem reiche gehören, unde rede mit d e n lewten unde lasse sich zu gezeiten sehin . . . M a n meynet wol, das vor dem jungisten tage eyn meditiger keisser der cristenheit werden sulle, der f r e d e machen sulle under den fursten, unde denn sso sulle von om

" · Geistliche Gedichte, a. a. O. S. 315 (vgl. G. ZEDLER, a. a. O. S. 278). 150 Das Fortleben der Kaiserprophetie läßt sich seit Dantes Schrift ,De Monarchia', die am Ausgang des Mittelalters noch einmal die Idee des Weltkaisertums als ersehnte Wiederherstellung des römischen Weltfriedensreiches unter Augustus verkündet hatte, vor allem in den zahlreichen Flugschriften am Vorabend der Reformation nachweisen, die ihre religiösen und politisch-sozialen Reformideen mit der Ankündigung eines mächtigen Weltherrschers verbinden, der sie verwirklichen und das erhoffte Idealreich heraufführen werde (vgl. die .Reformatio Sigismundi' von 1438). Sie findet einen letzten, literarischen Höhepunkt in jenem merkwürdigen Zukunftsbild des 17. Jahrhunderts, das mitten aus den Wirren des dreißigjährigen Krieges aufgestiegen zu sein scheint und unter Aufnahme antiker und mittelalterlicher Weissagungsmotive in Grimmelshausens Roman .Simplicissimus Teutsch' seine meisterhafte, wenn audi ironisch verhüllte Darstellung gefunden hat: . . . . ich will einen Teutschen Helden erwecken / der soll alles mit der Schärffe deß Sdiwerds vollenden / er wird alle verruchte Menschen umbbringen / und die fromme erhalten und erhöhen . . . und solche Anstalten machen / daß man von keinem Fronen / Wachen / Contribuiren / Gelt geben / Kriegen / noch einiger Beschwerung beym Volck mehr wissen / sondern viel seeliger als in den Elysischen Feldern leben wird . . . Alsdenn wird er Constantinopel in einem Tag einnehmen . . . daselbst wird er das Römisch Käiserthumb wieder auffridilen . . . und alsdenn wird / wie zu Augusti Zeiten / ein ewiger beständiger Fried zwisdien allen Völdiern in der gantzen Welt seyn .. (Simplicissimus Teutsch, hg. v. J. H. Schölte. Neudrucke Nr. 302-309. 2. Aufl., Halle/S. 1949, S. 210-214). - Zu diesem von uns nicht weiter verfolgten Fortleben der mittelalterlichen Kaiserprophetie und ihrem barocken Abgesang (der freilich, wie J. Petersen gezeigt hat, zugleich als ein erstes Aufleuchten neuer utopischer Ideen des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts gedeutet werden kann) vgl. die folgende Literatur, die über die drei wichtigsten Stationen weiteren Aufschluß vermittelt: F. KAMPERS, Dantes Kaisertraum. Breslau 1908; H. GRAUERT, Dante und die Idee des Weltfriedens. München 1909; H. GRUNDMANN, Dante und Joachim von Fiore, in: Deutsches Dante-Jahrbuch 14, 1932, S. 210 ff. - A. DOREN, Zur Reformatio Sigismundi, in: Historisdie Vierteljahrschrift 16, 1922, S. Iff.; W.-E. PEUCKERT, Die große Wende. Das apokalyptische Saeculum und Luther. Hamburg 1948, S. 219 ff. (mit weiterer Literatur S. 681). - J. PETERSEN, Grimmelshausens „Teutscher Held", in: Euphorion, 17. Ergänzungsheft, 1924, S. 1 ff.; J. PETERSEN, Die Sehnsudit nach dem Dritten Reich in deutscher Sage und Diditung, a. a. O. S. 19 ff. 151 Vgl. H. GRAUERT, Zur deutschen Kaisersage, a. a. O. S. 138 f.

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Der christliche

Chiliasmus

eyne meerfart werden unde her sulle das heilige grab gewynnen unde den nenne man Frederich umb fredis willen den her madiit, ap her nicht alsso getouffet ist . . ." lsî .

Aber audi in diesem Bericht ist nodi ein Schwanken zwischen Kaisersage und Kaiserprophetie spürbar, so daß sich offenbar zwischen Friedrich II., der bis zum jüngsten Tag leben und auf dem Kyffhäuser, aber auch an anderen Stätten seines Reiches gesehen worden sein soll, und einem anderen Friedrich, der am Ende aller Tage erscheinen und die alten sibyllinisdien Weissagungen erfüllen werde, eine getrennte Überlieferung abzeichnet, die erst allmählich verschmolzen und in einer einheitlichen Sagengestalt zusammengefaßt wird. Ein Flugblatt aus dem Jahre 1537 verkündet schließlich die Friedrichssage in einer Fassung, die deutlich werden läßt, wie nunmehr die alte Kaiserprophetie in der Sage aufgeht und in ihr die volkstümliche Weissagungsform erhält, die bis ins 18. Jahrhundert weiterwirkt. Hier wird auch die Erwartung eines goldenen Zeitalters erstmals wieder mit jenem märchenhaften Wunderglauben ausgeschmückt, der der Sagenentwicklung eigentümlich ist und der zugleich die letzten Nachklänge des Kirdienkampfes, in denen das Antichrist-Motiv der stauferfeindlidien Friedridisprophetie bewahrt worden war, aus dem versöhnlichen Zukunftsbilde tilgt: „Item nach inhalt und ausweisung vilerhandt proveceien soll benanter Keiser Frideridi wider kommen bei dises hodilöblidien Christlichen Keisers Zeiten, der sich schreibt Karolus V., der fünft Römisch Keiser, und soll im helffen gewinnen das Keiserthumb zu Constantinopel, Jerusalem und das heilig grab . . . Dann würt sich alle weit zu unserm hodilöblidien Keiser gesellen und freuntsdiaft mit im machen . . . Dann würt mancher weib und kind verlassen, disem Fridreidien hodilöblidien Keiser nachzufolgen von wegen seiner grossen wunderthaten. Dann würt der dürr bäum in kriedienland gruonen, daran würt unser frummer heiliger Keiser seinen harnisdi hendcen und seinen schilt darneben . . . Dann würt er uff heben seinen scepter, und würt frid sein in aller weit. Dann würt das gülden alter und die gülden zeit erfüllt und erfür kommen. Also und der gestalt würt Keiser Fridenreidi kommen, das frid und einigheit würt sein in aller weit, Ein hirt und ein schaff stall. Darzuo verhelff uns Gott und die heilige Dreifaltigkeit. Amen."158

Aus dem Kaiser der Verfolgungen, der stauferfeindlidien Antichrist- wie der klerusfeindlidien Messias-Erwartungen, ist hier der große christliche Kaiser der Endzeit geworden, der nach märchenhaftem Wunschglauben durch Aufheben seines Zepters den Frieden in der Welt herstellen und ein neues goldenes Zeitalter auf Erden heraufführen wird, in welchem die joadiitisdien Prophetien vom Engelpapst und der christlichen Universalmonarchie nodi unverkennbar nachklingen. Mit dieser Harmonisierung aber vollzieht sich seit dem Ende des 15. Jahrhunderts zugleich jene allmähliche Übertragung der Friedrichssage auf den volkstümlicheren Friedrich

152 Düringisdie Chronik des Johann Rothe, hg. von R. v. Liliencron. Thüringische Gesdiiditsquellen, Bd. III, J e n a 1859, S.426. In diesem Werk, das Novalis in der Bibliothek des Majors v. Funde benutzte, f a n d er neben der Kaisersage auch den Wartburgkrieg und die sagenhaften Gestalten Heinrichs von Afterdingen und Klingsohrs dargestellt (a. a. O. S. 330 £f.). 1M F. KAMPERS, Die deutsche Kaiseridee, a. a. 0 . S. 143 f. Das Flugblatt, in dem das Gespräch eines römischen Senators mit einem .deutschen Parcifal' geschildert wird, ist nadi dem seltenen Druck von 1537 zu Beginn des 17. Jahrhunderts in den .Fürstlichen Tischreden' (hg. von Werner Gebhardt C. und Georg Draudius P. O., Basel 1642, Cap. CVII, S. 322 ff.) erneut wiedergegeben und damit der Vergessenheit entrissen worden.

Die Weltkaiser-Prophetie

des Mittelalters

231

Barbarossa, die sich in einem charakteristischen Schwanken zwischen den beiden Stauferkaisern ankündigt. Während das eben angeführte Flugblatt noch 1537 von Friedrich II. spricht und diese Tradition vor allem in gelehrten Kreisen, ζ. B. in J o hann Fischarts .Gargantua', bis zum Ende des 17. Jahrhunderts festgehalten wird 154 , bringt das Volksbuch vom Kaiser Barbarossa bereits 1519 die alten Sagenmotive mit Friedrich I. in Verbindung - denn diese „wahrhafftige historij von dem kaiser Friderich der erst seines namens, mit ainem langen roten bart, den die Walhen nenten Barbarossa" 165 berichtet am Ende ebenfalls von seiner Bergentrückung und der im Volke verbreiteten Hoffnung auf seine Wiederkehr: „Und ist zuoletst verlorn worden, das niemandt waist, wo er hin ist komen nodi begraben. Die pawrn und schwartzen künstner sagen, er sey noch lebendig in ainem holen perg, soll nodi herwider komen und die gaistlidien straffen und sein schilt noch an den dürren paum hengken, weldis paums all Soldan nodi fleissig hüeten lassen. Das ist war das des paums gehüet wirt, und sein hüeter darzu gestifft: wölcher kaiser aber seinen schilt sol daran hengken, das waiss got." 1 5 '

In dieser Form der volkstümlichen Barbarossa-Sage ist die mittelalterliche Kaiserprophetie, von der wir ausgegangen waren, weitergetragen und schließlich dem 18. Jahrhundert übermittelt worden. Alle Einzelzüge der Sage sammelte 1703 ein Physiker Georg Behrens zu Nordhausen und teilte sie in seiner ,Hercynia curiosa' mit; das Büchlein erlebte mehrere Auflagen und wurde in seiner Bearbeitung durch Melissantes .Curieuse Orographie' zur Grundlage der Erzählungen, mit denen zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Romantiker, vor allem Görres und die Brüder Grimm, die Sage zu neuem Leben erweckten157. In dem ausführlichen Bericht des Kuriositätensammlers Behrens hat sich auch die ältere Sagenüberlieferung endgültig mit dem Kyffhäuser verbunden und damit den thüringischen Lokalsagen, die entscheidenden Anteil an der Entwicklung der deutschen Kaisersage genommen hatten, den Vorzug gegeben. Aus diesem mythenumwobenen Berg in der Goldenen Aue Thüringens soll dereinst der große Friedenskaiser der Endzeit hervorgehen, der in Gestalt des schlummernden Friedrich Barbarossa die alten Träume von einem goldenen Zeitalter und tausendjährigen Friedensreich an sich gezogen und über Jahrhunderte hinweg im Denken des Volkes bewahrt hat: „denn sie in denen Gedancken stehen, als wenn derselbe vor dem Jüngsten Tage wiederum aufwachen und sein verlassenes Keyserthum auf das Neüe antreten und bestätigen werde" 158 . Eine Erneuerung des staufischen Weltkaisertums aber war, wie hier nur absdiließend angedeutet werden soll, auch im Ofterdingen-Roman des Novalis als ein zentrales dichterisches Motiv vorgesehen, das in die Sdilußapotheose, in die Heraufführung eines neuen goldenen Zeitalters auf Erden, eingefügt und mit der Kyff154 Vgl Johann Fisdiarts Geschiditklitterung (Gargantua), hg. von A. Alsleben. Neudrudce Nr. 65-71, Halle a. S. 1891, S. 426. Weitere Belege bei KAMPEKS, Die deutsche Kaiseridee, a. a. O. S. 156 f. Ed. von F. Pfeiffer, VolksbüAlein vom Kaiser Friedridi, in: ZfdA 5, 1845, S. 250ff. a. a. O. S. 267. 1 5 7 Georg Behrens, Hercynia curiosa. Nordhausen 1703 (2. Aufl. 1712, 3. Aufl. 1720); Johann Gottfried Gregorii alias Melissantes, Curieuse Orographie. F r a n k f u r t und Leipzig 1715; Josef Görres, Die Teutschen Volksbücher. Heidelberg 1807 (Erstdrude); J a k o b und Wilhelm Grimm, Deutsche Sagen. Bd. I, Berlin 1816 (Erstdruck). 1 5 8 Georg Behrens, Hercynia curiosa, a. a. O. (Abdruck des Berichtes bei E. KOCH, Die Sage vom Kaiser Friedrich im Kyffhäuser. Leipzig 1886, S. 41 f.). 155

158

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Der christliche Chiliasmus

häusersage in Verbindung gebracht werden sollte. V o r allen anderen Romantikern, vor Görres, den Brüdern Grimm und Arnim15®, ist es der Thüringer Friedrich von Hardenberg, der sich der alten Kaisersage erinnert, der ihr in dem Studium von Chroniken des 15. und 16. Jahrhunderts nachgeht, der sich audi mit der historischen Gestalt Friedrichs II. gründlich beschäftigt und in ihm den „mystischen Kaiser" darstellen will, dessen Reich am Ende aller Tage, wie das Arcturs im KlingsohrMärchen, wiederhergestellt wird - ja, der die „Sehnsucht nach dem Kyffhäuser" als zweites, bisher kaum beachtetes Erlösungsmotiv in den unvollendet gebliebenen Teil seines Romans einzuweben plant 140 . Ihm mag in der Kaisersage jene geheime Verkettung von Erinnerung und Hoffnung begegnet sein, die sein Verhältnis zur Vergangenheit und zur Geschichte überhaupt bestimmte: Unter hohen, festen Bogen, Nur vom Lampenlicht erhellt, Liegt, seitdem der Geist entflogen, Nun das Heiligste der Welt. Leise kündet beßre Tage Ein verlornes Blatt uns an, Und wir sehn der alten Sage Mächtge Augen aufgetan . . . m

Damit mündet auch diese Überlieferungslinie, die aus dem Chiliasmus hervorgegangen, aber statt auf den wiederkehrenden Christus auf einen wiederkehrenden irdischen Weltmonarchen gerichtet ist, in das Werk des Novalis ein und vereinigt sich mit den anderen utopischen Ideen, deren Vorgeschichte wir betrachtet haben.

4. Der pietistische Chiliasmus des 18. Jahrhunderts und seine Beziehung zur,güldenen Zeit' Schon im spätmittelalterlichen Chiliasmus, der durch die spiritualistisdien Sektenund Sdiwärmerbewegungen des 15. Jahrhunderts unterirdisch bis an die Schwelle der Reformationszeit fortwirkte, hatten sich neben der traditionellen, aus der Antike überkommenen Idee eines Weltherrschers der Endzeit und neben der christlichen Hoffnung auf einen verheißenen Engelpapst, der die Einigung der Welt unter dem 15 · Arnims unvollendeter Roman ,Die Kronenwächter', dessen erster Teil 1817 erschien, nimmt ebenfalls den Gedanken des staufisdien Weltkaisertums auf; im Mittelpunkt des Werkes steht die von einem geheimnisvollen Wächterorden bewahrte Hohenstaufenkrone und der Traum von einer künftigen Erneuerung des Reiches durdh die nationale Wiedergeburt des Volkes in einem neuen Adel des Geistes und der Bildung (Arnims Werke, hg. von A. Schier. Bd. I, Leipzig-Wien o. J . (1925), S. 3 ff.). 110 Näheren Aufschluß über die geplante Einarbeitung, die durch das Barbarossa-Traumbild des ersten Kapitels vorbereitet worden war (I, 107), gibt ein bisher nur aus Tiecks Fortsetzungsberidit bekanntes, jetzt auch handschriftlich aufgefundenes und aus dem Nadilaß Eduard v. Bülows vom Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt erworbenes Paralipomenon zum Ofterdingen-Roman, das von P. KLUCKHOHN mitsamt den anderen Handschriften veröffentlicht worden ist (in: DVjs. 32, 1958, S. 391 ff.; vgl. Kl.-S. I 1 , S. 335 ff.). Dadurch ist es möglich, Tiecks Fortsetzungsbericht zu überprüfen und entgegen der bisherigen Meinung im wesentlichen durch die handschriftlichen Entwürfe Hardenbergs bestätigt zu finden. Vgl. dazu unsere Arbeit, S. 414 ff. 181 I, 365; vgl. I, 162.

Der pietistische

Chiliasmus

des 18.

Jahrhunderts

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Zeidien des Kreuzes herbeiführen würde, mehr und mehr die konkreter umrissenen Vorstellungen von einem gerechten Ausgleich der sozialen Besitzverhältnisse, von einem kommunistisch-friedlichen Gemeinschaftsleben abgezeichnet - Vorstellungen, die, aus den politisch-sozialen Nöten des verfallenden Mittelalters geboren, mit der märchenhaften Ausmalung der erträumten Glückszeit eine scharfe, aggressive Gegenwartskritik verbanden und in den Versuchen einer praktischen Verwirklichung des Gottesreiches auf Erden schließlich ihren revolutionären Höhepunkt fanden. Dieser radikale Flügel des Chiliasmus, der erstmals in den Hussitenstürmen des 15. Jahrhunderts hervortrat und in den Bauernkriegen und Wiedertäuferbewegungen des 16. Jahrhunderts seine gesdiichtlidi verhängnisvollen Auswirkungen erfuhr 1 · 8 , mußte die Reaktion auch der protestantischen Kirchen herausfordern, die den Hoffnungen auf eine „reformatio universalis", auf eine Erneuerung von Kirdie und Reich zunächst so entscheidenden Auftrieb gegeben und mittelbar zum Aufflammen der diiliastischen Erwartungen beigetragen hatten. Denn die Lösung von Roms geistlicher Herrschaft, die in zahllosen Flugschriften verbreitete Brandmarkung des Papstes als des wahren Antichristen ließ das tausendjährige Reich, das seinem Auftreten folgen sollte und das seit der spiritualistisdien Deutung der Joadiiten nicht mehr von einer leibhaften Wiederkehr Christi abhängig gemacht wurde, in unmittelbarer Nähe erscheinen. Die damit erwachte, ekstatische Erwartung steigerte sidi nun - im Bündnis mit den unterdrückten Volksschichten - zu dem bisher unbekannten, fanatischen Bewußtsein, daß die gewaltsame Vertilgung der Gottlosen durch Feuer und Schwert in die Hände der auserwählten Gemeinde Gottes gelegt und die ihr übertragene Vorbereitung des heilsgeschichtlichen Erlösungswerkes sei. Nicht nur in Münster glaubte man daher das neue Jerusalem und die Herrschaft der Gerechten über die Welt, wie sie die Johannes-Apokalypse verheißen hatte, bereits begründet zu haben 1 · 3 . Die Wendung Luthers gegen die Schwärmer besiegelte allerdings das Schicksal aller dieser revolutionären Bewegungen und führte in der ,Confessio Augustana', dem offiziellen Glaubensbekenntnis der evangelischen Stände auf dem Reichstag in Augsburg, ausdrücklich zur Verdammung des gesamten Chiliasmus als einer jüdischen Irrlehre: „ D a m n a n t et alios, qui nunc spargunt Iudaicas opiniones, quod ante resurrectionem mortuorum pii r e g n u m m u n d i occupaturi sint, u b i q u e oppressis impiis . . ." t M .

Mit diesem Verdikt war der Chiliasmus erneut, wie schon in frühchristlicher Zeit durch Augustinus, aus der Kirche - nunmehr auch der lutherischen - verbannt und in die Häresie abgedrängt. Dennoch lebt er in dieser Form einer ketzerischen Sek1,1 Vgl. W.-E. PEUCKERT, Die große Wende. Das apokalyptisdie Saeculum und Luther. Hamburg 1948 (das W e r k bringt, trotz seiner wiederholt kritisierten Verzeichnung Luthers, ein ausgezeiAnetes und reichhaltiges Material zu den chiliastischen Strömungen am Vorabend der Reformation, die in den Bauernkriegen revolutionäre Gestalt annehmen); ferner L. KELLER, Geschichte der Wiedertäufer und ihres Reichs zu Münster. Münster 1880, und G. J. NEUMANN, Eschatalogisdie und diiliastische Gedanken in der Reformationszeit, besonders bei den Täufern, in: Die W e l t als Geschichte, 19. Jg. 1959, S. 5 8 ff. 1 " Η. V. SCHUBERT, Der Kommunismus der Wiedertäufer in Münster und seine Quellen. SB d. Heidelbg. Ak. d. Wiss., Phil.-Hist. Kl., Jg. 1919, 11. Abh., Heidelberg 1919. 1,4 Confessio Augustana, Art. X V I I : De Christi reditu ad iudicium („Item, hie werden verworfen auch etliche jüdische Lehren, die sich jetzt auch eräugen, dass vor der Auferstehung der Toten eitel Heilige, Fromme ein weltlich Reich haben und alle Gottlosen vertilgen werden . . .").

234

Der Aristlidie

Chiliasmus

tenlehre audi im 16. und 17. Jahrhundert fort und gewinnt namentlich in den pansophisdien Strömungen der Barockzeit, bei Valentin Weigel, Jakob Böhme und Gottfried Arnold, eine neue, mystisch verinnerlichte Ausdrucksform, die abseits von der protestantischen Orthodoxie im Verborgenen der Geheimbünde und -gesellschaften bis ins 18. Jahrhundert hineinwirkt165. Die Erwartung einer kommenden Monarchia Messiae, einer „Jesusmonarchie", wie es bei Jakob Böhme heißt 1 ", die Hoffnung, daß „noch eine Güldene als die dritte und lezte Zeit hinderstellig sey" und einen neuen „Bundt des Friedens" über den ganzen Erdkreis heraufführen werde, wie Julius Sperber in seinem ,Geheimen Tractatus von den dreyen Seculis' ausführt 1 · 7 , verbindet diese theosophischen Geheimlehren mit dem Pietismus, der im 18. Jahrhundert den Chiliasmus von einer beharrlichen Bibelexegese her zu erneuern sucht und ihn bis nahe an die orthodoxe Kirchenlehre des Luthertums heranführt. „Nichts ist alberner, als wenn man das Königreich Jesu mit dem diiliastischen Spott belegt", heißt es bei Friedrich Christoph Oetinger. „Solche tolle Einwürfe, die man audi gegen den erleuchteten Bengel macht, fallen auf den Bogen solcher ungewissen Schüzen zurück . . . Fürwahr, sie werden nicht wehren, daß der Chiliasmus nicht orthodox werde . . ."1ββ. Und ähnlich betont Johann Caspar Lavater, daß „die Lehre von einem tausendjährigen irrdisdi-moralisdien Reiche des Messias . . . etwas mehr als ein fanatischer Traum und ein Spiel der EinbildungsKraft" sei1··. Diesem Chiliasmus des 18. Jahrhunderts und seiner Aufnahme durch Lessing und die Romantiker soll unsere abschließende Betrachtung gelten. Bereits im Frühpietismus, bei Philipp Jakob Spener und Johann Wilhelm Petersen, hatte die erneute Beschäftigung mit der Johannes-Apokalypse zu der festen Überzeugung geführt, daß „das Reich Christi, welches das Tausendjährige Reich heißt, nodi zukünftig" sei; gegenüber allen Angriffen von Seiten der orthodoxen Kirdie, die an der Confessio Augustana festhielt und den Chiliasmus als Ketzerei verwarf, waren diese ersten Pietisten bereit, wie Petersen um des „heiligen Chiliasmus" willen alle Leiden und Verfolgungen auf sich zu nehmen170. Aber erst im württembergischen Pietismus, dessen Begründer Johann Albrecht Bengel 1724 bei der Auslegung der Apokalypse sein entscheidendes Erweckungserlebnis hatte, durch

1.6 Für die Entwicklung des Chiliasmus vom 17. zum 18. Jahrhundert bringt H. Corrodi, Kritische Gesdiidhte des Chiliasmus, a. a. O. Bd. III, 1-2, ein reichhaltiges, heute kaum nodi zugängliches Material, das allerdings, wie sdion erwähnt, vom negativen Standpunkt der Aufklärungstheologie her beurteilt wird (zu Weigel vgl. III, 311 ff.; zu Böhme III, 392 ff.). Daneben ist Gottfried Arnolds Unpartheyisdie Kirchen- und Ketzer-Historie (Franckfurt a. M. 1700) heranzuziehen. - Vgl. ferner W.-E. PEUCKERT, Pansophie. Ein Versudi zur Geschidite der weißen und schwärzen Magie. Stuttgart 1936. 1M W.-E. PEUCKERT, Das Leben Jakob Böhmes. Jena 1924, S. 8; vgl. dazu E. BENZ, Die Geschichtsmetaphysik Jakob Böhmes, in: DVjs. 13, 1935, S. 421 ff. 1.7 J . PETERSEN, Die Sehnsucht nach dem Dritten Reidi in deutscher Sage und Dichtung, a. a. O. S. 27/28; vgl. W.-E. PEUCKERT, Die Rosenkreutzer. Zur Geschidite einer Reformation. J e n a 1928, S. 40 ff. 188 Sämmtlidie Schriften, a. a. O. Bd. VI, S. 113. 1U Aussichten in die Ewigkeit, in Briefen an H m . Joh. Georg Zimmermann, a. a. 0 . Bd. I, S. 99. 1,0 J . W . Petersen, Lebens-Besdireibung von ihm selbst und seiner Frauen. Hannover 1719, S. 352 u. 213. Aus der Fülle von chiüastisdien Schriften Petersens sei hier nur angeführt: Schriftmäßige Erklärung und Beweiß der 1000 J a h r e und der daran hangenden ersten Auferstehung. Franckfurt 1692. Zu Spener vgl. A. RITSCHL, Geschichte des Pietismus. Bd. II, 1 - 2 : Der Pietismus in der lutherischen Kirche des 17. und 18. Jahrhunderts, Bonn 1884-86.

Der pietistische Chiliasmus des 18. Jahrhunderts

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welches ihm das Geheimnis der „göttlichen Haushaltung" vom Anbeginn aller Geschichte bis zum Jüngsten Tage offenbart wurde, fanden die diiliastisdien Gedanken eine feste Heimstätte, die ihnen von hier aus einen wirksamen Einfluß auf die eschatologisch orientierte Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus und der Romantik eröffnen sollte 171 . Denn im Gegensatz zum Fortschrittsglauben der A u f klärungsphilosophie trat hier, im schwäbischen Pietismus, jenes Endzeitbewußtsein des Chiliasmus wieder in Erscheinung, das die Weltgeschichte in ihr entscheidendes Endstadium eingetreten sah und das in Bengels .Erklärter Offenbarung Johannis' aus dem J a h r e 1740 einen dramatisch erregten Ausdrude erfahren hatte. Dem Klosterpräzeptor von Denkendorf war nicht nur die Gewißheit von der rechtgläubigen Erwartung des kommenden tausendjährigen Reiches geschenkt worden „In der Offenbarung läuft es auf einen seligen Chiliasmus hinaus, und diese Weissagung fasst so grosse Dinge darein, dass man die tausend Jahre notwendig als einen namhaften Teil der göttlichen Oekonomie erkennen muss, audi dieselbe ohne Verletzung des teuren Geheimnisses . . . nicht für verflossen angeben kann"172 - ,

sondern er hatte auch den Zeitpunkt f ü r die Wiederkunft Christi und den Anbruch des tausendjährigen Reiches aus der Apokalypse errechnet und auf das J a h r 1809, nach späteren Berechnungen auf 1836 festgesetzt. Diese Endzeiterwartung, nach welcher sich in den nächsten hundert Jahren alle Weissagungen vom Auftreten des Antichristen, von den furchtbaren Verfolgungskämpfen der Kirche und der Wiederkehr Christi bewahrheiten mußten, erfüllte seine Predigten und Schriften mit der Gewißheit einer göttlichen Inspiration und teilte sich auch seinen Schülern mit: „Es ist mir nicht möglich", schreibt er bereits am 22. Dezember 1724 an J. F. Reuß, „Dir eine Nachricht vorzuenthalten, von der idi gleichwohl wünschen muß, daß du sie ganz für dich behaltest. Unter dem Beistand des Herrn habe ich die Zahl des Thieres gefunden: es sind 666 Jahre von 1143 bis 1809. Dieser apokalyptische Schlüssel ist von Wichtigkeit, und tröstet midi namentlich bey den Trauer-Fällen meiner Familie; denn diejenigen, welche jetzt geboren werden, kommen in -wunderbare Zeiten hinein. Auch du hast dich darauf gefaßt zu machen, denn Weisheit wird Noth thun. Gebenedeyet sey, der da kommt .. ,"173

Bei Bengel aber war dieses erregte Endzeitbewußtsein vor allem auf die apokalyptischen Heimsuchungen der Kirche gerichtet, die vor dem Anbruch des tausendjährigen Reiches die gläubigen Christen in Verwirrung und Not stürzen sollten „es dürfte nicht hundert J a h r e anstehen, bis diese zehn Kapitel (der JohannesOffenbarung) . . . werden vollends abgelaufen sein. Dasjenige, worauf die Leute schon zur Apostelzeit gewartet haben, die große Verfolgung unter dem sogenannten Antichristen, ist vor der Thür. Die Zeit ist kurz, und deswegen läßt uns Gott

171 Darüber hat E. BENZ neuerdings eine aufsdilußreidie Studie vorgelegt: Johann Albredit Bengel und die Philosophie des deutschen Idealismus, in: DVjs. 27, 1953, S. 528 ff. - Vgl. weiterhin die dort verzeichnete Literatur. 178 D. Joh. Alberti Bengelii Gnomon Novi Testamenti in quo ex nativa verborum vi simplicitas, profunditas, concinnitas, salubritas sensuum coelestium indicatur. Editio octava, aueta opera P. Steudel. Stuttgart 1887. S. 1110. 173 J . Ch. F. Burk, D. Johann Albredit Bengel's Leben und Wirken, meist nadi handschriftlichen Materialien bearbeitet. Stuttgart 1831, S. 265. Vgl. daneben K. HERMANN, Johann Albredit Bengel, der Klosterpräzeptor von Denkendorf. Sein Werden und Wirken. Calwer Vereinsbudihandlung 1937, S. 4 1 3 .

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Der christliche Chiliasmus

sein Licht aufgehen, damit wir uns darein schicken können" 1 7 4 . Diese Haltung zeichnet sich zwar in der gesamten Frömmigkeitsstruktur des Pietismus ab, indem die geschichtlichen Ereignisse der Gegenwart wieder als .Zeichen der Zeit', als Erfüllung aller Unheilsweissagungen betrachtet werden und überall die Furcht vor dem Antichristen und seinen Propheten hervortritt; doch stellt sich schon f ü r die nächste Generation die Endzeiterwartung unter einem veränderten Aspekt dar, der vorwiegend von Gedanken und Meditationen über das nahe bevorstehende Gottesreich bestimmt ist. Vor den geistigen Augen der Gemeinde erscheint nun das Bild der kommenden .güldenen Zeit', des tausendjährigen Reiches als Erfüllung der Weltgeschichte, in welchem die furchtbaren Kämpfe der Gemeinde Gottes mit dem Antichristen überwunden sind, die Schlange im Abgrund gefesselt ist und Christus seine vollkommene Königsherrschaft auf Erden errichtet hat. Für dieses neue Blickfeld, das sich in der zweiten Generation des schwäbischen Pietismus durchzusetzen beginnt, kann vor allem der bedeutendste Schüler Bengels, F. C. Oetinger, als Beispiel herangezogen werden, da in seiner 1759 erschienenen, 1774 erweiterten Schrift ,Die güldene Zeit oder Sammlung wichtiger Betrachtungen von etlichen Gelehrten zur Ermunterung in diesen bedenklichen Zeiten zusammen getragen' wohl das ausführlichste Bild des tausendjährigen Reiches nach pietistischem Glauben entworfen worden ist. Grundlegend f ü r Oetinger wie f ü r seinen Lehrer Bengel ist der Gedanke, daß der Ablauf der Weltgeschichte von einer göttlichen Ökonomie vorherbestimmt sei, die aus der Heiligen Schrift erschlossen werden könne. Diese ist daher „das allergewisseste Lagerbuch der Welt", das Aufschluß über alle bereits abgelaufenen und noch ausstehenden Geschichtsepochen gibt und damit einen zusammenhängenden Heilsplan Gottes enthüllt, der wichtiger ist „als die geheimsten Kundschaften aus allen Kabinetten der irdischen Potentaten " 17δ . Die stufenweise fortschreitende Offenbarung Gottes hat nicht „alles zu aller Zeit in gleiche Deutlichkeit gebracht" ; aber wenn man audi „für die jezige Zeit nicht lauter mathematisch-demonstrirte Dinge verlangen" kann, so ist doch der Augenblick gekommen, da sich der gesamte Plan der Weltgeschichte aus dem Einblick in die Geheimnisse der göttlichen Ökonomie zu enthüllen beginnt und aus der theologischen Geschichtsforschung als einer rückwärts gewandten Prophetie die Verkündigung der bevorstehenden Endzeit hervorgehen muß: eine Verkündigung, die sich bei Oetinger - unter Zugrundelegung des „Bengelsdien Cyclus", dem „das ganze System der Ewigkeiten" zu ordnen vorbehalten gewesen sei - zu einem sehr konkreten Bilde der güldenen Zeit verdichtet, das stellenweise wie eine Wiederkehr des altkirchlichen Chiliasmus bei Lactantius "wirkt. Denn gegenüber dem mittelalterlichen Spiritualismus bei Joachim von Fiore und seinen Nachfolgern wird nicht nur an der realistischen Auslegung der alttestamentlichen Verheißungen festgehalten und jede „übergeistliche" Deutung der Mystiker und Philosophen ausdrücklich abgelehnt - bilde doch Gott, wie es Jakob Böhme ge-

174 Zit. nach E. BENZ, Johann Albrecht Bcngel und die Philosophie des deutschen Idealismus, a. a. 0 . S. 549. 175 Oetinger, Sämmtlidie Schriften, a. a. 0 . VI, 2; J . Ch. F. Burk, a. a. O. S. 34.

Der pietistische Chiliasmus des 18. Jahrhunderts

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lehrt habe, alles Innere im Äußeren, alles Geistige im Körperlichen ab, und nur ein närrisdier Idealismus könne an dem Wortverstande der Verheißungen, an den sinnlich-greifbaren Wundern des tausendjährigen Reidies Anstoß nehmen17* - , sondern es wird auch das güldene Zeitalter erneut mit der Wiederkunft Christi als des kommenden Weltmonarchen untrennbar verbunden. Diese diristozentrisdie Reidiserwartung nähert den pietistischen Chiliasmus der altkirchlichen Auffassung; ohne Christus als den rex iustus et victor ist das tausendjährige Reich und seine „allervollkommenste Regierung" nicht denkbar, und die Beschreibung seiner Königsherrschaft steht daher audi im Mittelpunkt der Darstellung Oetingers: „Es werden viele grosse Dinge auf dem Erdboden vorgehen, welche die Aufmerkenden auf die glückselige Zeit bereiten. Endlich wird er mit allen seinen Heiligen selbst erscheinen, nidit erst an dem jüngsten Tag, sondern mehr als tausend Jahr vorher. Wann der Widerdirist mit den Königen der Erde sich verbinden wird, mit einem Kriegsheer öffentlich wider das Israel Gottes zu streiten, da wird alsdann . . . kommen der Herr, mein Gott . . . Der ganze Aufzug ist deutlich beschrieben Offenb. 19, 11-21 . . . M e n s c h e n h ä n d e t h u n n i c h t s dabei..."177

Tritt hier gegenüber dem revolutionären Chiliasmus des Spätmittelalters und der Reformationszeit der passive Erwartungscharakter des pietistischen Glaubens hervor, so lassen sich nodi weitere Parallelen aufdecken, die über das Mittelalter hinweg auf den frühchristlichen Chiliasmus zurückweisen. Denn audi von Oetinger wird die antike Idee des goldenen Zeitalters für das tausendjährige Reich in Anspruch genommen, um alle säkularen Heilserwartungen auf die christliche Prophetie zu vereinigen und die Zeugnisse nicht nur der alttestamentlichen Propheten, sondern auch der „alten Weisen" als Beweis für die Wahrheit der diiliastischen Hoffnungen heranzuziehen. „Man lasse sich", heißt es zu Beginn, „den Titel von der güldenen Zeit, davon dieses Werk handelt, nicht befremden. Man hätte eben so wohl sezen können: Vorblicke in die besten Zeiten des Reidis C h r i s t i . Man wählt aber gemeiniglich gern solche Titel, welche Aufmerksamkeit erwecken . . ,"178

Diese Aufmerksamkeit ist dadurch gewährleistet, daß schon die ältesten antiken Autoren, wie Hesiod, Homer, Vergil, Ovid, von der güldenen Zeit berichtet und 176 Oetinger, Sämmtlidie Schriften, a. a. O. VI, 135 ff. („Es ist nidit genug, dass man sich auf das Innerste der Dinge, d. i. auf die Mystik lege, ohne Hilfsmittel des Aeussern, womit Gott das Innere abbildet . . .", S. 138). Zu dieser, durdi Jakob Böhme vermittelten Grundauffassung Oetingers - die uns in der Repräsentationslehre des Novalis ähnlich wiederbegegnen wird - vgl. vor allem Böhmes Sdirifi „De Signatura Rerum oder Von der Geburt und Bezeichnung aller Wesen" (Jacob Böhme, Sämtliche Sdiriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730, hg. von W.-E. Peuckert. Bd. VI, Stuttgart 1957, S. 95 ff.): „Dasselbe gefassete (Göttliche) W o r t hat sich mit Bewegung aller Gestalten mit dieser siditbaren Welt, als mit einem sichtbaren Gleichniß, offenbaret, daß das geistliche Wesen in einem leiblidien begreiflichen offenbar stünde: Als der innern Gestalt Begierde hat sich äusserlidb gemacht, und stehet das Innere im Aeusseren, das Innere hält das Aeussere vor sich als einen Spiegel, darinnen es sich in der Eigenschaft der Gebärung aller Gestältniß besiehet; das Aeussere ist seine Signatur . . ." (a. a. O. S. 97). - Die hier bestehenden Zusammenhänge zur Romantik behandelt K. LEESE, Von Jakob Böhme zu Schelling. Zur Metaphysik des Gottesproblems. Erfurt 1927, S. 18 f., 28 ff., 40 ff. Zum diiliastischen „Realismus" Oetingers, der in dieser Grundanschauung seine Wurzel findet, vgl. ferner die Bemerkungen von E. ZINN, Die Theologie des Friedrich Christoph Oetinger. Beiträge zur Förderung christlicher Theologie, Bd. 36. Gütersloh 1932, S. 93 u. 151 ff. 177 Sämmtlidie Schriften, a. a. O. VI, 12/13. 178 Sämmtlidie Schriften, a. a. O. VI, 1.

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Der christliche Chiliasmus

sie mit ihren Fabeln verlockend ausgeschmückt haben. Namentlich Vergil muß wiederum als Kronzeuge dafür dienen, daß die ganze literarische Überlieferung von einem goldenen Zeitalter, die dem humanistisch gebildeten Publikum vertraut ist, »aus der Quelle der Propheten geschöpft" und im Grunde „von Christo und seiner güldenen Zeit" Kunde gegeben habe: „Virgilius in seiner vierten Ekloga . . . macht hernadi eine BesAreibung dieser Zeit, nach Art der Poeten, welche weglassen, was nicht zu ihrem Zweck dient. Er meldet, dass Einer werde die Flecken unserer Sünden auslösdien, und die Erde davon reinigen; dass er machen werde, dass gute Leute sich der Gemeinschaft der Götter werden zu erfreuen haben, und dass Friede auf der Erde unter seinem Regiment bei den Tugenden der alten Einfalt blühen werde . . ."17®

Die Verkündigung der goldenen Zeit durch die alten Weisen kann daher auch einem Christen Trost bringen, denn die Heiden sind - nach einer scharfen Wendung Oetingers gegen die orthodoxe Kirchenlehre - stets „begieriger gewesen, von der zukünftigen Welt Nachriditen zu wissen, als die Christen"180. Diese apologetische Tendenz entspricht in überraschender Weise dem altkirchlichen Chiliasmus und seiner Inanspruchnahme der antiken Mythentradition. Aber auch die nun folgende Schilderung der güldenen Zeit unter Christus erweist sich als eine Erneuerung der altüberkommenen Wunschvorstellungen, wobei allerdings in entscheidenden Zügen der kommenden Christus-Monarchie die politisch-sozialen und geistigen Idealbilder des 18. Jahrhunderts unterlegt werden. Eine große Veränderung wird sich in der ganzen Natur vollziehen, wie es die Propheten verkündet haben; diese Veränderung muß „ferne von den mystischen Abwegen, die den Wortverstand nicht achten", nicht nur im moralischen, sondern auch im physischen Sinne verstanden werden: „Von 1740 und weiter hinaus bis 1836 mag man wohl aufsehen, und die Häupter aufheben. Es werden verwunderungswürdige Umstände in dem Bau der Welt vorgehen, bis endlich die grosse Versezung vorgeht, davon Jesaias 24 sdireibt . . . Diese Versezung ist eine kleine Abweichung des Pols. Es mag wohl eine starke Bewegung der Kräfte des Himmels und der Erde vorgehen, aber endlich wird der Stand der Erde gegen der Ekliptik sich wieder so fest sezen, dass alsdann die Jahreszeiten eine starke Veränderung bekommen, und der Frühling und gemässigte Sommer und Herbst vor dem Winter weit vorschlagen werden. Das ist die erste Veränderung in der Natur für diese Zeit . . . Die übrigen Veränderungen sind auch in der h. Schrift klar, und sind grosse Erdbeben, Austrocknung der Flüsse und Meere, Versezung und Ebenmadiung der Berge . . . Der Herr wird einen Bund machen mit den Thieren des Felds, mit den Vögeln des Himmels und mit dem Gewürm, . . . so wird alsdann ein Säugling spielen an dem Lodi einer Otter, der Wolf wird neben dem Lamm wohnen, und der Parder neben dem Bode .. ,"181

Werden hier die alttestamentlidien Weissagungen vom ewigen Frühling und Tierfrieden im goldenen Zeitalter erneuert, zugleich aber mit jenen naturwissenschaftlichen Theorien der Zeit begründet, die später in fast gleichlautender Form von « · Sämmtlidie Schriften, a. a. 0 . VI, 3/4. wo Sämmtlidie Schriften, a. a. 0 . VI, 4. i«1 Sämmtlidie Schriften, a. a. O. VI, 24/25.

Der pietistisAe Chiliasmus des 18.

Jahrhunderts

239

Rousseau und Hemsterhuis aufgenommen werden 182 , so wird daneben ausdrücklich auch über den moralischen Sinn dieser Verheißungen reflektiert, so daß sidi wörtliche und allegorische Auslegung eigentümlich mischen: „Der Prophet s p r i c h t . . . : alle Thale sollen erhöhet werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden, und was ungleich ist, soll eben, und was hökeridit ist, soll schlicht werden. - Diß geht zugleich auf die Zeit Johannis, und auf die lezte güldene Zeit, welche b e v o r s t e h t . . . Die Erhöhung der Thäler und Erniedrigung der Berge ist in eigentliAem physischem Sinn zu Johannis Zeiten nidit geschehen, sie wird aber zu unsern Zeiten geschehen, wann erfüllt wird, was Offenb. 16, 20 steht: alle Inseln entflohen, und keine Berge wurden gefunden. Das muss eine grosse Veränderung in der Geographie nach sidi ziehen . . . Es will aber der Prophet vornehmlich, dass man den moralischen Sinn seiner W o r t e vernehme. Jezt ist die Zeit, dass die Thäler sollen erhöhet und die Berge erniedrigt werden, d. i. dass die betrübten und verlegenen Menschen aufgemuntert und die stolzen und einbildisdien gedemüthigt werden . . . W i r wollen unsere unebenen und hökeriditen Gedanken nadi dem besten Modell der güldenen Zeit suchen zur ersten Einfalt abzugleichen und eben zu machen . . ." ,8S

Das führt nun zu einer ersten, bedeutsamen Ausweitung der überlieferten chiliastisdien Weissagungsmotive. Denn die alttestamentliche Verheißung von der vollkommenen Gotteserkenntnis und der Enthüllung aller Geheimnisse am Ende aller Tage 184 hat sich bei Oetinger zur Idee einer Zentralwissensdiaß abgewandelt, die in der güldenen Zeit alle Einzelwissenschaften zusammenfassen und aus einer einzigen Grundweisheit allen Menschen begreiflich machen werde. Die Beschreibung dieser Wissenschaft der Zukunft weist in erstaunlicher Weise auf die durch Hemsterhuis vermittelte, frühromantische Idealvorstellung einer „Enzyklopädie" der Wissenschaften voraus. Denn auch Oetinger stellt sich die Zerreißung der Wissenschaften lediglich als „eine Folge der verderbten Zeit" dar; im güldenen Zeitalter wird der Geist Gottes di« Menschen erleuchten, und sie werden erkennen, daß „diese drei Wissenschaften, nemlidi Jus, Theologie und Medicin, nur e i n e Wissenschaft aus einer einzigen Grund Weisheit" seien 188 : „In Christo liegen alle verborgenen Sdiäze der Weisheit und Erkenntnis, ausser diesem haben die Wissenschaften keinen rechten Zusammenschluss, und wer sich auf die

güldene Zeit bereiten will, der muss die Wissenschaften unzerrissenen Gestalt sehen."1**

in ihrer rechten Einfalt und

An die Stelle der analytischen Erkenntnis wird dann schließlich die Intuition treten, die alles klar und „einem Kinde begreiflich" machen wird. Denn alle Wissenschaften sind, wie Oetinger wiederholt hervorhebt, „in der Hand Jesu; er offenbart durch sie alles Verborgene; durch sie lauft es, dass alles stückweise sich auswickle, damit es einmal in der Vollkommenheit intuitiv beisammen stehe, und von den Kindern Gottes gesehen werde". Diese geistige Zentralschau als Synthese alles menschlichen Wissens wird allerdings bei Oetinger, seiner Auffassung vom tausend182 Oeuvres Complètes de J . J . Rousseau, a. a. Ο. I, 388 f.; Oeuvres Philosophiques de M. F. Hemsterhuis, ed. H. J . Jansen, a. a. Ο. II, 140 ff., 179 ff. Vgl. dazu unsere Arbeit, S. 275 f. 183 Sämmtlidie Schriften, a. a. Ο. VI, 8/9. 184 Vgl. Isaias 11, 9; Jeremias 31, 34 u. a. m. 185 Sämmtlidie Schriften, a. a. Ο. VI, 9. >8· Sämmtlidie Schriften, a . a . O . VI, 114 („Die güldene Zeit. Zweites Stüde. Vom königlichen Priesterthum Jesu").

Der (hristlidie Chiliasmus

240

jährigen Reich folgend, mit dem endzeitlichen Wirken des Heilands in Verbindung gebracht, der „als ein offenbarer Herr der Natur und höchster Priester nach der Zeit der Verdeckung alles Wissenschaftliche anschauend darstellen, leicht begreiflich machen, und das Ueberflüssige und Verwirrte in den Wissenschaften abschaffen werde" ; sie wird aber zugleich - und das deutet ebenfalls auf die frühromantische Idee einer Universalwissenschaft bei Novalis hin - als Selbstoffenbarung Gottes im Menschen begriffen: „Die heutigen Wisser fragen wenig nach dem höchsten Grund, nemlidi dem G e i s t , woraus alle Wissenschaft fliesst . . . Es wird in der güldenen Zeit im höchsten Grad wahr befunden werden, was nadi viel falsch befundenen Definitionen von der Wissenschaft . . . endlich die wahre Definition sei. Nemlidi die wahre Wissenschaft ist ein Inbegriff göttlicher Dinge, welcher im Geist seinen Siz hat, und hernadi in die Vernunft ausfliesst. Gott hat sie dem Geist eingesenkt, der Lehrer muss sie durdi Gott in die Vernunft bringen, die Vernunft muss sie mit dem Geist vereinbaren, und der Geist muss sidi dadurch mit Gott vereinigen . . ."1B7 Zeigt schon diese Idee einer intuitiven Geistschau, durch welche alle Wissenschaften auf ein gemeinsames Grundprinzip zurückgeführt und als Erkenntnisformen e i n e r Wahrheit begriffen werden, wie alte chiliastisdie Motive bei Oetinger abgewandelt und mit neuem Sinngehalt erfüllt werden, so wird nun auch der „Entwurf von der allervollkommensten Regierung" im tausendjährigen Reiche in ganz ähnlicher Weise zwar auf die bekannten alttestamentlidien Prophetenworte, namentlich des Isaías, gegründet - „denn dieser Prophet ist von Gott in die Umstände gesezt worden, dass er am königlichen Hof den Regierungsgeschäften mit Augen zugesehen, damit er vorbereitet sei, die Regierung des Messias . . . desto eigentlicher zu beschreiben" - , zugleich aber mit einer freien „moralischen Reflexion" über die wahre Glückseligkeit eines vollkommenen Staatswesens verknüpft, in die sich wiederum sehr konkrete politische Reformideen einmischen. „Was nun der Hohen dieser Welt, der Könige und Fürsten, Vorbereitung auf diese Zeit betrifft, so ist es wenigstens für sie angenehm, dass man die glückselige Regierung nur ein wenig entwerfe, wann die vier Monarchien, die Assyrische, die Persische, die Griechische und Römische . . . werden zu Ende gelaufen sein, wann der einzige König Messias wird ein Stein sein, der alle Königreiche zermalmen wird . . . Das Land, auf welchem der Sdiauplaz der grossen Dinge der künftigen güldenen Zeit sich eröffnen wird, i s t d a s g e l o b t e L a n d . . . Wir wollen den Respect gegen dem heiligen Wort Gottes . . . auf das genaueste behalten, es folge daraus wider uns, was da wolle . . . Von diesem Lande aus, darin die Israeliten werden Fürsten sein (Ps. 45, 17), wird die ganze Erde mit allen Nationen regiert werden. Folglich werden alle Völker Unterthanen der Israeliten sein . . . Die Sprache wird im gelobten Land nur eine sein, nemlidi die hebräische . . . Diese werden die Nationen audi lernen, damit sie die heilige Schrift, als das Gesezbudi, selbst verstehen . . . Es wird folglich . . . auch nur eine Religion sein . . ,"188

187 Sämmtlidie Schriften, a. a. O. VI, 139/141. Zu Hardenbergs Plan einer „Enzyklopädie" aller Wissenschaften, in welcher die Philosophie „das Relationsschema" vermitteln und die „symmetrische Grundfigur der Wissenschaften" hervorbringen soll (III, 222; II, 81) - ein Postulat, das ebenfalls mit der Verwirklichung des goldenen Zeitalters „im Reiche des Wissens" in Verbindung gebracht (III, 193) und als ein „Experimentieren in Gott" bezeichnet wird (III, 170) - , vgl. unsere Arbeit, S. 349 ff. 188

Sämmtlidie Schriften, a. a. O. VI, 10; 12; 14/16; 22.

Oer pietistische Chiliasmus des 18. Jahrhunderts

241

Wir sehen, von welcher streng-dogmatischen Schriftauslegung die Gesdiichtsprophetie Oetingers bestimmt wird - betrachtet er doch das goldene Zeitalter als eine Erfüllung aller jüdischen Verheißungen vom neuen Zion, als eine Erhöhung des Volkes Israel also, in deren Gefolge dann freilich auch das Glück der ganzen Menschheit heraufgeführt werden wird. Denn in dem tausendjährigen MessiasReich „wird alles werden, wie es von Anbeginn gewesen"; ewiger Frieden wird herrschen, das paradiesische Lebensalter wird wiederkehren, und die Gerechtigkeit der Urzeit wird wie im Paradiese den Menschen als Naturredit ins Herz gesenkt sein: „Endlich wird ein allgemeiner Friede auf dem ganzen Erdboden sein . . . Es wird kein Volk wider das andere mehr ein Schwert aufheben. Ein jeglicher wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen ohne Scheu . . . Sie werden so alt werden als die Cederbäume, und wer im hunderten Jahr stirbt, wird nodi ein Knabe heissen . . . Darum werden sie so lange leben, wie die Altväter vor der Sündfluth, und darum ist es die güldene Zeit . . . Der Altväter . . . Glaubensbekenntnis war kurz, ihre Gedanken von Gott innig, ihre Andacht gründlich, ihre Ceremonien wenig, und alles lief hinaus auf das Wort: idi will mein Gesez in ihr Herz schreiben. Unser Heiland, wenn man ihm recht in das Gesicht sdiaut, will alles nach dem ewigen Wort reformiren. Darum will er die unveränderlidien Geseze der Natur in Schwang bringen, und was an der Creatur zum besten Sinnbild und Emblem dient auf Christum und die Güte Gottes, das wird er audi verordnen ... Und da wird endlich alles Gute im Geschöpf ein Bild der Gerechtigkeit sein ... So werden sich also die jüdischen Geseze ... verwandeln in die ewigen Geseze der Natur .. .""·

In dieser Ausdeutung des alttestamentlichen, aber auch heidnisch-antiken Wunschmotivs von der natürlichen Gerechtigkeit, die in paradiesischer Urzeit wie im kommenden tausendjährigen Reich die Menschen ohne den Zwang der Gesetze leitet, zeichnet sich eine weitere, nicht unbedeutende Abweichung vom frühchristlichen Chiliasmus ab. Die Heraufführung des goldenen Zeitalters liegt zwar ganz in den Händen des Messias, aber sie wird offenbar nicht mehr als ein gewaltsamer, aus dem Jenseits niederfahrender und göttlich-wunderbarer Eingriff in die bestehende Natur- und Weltordnung gedacht, sondern gleichsam als eine göttliche Hilfe, welche die „unveränderlichen Geseze der Natur in Schwang" bringt; das heißt: in der Natur selbst ist verankert und muß sich gegen die Widerstände des Bösen nur frei und wachstümlich entfalten, was zur Vollendungsstufe des tausendjährigen Reiches führen wird. Deshalb hat Gott Christus zum König der Endzeit eingesetzt, „weil er alle Bestimmungen, die er in das Geschöpf gelegt, zum Zweck bringen soll . . . Denn weil das sogenannte Recht der Natur allein durch das Reidi Christi in Schwang kommen wird: so hat er die Natur um Christi willen lieb, weil Christus das Heil und die Erfüllung der Natur zu Stande bringt ..

Hier ist - gegenüber der natur- und geschichtssprengenden Heilserwartung des früheren Chiliasmus - jener E n t w i c k l u n g s g e d a n k e zumindest vorbereitet, der im philosophischen Chiliasmus des ausgehenden 18. Jahrhunderts in säkularisierter Form aufgegriffen wird. In Lessings .Erziehung des Menschengeschlechts' und Kants ,Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht' wird sich kaum « · Sämmtliche Sdiriften, a. a. O. VI, 19/21. »"> Sämmtliche Schriften, a. a. O. VI, 88. 16 Mähl, Die Idee dea goldenen Zeitalters

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Der christliche

Chiliasmus

zwanzig Jahre später, unter Abstreifung aller diristlidi-dogmatisdien Bindungen, dieser Gedanke von einer vollkommenen Entfaltung aller natürlichen Bestimmungen und Anlagen des Menschengeschlechtes in einem kommenden tausendjährigen Reiche wiederfinden - ein Gedanke, der sich dort freilich als eine konsequente Verlagerung der ursprünglich chiliastisdi-ekstatischen Heilserwartung auf ein evolutionäres Geschichtsprinzip erweist: „Man kann die Geschichte der Mensdiengattung im Großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine innerlich- und zu diesem Zwecke auch äußerlich vollkommene Staatsverfassung zu Stande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann . . . Man sieht: die Philosophie könne auch ihren Chiliasmus haben . . . , der . . . nichts weniger als schwärmerisch i s t . . . " m

Diese vollkommene Staatsverfassung, auf welche sich der philosophische Chiliasmus Kants richtet, will im Grunde auch Oetinger entwerfen; sie erscheint ihm allerdings nur unter der Herrschaft Christi möglich, der am Ende den alten Paradieseszustand der Menschheit wiederherstellt und damit „alle Bestimmungen, die er (Gott) in das Geschöpf gelegt, zum Zweck bringen" wird. Darin offenbart sich der Unterschied, aber zugleich die geheime Verbindung zwischen der pietistischen und der späteren philosophisch-idealistischen Geschichtsdeutung, die den eschatologisdien Grundzug der württembergischen Chiliasten aufnimmt. Für Oetinger bedeutet diese vollendete Bestimmung des Menschen, daß allgemeine Freiheit, Gleichheit und Gemeinschaftlichkeit im tausendjährigen Reiche herrschen werden, die ihm als Voraussetzung für die „wahre Glückseligkeit" erscheinen. In seiner darüber vorgetragenen Meditation wird eine ideale Gesellschaftsordnung entworfen, die über die alttestamentlichen Prophetenworte weit hinausführt und die Weltmonarchie Christi in eine eigentümliche, für die damalige Zeit kühne Verbindung zu demokratischen Ideen und Wunschvorstellungen bringt: „Zur wahren Glückseligkeit in einem Reich gehören drei Bedingungen: erstlich, dass die Unterthanen bei aller Mannigfaltigkeit, die zur Ordnung gehört, bei allem Unterschiede des Standes, eine Gleichheit untereinander haben . . . zweitens, dass sie Gemeinschaft der Güter haben, und sich nicht deswegen über Güter ergözen, weil sie ein Eigenthum sind . . . drittens, dass sie nichts von einander als Schuldigkeit fordern . . . Wie nun diese drei Bedingungen der Glückseligkeit in dem Paradiese bestanden wären, hingegen das Gegentheil derselben, nemlich die Gewalt des Einen über den Andern, das Eigenthum und geschlossene Vergleiche, sieh des Andern Arbeit und Dienst zu bedienen, nach dem Fall aufgekommen, so wird in der güldenen Zeit die Gleichheit mit der Gewalt, die Gemeinschaft der Güter mit dem eigenthümlidien Besiz der Güter, und die Freiheit von der Dienstarbeit mit der Obligation und Verbindung zur Arbeit und Sklavendienst also gemässigt sein, dass wenigstens die Gleichheit, Gemeinschaft der Güter, und Freiheit von der Dienstbarkeit . . . in allem den Vorzug haben . . ."1M 1,1 Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784); Kants Werke, a. a. O. III, 631 (Akademie-Ausgabe VIII, 27). 1M Sämmtliche Sdiriften, a. a. Ο. VI, 29/30. Vgl. dazu E. BENZ, Johann Albrecht Bengel und die Philosophie des deutschen Idealismus, a. a. O. S. 551 ff. W ä h r e n d Benz hier die politischen Reformideen Oetingers hervorhebt, die mittelbar (über Hegel) auf das cschatologische Geschichtsbild des Marxismus vorausdeuten und seine ursprünglich diristlich-chiliastische Komponente hervortreten lassen, möchten wir die von Benz übersehene, eigentümliche Verbindung zur Ckristus-MonarAie betonen, die ihrerseits auf Novalis und die Romantiker vorausweist, bei denen eine Synthese zwischen

Der pietistische

Chiliasmus

des 18.

Jahrhunderts

243

Hier ist jener klare Triadenschritt vorgezeidinet, der den Rhythmus der Welt- und Geschichtsperioden unter christlich-esdiatologischem Blickfeld bestimmt. Die Zwangsordnung der Welt, die als Folge des Sündenfalls betrachtet wird, wird in der güldenen Zeit wieder der versöhnenden Liebe weichen; wenn Christus seine Königsherrschaft antritt, „wird das Recht nicht mehr zur gewaltsamen Beherrschung, sondern zur freiwilligen Liebesregierung ... dienen" 1 · 8 . In dieser Staats- und Gesellschaftsutopie gipfelt die endzeitliche Geschichtsbetrachtung Oetingers. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß es sich hier - wie im Chiliasmus überhaupt - nicht eigentlich um ein konkretes, politisches Reformprogramm handelt, dessen Verwirklichung Oetinger von den Fürsten seiner Zeit erwarten könnte. Denn das chiliastische Denken unterscheidet sich grundsätzlich, wie wir gesehen haben, vom utopischen Denken: es entwirft nicht ein ideales Wunschbild der Welt, wie sie sein könnte, im Kontrast zur verdorbenen Wirklichkeit, sondern eine unmittelbar bevorstehende, höhere Wirklichkeit, auf die die gesamte Geschichtsentwicklung notwendig hinstrebt und deren Eintritt in die Zeit unabhängig vom menschlichen Handeln, durch eine transzendente Macht bewirkt oder ausgelöst wird. Die Mittlervorstellung ist entscheidend und bleibt dem Chiliasmus durch alle Abwandlungen seiner wechselvollen Geschichte hindurch bewahrt. Was dem Menschen zugesprochen wird, ist lediglich die V o r b e r e i t u n g auf den idealen Vollendungszustand der Welt. Gerade durch dieses, von Oetinger immer wieder und nachdrücklich betonte Moment der „nöthigen Bereitung" aber kommt auch in den pietistischen Chiliasmus des 18. Jahrhunderts ein aktiver Zug des verantwortlichen Handelns und Mitwirkens, der zwar die gläubige Erwartung der Christus-Wiederkehr nicht aufhebt, wohl aber als zweite, wesentliche Verbindungslinie zum späteren, philosophischen Chiliasmus verstanden werden darf, der dem vernünftigen und moralischen Handeln des Menschen auf dem Wege zur vollendeten Humanität schließlich die gesamte, allenfalls durch einen göttlichen Erziehungsplan gelenkte Erlöserfunktion zuschreiben wird. Schon Oetinger wendet sich mit leidenschaftlichen Mahnworten an die Universitäten und Akademien, an die Fürsten und Regenten der Welt, sich auf das kommende tausendjährige Reich vorzubereiten und ihm die Wege zu ebnen: „Ganze Universitäten und Akademien sollen sich vorbereiten . . . , da die W e l t in so grossen Geburtswehen zu den grössten Revolutionen liegt . . A u d i die Könige und Fürsten sollen „vernünftig reformiren aus den Motiven der Vorbereitung auf die lezte Z e i t . . . So wird ein Regent, der das Reich Christi zum Muster seiner Regierung nimmt, selbst genug Wege finden . . . Er würde durch die reine Freude am Künftigen erhaben werden über die Liebe des Zeitlichen und über den Ehrgeiz; er würde nicht so sehr Geseze machen, als Glauben und Liebe pflanzen helfen, denn da bedarf es keiner Geseze, sondern jeder wird sodann durât die Weisheit selbst thun, was das Beste ist . . . Es ist aber schwerlich zu hoffen, dass die Könige der Erde eine solche Vorbereitung aus dem Muster der lezten güldenen Zeit nehmen werden . . ,"1M

In diesem Appell Oetingers klingt ein weiterer, bedeutsamer Gedanke an, der fast wörtlich in der frühromantischen Vorstellung einer auf „Glauben und Liebe" gedcr Idealmonarchie und einem „editen Republikanismus" zum ausdrücklich reflektierten Problem und Zielbild des goldenen Zeitalters wird (Novalis II, 52; II, 58 ff. u. δ.). "» Sämmtlidie Schriften, a. a. O. VI, 31. 1M Sämmtlidie Schriften, a. a. O. VI, 9; 33/34; 38/39. 16*

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Der AristlicheChiliasmus

gründeten Idealmonarchie bei Novalis wiederkehrt und der, ähnlich wie der Gedanke einer Universalwissensdiaft die „szientifische", bei ihm die „politische" Verwirklichung des kommenden goldenen Zeitalters zu umschreiben bestimmt ist1·®. Es kann kein Zufall sein, daß sidi solche Verbindungslinien vom Pietismus zur Romantik hin aufdecken lassen, denn die Vorstellung vom tausendjährigen Reich war audi ohne daß man eine unmittelbare Beeinflussung anzunehmen genötigt wäre Hardenberg seiner Herkunft und seinem pietistisdhen Elternhaus nach von Jugend auf vertraut, und selbst Friedrich Schlegel erschien „der revoluzionäre Wunsch, das Reich Gottes zu realisiren", als ein Signum der modernen Geschichte und ihrer „progressiven Bildung", die alle frühromantischen Utopien als magisches Stichwort umfaßt 196 . Der einschränkende Zusatz Oetingers, daß eine solche, auf Glauben und Liebe beruhende Idealmonarchie schwerlich von den „Königen der Erde" zu erhoffen sei, offenbart allerdings den ganzen Unterschied zwischen dem pietistischen Chiliasmus und der romantischen Vorstellung vom tausendjährigen Reich. Denn seine Verwirklichung wird trotz aller Hinweise auf die „nöthige Bereitung" doch ausschließlich von der Wiederkunft Christi und seiner messianischen Weltregierung abhängig gemacht; die innere und äußere Verwandlung der Welt kann weder durch menschliche Reformpläne noch durdi eine „heilige Revolution, die ein Messias im Pluralis, auf Erden erschienen" wäre 1 · 7 , herbeigeführt werden: sie bleibt das Werk des einen, leibhaft gedachten Heilands Jesus Christus, und „Menschenhände thun nichts dabei". Echt pietistisch bezeichnet daher auch Oetinger schließlich die Betrachtung Jesu, seines Handelns und Denkens, als den einzigen Weg, in dieser elenden Zeit nicht zu verzweifeln, sondern so freudig und vergnügt zu sein, „als w e n n du schon in der güldenen Zeit mit deinen Kindern, unter deinem Weinstode und Feigenbaum sässest"1®8. Ähnlich ist es auch außerhalb des schwäbischen Pietismus, etwa bei Johann Caspar Lavater, dessen Frühwerk ,Aussichten in die Ewigkeit' von 1768-72 ebenfalls den „sehr poetischen Vorstellungen" nachgeht, welche die Erwartung eines tausendjährigen Reiches auf Erden in ihm wachruft. Audi hier wird die Meditation über den kommenden Vollendungszustand der Menschheit ausdrücklich von der leibhaften Wiederkehr Christi, des künftigen „Universalmonarchen'', abhängig gemacht. Aber an der Gewißheit eines irdischen Idealreiches, dem gegenüber „das gegenwärtige Leben . . . ein Stand der Erziehung und Vorbereitung" ist, hält auch Lavater fest: 1.5 Ganz ähnlich heifit es daher audi bei Novalis von dieser Idealmonarchie: „Zerstäubt wird dann der papierne Kitt sein, der jetzt die Menschen zusammenkleistert, und der Geist wird . . . alle MensAen wie ein paar Liebende zusammenschmelzen" (II, 50). Zur Interpretation der Fragmentsammlung .Glauben und Liebe' vgl. unsere Arbeit, S. 380 ff. 1.6 Athenäums-Fragment Nr. 222. Prosaische Jugendschriften, hg. von J . Minor, a. a. O. II, 239. 197 Nach einer Randbemerkung Hardenbergs zu Friedrich Schlegels .Ideen': „Du bist . . . einer der Erstlinge des neuen Zeitalters . . . ein unsichtbares Glied der heiligen Revolution, die ein Messias im Pluralis, auf Erden erschienen ist . . ( I I I , 364). Zu dieser spiritualistisAen Auffassung der Christus-Wiederkehr („Andeutungen . . . verraten dem historischen Auge . . . eine neue Geschichte, eine neue Menschheit . . . und das innige Empfängnis eines neuen Messias in ihren tausend Gliedern zugleich . . .", II, 79) vgl. unsere Arbeit, S. 379 ff. 198 Sämmtlidie Schriften, a. a. O. VI, 112. - Das ist gegen E. BENZ einzuwenden, wenn er unter Verkennung dieses pietistischen Grundzuges hervorhebt: „Aus der Endzeiterwartung Bengels erwächst also bereits bei Oetinger ein ganz konkretes ethisches, soziales, politisches und pädagogisches Reformprogramm, dessen VerwirkliAung er von den Fürsten seiner Zeit erwartet" (a. a. O. S. 550).

Der philosophische

Chiliasmus:

Lessing und die

Romantiker

245

„Gewiß ist, daß die Propheten des alten Bundes einstimmig ein Reidi des Meßias verkündigt haben. Gewiß ist, daß sie diese Idee von einem zuerwartenden Reiche des großen Sohnes Davids so bestimmt und deutlich vorgetragen haben, daß, wenn man nidit vorher dawider eingenommen, und auf andre Gedanken gebradit worden, alle einzelne Ausdrüdce sowol, als die ganzen Bilder und Vorstellungsarten von diesem Reiche eine i r d i s c h e M o n a r c h i e bezeichnen. Das ist eine Monarchie, die auf Erden festgesetzt werden soll. Freylich die erhabenste moralische, zur vernünftigsten Glückseligkeit aller Erdebewohner unmittelbar abzweckende, durdi den Meßias, und seine Heiligen zuverwaltende Regierung . . ."1M.

Wir erkennen damit erneut, wie fest der Gedanke einer irdischen Idealmonarchie im Pietismus des 18. Jahrhunderts verankert war, und werden daher seiner Wiederkehr im Werk des Novalis besondere Aufmerksamkeit schenken müssen. Die Lektüre der Schriften Lavaters ist wiederholt bezeugt, vor allem für das entscheidende Jahr 1797, als der junge Hardenberg nach dem Tode Sophiens das in ihm schlummernde pietistische Erbe erwachen fühlte und schon vorher dem Gedanken des tausendjährigen Reiches in seinen philosophischen Studienheften eine neue, gegenüber seinen Fichte-Studien weiterführende Bedeutung zugeschrieben hatte200. Aber darüber hinaus bezeichnen die chiliastischen Ideen Lavaters, die im Gegensatz zu Oetinger sehr viel freier und undogmatischer vorgetragen werden und namentlich in der philosophischen Spekulation über „die Vervollkommlichkeit unsrer Sinne" und unseres „moralischen Instincts" auf Hemsterhuis und die Romantiker vorausdeuten201, überhaupt einen der nächsten Berührungspunkte zwischen dem Pietismus und der deutschen Bewegung202. Die entscheidende Mittlerstellung nimmt allerdings Lessing ein, dessen Hinweis auf die chiliastischen Ideen „gewisser Schwärmer des dreyzehnten und vierzehnten Jahrhunderts" sich mit der prophetischen Verkündigung einer kommenden Vollendungszeit der Menschheit verband, die wie kein anderer Gedanke Lessings auf die Frühromantiker eingewirkt hat und von ihnen enthusiastisch begrüßt wurde.

5. Der philosophische Chiliasmus: Lessing und die Romantiker Was Lessings .Erziehung des Menschengeschlechts' aus dem Jahre 1780 mit dem pietistischen Chiliasmus der vorhergehenden Zeit verbindet, ist vor allem der Gedanke einer „göttlichen Oekonomie" oder „geschichtlichen Haushaltung Gottes", der bereits bei Bengel aus dem Studium der Heiligen Schrift erschlossen worden war und die Weltgeschichte als eine stufenweise fortschreitende Verwirklichung des gött1H

Aussichten in die Ewigkeit, a. a. Ο. I, 44 u. II, XLIX (Vorrede). Vgl. Kreisamtmann Just in seiner Novalis-Biographie: „Seine Schwärmerei fand reichen Stoff am Lesen der Lavaterschen Schriften, die er eben damals (sc. 1797) fast ausschließlich liebte . . (IV, 430; vgl. IV, 434; 455). Dazu unsere Arbeit, S. 295 ff. u. 382 ff. 101 Aussichten in die Ewigkeit, a. a. Ο. II, 32 ff.; I, 45 ff. Die Übereinstimmung mit Hemsterhuis, auf die wir noch näher eingehen (vgl. S. 270 ff.), erklärt sich wahrscheinlich aus der gemeinsamen Anregung durch Swedenborg; vgl. E. BENZ, Swedenborg und Lavater, in: ZfKG 57, 1938, S. 153ff.; Swedenborg in Deutschland. F. C. Oetingers und Immanuel Kants Auseinandersetzung mit der Person und Lehre Emanuel Swedenborgs. Frankfurt a. M. 1947. tai Vgl. Ch. J A N E N T Z K Y , J . C. Lavaters Sturm und Drang im Zusammenhang seines religiösen Bewußtseins. Halle a. S. 1916, S. 13 ff. 100

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Der diristUAe Chiliasmus

lidien Heilsplanes erscheinen ließ. Diese Deutung der Geschichte in einem „herrlich zusammenhängenden System" knüpfte zugleich an den Entwicklungsprozeß der Offenbarung an, wie er in den allmählich wachsenden, göttlichen Eingebungen der Propheten und der Apostel zum Ausdrude kommt und - entgegen der Auffassung der orthodoxen Dogmatik - audi nach Abschluß der Kanonbildung des Neuen Testamentes weitergeht: zwar nicht im Sinne einer Ergänzung der Bibel, wohl aber einer fortschreitenden Aufhellung ihres inneren Sinns. In diesem Glauben an eine progressive Entwicklung der göttlichen Offenbarung - die bereits bei Bengel symbolisch auf die menschlichen Lebensalter bezogen wird 203 - liegt zweifellos eine der Wurzeln für jenen Entwicklungsgedanken, den Lessing in seinem philosophischtheologischen Spätwerk der Menschheitsgeschichte zugrundelegt. Wenn er auch nicht ausdrücklich auf Bengel und die ihm folgenden Pietisten hinweist, deren Schriften ihm aus seinen theologischen Studien vertraut gewesen sein müssen 204 , sondern nur von den Schwärmern des 13. und 14. Jahrhunderts spricht, deren Lehre von einem „neuen ewigen Evangelium" und einem „drey fachen Alter der Welt keine so leere Grille" gewesen sei206, so ist er sich über diese Anknüpfung an den mittelalterlichen Chiliasmus hinaus doch zugleich seines Zusammenhanges mit der pietistischen Geschichtstheologie des 18. Jahrhunderts bewußt: „Es blieb audi bey ihnen immer die nehmlidie Oekonomie des nehmlidien Gottes", heißt es in wörtlidiem Anklang an Bengel und Oetinger. „Immer - sie meine Sprache sprechen zu lassen - der nehmlidie Plan der allgemeinen Erziehung des MensdiengesAledtts .. ."*». Denn auch für Lessing bilden die Stufen der christlichen Offenbarung einen sinnvollen, durch einen göttlichen Erziehungsplan geleiteten Geschichtszusammenhang, der sich in einem dritten Zeitalter der vollendeten moralischen Bestimmung des Menschengeschlechtes erfüllen wird. Gegenüber der diiliastischen Vorstellungsform 203 Vgl. die Quellennachweise bei J . Ch. F. Burk, D. Johann Albrecht Bengel's Leben und W i r ken, a. a. 0 . S. 242 f. 204 Die Rezensionen Lessings legen von dieser Vertrautheit Zeugnis ab; 1751 bespricht er z. B. in der Berlinischen Privilegirten Zeitung G. H. Kanz' „Kurtzen Begrif des biblisch-chronologischen Systems von 6000 Jahren, nemlich von Erschaffung der W e l t bis ins J a h r Jesu Christi (1860) 1862, als an dem Anfange des tausendjährigen Sabbaths in einem tausendjährigen Reiche", wobei er trotz aller Skepsis gegenüber dem Chiliasmus die Pietisten gegen das orthodoxe Luthertum verteidigt (Sämtliche Schriften, hg. von K. Lachmann. 3. Aufl., besorgt durch F. Muncker. Bd. IV, Stuttgart 1889, S. 308 f.). Vgl. ferner die Besprechungen von Werken Bengels, Crusius' u. a. (Sämtliche Schriften, Bd. V, Stuttgart 1890, S. 190; 376 usw.). 205 Die Erziehung des Menschengeschlechts, §§ 87/88; Sämtliche Schriften, Bd. X I I I , Leipzig 1897, S. 433/434. 208 § 88; a. a. Ο. X I I I , 434. - Die Zusammenhänge zwischen der pietistischen „Föderaltheologie" und der Entwicklungslehre Lessings sind vor allem von F. GERLICH, Der Kommunismus als Lehre vom Tausendjährigen Reich. München 1920, S. 142 ff. (,Zur Geschichte des philosophischen Chiliasmus in Deutschland'), gründlich untersucht und betont worden; ihm schließt sich K. MANNHEIM, Ideologie und Utopie, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1952, S. 194 an, wenn er dem Entwiddungsgedanken Lessings ebenfalls „einen säkularisiert pietistischen Charakter" zuspricht und ihn als „ein Abebben des chiliastischen Elements" auffafit, als „einen Prozeß, in dem . . . das chiliastische Zeiterlebnis unversehens in das evolutionäre übergeht". Eben dieser Übergang ist bei Bengel und Oetinger vorbereitet. Zur kritischen Beurteilung des Werkes von Gerlich, das in propagandistischer Absicht geschrieben und in mancher Hinsicht simplifizierend und flüchtig wirkt, obwohl es den oben angedeuteten Zusammenhang richtig gesehen und dargestellt hat, vgl. schon A. DOREN, Wunschräume und Wunschzeiten, a. a. O. S. 198/200.

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des tausendjährigen Reiches tritt hier also die Verwirklichung einer moralischen Weltordnung als Endziel der Geschichte ein, die aber dem gleichen triadischen Rhythmus der W e l t - und Offenbarungsepochen folgt, der auch die Heilserwartungen Joachims von Fiore und seiner spiritualistischen Anhänger bestimmt hatte. W ä h r e n d im Elementarbuch des alten Bundes, das dem Kindheitsstadium der Menschheit angemessen war, das Gesetz und die Furcht vor Strafe alle moralischen Handlungen lenkten, während im neuen Bund, dem Jünglingsalter der Menschheit entsprechend, durch Christus als den „Lehrer der Unsterblichkeit" die Hoffnung auf ein künftiges Leben als edlerer Beweggrund zum Guten wirken konnte, wird sidi in dem kommenden Zeitalter einer mündig gewordenen Menschheit, dem als Offenbarungsstufe ein neues, ewiges Evangelium entsprechen wird, das Gute um seiner selbst willen, ohne äußere Lockungen, durchsetzen - denn dieses Zeitalter der „völligen Aufklärung" wird „diejenige Reinigkeit des Herzens hervorbringen . . . , die uns, die Tugend um ihrer selbst willen zu lieben, fähig macht" 207 . Es handelt sich um jenen Zustand einer vollendeten Humanität, den auch Oetinger im tausendjährigen Reiche Christi verwirklicht sah, wo es keiner Gesetze mehr bedarf, „sondern jeder . . . sodann durch die Weisheit selbst thun (wird), was das Beste ist". In ihm erfüllt sich nach Lessing der göttliche Erziehungsplan, der durch die fortschreitende Offenbarung dem heranreifenden Menschengeschlecht Erkenntnisse und sittliche Forderungen vermitteln wollte, die der Vernunft aus eigener Kraft noch nicht zugänglich gewesen wären: „Sie waren gleichsam das Facit, welches der Rechenmeister seinen Schülern voraus sagt, damit sie sich im Rechnen einigermaassen darnach richten können" 2 0 8 . Dieser Gedanke von der Vorläufigkeit der biblischen Offenbarung und die prophetische Gewißheit einer verheißenen Zukunft, in welcher das neue, ewige Evangelium an ihre Stelle treten und das dritte Zeitalter der vollkommenen Menschheit einleiten wird, verbindet Lessing mit den diiliastisdien .Schwärmern', die er gegen das orthodoxe Christentum verteidigt; ihr Irrtum bestand nur darin, d a ß sie den Anbrudi des dritten Reiches in so naher Zukunft verkündigten, „daß sie ihre Zeitgenossen, die nodi kaum der Kindheit entwadisen waren, ohne Aufklärung, ohne Vorbereitung, mit Eins zu Männern machen zu können glaubten, die ihres dritten Zeitalters würdig wären. Und eben das machte sie zu Schwärmern. Der Schwärmer thut oft sehr richtige Blicke in die Zukunft: aber er kann diese Zukunft nur nicht erwarten. Er wünscht diese Zukunft beschleuniget; und wünscht, daß sie durch ihn beschleuniget werde . . ."20β.

Lessing aber weiß, d a ß in dem Augenblicke eines einzelnen menschlichen Daseins nicht reifen kann, „wozu sich die N a t u r Jahrtausende Zeit nimmt". Eben dieser Gedanke, durch welchen das Idealreich in eine unendliche Ferne verlegt und seine Verwirklichung dem „unmerklichen Schritt" der „ewigen Vorsehung" anvertraut wird, bezeichnet aber zugleich die entscheidende U m f o r m u n g der ekstatischen Glaubenserwartung aller Chiliasten in eine immanente Fortschritts- und Entwicklungsidee: es ist die N a t u r selbst, eine Triebkraft, die in den Menschen gelegt ist und 207

§ 80; a. a. Ο. X I I I , 432/38. » » § 76; a. a. Ο. X I I I , 432. 2M §§ 89/90; a. a. Ο. X I I I , 434.

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Der christliche

Chiliasmus

in der Geschichte des Menschengesdiledites wirkt, zunächst durdi die Offenbarung geleitet, dann durch die Vernunft begreiflich und einsichtig gemacht - die den Fortschritt zur moralischen Vollkommenheit bestimmt und dereinst auch das tausendjährige Reich hervorbringen wird. Unabhängig vom Eingreifen transzendenter Mächte, unabhängig auch von der Berufung auf apokalyptische Belegstellen, auf Bibelsprüche, Weissagungen, Zahlenmystik, ruft sie die prophetische Gewißheit einer kommenden, wenn audi noch so fernen Vollendungszeit wach : „Nein; sie wird kommen, sie wird gewiß kommen, die Zeit der Vollendung, da der Mensch, je überzeugter sein Verstand einer immer bessern Zukunft sich fühlet, von dieser Zukunft gleidiwohl Bewegungsgründe zu seinen Handlungen zu erborgen, nicht nöthig haben wird; da er das Gute thun wird, weil es das Gute ist, nicht weil willkührliche Belohnungen darauf gesetzt sind, die seinen flatterhaften Blick ehedem blos heften und stärken sollten, die innern bessern Belohnungen desselben zu erkennen. Sie wird gewiß kommen, die Zeit eines neuen ewigen Evangeliums, die uns selbst in den Elementarbüdiern des Neuen Bundes versprochen wird . . ,"210.

Es ist dieses Wort Lessings, das - eben weil es die diiliastisdie Vorstellungsform des kommenden Zeitalters aus allen dogmatischen Bindungen befreit und zur ethischreligiösen Bildungsforderung erhoben hat - von den Romantikern begeistert aufgenommen worden ist; ihm gilt Friedrich Schlegels leidenschaftlicher Ausspruch in seinem Lessing-Aufsatz, wenn er schreibt : „ D a s ist es, das madit ihn mir so werth; und wenn er nichts bedeutendes gesagt hätte, als dies eine Wort, so müsste ich ihn schon darum ehren und lieben. Und grade e r musste es sagen, er, der ganz im klaren Verstände lebte, der fast ohne Fantasie war, ausser im Witz, er musste es sagen, mitten aus der didit umgebenden Gemeinheit heraus, wie eine Stimme in der Wüste . . ."211.

Mag Schlegel hier die Vertreter der protestantischen Orthodoxie oder der Aufklärung treffen wollen - jene „Anachoreten in den Wüsten des Verstandes", deren Glaube nach Novalis „aus lauter Wissen zusammengeklebt war" und „folgerecht... alle Gegenstände des Enthusiasmus . . . verketzerte" 212 : der gleiche beschwörendverheißende Ton, von dem Lessings Verkündigung des dritten Zeitalters getragen wird, kehrt jedenfalls in der deutschen Geschichtsphilosophie des ausgehenden 18. Jahrhunderts ständig wieder und wirkt in der Tat wie ein stärkerer oder schwächerer Widerhall dieser prophetischen „Stimme in der Wüste". Er klingt in den pathetischen Worten an, mit denen Fichte 1794 seine zweite Vorlesung über die Bestimmung des Gelehrten schließt: „O, so gewiß wir den gemeinschaftlichen Ruf haben, gut zu sein und immer besser zu werden - so gewiß - und daure es Millionen und Billionen Jahre - was ist die Zeit? so gewiß wird einst eine Zeit kommen, da idi auch dich in meinen Wirkungskreis mit fortreißen werde, da ich audi dir werde wohltun, und von dir Wohltaten empfangen

§§ 85/86; a. a. Ο. XIII, 433. Ueber Lessing (nach den Zusätzen der Ausgabe .Charakteristiken und Kritiken' von 1801); Prosaische Jugendschriften, hg. von J. Minor, a. a. O. II, 416. Vgl. audi das dort abgedruckte Sonett Schlegels: „Wenn kalte Zweifler selbst prophetisch sprechen, / . . . / Dann wahrlich muss die neue Zeit anbrechen . . . " (a. a. O. II, 415). Die Christenheit oder Europa (II, 80 u. 75). !U

Der philosophische Chiliasmus: Lessing und die

Romantiker

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können, da audi an dein Herz das meinige durch das schönste Band des gegenseitigen freien Gebens und Nehmens geknüpft sein wird . . ." a s .

Er findet sich aber audi bei Hölderlin und bei Novalis, obwohl aus einem ganz anderen Gegenwartsgefühl heraus geboren als dem aufklärerisch-optimistischen Lessings, wenn es im ersten Band des .Hyperion' von 1797 und am Sdiluß des Aufsatzes ,Die Christenheit oder Europa' von 1799 in überraschender Übereinstimmung heißt: „ 0 Regen vom Himmel! o Begeisterung! Du wirst den Frühling der Völker uns wiederbringen. Dich kann der Staat nicht hergebieten. Aber er störe dich nicht, so wirst du kommen, kommen wirst du, mit deinen allmächtigen Wonnen, in goldne Wolken wirst du uns hüllen und empor uns tragen über die Sterblichkeit ... fragst du midi, wann diß seyn wird? Dann, wann die Lieblingin der Zeit, die jüngste, schönste Tochter der Zeit, die neue Kirche, hervorgehn wird aus diesen beflekten veralteten Formen, wann das erwachte Gefühl des Göttlichen dem Menschen seine Gottheit, und seiner Brust die schöne Jugend wiederbringen wird, wann - ich kann sie nicht verkünden, denn idi ahne sie kaum, aber sie kömmt gewiß, gewiß ..." „Wann und wann eher? danach ist nicht zu fragen. Nur Geduld, sie wird, sie muß kommen, die heilige Zeit des ewigen Friedens, wo das neue Jerusalem die Hauptstadt der Welt sein wird; und bis dahin seid heiter und mutig in den Gefahren der Zeit, Genossen meines Glaubens, verkündigt mit Wort und Tat das göttliche Evangelium, und bleibt dem wahrhaften, unendlichen Glauben treu bis in den Tod."214

Die prophetische Gewißheit, die diese Stimmen vereint, erweist sich mittelbar als Erbe der chiliastisdien Heilserwartungen, von denen der Gedanke des Idealreichs ausgegangen war. Was sie unterscheidet, ist neben den inhaltlichen Differenzierungen (die hier unberücksichtigt bleiben können) vor allem die zeitliche Perspektive, die bei Lessing wie bei Fichte in eine unendliche Ferne der Zukunft führt, während sie bei Hölderlin und Novalis eher von dem ekstatischen Glauben an den nahen Anbrach des tausendjährigen Reiches getragen zu sein scheint. In der Tat hält die idealistische Geschichtsphilosophie - deren Zusammenhang zum Chiliasmus von Kant erkannt und in seiner symbolischen Ausdeutung der Apokalypse ausführlich begründet worden ist215 - an der „Theorie der Perfektibilität", d.h. einer „nothwendigen unendlichen Vervollkommnung der Menschheit" fest219 und betrachtet das Zukunftsziel der Geschichte als einen ethischen Imperativ oder, erkenntnistheoretisch gesprochen, als eine regulative I d e e , die das menschliche Denken und Handeln bestimmen und leiten soll, ohne daß die empirische Vollendung in absehbarer Zeit erhofft werden

«> Fichte» Werke, a. a. O. I, 239. 214 Hölderlin, Sämtliche Werke, Bd. III, a. a. 0 . S. 32; Novalis II, 84. - Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang audi Novalis' Plan, einen „zweiten Teil zur Erziehung des Menschengeschlechts" zu schreiben, der in den Sommer des Jahres 1800 fällt (III, 335; III, 341). 218 21

Vgl. unsere Arbeit, S. 185.

* So Friedrich Schlegel in seinem .Studium der Griechischen Poesie', wo er sich diesem idealistischen Leitprinzip unter ästhetischem Blickpunkt anschließt: „Der lenkende Verstand mag sich, so lange er unerfahren ist, noch so oft selbst schaden: es muss eine Zeit kommen, wo er alle seine Fehler reichlich ersetzen wird. Die blinde Uebermacht muss endlich dem verständigen Gegner unterliegen. Nichts ist überhaupt so einleuchtend als die Theorie der Perfektibilität. Der reine Satz der Vernunft von der nothwendigen unendlichen Vervollkommnung der Menschheit ist ohne alle Schwierigkeit . . (Minor, a. a. O. I, 116/17).

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Der Aristlidie Chiliasmus

könnte. Wenn daher Kant die „Gründung eines Reichs Gottes auf Erden" als idealen Richtpunkt einer allgemeinen Menschheitsgeschichte bezeichnet, so ist ihm die „unsichtbare Kirdie", die diesem kommenden Idealreich den Weg bereiten soll, nicht mehr als „eine bloße Idee von der Vereinigung aller Rechtschaffenen unter der göttlichen unmittelbaren, aber moralischen Weltregierung, wie sie jeder von Menschen zu stiftenden zum Urbilde dient" 217 . „Obgleich die wirkliche Errichtung desselben noch in u n e n d l i c h e r Weite von uns entfernt liegt", enthält aber „dieses Princip den Grund einer continuirlichen A n n ä h e r u n g zu dieser Vollkommenheit" 218 , und der unaufhörliche Fortschritt in einer dadurch gewährleisteten Richtung muß als die eigentliche Bestimmung der Menschengattung angesehen werden. Darüber hinaus wird zwar von jeder Beziehung auf eine transzendente Heilsmacht oder auf die Person Christi abgesehen und die fortschreitende Annäherung an das „moralisdie Reich Gottes auf Erden" durch die menschliche Vervollkommnungsfähigkeit motiviert; aber auch Kant bleibt sich bewußt, daß die Verwirklichung des Ideals niemals durch das menschliche Handeln allein erfolgen kann: vielmehr muß der Mensch „so verfahren, als ob alles auf ihn ankomme, und nur unter dieser Bedingung darf er hoffen, daß höhere Weisheit seiner wohlgemeinten Bemühung die Vollendung werde angedeihen lassen"2l*. Auch darin liegt ein Rest der chiliastischen Glaubenserwartung, wenn auch nicht übersehen werden darf, daß die eigentliche Forderung an den Menschen gerichtet und der Sinn des philosophischen Ideals in einer dadurch ausgelösten, nie ermüdenden sittlichen Anstrengung des Menschen gesehen wird. Dagegen zeidinet sich in der frühromantischen Generation ein Umschwung ab, der im folgenden Hauptteil näher zu beleuchten sein wird. Während Fichte - ähnlich wie Kant - weiß, „daß Ideale in der wirklichen Welt sich nicht darstellen lassen . . . Wir behaupten nur, daß nach ihnen die Wirklichkeit beurteilt, und von denen, die dazu Kraft in sich fühlen, modifiziert werden müsse"220, schreibt Novalis im gleichen Jahr 1794 an Friedrich Schlegel: „Heutzutage muß man mit dem Titel Traum doch nicht zu verschwenderisch sein - Es realisieren sich Dinge, die vor zehn Jahren nodi ins philosophische Narrenhaus verwiesen wurden. Magnis tarnen excidit ausis . . ."221. Neben die theoretische Begründung der frühromantischen Ideale vom kommenden tausendjährigen Reich durch ihre Wirksamkeit als „Approximationsprinzipe" 222 tritt damit der Glaube an ihre mögliche Verwirklichung in naher Zukunft; ein Glaube, der durch eine „enthusiastische Rhetorik" auf alle Menschen übertragen werden und ihnen verbieten soll, „diess Ideal für chimärisch zu halten" 223 . Eben diese Verbindung des eigenen Glaubens mit dem dichterischen Willen, durch die „rhetorische Gewalt des Behauptens" auf andere Menschen einzuwirken und ihre

217 Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793); Kants Werke, a. a. 0 . III, 109 (Akademie-Ausgabe VI, 101). 218 Werke, a. a. O. III, 131 (Akad.-Ausgabe VI, 122). » · Werke, a. a. 0 . III, 109 (Akad.-Ausgabe VI, 101). 220 Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten. Vorberidit. (Werke, a. a. Ο. I, 220). 221 Brief vom 1. August 1794 (IV, 70). 222 Novalis III, 106 (Nr. 28Í). Dazu unsere Arbeit, S. 341 ff. 22 ' Friedrich Schlegel im Athenäums-Fragment Nr. 137; Minor, a. a. O. II, 224.

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Glaubenskraft zu entzünden - ein sprachliches Problem, dem vor allem Novalis nachgeht 224 - , bezeichnet aber audi den Punkt, an welchem die Naherwartung der Frühromantiker doppeldeutig wird und sich der starren geschiditsphilosophischen Interpretation entzieht, weil ihr beschwörender Ausdrude immer zugleich einem bestimmten S t i l w i l l e n unterliegt, der berücksichtigt werden muß. In diesem Sinne ist etwa Friedrich Schlegels enthusiastischer Appell an die „divinatorische Kraft" des Menschen zu verstehen, der die Verwirklichung des kommenden goldenen Zeitalters „eben jetzt" beginnen läßt: „Und so lasst uns denn, beym Licht und Leben! nicht länger zögern, sondern jeder nach seinem Sinn die grosse Entwickelung beschleunigen, zu der wir berufen sind. Seyd der Grösse des Zeitalters würdig, und der Nebel wird von Euren Augen sinken; es wird helle vor Euch werden. Alles Denken ist ein Diviniren, aber der Mensdi fängt erst eben an, sich seiner divinatorisdien Kraft bewusst zu werden. Welche unermessliche Erweiterungen wird sie noch erfahren; und eben jetzt. Mich däucht wer das Zeitalter, das heisst jenen grossen Process allgemeiner Verjüngung, jene Principien der ewigen Revoluzion verstünde, dem müsste es gelingen können, die Pole der Menschheit zu ergreifen und das Thun der ersten Menschen, wie den Charakter der goldnen Zeit die noch kommen wird, zu erkennen und zu wissen. Dann würde das Geschwätz aufhören, und der Mensch inne werden, was er ist, und würde die Erde verstehn und die Sonne .. ,"2*5. Mit diesem philosophischen Chiliasmus, der seinen Ursprung im christlidi-pietistischen Glauben nicht leugnen kann und will, der aber das tausendjährige Reich nicht von außen her über den Menschen hereinbrechen läßt, sondern die Menschheit ihm in einem Jahrtausende dauernden Geschichtsprozeß entgegenwachsen sieht, vollendet sich die Metamorphose der chiliastischen Bewegung seit den Tagen der U r christenheit, die wir in einigen knappen Umrissen nachgezeichnet haben. Sie zeigt zugleidi, daß die Idee des tausendjährigen Reiches mit der antiken Überlieferung vom goldenen Zeitalter zeitweise - wie im 18. Jahrhundert noch einmal durch Oetinger ausdrücklich erwiesen wurde - zusammenlaufen kann, daß sie aber eine der Antike zunächst fremde, recht eigentlich im jüdisch-christlichen Glauben begründete prophetische Gewißheit von der Wiederkehr des goldenen Zeitalters allererst in die utopischen Ideen der abendländischen Geistesgeschichte hineingetragen und diese auch in ihren säkularisierten Vorstellungsformen bewahrt hat.

W i r stehen damit am Ende unserer ideengesdiichtlidien Untersuchung, die uns an das W e r k des Novalis heranführen sollte. Es ist von besonderem Reiz zu beobachten, wie alle hier angedeuteten Ideen und utopischen Überlieferungslinien für den Romantiker miteinander verschmelzen, wie die antike Idee des goldenen Zeitalters sidi mit der christlichen Vorstellungsform des tausendjährigen Reiches, wie die Bilder arkadischer Naturverbundenheit sich mit den Gedanken der mittelalterlichen Kaiserprophetie verbinden können, ohne im Grunde der historischen Einfluß224 Novalis III, 87 (Nr. 156). Vgl. unsere ausführliche Behandlung dieses Stilproblems, das von entscheidender Bedeutung für eine sachgerechte Interpretation der frühromantischen Utopie ist, S. 337 ff. u. 384 f. Gespräch über die Poesie (1800); Minor, a. a. O. II, 363.

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Der AristliAe

Chiliasmus

Sphäre mehr zu verdanken als wechselnde, oft austauschbare Bilder und Symbole, die von dem großen, Mensch, Natur und Gott umgreifenden Weltreich des poetischen Geistes künden - der erahnten und ersehnten Heimat, die der Dichter in seinem Innern gefunden hatte und im wirklichkeitsverwandelnden Wort nadi Außen treten lassen wollte. Aus einer ursprünglichen, mystischen Einheitsschau heraus, die Novalis eigen war und die ihm am Grabe seiner Braut den „Beruf zur apostolischen Würde" schenkte (IV, 188), hat der Grundgedanke seines Lebens alle Synthese- und Friedenshoffnungen der Geschichte in sich aufgenommen, alle Wunschbilder der Vergangenheit als Ausdrucksformen seines eigenen Wesens ergriffen und sich assimiliert - gleichsam eine dichterische Erfüllung uralter Mensdiheitsträume und bewegender Ideen der abendländischen Geistesgeschichte. Der Vorbereitung und Einstimmung auf diesen assoziativen Vielklang und Bedeutungsreichtum seines Werkes sollte unsere Darstellung dienen; wir werden im Verlaufe der folgenden Werkanalysen noch mehrfach darauf zurückkommen müssen. Jedes analytische Verfahren aber zerstört, indem es erhellt; wir sind uns mit Novalis bewußt, daß „das Auflösen einer Wahrheit in einzelne Teile . . . allemal ihrem Geist und ihrer Kraft" schadet, da nur „ihr Ganzes im Zusammenhange wirkt" (IV, 53). Suchen wir daher, rück- und vorblickend zugleich, diese M i t t e im dichterischen Gesamtwerk Hardenbergs zu umschreiben, diese bindende Kraft, die alle Gedanken und Leitbilder seines ruhelosen, auf allen Gebieten des Denkens und Wirkens heimischen Geistes zusammenfaßt und in sich zentriert, so werden wir auf ein naheliegendes dichterisches Symbol verwiesen, das seinem Werk selbst entstammt und in den .Lehrlingen zu Sais' an bedeutungsvollem Orte geschildert wird. Es handelt sidi um jene merkwürdige Figur, die aus vielen, von verschiedenen Seiten sich strahlenförmig einem geheimen Mittelpunkt nähernden Steinreihen gebildet und von den Lehrlingen jener „großen Chiffernschrift" zugerechnet wird, deren Entschlüsselung das Geheimnis des inneren Zusammenhanges der Welt offenbaren soll. Der Schlußstein, den der Lehrer aus der Hand eines Kindes entgegennimmt, um ihn „mit nassen Augen . . . auf einen leeren Platz" niederzulegen, „gerade wo wie Strahlen viele Reihen sich berührten" (I, 13), vollendet die Figur und läßt ihre verborgene Symmetrie plötzlich ins Bewußtsein des Betrachters treten. Es ist, als wenn Novalis mit diesem Bilde das innere Strukturgesetz seines Werkes habe umschreiben wollen. Denn dieser Schlußstein stellt sidi uns als die e i n e , alle Intentionen des Dichters, Naturforschers, Priesters und Philosophen in sich aufnehmende und vereinigende Idee des goldenen Zeitalters dar.

ZWEITER TEIL

DIE IDEE DES G O L D E N E N ZEITALTERS IM WERK DES NOVALIS

Es gibt kein Vergangnes, das man zurücksehnen dürfte, es gibt nur ein ewig Neues, das sich aus den erweiterten Elementen des Vergangenen gestaltet, und die edite Sehnsucht muß stets produktiv sein, ein neues Beßres erschaffen. Goethe am 4. November 1823 zum Kanzler F. v. Müller

I. Kapitel

Die Frühzeit Hardenbergs und die Auseinandersetzung mit Hemsterhuis und Fichte

1. Die frühen Gedidite und E n t w ü r f e 1788-1792 Schon aus der Leipziger Studienzeit berichtet Friedrich Schlegel in einem Briefe vom Januar 1792 an seinen Bruder, daß Novalis, damals neunzehnjährig, wie Schlegel selbst von der Welt- und Lebensstimmung der Aufklärung und des Rokoko erfüllt, ihm seine Lieblingsidee eines wiederkehrenden goldenen Zeitalters vorgetragen habe - das „Losungswort", wie Julius Petersen schreibt, „an dem zwei gleichgestimmte Seelen sich erkennen", das zum erregenden Kristallisationspunkt der neuen, progressiven Weltanschauung der Frühromantik wird 1 . In dem Briefe Schlegels spiegelt sich der Eindruck, den der neugewonnene Gefährte bei aller Wesensverschiedenheit auf ihn ausübte: die Heiterkeit seines Geistes, die lebhafte Fassungskraft und Empfänglichkeit, das Feuer seiner Uberzeugungen, eine gewisse Keuschheit der Empfindung, „die ihren Grund in der Seele hat, nicht in Unerfahrenheit". „Das Studium der Philosophie hat ihm üppige Leichtigkeit gegeben, sdiöne philosophische Gedanken zu bilden - er geht nicht auf das Wahre, sondern auf das Sdiöne seine Lieblingsschriftsteller sind Plato und Hemsterhuis - mit wildem Feuer trug er mir einen der ersten Abende seine Meinung vor - es sei gar nichts Böses in der W e l t und alles nahe sich wieder dem goldenen Zeitalter. Nie sah idi so die Heiterkeit der J u g e n d . . . " (IV, 417).

Schlegel scheint sehr wohl erkannt zu haben, daß die leidenschaftliche Überzeugung des Freundes weniger in der Unerfahrenheit seiner Jugend als vielmehr in einer ursprünglichen Heiterkeit und Harmonie seines Geistes begründet lag, die ihn, den von der Schärfe des Intellekts zerrissenen und schwankenden Gemütsstimmungen unterworfenen Partner, reizen mußte, das „Heiligtum" dieser fremden Seele zu erforschen. Vielleicht spürte er, daß die Überzeugung, „es sei gar nichts Böses in der Welt", das Geheimnis einer inneren Harmonie und Weltordnung umschrieb, aus welcher der Glaube an eine kommende Entsprechung in der äußeren Welt allererst seine unbeirrbare Zuversicht schöpfen konnte. In der Tat finden sich schon in den frühen Äußerungen Hardenbergs einige ,Urtöne seiner Empfindung' 2 angeschlagen, 1

Das goldene Zeitalter bei den deutsdien Romantikern, a. a. O. S. 119. Vgl. das Fragment „Urtöne meiner Empfindung" (IV, 52 u. IV, 498 Anm.), das irrtSmlidi als Bruchstück eines Briefes an Friedrich Schlegel aus dem J a h r e 1793 angesehen wurde. Die Handschrift deutet auf einen früheren Zeitpunkt der Abfassung und rechtfertigt die bisherige Einordnung nidit; es ist, wie RICHARD SAMUEL neuerdings nachgewiesen hat, „ein empfindsames Selbstbekenntnis", das in die frühen Prosaentwürfe eingereiht werden muß. Vgl. Kl.-S. I 2 , 581 u. 652. 2

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Frühzeit und Auseinandersetzung

mit Hemsterhuis und Fichte

die diesen harmonischen Grundzug seines Wesens hervortreten lassen und mit dem Glauben an eine Verwandlung der Wirklichkeit mehr oder weniger absichtslos in Verbindung bringen. „Mein ganzer Grund ist mein inniges Gefühl am Leben", schreibt er im März 1793 an Friedrich Schlegel, „mein Glaube und Zuversicht zu allem, was in mir und um mir ist" (IV, 50/51). Und im gleichen Monat heißt es als sinnfällige Ergänzung dazu in einem Briefe an seinen Bruder Erasmus: „Glaube mir, wir können alles aus uns selbst herausbilden . . . Widitig kann uns der Raum einer Nußschale werden, wenn wir selbst Fülle des Daseins mitbringen" (IV, 46).

Schon in diesen beiden Bemerkungen, die im Zusammenhang der Briefe kaum besonders auffallen und gewiß nicht überdeutet werden dürfen, wird das innere Wesensgesetz des Dichters, wie es später sichtbar zu Tage treten wird, gleichnishaft umschrieben. Sie weisen auf jene schöne Deutung seiner Persönlichkeit durch Henrik Steffens voraus, die audi und gerade für seine Erwartung eines kommenden goldenen Zeitalters zutrifft - daß er nämlich das Geheimnis des inneren Zusammenhanges der Welt, ihrer verborgenen Einheit und Harmonie, „welches die Philosophie durch strenge Methode zu enthüllen suchte, ursprünglich zu besitzen" schien: „Ihm war diese geheime Stätte die ursprünglich klare H e i m a t ; von dieser aus blickte er in die sinnliche Welt und ihre Verhältnisse hinein" (IV, 464).

Der Bericht Friedrich Schlegels ist aber vor allem auch deshalb bedeutsam, weil er bereits für die Jahre 1791/92 eine Beschäftigung Hardenbergs mit den Schriften von Hemsterhuis bezeugt. Die Idee eines wiederkehrenden goldenen Zeitalters kann daher sicherlich auf die Gedanken des holländischen Philosophen zurückbezogen werden, wenn auch nicht übersehen werden darf, daß sich in dem jungen Studenten der damaligen Zeit vielfältige Einflüsse überschneiden und die Vorstellungsform jener Idee sich kaum mit der eigentlich romantischen Ausbildung der kommenden Jahre zur Deckung bringen lassen wird. Zwar war Hemsterhuis' Dialog .Alexis, ou de l'âge d'or' bereits 1787 in einer aus der französischen Handschrift hergestellten Ubersetzung Friedrich Heinrich Jacobis erschienen (.Alexis, oder Von dem goldenen Weltalter', Riga 1787) und lag Novalis außerdem im zweiten Bande der französischen Gesamtausgabe von 1792 vor. Aber die eigentliche und intensivere Beschäftigung mit dem Holländer ist doch erst für das Jahr 1797 bezeugt; im gleichen Jahr erschien der ,Alexis' im dritten Band der .Vermischten philosophischen Schriften des H. Hemsterhuis' in Leipzig. Auf eine besondere Vertrautheit mit diesem Werk deutet allerdings die Tatsache hin, daß Novalis in seinen späteren Auszügen aus dem .Alexis' (II, 294f. u. 298f.) die zentralen Gedanken zum goldenen Zeitalter stillschweigend übergeht: gerade diese Stellen haben ihn offenbar schon in Leipzig beschäftigt. Doch ist es auffallend, daß weder das Bücherverzeichnis von 1790 die Schriften von Hemsterhuis aufführt (IV, 47Iff.) nodi das aufsdilußreidie Notizenblatt des Nachlasses, das wahrscheinlich auf 1791/92 datiert werden muß und auf dem sich Novalis zu den verschiedenen Gebieten des wissenschaftlichen und schöngeistigen Schrifttums bedeutende Namen und Vorbilder notiert, unter dem Stichwort „Philosophie" den Namen Hemsterhuis erwähnt (IV, 356). Dagegen werden Lessing, Herder, Kant und Schiller genannt, deren Sdiriften, vor allem in der Ausein-

Die frühen Gedichte und

Entwürfe

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andersetzung mit Rousseau, die Idee eines goldenen Zeitalters erneut in den Mittelpunkt gesdiiditsphilosophisdier Erörterungen hatten treten lassen: das ist die erste Einflußsphäre, die wir mit Sicherheit festhalten können. Aus dem Bücherverzeichnis geht hervor, daß Novalis über seine humanistische Schulbildung hinaus audi mit den antiken Quellen dieser Idee vertraut gewesen sein muß, wie er sie etwa aus Martin Gottfried Hermanns dreibändigem .Handbuch der Mythologie' oder aus Karl Philipp Moritz' .Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten' entnehmen konnte3. Die Beschäftigung mit Theokrits Idyllen und Vergils Eklogen ist überdies durch seine Übersetzungstätigkeit seit 1790 bezeugt, so daß sich auch die arkadische Vorstellungsform, in welcher der alte Menschheitstraum vor allem seinen Gang durch die Dichtungsgeschichte der Neuzeit angetreten hatte, vor der Bekanntschaft mit Hemsterhuis als wirksam erweist. Und schließlidi ist anzunehmen, daß ihm schon damals durch das pietistisch gestimmte Elternhaus und seine Erziehung die chiliastische Vorstellungsform eines kommenden tausendjährigen Reiches aus dem religiösen Schrifttum des 18. Jahrhunderts bekannt geworden war, auch wenn sie keinerlei Spuren in seinen frühen Briefen und Gedichten hinterlassen hat. Dagegen wird es kaum ein Zufall sein, daß sich unter den Obersetzungen antiker Autoren, die zum größten Teil unveröffentlicht sind, eine anhaltende Beschäftigung gerade mit Vergils 4. Ekloge nachweisen läßt - mit jenem berühmten Gedicht, das Novalis wahrscheinlich zum ersten Male die Idee eines wiederkehrenden goldenen Zeitalters nahegebradit hat. Soweit wir feststellen können, findet sich von keiner anderen antiken Vorlage ein dreimaliger Übertragungsversuch im Jugendnadilaß, und eine dieser Fassungen ist, neben Theokrits 21. Idylle, die einzige vollständige Übersetzung, die unter zahlreichen Bruchstücken erhalten ist. W i r werden sie nach den handschriftlichen Kriterien in die Zeit vom Frühjahr bis zum Herbst 1790 setzen müssen, als der achtzehnjährige Hardenberg in die Abschlußklasse des Luthergymnasiums in Eisleben eintrat und im Hause des Rektors Jani wohnte, der ihm wohl - wie ein geplantes Widmungsgedicht zeigt - zu solchen sprachlichen Übungen besondere Anregungen gegeben hat 4 . Die 4. Ekloge Vergils muß jedenfalls Novalis eigentümlich angezogen haben, wie aus dem dreimaligen, häufig verbesserten und in immer erneutem Ansatz sprachlich umgeformten Übertragungsversuch hervorgeht. Hier fand er ein kommendes goldenes Zeitalter verkündet und in den traditionellen Bildern eines arkadischen Natur- und Mensdienfriedens dargestellt, das auf das klassische Blütezeitalter des augusteischen Roms bezogen und im Sinne eines politisdi-panegyrisdien Huldigungsgedidites interpretiert, das aber auch, seiner Wirkungsgeschichte nadi, als ahnungsvolle Prophetie des Weltenheilands aufgefaßt und mit den christlich-pietistischen Vorstellungen eines tausendjährigen Reiches in Verbindung gebracht werden konnte:

' M. G . H e r m a n n , H a n d b u c h der Mythologie aus H o m e r und Hesiod als G r u n d l a g e zu einer richtigem Fabellehre des Alterthums. Berlin u. Stettin 1787; Bd. II: H a n d b u d i der Mythologie enthaltend die M y t h e n aus d e n lyrischen Dichtern der Griechen. 1790; Bd. I I I : Handbuch der Mythologie e n t h a l t e n d die astronomischen M y t h e n der Griechen. 1795. ( A n g e f ü h r t im Bücherverzeichnis des j u n g e n H a r d e n b e r g IV, 474, N r . 92; zum goldenen Zeitalter vgl. I, 52 ff., II, 473 ff., III, 133 ff.). - K. P h . Moritz, Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin 1791; von mir benutzt in der Ausgabe von W . Dreedcen, L a h r 1948. ( A n g e f ü h r t im späteren Bücherverzeichnis von Karl v. H a r d e n bergs H a n d IV, 477, N r . 32; zum goldenen Z e i t a l t e r vgl. S. 18 ff. u. 32 f.). 4 Vgl. die im A n h a n g mitgeteilten, bisher unveröffentlichten Gedichte aus dem J u g e n d n a d i l a ß (S. 429-432). Nach Karl v. H a r d e n b e r g s Biographie (ed. von R. SAMUEL, in: Euphorien 52, 1958, S. 174 ff.) besaß Novalis schon als Z w ö l f j ä h r i g e r erhebliche Kenntnisse im Lateinischen und Griechischen und mufi, als er im J u n i 1790 nach Eisleben ging und durch J a n i - der ein klassischer Philologe von Ruf w a r - seine Absdilußbildung erhielt, bereits ungewöhnlich weit vorgeschritten gewesen sein. Das erklärt den Anspruch e r n s t h a f t e r dichterischer Geltung, den er f ü r seine Übersetzungsübungen schon damals erhebt (vgl. I, 319). 17 Mihi, Die Idee des goldenen Zeitalters

258

Frühzeit

und Auseinandersetzung

mit Hemsterhuis

und

Fichte

„ N ä h e r k o m m t schon d i e Z e i t der letzten H y m n e Kumaeas U n d es b e g i n n t v o n f e r n der Kreislauf rollender J a h r e Schon kehrt das Reich Saturns und A s t r a e a w i e d e r zu uns her U n d v o m O l y m p o s herab k o m m t eine bessere N a c h w e l t , Keusdie L u c i n a sey d e m g e b o r n e n K n a b e n nur g ü n s t i g W e l c h e r die ehrne Z e i t v e r j a g t u n d g o l d e n e J a h r e Ü b e r d e n W e l t k r e i s leitet, d e n n d e i n A p o l l o regiert schon W e n n wir die dichterischen Versuche u n d E n t w ü r f e H a r d e n b e r g s aus d e n J a h r e n 1788-1792 heranziehen, u m zu ermitteln, in welcher dieser Vorstellungsformen ihm bis zur Leipziger B e g e g n u n g mit Friedrich Schlegel die Idee eines g o l d e n e n Zeitalters vorgeschwebt h a b e n m a g , so w e r d e n w i r e b e n f a l l s w e n i g e r auf H e m s t e r h u i s als auf eine ganz im W e l t g e f ü h l des Rokoko befangene und im herkömmlichen Schäferidyll zum Ausdruck k o m m e n d e Grundstimmung verwiesen, die d e n Glauben an eine m ö g liche W i e d e r k e h r v e r l o r e n e r Glückseligkeit u n d U n s c h u l d in d e n ü b e r l i e f e r t e n p o e t i s c h e n G a t t u n g s f o r m e n festhält®. D e r l e i c h t e L e b e n s s t i l d e s R o k o k o w a r f ü r N o v a l i s , w i e wir wissen, eine notwendige Durchgangsstufe, die den lebensfrohen, weltbejahend e n Kern in seinem W e s e n gegenüber d e m mitgebrachten elterlich-pietistischen Erz i e h u n g s g u t bestärkte. H a t t e d e r L e i p z i g e r Student, w i e es in nachträglicher B e s i n n u n g heißt, „brillante R o l l e n auf d e m T h e a t e r der W e l t " gespielt (IV, 62), so äußert sich s e i n d a m a l i g e s L e b e n s g e f ü h l u n t e r a n d e r e m i n f r ü h e n G e d i c h t e n w i e d e m B ü r g e r n a c h g e b i l d e t e n . G e f u n d n e n Schatz', i n w e l c h e m d e r D i c h t e r e i n g o l d e n e s

Zeitalter

als Ausdruck schäferlich-sorglosen Glückes auf Rousseauscher G r u n d l a g e entwirft: N u n kauf ich ein Gütchen m i t Hüttchen u n d W e i d e , D a s H ü t t d i e n g e r a d e so redit für uns beide, D i e W i e s e u n d Flur für zwei K ü h e w o h l groß, U n d sage, w a s n e i d e n w i r d e n n für ein Los? W i r h ü p f e n i m L e n z e u n d pflücken uns B l u m e n , Gestört nicht v o n mürrischen V e t t e r n u n d M u h m e n , U n d scherzen bei schäumender Milch und bei Brot, N i e w e i n e n d u n d s e u f z e n d ob bitterer N o t . . . (I, 287).

5 Anhang, S. 430. β Die Datierung des Jugendnachlasses auf die J a h r e 1788-1791/92 ist - trotz der redit schwierigen Ansetzung einzelner Gedichte - durdi die Papierbeschaffenheit der Handsdiriften sowie durch einige fest datierbare Widmungsgedichte gewährleistet, von denen eines auf den Tod des Leipziger Predigers Zollikofer (der am 22. J a n u a r 1788 starb) und einige andere auf den Tod Josephs II. (der am 20. Februar 1790 starb) gewissermaßen dironologisdie Edisteine bilden. Der Sommer und Herbst 1790 ist durch die antiken Obersetzungen bestimmbar; einen Absdiluß der Jugendarbeiten scheint dann der W i n t e r 1790/91 zu bilden: im April 1791 wurde das erste Gedicht Hardenbergs, die „Klagen eines Jünglings", durdi Wieland im .Neuen Teutschen Merkur' veröffentlicht (I, 325). Nadi 1790 versiegt der Strom offenbar, nur wenige Gedidite fallen noch ins erste Jenaer Studiensemester. Die Begegnung mit Schiller, deren tiefen Eindrudc uns die Briefe Hardenbergs (IV, 18 ff.) vermitteln, wird dazu beigetragen haben, daß es mit seinem „Schöndenken und -sdireiben . . . jetzt vielleicht auf immer vorbei" war, wie es in einem Briefe an Friedrich Schlegel heißt (IV, 51). So wird sidi der uns heute vorliegende Jugendnachlaß im wesentlichen mit jenen Gedichten dedcen, die Friedrich Schlegel bereits 1792 in Leipzig einsehen konnte und über die er in dem erwähnten Briefe an seinen Bruder schreibt: „Die äußerste Unreife der Sprache und Versifikation, beständige unruhige Abschweifungen von dem eigentlichen Gegenstand, zu großes Maß der Länge und üppiger Überfluß an halbvollendeten Bildern, so wie beim Obergang des Chaos in W e l t nach dem Ovid - verhindern midi nicht, das in ihm zu wittern, was den guten, vielleicht den großen lyrisdien Dichter machen kann - eine originelle und schöne Empfindungsweise und Empfänglichkeit für alle Töne der Empfindung . . .* (IV, 418). - Vgl. dazu neuerdings Kl.-S. 12. 439 ff.

Die frühen Gedichte und

Entwürfe

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Bekannt ist, daß Novalis in dieser frühen Jugendlyrik mit ungemeiner Leichtigkeit fremde Vorbilder nachahmt, ganz bewußt und unter ausdrücklicher Beziehung auf soldie „Bouts rimés" (II, 366), wobei eine größere Gruppe von sdiäferlich-anakreontisdien Gedichten dem Preis der Zufriedenheit, der arkadischen Unschuld und des Landlebens mit seinem sorglosen Liebesglück gewidmet ist. „Mich audi weihte der Chor froher Kamönen zu / Ihrem Freunde und goß ländlichen Dichtergeist / Mir in Busen", heißt es in einem unveröffentlichten Gedichte an Ramler7, und in einem nach Vorbild Johann Christoph Rosts entworfenen Gedicht ,Die Schäferstunde' werden die „kleinen Verse" der schäferlichen Muse ausdrücklich den kühneren, aber kriegerischen Themen des großen heroischen Epos entgegengestellt und bejaht: Mag immer Homer berühmte Helden singen Mäcen und Dilettant von der Unsterblichkeit; U n d nodi nadi tausendjährger Zeit Mag ihm der Deutsche Opfer bringen Midi kümmerts nidit, idi lasse Epopeen Und ihren Ruhm, der Helden Musen Laß idi unangefleht auf oeden Felsen gehn Und rund um sidi nur Blut und Trümmer sehn. Kupido gießt mir Lieder in den Busen, U n d wenn mich nur geliebte Nymfen flehn U m kleine Verse, bin ich gnug beglücket Und werde von Grazien mit Myrthen gesdimücket Und froher Amoretten Schaar Dur [di] flicht mit Rosen mein goldenes Haar . . A

Das Bücherverzeichnis von 1790 führt die auch stilistisch zu erschließenden Vorbilder auf diesem Gebiet an, vor allem J. G. Jacobi, Gleim, Wieland, Gotter, Uz, Götz, Göckingk, Geßner, Gerstenberg u. a. Ein Gedicht ,An den Plauisdien Grund', das die paradiesische Schönheit des Tales zu schildern unternimmt, ruft vergeblich „Gesners Muse" an, um das Zauberbild der friedlichen Natur zu entwerfen (I, 328/29); wir erinnern uns, daß Geßner noch 1807 von dem Novalis-Epigonen Otto Heinrich Graf von Loeben als der „Sänger der goldenen Zeit" schlechthin gefeiert wurde®. Unter den zahlreichen, zumeist unveröffentlichten Entwürfen des Hardenbergschen Jugendnachlasses finden sich Hirtengedichte im Sinne Jacobis oder Gleims wie ,Des Schäfers Liebesbewerbung', ,An die Muse', ,Morgenlied', ,Mein Landgut', ,Da lag sie sanft vom Ahornbaum umschattet'10, Idyllen im Sinne Bürgers oder J. H. Voß' wie ,In einem Alpenhüttdien', ,Das Landleben', ,Der Landpfarrer' 11 : Zeugnisse jedenfalls, die es unwahrscheinlich machen, daß Novalis zu jener Zeit seiner Vorstellung vom goldenen Zeitalter anderen Ausdruck hätte leihen können als eben in dieser überlieferten Schilderung idyllischen Liebesglückes und ländlicher Hirtenunschuld. Ganz im anakreontischen Stil wird denn audi gelegentlich das „goldne Alter" apostrophiert, wie in einem unveröffentlichten Gedicht ,An eine Unbekannte', das unter dem Stichwort „Du bist nicht dieses Lebens werth / Elysiums oder dem 7

Anhang, S. 457 f. Anhang, S. 458. » Vgl. unsere Arbeit, S. 165 f. 10 Anhang, S. 457 ff. und Kl.-S. I1, 531 f.; 510; 484 f. » Anhang, S. 453 ff. 8

17*

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Frühzeit und Auseinandersetzung mit Hemsterhuis und Fichte

goldenen Alter" das geliebte Mädchen mit folgenden Versen feiert: „ . . . Dich, der an Engelssanftmuth keine / Der Charitinnen selbsten glich / Die einst im goldnen Alter sich / In Cytherens Myrtenhayne / Mit Rosenbüschen leidit umkühlt . . ."12. Audi die Sehnsucht nach fernen, unverdorbenen Naturvölkern und der Wunsch, dem kriegerischen Europa zu entfliehen, um auf den Südseeinseln mit orphisdiem Wundergesang ein neues goldenes Zeitalter zu begründen, klingt in einem Gedicht ,An meine Freunde' an: Nein! Freunde kommt, laßt uns entfliehen Den Fesseln, die Europa beut, Zu Unverdorbnen nadb Taiti ziehen Zu ihrer Redlichkeit. Und laßt uns da das Volk belehren Wie Orfeus einstens that; Das Saytenspiel soll ihrer Wildheit wehren Errichten einen Staat, Wo nur Natur den Scepter führet, Durch weise Künste unterstüzt, Und jeder in dem Stand, der ihm gebühret, Dem Vaterlande n ü z t . .

Um 1790 beginnt Novalis die bukolischen Dichtungen Vergils und Theokrits zu übersetzen; Arkadien erscheint ihm nun, wie es in einer Sonetten-Folge an August Wilhelm Schlegel heißt, als das „Dichterland" schlechthin, als das „mütterliche Land", in dessen „stillen Lauben" fern vom „Marktgewühl" die Dichter und Sänger ihre wahre Heimat finden (I, 283/84). Ein zu früh entworfenes Begleitgedicht ,An den Herrn Rektor Jani' anläßlich der geplanten Übersendung einiger Übersetzungen Theokrits ist ganz erfüllt von der Stimmung der damit erschlossenen, klassischarkadischen Poesie: 0 ! dann sah ich die Musen, vernahm der Unsterblichen Lieder, Ewiglieblidi und jung saßen sie dort in dem Hain. Und sie gaukelte Amor mit Scharen lächelnder Götter, Aber mitten im Kreis saßen die Grazien drin. Und sie sangen die Weisen des alten, sizilischen Hirten, Weldien die Nymphen mit Tau oder mit Honig genährt Siehe! idi lispelte sie mit rauher, germanischer Zunge

Nadi und sende sie dir . . . (I, 319). Die Schäfer- und Idyllendiditung muß sich dem jungen Hardenberg offenbar wenn auch vorwiegend in ihrer anakreontisch getönten Rokoko-Spielart, „die gerne lacht und tändelnd sdiwäzt / mit Amor, Grazien, Cytheren sidi ergözt"14 - als konventionelle poetische Ausdrucksform seiner Sehnsucht nach natürlicher Unschuld und ländlichem Glück angeboten haben, ohne daß in allen diesen Gedichten ein eigener Ton aufklingt: Dodi hüpft er gern auf grüner Flur Mit jungen, frohen Schäferinnen Und stimmt um Liebe zu gewinnen 12

Anhang, S. 469. « Anhang, S. 453. " Anhang, S. 465 (,An Fridridi', Z. 11-12).

Die frühen Gedidite und Entwürfe

261

Voll süßer Einfalt und Natur Die kleine Silbersaitenleier Zur sanften, holden Frühlingsfeier: Und singt, wie Liebe ihm es lehrt, Auf heitern, ländlichen Gefilden . . . (I, 306).

So deuten die frühen Verse eigentlich nur auf eine arkadische Vorstellungsform des erträumten goldenen Zeitalters hin und verraten in nichts die neue Zeitstimmung, die sich unter dem Losungswort Hemsterhuis bereits angekündigt hatte und dem lebhaften Tätigkeitsdrang des jungen Dichters so entschiedene Impulse vermitteln sollte. Vielmehr erscheint es bezeichnend f ü r dieses Zurückbleiben der dichterischen Ausdrucksmöglichkeiten hinter dem eigenen, im Umbruch begriffenen Lebensgefühl - ein Phänomen, das man auch an den Leipziger Jahren des jungen Goethe beobachten kann - , daß Novalis, der bereits frühzeitig seine „Freudigkeit zu handeln" hervorhebt (IV, 25) und das „wahre tätige Leben" gegenüber allen bloß „angenehmen Träumereien" dem Bruder Erasmus warnend entgegensetzt (IV, 49), in seinen Gedichten an die Studienfreunde J . B. Erhard und Louis von Burgsdorf einer elegisch sich bescheidenden, gegenüber den großen Zukunftsaufgaben der Freunde ins beschränkte Glück der idyllischen Dichtkunst sich zurückziehenden Lebensstimmung Ausdrude gibt: Glücklich werde ich sein, wenn ich in seiger Ruh Wenge Mensdien beglücken kann Und beim Scheine des Monds fröhliche Lieder sing In der traulichen Freunde Kreis . . . (I, 334; IV, 15).

W i r werden allerdings nicht übersehen dürfen, d a ß die gesamte Jugendlyrik des Novalis nichts anderes als ein vielfältiges, dichtungsgeschichtlich höchst aufsdilußreidies Spiegelbild der literarischen Strömungen und lyrischen Vorbilder im ausgehenden 18. Jahrhundert darstellt, die ihren Schwerpunkt - wohl kaum zufällig im tändelnden Gesellschaftsspiel des Rokoko, „wo Natur im Hirtenkleide schwebt" (I, 283), finden. Es handelt sich in keinem Fall um Erlebnisdichtung, sondern eher, wie der bezeichnende Untertitel des Gedichtes ,Baisora' lautet, um „Übungen der leichten Versifikation" (I, 263), die den vorgegebenen Gattungsformen im sdiäferlich-anakreontischen oder elegischen Tonfall folgen und die trotz häufiger Gelegenheits- und Widmungsgedichte nur einen sehr bedingten biographischen Aussagewert besitzen 15 . Das gilt auch von zwei weiteren Gruppen, die aber darüber hinaus besondere Beachtung verdienen, da sie - bisher nur in einzelnen Stücken veröffentlicht - auf die spätere Entwicklung Hardenbergs vorausweisen. Im Nadilaß finden sich zunächst zahlreiche Gedichte politisch-panegyrischen Inhalts, die sich an die preußischen Könige Friedrich II. und Friedrich Wilhelm II. sowie an den Habsburger Joseph II. wenden und sie im Stile Ramlers, der Zeit gemäß, besingen; sie

15 Diese allgemeine Kennzeichnung kann hier nicht weiter begründet werden; eine Gesamtuntersudiung des Jugendnachlasses, die mir von Richard Samuel-Melbourne unter Bereitstellung seines nahezu lückenlosen, abschriftlichen Materials übertragen wurde und die ein Bild des bisher kaum bekannten „Rokoko-Novalis" zu entwerfen hätte, wird darüber näheren AufschluS geben. - Vgl. audi die Vorbemerkung zur sdläferlidi-anakreontisdien Lyrik im Anhang, S. 446 f.

262

Frühzeit und Auseinandersetzung

mit Hemsterhuis

und

Fidile

stammen wohl sämtlich aus den Jahren 1788-17901β. Bei aller Unselbständigkeit und Unreife äußert sich hier ein Zug zur mythischen Verklärung und hymnischen Feier des idealen Herrschertums, der auf den späteren, romantischen „Dichtertraum" von einer Idealmonarchie (II, 426) und auf die Erhebung des preußischen Königspaares zum gegenwärtigen Sinnbild des kommenden goldenen Friedenszeitalters (II, 60) vorausdeutet und damit eine innere Prädisposition des jungen Hardenberg enthüllt, die bisher - aus Unkenntnis des Jugendnadilasses - übersehen worden ist. Der König befriedigt schon hier „eine höhere Sehnsucht seiner Natur", von der es 1798 heißen wird, daß sie den „Glauben an einen höhergebomen Menschen", die „freiwillige Annahme eines Idealmensdien" fordere (II, 51): O! König, du für unsre niedre Erde Ein nie gesehnes Meteor Dich ziehn einst im Triumf die hohen Sonnenpferde Zu froher Götter Chor Und angestaunet sitzest du beym Mahle Des Zeus, ein anderer Herkul Und Caesar reicht dir selbst die goldne Nectarschaale, Gelehnt an deinen Stuhl . . ,17.

Auch die „Zeit des ewigen Friedens" erscheint sdion hier „in monarchischer Form" (II, 50), wenn sich Hardenberg an Friedrich Wilhelm II. wendet und ihn beschwört, „nur für das wahre Glück seines Landes besorgt" zu sein und den Verlockungen des Kriegsruhms zu widerstehen, Palmen statt des ererbten Schwertes zu ergreifen und „ewige Ruhe" über das Vaterland zu bringen: Unterm Fußtritt entblühn Blumen und Saaten ihm, Städte welchen der Indus zollt U n d Amerikas Flur, Afrika, Asien Und der Seine Gefilde, und Edler Britten Gefild, welches die Thems durchströmt Reidi an Freyheit und Ahnen Muth. Mit dem singenden Chor fröhliger Mädchen sind Reigen blühender Jünglinge Fest verschlungen, die Schaar bringet ihm Kränze dar. Wehrter ihm als die Delfisdien, Die umschlingen die Stirn stolzer Eroberer, Unbeneidet vom Göttlichen. Solcher König bist du, Fridrichs Wetteiferer, Und sein glücklicher Neffe, du . . .18.

In dem Prosaentwurf zu einer Ode auf den Tod Josephs II., der wie andere Gedichte gleichen Inhalts und aus gleichem Anlaß unmittelbar nach dem Tode des Habsburw Vgl. die im Anhang mitgeteilten Gedichte S. 432 ff. sowie die dort vermerkten Datierungsversudie. NaA Ausweis seines Bücherverzeichnisses von 1790 (IV, 474, Nr. 89) besaS Novalis Karl Wilhelm Ramlers ,Oden', Berlin 1768, die ihm vielfadi als Muster gedient haben. " Anhang, S. 485 (,An den König'). 18 Anhang, S. 444 (,An Friedrich Wilhelm'). Die Verbindung von Panegyrik und Bukolik, die hier flüchtig anklingt und die mittelbar auf die antike Ekloge zurückführt (s. S. 97 ff.), geht noch deutlicher aus einigen anderen Gediditen des jungen Hardenberg hervor; vgl. vor allem das bereits von KLUCKHOHN veröffentlichte Gedicht ,An Joseph den Zweiten' (I, 813 ff.) und das unveröffentlichte ,Lied der Nymphe Galatea' (Anhang, S. 438 f.).

Die frühen Gedichte und

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Entwürfe

gers am 20. Februar 1790 niedergeschrieben worden sein muß, taucht audi erstmals die metaphorische Wendung von einem goldenen Zeitalter auf, das Novalis allerdings in die jüngste Vergangenheit verlegt und in den gerade verflossenen Regierungsjahren Friedrichs des Großen und Josephs II. verkörpert sieht: „Ihr wart glücklich, Väter, eure Zeiten fielen in Josephs und Friedrichs Jahre; in Deutschlands Goldne Zeit. Sie wird beschrieben . . . Aber nun bricht cimmerisdie Nacht über uns herein. Toleranz flieht aus Preußen, und Joseph nahm die Vorsicht weg, weil überall nun eiserne Saat aufkeimt . . . W e h uns, schon seh ich (nun die Beschreibung der elenden künftigen Zeiten) . . . " " .

Der Entwurf endet zwar mit einem dithyrambischen Anruf an die Hoffnung, welche „die traurig tönende Leyer zu freudigem Tönen" stimmen möge, da der verstorbene Herrscher als Schutzgeist die folgenden Fürsten umschweben und sie zur Nachfolge begeistern werde; aber der Zug zur Verklärung der nahen Vergangenheit ist gerade durch ihre fast gewaltsame Entrückung in eine mythisch-verklärte Ferne unverkennbar. Wir werden in den hier flüchtig auftauchenden Bildern einer versunkenen „goldnen Zeit" und einer überall aufkeimenden „eisernen Saat" wohl eine Nachwirkung der Beschäftigung Hardenbergs mit Vergils 4. Ekloge sehen dürfen. Nicht zufällig findet sich einer der drei erwähnten Obertragungsversuche auf dem gleichen Folioblatt, auf dem auch ein Gedicht ,Auf Josephs Tod' (I, 315) entworfen wurde, und der fast wörtliche Anklang ist trotz der resignierenden Umkehrung unüberhörbar: Segne den Neugebohrnen, mit welchem die eiserne Brut sinkt, Und ein goldnes Geschlecht auf Erden überall aufkeimtM.

Die Vermutung liegt nahe, daß Novalis auch die 4. Ekloge im panegyrischen Sinne eines an Pollio gerichteten, politischen Huldigungsgedichtes aufgefaßt hat. Ist es doch auffällig, daß im gesamten Jugendnachlaß neben den schäferlich-arkadischen Vorstellungsformen nur dieser Typus einer politisch-panegyrischen Hymnik Anklänge an die spätere Idee eines kommenden goldenen Zeitalters und ewigen Friedens enthält - zuweilen sogar, wie etwa in einem unveröffentlichten Gedicht ,Der Frieden', das Friedrich II. gewidmet ist, unter Symbolen, die Jahre darauf im romantischen Werk des Dichters wiederkehren: Audi ruft nach zwölf mit Sieg bekrönten Schlachten Borussiens Held Friderich Nach den vergebens oft Karthaunen, Bomben krachten Gelübde weihend dich Zurück in sein ererbetes Gefilde Entvölkert von des Krieges Wuth Der jezt beym kalten Pol am diamantnen Gefeßelt ewig ruht.. .ll.

Schilde

11 Anhang, S. 433. Wenn Novalis vermerkt .Toleranz flieht aus Preußen", so zeigt das den Geist der Aufklärung, den er in Friedrich II. und Joseph II. verkörpert sieht und nun bedroht glaubt: d a s ist die „goldene Zeit" des Vorromantikers. Vgl. audi das Gedicht ,An meine Freunde', Anhang, S. 452 f. M Anhang, S. 430 (Fassung 3). 11 Anhang, S. 433. Vgl. das Klingsohr-Märdien im .Ofterdingen', I, 194 ff.

264

Frühzeit und Auseinandersetzung

mit Hemsterhuis

und

Fiâte

Daneben muß noch eine Gruppe von Jugendgedichten hervorgehoben werden, die unter dem Einfluß der Dichter des Göttinger Hainbundes zu stehen scheint und deren elegische Verklärung der vaterländischen „Vorzeit" durch einige frühe, brieflidie Äußerungen Hardenbergs, die der „Erinnerung" im persönlichen wie im gesdiichtlichen Bereich eine besondere Bedeutung zuschreiben, als eine ihm wesensnahe Ausdrucksform unterstrichen wird. In seinen ersten, bisher unveröffentlichten Prosa-Aufsätzen hatte sich der junge Hardenberg nodi ganz auf den Standpunkt des Aufklärers gestellt und, wie etwa in seiner Abhandlung ,Über die Ordalien oder Gottesurtheile', die um 1787/88 entstanden sein mag, verächtlich von den „ersten rohen Anfängen der Cultur" gesprochen, „als irgend ein menschenfreundlicher Genius, oder die alles hervorbringende Zeit, die zottigen, instinktartigen Waldmenschen in wenige und leicht zerreißliche Bande der ersten bürgerlichen Gesellschaft zwang, und in ihren vernunftfähigen Köpfen ein wenig menschliche Überlegung und Nachdenken aufdämmerte".

Audi das Mittelalter hatte ihm wenig Begeisterung abgelockt, da die Herrschaft „trugvoller Pfaffen und Priester" den Wahnglauben der Gottesurteile nur bestärkte und um einige christliche Sonderformen vermehrte, die ihren Ursprung „der abergläubischen, religiösen Denkungsart der mittlem Jahrhunderte und den Triebfedern der Mönche und Kleren zu danken haben" - „denn welcher Mittel hätten sich nicht die Klerey und Bonzen aller Zeiten zur großen Vollführung ihres hierarchischen Plans bedient" 22 !

Demgegenüber bezeichnet die Idealisierung der vaterländischen Vergangenheit, wie sie in einigen Liedern und Gesängen der Jahre 1788-1792 hervortritt, bereits einen merklichen Wandel der Auffassung. Mit ihr erwacht jener später so oft beschworene „Geist der Vorzeit", der in einem Klopstock nachempfundenen Gedicht ,Bei dem Falkenstein, einem alten Ritterschloß am Harze' besungen wird: Geist der Vorzeit, der midi mit süßen Bildern erfüllte, Wenn ich Sagen las von hehren, silbernen Zeiten, W o voll höherem Sinn Tuiskons Enkel begeistert Lauschten der Stimme des Vaterlandes . . . Höre den Jüngling, der dich mit flammender Wange und Stime Ruft . . . (I, 311).

Wieder ist bei aller Unselbständigkeit und Nachahmung der Dichter des Göttinger Hains ein „Urton" der Empfindung Hardenbergs unüberhörbar. Denn gegenüber der aufklärerischen Grundhaltung kündigt sich hier ein neues Verständnis der „Vorzeit" an, das vielleicht der vermittelnden Stimmen Klopstocks und der Brüder Stolberg bedurfte, um zu der Gewißheit zu gelangen, daß der Zauber der Vergangenheit nur eingeweihten Seelen zugänglich sei23. „Sanft und groß ist der Vorzeit Gang", 22 D e r zitierte A u f s a t z w i r d demnächst im II. B a n d e d e r N e u a u f l a g e von N o v a l i s ' Schriften erscheinen (Abt. I: F r ü h e P r o s a a r b e i t e n ) . 13 . G r a f Stollberg, ein M a n n , d e n ich w e g e n seines D i d i t e r g e n i e s . . . unendlich v e r e h r e " , b e k e n n t H a r d e n b e r g um 1789/90 in seiner .Apologie von Friedrich Schiller' (II, 90; verbessert nach d e r H a n d schrift). Die Stellung d e r B r ü d e r Stolberg (bei H a r d e n b e r g ist Leopold gemeint) zur „Vorzeit" u n d ihre f r ü h e Begeisterung f ü r das M i t t e l a l t e r kennzeichnet d e r ironisch-treffende Bericht G o e t h e s im n e u n z e h n t e n Buch von .Dichtung und W a h r h e i t ' , wo es im Z u s a m m e n h a n g e d e r Sdiweizer Reise h e i ß t : „Die guten h a r m l o s e n J ü n g l i n g e , welche g a r nichts Anstößiges f a n d e n , h a l b nadct wie ein poetischer

Die frühen Gedichte und Entwürfe

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heißt es wenig später in einem P r o s a - F r a g m e n t , das sich ebenfalls unter den Blättern des Jugendnachlasses findet u n d seinen handschriftlichen Kriterien nach d e m J e n a e r S t u d i e n j a h r 1790/91 angehört 2 4 : „Ein heiliger Schleier deckt sie f ü r den U n g e w e i h ten; aber dessen Seele das Schicksal aus dem s a n f t e n Rieseln des Quell erschuf, sieht sie in göttlicher Schöne mit dem magischen Spiegel." Als ein solcher magischer Spiegel gilt H a r d e n b e r g n u n offenbar die E r i n n e r u n g , die er nach seiner Rüdekehr aus J e n a in einem Briefe vom 5. Oktober 1791 als eine Z a u b e r m a c h t beschreibt, d a sie alles „in magischer Beleuchtung" erscheinen lasse und „eine unendliche Menge Empfindungen, G e f ü h l e u n d I d e e n " wachrufe: „Alles verschmilzt in das unnennbare und unteilbare Ganze einer lieblichen D ä m merung, w o nur die äußersten Umrisse, die schönsten Konturen nodi sichtbar sind und schon allmählich in den N e b e l der Vergangenheit zerrinnen. Aber den Zauber

der Aussicht, wer vermag den zu beschreiben ..(IV,

20).

H i e r liegt zweifellos eine W u r z e l der romantischen Vergangenheitssehnsucht, aus welcher der G l a u b e an eine W i e d e r k e h r der e r t r ä u m t e n Idealzeit hervorgehen konnte - in j e n e r eigentümlichen, f ü r das spätere L e b e n s g e f ü h l des N o v a l i s so bezeichnenden V e r k n ü p f u n g von „ E r i n n e r u n g " u n d „ A h n d u n g " , von „Vorzeit" u n d „Zukunft", wie sie sidi ebenfalls schon in einem f r ü h e n Briefe a n die M u t t e r aus dem Sommer 1791 andeutet 2 8 . N o d i allerdings sind unter den „Ideen", die E r i n n e r u n g u n d Vorzeitsehnsudit im j u n g e n H a r d e n b e r g erwecken, nicht die durch Hemsterhuis vermittelten G e d a n k e n eines v e r g a n g e n e n goldenen Zeitalters u n d seiner W i e d e r k e h r in f e r n e r Z u k u n f t ; die Gedichte der zuletzt g e n a n n t e n G r u p p e lenken d e n Dichter gleidisam n u r in die „silbernen Zeiten" d e r vaterländischen V e r gangenheit zurück. A b e r sie lassen, ebenso wie die arkadische Schäferdichtung u n d die politisch-panegyrische H y m n i k des Jugendnachlasses, schon vor d e r Leipziger Begegnung mit Friedrich Schlegel einige Verbindungslinien sichtbar werden, die auf das k o m m e n d e W e r k vorausdeuten. D e r W e g , der N o v a l i s zur eigentlichen A n e i g n u n g u n d Ausgestaltung seiner V o r stellung vom goldenen Z e i t a l t e r f ü h r e n sollte, g i n g über das G r ü n i n g e r Paradies, Schäfer oder ganz nackt wie eine heidnische Gottheit sich zu sehen, wurden von Freunden erinnert, dergleichen zu unterlassen. Man machte ihnen begreiflich, sie weseten nicht in der uranfänglichen Natur, sondern in einem Lande, das für gut und nützlich erachtet habe, an älteren, aus der Mittelzeit siA herschreibenden Einrichtungen und Sitten festzuhalten. Sie waren nidit abgeneigt, dies einzusehen, besonders da vom Mittelalter die Rede u/ar, welches ihnen als eine zweite Natur verehrlich schien . . ." (Goethes Sämtliche Werke, Jubiläums-Ausgabe, Bd. XXV, S. 97). 24 II, 92. Die frühe Niederschrift dieses Prosaentwurfes ist, entgegen früheren Ansichten, durch die Handschrift gesichert (WZ VI). 25 Hardenberg, der hier der Erinnerung an seine glückliche Kindheit, dem goldenen Lebensalter des einzelnen Menschen nachgeht, schreibt seiner Mutter, daß „die Erinnerung an Dich mir die glücklichsten meiner Stunden macht, wenn meine Phantasie schwelgt und Dein Bild lebendig mir vorschwebt; wenn alle die schönen Szenen der Vorzeit und Zukunft, die ich mit Dir erlebte und erleben werde, vor mir stehn und jeder Zug in ihnen beseelt ist: Wenn gar der blaue Schleier der Zukunft sich hebt und idi Dich als Schöpferin all jener kühnen Entwürfe sehe, die eine allzu kühne Zuversicht in meine Kräfte wagte . . ." (IV, 16). - In diesen ganz persönlichen Worten klingt unwillkürlich jene „geheime Verkettung des Ehemaligen und Künftigen" an (I, 162), die das spätere Lebensgefühl des Dichters kennzeichnet, wie es nach dem Sophien-Erlebnis - in der gleichen, wenn auch schmerzlicheren Besinnung auf ein verlorenes „Elysium" (IV, 121) - zum Durchbruch gelangt und in der .Mischung" von Erinnerung und Ahnung, in der „geistigen Gegenwart" von Vorzeit und Zukunft das Element, die Atmosphäre des Dichters schlechthin erblickt (II, 35). Vgl. unsere Arbeit, S. 314 ff.

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Frühzeit und Auseinandersetzung

mit Hemsterhuis und Fichte

dieses „Elysium" (IV, 121), diese „Idyllenwelt" (IV, 131), deren Mittelpunkt Sophie war - »jeder geliebte Gegenstand ist der Mittelpunkt eines Paradieses" (II, 23) und deren Verlust in ihm die Sehnsucht nach einem wiederkehrenden, höheren Paradiese, das „erste Lebensgefühl in der künftigen Welt" erweckte (IV, 175); er führte über die Philosophie, die er „die Seele meines Lebens und den Schlüssel zu meinem eigensten Selbst" nannte (IV, 153) und in der er sich unter dem Einfluß Fidites und Hemsterhuis' das Zukunftsideal der goldenen Zeit gedanklich erarbeitete.

2. Hemsterhuis und Fichte Wir werden den Einfluß dieser beiden für Novalis so entscheidenden Denker auf die Ausbildung der Idee vom goldenen Zeitalter näher zu betrachten haben, weil sich an ihm - paradigmatisch für das gesdiiditsphilosophische Denken des ausgehenden 18. Jahrhunderts, das wir im ersten Teil unserer Arbeit skizziert haben - die Entwicklung des Dichters ablesen läßt. Ihrer beider Gedankenwelt überschneidet sich in Novalis, ohne daß es zu einer leidenschaftlichen Auseinandersetzung käme, die sich des unversöhnlichen Gegensatzes zwischen ihnen (trotz aller Berührungspunkte) bewußt wäre; vielmehr assimiliert sich Novalis mit einer fast traumwandlerischen Sicherheit das ihm Gemäße, Bestätigende, und stößt das ihm Ungemäße ab - mit einer Sicherheit, die sich der eigenen Grundanlage immer und ursprünglich versichert weiß. Das ist schon vor Sophiens Tod festzustellen, also vor jenem erschütternden Ereignis, das Novalis den „Beruf zur apostolischen Würde" (IV, 188) bewußt machen sollte. Daher kann es zwar im einzelnen fruchtbar sein, auf die eigentümliche Umformung eines verwandten Gedankens aufmerksam zu machen, wenn diese sich auf einwandfrei zu vergleichende Textstellen bezieht und damit die Arbeitsweise Hardenbergs, dieses Aufleuchten seines assoziativen Genies gleichsam im Vorgang der Anverwandlung näher zu fassen und zu bestimmen möglich macht aber grundsätzlich bleibt der Nachweis einer Abhängigkeit, wie gerade in der neueren Novalis-Forschung erkannt wird, für das Verständnis des Diditers unwesentlich*·. Novalis selbst hat sich durchaus und ständig zu einer solchen geistigen Beeinflussung bekannt, die seinem unendlich berührbaren und ruhelosen Denken, seiner „journalieusen Wesensart" entsprach (wie sein Bruder Erasmus einmal sdiarf, aber zutreffend bemerkt, IV, 119); aber eben doch im Sinne jener assimilierenden Anverwandlung, die einer fremden Idee das Signum des eigenen schöpferischen Geistes aufprägt. „Die höchste Vollkommenheit der denkenden Intelligenz ist, selbst im Fremden, Gegebenen frei zu sein, frei aufzunehmen id est ein Freies, das Fremde, als ein Freies - ζ. B. eine gelesene Wahrheit - das Empfangene ein selbständig Wirksames sein zu lassen", notiert er sidi schon 1796 (II, 186/87). Und zwei Jahre später heißt

*· Das hat sdion R. SAMUEL mit wünschenswerter Deutlichkeit hervorgehoben (Die poetische Staatsund Geschichtsauffassung . . . , a. a. O. S. 12 ff.). Den Umformungsprozeß der Hemsterhuis-Studien hat der Verf. anhand einzelner Textstücke näher untersucht in der Einleitung zu den „Philosophischen Studien des Jahres 1797" (Novalis Schriften, II 2 , Stuttgart 1965, S. S09ff.); vgl. dazu ferner: Eine unveröffentlichte Kant-Studie des Novalis, in: DVjs. 36, 1962, S. 36 ff.

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es: „Verwandlung des Fremden in ein Eignes, Z u e i g n u n g ist . . . das unaufhörlidie Gesdiäft des Geistes" (II, 410). „Einem geistvollen, systematisierenden Menschen gehören alle Ideen, alle Beobachtungen. Er erwirbt sie sich - er macht sie sich zu eigen durch Formation und Benutzung" (III, 184). „Man studiert fremde Systeme, um sein eignes System zu finden. Ein fremdes System ist der R e i z zu einem eignen. Idi werde mir meiner eignen Philosophie, Physik etc. bewußt - indem idi von einer fremden affiziert werde - versteht sidi, wenn idi s e l b s t t ä t i g genug bin" (III, 95). Gerade diese „Selbsttätigkeit", diese ruhelose Anverwandlung des Fremden madit ein Grundgesetz seines Denkens aus.

In Hemsterhuis' Schriften fand Novalis offenbar tiefste Ahnungen und Sehnsüchte seiner eigenen Natur angerührt und bestätigt27. Was ihn vor allem anzog, war wohl die Idee der Liebe, wie sie bei Hemsterhuis, in der ihm eigentümlichen Verbindung neuplatonischer Gedankengänge mit den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaft, zur metaphysischen Weltmadit erhoben worden war. „Ce principe que vous sentez si bien, mon cher Aristée, cet amour, cette pente vers une union d'essence avec des êtres ou des choses quelconques, est une faculté qui lie en quelque façon les êtres ensemble, et qui agit en raison de l'homogénéité. Les loix qui dérivent de la nature de ce principe, ou de cette faculté, constitue le m o r a l . . ." 2 8 . Die Liebe wird als Grundverlangen der menschlichen Seele und aller Wesen begriffen, wieder 1 7 Die erneute Beschäftigung mit Hemsterhuis ist für den Herbst 1797 bezeugt; erst am 30. November 1797, als Novalis A. W . Schlegel die entliehenen Schriften zurückschickt (IV, 212), wird der Name des Holländers erstmals wieder in den Briefen erwähnt (vgl. audi IV, 217; 2 3 2 / 3 3 ; 263). Aus den Hemsterhuis-Exzerpten und -Studien II, 284 ff. geht hervor, daß Novalis nidit die deutsche Übersetzung der „Vermischten Philosophischen Schriften des H. Hemsterhuis" benutzt hat, die 1782 (Bd. I—II) und 1797 (Bd. I I I ) in Leipzig erschienen waren, sondern die erste französische Gesamtausgabe „Oeuvres Philosophiques de M. F. Hemsterhuis" (ed. H. J . Jansen, T . I—II, Paris 1792), die er selbständig übersetzend exzerpiert hat. Diese Ausgabe wird daher unserer folgenden Untersuchung zugrundegelegt. - Daneben wurde die zweibändige deutsche Ausgabe von J . Hilß herangezogen (François Hemsterhuis, Philosophische Schriften, Karlsruhe u. Leipzig 1912); sie beruht auf der Leipziger Obersetzung von 1782/97, korrigiert aber einige Irrtümer und Obersetzungsfehler nach der letzten französischen Gesamtausgabe (Oeuvres Philosophiques, ed. L . S. P. Meyboom, T . I—III, Leuwarde 1846-50). Aus Meyboom I I I , 86 ff. werden auch die beiden einzigen, vollständig erhaltenen Briefe an die Fürstin Gallitzin bei Hilß abgedruckt (Bd. I, S. X V I I - X X I V ) , die für Hemsterhuis' Verständnis des goldenen Zeitalters sehr aufschlußreich sind. 1 8 Oeuvres Philosophiques, T . II, p. 58. Damit wird eine durchgehende Analogie des körperlichen und des seelisch-geistigen Lebens ausgesprochen; die Liebe ist ein Weltgesetz, „une loi qui derive de notre essence, que Dieu a donnée aux êtres libres et actifs, pour s'aimer, pour s'unir ensemble; comme il a donné à la matière la loi d'inertie ou d'attraction, d'où dérive la réaction contre toute action contraire ì cette loi: et si une particule de la matière inerte pouvoit sentir et parler, elle nous feroit un tableau de sa pente vers son homogène, de sa réaction contre tout ce qui voudrait l'en arracher, assez semblable au tableau que nous pourrions lui donne de notre conscience . . . " (T. II, p. 98). Für die Zusammenhänge, die zwischen diesem Analogieprinzip des Holländers und Shaftesbury sowie der schottischen Moralphilosophie (Hutcheson, Ferguson) bestehen, vgl. F. BULLE, Franziskus Hemsterhuis und der deutsche Irrationalismus des 18. Jahrhunderts. J e n a 1911, S. 2 9 f f . ; ferner N. HARTMANN, Die Philosophie des deutschen Idealismus. I . T e i l , Berlin u. Leipzig 1923, S. 190ff. - Eine genauere Untersuchung der Beziehungen zwischen Novalis und Hemsterhuis fehlt immer noch, trotz der Arbeit von U . FLICKENSCHILD (Novalis' Begegnung mit Fichte und Hemsterhuis. Diss., Kiel 1947), die allerdings auch ausdrücklich auf eine eingehendere vergleichende Motivuntersuchung verzichtet (s. S. 11); wie überhaupt die Schlüsselstellung des Holländers eine spezielle Darstellung seines Einflusses auf den deutschen Sturm und Drang und die Romantik wünschenswert erscheinen läßt. Die Arbeit von J . E. POKITZKY, Franz Hemsterhuis, seine Philosophie und ihr Einfluß auf die deutschen Romantiker. Berlin u. Leipzig 1926, erschöpft sich wesentlich in Inhaltsangaben; der kurze Aufsatz von H. LÜTZELER, Novalis und Hemsterhuis, in: Neue J b b . f. Wissenschaft u. Jugendbildung, 1. J g . 1925, S. 212-221, bietet wenig Neues. Die beste und tiefdringendste Monographie zu Hemsterhuis stammt von L. BRUMMEL, Frans Hemsterhuis. Een Philosofenleven. Haarlem 1925.

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in den Zusammenhang des Universums zurückzukehren, die ursprüngliche Einheit des Alls wiederherzustellen. Die Individuation der Dinge ist nicht das Letzte, durch ihre Mannigfaltigkeit hindurch geht ein unsichtbares Band, eine Ordnung und H a r monie, die zu erfassen und zu genießen das tiefste Verlangen des Menschen ausmacht. Aber dieses Verlangen nach der Ureinheit und Urverbundenheit aller Wesen ist unerfüllbar, solange unsere vermittelnden Organe, unser Körper uns an der vollkommenen Einigung hindern. Z w a r ist das absolute Ziel der verlangenden Seele „l'union la plus intime et la plus parfaite de son essence avec celle de l'objet désiré. Mais comme dans l'état actuel où l'âme se trouve, il lui presqu'impossible de tendre vers cette union si ce n'est par le moyen des organes, il lui est également impossible de parvenir à la jouissance parfaite de quoi que ce puisse être" (T. I, p. 63). So befindet sich das Universum gegenwärtig in einem erzwungenen Zustand („dans un état forcé"), in welchem es ewig nach Vereinigung strebt und dodi immer aus isolierten Einzelheiten zusammengesetzt bleibt („composé d'individus isolés", T. I, p. 79). Der natürliche Zustand des Universums ist es, eins zu sein, und die Anziehung bedeutet nichts anderes als die Rüdekehr der Teile des Weltalls zu ihrem natürlichen Zustand (T. II, p. 63). Aber nie wird der Seele volle Erfüllung zuteil - ein offener Widerspruch („contradiction manifeste"), an dem Hemsterhuis tief leidet und der f ü r ihn zu jener Sehnsucht nach einem höheren Leben, nach einem Jenseits des Todes führt, die am Schlüsse seiner einzelnen Schriften fast ständig aufklingt. Erst nach dem Tode wird es der Seele möglich sein, mit W e l t und Gott als dem Inbegriff der Sehnsucht eins zu werden. D a n n beginnt ihr eigentlidies Leben, befreit von den hemmenden Organen. Immer, wenn Hemsterhuis von diesem Übergang zu einem fernen, neuen Leben spricht, verwandelt sich seine Sprache, die in mancher Hinsicht der rationalistischen Terminologie der Aufklärung noch nahesteht, zu leidenschaftlich dichterischer Prophezeiung: „A la foible lueur de l'étoile du matin, l'oeil s'apperçoit à peine des objets près de lui; mais lorsque le soleil paroît, l'univers visible se dévoile. Peut-être le véhicule des sensations des essences morales aura de même plus d'énergie après le crépuscule de cette vie; ou bien, peut-être les organes de la conscience et du coeur ne sauroient se déployer sous notre enveloppe grossière: ce sont les ailes encore informes, cadiêes sous la peau de la nymphe . . . " (T. I, p. 241; vgl. Novalis II, 291 u. 298). „C'est avec des ailes semblables que quelques âmes heureuses s'élèvent. Elles se livrent toutes entières au soin de se perfectionner. Elles se dégagent de tout ce qu'il y a de terrestre et de périssable autour d'elles. Elles accélèrent leur développement, et de nouveaux organes se manifestent . . . Le plus beau travail de l'homme . . . c'est d'imiter le soleil, et de se débarasser de ses enveloppes dans aussi peu de siècles qu'il est possible; et lorsque l'âme est toute dégagée elle devient toute organe ... Toutes les sensations se lient et font corps ensemble, et l'âme voit l'univers non en dieu, mais à la façon des dieux ..." (T. II, p. 247/48; vgl. Novalis II, 297 u. 299). „II faut des développements; il faut secouer l'écorce matérielle; il faut la mort. Combien de développements, combien de morts il faut à l'âme, pour qu'elle parvienne à la plus grande perfection dont son essence soit susceptible; c'est un secret voilé pour nous ... Il nous suffit de savoir, que c'est dès cette vie que nous prenons notre essor; que la mort ne change pas notre direction prise, et qu'elle ne fait qu'accélérer les mouvements de l'âme dans cette direction, qui dépend entièrement de l'énergie de l'être libre" (T. II, p. 103; vgl. Novalis II, 293).

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Es ist charakteristisch, daß Novalis 1797 nach dem Tode Sophiens gerade solche Stellen exzerpierte und weiterdachte, in denen die Jenseitspostulate des Holländers, seine über den Tod hinausstrebende Einheitssehnsucht zum Ausdruck kamen. Aber schon Herder hatte die gefährliche Einseitigkeit Hemsterhuis' erkannt, als er den Brief .Über das Verlangen' 1781 für den Teutschen Merkur übersetzte und eine eigene Abhandlung über ,Liebe und Selbstheit' als Nachtrag anfügte. (Die Abhandlung wurde in die französische Gesamtausgabe von 1792 aufgenommen, lag also Novalis mit dieser zusammen vor; eine Studiennotiz unter dem Stichwort „Hemsterhusiana" II, 284 hält sogar, wie bisher nicht erkannt worden ist, einige verstreute Sätze daraus wörtlich fest 29 .) Wie Hemsterhuis geht Herder von der Einsicht in die Unmöglichkeit einer völligen Vereinigung aus und bekennt, „daß diese Liebe Grenzen habe" (S. 305). Aber er betont nicht den Schmerz der unerfüllten Sehnsucht, sondern sieht in dieser Beschränkung ein lebenserhaltendes Moment, den „wahren Takt und Pulsschlag des Lebens" (S. 322). „Wir sind einzelne Wesen, und mäßen es seyn, wenn wir nidit den Grund alles Genußes, unser eigenes Bewußtseyn, über dem Genuß aufgeben, und uns selbst verlieren wollen . . . Selbst wenn idi mich, wie es der Mysticismus will, in Gott verlöre, und idi verlöre midi in ihm, ohne weiteres Gefühl und Bewußtseyn meiner·, so genöße Ich nicht mehr; die Gottheit hätte mich verschlungen, und genöße statt meiner" (S. 321).

Hier ist die Schwädie Hemsterhuis', die weiblidi-sensiblere Art seines Wesens und die Passivität seiner Sehnsucht klar erkannt, die im Grunde auf Preisgabe des Idi und ein hingebendes Sichverlieren im Einklang aller Wesen hindrängt. Für den männlicheren Geist Herders aber müssen es „consone Töne . . . seyn, die die Melodie des Lebens und des Genußes geben, nicht unìsone" (S. 322). Die Zweiheit von Liebe und Selbstheit ist ihm etwas Notwendiges, zu Bejahendes: „Unmöglich kann er (der Mensch) wie Meeresschleim mit allem zusammenfließen", heißt es in ausgesprochener Polemik gegen Hemsterhuis. „Nur auf unserm eignen Daseyn und Bewußtseyn ruht die Existenz andrer, so fern sie durdi Liebe und Sehnsudit mit uns verknüpft sind; verlören wir jene, so hätten wir auch von diesen keinen Genuß mehr . . . Um zu geben, müßen immer Gegenstände seyn, die da nehmen; um zu thun, andre, für die man thue; Freundschaft und Liebe sind nie möglich, als zwisdien gegenseitigen freien, consonen, aber nidit unisonen, geschweige identificirten Geschöpfen" (S. 325/26).

Die Harmonie einer Einheit im Mannigfaltigen wird also in charakteristischer Weise der bloßen Monotonie gegenübergestellt, wie sie sich als Sehnsuchtsziel des Holländers abzeichnet - („les deux substances feront tellement une seule substance, que toute idée de dualité sera détruite", T. I, p. 63) - , und wir werden sehen, daß bei Novalis, trotz seines mystischen Grundverlangens, dieser Gegensatz zu Hemster2 * Oeuvres Philosophiques, T . I, p. 87-123. Das Exzerpt II, 284 hält sich allerdings so eng an die deutsche Vorlage, d a ß es nicht aus der französischen Obersetzung ausgezogen und rückübersetzt worden sein kann; die Vermutung liegt nahe, daß Novalis diesen Aufsatz Herders audi nicht in der deutschen Ausgabe der „Vermischten Philosophischen Schriften" (Bd. I, S. 109-148), sondern in der ersten Sammlung von Herders „Zerstreuten Blättern" (Gotha 1785) gelesen hat, da dieses Werk bereits in seinem Bücherverzeichnis von 1790 aufgeführt wird (IV, 471, Nr. 4). Im Folgenden wird zitiert nach: Sämmtlidie Werke, hg. von B. Suphan, Bd. X V , S. 304-326.

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huis wiederkehrt und seine Idee des goldenen Zeitalters bestimmt 80 . Für Herder ist daher audi die unendliche Annäherung an das Idealziel kein Anlaß zur Resignation und Wehmut, sondern muß bejaht werden: „Die Hyperbel nähert sidi der Asymptote, aber sie erreicht sie nie: zu unsrer Seligkeit können wir nie den Begrif unsers Daseyns verlieren, und den unendlichen Begrif, daß wir Gott sind, erlangen . . . Wir nahen uns der Vollkommenheit, unendlich vollkommen aber werden wir nie" 51 .

Ist hier das Unendlidikeitsziel im Sinne der deutschen idealistischen Philosophie bejaht, so ergibt sich aus Hemsterhuis' Sehnsucht nadi einer Allverbundenheit alles Seienden und dem Wissen um ihre irdische Unerfüllbarkeit ein anderes Bild der Welt - seine Hinwendung zur Palingenesie und Metempsydiose sowie seine Apotheose eines goldenen Zeitalters unbegrenzter Liebesverbundenheit. Entscheidend ist dabei das neue Lebensgefühl, das trotz aller aufklärerischen Psychologie und aller rationalen Beweisversuche seiner Schriften dem Sudien der Frühromantik und insbesondere des Novalis entgegenkam. Sdion in seinem Dialog ,Simon, ou des facultés de l'âme', der um 1780 entstanden ist, hatte Hemsterhuis die Idee eines vergangenen, mythischen goldenen Zeitalters mit der Erscheinung der Aphrodite Urania, der himmlischen Liebe verknüpft. Wie Diotima, die göttliche Priesterin der Wahrheit, dem Sokrates erzählt, schuf Zeus einst, da er beschlossen hatte, dem Menschengeschlecht das Dasein zu geben, die Seele des ersten Mensdien als ein reines Wesen („essence pure"), das jeder Art von Sensation und Tätigkeit fähig war: „La différence entre cette essence et celle de Jupiter, est que celle-ci sent et agit sans moyens par la toute-présence divine; tandis que l'autre a besoin de moyens pour sentir et pour agir, ce qui constitue les bornes de sa nature" (T. II, p. 227).

Zeus übergab nun dieses Wesen dem Prometheus, damit dieser das göttliche Werk vollende und ihm jene Mittel oder Organe verleihe, mit denen es wirklich leben, empfinden und wirken könne. In Form einer mythischen Erzählung - die zugleich eine bedeutsame Abwandlung des Prometheus-Mythos darstellt, wie ihn Piaton in seinem Dialog .Protagoras' überliefert hatte 32 - entwirft Hemsterhuis hier eine „wahre Theorie der menschlichen Seele" (T. II, p. 241), die trotz ihrer aufklärerischen Grundelemente eine entscheidende Verlagerung von den Verstandes- auf die Gefühlskräfte des Menschen sichtbar werden läßt. Während das Vermögen der Willenskraft dem Menschen angeboren war, so berichtet Diotima weiter, fügte Prometheus die Einbildungskraft hinzu, gleichsam als Behältnis („réceptable") für alle M Vgl. S. 292 f. u. 306 f. - Nicht zufällig erblickt Novalis gerade in der „Ehe" das tiefste Geheimnis und gleichsam das Urbild des goldenen Zeitalters, weil sie das Geheimnis der liebenden Einheit aus Zweien, die „Bildung eines gemeinsamen, harmonischen Wesens" (III, 75), verkörpert. Alle seine Märdien bringen diese „Einheit aus Zweien" symbolisch zum Ausdruck. Vgl. ferner die charakteristischen Äußerungen III, 163; II, 423; II, 18; II, 374 u. a. m. Audi daß Novalis keine Narzissus-Mythe geschaffen hat - wie sie etwa Fr. Schlegel in den Metamorphosen seiner .Lucinde' entwirft - , zeigt deutlich, daß es für ihn um keine Rückkehr zur Monotonie des Einsseins ging. Das ist wichtig zu betonen, weil der von Herder kritisierte „Mysticismus" nicht die Mystik des Novalis in ihrer tiefsten Intention trifft. Die von H. P . J Ä G E R in seiner Dissertation vertretene Kennzeichnung des Novalis als eines „narzisstischen Mystikers" ist unhaltbar (Hölderlin - Novalis. Grenzen der Sprache. Zürcher Beiträge, Bd. 3. Zürich 1949, S. 105). S1 SW XV, 326. Vgl. unsere Behandlung Herders S. 174 f. « Vgl. den ersten Teil dieser Arbeit, S. 28 ff.

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diejenigen Wirkungen, Sensationen, Vorstellungen oder Ideen, die von außen kommen und haften bleiben sollen (p. 227). Er gab ihr eine unendliche Anzahl von Öffnungen oder Eingängen, d. h. die verschiedenen Sinnesorgane, etwa des Auges oder des Ohres, durch welche die Wirkungen aller sichtbaren oder hörbaren Wesen aufgenommen werden konnten, und er stahl schließlidi einen Funken jener göttlichen Intelligenz - („de ce feu sacré qui brûle sans cesse devant le trône de Jupiter, et qui répand son énergie par tout l'Olympe", p. 230) - , aus welcher der menschlidie Verstand, oder die Vernunft gebildet wurde: jenes Organ, das alle Vorstellungen, Wahrnehmungen und Ideen überwacht, sie ordnet, vergleicht, zusammensetzt und zu einem Ganzen verbindet. Schon hier erhebt sidi die Prophetie einer künftigen Vervollkommnung des Menschen, die sich an die unendlidie Ausbildbarkeit seiner O r gane knüpft. Denn nodi sind aus der großen Zahl der Wahrnehmungsmittel, denen die Wirkungen aller Wesen durch ein Vehikulum („véhicule"), ζ. Β. des Lichtes im sichtbaren, der Luft im hörbaren Bereich, übermittelt werden, nur wenige bekannt; aber der T a g wird kommen, wo der Mensch durch all diese Röhren und Zugänge Ideen und Sensationen erhalten wird (p. 228/29) : „II y a des milliers de véhicules dont les vibrations ne sont pas encore arrivées jusqu'au tuyaux qui sont faits pour les recevoir. Voyez cette étoile brillante d'Orion; s'il n'y avoit que dix mille ans qu'elle fût sortie du sein de la nature, il vous faudroit bien des siècles encore avant que vous vous apperçussiez de son existence; et supposons qu'il n'y eût rien de visible que la brillante étoile d'Orion, il vous faudroit bien des siècles avant que vous sussiez que vous avez ce bout de perceptibilité, ce tuyau que vous appelez l'oeil . . . " (p. 229/30). Im Laufe der Zeit, wenn sidi der Mensch dem Triebe der Vervollkommnung ergibt, werden daher neue Organe zum Vorschein kommen: „C'est alors que nos rapports avec les dieux deviennent plus immédiats, et que l'univers se manifeste à nous de plusieurs côtés qui sont encore dans le néant pour vous et pour les autres hommes . . ( p . 247/48). Aber die Menschen blieben audi nadi dem W e r k e des Prometheus, f ü r das er am Kaukasus büßen mußte, sehr unvollkommene Wesen. Denn noch hatten sie nichts, was sie untereinander verknüpfte: sie lebten vereinzelt und isoliert, in ständiger Feindschaft, und die Erde tränkte sich mit ihrem Blut. D a nun Zeus d a r a n dachte, das ganze Menschengeschlecht wieder zu vernichten, bat ihn Aphrodite Urania, das angefangene W e r k vollenden zu dürfen, und bewahrte die Mensdien so vor dem Z o r n des Göttervaters: „Elle descend, et avec elle les amours, les vertus, et tout ce qui fait la béatitude du céleste séjour. Les exhalaisons éthérées qui précèdent ce cortège se répandent sur toute la surface du globe. Les âmes humaines dont la source est divine, s'imbibent aisément de l'haleine de la déesse . . . A l'instant même le monde change, et la terre est couverte de fleurs. L'homme vole vers l'homme pour l'embrasser, pour lui jurer un amour éternel . . . Il vit et adora pour la première fois l'auguste image de la justice dans la figure de son frère . . . Astrée et la paix régnent, et l'âge d'or paroît ... et les dieux et les hommes furent confondus ..." (p. 232). Die Göttin der Liebe also ist es, die ein goldenes Zeitalter auf Erden h e r a u f führt, in dem sidi Götter und Mensdien untereinander mischten. Sie vollendet die Schöpfung und verleiht den Mensdien die vierte Fähigkeit, jenes „moralische Prinzip, Mittel oder Organ", das alle Wahrnehmungen und Vorstellungen im inneren,

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geistig-sittlichen Bereich vermittelt (p. 234); in ihrem Gefolge kehren daher audi Gerechtigkeit und Frieden mit allen Tugenden bei den Menschen ein. Im Gegensatz zum römischen Denken, dem Astraea, die Gerechtigkeit, als Göttin des goldenen Zeitalters erschienen war, greift Hemsterhuis, der Griechenverehrer, nicht zufällig hier auf Anschauungen zurück, die - durch Piaton vermittelt, als dessen begeisterter Schüler sich der holländische Philosoph zeitlebens betrachtete - erstmals bei Empedokles aufgetaucht waren. Schon der Vorsokratiker hatte, in Abweichung von allen anderen Überlieferungen, Kypris oder Aphrodite als Göttin des goldenen Zeitalters verherrlicht. Dem entspricht es nur, wenn auch der Antagonismus von Liebe und Streit als metaphysisches Grundprinzip und die Lehre von der Allverwandtschaft alles Lebendigen bei Hemsterhuis wiederkehren und Berührungspunkte mit dem griechischen Denker offenbaren, die in einem einzelnen Mythenzug zusammengefaßt und sichtbar gemacht werden können 33 . Die himmlische Liebe, die das moralische Organ im Menschen erweckt und damit die Allgegenwart der Götter in der Menschennatur zum Ausdrude bringt („dans la nature humaine la toute présence des dieux", p. 232), kann allein die Menschen lehren, nebeneinander fortzuschreiten, sich zu lieben und zu achten, sich gegenseitig Hilfe zu leisten und ein harmonisches Ganzes unter sich zu bilden („à faire un tout harmonieux ensemble", p. 245/46). Diotima spricht zwar von „Urzeiten", denn, wie sie ausdrücklich hinzufügt, der Mensch habe das kostbare Geschenk der Göttin nicht ganz zu erhalten gewußt. Den K e i m habe er indessen bewahrt („il en a conservé le germe, qui, cultivé avec besoin, produit les mêmes fruits", p. 233). Hier ist bereits jene Verbindung zwischen der Idee eines wiederkehrenden goldenen Zeitalters und der Liebe als einer „synthetischen" Grundkraft hergestellt, wie sie das romantische Denken später aufnehmen und wie sie namentlich bei Novalis, der in fast wörtlicher Übereinstimmung mit Hemsterhuis die Liebe als „Keim des goldnen Alters" (I, 35) und als „alleinige, ewige Basis aller wahrhaften, unzertrennlichen Verbindung" ansah (II, 57), beherrschend werden sollte 34 . Aber Hemsterhuis hat auch seinem Dialog ,Alexis, ou de l'âge d'or', der zwei Jahre später entstand und uns an die eigentliche Betrachtung seiner Geschichtsphilosophie heranführt, eine Widmung vorangestellt, die in diesem Sinne zu verstehen ist - wendet er sich dodi an seine Diotima, die Fürstin Gallitzin, und Übermacht ihr das Werk mit den Worten : „Mais je ne trouve rien dans ce siècle de fer à quoi je puisse confronter mon ouvrage, afin de juger de sa valeur; j e vous l'adresse, avec prière de vouloir bien M Vgl. den ersten Teil dieser Arbeit, S. 27 (Empedokles, Fragment 128 u. 130: „Bei ihnen gab es noch keinen Gott des Krieges oder des Schlachtgetümmels, keinen König Zeus oder Kronos oder Poseidon, sondern Königin war die Liebe . . . Damals waren alle Geschöpfe zahm und zutraulich gegen die Menschen, die wilden Tiere und die Vögel, und Liebe war unter ihnen entglommen"). Diese Mythenabwandlung Hemsterhuis' zeigt deutlich die emotionale Komponente seines Wesens, die trotz seiner dem aufklärerischen Geiste verhafteten Analyse der menschlichen Seelenkräfte auf die Romantiker vorausweist, und kennzeichnet seine Ablehnung der römischen Antike gegenüber dem neu entdeckten Griechentum, die durch Hemsterhuis' Bekenntnis unterstrichen wird, er sei „als Grieche geboren, als Platoniker" (Phil. Schriften, ed. J . Hilß, a. a. O. I, X X V I ) . 34 Vgl. P. KLUCKHOHN, Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der deutschen Romantik. Halle a. S. 1922, S. 228 ff. - Das Stichwort „Liebe als synthetische Kraft" findet sich bereits in Hardenbergs philosophischen Studienheften von 1795/96 (II, 275).

Hemsterhuis und Fichte

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l'évaluer; car s'il reste encore en-deçà des Elysées un type vrai de l'âge d'or, je le chercherais vainement ailleurs que dans l'âme sainte et pure de Diotime." (T. II, p. 110)

Von den Briefen Hemsterhuis' an die Fürstin sind uns, neben einigen Fragmenten, zwei Briefe aus dem Jahre 1780 vollständig überliefert, die ein interessantes Licht auf die Entstehung und ursprüngliche Konzeption seines Dialogs .Alexis' werfen. Er habe sich, schreibt er am 23. November 1780 seiner Freundin, ständig in der Betrachtung des Menschen und dessen, was er eines Tages sein müsse („ce qu'il doit être un jour"), geübt und sich davon überzeugt, daß man die sogenannten Übel der Menschheit sowohl der Erscheinung wie der Natur nach überwinden könne. In diesem Zusammenhang wird die erneute Lektüre Hesiods erwähnt, dessen Weltalter-Dichtung ihm plötzlich in einem ganz anderen Lichte erschienen sei: „L'autre jour je lus dans le magnifique poème d'Hésiode, intitulé ,les travaux et les jours', le tableau qu'il fait de l'âge d'or qui me frappa plus que jamais. J'avois toujours cru que cet état n'étoit qu'une fiction des poètes, mais quoique les poètes l'aient beaucoup orné, en y regardant de plus près, on verra que cet état a du exister nécessairement ..." (Hilß I, XIX).

Eben diesem Nachweis, daß ein vergangenes goldenes Zeitalter „notwendig" habe existieren müssen, ist der folgende Gedankengang des Briefes gewidmet. Wenn audi die Dichter diesen idealen Zustand ausgeschmückt haben - ein Argument, das schon im Chiliasmus ständig gegen die mythisdie Überlieferung erhoben worden war 35 - , so ergibt sich dodi aus der Betrachtung des Menschen, daß er, der im U r zustand sich kaum vom Tiere unterschieden haben wird, der heute aber, dem ihm innewohnenden Prinzip der Vervollkommnung („principe de perfectibilité") folgend, sich durch seine Kenntnisse, durch Künste und Wissenschaften, vor allem aber durch sein moralisches Feingefühl unendlich vom Tier unterscheide, einmal einen Zustand erreicht haben muß, in dem seine Kenntnisse seiner Lebensstufe vollkommen angemessen waren und im harmonischen Gleichgewicht zu ihr standen: „Vous verrez qu'au moment que cette perfectibilité étoit parvenue jusqu'à quelque connoissance de saisons et d'agriculture, les effets de ce principe étoient précisément analogues et proportionnés à l'état de l'homme en qualité d'habitant de ce monde, et v o i l à l ' â g e d ' o r . . . " (Hilß I, X X ) .

Das Prinzip der Vervollkommnung führte allerdings über diesen glücklichen Zustand hinaus. Es lehrte den Menschen, die Himmel zu messen, die Meere zu überschreiten, die Metalle aus dem Schöße der Erde zu graben, Kriege zu führen und andere Menschen zu beherrschen. Aber daraus ergibt sich nur die Folgerung, daß einst ein Zustand kommen wird, der diesem unendlichen Zuwachs seiner Kenntnisse und Fähigkeiten angemessen sein und ihren Mißbraudi verhindern wird: „Si l'homme qui n'est qu'un animal sur ce globe, a dans lui un principe qui par sa nature l'a déjà mené infiniment au delà de l'âge d'or, c'est à dire au delà de son bonheur et de sa perfection en qualité d'habitant de la terre et même déjà jusqu'à un état absurde si on le compare à l'état qui conviendroit à l'homme comme animal, il est de toute évidence que l'existence de l'homme sur ce globe n'est que passagère et que par sa nature il tient à tout autre diose . . . " (Hilß I, X X ) . ss

Vgl. d e n ersten T e i l dieser A r b e i t , S. 194 f. (Lactantius); S. 237 f. (Oetinger).

18 Mahl, Die Idee des goldenen Zeitalters

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Frühzeit und Auseinandersetzung

mit Hemsterhuis

und Fichte

Wenn Hemsterhuis diesen kommenden Glückszustand auch in sehr weiter Ferne sieht und mit seinem Lieblingsgedanken der Metempsychose verbindet - „car il est certain", heißt es in seiner Antwort auf die enthusiastische Entgegnung der Fürstin, „que les neveus de nos neveus auront déjà passé par plusieurs autres façons d'être que cette vie, avant que mon âge d'or se manifeste sur ce globe" (I, XXII) - , so ist es dodi von entsdieidender Bedeutung, daß mit diesem ersten Entwurf eines künftigen goldenen Zeitalters bereits die R ü c k k e h r des Menschen zum Naturzustand abgelehnt und damit auch das Rousseausdie Idealbild von einem glücklichen Gleichgewicht der frühen Menschheit, das in der rationalistischen Interpretation der Hesiodeischen Urzeitlehre nachzuklingen scheint, verworfen wird: „II est impossible que l'homme puisse jamais retourner à cet âge d'or d'Hésiode", f ä h r t Hemsterhuis ausdrücklich in seinen Überlegungen fort. „Lorsque la perfectibilité de l'homme qui n'a point de bornes dans sa nature, en trouvera enfin dans l'imperfection et le petit nombre des ses organes comme habitant de la terre, l'homme retournera en arrière, il corrigera les défauts absurdes de sa marche désordonnée, et on verra de nouveau sur cette même planète un âge d'or infinitement supérieur à celui des poètes" (Hilß I, X X I ) .

Hier erscheint zum ersten Male - noch vor der Auseinandersetzung Kants und Schillers mit Rousseau - der Gedanke einer Wiedergewinnung des Naturstandes auf höherer Bewußtseinsebene, einer Vereinigung der glücklichen Einfalt der Kindheitsepoche mit den geistigen und kulturellen Errungenschaften der menschlichen Vernunftentwicklung36. Zwar handelt es sich um eine Rückkehr, wenn man dieses Idealziel an der unbegrenzten Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen mißt, die ihn über seinen Zustand als Erdenbewohner hinaustreibt und daher unglücklich machen muß. Aber der Weg führt, in weiser Beschränkung und Lenkung jenes bisher ungeordneten, scheinbar widersinnigen Triebes, v o r w ä r t s zu einer neuen, höheren Harmonie, wie sie dem Menschen schon einmal auf primitiver Stufe als Gleichklang zwisdien seinen Wünschen und seinen Fähigkeiten geschenkt worden war. Wird in diesem frühen brieflichen Entwurf die mythische Dichtung Hesiods fast ganz fallengelassen und das vergangene goldene Weltalter stattdessen im Sinne Rousseaus dargestellt und erläutert, so haben sich in der späteren Ausführung des Dialogs .Alexis' die Vorstellungen Hemsterhuis' offenbar gewandelt und differenziert. Denn erst hier entwirft er in einer eigenartigen, die mythischen Wunschbilder mit naturwissenschaftlichen Argumenten begründenden Geschichtsschau ein goldenes Zeitalter, das der Schilderung Hesiods entspricht. Ein wesentlicher Teil des Gespräches ist daher auch der Bedeutung der Poesie als eines höheren Erkenntnisorgans gegenüber allen Wissenschaften des Menschen gewidmet, um neben den unumgänglichen „Beweisen eines goldenen Zeitalters" (T. II, p. 162) die Wahrheit der Dichtung unmittelbar aus sich selbst heraus zu rechtfertigen. „L'âge d'or d'Hésiode n'est pas un mensonge", betont Diokles gleich zu Beginn des Gespräches (T. II, p. 114). Die Menschen lebten einst göttergleich in tiefem Frieden, in vollkommener ' · Das ist vor allem gegen TH. HAERING einzuwenden, der Hemsterhuis als „sentimentalischen Liebhaber" bezeichnet, für den das goldene Zeitalter dodi letzten Endes nur Sehnsucht nach der verlorenen Vergangenheit bleibe (Novalis als Philosoph. Stuttgart 1954, S. 634).

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Rube ohne Arbeit und Kummer; die Erde lieferte ihnen ohne Anstrengung alle Früchte, die sie sidi wünschen konnten; sie starben wie von einem tiefen Schlafe überwältigt, und es gab für sie nichts Böses in der Welt. Der skeptische Alexis sieht darin Träume und Hirngespinste („rêves et songes"), denn die gegenwärtige Verderbtheit der Menschen widerspreche diesem schönen, aber fabelhaften Gemälde (p. 113/15). Zwar muß er sich von Diokles davon überzeugen lassen, daß das Prinzip der Vervollkommnung den Menschen durch die Vorstellung oder Idee eines glücklicheren Zustandes, als es der gegenwärtige war, unendlich weit über seine Anfänge hinausgeführt habe; aber er beharrt mit Redit darauf, daß dieser Weg der Menschheitsentwicklung dodi höchstens von einer primitiven Glückseligkeit, dem Zustand einiger Hirten („l'état de quelques pastres", p. 136), ausgegangen sein könne, der nichts mit den Freuden des kronischen Zeitalters zu tun habe. Erst durch einen weiteren Mythos, wie ihn ein phönizisdier Priester dem Pythagoras offenbart haben soll, kann Diokles (unter dem sich Hemsterhuis verbirgt) seinem Gesprächspartner aufweisen, weshalb diese arkadische Glückseligkeit dem Menschengeschlecht verlorenging und nur durch mythisdie Berichte in seinem Gedächtnis fortlebte. Die alte Überlieferung der Arkadier, nach welcher sie das älteste Volk der Erde seien, das schon vor der Erschaffung des Mondes gelebt habe, beruhe nämlich auf einer durch mannigfache Fabeln verkleideten Wahrheit: „Les Arcadiens ne se vantent de rien qui ne soit vrai. La terre fut habitée plusieurs siècles avant que la lune vînt l'éclairer. Dans ce temps son axe étoit perpendiculaire sur le plan de son orbite; ainsi, ses deux poles étoient également éloignés du soleil. Les jours et les nuits étoient égaux partout. Il n'y avoit point de saisons; il n'y avoit que des climats. Chaque zone de la terre conservoit toujours le même degré de dialeur sans subir le moindre changement . . . Il ne pouvoit y avoir d'autre vent que le zéphir, par le mouvement uniforme et journalier de la terre de l'occident vers l'orient . . . Les arbres étoient toujours également chargés de fruits, de fleurs et de verdure, et la riche fécondité de la terre ne trouva point d'obstacle à ses productions infinies dans la vicissitude des saisons . . . Rarement l'homme quittoit la zone qui l'avoit vu naître; puisqu'il ne se trouvoit nulle part aussi bien que chez lui. Chaque homme se croyant l'être le plus heureux de la terre, toute ambition, tout esprit de propriété ou de conquête étoit impossible ... Ce fut alors que l'homme, pour qui tout mal et toute crainte étoient absurdes, quitta la vie comme il quitta la veille, ou plutôt le sommeil . . . Voilà l'état heureux de l'homme avant l'apparition de la lune . . ( p . 140-144).

Der Weltalter-Mythos wird hier also durch eine naturwissenschaftliche Theorie erklärt und „bewiesen", die uns in ähnlicher Form schon im Chiliasmus des 18. Jahrhunderts, bei Oetinger, begegnet war, nur daß sie dort der kommenden „großen Veränderung in der Natur" als Erklärungsgrund diente. Audi Rousseau hatte sich ihrer bereits in seinem ,Essai sur l'origine des langues' bedient 37 . Die Fußnoten, die Hemsterhuis diesem Beridit des Diokles hinzufügt, zeigen deutlich seine eigentümliche, audi sonst aufweisbare Zwischenstellung, sein Schwanken zwisdien einer ra57 Oetinger, Sämmtlidie Schriften, a. a. 0 . VI, 24/25; Oeuvres Complètes de J. J. Rousseau, a. a. 0 . I, 388 f. Vgl. den ersten Teil dieser Arbeit, S. 238 f. - Novalis nimmt übrigens in seinen Freiberger Studien diesen Gedanken auf (»Die Entstehung des Mondes mag wohl manche Veränderung auf unsrer Erde veranlaßt haben - vide Hemsterhuis", III, 35, Nr. 92) ; ähnlidi Friedrich Schlegel in seinen neuerdings veröffentlichten Fragmentheften (Krit. Schlegel-Ausgabe, Bd. XVIII, hg. von E. Behler, MünchenPaderbom-Wien 1963, S. 173, Nr. 577).

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tionalistisdien Beweisführung, wie sie dem aufklärerischen Standpunkt entspricht, und einer diditerisdi-ahnenden Verkündigung, wie sie dem Lebensgefühl der Romantiker entgegenkam. Die „Pflicht des Kommentators" führt ihn dazu, durch mehrere, sorgfältig aufgezählte Beweisschichten die Annahme zu stützen, daß ein goldenes Zeitalter vor dem Erscheinen des Mondes möglich und denkbar gewesen sei. Neben den antiken Überlieferungen - wobei es bezeichnend erscheint, daß Hemsterhuis wiederum gegenüber der Arkadien-Vorstellung Vergils auf die älteren, griechischen Mythen und Sagen zurückgreift, wie sie Plutarch und Ovid vermittelt hatten - , neben orientalischen Sprichwörtern, übereinstimmenden Paradiesessagen und ältesten Kometenberichten, die ohne Vorurteil („sans préjugé") betrachtet werden müssen, werden vor allem astronomische Beobachtungen der Gegenwart herangezogen und durch Zeichnungen erläutert, die den Mond als einen früheren Kometen erscheinen lassen, der bei seinem Eintritt in die Anziehungskraft der Erde jene Neigung der Erdachse bewirkt habe, aus der sich alle Veränderungen der Natur und der menschlichen Lebensverhältnisse erklären lassen (p. 179-184). Physikern, Astronomen und Geometern stehe es zu, darüber zu urteilen (p. 185), doch deute alles darauf hin, daß hier ein „vernünftiger" Erklärungsgrund der alten Sagen aufgedeckt werden könne. Die „greuelvolle Katastrophe", die diesem glücklichen Zustand der Menschheit ein Ende bereitete, wird in dem folgenden Bericht des Diokles ausführlich geschildert. Flecken verdüsterten den azurenen Himmel, dessen Heiterkeit noch nie getrübt worden war, die Flüsse traten über die Ufer und überschwemmten die Erde; ein neues Gestirn erschien am Himmel, das alle Elemente in Verwirrung brachte und auch das Dasein des Menschen zerriß : „ L'homme, qui peu auparavant adoroit dans chaque astre, dans chaque fleur, dans chaque frère, à chaque aurore, un dieu propice dont le soleil parut le plus parfait symbole, crut voir dans cet astre nouveau celui d'un dieu . . . malfaisant de destruction et de ténèbres; ce qui fut la première source de la folle idée d'un bon et d'un mauvais principe ... L'homme vit pour la première fois la mort sous un nouvel aspect, comme un état forcé . . ( p . 146).

Die Harmonie der Urzeit war damit gestört; der Tod zerschnitt nun das Dasein des Menschen in zwei Teile, in das gegenwärtige, irdische Leben und in ein jenseitiges, das noch dazu sehr unbestimmt und zweifelhaft schien: denn der Mensch hatte durch die große Katastrophe des Erdballs gewisse Wahrnehmungen und Empfindungen verloren, die ihn einstmals mit der geistigen Wesenswelt verknüpft hatten und die ihm diese Zerreißung des unendlichen Zusammenhanges aller Dinge und Wesen als Irrtum seines begrenzten Wissens hätten begreiflich machen können (p. 169; 149). Jetzt erst begann jener Vervollkommnungstrieb zu wirken, der den Menschen zunächst zu einem glücklichen Zustande führte, wie er dem des Tieres ähnlich war zu einer Vollkommenheit, die durch das zwar harmonische, aber primitive Gleichgewicht zwischen seinen Begierden und ihren möglichen Befriedigungen gekennzeichnet ist: ein goldenes oder vielmehr „silbernes" Zeitalter {„cet âge d'or, ou plutôt d'argent"), das dem Naturzustand Rousseaus entspricht und das nunmehr ausdrücklich von dem ersten, mythischen Weltalter unterschieden wird. „ V o i l à d e u x â g e s d ' o r d e n a t u r e f o r t d i f f é r e n t e " (p. 169). Aber eben jener un-

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bestimmte Vervollkommnungstrieb war es audi, der dem Menschen dieses Glück bald verächtlich werden ließ, der ihn - im Gegensatz zum Tier, das auf dieser Stufe stehen blieb - ständig weitertrieb, in unersättlichem Genußdrang zu Habgier und Herrschsucht verführte und so zum „elenden Wesen auf Erden" machte; bis endlich - hier ist Hemsterhuis ganz Aufklärungsphilosoph - der Weise durch eine aufgeklärte Philosophie („philosophie éclairée") den Menschen lehrte, aufs neue die Gegenwart an die Zukunft zu knüpfen. Damit eröffnet sich die Aussicht auf ein „drittes" goldenes Zeitalter: „II aura lieu, mon dier, lorsque les sciences de l'homme seront parvenues aussi loin qu'avec ses organes actuels il aura pu les porter; . . . lorsqu'il appercevra la disproportion absurde entre ses désirs et ce dont il peut jouir sur la terre, et lorsque, voyant les étranges effets qui en résultent, il retournera sur ses pas et trouvera un salutaire et juste équilibre entre ses désirs et les objets placés dans sa sphère d'activité actuelle; enfin, lorsqu'enrichi de toutes les lumières dont sa nature ici bas est susceptible, il y joindra l'heureuse simplicité de son premier état qu'il en décorera . . . " (p. 170).

Im Grunde bleibt Hemsterhuis auch hier, mit seiner Theorie vom .équilibre entre les désirs et les objets' - das ist von der Forschung stets übersehen worden - , Rousseau verpflichtet, wenngleich es sich für ihn um eine Rückkehr auf h ö h e r e r Stufe handelt. Kennzeichnend für diese Abhängigkeit sind die erwähnten Briefe an die Fürstin Gallitzin, in denen das mythische Weltalter Hesiods (obwohl bewiesen werden soll, daß es keine „fiction des poètes" sei) nodi ganz in den Naturzustand der Menschen verlegt wird: nicht eine kosmische Katastrophe also hat dieser früheren Konzeption nach den Urzustand beendet, sondern ein im Menschen notwendig angelegter Trieb zur Vervollkommnung, der ihn rastlos über die Stufe der natürlichen Bedürfnislosigkeit hinaustrieb88. Demgegenüber hat sich zwar im .Alexis' das Bild gewandelt, da diese primitive Glückseligkeit nun einem „silbernen Zeitalter" zugewiesen und von dem arkadischen Glück der Urzeit ausdrücklich unterschieden wird. Aber verräterisch wirkt die Tatsache, daß das erwartete goldene Zeitalter der Zukunft nach wie vor dem vergangenen silbernen zugeordnet wird, als dessen Wiederherstellung auf einer höheren Bewußtseinsebene es folgerichtig gedeutet werden muß. So kommt es, daß die eigentliche Sehnsucht Hemsterhuis' auch über dieses „dritte" Zeitalter hinausführt. Das Vervollkommnungsprinzip des Mensdien deutet in der Tat nodi auf einen „anderen Zustand" hin, von dem bereits im Briefe an die Fürstin die Rede war und der im irdischen Leben keine Erfüllung finden kann: „Croirez-vous", fragt Diokles seinen Gesprächspartner, nachdem er ihm die unendlichen Hoffnungen und Wünsche des Menschen auf seinem Wege zur Vervollkomm98 Diese eigentümlidie Unentsdiiedenheit zwischen der Rechtfertigung des Hesiodeischen Mythos im ,Alexis' und seiner Preisgabe bzw. Identifizierung mit dem Rousseauschen Naturzustand kommt auch darin zum Ausdrude, daß Diokles im Gespräch plötzlich „philosophisch" zu reden verspricht und daraufhin das goldene Zeitalter als ein „bildliches Wort" (terme figuri) definiert, worunter er lediglich den Zustand eines Wesens verstehen will, „qui jouit de tout le bonheur dont sa nature et sa façon d'être actuelle sont susceptibles" (T. II, p. 163), Wir haben hier ein weiteres Beispiel für die Zwischenstellung Hemsterhuis', für sein Schwanken zwischen rationaler Begrifflichkeit und gleichnishaft andeutender Dichtung - so daß A. W. Schlegels Bemerkung: „Hemsterhuys Werke mögen intellektuelle Gedichte heißen", einen treffenden (wenn auch vielleicht nicht beabsichtigten) Sinn erhält (Athenäums-Fragment Nr. 142; Minor, a. a. O. II, 225).

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nung geschildert hat, „que cette terre est l'élément qui convient à sa nature?" (p. 165). Und wenig später gibt er selbst die Antwort: „Pour l'âge d'or de l'homme après cette vie, ses jouissances y seront plus intimes, plus cohérentes; et toutes ses connoissances s'y confondront, comme les couleurs de l'iris se confondent au fond d'un crystal, et ne forment ensemble qu'une lumière pure, parfait image de l'astre brillant qui les porta dans son sein" (p. 170).

Was Novalis an dieser Erneuerung des antiken Mythos fesseln konnte, war nicht die aufklärerische Grundhaltung Hemsterhuis', der allen Zweifeln und Einwänden naturwissensdiaftlidie Argumente entgegensetzt, durch welche die Wahrheit der Hesiodeisdien Dichtung b e w i e s e n werden soll - läßt er dodi später in seinen .Lehrlingen zu Sais' bei der Aufnahme solcher mythischer Bilder jede rationale Begründung bewußt fallen und bemerkt zu seinen .Blütenstaub'-Fragmenten lakonisch: „Beweise bleib idi schuldig" (IV, 220). Es war auch nicht so sehr das triadische Sdiema der Geschichtsbetrachtung, wie es durch Hemsterhuis' Lehre von den sieben Stufen der Weltentwicklung deutlich genug hindurchschimmert und das Zielbild des „dritten" goldenen Zeitalters als eine Synthese der verlorenen Kindlichkeit mit den Einsichten der vorangesdirittenen Kulturstufe erscheinen läßt - das war eine Betrachtung, die in jenem Jahrzehnt allgemein verbreitet war, so daß es gewagt scheint, hier überhaupt von Abhängigkeiten sprechen zu wollen. Schon eher mag der Hinweis auf ein „höheres Leben", dem des Holländers eigentliche Sehnsucht galt und das den Tod in die Idee eines zukünftigen goldenen Zeitalters mit hineinzog, seinem Empfinden bei der Lektüre im Jahre 1797 entsprochen haben. Berücksichtigt man aber die Rolle, die Hemsterhuis der P o e s i e in diesem Dialoge zuweist, und jenes Bewußtsein, daß unsere den Grenzen von Raum und Zeit widerstrebende Seele nur im U n e n d l i c h e n ihre wahre Heimat haben könne, so scheint erst von diesen Gedanken der eigentliche Anstoß für Novalis ausgegangen zu sein. Das Elend des Menschen nach jenem kurzen Glück des Naturzustandes beruht nadi Hemsterhuis darauf, daß er in der eiteln und törichten Hoffnung weiterschritt, „de trouver dans la quantité de ces objets finis et déterminés, cet infini analogue au grand principe indéterminé qui l'agitoit" (T. II, p. 166).

Dieser Gedanke, der sidi bei Hemsterhuis unmittelbar mit der Klage über die verlorenen Organe für dieses Unendliche verbindet und der zur Lehre von dem einzigen, zur Aufnahme des Göttlichen und Schönen nodi fähigen „moralischen Organ" führt, kam dem Lebensgefühl des Novalis wie der Romantik überhaupt entgegen. Nicht zufällig kehrt er gleidi zu Beginn der .Blütenstaub'-Fragmente wieder und intoniert das Grundthema der ganzen Sammlung: „Wir suchen überall das Unbedingte, und finden immer nur Dinge" (II, 15). Die Erwartungen, die Hemsterhuis an die Ausbildbarkeit des moralischen Organs knüpfte, nannte Novalis daher „echt prophetisch" (II, 350), und bis in die letzten beiden Lebensjahre hinein hat er sich immer wieder mit ihnen beschäftigt (vgl. III, 149; 288). Denn jener nahm nicht nur eine unendliche Progression von Organen an („une progression infinie d'organes qui feroient connoître une progression infinie de faces de l'univers", T. I, p. 176/ 77), sondern ihm erschien das moralische Organ zugleich als jene allmählich wachsende, innere Fähigkeit der Empfindung, die in den verborgenen Zusammenhang,

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in die ewige Harmonie und Ordnung des Universums schon jetzt sidi einzufühlen, alle isolierten Ideen und Vorstellungen zu verbinden und so die „Coexistenz der Dinge" ahnend zu erfassen vermag: „II y a des hommes dont l'organe moral est si sensible, ou dont la conscience sent des rapports si éloignés, que, pour ainsi dire, ils ne peuvent être membres de la société actuelle" (T. I, p. 176/77).

Dieses höhere Erkenntnisorgan äußert sich aber vor allem in der dichterischen Einbildungskraft, durch welche die Menschen auch Kunde von jenem vergangenen goldenen Zeitalter erhalten haben. Die Dichtung ist, wie es im Dialog .Alexis' heißt, göttlicher Herkunft und vermag uns, wie der „Enthusiasmus" überhaupt, in die unsichtbare Weltharmonie einzuführen, zu deren Erfassung die übrigen menschlichen Organe nur beschränkt fähig sind: „D'ailleurs, ce n'est pas sans raison que la poësie est appelée le langage des dieux; du moins c'est le langage que les dieux dictent à tout génie sublime qui a des relations avec eux, et sans ce langage nous ferions très-peu de progrès dans nos sciences . . ( T . II, p. 154).

Die Dichter kennen jene glücklichen Augenblicke der Begeisterung, in denen wir dem Busen der Natur einige Funken des Wahren und Schönen entreißen, und sie scheinen deshalb mit der Gottheit in engerer Verbindung zu stehen („avoir des relations plus intimes avec la divinité", p. 157). Ihre Sprache, die den kalten, abgemessenen Gang des Verstandes verläßt und einer tätigen Begeisterung („enthousiasme actif") entstammt, ist daher Offenbarung wie die Worte des Orakels zu Dodona oder Delphi. „Ainsi, vous voyez que la poësie, soit qu'elle naisse de l'effort d'un grand génie, ou qu'un souffle divin la produise, préside à tous les arts et à toutes les sciences, et qu'elle est non-seulement à l'auguste vérité ce que les Grâces sont à l'Amour, mais ce que l'Aurore est à la statue de Memnon qu'elle éclaire, et qu'elle fait parler" (p. 158; vgl. Novalis II, 295).

Wenn hier der Poesie ein göttlicher Hauch („un souffle divin") zugeschrieben wird und dem dichterischen Geist die Fähigkeit, die getrennten Vorstellungen und Ideen zusammenzubringen („la faculté de rapprocher le plus et le mieux ces idées, qui fait naître le beau et le sublime"), so ist es auffällig und für die Interpretation des Dialogs wesentlich, daß am Schlüsse audi das Wissen um ein künftiges goldenes Zeitalter dem gleichen Vermögen zugeordnet wird. Zwar scheint Diokles alle weiteren Fragen des Alexis abwehren zu wollen, indem er bemerkt: „Pour savoir quelque chose de plus du dernier âge, il faut avoir recours aux oracles des dieux", aber er fährt fort: „il faut qu'wra souffle divin rapproche tellement nos idées que nous sentions tous leurs rapports" (p. 170/71). Eben diese Fähigkeit war vorher den Diditern zuerkannt worden. Die dichterische Verkündigung des goldenen Zeitalters läßt Hemsterhuis deshalb auch gelegentlich - in eigentümlichem Widerspruch zu seiner rational-begrifflichen Erörterung - als einen B e w e i s für seine Wahrheit gelten. Hatte ihm die Fürstin geschrieben, daß über den Zustand des Menschen in der vergangenen und künftigen Welt aus Mangel an Tatsadienwissen („manque de data") wenig gesagt werden könne, so entgegnet Hemsterhuis, daß man audi eine

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geometrische Wahrheit in sich f ü h l e n könne, bevor der Verstand den Beweis dazu liefere. Die Erdbewegung, die uns heute als unbezweifelbare Wahrheit erscheine, sei vor Jahrtausenden, als man die Wahrheit zu fühlen begann, unglaubwürdig gewesen: „Pythagore a senti cette vérité, mais il n'en a jamais eu cette espèce de conviction, que donne l'intellect, faute de data que les siècles suivants et un travail assidu nous ont donnés" (Hilß I, XXIII).

Dieser Vorrang des Gefühls gegenüber dem Intellekt, der Ahnung gegenüber dem Wissen, des Enthusiasmus als „Quelle wahrer Poesie" gegenüber der kalten Besonnenheit der Wissenschaft (p. 162), läßt Hemsterhuis als Wegbereiter der Romantik erscheinen. Auch Alexis muß bekennen, daß sein Mißtrauen gegen die Träume der Dichter nur aus seiner vollkommenen Unkenntnis jener tätigen Begeisterung abzuleiten sei : „Je sens", fährt er fort, „que le raisonnement le plus profond, la mardie la plus sage et la plus réfléchie de l'intellect, nous fourniroit très-peu de vérités nouvelles, si elle n'étoit soutenue, dirigée ou poussée par cet e n t h o u s i a s m e qui rapproche les idées" (p. 161).

Der gleidie Enthusiasmus hat aber auch das Bild des vergangenen und des künftigen goldenen Zeitalters in der dichterischen Einbildungskraft geweckt, und die Philosophie bedarf daher der Poesie („la philosophie doit beaucoup à la poésie", p. 162); ja, man kann sogar sagen, daß der Augenblick der Begeisterung in sidi schon ein Erleben des goldenen Zeitalters i s t. Denn die Einheit und Harmonie des Universums ist vorgegeben, ist gegenwärtig - hier ist der entscheidende Differenzpunkt zwischen Hemsterhuis und Novalis! - , nur der Mensch ist aufgrund seiner unvollkommenen Organe noch nicht reif zu ihrer Erfassung, zum Mitschwingen und Aufgehen in ihr. Was jetzt nur in einzelnen, vergehenden Augenblicken des künstlerischen Schaffens oder Nachempfindens als Akten der Begeisterung möglich ist, wird im goldenen Zeitalter Dauer haben - dort, wo alle Erkenntnisse „ineinanderfließen" werden und der höchste Genuß der göttlichen, allumfassenden Harmonie eröffnet wird. Diese neue Einschätzung der Poesie als einer höheren, ekstatischen Erkenntniskraft gegenüber allen Wissenschaften, die zugleidi dem Ideal eines goldenen Zeitalters verbürgte Wirklichkeit und glaubenfordernde Madit zuweist, kehrt bei Novalis, vertieft und ungleich reicher ausgestaltet, wieder. Ist ihm doch später die Poesie wie die Religion „die unmittelbar wirkende Gottheit unter den Menschen" und „das wunderbare Widerlicht der höhern Welt" (I, 236). Aber Hemsterhuis hier wie überall Übergangserscheinung zwischen Rationalismus und Irrationalismus - hatte die goldene Zeit noch mit den alten Begriffen der Vervollkommnung (perfectibilité), der Glückseligkeit (bonheur) und des Genusses (jouissance) verbunden; vor allem war ihm dieser „Genuß", diese höchste Wesenseinung der Seele mit dem Weltall, ganz als passive, durch keine Organe gehemmte Hingabe und Verschmelzung des Menschen mit dem Universum erschienen. Die verborgene Harmonie des Seins ist die „moralische", d. h. geistig-seelische Wesensseite der Welt (la face morale de l'univers), keine transzendente Sphäre, sondern die nämlidie Welt, die der Verstandesmensch irrtümlicherweise nur von ihrer materiellen, ihrer niedersten

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und ärmsten Seite her sieht. „Wissen wir denn - weldie Entdeckungen uns auf dieser Seite noch vorbehalten sind - ? Die moralische Seite des Weltalls ist nodi unbekannter und unermeßlidier, als der Himmelsraum", notiert sich Novalis in leidenschaftlicher Ergriffenheit bei seinen Hemsterhuis-Studien (II, 291). Den Zugang zu dieser wahren Wesenswelt eröffnet das moralische Organ, das sich aber eben deshalb ganz aufnehmend, ganz passiv und leidend verhalten muß: „Nous sommes passifs dans toutes les sensations que nous avons des différentes faces de l'univers: nous sommes passifs dans les sensations d'impénétrabilité et de dialeur, de mesure et de son, de contour et de couleur, de désir et de devoir . . . La différence apparente entre la nature de l'organe moral, et entre celle des autres organes, résulte uniquement de ce que pour cet organe le moi lui-même devient un objet de contemplation, comme toutes les autres dioses connues sont des objets de contemplation pour nos autres organes . . . " (T. I, p. 195/96).

Das goldene Zeitalter des vollkommenen Genusses - für Hemsterhuis, wie wir gesehen haben, durchaus nicht identisch mit dem im .Alexis' gezeichneten Bilde des „dritten" Zeitalters - wird daher den Menschen ganz als passiven Spiegel, als liebende Mitempfindung des universalen Wesenszusammenhanges sehen. Die Welt bedarf keiner Erlösung, keines hingebend-einfühlenden Dienstes durch den Dichter, damit das goldene Zeitalter Wirklichkeit werde. Gerade hier ist der Ort, an dem Novalis über Hemsterhuis und seine ganze Theorie von désir und jouissance hinausgeht. So weist er schon 1797, unmittelbar von der Lektüre des Dialogs .Alexis' ausgehend, aber in charakteristischer Fortbildung der Gedanken des Holländers, der Poesie eine einheitsstiftende Kraft zu, die sie bei Hemsterhuis, im passivischästhetischen Erfassen der Harmonie und Schönheit, nicht besaß: „Die Poesie b i l d e t die sdiöne Gesellschaft oder das innere Ganze - die Weltfamilie, die sdiöne Haushaltung des U n i v e r s i . . . Durdi die Poesie wird die hödiste Sympathie und Koaktivität - die innigste, herrlichste Gemeinschaft w i r k l i c h " (II, 294).

Die Allsynthese besteht nicht, sondern sie ist unendliches, durch die Poesie zu vollziehendes Ziel, ein Imperativ, der auf die Weltmission des Geistes zurückweist. Ein scheinbar geringfügiger Zusatz zur .Lettre sur l'homme et ses rapports' zeigt, daß Novalis hier über Hemsterhuis hinauszugehn gewillt ist und seine kritischen Vorbehalte stillschweigend in die Lektürenotizen einschaltet: „Die Welt - wie wir sie itzt sehn, ist die Summe unsrer jetzigen, von unsrer Seite p a s s i v e n Verhältnisse] mit Gott" (II, 290). Der aufklärerisch-eudämonistische Terminus „Genuß", den Hemsterhuis an die Spitze seiner Theorie des Verlangens gesetzt hatte (T. I, p. 61ff.), wird durch diese Hervorkehrung eines aktiv-sdiöpferischen Wesenselementes im Menschen umgeformt oder ganz fallengelassen. Novalis wehrt sich in einem Briefe an A. W. Schlegel vom 12. Januar 1798 ausdrücklich dagegen, „ein so flüchtiges Wesen, wie Glückseligkeit, zum hödisten Zweck, gleichsam also zum ersten Träger des geistigen Universums zu machen";

es sei „eigentlicher Unsinn mit dem sogenannten Eudämonismus", denn die bloße „Glückseligkeit" könne niemals als Endzweck aller tätigen Bildung und Liebe gelten (IV, 223). Ja, seine Liebe wendet sich gerade dem „Unvollständigen" zu, das

Frühzeit und Auseinandersetzung

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mit Hemsterhuis und Fichte

uns weiterführen kann, während „das Vollständige . . . n u r genossen" wird (II, 347). Das sind sehr aufschlußreidie Umformungen, die für die Idee des goldenen Zeitalters und den in ihr enthaltenen Erlösungsauftrag des Dichters entscheidend werden. Indessen darf man nicht übersehen, daß solche Modifikationen von Novalis nicht im Sinne einer kritisch-polemischen Auseinandersetzung vorgenommen werden, sondern gleichsam von vornherein in sein Verständnis des Holländers mit eingehen; was ihn wie die Romantiker überhaupt an diesem rein äußerlidi anzog, war gerade die lockere, ausdeutbare Form seiner Gedanken: die gleichnishafte, andeutende, nie alles bis zum Letzten aussprechende Lebendigkeit der Rede und Gegenrede. In diesem Sinne hatte schon Friedrich Schlegel vom Enthusiasmus Hemsterhuis' gesprochen, der aus den gewöhnlichsten und einfachsten Worten wie von selbst eine „Sprache in der Sprache" bilde: „Denn das ist das schönste an diesem schönen Sanskrit eines Hemsterhuys oder Plato, dass nur die es verstehen, die es verstehen sollen"»·. Ganz ähnlidh notiert sich Novalis „eine herrliche Stelle" aus Hemsterhuis und deutet sie dahingehend, daß alle echte Wahrheit „wegweisend" sein müsse, nur Themata und Anfangssätze bringen dürfe, um jemand auf den rechten Weg des Nach- und Weiterdenkens zu weisen: „Sie ist nur für Tätige, für Wahrheitliebende da - die analytische Ausführung des Themas ist nur für Träge oder Ungeübte . . . " (II, 298/99). Darin bestand eben die Fruchtbarkeit von Hemsterhuis' Ideen - das gilt namentlich audi für die Idee des goldenen Zeitalters - , daß er die eigentliche Arbeit des Zuendedenkens und Entfaltens dem kommenden jungen Geschlecht überließ. Gerade dieser in Novalis immer schon angelegte, aktiv-schöpferische Zug des Geistes, der seiner Sehnsucht nach Hingabe und liebender Verbundenheit eigentümlich korrespondierte, mußte durch die Beschäftigung mit Fichte bestätigt und verstärkt werden. Wenn wir die oben zitierte „herrliche Stelle" bei Hemsterhuis näher prüfen, so ergibt sich, daß ihre Deutung durch Novalis bereits in einem Sinne erfolgt ist, der auf Fichtes Appell an die Selbsttätigkeit des Lesers zurückweist. Bei Hemsterhuis heißt es lediglich: „Mais, dans ces cas, c'est à lui qui écoute, d'y remédier, en s'attadiant à la mardie de l'intellect de celui qui parle, bien plus qu'aux mots qu'il prononce. Par ce moyen ces mots se traduiront d'eux mêmes dans la tête de celui qui écoute et y seront remplacés par des signes qui lui sont plus familiers" (T. II, p. 168).

Die Textstelle bei Novalis (II, 298f. u. II, 317) zeigt in sehr aufschlußreicher Weise, wie er sich hier von einem Gedanken hinreißen läßt und ihn „zuende" denkt, der bei Hemsterhuis nur ganz flüchtig angedeutet wird und keinesfalls die grundsätzliche Bedeutung hat, die Novalis ihm beilegt. Dagegen scheint seine Weiterführung dieses gedanklichen „Inzitaments" (II, 17), das sich in einer pointierten Erörterung über „Geist und Buchstaben der Philosophie" entfaltet, viel eher und auffälliger durdi Fidites .Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre' bestimmt zu sein, wo es heißt: „Die Wissenschaftslehre ist von der Art, daß sie durch den bloßen Buchstaben gar nidit, sondern daß sie lediglich durch den Geist sidi mitteilen läßt; weil ihre Grund"

Ueber die Philosophie (1799); Minor, a. a. 0 . II, 335/36.

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ideen in jedem, der sie studiert, durdi die sdiaffende Einbildungskraft selbst vorgebracht werden müssen" 40 .

her-

Das ist ein sehr instruktives Beispiel nicht nur für die Tatsache, daß sich die Einflüsse beidier Denker in Novalis überschneiden und von vornherein die Auffassung des einen oder anderen modifizieren können, sondern ganz augenfällig audi für die Art und Weise, wie Novalis den einen der beiden Denker d u r c h den anderen interpretieren kann, ohne sidi eines Gegensatzes zwischen ihnen bewußt zu werden - seiner eigenen harmonischen Natur vertrauend und im Grunde in allen fremden Gedanken sein persönlichstes Wesen wiederfindend. Wenn Fichte sich in seinen 1794 erschienenen Vorlesungen ,Über die Bestimmung des Gelehrten' mit Rousseau und der Idee eines goldenen Zeitalters auseinandersetzte, so klang hier ein ganz anderer Ton auf, der die Sehnsucht nach dem Unendlichen, nach der Einheit von Natur und Geist ganz auf das ethisch-vernünftige Handeln des Menschen zurückführte und im mitreißenden Pathos dieses Tätigkeitsdranges zugleich die Besonnenheit wahrte, das Idealziel in eine unerreichbare Zukunft zu verlegen. Im Gegensatz zu Rousseau (aber in Übereinstimmung mit Hemsterhuis) wird die Rüdekehr zum Naturstand als unmöglich abgelehnt - der Mensch soll den ganzen Weg der Bildung durchlaufen haben und nun wieder „leben wie das Tier auf der Weide neben ihm"? - , aber zugleich wird der „untätige Naturstand", „das goldene Zeitalter des Sinnengenusses ohne körperliche Arbeit", als Sehnsuchtsbild einer trägen und empfindsam träumenden Phantasie überhaupt verurteilt: „Die Natur ist roh und wild ohne Menschenhand, und sie sollte so sein, damit der Mensch gezwungen würde, aus dem untätigen Naturstande herauszugehen, und sie zu bearbeiten, - damit er selbst aus einem bloßen Naturprodukte ein freies vernünftiges Wesen würde . . . Der Mensch ist von Natur faul und träge, nach Art der Materie, aus der er entstanden ist . . . So viel, als immer möglich, zu g e n i e ß e n , und so wenig, als immer möglich, zu t u n - das ist die Aufgabe der verdorbenen Natur . . . Es ist kein Heil für den Mensdien, ehe nicht diese natürliche Trägheit mit Glück bekämpft ist, und ehe nicht der Mensch in der Tätigkeit, und allein in der Tätigkeit seine Freuden und all seinen Genuß findet. Dazu ist das Schmerzhafte, das mit dem Gefühl des Bedürfnisses verbunden ist. Es soll uns zur Tätigkeit reizen . . . " ( a . a . O . I, 271).

Das Bedürfnis, das Rousseau als Quelle alles Übels betrachtet und der glücklichen Unschuld und Bedürfnislosigkeit der Urzeit entgegengesetzt hatte, ist für Fichte also der entscheidende „Antrieb zur Tätigkeit und zur Tugend"; das vergangene goldene Zeitalter dagegen ist nichts anderes als eine trügerische Rückspiegelung der menschlichen Sehnsucht, die sich diesem Antrieb entziehen und in die scheinbare Vollkommenheit der ersten, primitiven Einfalt und Harmonie zurückflüchten möchte. Denn in Wahrheit liegt der Idealzustand v o r uns; es ist „eine besonders in der Vor40 Fichtes Werke, a. a. O. I, 476. Dem entspricht audi die frühere Studiennotiz des Novalis, die wohl im Zusammenhang mit seiner Lektüre der .Wissenschaftslehre' niedergeschrieben wurde: „Die Fichtische Philosophie ist eine Aufforderung zur Selbsttätigkeit: idi kann keinem etwas erklären von Grund aus, als daß ich ihn auf sich selbst verweise, daß ich ihn dieselbe Handlung zu tun heiße, durch die idi mir etwas erklärt habe. Philosophieren kann ich jemand lehren, indem ich ihn lehre, es ebenso zu machen wie ich - Indem er tut, was ich tue, ist er das, was ich bin, da, wo ich bin . . ." (II, 181).

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Frühzeit und Auseinandersetzung

mit Hemsterhuis und Fichte

weit häufig vorkommende Erscheinung, daß das, was wir w e r d e n sollen, gesdiildert wird, als etwas, das wir schon g e w e s e n sind, und daß das, was wir zu erreichen haben, vorgestellt wird als etwas Verlornes; eine Erscheinung, die ihren guten Grund in der menschlichen Natur hat" (I, 271). Der Mythos, dessen historische Wahrheit Hemsterhuis hatte beweisen wollen, erscheint hier also ganz als illusionäre, der trägen Menschennatur entstammende Spiegelung des nur „durch Sorge, Mühe und Arbeit" zu erreichenden Zukunftszieles in einer sagenhaften Vergangenheit41. Was Rousseau unter dem Namen des Naturstandes und „die alten Dichter . . . unter der Benennung des goldenen Zeitalters" so verlockend ausmalen, das wird nun mit edit Fichteschem Pathos als Aufgabe und Bestimmung des Menschengeschlechtes verkündet und in seiner unendlichen Ferne ethisch gerechtfertigt: „Die vollkommene Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst, und . . . die Ubereinstimmung aller Dinge außer ihm mit seinen notwendigen praktischen Begriffen von ihnen, - den Begriffen, welche bestimmen, wie sie sein s o l l e n , - ist das letzte höchste Ziel des Mensdien . . . Alles Vernunftlose sich zu unterwerfen, frei und nach seinem eignen Gesetze es zu beherrschen, ist letzter Endzweck des Menschen; welcher letzte Endzweck völlig unerreichbar ist und ewig unerreichbar bleiben muß, wenn der Mensch nicht aufhören soll, Mensch zu sein, und wenn er nicht Gott werden soll. Es liegt im Begriffe des Menschen, daß sein letztes Ziel unerreichbar, sein Weg zu demselben unendlich sein muß . . . Aber er kann und soll diesem Ziele immer näher kommen: und daher ist die A n n ä h e r u n g ins unendliche zu diesem Ziele seine wahre Bestimmung als Mensch, d. i. als vernünftiges, aber endliches, als sinnliches, aber freies Wesen . . . " (I, 227/28).

Das herrische Selbstbewußtsein der Fichteschen Ich-Philosophie, das die ganze Natur als vernunftloses Nicht-Ich in einem ursprünglichen, ethisch fundierten Freiheitsverlangen des Menschen aufgehen lassen möchte und das der Frühromantik (trotz dieser früh empfundenen Einseitigkeit) die theoretische Begründung ihres Einheitsstrebens vermittelte, klingt in diesen und ähnlichen Wendungen seiner Vorlesung ständig auf und macht den Unterschied zu Hemsterhuis' passiverem, ästhetischeinfühlendem Wesen deutlich. Für Fichte liegt die Vernunft mit der Natur in einem stets dauernden Kampfe, und „dieser Krieg kann nie enden, wenn wir nicht Götter werden sollen; aber es soll und kann der Einfluß der Natur immer schwächer, die Herrschaft der Vernunft immer mächtiger werden" (I, 244). Das goldene Zeitalter als letztes Ziel der Menschheitsentwicklung wird den höchsten Trieb im Menschen, den „Trieb nach I d e n t i t ä t " , nach vollkommener Übereinstimmung mit sich selbst und allem, was außer ihm ist, befriedigen; „allen Begriffen, die in seinem Idi liegen, soll im Nicht-Ich ein Ausdruck, ein Gegenbild gegeben werden" (I, 232). Aber dieses Idealziel ist für Fichte nicht mehr als eine Utopie, deren Sinn sich in dem dadurch ausgelösten, unendlidien „Streben" des Menschen erschöpft - denn er weiß, 41 Erst später, in den 1806 erschienenen .Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters', setzt sich auch bei Fichte die regressiv-progressive Geschichtsbetrachtung durch, die den Tiefstand in der mittleren Epoche erblidct - während er sich 1794 noch, im Sinne Kants, zum Aufklärungsoptimismus bekennt, was wohl durch die Polemik gegen Rousseau mitbedingt ist. - Zur Entwicklung Fichtes, auf die wir nicht weiter eingehen, vgl. das instruktive Werk von E. v. SYDOT, Der Gedanke des IdealReichs in der idealistischen Philosophie von Kant bis Hegel . . . Leipzig 1914, S. 32 fif. Hier wird insbesondere auch die Verlagerung der zeitlichen Perspektive von dem unendlichen Zukunftsziel auf ein innerhalb der Geschichte sich verwirklichendes, sittliches und staatliches Idealreich seit 1804 näher beleuchtet (a. a. 0 . S. 51 ff.).

Hemsterhuis und Fidite

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daß „Ideale in der wirklidien Welt sich nicht darstellen lassen", daß die Wirklichkeit lediglich nadi ihnen „beurteilt" und von denen, die dazu Kraft in sich fühlen, „modifiziert" werden müsse (I, 220). Diese Unerreichbarkeit des Ideals ist indessen kein Grund zur Resignation oder Flucht in eine verlorene, sehnsüchtig ausgemalte Vergangenheit, denn gerade aus der unaufhörlichen Annäherung und gebieterisch geforderten Selbsttätigkeit des Menschen ergibt sich seine wahrhafte Bestimmung: „ H a n d e l n ! H a n d e l n ! d a s i s t es, w o z u w i r d a s i n d " (I, 273). Dieser Appell an die Tätigkeit, der Fichtes ganze Philosophie durchzieht und seinen transzendentalen Idealismus als eine einzigartige Begründung und Rechtfertigung der menschlichen Freiheit erscheinen läßt42, mußte Novalis gegenüber Hemsterhuis wähl verwandt berühren. Es läßt sich aufzeigen, wie stark die „Freudigkeit zu handeln" (IV, 25) schon frühzeitig und bis an sein Lebensende in ihm beherrschend war; wie er die „anhaltende Energie der Tätigkeit" für sein ganzes Dasein als notwendig erachtete (IV, 106); wie er seinem Bruder Erasmus die körperlichen Leiden durch „moralische Tätigkeit" erträglich machen will (IV, 136; 111); wie ihm „der Weg zur Ruhe . . . nur durch den Tempel (das Gebiet) der allumfassenden Tätigkeit" zu gehen scheint (III, 108) - bis hin zu jenen erschütternden Worten des Todkranken im Herbst 1800, die noch „die wahrhaft himmlische Lust der Tätigkeit" preisen (IV, 407). So können ihm - im Gegensatz zu Hemsterhuis! - Wirksamkeit und Genuß geradezu zu Synonymen werden (II, 219), und größte Macht über uns nicht diejenigen Empfindungen gewinnen, die uns als Leidende am tiefsten bestimmen, sondern die in ihrer Dunkelheit und Unauflösbarkeit unsere Wirksamkeit am stärksten reizen, zur Selbsttätigkeit herausfordern (II, 277). Sein Lebensgefühl kommt in jenen Worten zum Ausdrude, die er im Februar 1798 an Karoline Just schreibt: „Zum Genuß des Guten schein ich nicht gemacht zu sein - . . . in unaufhörlichem Streben nach einem dunkeln Etwas begriffen" (IV, 226). Aber es bedarf gar nicht dieser biographischen Hinweise, die beliebig ergänzt werden könnten 48 ; begriff Novalis dodi die ganze Philosophie als Nötigung zur Selbsttätigkeit (II, 330) und prägte vor allem seinem künstlerischen Selbstbewußtsein diesen schöpferisch-handelnden Zug auf, der dann in seiner Idee des goldenen Zeitalters charakteristisch wiederkehrt. Denn es ist eine künstlerische Lust, die hier im Spiele ist, eine Lust an der freien Gestaltung des widerstrebenden Stoffes, die Fidites Forderung, daß der Mensch „sich selbst bestimmen und nie durch etwas Fremdes sich bestimmen lassen" soll (a.a.O. I, 225), auf den ästhetischen Bereich überträgt 44 und sich gelegentlich, wiederum in radikaler Entgegensetzung zu

42 Vgl. dazu die von Fichte selbst gegebene Begründung seines ganzen Systems in der .Ersten Einleitung in die Wissenschaftslehre' von 1797; Fidites Werke, a. a. O. III, 1 ff. 43 Vgl. IV, 27 (Ablehnung der Frühjahrsstimmung, „wo die Seele im untätigen, wollüstigen Empfangen und Genießen schwimmt . . ."); IV, 69 („Ich habe nur einen Zweck - der ist überall erreichbar, wo ich tätig sein kann"); IV, 198 („Diesen Sommer will idi redit genießen, redit tätig sein . . ."); III, 164 („. . . in der Krankheit . . . möglichste Tätigkeit aller Art"); III, 288 („Nichts bewahrt gewiß so sicher vor Unsinn - als Tätigkeit"); III, 337 („Tätigkeit soll mich kurieren"); III, 350 („.. . große, ruhige, einfache und vielumfassende Tätigkeit . . .") usw. 44 Vgl. die charakteristischen Äußerungen II, 193; II, 272 unten; II, 278/79 („Empfindung der Freiheit ist Empfindung der Lust . . „ A l l e r Stoff schränkt die Freiheit ein - alle Handlung dehnt sie aus . . . " ) .

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Frühzeit und Auseinandersetzung mit Hemsterhuis und Fichte

Hemsterhuis' Begriff eines passiv-einfühlenden Genießens, zu der erstaunlichen Bemerkung versteigen kann: „Je lebhafter das zu Fressende widersteht, desto lebhafter wird die Flamme des Genußmoments sein . . . (Notzucht ist der stärkste Genuß.)" (III, 80). So frappierend diese Äußerung aus dem Munde eines Novalis klingt, so sehr entspricht sie einem schöpferischen Lebensgefühl, dem das Handeln, das „Tun und Hervorbringen mit Wissen und Willen", als künstlerisches Weltprinzip schlechthin erscheint (I, 34). Auch der unbedingte Wille zur Tatumsetzung seiner Ideen, zur „Realisierung der kühnsten Wünsche und Ahndungen" (IV, 231), zum Leben dessen, was er wollte und erschaute, hat hier seine Wurzel. In dieser Hinsicht mußte er durch den Tat-Idealismus Fichtes und dessen Appell an die Selbsttätigkeit des Menschen bestärkt werden und war ihm „Aufmunterung schuldig" - wenn er auch die „unendliche Idee der Liebe" bei ihm vermißte und „nichts von diesem Schöpfungsatem" spürte, der ihm bei Hemsterhuis als Sehnsucht nach Hingabe und Vereinigung mit dem Universum entgegentrat (IV, 153). Gegenüber der Passivität des Holländers wird Novalis die Idee des goldenen Zeitalters als eine Erlösungsaufgabe des Menschen aufnehmen, die innerhalb der Dichtung die Vergegenwärtigung des Ideals als höchsten Reiz zur „Erhebung des Menschen über sich selbst" (II, 327) anstrebt; die Harmonie der Natur mit dem Geiste, der Welt mit der Überwelt ist nicht vorgegeben und bedarf nur des erfassenden Organs im Menschen, um „genossen" zu werden, sondern sie muß erst entbunden, herbeigeführt werden, und der Mensch, der Liebende und der Dichter, ist „das Organ ihres Kontakts" (III, 102): „Der allgemeine, innige, harmonische Zusammenhang ist nicht, aber er s o l l sein" (III, 164). Gegenüber Fichte aber wird Novalis die Natur nicht als das „Vernunftlose" empfinden, das unterworfen und frei beherrscht werden soll, sondern als das „Du" eines lebendigen Wesens, das in seiner Verzauberung und Entfremdung durch liebende Hingabe erlöst werden soll: „Freiheit und Liebe ist eins" (III, 137). So bestätigen sich in seiner Beschäftigung mit diesen beiden Denkern, in deren Spannungsfeld Novalis zu sich selbst gefunden und seine Gedankenwelt ausgebildet hat, zwei immer schon in seinem Wesen harmonisch angelegte Seiten, die sein Verständnis des goldenen Zeitalters modifizieren45. Das Unendlichkeitsziel Fichtes wie die Jenseitserwartungen Hemsterhuis' mit ihrer Einbeziehung des Todes als „Übergang" zu einem höheren Leben wirken bei Novalis fort und bestimmen den Doppelaspekt seiner Fragmente und Dichtungen. Solange er empirisch dachte und über das goldene Zeitalter reflektierte, hielt er an der unendlichen Annäherung fest und bezeichnete die dichterische Vergegenwärtigung des Idealzieles als „Fiktion", die indessen notwendig sei, um Glauben zu erwecken und die Idee des goldenen Zeitalters als „Approximationsprinzip" wirksam werden zu lassen (III, 150; 106). Aber die mystische Erfahrung auf dem Grabe Sophiens hatte ihn auch darüber belehrt, daß Zeit und Raum überhaupt Täuschungen seien und eine Erhebung über sie zu den Aufgaben der Poesie als einer zukunftsweisenden Macht gehöre. Diesen Weg gilt es zunächst im Überblick über die philosophischen Studien der Jahre 1795-1797 zu entwickeln. 4 5 Zu ähnlichen Ergebnissen kommt U . FLICKENSCHILD in ihrer Dissertation, a. a. 0 . S. 15 ff. Sie geht freilich nicht näher auf die Idee des goldenen Zeitalters ein.

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3. Die Idee des goldenen Zeitalters und des tausendjährigen Reidies in den philosophischen Studienheften von 1795-1797 Als „dringende Einleitungsstudien auf mein ganzes künftiges Leben . . . und notwendige Übungen meiner Denkkräfte" (IV, 116) kennzeichnet Novalis selbst die Beschäftigung der Jahre 1795/96, wie sie sich in den philosophischen Studien und Bemerkungen dieser Zeit lebendig abspiegelt. Die Datierung der Studienblätter, die seit Theodor Haerings umfangreichem Werk in Zweifel gezogen worden ist, darf nach eingehender Untersuchung der wieder zugänglich gewordenen Handschriften für die Neuauflage der kritischen Novalis-Ausgabe als endgültig geklärt angesehen werden 4 ·. Vor allem durch eine „mühsame Untersuchung der Fichtischen Philoso48 Vgl. TH. HAERING, Novalis als Philosoph, a. a. 0 . S. 588-604 (.Zusammenfassendes zur Chronologie des Nachlasses"). Haering kommt auf Grund terminologisdier und sachlich-inhaltlicher Kriterien nicht nur zu Umstellungen in der bisherigen Anordnung der Blätter, sondern audi zu dem weitreichenden Schluß, daß die Gesamtmasse der Studiennotizen II, 103-283 keinesfalls vor 1797 anzusetzen sei, also mit den Hemsterhuis-Studien II, 284 ff. in das gleidie H a l b j a h r falle und insgesamt erst nach dem Tode Sophiens, diesem f ü r Novalis so bestimmenden Erlebnis, entstanden sei. Da diese Auffassung mittlerweile durch die Neuordnung der Handschriften, die vom Verf. dieser Arbeit vorgenommen wurde, widerlegt worden ist und in dem demnächst erscheinenden zweiten Band der Neuauflage eine ausführliche Begründung d a f ü r vorgelegt werden wird (s. Einleitung zu Abt. I I : Philosophische Studien der J a h r e 1795/96), erübrigt sidi hier eine kritische Auseinandersetzung. Die Neuordnung der Fichte-Studien, die unabhängig von der Gesamtansetzung der Handschriften auf den Zeitraum zwischen Herbst 1795 und Sommer bis Herbst 1796 eine grundlegende Korrektur der bisherigen relativen Chronologie der 1. Auflage ermöglicht hat, beruht im Unterschied zu Haerings Mutmaßungen auf einer Prüfung aller handschriftlichen Kriterien sowie auf einer durchgängigen Beobachtung der bisher nur unzureichend erkannten gedanklichen und syntaktischen Verzahnungen zwischen den einzelnen Blättern und Blattlagen, die zu überraschenden Ergebnissen geführt haben. Im folgenden Abschnitt ist diese Neuordnung berücksichtigt worden, ohne daß in einzelnen Fällen darauf aufmerksam gemacht wird, da dies f ü r den von uns hervorgehobenen Deutungsaspekt keine besondere Rolle spielt. - Dennoch ist das Verfahren Haerings methodisch sehr aufsdilußreich und sollte, von seiner Unkenntnis der handschriftlichen Verhältnisse und den daraus resultierenden Irrtümern abgesehen, für die Novalis-Forschung den W e r t eines negativen Paradigmas gewinnen. Denn der entscheidende Einwand muß sich gegen das einseitig philosophisch orientierte Blickfeld des Verfassers richten. Angesichts der Unsicherheit der von ihm vertretenen Argumente führt Haering nämlich wiederholt das Kriterium der philosophischen „Reife" ins Feld, mit dem er bestimmte Gedanken gegenüber anderen, die sich durch ihre „sprachliche Primitivität" von ihnen abheben, als später geschrieben ausweisen möchte: „Man muß meist zufrieden sein", heißt es S. 602/03, „wenn man mit Sicherheit sagen kann, daß die einen Ausführungen offenbar reifer sind, als die anderen, und darum später angesetzt werden dürfen". In diesem Zusammenhang wird etwa der Abschnitt II, 184-223 auf Grund seiner „vielfach größeren sprachlichen Primitivität" dem von II, 224 ff. (der sich bekanntlich enger an die Fichte-Terminologie anschließt) vorgeordnet. D a ß unter dieser negativen Kennzeichnung eine, im Gegensatz zu begriffsschärferen und exakteren Gedankengängen, unbestimmter und mit umgangssprachlichen Wendungen vorgetragene Meditation zu verstehen ist, liegt nahe und wird durch eine nähere Prüfung des fraglichen Abschnitts erwiesen. Nun finden sich aber gerade hier Bemerkungen, die im Denk- und Sprachstil auf die Blütenstaub-Fragmente voraufweisen (etwa II, 195; 208/09; 216/17; 218 ff.). Es muß daher stutzig machen, wenn an diesem Abschnitt die „sprachliche Primitivität" gerügt wird; eine Untersuchung der Handschriften hat denn auch gezeigt, daß diese nach Papierbeschaffenheit und Sdiriftzügen eindeutig den Handschriften von II, 224 ff. nachzuordnen sind. Der Maßstab der philosophischen „Reife" beginnt plötzlich fragwürdig zu werden; denn er wird, wie aus den Interpretationen Haerings hervorgeht, durch die Art und Weise erstellt, wie Novalis „die Anstrengung des Begriffs" (im Sinne Hegels) auf sich nimmt, d. h. wie ihm die terminologisch präziseste Fixierung des Gedankenganges gelingt (vgl. S. 192). Nun bedürfte es einer ausführlicheren Untersuchung, um zu zeigen, daß doch offenbar, wenn überhaupt von einer „Entwicklung" des Novalis gesprochen werden darf, diese auf sprachlich-stilistischem Gebiet vor sich geht und gerade umgehehrt verläuft, als es der Gesichtspunkt der philosophischen „Reife" wahrhaben will: nämlich vom präg-

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Frühzeit und Auseinandersetzung

mit Hemsterhuis

und Fichte

phie" (IV, 319) sucht sidi Novalis eine eigene philosophische Methode zu erarbeiten, um sich „in diesem furditbaren Gewinde von Abstraktionen zurechtzufinden" (IV, 208). Dabei ist er sidi der Vorläufigkeit, des „transitorischen Wertes" (IV, 256) der meisten dieser Aufzeichnungen voll bewußt: „Diese mannigfachen Ansichten aus meinen philosophischen Bildungsjahren können vielleicht denjenigen unterhalten, der sich aus der Beobachtung der werdenden Natur eine Freude macht", schreibt er 1798, als er unter Rüdegriff auf seine Studienhefte neue Fragmentsammlungen zusammenstellt (II, 317). „Als Fragment erscheint das Unvollkommne nodi am erträglichsten - und also ist diese Form der Mitteilung dem zu empfehlen, der noch nicht im Ganzen fertig ist - und doch einzelne merkwürdige Ansichten zu geben hat" (II, 379).

In der Tat fordern diese tastenden Versuche der Frühzeit Vorsicht und sorgfältiges Abwägen, da sie nicht „Fragmente" im Sinne einer ganz bewußt gewollten und konzipierten Kunstform, sondern Experimente sind, Bemühungen um Aneignung fremder Gedanken und Gespräche mit den Werken Fidites, Kants, Hemsterhuis' und anderer, nicht immer sdion persönlich geprägte „Bruchstücke des fortlaufenden Selbstgesprächs in mir" (IV, 219); obwohl sich schon frühzeitig, vor allem durch die Sorge um Sophiens Leben bestimmt, sehr persönliche Bemerkungen einsdiieben können, die die abstrakt-begrifflichen Erörterungen fühlbar verwandeln und das Gepräge seiner „innigsten Überzeugung" tragen (IV, 256). Beim Lesen müsse er unaufhörlich die Feder in der Hand haben, schreibt Novalis im Januar 1797 an Friedrich Schlegel (IV, 165), und aus dieser halb exzerpierenden, halb weiterdenkenden und selbständig fortschreitenden Gedankenfolge erklärt sich der eigentümliche Charakter seiner Studienhefte - eine Mischung von diskursiv erörterten Problemen der Wissenschaftslehre, von flüchtig festgehaltenen Einfällen und Gedankenblitzen, von etymologischen Begriffsuntersuchungen und stärker ausgeformten, bereits an einen imaginären Leser sidi wendenden Bemerkungen. Als Niederschlag eines „Gespräches" dürfen sie alle verstanden werden, sei es nun mit Büchern, mit sich selbst oder einem vorgestellten Gesprächspartner geführt - ist doch für Novalis das Gespräch die unverkennbare Grundform aller seiner Produktionen und audi in der Stilstruktur seiner späteren Fragmente und Dichtungen deutlich ablesbar 47 . nanten, treffenden und fixierenden Terminus zum unbestimmten, in der Ausgespieltheit des Wortes assoziativ-vieldeutigen, .allfähigen" Ausdrude, wie er dann in den Blütenstaub-Fragmenten, in deutlichem Gegensatz zu den Studiennotizen, mit Vorliebe verwandt wird. Da es möglich ist, einige in die Sammlungen von 1798 übernommene und „abgekehrte" Fragmente (IV, 228) mit ihren Vorstufen innerhalb der Studiennotizen zu vergleichen, lassen sidi für diesen stilistischen Prozeß überzeugende Belege erbringen; so werden in der Tat „treffende" Begriffe häufig durch „ausgespielte" Worte ersetzt, das erarbeitete philosophische Begriffssdiema durch konkrete Vorstellungen „aufgefüllt", die Sphären des abstrakten Denkens und der alltäglichen Anschauungsweise bewußt vertauscht, wodurch der Leser „mystifiziert" werden soll usw. — alles dies im Sinne einer ganz bestimmten und von Novalis ständig durchdachten romantischen Stiltendenz. Diese Stil- und Formkriterien aber spielen für Haering keine Rolle. Der einseitig philosophisch-systematische Gesichtspunkt, für den alle Notizen des Novalis ohne Unterschied „Fragmente" und zwar im engeren Sinne „Systemfragmente" darstellen (S. 20), wirkt sich hier wie auch sonst in dem umfangreichen Werk verhängnisvoll aus und wird in der oben erörterten Datierungsfrage einmal mit wünschenswerter Deutlichkeit widerlegt: als ein dem Werke des Novalis unangemessenes Interpretationsverfahren. 4 7 Vgl. den Brief an A. W. Schlegel vom 24. Februar 1798: „Es fehlt mir nur so sehr an Büchern noch mehr an Menschen, mit denen ich philosophieren, an denen ich mich elektrisieren könnte. Idi pro-

Die Idee des goldenen Zeitalters

in den

Studienheften

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Die Entwicklung der Gedanken des Novalis über ein zukünftiges goldenes Zeitalter - es ist bemerkenswert, daß, im Gegensatz zu den Briefen aus dem gleichen Zeitraum, die später so beherrschende Sehnsucht nach der „Vorzeit" in den philosophischen Reflexionen keine Rolle spielt - wird durch zwei Äußerungen paradigmatisch bezeichnet, die sich scheinbar unvereinbar gegenüberstehen. Im unmittelbaren Zusammenhang mit der Lektüre der Fichtesdien Wissenschaftslehre notiert sich Novalis zunächst: „Das Ziel des Menschen ist nicht die goldne Zeit - Er soll ewig existieren und ein sdiön geordnetes Individuum sein und verharren - dies ist die Tendenz seiner Natur . . ( I I , 160).

Etwas später dagegen, am Ende der Fichte-Studien, heißt es in einem anderen Zusammenhang: „Prinzip der Vervollkommnung in der Menschheit - Die Menschheit wäre nicht Menschheit - wenn nicht ein tausendjähriges Reich kommen müßte . . ( I I , 274).

Die Idee des tausendjährigen Reiches, die für Novalis schon frühzeitig als synonymer Begriff neben die Idee des goldenen Zeitalters tritt, ohne daß in ihr der religiöse Akzent eine spürbar modifizierende Rolle spielte, bringt gleichwohl an dieser Stelle einen merklichen Wechsel der Auffassungsweise zum Ausdruck. Schien es zunächst in der Natur des Menschen begründet und angelegt zu sein, daß ein künftiges Zeitalter der unbegrenzten Verbundenheit und Einheit des Getrennten unerreichbar sei, so wird nun geradezu aus dem Begriff der Menschheit heraus postuliert, daß ein solches .tausendjähriges Reich' keine leere Utopie bleiben könne, sondern geschichtliche Wirklichkeit annehmen müsse. Wie erklären wir uns dieses veränderte Blickfeld? Novalis macht sich zunächst offenbar den Fichteschen Gedanken zueigen, daß das letzte Einheitsziel, die Aufhebung des Nicht-Ichs durch das Ich und die Wiederherstellung des absoluten, Nicht-Ich und Ich umgreifenden transzendentalen Ichs (als Sphäre der Identität) ein Unendlichkeitsziel darstellt, dem man sich empirisch nur annähern, das man aber nie erreichen könne. Im näheren Zusammenhang dieser ersten Textstelle, die ausdrücklich als Bemerkung bei der Lektüre der Fichteschen Wissenschaftslehre gekennzeichnet ist, heißt es: „Wenn man philosophisch von dem, was kommen soll, z. B. von der Vernichtung des Nicht-Ich spricht, so hüte man sich für der Täuschung, als würde ein Zeitpunkt kommen, wo dieses eintreten würde. - Erstlich ist es an und für sich ein Widerspruch, daß in der Zeit etwas geschehn solle, was alle Zeit aufhebt, wie jede Verpflanzung des Unsinnlichen, Denkbaren, Subjektiven, in die sinnliche Welt der Erscheinungen. In jedem Augenblick, da wir frei handeln, ist ein solcher Triumph des unendlichen Idi über das Endliche, für diesen Moment ist das Nidit-Ich wirklich vernichtet, nur nicht der sinnlichen Existenz nach . . ( I I , 159).

duziere am meisten im Gespräch, und dies fehlt mir hier ganz" (IV, 229). - Die Erkenntnis der Gesprädisform als einer stilistisdien Grundfigur des Novalis - audi dort, wo sie, wie etwa in den Fragmenten, verschlüsselt ist - , erscheint mir wesentlidi für die Interpretation mancher Werkstellen, die bisher allzu einhellig für Novalis in Anspruch genommen worden sind, statt daß der dialektische Charakter jeder Gesprächsäußerung berücksichtigt wird. Das gilt besonders von den .Lehrlingen zu Sais' (I, 28 ff.)· Was Novalis an Dialektik des Gespräches zu bringen vermag, verraten die genial konzipierten .Dialogen' von 1798/99, die in der Forschung kaum herangezogen werden (II, 417 ff.). 19 Mihi, Die Idee des goldenen Zeitalters

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Frühzeit und Auseinandersetzung mit Hemsterhuis und Fichte

W i e sehr sich Novalis hier innerhalb der Fiditesdien Terminologie bewegt und unmittelbar an der Lektüre seinen Gedankengang entwickelt, geht vor allem daraus hervor, daß er den ihm so wesensfremden Gedanken von der „Vernichtung des Nicht-Ich" aufgreift, während er später höchstens von der „Erziehung und Bildung des Nicht-Ich" spricht, „um eines wahren Einflusses, einer wahren Gemeinschaft mit dem Ith fähig zu werden" (II, 324), und ihm „die wahren Bande der Verknüpfung von Subjekt und Objekt" (III, 157) darin zu bestehen scheinen, daß „ein Freund den andern für sidi erzieht" (III, 111) - Wendungen, mit denen er über Fichte hinausgeht und als Ausdruck eines neuen, von Hemsterhuis bestätigten Naturverständnisses schließlich den Begriff überhaupt fallen läßt und „statt Nicht-Ich - Du" sagen will (III, 158). So können wir aus dieser, von der Forschung oft überbewerteten Textstelle keine wesentlichen Schlußfolgerungen für Novalis selbst ziehen; wenn sie auch zeigt, daß der Dichter durchaus die Fichtesche Scheidung zwischen dem empirischen und absoluten Idi, zwischen dem „Unsinnlichen, Denkbaren" und der „sinnlichen Welt der Erscheinungen" versteht und hier wie auch anderen Ortes keinesfalls dem oft zitierten romantischen „Mißverständnis" anheimfällt 48 . Trotzdem ist die an dieser Stelle entwickelte Begründung der zeitlich-empirischen Undenkbarkeit einer goldenen Zeit auch für Novalis selbst kennzeichnend, denn er fährt fort: „Wie es sein soll und wird, so ists - die Sache bleibt ewig, nur die Form wechselt unaufhörlich. Die Zeit kann nie aufhören. Wegdenken können wir die Zeit nidit denn die Zeit ist ja Bedingung des denkenden Wesens - die Zeit hört nur mit dem Denken auf. Denken außer der Zeit ist ein Unding. Die Welt wird dem Lebenden immer unendlicher - drum kann nie ein Ende der Verknüpfung des Mannigfaltigen, ein Zustand der Untätigkeit für das denkende Ich kommen - Es können goldne Zeiten erscheinen, aber sie bringen nicht das Ende der Dinge - Das Ziel des Menschen ist nicht die goldne Zeit - Er soll ewig existieren und ein sdiön geordnetes Individuum sein und verharren - dies ist die Tendenz seiner Natur" (II, 160).

Novalis stellt sich hier ganz in den Rahmen der Philosophie Fichtes, die an dem Unendlichkeitsziel der menschlichen Vernunfttätigkeit festhält und die Unerreichbarkeit des vollkommenen Einklangs von Natur und Vernunft ethisch rechtfertigt. Denn als Ziel des Menschen erscheint ihm hier nicht der Zustand der Ruhe, der „Untätigkeit", sondern die als unendlich gedachte Tätigkeit, die wie alles Handeln an einen zeitlichen Ablauf gebunden ist. Das Erreichen des Absoluten ist kein erstrebenswerter Endzustand dieses Progresses, weil es die Existenz des Menschen aufheben, sein individuelles Bewußtsein vernichten würde. Es kann nicht das Ende

48 Für diese klare Unterscheidung vgl. vor allem II, 237; II, 263/64; II, 159; II, 164. Das Urteil über das „romantische Mißverständnis" der Fiditesdien Wissenschaftslehre, d. h. über die irrtümlidie Übertragung der weltsetzenden Sdiöpferkraft des absoluten Idis auf das endlidie Künstler-Ich, ist wenigstens für Novalis nidit aufrechtzuerhalten. Für Friedrich Schlegel weist es schon J . KÖRNER in seiner Ausgabe der „Neuen Philosophischen Schriften", Frankfurt 1935, S. 13 f. zurüdc. - Das Sdilagwort findet sich erstmals in Hegels Vorlesungen über die Aesthetik, in durchaus polemischer Absicht, ausgesprochen (aus dem Nachlaß hg. von H. G. Hotho. Hegels Werke, Bd. Χ , I. Abt., Berlin 1842, S. 82 ff.). Es scheint von dorther in die Literaturgeschichte eingedrungen zu sein, vor allem über Rudolf Haym, und erhält sich mit der Hartnäckigkeit, die solchen simplifizierenden, aber eingängigen Formeln von jeher eigen gewesen ist.

Die Idee des goldenen Zeitalters in den Studienheften

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des Weges sein, sondern ist vielmehr ein freies Durchbrechen der Bedingungen, ein Hinüberwechseln auf eine grundsätzlich andere Ebene, die sidi der sinnlichen Welt der Erscheinungen entzieht. Novalis, der hier „philosophisch spricht", warnt ausdrücklich vor der „Täuschung", die eintreten muß, sobald man diese Unterscheidung vernachlässigt. Denn alles Denken vollzieht sich in der Zeit, ist an die Kategorie der Zeit als „Bedingung des denkenden Wesens" gebunden, so daß ein Zustand außer der Zeit, eine goldene Zeit der vollendeten Einheit aller Wesen, die zugleich „das Ende der Dinge" bringt, weder denkbar nodi wünschenswert erscheint. So kommt es zu der im Munde eines Novalis fast paradoxen Formulierung, daß das Ziel des Menschen nicht die goldene Zeit sein könne. Ganz ähnliche Gedanken finden sich in der Tat bei Fichte, wenn es z. B. in den Jenaer Vorlesungen von 1794 heißt: „Ich kann nie aufhören zu w i r k e n und mithin nie aufhören zu s e i n . . . " „Könnten alle Menschen vollkommen werden, könnten sie ihr höchstes und letztes Ziel erreichen, so wären sie alle einander völlig gleich; sie wären nur Eins; ein einziges Subjekt . . . (Dieses Ziel) ist unerreichbar, solange der Mensch nicht a u f h ö r e n soll, Mensdi zu sein, und nicht Gott werden soll .. ."4·. Es scheint aber, daß die von Novalis aufgeworfene Zeit-Spekulation nodi durch eine andere, bisher nicht beachtete Lektüre Anregungen erfahren hat. Im Juni 1794 war in der Berlinischen Monatsschrift ein Aufsatz Kants unter dem Titel ,Das Ende aller Dinge' erschienen, in dem fast wörtlich gewisse Formulierungen des Novalis wiederkehren. In seiner philosophischen Erörterung des Begriffs der Ewigkeit und des Jüngsten Tages erinnert hier Kant an den Bericht der Apokalypse (10, 5-6), wonach ein Engel seine Hand gen Himmel heben und schwören werde, „daß hinfort keine Zeit mehr sein soll". Damit müsse gemeint sein, „daß hinfort keine V e r ä n d e r u n g sein soll"; denn wäre in der Welt nodi Veränderung, so wäre audi die Zeit da, weil jene nur in dieser stattfinden könne und ohne ihre Voraussetzung nicht denkbar sei. Und Kant fährt fort: „Daß aber einmal ein Zeitpunkt eintreten wird, da alle Verändrung (und mit ihr die Zeit selbst) aufhört, ist eine die Einbildungskraft empörende Vorstellung. Alsdann wird nämlich die ganze Natur starr und gleichsam versteinert: der letzte Gedanke, das letzte Gefühl bleiben alsdann in dem denkenden Subject stehend und ohne Wechsel immer dieselben. Für ein Wesen, welAes siA seines Daseins ... nur in der Zeit bewußt Vierden kann, muß ein solAes Leben, wenn es anders Leben heißen mag, der Vernichtung gleiA sAeinen: weil es, um siA in einen solAen Zustand hineinzudenken, do A überhaupt etwas denken muß, Denken aber ein Reflectiren enthält, welAes selbst nur in der Zeit gesAehen kann .. ."M. Für Kant ist dieser Widerspruch unvermeidlich, sobald wir „einen einzigen Schritt aus der Sinnenwelt in die intelligible thun wollen"; Novalis warnt stattdessen vor der „Verpflanzung des Unsinnlichen, Denkbaren . . . in die sinnliche Welt der Erscheinungen". In der Fortführung dieser Gedanken aber stoßen wir auf Konsequenzen, die nicht nur der Kritik Herders an Hemsterhuis, sondern auch den später zu behandelnden Folgerungen des Novalis auf das genaueste entsprechen. Denn auch Kant betont, daß der Mensch „mit der Aussicht in eine ewig dauernde Veränderung seines Zustandes . . . die Z u f r i e d e n h e i t nicht verbinden" kann, so daß die Idee eines beständigen Fortschritts und einer unaufhörlichen Annäherung an das Idealziel als unzulänglich empfunden wird: „Darüber geräth nun der nachgrübelnde Mensdi in die M y s t i k ..., wo seine Vernunft sich selbst, und was sie will, nicht versteht, sondern lieber schwärmt, als sich, wie es einem intellectuellen Bewohner einer Sinnenwelt geziemt, innerhalb den 4 · Fidites Werke, a. a. Ο. I, 250 u. 238. Daneben weist der angeführte Text Berührungspunkte zu Fidites .Grundlage des Naturredits' von 1796 auf (a. a. 0 . II, S3 u. 64). w Kants Werke, a. a. O. III, 725-27 (Akad.-Ausgabe VIII, 383/84).

19·

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Frühzeit und Auseinandersetzung

mit Hemsterhuis

und Fichte

Gränzen dieser eingeschränkt zu halten. Daher kommt das Ungeheuer von System des Laokiun von dem hödisten Gut, das im Nichts bestehen soll: d. i. im Bewußtsein, sich in den Abgrund der Gottheit durch das Zusammenfließen mit derselben und also durch Vernichtung seiner Persönlichkeit verschlungen zu fühlen ... Alles lediglich darum, damit die Menschen sich endlich doch einer e w i g e n R u h e z u erfreuen haben möchten, welche denn ihr vermeintes seliges Ende aller Dinge ausmacht; eigentlich ein Begriff, mit dem ihnen zugleidi der Verstand ausgeht und alles Denken selbst ein Ende hat"".

Die Vermutung liegt nahe, daß Novalis von diesem Aufsatz Kants Kenntnis genommen und ihn mit seiner Fichte-Lektüre in Verbindung gebracht hat 82 . Der gleiche Gedanke taucht jedenfalls in den Studienheften wiederholt auf, so daß es sich kaum um eine bloß transitorisdie Bemerkung im Zusammenhange mit seiner „mühsamen Untersuchung" der Fichteschen Philosophie handeln kann. Es wird vielmehr deutlich, daß es Novalis im Grunde genommen um jenes Problem zu tun ist, das sdion Herder gegenüber Hemsterhuis geltend gemacht hatte, wenn er dessen Resignation über die Unerreichbarkeit einer vollkommenen Vereinigung durdi den Hinweis korrigierte, daß der Mensch unmöglich „wie Meeresschleim mit allem zusammenfließen" könne: „Zu unsrer Seligkeit können wir nie den Begrif unsers Daseyns verlieren, und den unendlichen Begrif, daß wir Gott sind, erlangen" (SW XV, 326). In ganz ähnlicher Weise fragt Novalis: „Inwiefern erreichen wir das Ideal nie?" Und antwortet sich selbst: „Insofern es sidi selbst vernichten würde. Um die Wirkung eines Ideals zu tun, darf es nicht in der Sphäre der gemeinen Realität stehn. Der Adel des Idi besteht in freier Erhebung über sich selbst - folglich kann das Idi in gewisser Rücksicht nie absolut erhoben sein - denn sonst würde seine Wirksamkeit, sein Genuß, id est sein Sieg kurz, das Ich selbst würde aufhören . . ( I I , 219).

Es ist also auch hier der Gedanke, daß das Selbstbewußtsein, der „Begrif unsers Daseyns", nicht aufgehoben werden darf, der die Unerreichbarkeit des Idealzieles rechtfertigt. Novalis steht hier Herder näher als Hemsterhuis, und es bedarf nicht des ausdrücklichen Hinweises, daß der Herdersche Gedanke der „consonen Töne" gegenüber den „unisonen" (S. 322) in der Forderung des Novalis nach einer „Harmonie", nicht „Monotonie" der kommenden goldenen Zeit später wiederkehrt, um diese Verwandtschaft zu bestätigen53. Wir haben hier ein Beispiel dafür, wie das leidenschaftliche Einheitsstreben des Novalis doch niemals das Selbstbewußtsein des schöpferischen Geistes aufhebt, das dem anderen Pol seines Lebensgefühls entspricht; wie ihm aus diesem Grunde „Wirksamkeit" und „Genuß" geradezu iden-

51

III, 727/28 (Akad.-Ausgabe VIII, 335/36). Darauf deutet audi die Tatsadie hin, daß Novalis, ähnlich wie Kant, vom , E n d e der Dinge" spricht und nidit nur seine Undenkbarkeit, sondern auch den damit notwendig verbundenen „Zustand der Untätigkeit" negativ kennzeichnet (Kant: „. . . damit die Menschen sich endlich doch einer ewigen Ruhe zu erfreuen haben möchten . . ."); vgl. audi die Sdilußfolgerung II, 271 („hier ist . . . Beruhigung f ü r den Geist, den ein endloses Streben ohne es zu erreichen, was ihm vorschwebt, unerträglich dünkt"), die sich mit der W e n d u n g Kants („so kann er doch . . . mit der Aussicht in eine ewig dauernde Veränderung . . . die Zufriedenheit nicht verbinden") durchaus deckt. 53 Vgl. unsere Arbeit, S. 306 f. Das ist auch gegen U. FLICKENSCHILD einzuwenden, die Novalis stärker an Hemsterhuis heranrückt und sich gerade dabei auf die „Übernahme des Traums von der Goldenen Zeit" beruft (a. a. O. S. 17 f.). M

Die Idee des goldenen Zeitalters in den Studienheften

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tisch ersdieinen. So erklärt es sich auch, daß Novalis 1797 bei seinen HemsterhuisStudien in engem Zusammenhang mit den bisher erörterten Gedanken sidi notieren kann: „Ohne Organe würde die Seele im Moment v o n dem unendlichen Objekt durchdrung e n - beide würden Eins - und der Wechselgenuß vollkommen sein. W o sie Organe nötig hat, w i e in ihrem ganzen jetzigen Zustande, bleibt jenes Ideal des Genusses eine unerreichbare Idee - ein ewiger Reiz, weldies er durch seine Erreichung aufhören würde zu sein. Es ist also eine subjektive Idee, die wächst, so w i e die Seele wächst - eine unbestimmte Aufgabe - die nie gelöst werden kann . . . Durch die bleibende Möglichkeit der Ausdehnung des Objekts - bleibt auch die gänzliche Vereinigung immer künftig . . ( I I , 285).

Es handelt sich um eine halb exzerpierende, halb weiterdenkende Bemerkung, die sich auf Hemsterhuis' ,Lettre sur les désirs' bezieht (T. I, p. 61ff.). Auffallend aber ist, daß Novalis hier nicht wie Hemsterhuis den Schmerz der unerfüllten Sehnsucht, den „erzwungenen Zustand" der gegenwärtigen Welt hervorhebt (T. I, p. 79), sondern wie Fichte auf den „ewigen Reiz" der Tätigkeit hinweist, der das Ideal des vollkommenen Genusses notwendig in unerreichbarer Ferne hält ( a . a . O . I, 271). Die „gänzliche Vereinigung" bleibt immer künftig; aber eben damit übt sie einen ständigen Reiz auf die Tätigkeit des Menschen aus, der sich ihr anzunähern berufen fühlt und in dieser Annäherung seine Bestimmung ergreift. „Dieser Reiz kann nie aufhören zu sein - ohne daß wir selbst aufhörten", heißt es im Zusammenhang mit den Hemsterhuis-Studien (II, 301), und weiter: „Der geheimnisvolle Reiz . . . bleibt also . . . und muß, damit die Intelligenz bleibe, in alle Ewigkeit so bleiben" (II, 302). W i r werden nicht überhören dürfen, daß Novalis die vollkommene Vereinigung als eine „unbestimmte Aufgabe" bezeichnet, denn die gleiche Charakterisierung kehrt später f ü r die Fragmente und die in ihnen aufgestellten und verkündeten Postulate wieder (II, 330; 352) - ein Zeichen, daß das Ideal des goldenen Zeitalters auch in seiner poetischen Vergegenwärtigung als „Reiz" verstanden sein will, der die Selbsttätigkeit des Lesers und Hörers auf dem unendlichen W e g e dahin auslösen soll. Aus drei Gründen also hält Novalis bis hierher an der Unerreichbarkeit einer künftigen goldenen Zeit fest: Weil diese alle Zeit aufheben würde und damit dem an die Zeit gebundenen menschlichen Denken „undenkbar" erscheinen muß; weil ferner die damit eintretende „Untätigkeit" dem Wesen des Menschen widerspricht und seine individuelle Existenz aufheben würde; und weil schließlich, damit zusammenhängend, die Unerreichbarkeit des Ideals überhaupt, die nach Hemsterhuis an die unvollkommene Vermittlung der Organe gebunden ist, kein A n l a ß zu schmerzlicher Resignation sein kann, da es nur als solches ein „ewiger Reiz" sein und in der Erhebung des Menschen über sich selbst seine eigentliche Funktion erfüllen kann 5 4 . 54 Wie sehr für Novalis diese Gedankengänge in seinem Lebensgefühl verwurzelt sind, zeigt das Gedicht .Alle Mensdien seh idi leben', dessen Handsdirift kürzlich aufgefunden wurde und auf eine spätere Entstehung, als ursprünglich angenommen, hindeutet (Kl.-S. I ä , 420); die Sdilußverse lauten: .Ruh ist Göttern nur gegeben, / Ihnen ziemt der Überfluß, / Dodi für uns ist Handeln Leben, / Macht zu üben nur Genuß." Bemerkenswert ist audi, daß mit der gleichen Wendung, mit der in den

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Frühzeit und Auseinandersetzung mit Hemsterhuis und Fichte

Aber bereits 1796 erhebt sidi ein leiser Einwand gegen diese Auffassung. Novalis spricht hier (ähnlich wie Kant) von einer „Beruhigung für den Geist, den ein endloses Streben ohne es zu erreichen, was ihm vorschwebt, unerträglich dünkt". Er sieht diese Beruhigung in dem Wissen, daß es dem Geiste möglich ist, die Sphäre der Zeit zu durchbrechen oder, wie es später heißen wird, „mit Bewußtsein jenseits der Sinne zu sein" (II, 18). Denn auch hier, wo es um die Entäußerung der inneren Welt geht, „können wir nicht in d e r Z e i t dieses Ziel erreichen", „da unsre Natur . . . oder die Fülle unsers Wesens unendlich ist". Aber in einem bezeichnenden Gegensatz zu den bisherigen Äußerungen fährt Novalis an-dieser Stelle fort: „Da wir aber audi in einer Sphäre außer der Zeit sind, so müssen wir es da in jedem Augenblick erreichen ..." (II, 271). Hier kündigt sich bereits eine innere Erfahrung an, die entsdieidend für das Lebensgefühl des Dichters wird; eine Erfahrung, die der Idee des goldenen Zeitalters als einem unendlichen „Approximationsprinzip" (III, 106) die mystische Gegenwärtigkeitserfahrung einer höheren Welt an die Seite stellt, in welcher die Grenzen zwischen Zeit und Ewigkeit, Diesseits und Jenseits aufgehoben sind - in welcher die Einheit erschaubar wird, die sichtbar nadi außen treten und die Welt verwandeln soll. Denn die Zeit ist es recht eigentlich, an der die empirische Verwirklichung des Zukunftszieles scheitert, weil sie das Zeitlos-Ewige in der Zeit zur Erscheinung bringen möchte. Aber schon in den Studienheften finden sich Bemerkungen, die von der Gewißheit getragen sind, daß „das außer der Zeit Befindliche . . . nur in der Zeit tätig oder sichtbar sein" kann (II, 273), daß „Ewigkeit durch Zeit realisiert" wird, „ohnerachtet Zeit der Ewigkeit widerspricht" (II, 180) - so daß sich damit jene Lösung andeutet, die in den .Dialogen' von 1798/99 schließlich die „Verwandlung . . . der Zeit in Ewigkeit" zur Aufgabe des Menschen deklariert und den Zweck der Zeit geradezu im „Selbstbewußtsein der Unendlichkeit" erblickt (II, 423): ein kühner Gedanke, der als eine Art von Chronodizee in die Idee des goldenen Zeitalters eingeht55. Es scheint mit dieser Erfahrung zusammenzuhängen, die in der mystischen Grundanlage des Dichters ihre Erklärung findet56, daß Novalis im Verlaufe seiner späteren Aufzeichnungen die philosophische Unterscheidung des „Unsinnlichen, Denkbaren" von der „sinnlichen Welt der Erscheinungen" fallen läßt. War ihm die Idee bisher als „absolutes Postulat" erschienen (II, 180), „ganz außer der Sphäre Fidite-Studien die Wirksamkeit des Ideals umsdirieben wird („Der Adel des Idi besteht in freier Erhebung über sidi selbst"), fast zwei J a h r e später die Aufgabe der Poesie gekennzeichnet wird («Sie misdit alles zu ihrem großen Zweck der Zwecke - der Erhebung des Menschen über sidi selbstII, 827). 55 Vgl. unsere Arbeit, S. 823 ff. D a ß es sidi dabei im engeren Sinne um eine Aufgabe des Diditers als des vollkommenen „Repräsentanten" der Menschheit (II, 29) handelt, geht u. a. aus einer Bemerkung hervor, die sich in den neu entdeckten Handschriften von Ende 1799 findet und die fast gleidilautend den Zwedc der „Poesie" im „Selbstbewußtseyn des Universums" erblickt (P. KLUCKHOHN, Neue Funde zu Friedrich von Hardenbergs (Novalis) Arbeit am .Heinrich von Ofterdingen', in: DVjs. 32, 1958, S. 393; wieder abgedruckt Kl.-S. I 2 , 335). 56 Dabei muß allerdings berücksichtigt werden, d a ß hier - wie auch sonst - diese Grundanlage bis zum einschneidenden Erlebnis des Jahres 1797 durdiaus in der durch Kant und Fichte vermittelten, transzendentalphilosophisdien Begrifflichkeit zum Ausdrude kommen und damit im Rahmen der theoretischen „Denkübung" verbleiben kann. Vgl. unsere Arbeit, S. 298 ff. u. 324 f.

Die Idee des goldenen Zeitalters

in den

Studienheften

295

des Wirklichen" (II, 212), „bloß zu regulativen Gebrauch . . . ohne die mindeste Realität im eigentlichen Sinne" (II, 216), so interessiert ihn nun gerade die mögliche Verknüpfung des Ideals mit den realen Gegebenheiten der Umwelt und der Geschichte. „Wir müssen durchgehende auf den synthetischen Zusammenhang der Entgegengesetzten reflektieren, also auch zwischen Sinnen- und Geistwelt . . . Die Idee hängt so gut an der Sinnenwelt als das Gefühl an der Geistwelt" (II, 275). Erst jetzt kommt es zu jener Äußerung, die der Gewißheit eines kommenden tausendjährigen Reiches Ausdruck gibt: „Die Menschheit wäre nicht Menschheit - wenn nicht ein tausendjähriges Reich kommen müßte. Das Prinzip [der Vervollkommnung] ist in jeder Kleinigkeit des Alltagslebens, in a l l e m sichtbar. Das Wahre erhält sich immer - das Gute dringt durch - der Mensch kommt wieder empor - die Kunst bildet sich - die Wissenschaft entsteht - und nur das Zufällige, das Individuale verschwindet. Es ist der Kampf des Vergänglichen mit dem Bleibenden - endlich lernt Herkules die immer wachsende Hydra doch töten - endlich m u ß der Sieg à l'ordre du jour werden - Resultat der berechnetsten, genauesten Kunst - die Kunst muß über die rohe Masse triumphieren . . ( I I , 274/75).

Der Unterschied zu den früheren Bemerkungen ist deutlich: Ideal und Wirklichkeit sind jetzt so unlösbar miteinander verknüpft, daß eines nur vom anderen her zu begründen ist. Ohne dieses „Prinzip der Vervollkommnung" wäre die Menschheit nidit Menschheit; alle empirische Realität wird durchwirkt von ihm und erhält von ihm her allererst die Signatur seines Wesens. Das Ideal steht nicht außerhalb der Wirklichkeit, auf einer grundsätzlich anderen, irrealen Ebene, sondern es wirkt sich als das „Wahre" und „Gute", als das „Bleibende" gegenüber dem „Vergänglichen" innerhalb dieser Wirklichkeit aus, erhebt sie durch die „Kunst" des Menschen zu sich empor - in einem kategorischen „Muß", das einer verbürgten Gewißheit entspricht. Ganz ähnlich heißt es auf den vorangehenden Blättern: „Träume der Zukunft - ist ein tausendjähriges Reich möglich - werden einst alle Laster exulieren? Wenn die Erziehung zur Vernunft vollendet sein wird" (II, 281).

Zwar spricht Novalis von den „Träumen" oder „Sagen der Zukunft" (II, 272), aber was in der Gegenwart als Traum erscheint, wird doch als in der Zukunft „vollendet" gedacht, wie der in veränderter Schrift und Tinte hinzugefügte Nachsatz zeigt. „Heutzutage muß man mit dem Titel Traum nicht zu verschwenderisch sein", hatte er bereits im August 1794 an Friedrich Schlegel geschrieben, „es realisieren sich Dinge, die vor zehn Jahren noch ins philosophische Narrenhaus verwiesen wurden" (IV, 70). Diese Aufzeichnungen sprechen offenkundig nicht mehr „philosophisch"; sie stellen sich außerhalb der von Novalis in seinen Fichte-Studien selbst angegebenen Grenzen philosophischer „Denkbarkeit" (II, 159). W i r können den Nachweis führen, daß diese neue, die Entwicklung Hardenbergs innerhalb der Meditationen seiner Studienhefte beleuchtende Gewißheit eines zukünftigen goldenen Zeitalters, die den Ton seiner Aussagen so merklich verändert, unmittelbar mit dem Sophien-Erlebnis des Dichters zusammenhängt. Geweckt vom Erlebnis dieser Liebe und vom Schmerz um den drohenden Verlust der erkrankten Braut, ist in Novalis, wie wir wissen, das bisher schlummernde religiöse Erbe aufgebrochen; die pietistische Gefühlswelt des Elternhauses wird erneut in

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Frühzeit

und Auseinandersetzung

mit Hemsterhuis

und

Fichte

ihm lebendig 57 , und so wird es audi kein Zufall sein, daß es gerade die Idee des tausendjährigen Reiches ist, die den Wechsel der Auffassungswèise gegenüber den Fichte-Studien zum Ausdrude bringt. Das wird bei der Betrachtung einer weiteren Textstelle deutlich, die offenkundig von der Sorge um Sophiens Leben getragen ist und aus einem etwas früheren Zeitraum stammen muß. In ihr tauchen mit überraschender Übereinstimmung die gleichen Wendungen auf, die die Gewißheit eines kommenden tausendjährigen Reiches verkündet hatten - in einer bis in den Wortlaut verwandten Denk- und Gefühlshaltung, die den Gedanken einer zeit- und raumlosen Allgegenwärtigkeit des Ewigen im Zeitlichen, des Jenseitigen im Diesseits als Trost gegenüber dem nahen Verlust der Braut ergreift: „ . . . der T o d macht nur dem E g o i s m u s ein Ende . . . D a s Z u f ä l l i g e m u ß sdiwinden, das Gute muß bleiben. D a s Z u f ä l l i g e war zufällig, das W e s e n t l i d i e bleibt wesentlich. Was du wirklich liebst, das bleibt dir. M a n w e i ß nicht, was m a n wünscht, w e n n m a n das Z u f ä l l i g e fixieren möchte - über L i e b e . . . In j e d e m Augenblicke, in jeder Erscheinung wirkt das Ganze - die Menschheit, das E w i g e ist allgegenwärtig - denn sie kennt weder Zeit nodi Raum . . . Es ist nicht in unserm Sinn ein Allgemeines, ein Besonders. Kannst du sagen es ist hie oder dort? Es ist alles, es ist ü b e r a l l ; in ihm leben, w e b e n und werden wir sein. A l l e s Echte dauert e w i g - alle Wahrheit - alles Persönliche . . ( I I , 208/09).

Es geht hier für uns nicht um eine spezielle Interpretation dieser Aufzeichnungen, die den Wechsel von der abstrakten Begrifflichkeit der Studiennotizen zu den konkreteren, von persönlichster Überzeugung getragenen Gedanken der BlütenstaubFragmente erhellen könnte - jenen Wechsel, der einem frühzeitig wachwerdenden Bedürfnis nach einer „nicht transzendentalen Sprache für die angewandte Philosophie" entspricht (II, 261) und mit dem sich Novalis der Leere eines bis dahin geübten, sdiematisdi-formalen Philosophierens, dem Gefühl, lediglich „ein Ideenwebstuhl" zu sein, wie er 1797 in der Erschütterung durch den Tod Sophiens schreibt (IV, 188), zu entziehen sucht. Für uns ist es vielmehr aufsdilußreich, daß hier, in der Gewißheit einer die Zeitlichkeit und die Geschichte durchwirkenden ewigen Welt, die Novalis in der Liebe offenbar wird („was du wirklich liebst, das bleibt dir") und die in einer betont religiösen, dem pietistischen Sprachgebraudi entnommenen Wortformel ihren Ausdruck finden kann („in ihm leben, weben und werden wir sein"), die gleichen Gedanken wiederkehren, die das Postulat eines kommenden tausendjährigen Reiches begründet hatten: „Das Z u f ä l l i g e muß schwinden, das Gute m u ß bleiben" (II, 209) - „das Gute dringt durch . . . und nur das Zufällige, das Individuale verschwindet" (II, 274/75); „die Menschheit, das E w i g e ist allgegenwärtig . . . Es ist alles, es ist überall" (II, 209) „das Prinzip ist in jeder Kleinigkeit des Alltagslebens, in allem sichtbar" (II, 274);

57 Vgl. dazu den aufsdilußreidien Brief Friedrich Schlegels vom 2. August 1796 nach seinem Besudi bei Hardenberg (IV, 420). Die „Herrnhuterei", von der Schlegel hier spricht, soll allerdings nur der kürzeste Ausdruck für „absolute Sdiwärmerei" sein; man wird diesen Beridit daher wohl mit bestimmten Studiennotizen vom Frühsommer bis Herbst 1796 in Verbindung bringen können, in denen zum ersten Male religiöse Begriffe und Wendungen sowie stark persönlidi gefärbte Fragen auftaudien, die über die Terminologie der Fichte-Studien hinausführen (II, 208f., 216ff., 272ff., z.B.: „Innerliches Hören, wie innerliches Sehn", „Religion - Jesus etc.", „Wissenschaft ist nur Eine Hälfte. Glauben ist die Andre", „Was ist glauben?", „Über innern Sinn", „Über Religion", „Sagen der Zuk u n f t - tausendjähriges Reidi. Neue Religion" usw.).

Das Sophien-Erlebnis

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„der Tod macht nur dem Egoismus ein Ende . . . Was du wirklidi liebst, das bleibt dir" (II, 209) - „es ist der Kampf des Vergänglichen mit dem Bleibenden" (II, 275) usw.

Hier wird deutlich, weshalb Novalis die philosophisch-reflektierende Trennung des Idealzieles von der empirisch-geschichtlichen Erscheinungswelt schließlich fallen läßt, weshalb sie ihm als bloße „Grenze" der bisherigen Philosophie erscheint, die eben deshalb überschritten werden muß. Die Philosophie ist, wie es einmal in den FichteStudien heißt, „streng auf die bestimmte Modifikation - des Bewußtseins - eingeschränkt. Sie ist bescheiden - Sie bleibt in ihren Grenzen" (II, 159). Von diesen Grenzen des Bewußtseins her muß es ihr undenkbar scheinen, daß etwas in der Zeit geschehen könne, was alle Zeit aufhebt: daß das goldene Zeitalter sich innerhalb der empirischen Erscheinungswelt verwirklichen könne. Für Novalis aber kündigt sich schon 1796 mit dem Sophien-Erlebnis eine Erfahrung an, die seine Überzeugung von der Allgegenwärtigkeit und Wirksamkeit des Ewigen im Zeitlichen, von der Durchdringung und Verwebung der getrennten Sphären der Natur und des Geistes, des Irdischen und des Göttlichen mehr und mehr hervortreten läßt. Es ist jene Erfahrung, die wir im Zusammenhange mit den biographischen Ereignissen des Jahres 1797 näher zu beleuchten haben, weil sich nur von diesem höheren Selbstbewußtsein des Dichters her, das „für den Schwachen . . . ein Glaubensartikel" bleibt (II, 18), die Idee des goldenen Zeitalters in ihrer eigentümlichen, mit kategorischer Gewißheit verkündeten Zukunftserwartung begreifen läßt.

4. Das Sophien-Erlebnis: Die „Wendung" von der Jenseitshoffnung zur Diesseitsverwirklichung Schon Monate vor Sophiens Tod, ja, im Grunde seit dem ersten Sichtbarwerden ihrer Krankheit hatte Novalis versucht, sich eine unzerstörbare, innere Welt zu errichten, um in ihren „heiligen Wellen" „die Traumwelt des Schicksals zu vergessen" (IV, 175). Er mußte schon im November 1795 erfahren, daß „dauerhafte Ruhe nur durch Erhebung der Seele über alle Streiche des Schicksals, durch Losreißung von allem, was unter der Macht des Zufalls steht, möglich ist" (IV, 121). Von diesem Heimischwerden in einer Welt der Ideen und Gedanken legen die Meditationen seiner Studienhefte Zeugnis ab; sie sind schon frühzeitig von dem Wissen um die Vergänglichkeit seines „Elysiums" in Grüningen getragen und suchen sich mit einer höheren, unvergänglichen Welt vertraut zu machen, wo der Geist „frei aufsteht und den Staub von seinen Flügeln schüttelt" (IV, 136). So schreibt Novalis am 10. April 1796 an Karoline Just, die eben damals ein unglückliches Liebesschicksal erfahren hatte, Worte des Trostes, die sich - fast ein Jahr vor Sophiens Tod! - wie eine Vorwegnahme seines eigenen Schicksals deuten lassen und in ihrer gedanklichen Bewußtheit den Anteil des Willens an ihm verraten: „Es ist wahr, es ist Verlust; aber die gelassene Resignation, das immer notwendiger werdende Anschmiegen an Ihr innres Selbst, dieses festere Fußfassen im Unvergänglichen, im Göttlichen in uns - redinen Sie es immer ein wenig mit. Es ist keine leidite Aufgabe, sich eine künstliche Bestimmung zu machen - es ist allemal ein Ρ o ë m, denn

298

Frühzeit und Auseinandersetzung mit Hemsterhuis und Fichte dies bedeutet in der Urspradie nichts als Machwerk, und es gehört sonntäglidie Energie dazu, um sidi selbst genug zu sein, um nicht in der Welt der Sinne, sondern in der Welt der Ideen einheimisch zu sein. Eine künstlidie Bestimmung gehört aber in das Reidi der Ideen. Hingegen glaub idi audi, daß . . . sie audi sdion eine Stufe jenseit des Grabes ist, die der noch zu ersteigen haben wird, den hier die Natur sein gewöhnliches Ziel ohne Störung erreichen ließ ..." (IV, 144/45).

Wir stoßen hier auf jene eigentümliche Präfiguration der Sophien-Mythe, wie sie sich audi in einigen anderen Briefstellen und Äußerungen dieser Zeit mehr oder weniger verhüllt abzeichnet; von ihr her läßt sich die Frage rechtfertigen, inwieweit audi die Ereignisse des Jahres 1797 als „künstlidie Bestimmung" des Novalis gedeutet werden dürfen - als ein Erweckungserlebnis also, das durch eine bestimmte gedankliche Intention vorgezeichnet und beeinflußt, mit „Wissen und Willen" ergriffen und zur Lebensdichtung ausgestaltet wurde 58 . Was in diesem Briefe als „innres Selbst", als das „Unvergängliche", „Göttliche in uns" bezeichnet wird, ist jenes „höhere Idi", das schon in den transzendentalphilosophischen Studien ständig umkreist worden war und zu der Erkenntnis geführt hatte: „Der Mensch steht durchaus mit sich selbst in Wechselwirkung - und innigem Zusammenhang" (II, 274). „Wir sprechen vom Ich - als Einem, und es sind doch zwei, die durchaus verschieden sind - aber absolute Correlata" (II, 209). „Vollständiges Ich zu sein ist eine K u n s t " (II, 277). Die Idee des „innern Plurals" (III, 331), der „Selbstbesprediung" oder „Selbstoffenbarung" als „Erregung des wirklichen Ich durch das idealische Idi" (II, 323/24), wie sie erst nach dem Sophien-Erlebnis mystisch vertieft und ausgestaltet wurde, war auf dem Wege der Fichte-Studien bereits abstraktbegrifflich formuliert und durchdacht worden, und die Tatsache, daß Novalis audi n a c h dem Tode der Braut vom „transzendentalen Selbst" spricht (II, 20), weist darauf hin, daß er selbst diesen Zusammenhang zu seinen philosophischen Aufzeichnungen gewahrt wissen wollte 59 . Audi dieses höhere Ich gehört der „Welt der

58 Diese Frage ist bisher in der Novalis-Forschung kaum erörtert worden. Lediglich J . STRIEDTER deutet an, ob nidit vielleicht „der Tod der Braut . . . nur deswegen in solcher Weise und solchem Umfange wirksam werden konnte, weil si(h schon vorher eine bestimmte Weise des Denkens und Verhaltens ausgebildet hatte" (Die Fragmente des Novalis als .Präfigurationen' seiner Dichtung, a. a. O. S. 72). D a f ü r bietet jetzt auch ein bisher unveröffentlichter Brief an Friedrich Brachmann vom 30. März 1796 weiteres Material, wenn es hier bereits in bedeutungsvollem Anklang an spätere Äußerungen heißt: „Du sollst bald meinen Sinn klar erkennen - und dann Iaß uns erst gewissermaaßen Fuß fassen. Idi rede nicht von Luftgebäuden - In uns oder nirgends muß der Grund zu allem liegen . .. Der wahre treffliche Mensch m u ß , wie die Wahrheit, endlich gelten, m u ß endlich seines Daseyns froh werden. Politisdier Glaube thut, wie der Religiöse Wunder .. ." (Im Besitz des Nationalmuseums Nürnberg). - Als Ergänzung zu diesem Abschnitt vgl. unsere Arbeit, S. 334 f. und S. 370, Anm. 22. M Schon in seinen früheren, ganz an Fichte orientierten Studien, die in immer wiederholten Ansätzen den Gegensatz von „Subjekt" und „Objekt", von „Zustand" und „Gegenstand" zu ergründen suchen, war Novalis auf jene „Kraft" oder „Tätigkeit" gestoßen, die ihm mit Fichte als „gemeinschaftliche Sphäre" dieses Gegensatzes erschien (II, 108), auf jene aller gegenständlichen Reflexion sich entziehende Urhandlung des „reinen Ich", die allererst den Akt der Gegen-Setzung vollzieht und damit die empirische Wirklichkeit konstituiert. Jeder Versuch, diese „Kraft im Identischen" (II, 113), diese Einheit im Wechsel der Gegensätze zu bestimmen, scheitert an der Natur des Reflexionsvermögens; denn „alle Reflexion bezieht sich auf einen Gegenstand" (II, 130), auf ein Objekt des Denkens, das als solches bereits der Sphäre des Bestimmten, Beschränkten, Bedingten angehört: „Der Mensch fühlt die Grenze - die alles f ü r ihn, ihn selbst umschließt, die erste Handlung; er muß sie glauben, so gewiß er alles andre weiß" (II, 163). Diese im Glauben ergriffene Sphäre - das „absolute Ich" (II, 169) - ist aber im empirischen Ich wirksam; es ist dasjenige, was das Gedachte als Denkendes,

Das Sophien-Erlebnis

299

Ideen" an; es entzieht sich der gegenständlichen Reflexion und kann nur „postuliert" (II, 169), im „Glauben" ergriffen werden (II, 163). Aber wer sich mit ihm vertraut macht, wer mit „sonntäglicher Energie" in ihm Fuß zu fassen sucht, wird zugleich in dieser anderen Welt des Geistes heimisch, die schon „eine Stufe jenseit des Grabes" ist, da sie das Bleibende im Vergänglichen, das Wesentliche im Zufälligen enthält. Wir erinnern uns hier jener Studiennotiz, die offenkundig in der Sorge um die erkrankte Braut niedergeschrieben worden war und die stattdessen vom „Ganzen", von der „Menschheit" und vom „Ewigen" gesprochen hatte; aber was von ihm gilt - „es ist alles, es ist überall; in ihm leben, weben und werden wir sein" (II, 209) - , gilt auch vom Wirken des absoluten Ichs im empirischen Ich: denn auch dieses darf, wie es in fast wörtlichem Anklang heißt, „nicht einzeln nicht zeitmäßig" verstanden werden, sondern „quasi als Augenblick, der das e w i g e U n i v e r s u m u m f a ß t , i n sich begreift - worin

wir

leben, weben und sind - ein unendliches Faktum, was in jedem Augenblick ganz geschieht - identisch e w i g wirkendes G e n i e - I c h s e i n . . ( I I ,

179).

Die Vorstellung der „Menschheit" ist offenbar in der von Novalis geforderten „nicht transzendentalen Sprache für die angewandte Philosophie" (II, 261) an die Stelle der Fichteschen Terminologie („Ichsein") getreten und umschreibt nun „das Ganze", das „in jedem Augenblicke, in jeder Erscheinung wirkt" (II, 209). Der Glaube an diese innere Welt der Ideen, an ihre Allgegenwart und Wirksamkeit in der sinnlichen Erscheinungswelt, war zunächst als Trost gegenüber dem möglichen Verlust der Geliebten ergriffen worden. Aber schon in einem Briefe an den Bruder Erasmus vom 27. Februar 1796 lesen wir einige Sätze, die wie eine weitere Vordeutung auf die kommenden Ereignisse wirken. „Mein System der Philosophie hoff ich zu dem Deinigen zu machen", schreibt Novalis. „Bleibe fest im Glauben an die Universalität Deines Ichs ... Wenn Dir weh wird, so denke an die Menschheit, die Du bist. Ein himmlisches Mädchen steht sie auf Hügeln und streckt die Hand, um Dich heraufzuheben aus dem Tale der Geduld . . . " (IV, 135/36). Die „Menschheit", die als das allgegenwärtige „Ganze" im einzelnen Menschen wirkt und den Glauben an die „Universalität" seines Ichs erwecken soll, erscheint nun als ein „himmlisches Mädchen", das aus den Tälern der Wirklichkeit emporhebt zu den Höhen der Idealwelt. „Die Ideen erheben zu sich, sie lassen sich nicht herab", heißt es in einer Studiennotiz, die der Gewißheit eines kommenden tausendjährigen Reiches unmittelbar vorhergeht (II, 274). Die Menschheit - die nicht Menschheit wäre, „wenn nicht ein tausendjähriges Reich kommen müßte", d. h. deren „Idee" die Gewißheit einer künftigen Vollendungsstufe involviert (II, 274) ist auch hier an die Stelle des transzendentalen Ichs der Studienhefte getreten, aber sie nimmt nun die Züge Sophiens, des „himmlischen Mädchens" an, in dessen Ge-

das Gefühlte als Fühlendes, das Bestimmte als Bestimmendes übergreift und daher ewig im Rüdcen liegt: „Wir fühlen uns als Teil und sind eben darum das Ganze", heißt es in der lakonischen Kürze einer frühen Studiennotiz, die bereits den Stil der Blütenstaub-Fragmente vorwegnimmt (II, 261). Aus diesen Meditationen über die Wirksamkeit des absoluten im empirischen Idi entwickejn sich die im Text zusammengestellten Aufzeichnungen der Studienhefte (II, 209; 274; 277), die auf die mystische Idee des „innern Plurals" vorausdeuten, wie sie erst nadi dem Sophien-Erlebnis, in den Fragmentsammlungen von 1798, endgültige Gestalt gewinnt.

300

Frühzeit

und Auseinandersetzung

mit Hemsterliuis

und

Fichte

stalt sie dem Bruder vorgestellt wird. Ist das absichtslos geschehen? Oder zeigt es nicht vielmehr, daß bereits in dieser Zeit in Novalis die Mythopoese seines Lebens heranreift? D u bist nicht Rausch - du Stimme des Genius, D u Ansdiaun dessen, was uns unsterblich macht,

heißt es schließlich in einem Gedicht, das nach den handschriftlichen Befunden kaum als „Verzweiflungsschrei" nach dem Tode der Braut aufzufassen ist, wie Kluckhohn annahm 60 , sondern das unter dem Eindruck ihrer ersten schweren Krankheit im November 1795 entstanden sein muß, seit der Novalis von Sophie als seinem „Genius" spricht (IV, 131). Einst wird die Mensdiheit sein, was Sophie mir Jetzt ist - vollendet - sittliche Grazie . . . (I, 347).

Hier schließt sich der Kreis; der Name Sophiens tritt an die Stelle des „himmlischen Mädchens" und zugleich v o r die Menschheit, die sie für den Dichter „jetzt" verkörpert und anschaulich macht. W a r die Idee der Menschheit zunächst als Bürge für eine Allgegenwart des Ewigen im Zeitlichen und damit als Trost gegenüber der bedrohten Liebe aufgerufen worden - „was du wirklich liebst, das bleibt dir" (II, 209) - , so deutet sich hier die Möglichkeit einer Umkehrung an: die Möglichkeit, daß Sophie ihrerseits zur Mittlerin und Bürgin dieser höheren Welt werden, daß sie „die Menschheit, das Ewige" vergegenwärtigen und damit zur Offenbarerin jener „Welt der Ideen" werden kann, welche die empirische „Zeitwelt" durchdringen, verwandeln und zu sich emporheben, zugleich aber selbst sichtbar in ihr zur Erscheinung kommen soll. Der „Sphärenwechsel", den Novalis bereits in seinen Studienheften als Ziel der vollendeten künstlerischen Darstellung fordert (II, 193) - und diese Notiz darf als Keimzelle des romantischen Poesieprogramms von 1798 gelten! - ist hier, im Bereich des eigenen Lebens, erstmals und prototypisch für das kommende Werk vollzogen worden· 1 . Aber nach Sophiens Tod, unter den ersten furchtbaren Wogen des Schmerzes, ging dieser Gedanke der inneren Welt, die schon „eine Stufe jenseit des Grabes" bezeichnen sollte, unter. Der Glaube an die Genesung der Geliebten war mit der „irdischen Existenz" Hardenbergs zu „innig verwebt" (IV, 156), als daß ihm der Verlust der Braut nicht wie „ein gewaltsames Korrektiv" erscheinen mußte (IV, 190), das in ihm den Entschluß des Nachsterbens und Nachfolgens weckte. Alle seine Hoffnungen richten sich nun auf ein Jenseits; er empfindet Ekel an Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; die Wissenschaften erscheinen ihm „tot, wüste, taub, unbeweglich" (IV, 179), da ihn Sophie allein an das Leben, an seine Beschäftigungen gefesselt hat (IV, 183). Mit ihr ist er von allem getrennt, und seine Sehnsucht wendet sich der „wahren Zukunft" zu, die „ jenseits" liegt (IV, 188) - auf ,0 Vgl. KLUCKHOHN I, 269. Den Hinweis auf den graphologischen Befund verdanke idi RICHARD SAMUEL; die frühe Ansetzung des Gedichtes ist aber unabhängig davon auch aus den genannten inhaltlichen Kriterien zu erschließen (vgl. vor allem die beiden Briefe vom 6. und 27. Februar 1796; IV, 131

u. 135/36). 81 Vgl. II, 193: „Der Sphärenwechsel ist notwendig in einer vollendeten Darstellung - Das Sinnliche muß geistig, das Geistige sinnlich dargestellt werden." Das romantische Poesieprogramm (II, 335) wird in dem hier angedeuteten Zusammenhang näher behandelt auf S. 330 ff. u. 419 ff.

Das Sophien-Erlebnis

301

jenes „Leben in der wirkliAen Welt", der er, wie aus einem Traum erwacht, entgegenharrt (IV, 194). Nur in jener Welt scheint ihm nun der ewige Frieden verwirklicht, den die Idee des goldenen Zeitalters auf Erden heraufführen soll - „um T o t e weht der Geist des ewigen Friedens" (IV, 188) - , während ihm das Diesseits, die gegenwärtige Welt und seine Liebe zu ihr endgültig überwunden zu sein scheint: „Das Ausland wird nie unser Vaterland sein. Unter diesem Himmelsstridi liegt Eldorado nicht. Das fühlen wir an dem harten Boden, der rauhen Luft, dem kurzen Frühling und dem feindlichen Insektenschwarm" (IV, 178). „Mit der Liebe zu den Angelegenheiten der Menschen für diese Stufe ist es aus. Die kalte Pflicht tritt an die Stelle der Liebe. Meine Geschäfte werden eigentliche Offizialgesdiäfte . . . So wird mir der Schritt ins Grab einmal immer gewöhnlicher" (IV, 192).

Aber aus dem Entschluß zum Nachsterben, aus der „Flamme . . . , die alles Irdische nachgerade verzehrt" (IV, 197), aus der Erinnerung an die verlorene Geliebte und der Ahnung einer „alten, längst bekannten Urwelt", in der er sie, aus dem Erdentraum erwacht, wiederfinden wird (IV, 198), gestaltet sich ein neues Bild des Jenseits, das mehr und mehr ins Diesseits eindringt, es mit seiner unsichtbaren Gegenwart erfüllt und die Grenze zwischen Leben und Tod ins Fließen bringt. Die Briefe und Tagebücher dieser und der folgenden Monate zeigen, wie das, was Novalis zunächst jenseits des Todes zu liegen schien, allmählich zum innersten Wesen der einen höheren Welt wird, die ihn erfüllt und in die immer mehr hineinzuwachsen er sich aufgerufen fühlt. Er empfindet, aus der ersten dumpfen Verzweiflung herausgehoben, in der Trauer über den Verlust Sophiens einen tiefen Sinn: „Soviel versichre ich Dir heilig - daß es mir ganz klar schon ist, welcher himmlische Zufall ihr Tod gewesen ist - ein Schlüssel zu allem - Ein wunderbar-schicklicher Schritt" (IV, 196). „Sollt idi nicht Gott danken, daß er mir so früh meinen Beruf zur Ewigkeit kundmachte? Ist es nicht Beruf zur apostolischen Würde?" (IV, 188).

Er beginnt, die Wissenschaften „von einem höhern Standpunkte", „nach höheren Zwecken" zu studieren (IV, 192), und fühlt, daß er sich „auf einer andern Seite seinem alten Ziele" nähert (IV, 202). Seine Tagebücher, in denen er ständig über seinen „Entschluß" meditiert und an ihm festzuhalten sucht, obwohl er ihm oftmals „so fremd" vorkommt, verraten die ständige Erinnerung an Sophie, den Versuch, „alles in Beziehung auf ihre I d e e zu bringen" (IV, 387). Und trotz aller Zweifel „kann idi hoffen, daß in dieser kraftlosen Seele solche Ideen haften und nicht vorbeigehen werden?" (IV, 189) - rechtfertigt sich sein Glaube an den „Beruf zur unsiditbaren Welt" (IV, 190); denn am 13. Mai 1797 erfährt er am Grabe Sophiens jene „aufblitzenden Enthusiasmusmomente", die zur Grunderfahrung seines ganzen künftigen Lebens werden: „ . . . das Grab blies idi wie Staub vor mir hin - Jahrhunderte waren wie Momente - ihre Nähe war fühlbar - ich glaubte, sie solle immer vortreten" (IV, 385). Diese „wilden Freudenmomente" wiederholen sich (IV, 386) und steigern sich schließlich zu jener Erfahrung von der unsichtbaren Gegenwart, der durch „Glauben" und „Liebe" geweckten Annäherung der Geliebten, die ihm zur Erfahrung des Ewigen im Zeitlichen, der innigen Verwebung der „höheren Welt" mit der „irdischen Natur" wird (I, 192): „Indem idi glaube, daß Söphchen um midi ist, und erscheinen kann, und diesem Glauben gemäß handle, so ist sie audi um midi - und erscheint mir endlich gewiß -

302

Frühzeit und Auseinandersetzung

mit Hemsterhuis und FiAte

gerade da - wo idi nidit vermute - in mir, als meine Seele vielleidit etc. und gerade dadurch wahrhaft außer mir - denn das wahrhaft Äußre kann nur durdi midi - in mir, auf midi wirken . . ( I I I , 218; IV, 401; vgl. audi II, 307).

Hier bildet sich jene Grunderfahrung heraus, die als formales Strukturelement audi die Idee des goldenen Zeitalters prägen und verwandeln wird: jenes der-Gegenwart-Absterben, Er-innern des Vergangenen, aus dem das Erwachen in einer höheren Welt, die Ahnung eines künftigen Daseins hervorgeht. „Die Welt wird immer fremder. Die Dinge um midi her immer gleichgültiger. Desto heller wird es jetzt um mich und in mir", heißt es in einer Tagebuchnotiz (IV, 389). Die Gegenwart erscheint ihm „ausgestorben" (IV, 394); desto tiefer versenkt er sich in die Vergangenheit und Zukunft, die ihn nach innen führen - in jene Welt, die fortan sein Bewußtsein erfüllt und von der zu künden er den „Beruf" in sich fühlte: „In u n s , oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft" (II, 17). Diese innere Welt, in der das Getrennte vereinigt ist, diese ewige Heimat der Seele, die „so vaterländisch" ist (III, 220) und die seine Sehnsucht fortan in der Vergangenheit, als goldene „Vorzeit" aller Geschichte, wie in der Zukunft, als goldene „Endzeit" aller Geschichte, sucht und verkörpert findet, mußte ihm in erster Linie als das Land Sophiens erscheinen, die ihn dorthin geführt hatte, deren Grab zur Stätte seiner Einweihung in die Geheimnisse dieses unsichtbaren Einheitsreiches geworden war. Und wenn er künftig diesen Geheimnissen nachdachte, wenn er diese Welt gedanklich zu ergründen oder sie in seinen Dichtungen sichtbar zu vergegenwärtigen suchte, so war ihm dieses „Ideal" eine echte Erfahrung, von deren Wirklichkeit er im Tone prophetischer Gewißheit sprechen konnte und deren Wirksamkeit zu verbreiten ihm aufgegeben war; eine Erfahrung, die seine Sprechweise selbst verändern und seinen Ideen des „Absoluten", „Ganzen", „Unbedingten" (in der abstrakt-begrifflichen Sprache der frühen Studienhefte) den Stempel einer neuen, geisterhaften Gewißheit aufprägen mußte62. Der Ton der Jenseitssehnsucht, das Verlangen nach dem Tode verstummt fortan nicht in den Gedanken und Dichtungen des Novalis. Aber überall dort, wo namentlich in den .Hymnen' und .Geistlichen Liedern' vom Tode gesprochen wird, ist ebenso sehr an jenes innere Absterben zu denken, das dem „Erwachen und Wirken und Sinnen in einer andern Welt" (III, 149) vorangehen muß, weil es das „Band" schmerzhaft zerreißt, „was sich ums innre Auge zieht" (I, 223). Und überall dort, wo vom Jenseitigen, vom Himmel und Gottesreich gesprochen wird, ist ebenso sehr an jene innere Welt zu denken, die schon hier im Diesseits alle Schranken der Zeit 82 Dieser Übergang ist stilistisch bei der Überarbeitung früherer Studiennotizen für die Fragmentsammlungen des Jahres 1798 sehr genau zu verfolgen. - Der Haupteinwand gegen das bereits erwähnte W e r k von TH. HAERING (.Novalis als Philosoph') muß sich gegen die Interpretation der gesamten Fragmente und Diditungen von den transzendentalphilosophischen Begriffen der Studienhefte her riditen - gegen eine Interpretation, die zudem diese Begriffe im Hegelsdien Sinne versteht und Novalis damit vollends denaturiert. Die „höhere Welt", von der der Dichter und Fragmentist ab 1797 spricht, entstammt erlebter und nicht erdaditer Erfahrung; sie ist keine Umschreibung des philosophischen Begriffs vom „Absoluten", sondern eine Wirklichkeit, die Novalis als das Reich Sophiens erschienen war. Diese W a n d l u n g läßt sich mit Begriffen der Hegeischen Dialektik nicht einfangen, und wenn die Dichtungen dann vollends als „poetische Kategorientafel" (S. 316) interpretiert werden und die „Nacht" etwa als „abstraktes Moment der dialektischen Einheit Tag-Nacht" gedeutet wird, dann ist damit das Redit philosophischer Interpretation von Dichtungen überschritten.

Das Sophien-Erlebnis

303

und des Raumes, alle Grenzen zwischen Leben und Tod aufhebt und einen „unnennbar süßen Himmel . . . im Gemüte" offenbart (I, 84; vgl. I, 253). Es ist deshalb auch kaum möglich, im Leben des Novalis nach Sophiens Tod von einer W e n d u n g zu sprechen, die ihn von der Jenseitshoffnung allmählich zur Diesseitsverwirklidiung seiner kühnen Träume und Ideen führt. Die Schranken zwischen Jenseits und Diesseits sind ihm in der Grabvision gerade aufgehoben worden, und jene „neue Welt" hat sich vor seinem inneren Auge eröffnet, von der Astralis am Eingang des zweiten Teiles zum Ofterdingen-Roman spricht, „die Urwelt, die goldne Zeit am Ende" (I, 244), in der Tod und Leben „in innigster Sympathie" vereinigt sind und „keine Ordnung mehr nach Raum ünd Zeit" herrscht (I, 222/23). Es ist das „ewige Reich" (III, 97), das von innen nach außen treten, das in der Zeit sichtbar gemacht, realisiert werden soll - zu dem alle Zeit und Gesdiidite erhoben und erlöst werden soll. So erklärt es sich, daß Novalis bereits im September 1797 an Friedridi Schlegel, der ihn Mitte Juli in Weißenfels besucht hatte, schreiben kann: „Seit Du weg bist - bin ich eine Zeit lang recht unthätig, recht krank - und eine Zeit recht thätig - recht gesund gewesen. Die lezte Zeit währt noch. Idi bin in der Brandung - an festes Land schlägt midi ein Wogenstrom. Mein Geist ist jezt fruchtbarer, vielleicht glücklicher, als je"· 3 . Und im Dezember 1797 heißt es: „Ich lebe jetzt wirklich recht schön - heiter - unaufhörlich beschäftigt, und ganz meiner Disposition unterworfen" (IV, 220). Im Februar 1798 trägt er den Schwestern Charpentier „einige Ideen über Zukunft, Natur und Menschenleben" vor, „begeistert wie ein Eleusinisdier Priester" (IV, 227). Im gleichen Monat werden die Blütenstaub-Fragmente an August Wilhelm Schlegel übersandt, in denen es heißt: „Wir sind auf einer Misión: zur Bildung der Erde sind wir berufen" (II, 20). Dieses Bewußtsein, in die Wirklichkeit, in die gegenwärtige Welt einzugreifen und sie zu verwandeln, die „Realisierung der kühnsten Wünsche und Ahndungen" zu betreiben (IV, 231), in der Welt das zu sein, „was man auf dem Papier ist - Ideenschöpfer" (IV, 252), erfüllt die ganzen Briefe der Folgezeit. „Wer aber auch eine Natur und Welt zu bauen hat, kann wahrhaftig nicht abkommen", schreibt Novalis im September 1798 an Karoline Schlegel. „Mir ist jetzt, als säß idi im Comité du Salut public universel" (IV, 237/239). Ja, es ergibt sich das fast paradoxe Bild, daß Friedrich Schlegels damaliges Projekt eines neuen Evangeliums nach beiderseitigem Einverständnis „den Himmel in Bewegung setzen", Novalis' Idee eines literarischen, republikanischen Ordens hingegen „den irdischen Sphäroid" bewegen soll (IV, 251 f.) - eine Rollenverteilung, die fast wie eine Verkehrung des Freundesverhältnisses wirkt und jedenfalls von der Grundstimmung dieser Zeit, dem Sendungsbewußtsein gegenüber der empirischen Wirklichkeit, aufschlußreidi Zeugnis ablegt. „Man hat lange genug von solchen Projekten gesproAen. Warum sollen wir nicht etwas ähnliches auszuführen suchen", schreibt Novalis in diesem Zusammenhang (IV, 252). Dieses neuerwachte Verhältnis zur Wirklichkeit, das audi die Idee des goldenen Zeitalters, wie wir sehen werden, miterfaßt, läßt sich nicht einfach dahingehend deuten, daß Novalis fortan bis zum Ende seines Lebens eine Art Doppelleben geführt habe, in zwei Welten heimisch, „Mystiker und im Irdischen tätiger Mensch zugleich"84. Es macht vielmehr offenbar, daß die mystische Auflösungs- und Verinnerlichungstendenz - die als Grundmotiv in seinen Dichtungen ständig anklingt und als „Annihilation des Jetzigen" (IV, 262), als „Sehnsucht nach der Vorzeit" (I, 65)

83 Ein unbekannter Novalis-Brief. Mitgeteilt und erläutert von E. CATHOLY und R. SAMUEL. In: Euphorion 47, 1933, S. 412 ff. M So KLUCKHOHN in der Einleitung zur Novalis-Ausgabe (I, 45*).

304

Frühzeit und Auseinandersetzung mit Hemsterhuis und FiAte

audi in die Idee des goldenen Zeitalters aufgenommen wird - nicht als Weltfludit und Weltabkehr begriffen werden kann, sondern als Stufe zu einer neuen Weltstiftung, zu einer „irdischen Gestaltung" (II, 77), die die Wirklichkeit verwandeln und auf die Höhe der inneren Weltschau erheben will. Die „Idee" von einer „absolut wohltätigen Bestimmung auf Erden für midi", die sich in diesen Monaten in Novalis befestigt (III, 166), geht zwar aus seinem „innig lebendigen Zustande zwischen zwei Welten" hervor, aber sie spricht dem Dichter und Philosophen eben die Aufgabe zu, die „Assoziationen beider Welten zu verfolgen", „ihren Gesetzen und ihren Sympathien und Antipathien nachzuspüren" (I, 29) und so in der Vereinigung und wechselseitigen Durchdringung der getrennten Sphären ein neues goldenes Zeitalter auf Erden heraufzuführen. Das soll in den folgenden Kapiteln näher begründet und zu dem bisher Erarbeiteten in Beziehung gesetzt werden.

II. Kapitel

Das goldene Zeitalter als „ Vergangenheit" und als „Zukunft" Das Geschichtsverständnis des Novalis

1. Die triadische Grundfigur der Geschichte und ihre Abspiegelung in der Dichtung Richard Samuel hat in seiner audi heute nodi grundlegenden Untersuchung zur poetisdien Staats- und Geschichtsauffassung Hardenbergs darauf aufmerksam gemacht, daß der Trieb zur Geschichte aus jener mystischen Sehnsucht des Dichters zur Ferne, zur Urheimat und Urverbundenheit erklärt werden muß, die als „Vorzeit" auf den Beginn aller Geschichte hinweist und zugleich als „Endzeit" das Ziel aller Geschichte bezeichnet 1 . W a s das eigentliche, romantische Werk des Novalis gedanklich und dichterisch von den frühen philosophischen Studienheften unterscheidet, ist dieses sehnsüchtige Drängen zurück in die geschichtliche Ferne, ein Zug zur Vergangenheit, der zugleich das Drängen in die Zukunft und das Idealbild dieser Zukunft bestimmt. Daß dieses Rückwärtsgerichtetsein etwas völlig Neues gegenüber dem aufklärerischen Geschichtsdenken bedeutet, ist einleuchtend; für den Aufklärer das gilt auch nodi für den Chiliasmus Lessings - stellt sich die Kontinuität der Geschichte als eine ständige Aufwärtsentwicklung dar, die von der Gegenwart her die Vergangenheit als überwundene, „unvernünftige" Kindheitsstufe der Menschheit abwertet. Dieser Geschichtsoptimismus lebt in Kant und, durch seinen Einfluß, audi im jungen Fichte fort, obwohl hier bereits die progressive Tendenz als Reaktion auf Rousseaus regressive Geschichtsbetrachtung verstanden werden muß. Für Novalis dagegen liegt der Prozeß der Geschichte zwischen jenem Urzustand der Menschheit, der durch kindliche Unschuld und märchenhaften Einklang der Natur- und Geisterwelt gekennzeichnet ist, und jenem ersehnten Endzustand der Menschheit, der diese Unschuld und diesen Einklang auf höherer Stufe wiederherstellen und die Schranken von Zeit und Ewigkeit aufheben soll. „Mit der Zeit muß die Geschichte Märchen werden - sie wird wieder, wie sie anfing" (III, 98). Alle Geschichte ist somit dreifach aus Vorzeit, Gegenwart und Zukunft zusammengesetzt (III, 216). Aber während für die Aufklärung die Gegenwart als höchste Entwicklungsstufe der menschlichen Vernunft die zurückgelegten Stadien der „Unmündigkeit" preisgibt, sieht Novalis in ihr gerade das Ineinanderwirken von Vergangenheit und Zukunft, „die geheime Verkettung des Ehemaligen und Künftigen", so daß ihm das Gesdiiditsbewußtsein von „Hoffnung und Erinnerung" bewegt zu sein scheint (I, 162). In der

1

Die poetisdie Staats- und Geschichtsauffassung. . ., a. a. 0 . S. 20 ff.

20 Mähl, Die Idee des goldenen Zeitalters

306

Das goldene Zeitalter

als „Vergangenheit"

und als

„Zukunft"

historischen Gegenwart vollzieht sich freilich jener „Erstarrungsprozeß", von dem die Fragmente und Dichtungen immer wieder sprechen; jene selbstgewisse Ausklammerung der Vergangenheit und Zukunft, die „alle Gegenstände des Enthusiasmus" verketzert, „jede Spur des Heiligen" vertilgt und den „alten Aberglauben an eine höhere Welt" verdammt (II, 75/76). Es ist die Epoche der Verstandesreflexion, der Abkehr von Natur und Geschichte, der Trennung des Untrennbaren und Zerreißung des allgemeinen, harmonischen Zusammenhanges, die den Tiefpunkt der Menschheitsentwicklung darstellt. Die „höhere Welt" ist daher allein noch in der Vergangenheit und in der Zukunft wirksam; sie deutet durch die „Erinnerung" auf eine goldene Vorzeit und durch die „Hoffnung" auf eine goldene Endzeit hin, die als Zustände der Synthese, als „Ewigkeit a parte ante" und als „Ewigkeit a parte post" (III, 350/51) die Geschichte gleichsam einrahmen, wie die beiden Altarflügel mit der Darstellung des Paradieses und des Jüngsten Gerichtes den mittleren Hauptflügel, die Darstellung der irdischen Heilsgeschichte, umfassen. Ganz in diesem Sinne kann Novalis auch die Bibel als symbolisches Schema aller Geschichte begreifen, denn sie „fängt herrlich mit dem Paradiese, dem Symbol der Jugend, an und schließt mit dem ewigen Reich - mit der heiligen Stadt" (III, 128). In der Gegenwart hingegen ist das Paradies „verstreut", ist die ursprüngliche und die kommende Einheit des Lebens zerfallen und feindselig in gegenständliche Teilbereiche zersplittert: „Das Paradies ist gleichsam über die ganze Erde verstreut - und daher so unkenntlidi etc. geworden - Seine zerstreuten Züge sollen vereinigt - sein Skelett soll ausgefüllt werden. Regeneration des Paradieses" (III, 173).

Dieses triadische Geschichtsverständnis ist kennzeichnend für das gesamte Denken des Novalis; von ihm her erhält seine Vergangenheitssehnsucht wie seine Zukunftsprophetie Bedeutung und Zusammenhang. Die Geschichte drängt auf die Wiederkehr der alten Verbundenheit von Geist und Natur, von übersinnlicher und sinnlicher Welt hin, wie sie sich in der „Vorzeit" der Erinnerung eröffnet. Aber diese Wiederkehr ist zugleich durch denProzeß der Geschichte und durch das menschliche Bewußtsein hindurchgegangen; sie wird als eine Wiederherstellung der Einheit auf höherer Stufe verstanden, als freier Einklang aller Wesen, als Einheit im Mannigfaltigen - so wie Novalis gelegentlich die „Regel der Natur" überhaupt als „eine unendliche Mannigfaltigkeit in den Formen - Einheit in dem Prinzipium, welches alles umfaßt", erblicken kann (III, 105). Aus diesem Grunde erscheint ihm in seinen geschichtsphilosophischen Erörterungen die erste Periode geradezu „monoton"; der Weg der Geschichte soll, wie es ausdrücklich heißt, von der Monotonie über die Disharmonie zur Harmonie führen. Beide Welten, die Natur- und Geisterwelt, sollen „einen Einklang, keinen Einton" bilden (II, 336)2. Hier scheint, wie 2 Diese Bemerkung bezieht sich auf den sogenannten „magischen Idealismus" des Novalis, der sich gerade von der Idee des goldenen Zeitalters her als relative Stufe im Denken des Dichters erweist. Wenn es hier heißt: „In der Periode der Magie dient der Körper der Seele oder der Geisterwelt" (II, 336), so bedeutet das nichts anderes, als daS diese Magie noch der disharmonischen Zwischenstufe angehört, die überwunden werden soll. Man wird die dahin gehörenden Aufzeichnungen des Novalis stets mit anderen, ergänzenden zusammenhalten müssen, um zu keinen Verzeichnungen zu kommen. „Unabhängig von der Natur" zu werden, wie es in der oft zitierten Notiz II, 369 heißt, kann niemals das letzte Ziel des Menschen sein, sondern ist als Stufe zu verstehen, um einer wahrhaf-

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bereits bei Betrachtung der Studienhefte deutlich wurde, die Auseinandersetzung zwischen Herder und Hemsterhuis fast wörtlich wieder aufgenommen zu werden, wenn die „Polytonie" als Voraussetzung einer künftigen Harmonie angesehen und „jene höhere Synthesis der Einheit und M a n n i g f a l t i g k e i t . . . durch die eins in allem und alles in einem ist", als Endziel der Geschichte gefordert wird (II, 374). Der Frühromantiker Novalis steht trotz seiner mystischen Einheitssehnsucht, trotz seiner Verkündigung der Liebe als „Basis aller wahrhaften . . . Verbindung" (II, 57) auf der Seite Herders, der vor dem völligen Zerfließen liebender Selbsthingabe warnte und (ähnlich wie Kant) den „Mysticismus", der sich selbst in Gott verlieren will, ablehnte. Es ist für das Verständnis der mystischen Komponente im Wesen des Novalis sehr aufschlußreich, daß ihm die Betrachtung Gottes „zu monoton" erscheinen kann und er sich die bezeichnende Frage notiert: „Wie vermeidet man bei Darstellung des Vollkommenen die L a n g e w e i l e ? " (III, 163). Dieses Ungenügen an einer absoluten Vollkommenheit (als indifferenter Einheit, wie sie der Mystiker sucht), dieses Empfinden ihrer „Eintönigkeit" entspricht der romantischen Sehnsucht nach einer höheren, gebildeten Einheit, die das Mannigfaltige, den Reichtum an Individuellem vereinigt, ohne ihn aufzulösen oder zu vernichten - die den Entfaltungsprozeß der Geschichte nicht rückgängig macht. So haben wir jenes Blütenstaub-Fragment zu verstehen, das den Triadenschritt in einer letzten schematischen Formel zusammenfaßt: „Vor der Abstraktion ist alles eins, aber eins wie das Chaos; nadi der Abstraktion ist wieder alles vereinigt, aber diese Vereinigung ist eine freie Verbindung selbständiger, selbstbestimmter Wesen. Aus einem Haufen ist eine Gesellschaft geworden, das Chaos ist in eine mannigfaltige Welt verwandelt" (II, 33).

Für die Geschichtsauffassung des Novalis ist diese Trennung von monotoner U r stufe und harmonischer E n d s t u f e - d i e so betont dem triadischen Geschichtsverständnis früherer Jahrhunderte fremd ist und ein bezeichnendes Licht auf die romantische Überzeugung wirft, daß „gerade die I n d i v i d u a l i t ä t . . . das Ursprüngliche und Ewige im Menschen" sei3 - schlechterdings entscheidend; sie zieht sich durch zahlreiche Fragmente hin, wird unter den verschiedensten Gesichtspunkten erörtert und kehrt auch in seinen Dichtungen sinnbildlich wieder 4 . „Mit Instinkt hat der Mensch an-

ten „Gemeinschaft" mit der N a t u r fähig zu werden (II, 324). Immer wieder wird gegenüber dem magischen Willkür-Gedanken, der das „Madien", das „Erzeugen", die Poiesis des Künstlers als eines „Sehesdiöpfers" und „schaffenden Betrachters" (II, 410) betont, zugleich der Korrespondenz-Gedanke, das Entgegenkommen der Natur, das „unbegreifliche Einverständnis" (I, 30) hervorgehoben, das auf das harmonisdie Zielbild der goldenen Zeit vorausweist. - Den magisdien Idealismus als Periode im Denken des Novalis haben gegenüber der älteren Forsdiung bereits nachgewiesen U. FLICKENSCHILD, a . a. O . S. 91 ff., u n d T H . HAERING, a. a. O . S. 3 6 4 - 3 8 1 .

* Friedrich Schlegel in den .Ideen' von 1800: „Grade die Individualität ist das Ursprüngliche und Ewige im Mensdien . . . Die Bildung und Entwicklung dieser Individualität als höchsten Beruf zu treiben, wäre ein göttlicher Egoismus" (Minor, a. a. O. II, 296). Vgl. audi die dazugehörigen Äußerungen: „Gott . . . ist ein Abyssus von Individualität, das einzige unendlich Volle"; „Gott ist . . . das Individuum selbst in der höchsten Potenz" (Minor, a. a. O. II, 289 u. 294). * Vgl. etwa II, 374, N r . 270; III, 66, N r . 48; III, 94, Nr. 221; III, 113, Nr. 325 u . a . m . - Interessant ist, daß sich diese Grundansdiauung bis in die Sprach- und Stiltheorien des Novalis hinein verfolgen läßt. Die wehmütige Erinnerung an die „allgemeine η Sprache der Musik", die bei Novalis wiederholt anklingt (III, 100), ist nichts anderes als die Sehnsucht, zurückkehren zu dürfen in die „indische Heimat", aus dem Bestimmten ins Unbestimmte, aus der endlichen Isolation in die namen20*

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Das goldene Zeitalter als „Vergangenheit" und als „Zukunft"

gefangen - mit Instinkt soll der Mensdi endigen", heißt es einmal in den Aufzeichnungen des .Allgemeinen Brouillon* von 1798/99. Instinkt wird hier als „das Genie im Paradiese - vor der Periode der Selbstabsonderung (Selbsterkenntnis)" bezeichnet (III, 111). Das höhere Paradies aber wird dann erreicht sein, wenn der Instinkt in Kunst verwandelt ist (III, 244), wenn er sich mit dem Wissen vereinigt hat und die bewußtlose Unschuld der Kindheit im Bewußtsein wiedererlangt wird: „Jetzt ist der Geist aus Instinkt Geist - ein Naturgeist - er soll ein Vernunftgeist, aus Besonnenheit und durch K u n s t Geist sein. (Natur soll Kunst und Kunst zweite Natur werden.)" (II, 410).

So ist „in der künftigen Welt . . . alles wie in der ehmaligen Welt - und dodi alles ganz anders. Die künftige Welt ist das vernünftige Chaos - das Chaos, das sich selbst durdidrang . . . " (III, 97). Der Naturstand wird unter diesem theoretischen Gesichtspunkt (dessen Widerspruch zur dichterischen Darstellung uns noch beschäftigen wird) als eine „Zeit der allgemeinen Anarchie - der Gesetzlosigkeit" angesehen, und das Mär dien, das für den Romantiker an die Stelle der „Idylle" tritt, spiegelt diese Urzeit ab, indem es die Natur „auf eine wunderliche Art mit der . . . Geisterwelt vermischt" und damit „ein Traumbild - ohne Zusammenhang", gleichsam eine „musikalische Fantasie" der träumenden Urwelt vor uns ausbreitet. Zugleich aber wird die Forderung nach einem „höheren Märdien" erhoben, nach dem Kunstmärchen, das „prophetische Darstellung" sein soll, weil „ohne den Geist des Märchens zu verscheuchen irgendein Verstand - (Zusammenhang, Bedeutung etc.) hineingebracht wird" und damit „eine absolute, wunderbare Synthesis" als Ziel des Märchens, als visionäre Verkündigung der Zukunft erscheinen kann (III, 97; III, 253). Das Märchen erzählt also von einer Welt, wie sie war und wie sie sein wird; die ehemalige Einheit, die wir aus alten Überlieferungen und Volksmärchen noch ahnen, gilt indessen nur als „sonderbares Bild" der zukünftigen Einheit, in der das Chaos zur Vernunft und zum Bewußtsein seiner Kräfte, und die Naturanarchie zur vollendeten, d. h. gebildeten Schöpfung durchgedrungen ist. Ja, Novalis kann sogar davon sprechen, daß es „ohne Trennung keine Verbindung" geben würde; „je

lose Flut der Unendlichkeit einzugehen - wie sich audi die Sehnsucht nadi der goldenen Vorzeit als „Sehnsucht nach dem Zerfließen" äußern kann (I, 36). Aber audi hier wird das Ziel der Poesie nicht als eine Rückkehr der Sprache in die reine Indifferenzsphäre der Musik, als ihre Auflösung in die bloß klingenden und unbestimmt verhallenden Töne betrachtet, sondern als eine wechselseitige Durchdringung von vokalischer Unbestimmtheit und konsonantischer Beschränktheit, von Poesie und Prosa (vgl. vor allem den Brief an A. W . Schlegel vom 12. J a n u a r 1798, IV, 224/25; ferner II, 394; III, 107). Die Sehnsucht nach Auflösung und Vereinigung des Getrennten, die Novalis in der Musik als einer unbestimmten Tonsprache erfüllt zu sein scheint, verführt ihn nicht dazu, alle Sprache in Musik auflösen zu wollen - im Gegenteil, es erscheint höchst bezeichnend, daß Novalis nicht wie etwa Wadcenroder oder Tieck als prototypische Vertreter der Frühromantik der Musik den obersten Platz in der Stufenordnung der Künste zuweist, sondern der Poesie als einer „Mittelkunst zwischen den bildenden und tönenden Künsten" (III, 107). Auch hier ist das Ziel der Kunst nicht das reine, unterschiedslose Meer der Unendlichkeit, sondern die gebildete, das Mannigfaltige umfassende und doch zusammenklingende Harmonie von Endlichkeit und Unendlichkeit. Das ließe sich über die Theorie hinaus bis in die Sprache des Novalis hinein verfolgen, die niemals - auch in der Lyrik nicht - der Tiedcsdien Wortmusik verfällt. Vgl. die W e n d u n g gegen Tiedc III, 336, Nr. 395; III, 127, Nr. 385. Novalis steht hier in einem erstaunlichen Gegensatz zur gemeinromantisdien Auffassung. Vgl. dazu schon H. FAUTECK, Die Sprachtheorie Fr. v. Hardenbergs (Novalis). Neue Forschung, Heft 34. Berlin 1940, S. 104 ff.

Die triadische Grundfigur der GesAiAte

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vollkommner auf einer Seite isoliert, desto vollkommner auf der andern verbunden - desto harmonischer" (III, 103). Von daher erklärt es sich, daß er zwar die Polarität alles Lebens als Unvollkommenheit begreift - „es soll keine Polarität einst sein" (III, 189) - , aber doch in der Ausbildung der polaren Sphäre die Voraussetzung für die Herbeiführung des goldenen Zeitalters erblickt: „Ich realisiere die goldne Zeit indem idi die polare Sphäre ausbilde . . ( I I I , 227). Denn aus der Monotonie führt der W e g nur über die Trennung und Disharmonie zur freien, in der Mannigfaltigkeit verbundenen Harmonie. Die symbolische Grundfigur dieses Weges kehrt audi in der Dichtung ständig wieder; audi im innerseelischen Prozeß des einzelnen Menschen stehen Absdiied, Sterben, Trennung als Voraussetzung vor der Wiedervereinigung auf höherer Stufe. So heißt es von Heinrich von Ofterdingen bei seinem ersten Aufbrudi und Absdiied von seiner Vaterstadt: „Es ward ihm jetzt erst deutlich, was Trennung sei; die Vorstellungen von der Reise waren nicht von dem sonderbaren Gefühle begleitet gewesen, was er jetzt empfand, als zuerst seine bisherige Welt von ihm gerissen und er wie auf ein fremdes Ufer gespült ward . . . Eine erste Ankündigung des Todes, bleibt die erste Trennung unvergeßlidi, und wird . . . endlich bei abnehmender Freude an den Erscheinungen des Tages, und zunehmender Sehnsucht nach einer bleibenden sichern Welt zu einem freundlichen Wegweiser und einer tröstenden Bekanntschaft . . . " (I, 110). Diese individuelle Erfahrung - scheinbar in eine ganz absichtslose und schlicht-alltäglidie Gemütsstimmung gefaßt - weitet sich aber bei Heinrich zur Ahnung einer künftigen Rüdekehr auf höherer Stufe: „ . . . er sah nach Thüringen, welches er jetzt hinter sich ließ, mit der seltsamen Ahndung hinüber, als werde er nach langen Wanderungen von der Weltgegend her, nach welcher sie jetzt reisten, in sein Vaterland zurückkommen, und als reise er daher diesem eigentliA zu . . . " (I, 111). - Ganz ähnlich wird in den .Lehrlingen zu Sais' dieser Vorgang leitmotivisch zum Ausdruck gebracht, wenn es vom Lehrer heißt: „Vielmehr will er, daß wir den eignen Weg verfolgen, weil jeder neue Weg durch neue Länder geht, und jeder endlich zu diesen Wohnungen, zu dieser heiligen Heimat wieder führet. Audi idi will also meine Figur beschreiben . . . " (I, 14). Aber diese Grundfigur des Novalis, dieser Weg, der über Trennung und Absdiied „immer nadi Hause" führt (I, 229), wird nidit als Kreis, sondern als Spiralbewegung begriffen, als Weg einer höheren Heimat zu, die das Bewußtsein der Trennung und der durchwanderten neuen Länder mit umfaßt: im Sais-Märdien muß Hyacinth den weiten Weg durch fremde Länder und Zeiten antreten, bevor er im Tempel Rosenblütdien als Ziel seiner Sehnsucht umarmt - eine „Rückkehr", die zugleich doch mehr ist, weil sie die Erkenntnis, die „süße Auflösung des Geheimnisses" (I, 41) enthält und daher eine höhere, wissende Einheit der Liebenden begründet5. - Es handelt sich also bei allen diesen Vorgängen um eine geheime Abspiegelung des „großhistorischen" Entwicklungsprozesses; im einzelnen Menschen muß sich „symbolisch verjüngt" vollziehen, was die Geschichte der Menschheit bewegt, und war für diese die B i b e l mit ihrem Triadenschema des Paradieses, des Sündenfalls und des ewigen Gottesreiches als „herrliches" Symbol erkannt und ergriffen worden, so lautet die daran anknüpfende Erkenntnis des Novalis folgerichtig: „Jedes MensAen GesAiAte soll eine Bibel sein - wird eine Bibel sein" (III, 128). 5 In diesem Sinne ist wohl auch die Abänderung des Märchens gegenüber dem älteren Paralipomenon Nr. 3 zu verstehen: Nicht in der „SAlafkammer" findet sich Hyacinth wieder, so daß sidi Wanderung und Trennung als bloßer Traum erweisen, sondern im Tempel zu Sais als einer höheren Heimat. Das Motiv der Rüdekehr bleibt durdi das liebende Wiedersehen mit Rosenblütdien gewahrt, aber es wird zugleich angedeutet, daß es sidi um keine „bloße" Rückkehr handelt (vgl. I, 41 u. I, 27). Diese Änderung würde durdiaus der bewußten Arbeitsweise des Novalis entsprechen.

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Das goldene Zeitalter als „Vergangenheit"

und als „Zukunft"

2. D a s goldene Z e i t a l t e r als „ V e r g a n g e n h e i t " (der Wechsel der Vorstellungsformen und die T r a n s p a r e n z des zugrundeliegenden Zeitsdiemas) W i r stoßen aber schon hier auf einen eigentümlichen Widerspruch, wenn wir die Dichtungen des Novalis betrachten und erkennen, daß sich die goldene Vorzeit für ihn unter durchaus wechselnden Vorstellungsformen bald in den ältesten Kulturlandschaften des Orients, bald in orphischer Sagenzeit, bald in der Antike oder im Mittelalter verkörpern kann - wobei das Gemeinsame aller dieser Vorstellungen immer die ursprüngliche Einheit und Verwebung des Göttlichen mit dem Menschlichen, der Natur mit dem Geiste, des Diesseitigen mit dem Jenseitigen darstellt - , während in den philosophischen Fragmenten der Gedanke eines ursprünglichen Chaos, einer verworrenen Mischung aller Wesen und Kräfte vorherrscht, die sich erst nach der Zersetzung auf einer höheren Ebene wieder harmonisch-gebildet vereinigen sollen®. Dieses Nebeneinander der naturphilosophischen und der dichterischen Vorstellungsweise kann allerdings bereits durch die Deutung des antiken Mythos beeinflußt sein, wie ihn etwa Karl Philipp Moritz in seiner .Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten' dem 18. Jahrhundert vermittelt hatte. Novalis, der nach Ausweis seines Bücherverzeichnisses dieses W e r k besaß (IV, 477), hätte hier den Anstoß zu einer solchen Ideenverbindung von „Chaos" und „goldenem Zeitalter" empfangen können, wenn Moritz schreibt: „So wie man sich nämlich unter dem Reiche der Titanen und unter der Herrschaft des Saturnus, der seine eigenen Kinder verschlang, nodi das Grenzenlose, Chaotische, Ungebildete dachte, worauf die Einbildungskraft nicht haften kann, so verknüpfte man dodi wieder mit dieser Vorstellung von dem Ungebildeten, Umherschweifenden und Grenzenlosen, das keinem Zwange unterworfen ist, den Begriff von Freiheit und Gleichheit, der unter der Alleinherrschaft des Einzigen, der mit dem Donner bewaffnet war, nicht mehr stattfinden konnte. Man versetzte daher das goldene Zeitalter unter die Regierung des Saturnus, welcher, nachdem er in dem Götterkriege seiner zerstörenden Macht beraubt war, nach einer alten Sage, dem Schicksal der übrigen Titanen, die in den Tartarus geschleudert wurden, entfloh und sich in den mit Bergen umschlossenen Ebenen von Latium verbarg, wohin er das goldene Zeitalter brachte .. ." 7 . Natürlich handelt es sich hier um eine nachträgliche Harmonisierung von Mythen verschiedenartigen Ursprungs 8 . W i r erinnern uns, daß damit bereits im römischen Altertum, der stoischen Auffassung folgend, die Möglichkeit gegeben war, das von der philosophischen und kulturhistorischen Kritik entworfene Bild der Urzeit mit • R. SAMUEL meint a. a. O. S. 166, daß der Chaosbegriff des Novalis nicht der Tatsache eines goldenen Zeitalters widerspreche, da das Chaos das Flüssige symbolisiere, aus dem alles Leben hervorgegangen sei. Das ist gedanklich richtig; aber da der Verfasser in diesem Zusammenhang nicht auf die Dichtungen eingeht, ist ihm der Widerspruch des naturphilosophisdien Gedankens zur Darstellung der mythischen „Vorzeit" in den Dichtungen des Novalis nicht bewußt geworden. 7 Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten, a. a. 0 . S. 18 f. Vgl. auch S. 32. 8 Ursprünglich, d. h. bei Hesiod, sind der Kronos der Theogonie und der Kronos der WeltalterDichtung als Göttergestalten ganz verschiedenartiger Herkunft zu trennen; erst in späterer Zeit hat man den Versuch unternommen, beide Mythen aufeinander abzustimmen. Vgl. K. SEELIGER, Artikel „Weltalter", a. a. 0 . Sp. 377; B. SHELL, Die Entdeckung des Geistes, a. a. O. S. 74 ff.

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dem Weltalter-Mythos zu versöhnen und das goldene Zeitalter auf eine erste, barbarische Weltepoche folgen zu lassen, die im Göttermythos durch den Titanenkampf ihren Ausdruck gefunden hatte. In diesem Sinne rühmt audi Moritz die Schönheit der mythologischen Dichtung vornehmlich wegen ihres „Überganges vom Kriegerischen und Zerstörenden zum Friedlichen und Sanften" 9 . Es kann aber kein Zweifel daran sein, daß sich bei Novalis die Vorstellung der Urzeit als eines „Chaos", des Naturstandes als einer „Anarchie" (II, 33; III, 97; III, 167) nicht zur Deckung bringen läßt mit dem, was er in seinen Dichtungen als vergangenes goldenes Zeitalter besingt und darstellt - als jene „wehmütige Erinnerung" einer verlorenen Einheit, die die „mutige Sehnsucht" nach ihrer Wiederherstellung wecken und beleben soll (vgl. IV, 393). Es ist offenbar ein Unterschied, ob der Empiriker und Naturphilosoph der Freiberger Studien spricht — der in dem chaotischen Vermischtsein der Urzeit jenes flüssige Urelement erblickt, aus dem alles Leben und alle Geschichte entstanden ist, zugleich aber auch weiß, daß der „Anfang der Geschichte", die „Schilderung des . . . Naturstandes" nur eine „wissenschaftliche Fiktion" zur Erleichterung der Darstellung und Entwicklung sein kann (III, 136) - oder ob der Dichter spricht, der seinen Sehnsuchtstraum in alle vergangenen Menschheitsepochen projiziert, in denen ihm die erträumte, ursprüngliche Einheit (unter poetischem, religiösem oder politischem Blickfeld) verkörpert zu sein scheint. In den .Hymnen an die Nacht' wird die goldene Vorzeit in der Antike gesehen, aber nicht in der archaischen Zeit regellos wogender Urmächte, sondern in jener ersten Blüte der kindlichen Menschheit, da die „Ursöhne der Mutter Erde", die Titanen, fest unter Bergen gebunden lagen und ohnmächtig waren in ihrer zerstörenden Wut „gegen das neue herrliche Göttergeschlecht und dessen Verwandten, die fröhlichen Menschen" (I, 60). Zugleich aber kann sich die Sehnsucht nach der Vorzeit äußern in jener 6. Hymne, die die Vergangenheit urchristlicher Menschen herbeiträumt, Die Vorzeit, wo die Sinne lidit In hohen Flammen brannten, Des Vaters Hand und Angesicht Die Menschen nodi erkannten. Und hohen Sinns, einfältiglich Noch mancher seinem Urbild glich (I, 65).

In den .Lehrlingen zu Sais' stellt sich die goldene Vorzeit als Einklang der kindlich-liebenden Menschen mit der „freundlichen Natur" dar, als eine Zeit, in der die Natur „den Menschen Freundin, Trösterin, Priesterin und Wundertäterin war, als sie unter ihnen wohnte und ein himmlischer Umgang die Menschen zu Unsterblichen machte . . . " (I, 18),

und jene geheimnisvolle Ursprache, die „das Losungswort für die Seele jedes Naturkörpers" wußte, das Leben des Universums in ein „ewiges tausendstimmiges Gespräch" verwandelte (I, 38). Im Ofterdingen-Roman schließlich wird das goldene Zeitalter der Vergangenheit entweder ganz ähnlich als ein wunderbarer Zusammenklang der Natur und des Menschen dargestellt, „indem vorher alles wild, un» a. a. O. S. 19.

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Das goldene Zeitalter als „Vergangenheit" und als „Zukunft"

ordentlich und feindselig gewesen ist" und erst durdi die Zauberkraft der Poesie, durch die orphisdie Madit des Gesanges „die sonderbaren Sympathien und Ordnungen in die Natur gekommen" sind (I, 117) - jene ferne Zeit, von der die Märdien und Erzählungen der Kaufleute berichten - , oder aber es wird das Mittelalter (ähnlich wie im Europa-Aufsatz) als geschichtliche Vorzeit begriffen, in der die Sehnsucht „zwischen den rohen Zeiten der Barbarei und dem kunstreichen, vielwissenden und begüterten Weltalter eine tiefsinnige und romantische Zeit" erfaßt, die als verlorener Einklang des Sinnlichen und des Übersinnlichen mit allen Farben der Erinnerung ausgeschmückt werden kann (I, 110). Aber auch im Lied der Morgenländerin klingt das Motiv der Vorzeit auf, als eines verlorenen „Paradieses", das in der ältesten Kulturlandschaft der Menschheit, dem Orient, seine irdische Verkörperung gefunden hat - wo die Natur „menschlicher und verständlicher" geworden und die „Poesie des Lebens" gegenwärtig ist: Hier, wo um kristallne Quellen Liebend sich der Himmel legt, Und mit heißen Balsamwellen Um den Hain zusammenschlägt, Der in seinen Lustgebieten, Unter Früchten, unter Blüten Tausend bunte Sänger hegt (I, 140).

W i r sehen, daß das Bild der „Vorzeit" sich unter den verschiedensten Vorstellungsformen der Erinnerung und Sehnsucht darbieten kann; immer aber liegt ihm nicht die älteste, archaische, barbarisch-chaotische Geschichtsepoche zugrunde, sondern ein bereits geformtes, dem Ursprung zwar nahes, aber gebändigtes und harmonisch geordnetes Bild der Natur und des Menschen - ein Kindheitsalter, das frühzeitlich und doch nicht elementar, natürlich-unschuldig und doch schon als erste Bildungsstufe erscheint. Es sind nicht die „gewaltsamen, riesenmäßigen Zeiten", die dem Einsiedler im Schoß der Erde, als Spuren einer vergangenen, chaotischen Vorwelt, entgegentreten und denen gegenüber er sich selbst „wie ein Traum der Zukunft, wie ein Kind des ewigen Friedens" vorkommen kann (I, 166). Es wird durch einen solchen vorbereitenden Überblick deutlich, daß für Novalis die goldene Zeit, wo immer sie auch ins zeitlos Märchenhafte oder ins geschichtlich Ursprungsnahe transponiert wird, unter wechselnden Vorstellungsformen eine bereits besänftigte, gebildete, freilich noch unbewußt zusammenklingende Harmonie zwischen Mensch und Natur, Irdischem und Göttlichem meint. Erst die Trennung, erst der Schmerz des Verlorenen weckt das Bewußtsein und läßt zugleich die Wiederherstellung auf einer höheren Bewußtseinsebene als Sehnsuchtsziel am Horizont der Geschichte auftauchen. Davon abgesehen aber kündigt sich hier, in dem Zerfließen aller festen geschichtlichen Konturen, in dem freien Transponieren der Vorzeitsehnsucht auf die verschiedensten, näheren oder ferneren Zustände die Tatsache an, daß es sich letztlich nicht um eine lokalisierbare, geschichtlich gemeinte Frühzeit handelt, sondern um die Sehnsucht nach einer zeitlos-ewigen Heimat, um die Vergegenwärtigung jenes „Vaterlandes", das als Ewigkeit am Beginn aller Geschichte wie als Ewigkeit am Ende aller Geschichte steht. Der W e g des Menschen wie der Natur verläuft zwischen

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diesen beiden Polen, wo immer sie sich symbolisch darstellen; er führt aus der Heimat in die Heimat, „immer nach Hause" (I, 229). Die Erinnerung, wo sie sich audi die vergangene Heimat erträumen mag, weckt damit die Ahnung, die den Weg in die zukünftige Heimat weist. Beide sind wie das Märchen nur Träume „von jener heimatlichen Welt, die überall und nirgends ist" (II, 352)10. Es ist der Dichter, der das zeitlos-gegenwärtige Ideal überall aufzusuchen und zu künden berufen ist; der an ihm den Maßstab besitzt, an dem die Wirklichkeit erkannt, die Vergangenheit aber als Wegweiser der Zukunft ergriffen werden kann; der erinnernd zur „Annihilation des Jetzigen" aufruft, damit aus dem Wege nadi innen, aus der Versenkung in die Ursprünge der Menschheit wie des eigenen Lebens, die Ahnung als „Apotheose der Zukunft" aufsteigen kann (IV, 262) - immer aber ein „Jenseits" der Geschichte meinend, das sich nur dem empirischen Blickfeld als Anfang und Ende darstellen muß 11 . Der romantische Begriff der „Urzeit" darf also, wie bereits Wilhelm Emrich betont hat, „unter keinen Umständen mit dem modernen Begriff der Prähistorie oder realmythischen Vorzeit identifiziert werden" 12 . Er ist mehr eine notwendig zu fordernde und dichterisch erschaute als eine historisch aufweisbare Urgestalt alles Lebens, ein Postulat, das den absoluten Ausgangspunkt der Geschichte und letztlich ihr Zielbild deutlich machen soll. „Aller wirklicher Anfang ist ein zweiter Moment notiert sich Novalis einmal (II, 376). „Alles was da ist, erscheint, ist und erscheint nur unter einer Voraussetzung ... Ich muß allem etwas Absolutes voraus denken voraussetzen - nicht auch nachdenken, nachsetzen?" Als eine solche Voraussetzung muß auch die „urbildliche Welt" (II, 34) verstanden werden, von der einst alle Geschichte ausgegangen ist, die aber „über die ganze Erde verstreut - und daher so unkenntlich" wurde (III, 173). Die Erweiterung des geschichtlichen Bildes ins Urbildliche wird darum zur Aufgabe des Dichters, der „als Orpheus" erscheint (III, 183), indem er aus den verstreuten Spuren und Zeichen, Trümmern und Überresten die verschollene Vorzeit wiederstehen läßt und deutet: so, daß ihre ursprüngliche

10 Ganz ähnlich kann Novalis gelegentlich die Idee des goldenen Zeitalters mit dem „Stein der Weisen" vergleidien, der als zeitlos-gegenwärtiges und wirksames Ideal „überall und nirgends, alles und nichts ist" (III, 259; vgl. dazu II, 180; III, 106; III, 112; III, 228). 11 Das wird in vollendeter Weise an der eigentümlichen Rolle sichtbar, die der Tempel zu Sais als Vergegenwärtigung der „heiligen Heimat" (I, 14) in den .Lehrlingen zu Sais' spielt. Vgl. unsere Arbeit, S. 360 ff. 12 W . EMRICH, Begriff und Symbolik der „Urgeschichte" in der romantischen Dichtung, in: DVjs. 20, 1942, S. 279. W i r stimmen im wesentlichen mit dieser Untersuchung Emrichs überein, die den Begriff der Urgeschichte in seiner geschichtsmethodologisdien Fruchtbarkeit aufzeigen und seine dichterische Symbolik, wie sie sich in bestimmten landschaftlichen und mythischen Symbolen der Romantiker niedergeschlagen hat, entfalten will. Vor allem die Absetzung zum modernen Begriff der Prähistorie ist von Bedeutung, wenn Emrich bemerkt: „Gerade das Schwinden des BewuStseins von dem tatsächlich transzendentalen Charakter jeder solchen Urvorstellung, gerade die bewußt antiphilosophische W e n d u n g dieser Suche nach den r e a l e n Ursprüngen einzelner Gesdn nadi dem zweiten Teile - dunkel - trüb - verworren" (I, 240) beruht auf einem grammatischen Irrtum, da das Wort „nach." hier doch wohl in der Bedeutung „zu" (dem zweiten Teil hin) verwendet wird, während das gestrichene „aus" nicht, wie Küpper annimmt, das Gegenteil beweist, da es schon bei der Niederschrift gestrichen wurde und Novalis offenbar zunächst ganz anders fortzufahren beabsichtigte („aus dem ersten Teile"?). Die Notiz trifft jedenfalls überzeugend jene „historische" Lücke, die Novalis bewußt zwischen dem 1. und 2. Teil des Romans belassen hat und die der Leser aus dem wahrhaft „dunkel - trüb - verworren" angelegten Beginn des 2. Teils erraten muß (Mathildens Tod usw.). Gerade das Eigenschaftswort „trüb" deutet darauf hin, daß es sich nicht um den Obergang von der „Erfüllung" zur „Verklärung" handeln kann. Ferner wird das Argument, daß die sieben Stichworte zur Fortsetzung des Werkes (I, 243: „Das Gesicht. Heldenzeit. Das Altertum. Das Morgenland. Der Kaiser. Der Streit der Sänger. Die Verklärung.") nicht unbedingt schon als Kapitelüberschriften des 2. Teils anzusehen seien („Sie machen eher den Eindruck einer Skizze dessen, was überhaupt folgen sollte"), durch Novalis selbst widerlegt, der in einer späteren Entwurfsnotiz ausdrücklich von „dem Kapitel Altertum" spricht (I, 246); auch benutzt Küpper selbst diese Reihenfolge der Kapitel als Leitfaden für seinen Rekonstruktionsversuch, wobei er eine „deutliche Zäsur zwischen dem zweiten und dritten Teil des Romans" nirgends feststellen kann (a.a.O. S. 114). Die weitere Begründung, die R. SAMUEL kürzlich im AnschluS an die Küppersche These vorgelegt hat („Während die ersten Kapitel in sich sehr klar gegliedert waren, war für die .Verklärung' so viel Material vorhanden, daß es unmöglich in ein Kapitel gezwängt werden konnte"; in: Der deutsche Roman, a. a. O. Bd. I, S. 293), kann ebensowenig überzeugen, wie Küppers Hinweis auf eine naheliegende „triadische" Struktur des Romans. Denn über die Form der Darstellung, in welcher die mythisch-märchenhaften Ereignisse des letzten Kapitels zu gestalten gewesen wären, wissen wir so gut wie nichts, obwohl nur diese Aufschluß geben könnte über den dafür benötigten Raum. Der Hinweis auf den triadischen Rhythmus des Geschehens aber übersieht, daß sich dieser absolut nicht mit der vorgeschlagenen Einteilung des Romans in eine „Erwartung", „Erfüllung" und „Verklärung" zur Deckung bringen lassen würde, daß im Gegenteil die Anlage des Romans verrät, wie hier die Gegenwart (als zweite Stufe des Triadenschemas) durch beide Teile hindurchgehen sollte: im ersten Teil öffnet sie sich der „Erinnerung" (Vergangenheit) und „Ahndung" (Zukunft), um im zweiten Teile in eine absolute, Vergangenheit und Zukunft umgreifende „Gegenwart" verwandelt zu werden. Erst dieses neue goldene Zeitalter kann wahrhaft als „Erfüllung" der Träume und Märchen des ersten Teils verstanden werden (vgl. das Klingsohr-Märchen I, 215: „Die Erwartung war erfüllt . .."). So muß, bei allen Unklarheiten in der Zuordnung einzelner Notizen zu den entsprechenden Kapitelüberschriften, vorderhand an einem letzten Kapitel „Die Verklärung" festgehalten werden, das nach Hardenbergs Plan den zweiten Teil beschließen sollte.

Das Zielbild: Die ,Herstellung

der Märekenwelt"

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zu Zeichen und Chiffern eines tieferen, geistigen Wissens und Wollens werden. Wir können uns die geheime Absicht des Diditers bereits an der eigentümlichen Rolle, welche die mittelalterliche Welt im Ofterdingen-Roman spielt, verdeutlichen. Wenn H. A. Korff meint, daß dieses Mittelalter nicht nur, an der historischen Wirklichkeit gemessen, ein Märchen sei, sondern auch die Funktion eines solchen Märchens ausübe - „wenn anders Märchen Wunschbilder sind, mit denen sich die Sehnsucht des Menschen zu genügen sucht"22 - , so ist diese Auffassung falsch und geht an der eigentlichen Intention des Autors vorbei. Natürlich ist es kein Zufall, daß Novalis den Weg Heinrichs von Ofterdingen ins Mittelalter verlegt; gilt ihm dieses doch als „eine tiefsinnige und romantische Zeit . . . , die unter schlichtem Kleide eine höhere Gestalt verbirgt" (I, 110). Wie alle Übergangszeiten, ist es in eine wunderbare Dämmerung gehüllt und daher geeignet, „die verborgene Herrlichkeit der sichtbaren Welt" zu offenbaren und „ein neues höheres Auge" im Menschen zu erwecken (I, 109). Auf der anderen Seite aber darf nicht übersehen werden, daß die mittelalterliche Welt des Romans immer als Gegenwart erscheint, die sich durch Märchen und Sagen ständig in die Vergangenheit hinein weitet und durch Träume und Ahnungen ständig auf die Zukunft hin fortschreitet, d. h. transparent wird für alle Zeiten und Räume der Geschichte, für eine „erfüllte Zeit" in des Wortes tiefster Bedeutung. Zwischen den beiden Polen von Erinnerung und Ahnung, von Vergangenheit und Zukunft, verläuft daher auch der Erlösungsweg des Dichters Heinrich von Ofterdingen, der als ein Vorgang von überindividueller und zeitenthobener Typik (die sich in immer neuen Analogien darstellen kann) zum Thema des Romans wird. Heinrich ist erst in dem Augenblick zum Dichter reif geworden, da er, nach dem Tode Mathildens, „weit außer der Gegenwart" steht, da sich „Zukunft und Vergangenheit . . . in ihm berührt und einen innigen Verein geschlossen" haben (I, 226): er steht damit dort, wo der Dichter nach Novalis immer stehen wird, außerhalb der unvollkommenen Gegenwart. Wenn Korff dagegen die kindlich-frommen Menschen des .Ofterdingen' mit den arkadischen Schäfern vergleicht „es sind, in ein anderes Klima versetzt, die Menschen der Geßnersdien Idyllen, des Idyllenideals des 18. Jahrhunderts, die Menschen eines goldenen Zeitalters, das jetzt nur nicht mehr in einem arkadischen Nirgendwo gesucht, sondern gefunden wird im romantischen Mittelalter" 13 - ,

so verkennt er völlig, daß es Novalis hier wie auch sonst nicht um einen Wunschraum oder eine Wunschzeit geht, die in plötzlich aufsteigender Vollendung das erträumte Ideal darbieten und der menschlichen Sehnsucht Genüge tun können, sondern daß es ihm um die Darstellung des Erlösungsvorganges, um den Prozeß der dichterischen Weltverwandlung geht (wie bereits in den .Lehrlingen zu Sais' deutlich wurde) : und unter diesem Blickfeld ist das Mittelalter, wenn auch mit höheren Sinnen begabt und deshalb besonders geeignet, den geheimsten Auftrag des romantischen Dichters zu offenbaren, doch wieder nur Gegenwart, d. h. Ausgangspunkt für die erträumte Weltmission der Poesie. Nicht die Verlegung des goldenen ZeitA

H. A. KOMP, Geist der Goethezeit. Bd. III: Frühromantik, a. a. 0 . S. 589.

» H . A. KORFF, a. a. O. S. 589. 27 Mihi, Die Idee des goldenen Zeitalters

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Die poetische Vorstellungsform des goldenen Zeitalters

alters aus dem arkadischen Nirgendwo ins christliche Mittelalter ist also Sinn und Anspruch des Ofterdingen-Romans, sondern eine Vergegenwärtigung des Weges, der überall, jetzt und immer, zur Verwirklichung des goldenen Zeitalters führen kann. Wenn wir versuchen, den Gedankengang, der diesem messianisdien Dichterbegriff des Novalis zugrundeliegt, mit wenigen Worten zu umreißen, so können wir Folgendes sagen: Der Traum vom goldenen Zeitalter, der im ,Ofterdingen' märchenhafte Wirklichkeit annehmen sollte, wird durch die schöpferische Einbildungskraft des Dichters verwirklicht, der Raum und Zeit zu überwinden vermag, der durch die Jahrhunderte der Geschichte wie durch Minuten schreitet, der sich in Stein, Tier und Pflanze selbst wiederfindet und das Innere in aller Natur erlöst, indem er ihm Stimme gibt, der das Dasein nicht als in unzählige Einzelwesen gespaltene Mannigfaltigkeit, sondern als Einheit im Mannigfaltigen, als einen unendlichen Wesenszusammenhang erlebt. Der Raum der Innerlichkeit, in welchem sich dieses „Geheimnis der Transsubstantiation" vollzieht (III, 226), wird in den letzten beiden Lebensjahren des Novalis mit dem Begriff des „Gemüts" umschrieben, und die Überführung der Welt, der Natur und der Geschichte, in die „Einheit des Gemüts" (III, 336) steht im Hintergrund des ganzen OfterdingenRomans, der diesen Auftrag aller Poesie darstellen und bis zur Vollendung durchführen sollte. Denn der Dichter vermag darüber hinaus die innerlich erfahrene Einheit, das ewige Wesensreich, das alle Erscheinungen durchwirkt und verbindet, in der Zeit zu realisieren: er erfaßt nicht nur alles Äußere innerlich, alles Sinnliche geistig und tritt damit in den tieferen Einklang alles Lebens ein - das war auch die passive Sehnsucht Hemsterhuis' - , sondern er kann das Innere wiederum im Äußeren offenbaren, dem Geistigen sinnliche Gestalt, Körper und sprachlichen Ausdruck verleihen und damit das Unsichtbare ins Sichtbare verweben, das Ewige in der Zeit zur Erscheinung bringen. „Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten" (II, 17) - dieses oft vernommene Schlüsselwort des romantischen Dichters birgt also nur die halbe Wahrheit, denn es schließt sich die Forderung daran an: „Alles soll aus uns heraus und sichtbar werden - unsre Seele soll repräsentabel werden" (III, 71); d. h. die gleiche Sinnenwelt, die im Erfahren der inneren Harmonie zum „Traum" geworden war, muß nun als „symbolischer Körper" dienen, damit dieser Traum im Medium des dichterischen Wortes „Welt" werde. An die Stelle eines geistigen Universums, in welchem, nach Herders harter Kritik an Hemsterhuis, alles „wie Meeresschleim" zusammenzufließen droht 24 , tritt der Auftrag des Dichters, die ersehnte und erfahrene Einheit sichtbar zu machen, im irdischen Weltstoff und sinnlichen Sprachkörper zu gestalten, alles Natürliche als Abbild und Hieroglyphe der „unbekannten heiligen Welt" (I, 192) darzustellen - tritt die schöpferische Offenbarung des geheimnisvollen Innenreiches in der lebendigen Gestaltenwelt der Dichtung. Das Unendliche ins Endliche zu überführen und dadurch das Endliche zum Sinnbild des Unendlichen emporzuheben - das ist das Werk des Dichters, wie es sich immer schon im Vorgang der S p r a c h e vollzieht: denn jedes einzelne Wort u

Herder, Sämmtliche Werke, a. a. O. Bd. XV, S. 325.

Das Zielbild: Die „Herstellung der Märchenwelt"

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ist hier sinnliches Medium für etwas Geistiges, das sidi in ihm offenbart und gleichsam körperliche Gestalt annimmt25. Im Werk des Dichters verwirklicht sidi daher das goldene Zeitalter als eine neue, poetische Weltschöpfung - jene universale Transsubstantiation der Sphären, wie sie im Klingsohr-Märchen prophetisch angekündigt wird, wenn es heißt: „Himmel und Erde flössen in süße Musik zusammen . . ( I , 203), oder wenn der Phönix weissagend singt: „Die Königin erwacht aus langen Träumen, Wenn Meer und Land in Liebesglut zerrinnt . . ( I , 196). Meer und Land, Himmel und Erde - darin ist die vollkommene Harmonie ins Bild gebannt, die das goldene Zeitalter der Poesie heraufführen soll: die Einheit der getrennten Sphären von Natur und Geist, von Welt und Überwelt, von Endlichem und Unendlichem, die im Innern erfahren und gedanklich erfaßt, im dichterischen Wort aber ent-äußert und bildlich offenbart wird. Es kann hier abschließend nur angedeutet werden, daß Novalis diese wechselseitige Durchdringung und Verwebung der Sphären auch in der Sprachform des Ofterdingen-Romans vollkommen zum Ausdrude gebracht hat - in jener Magie seiner Prosa, von der Hofmannsthal einmal schreibt: „Da ist wirklich das Zauberische dungen übersteigt alles, was ohne wirkt hier völlig als geisterhaftes in Beethovens späten Werken der

erreicht, die Gewalt der W o r t e und Wortverbinsolche Beispiele geahnt werden könnte; die Sprache Wunder wie bei Rembrandt mandlmal die Farbe, Ton . . ."*·.

In der Dichtung, so hatte Klingsohr zu dem jungen Ofterdingen gesagt, müsse „das Chaos durch den regelmäßigen Flor der Ordnung schimmern" (I, 189) - eine bis in 2 5 Vgl. hierzu H. FAUTECK, Die Spraditheorie Fr. v. Hardenbergs, a. a. 0 . S. 179 ff. - In einer bisher unveröffentlichten Handschrift, die aus dem Herbst 1798 stammt und mathematische Studien zu einem Werke von Friedrich Murhard enthält, hat Novalis dieser Sprachtendenz eine bezeichnende Wendung gegeben, wenn er im Hinblick auf den Mathematiker, der in Figuren „sinnt", und den Philosophen, der in Worten „denkt", eine Vereinigung beider Erkenntnismethoden fordert: „Man soll nicht blos in Einer Welt - in beyden zugleiA soll man zugleich thätig seyn - nicht denken, ohne zu sinnen, nicht sinnen, ohne zu denken . . . Dort waren Figuren etc. - hier Worte etc. nöthig . . . Worte und Figuren bestimmen sich in beständigen Wechsel - die hörbaren und sichtbaren Worte sind eigentlich Wortfiguren. Die Wortfiguren sind die Idealfiguren der anderen Figuren - Alle Figuren etc. sollen Wort- oder Sprachfiguren werden - so wie die Figurenworte - die innern Bilder etc. die IdealWorte der übrigen Gedandcen oder Worte sind - indem sie alle innre Bilder werden sollen. - Der Fantasie, die die Figurenworte bildet, kommt daher das Praedicat Genie vorzüglich zu. - Das wird die goldne Zeit seyn, wenn alle Worte - Figurenworte - Mythen - und alle Figuren - SpraAfiguren Hieroglyfen seyn werden — wenn man Figuren sprechen und schreiben - und Worte vollkommen plastisiren, und Musiciren lernt . . . " (Freiberger Studien, Handschrift P, Bl. 4-9; im Besitz des Freien Deutschen Hochstifts, Frankfurt a. M.). Von der speziellen Bedeutung dieser mathematisch-philosophischen Meditation abgesehen und auf unseren Problemzusammenhang übertragen heißt das: erst wenn die sichtbare Welt, das Reich der reinen Anschauungen oder Figuren, gedanklich erfaßt und gegriffen' wird („Sprachfiguren - Hieroglyfen") und wenn die unsichtbare Welt, das Reich der reinen Gedanken oder Worte, sinnlich erfaßt und anschaubar wird („Figurenworte - Mythen"): dann wird das goldene Zeitalter anbrechen, das in der vollkommenen wechselseitigen Durchdringung beider Welten besteht, d. h. die Sinnenwelt transparent macht für den Geist und die Geistwelt sichtbar macht für den Sinn. „Beyde Künste gehören zusammen, sind unzertrennlich verbunden und werden zugleich vollendet werden" (ebd.). , e H. v. HOFMANNSTHAL, Wert und Ehre deutscher Sprache (1927). Prosa IV, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Frankfurt a. M. 1955, S. 436/37. - Das Zitat bezieht sich auf die Prosa des späten Goethe, Hölderlins und Novalis'; es scheint mir aber zulässig, es in unserem Zusammenhang speziell für den , Ofterdingen' in Anspruch zu nehmen.

27*

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Die poetisdie Vorstellungsform

des goldenen

Zeitalters

den Wortlaut vertraute Bezeichnung auch der kommenden goldenen Zeit, in weldier das Chaos, das Urflüssige, die Poesie als Weltmeer sich selbst durchdrungen, zu harmonischer Ordnung und vollendeter Schöpfung erhoben haben sollte (III, 97). Ähnlich hatte Novalis in jenem berühmten Brief an A. W. Schlegel von der „Poesie des Unendlichen" geschrieben, daß sie ihre allbildsame und unbeschränkte Natur aufgeben, daß sie einen „prosaischen Schein" erhalten müsse, um „fähiger zur Darstellung des Beschränkten" zu werden: „Aber sie bleibt Poesie - mithin den wesentlichen Gesetzen ihrer Natur getreu - Sie wird gleichsam ein organisches Wesen - dessen ganzer Bau seine Entstehung aus dem Flüssigen, seine ursprünglich elastische Natur, seine Unbesdiränktheit, seine Allfähigkeit verrät . . . Je einfacher, gleichförmiger, ruhiger auch hier die Bewegungen der Sätze sind - je übereinstimmender ihre Mischungen im Ganzen sind - je lockerer der Zusammenhang - je durchsichtiger und farbloser der Ausdruck - desto vollkommner diese . . . nachlässige, von den Gegenständen abhängig scheinende Poesie . . ( I V , 224).

Die Poesie, die sich scheinbar, wie die Prosa, der vordergründigen Sinnenwelt, der Endlichkeit zuwendet, um sich zu „erweitern", d. h. diese Welt in sich aufzunehmen und darzustellen, erhält also durch den ruhigen und gleichförmigen Fluß der Sätze, durch den farblosen und damit vielsinnigen Ausdrude, durch die „Allfähigkeit" oft wiederkehrender, im Alltagsgebrauch ausgespielter Worte (II, 325) ihre „Unendlichkeit" zurück - so, daß sie die Welt der äußeren, empirischen Erscheinungen darstellt und zugleich doch in Wahrheit, durch sie hindurchscheinend, die tiefere Einheit aller Dinge und Gestalten, das Flüssige hinter dem Geronnenen, das Meer unter den willkürlich sich brechenden Wellen, das Geistige hinter dem Körperlichen sichtbar und fühlbar macht. In diesem Sinne ist auch die Sprache des Ofterdingen-Romans eine verborgene, d. h. von den Gegenständen „abhängig scheinende" Poesie, die sich durch die Wahl einfacher, stets wiederkehrender Stilmittel ihre „Allfähigkeit" wahren will und das konkret Dargestellte durchsichtig werden läßt für einen unendlichen, assoziativ aufleuchtenden Bedeutungshintergrund - wie alle irdischen Gestalten, denen Heinrich von Ofterdingen begegnet, nur Abgesandte der „unbekannten heiligen Welt", alles Persönliche, Besondere nur Hülle und Verkörperung eines Überpersönlichen, Allgemeinen zu sein scheinen. Als Beispiel dafür wollen wir einen Abschnitt aus dem fünften Kapitel des Romans heranziehen: „ . . . Der Alte ging mit Heinrich und den Kaufleuten voran. Jener Bauer hatte seinen wißbegierigen Sohn herbeigeholt, der voller Freude sich einer Fackel bemächtigte, und den Weg zu den Höhlen zeigte. Der Abend war heiter und warm. Der Mond stand in mildem Glänze über den Hügeln, und ließ wunderliche Träume in allen Kreaturen aufsteigen. Selbst wie ein Traum der Sonne, lag er über der in sidi gekehrten Traumwelt, und führte die in unzählige Grenzen geteilte Natur in jene fabelhafte Urzeit zurück, wo jeder Keim noch für sich schlummerte, und einsam und unberührt sich vergeblich sehnte, die dunkle Fülle seines unermeßlidien Daseins zu entfalten. In Heinrichs Gemüt spiegelte sich das Märchen des Abends. Es war ihm, als ruhte die Welt aufgeschlossen in ihm, und zeigte ihm, wie einem Gastfreunde, alle ihre Schätze und verborgenen Lieblichkeiten. Ihm dünkte die große einfache Erscheinung um ihn so verständlich. Die Natur schien ihm nur deswegen so unbegreiflich, weil sie das Nächste und Traulichste mit einer solchen Verschwendung von mannigfachen Ausdrücken um den Menschen her türmte. Die Worte des Alten hatten eine versteckte Tapetentür in ihm geöffnet. Er sah sein kleines Wohnzimmer dicht an einen

Das Zielbild:

Die „Herstellung

der

MärAenwelt"

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erhabenen Münster gebaut, aus dessen steinernem Boden die ernste Vorwelt emporstieg, während von der Kuppel die klare fröhlidie Zukunft in goldnen Engelskindern ihr singend entgegensdiwebte. Gewaltige Klänge bebten in den silbernen Gesang, und zu den weiten Toren traten alle Kreaturen herein, von denen jede ihre innere Natur in einer einfachen Bitte und in einer eigentümlichen Mundart vernehmlich aussprach. W i e wunderte er sich, daß ihm diese klare, seinem Dasein schon unentbehrliche Ansicht so lange fremd geblieben war. Nun übersah er auf einmal alle seine Verhältnisse mit der weiten Welt um ihn her; fühlte, was er durch sie geworden und was sie ihm werden würde, und begriff alle die seltsamen Vorstellungen und Anregungen, die er schon oft in ihrem Anschauen gespürt hatte. Die Erzählung der Kaufleute von dem Jünglinge, der die Natur so emsig betrachtete, und der Eidam des Königs wurde, kam ihm wieder zu Gedanken, und tausend andere Erinnerungen seines Lebens knüpften sich von selbst an einen zauberisdien Faden. Während der Zeit, daß Heinrich seinen Betrachtungen nachhing, hatte sidi die Gesellschaft der Höhle genähert . . . " (I, 156/57).

Es handelt sidi, wenn wir von den ersten beiden Sätzen zunächst absehen, um die Schilderung einer Mondnacht. Die Prosa liest sich mühelos; ein gleichmäßig dahinfließender Sprachrhythmus, einfache syntaktische Gliederungen, wiederkehrende, „durch den Gebrauch ausgespielte" Worte, eine gewisse Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit des Ausdrucks kennzeichnen sie27. Aber alles, was hier geschildert oder dargestellt wird, bleibt nicht im Äußeren, sondern weist nach innen, wird auf eine andere, innere Welt bezogen. Die Traumwelt ist „in sich gekehrt", der Mond läßt wunderliche Träume „in allen Kreaturen" aufsteigen und führt „in eine fabelhafte Urzeit" zurück. Die Poesie der Nacht und der Dämmerung (III, 111) löst alle festen Wirklidikeitskonturen auf und läßt hinter der „in unzählige Grenzen geteilten" Natur eine ganz andere, „innere Natur" ahnen, die nidit nur das Blickfeld des Erzählers, sondern auch dasjenige seines Romanhelden bestimmt. Denn „in Heinrichs Gemüt" spiegelt sich das Märdien des Abends. Es ist ihm, als ruhe die Welt aufgeschlossen „in ihm". Das visuelle Erlebnis des Abends ist nur der erste, flüchtige Anstoß, um ihn - wie die Natur selbst - ins Innere zurückzuführen; er „fühlt", was die Welt und die Natur ihm werden kann, denn sie löst Erinnerung und Ahnung in ihm aus; er „sieht" (hier zum ersten Mal wird dieser Ausdrude gebraucht) in einem imaginären Bilde, das gegenüber dem „Märchen", dem „Traum" der Mondnacht eigentümlich die Rollen tauscht und als klare, festgefügte Realität erscheint, Vorwelt und Zukunft im Innern eines erhabenen Münsters vereinigt, und alles reiht sich damit von selbst „an einen zauberisdien Faden". Das Bild der natürlichen Wirklichkeit, von dem unser Abschnitt ausgeht („Der Abend war heiter und warm. Der Mond stand in mildem Glänze über den Hügeln ..."), wird also von vornherein entgrenzt und verinnerlicht; der Dichter weiß um den inneren Zustand der Dinge, weil sie sich in seinem eigenen Innern, im „Gemüt" spiegeln, und hier ergreift er die Einheit im Mannigfaltigen, die eigentliche, bleibende Welt, auf die ihn alle Erscheinungen der Natur, aber auch die „Worte des Alten", die „Erzählung der Kaufleute" hinweisen. Als Traum, als Märchen, als Erinnerung, als Ahnung dringt 17 Vgl. die Wortwahl: .heiter, warm, mild, lieblich, traulich, groß, einfadi, ernst, klar, fröhlich, wunderlich, dunkel, seltsam" - es sind die immer wiederkehrenden Eigenschaftswörter im OfterdingenRoman. .Dem Dichter ist die Sprache nie zu arm . . . Seine Welt ist einfadi, wie sein Instrument aber ebenso unerschöpflich an Melodien* (II, 325).

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Die poetisdie Vorstellungsform des goldenen Zeitalters

der geheimnisvolle Urgrund, die unsichtbare Welt der Poesie, in sein Gemüt. Aber der so erwachte Sinn des Dichters verwandelt wiederum die äußere, siditbare Welt. Denn diese „Gemütsstimmung", diese innere Welt der Poesie tritt nach außen, offenbart sich im Bilde, wird durch die schöpferische Einbildungskraft des Dichters zur Erscheinung gebracht. W a r zunächst alles Äußere innerlich erfahren und verwandelt worden („es war ihm . . „ i h m dünkte . . . " , „die Natur schien ihm . . . " ) , so verwandelt sich nun das innerlich Erfahrene ins Äußere („wie wunderte er sich, daß ihm diese klare . . . Ansicht so lange fremd geblieben war"): er „sieht" den Dombau der Welt vor sich, der zwischen Boden und Kuppel, zwischen Vorzeit und Zukunft, den Erlösungsauftrag des Dichters in der Bitte aller Kreaturen um Offenbarung ihrer inneren Natur „vernehmlich" zum Ausdruck bringt. Die reale Naturwelt ist zum Traum geworden, aber der irreale Traum der Natur wird zur Welt. Daher der eigentümliche Wechsel, der von der verschwebenden, alle visuellen Bildwerte in Gefühl und Stimmung auflösenden Naturschilderung zu der „klaren Ansicht" des Münsters mit seinem „steinernen Boden", mit seiner von singenden Engelskindern erfüllten „Kuppel" und seinen „weiten Toren" führt, durch welche die träumende Natur mit allen Kreaturen sichtbar hereintritt. Daher der Wechsel zu den aktiven Verben: er sieht, er übersieht, er fühlt, er begreift. Der ganze von uns behandelte Abschnitt ist aber nur ein Einschub im Erzählzusammenhang, in dem der Weg zu den Höhlen geschildert wird („Der Alte ging mit Heinrich und den Kaufleuten voran . . . Während der Zeit, daß Heinrich seinen Betrachtungen nachhing, hatte sich die Gesellschaft der Höhle genähert"). Diese Einfassung ist sehr bedeutsam, denn sie zeigt, daß sich hier, unabhängig von der Erzählzeit, dem epischen Kontinuum, das erst den letzten Satz wieder an die beiden ersten anknüpfen läßt, das eigentlich Darzustellende ereignet, das tiefere Geschehen des Romans, das dem Zeitstrom entrückt ist, weil es sich in der inneren Welt, in „Heinrichs Gemüt" abspielt. Ihm ist die „innere Natur" zugeordnet, die daher dem empirischen Blickfeld zunächst als Traum erscheinen muß. Der Erzähler aber vertauscht die Rollen des Traumes und der Wirklichkeit; die Wirklichkeit wird sich selbst überlassen, fließt gleichgültig und unbemerkt dahin, während der Traum in den „Betrachtungen" Heinrichs wahre Wirklichkeit gewinnt. Im kleinsten Ausschnitt erhalten wir hier einen Begriff von dem, was Novalis unter der „Romantisierung" der Welt im Medium der Sprache verstand. Das Gewöhnliche erhält, wie er es gefordert hatte, ein geheimnisvolles Ansehn, das Bekannte die Würde des Unbekannten, das Endliche einen unendlichen Schein - um in dieser Transparenz zugleich das Höhere, Unbekannte, Unendliche sichtbar zur Erscheinung bringen zu können (II, 335). Das gilt nicht nur f ü r die Darstellung der Natur, das gilt auch für die Darstellung der Romangestalten - so wie Mathilde als „sichtbarer Geist des Gesanges" (I, 181), als „der Geist ihres Vaters in der lieblichsten Verkleidung" erscheint (I, 175): immer ist das Äußere nur Hinweis und Zeichen für Inneres, Geistiges, Unsichtbares. Auch hier werden die Gestalten bewußt farblos, mit einfachen, altertümlich überkommenen Bildern und Wendungen umschrieben: „Aus ihren großen ruhigen Augen sprach ewige Jugend. Auf einem lidithimmelblauen Grunde lag der milde Glanz der braunen Sterne. Stirn und Nase senkten sich

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zierlidi um sie her. Eine nadi der aufgehenden Sonne geneigte Lilie war ihr Gesicht, und von dem sdilanken, weißen Halse schlängelten sich blaue Adern in reizenden Windungen um die zarten Wangen . . ( I , 175).

Wenn man die stete Wiederkehr soldier Bilder und den bewußten Verzicht auf charakterisierende Gestaltungsmittel beobachtet28, so wird audi hier das Bestreben spürbar, durch die „Allfähigkeit" des überkommenen und daher unbestimmten Ausdrucks das Individuelle, Besondere durchscheinend werden zu lassen, es zum Sinnträger einer anderen, universellen Welt zu erheben. Die merkwürdig blasse Schilderung der Menschen im Ofterdingen-Roman wirkt in der Tat »wie das einfädle Wort eines Unbekannten . . . , das man fast überhört, bis längst nach seinem Abschiede es seine tiefe unscheinbare Knospe immer mehr auftut, und endlich eine herrliche Blume in allem Farbenglanze diditversdilungener Blätter zeigt, so daß man es nie vergißt, nicht müde wird es zu wiederholen . . . Man besinnt sich nun genauer auf den Unbekannten, und ahndet und ahndet, bis es auf einmal klar wird, daß es ein Bewohner der höhern Welt gewesen sei . . ( I , 135).

Das alles gilt aber audi für die Sprache überhaupt, für die „Lingua romana" des Novalis (II, 335), in welcher sich die beiden Sphären des Sinnlichen und des Unsinnlichen auf geheime, kaum nodi analytisch zu ergründende Weise durchdringen. Es ist eine Sprache, die sich nicht zur Musik auflöst und doch diese Musik durch die bestimmte und begrenzte Plastik der Worte hindurchklingen läßt, wie das unendliche Meer sich im Wellenspiel der Oberfläche bricht und aufglänzt - keine absolute Poesie, die nur sich selbst meint und ins Unbestimmte verschwebt29, sondern eine Verbindung mit besonderem Sinn, mit Bedeutung und Vernunft, aber dodi allem einseitig fixierenden, um den „treffenden" Ausdrude bemühten Sinnzusammenhang schwerelos entzogen. Alles, was die Sprachmelodie bestimmt - der ruhige und gleichförmige Strom der Sätze, der geheime Rhythmus der Hebungen und Senkungen, die vokalen Lautwerte der Worte und Wortketten - , tönt durch den bestimmten Bedeutungszusammenhang hindurch wie eine begleitende, abgründige Melodie, die das Eigentliche, Unsagbare meint: es ist, als wenn es sich um Klänge aus einer anderen, unsichtbaren Welt handele, die als „das ewig ruhende, e i n e Ganze" der Poesie (IV, 224) immer gegenwärtig ist. Und so ersteht in der gesamten Sprach- und Stilform des Romans ein eigentümliches Abbild jener goldenen Zeit, die der Dichter durch die Verwandlung der Welt in Traum und des Traumes in Welt heraufführen soll - jener goldenen Zeit, die Harmonie, nicht Monotonie, konsone, nicht unisone Töne, Einheit und doch Bewußtsein der Mannigfaltigkeit, liebendes Zusammenstimmen und doch nicht Zerfließen aller festen Konturen und Gestalten bedeuten soll. In ihr wird wahrhaft - während die empirische Prosa beim Buchstaben stehengeblieben ist und „das Erscheinende über der Erscheinung" verloren hat - die Welt wie in der goldenen Vorzeit wieder zur „ M i t t e i l u n g O f f e n b a r u n g d e s G e i s t e s " (11,378).

28 Vgl. die fast gleidilautende Schilderung des „Kindes* im Sais-Fragment: „Es hatte große dunkle Augen mit himmelblauem Grunde, wie Lilien glänzte seine Haut, und seine Locken wie lidite Wölkdien, wenn der Abend kommt . . ( I , 12/18). M Vgl. die darauf bezogenen Bemerkungen II, 430/31 und III, 323 („Gedichte - bloß wohlklingend und voll schöner Worte - aber audi ohne allen Sinn und Zusammenhang . . .").

ANHANG

UNVERÖFFENTLICHTE JUGENDLYRIK VON NOVALIS

Vorbemerkung Die nachfolgenden Abschriften verdanke ich Professor Ridiard Samuel, Melbourne, der mir freundlicherweise den gesamten Jugendnadilaß Hardenbergs zur Auswertung überlassen hat. Die Auswahl der Texte erfolgte im Zusammenhang mit der vorliegenden Arbeit, wie sie vor allem im ersten Kapitel des zweiten Teiles (S. 255 ff.) begründet worden ist. Wir gruppieren die Gedidite daher thematisch: I. Drei Übersetzungen der 4. Ekloge Vergils. II. Eine Gruppe politisdi-panegyrisdier Gedichte, die uns besonders wesentlich erscheint, da sie eine bisher kaum beachtete Komponente im Wesen des jungen Dichters aufdeckt. III. Eine Gruppe bukolischer und schäferlich-anakreontischer Gedichte. Die jeweils zu Beginn vermerkte KatalogNumerierung bezieht sich auf die Sichtung des handschriftlichen Nachlasses, die Richard Samuel 1930 anläßlidi der Berliner Versteigerung vorgenommen und in seinem damals veröffentlichten Katalog als erste und einzige Klassifizierung des Gesamtnachlasses niedergelegt hat, und zwar ohne weiteren Vermerk stets auf die I. Abteilung (Jugendarbeiten Nr. 1-23). Vgl. Novalis (Friedrich Freiherr von Hardenberg), Der handschriftliche Nadilaß des Dichters, Berlin 1930 (zit. als: Katalog Samuel). Die Abschriften müssen, nachdem der Original-Nachlaß der Jugendarbeiten 1930 von der Berliner Staatsbibliothek erworben wurde und im Kriege (wie der übrige Handschriftenbesitz der Bibliothek) verlorenging, als einzige noch vorhandene Quelle zu dieser von der Forschung erstaunlich vernachlässigten Frühperiode Hardenbergs gelten. Vgl. darüber: Richard Samuel, Zur Geschichte des Nachlasses Friedrich von Hardenbergs (Novalis), in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, Bd. II, Stuttgart, 1958, S. 301 ff., insbesondere S. 344. Auch ein kleineres Konvolut von 13 im Katalog nicht verzeichneten Handschriften (mit insgesamt 16 Gedichten), die aus der Autographensammlung K. H. G. von Meusebachs schon 1849 in den Besitz der Preußischen Staatsbibliothek gelangt waren, ist heute verschollen, da es sich nicht mehr in dem von der Universitätsbibliothek Tübingen aufbewahrten Nadilaß befindet (= Sammlung Meusebach). Eine Spezialuntersuchung mit textkritischer Edition des gesamten Materials wird von mir vorbereitet. Auf einem gefalteten Foliobogen (Kat. Nr. 2, XVII), der ursprünglich als Umschlag für den Jugendnachlaß gedient haben muß, finden sich auf der 2. Seite die folgenden Vermerke: No. 8. Des sei. Fritz Schriften Dieser Eintrag stammt wahrscheinlich von dem Bruder des Dichters, Karl v. Hardenberg. Darunter ist in anderer Schrift (von Sophie v. Hardenberg, der Nichte des Dichters und späteren Verwalterin des Nachlasses) verzeichnet: Jugendliche Schriften von Novalis

Anhang

428

Darunter ein Vermerk des Herausgebers Eduard v. Bülow, der als erster die umfangreichen Konvolute durcharbeitete und 9 Gedidite für den 3. Band der Schriften (1846) auswählte: Der Frau ν Hardenberg in Oberwiederstedt gehörig ν Bülow Die Datierung des Jugendnachlasses auf die Jahre 1788-1791 ist - trotz der im übrigen redit schwierigen Ansetzung einzelner Gedichte - durch den Charakter der Schriftzüge, durch die Papierbeschaffenheit sowie durch einige fest datierbare Widmungsgedichte gewährleistet. Die Untersuchung von Alfred Wolf, Zur Entwicklungsgeschichte der Lyrik von Novalis. I: Die Jugendgedichte, Uppsala 1928, S. 183 ff., kann in dieser Hinsicht als überholt gelten; unsere eigenen Datierungsversuche halten sich, neben stilistischen und inhaltlichen Kriterien, an eine chronologische Tabelle, die Walter Creydt in seiner ungedruckten Staatsexamens-Arbeit (Die Entwicklung Friedrichs von Hardenberg als Lyriker, Berlin 1932) unter Anleitung Richard Samuels angefertigt hat, indem er die Originalpapiere und ihre Wasserzeichen untersuchte. Vgl. dazu die instruktive und wertvolle Einleitung Samuels im I. Band der Neuauflage von Novalis' Schriften, Stuttgart 1960, S. 439 ff. und S. 629. Es ergibt sich folgendes, als erster Anhaltspunkt zu wertendes Zeitschema: Nr.

1. Blatt eines Bogens

I. Vase mit Lilien, Reichsadler und Krone. I A WUNDERLICH II. Vogel, darunter zwei gekreuzte Hämmer, darunter CFS III. FRANCKE IV. C H FRANCKE

V. HESSELS VI. Liegendes Posthorn mit ornamentaler Blumenumrandung

2. Blatt

Datierung

H

1788

Mann mit Axt

Herbst 1788Frühjahr 1789

Wappen mit Hirschgeweih

Mai 1789 Ende 1789

Wappen mit Hirschgeweih (etwas kleiner als III)

Ende 1789 Herbst 1790

Bienenwabe in Wappen

Spätsommer u. Herbst 1790

FRANCKE mit gleicher Blumenumrandung

Spätherbst 1790 April 1791 (Jena)

Die Hauptgruppe der hier mitgeteilten Gedichte fällt unter die Nummern III—IV, also in die Jahre 1789-90. Von den 48 Gedichten der drei Abteilungen sind mittlerweile 6 Stücke (I, 1-2; II, 1 u. 12; III, 1 u. 26) in der Neuauflage von Novalis' Schriften, Bd. I (1960), veröffentlicht worden; aus thematischen Gründen erscheint ihr Abdruck auch in dieser Auswahl gerechtfertigt.

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429

Zeichenerklärungen: W Z I = Wasserzeichen I (Vase mit Lilien etc.). < . . . > — Im Manuskript gestrichene Stellen. [...] = Zusätze des Herausgebers. Die Interpunktion entspricht dem lässigen Gebrauch Hardenbergs.

I. Übersetzungen der 4. Ekloge Vergils Die hier vorgelegten Übersetzungen Hardenbergs sind in mehrfacher Hinsicht aufschlußreich. Sie verraten eine intensive Beschäftigung des Dichters mit der berühmten Ekloge Vergils, die ihm vielleicht zum ersten Male die Idee des goldenen Zeitalters nahegebradit hat; von keiner anderen antiken Vorlage findet sich im Jugendnadilaß ein dreifacher Übertragungsversuch, und Fassung 3 bildet neben Theokrits 21. Idylle (,Die Fischer', s. III, 2) die einzige vollständige Übersetzung, die über den Rahmen einer Schulübung hinauszugehen scheint. Eine genauere Datierung dieser Beschäftigung Hardenbergs mit Vergil ist möglich, da sich der erste Übersetzungsversuch auf einer Handschrift der Sammlung Meusebach befindet, die neben anderen Entwürfen das Gedicht ,Auf Josefs Tod' enthält (I, 315). Joseph II. starb am 20. Februar 1790; das Gedicht wird unmittelbar darauf entstanden sein. So dürfen wir annehmen, daß diese und die weiteren Übersetzungen aus dem Jahre 1790 stammen. Im Juni 1790 übersiedelte Hardenberg nach Eisleben, wo er das Luther-Gymnasium besuchte und im Hause des Rektors Jani wohnte. In dieser Zeit sind die meisten seiner Übersetzungen klassischer Autoren entstanden, wohl durch Lektüre und Schulübungen angeregt, aber durchaus mit dem Anspruch ernsthafter dichterischer Geltung verbunden, wie das an Jani gerichtete Widmungsgedicht (I, 319) anläßlidi der geplanten Übersendung einiger Übersetzungen aus Theokrits Idyllen bezeugt. Jani starb am 5. Oktober 1790; damit ist ein Terminus ante quem gegeben. 1 Hardenbergs Jugendnadilaß, Sammlung Meusebach (ehem. Staatsbibliothek Berlin). Folioblatt, gefaltet, 4 Seiten. W Z IV. Neben dem zweimaligen Übersetzungsansatz enthält das Blatt: Beginn einer Übersetzung aus der Odyssee / Auf Josefs Tod / An die Ceres. Es handelt sich um Zeile 1-3 und 1-5 der Ekloge. Singt ein höheres Lied ihr Musen Siciliens alle Freun der Tamarisken sich nicht und des niedrigen Strauchwerks, Aber singst du Wälder so seyn sie dem Konsul nur würdig Stimmt die Sayten zu höheren Hymnen, sicilisdie Musen, Büsche und niedrige Kräuter ergötzen nicht jeden, doch wählt ihr Euch den größeren Wald, so feiert ihn würdig des Consuls. Des Cumaeischen Lieds entfernteste Zeit ist gekommen Und es beginnt von neuen der Zeiten mächtiger Kreislauf.

430

Anhang 2

Katalog Samuel, Nr. 21, IV: Die 4 Ekloge Virgils, Pollio. 12 Hexameter. W Z III. Es handelt sich um Zeile 1-12 der Ekloge; die Zeilen 1-6 sind skandiert, d. h. zeigen Hebungen und Senkungen über den Worten an (von Hardenbergs Hand). Die 4 Ekloge Virgils, Pollio Kühner beginnet dodi, Siculer Musen zu singen, Alle lieben nidit die Gebüsche und niedriges Strauchwerk, Doch wenn ihr Hayn und Fluren auch singt, so < dankt nur des Konsuls > singt sie nur würdig Näher kommt schon die Zeit der lezten Hymne Kumaeas Und es beginnt von fern der Kreislauf rollender Jahre Schon kehrt das Reich Saturns und Astraea wieder zu uns her Und vom Olympos herab kommt eine bessere Nachwelt, Keusche Lucina sey dem gebornen Knaben nur günstig Welcher die ehrne Zeit verjagt und goldene Jahre Über den Weltkreis leitet, denn dein Apollo regiert schon Unter dir, Konsul, wird der Schmudc des Jahrhunderts noch aufstehn, Pollio, unter dir noch der Lauf der Jahre beginnen. 3 Katalog Samuel, Nr. 21, V: Keine Überschrift. Foliobogen, zu Briefbogenformat gefaltet, 3 Seiten beschrieben. W Z IV. Auf die vollständige Übersetzung der 4. Ekloge, die zahlreiche Korrekturen enthält, folgt in der Handschrift .Virgils sechste Ekloge', von welcher nur 5 Zeilen übersetzt sind. Die gestrichenen Stellen sind in den Text aufgenommen worden, um einen lebendigen Eindruck der Übersetzungsarbeit zu vermitteln. 1

5

10

15

20

Sizelidische Musen, o < singet erhaben > tönet höhere Weisen Allen gefällt nicht das kleine Gesträuch, und die niedre Myrize, Singt ihr aber den Wald, so sey er des Konsuls nicht unwerth. Siehe! die lezte Zeit der cumaeischen Hymne ist kommen Und es beginnet der Jahre unermeßlicher Kreislauf, Schon kehrt wieder < das himmlische Mädchen> die Jungfrau, es kommt der Saturnische Zepter Und es sendet ein neues Geschledit der Himmel hernieder Segne den Neugebohrnen, mit welchem die eiserne Brut sinkt, Und ein goldnes Geschlecht auf Erden überall aufkeimt. Segne ihn keusche Lucina, schon jezt regiert dein Apollo. Pollio und du erblickst den < Anfang > Beginn des seligen Zeitraums, Konsul noch und der größeren Monde anhebenden < Kreislauf > < Wechsel > < Rollen > Umlauf Unserer Bosheit Spuren Vertilgung, < o! giebt es noch welche > und welche noch übrig Wird von ewiger Furcht der Erdkreis unter dir < freyen > lösen. Jener empfängt der Unsterblichen Leben, wird unter den Göttern Schaun die Helden, und wird selbst unter ihnen < erscheinen > gesehn seyn Und pflegt einst den durch Vatertugend entfehdeten Weltkreis. Knabe, die selbstgewachsenen Erstlinge strömt dir die Erde Aus willfährig, den wankenden Eppich, die Fülle, mit Bakkar Und Colokasier um die schöne Akanthus geschlungen Willig schleppen nach Haus milchstrotzende Euter die Geißlein Und der Stier und die Kuh scheun nicht den gewaltigen Löwen Selbst die Wiege bestreut mit schmeichelnden Blumen dein Antliz, Drach und Schlange verkümmern, es verwelkt das trügliche Giftkraut,

Anhang

431

25 Und es entsproßt an jeglichem Ort der Asdiyrisdie Amom. Aber wenn du die Feyer der Helden, die Thaten der Ahnen Liesest und nun die treffliche Tugend vermagst zu erkennen Dann wird allmählich die Flur die zarte Aehre vergolden Und die röthelnde Traube umhängt < den unwirthlichen Dornbusch > unbeschnittene Dornen 30 Und der bethauende Honig entträuft dem härtesten Eichbaum < Doch bleibt von ehmaliger Frechheit ein Ueberrest > Aber ein Überrest bleibt von der Frechheit der Vorwelt Der es schafft, daß Thetis mit Schiffen befahren, umgürtet Städte mit Mauern werden, daß Tellus noch Furchen zerreißen Dann < ist > wird ein zweyter Typhis erstehn, dann eine andere Argo 35 Tragend erlesene Helden, dann lodert ein anderer Krieg auf, Und ein Herrscher Achill wird wieder nach Troja gesendet. Wenn die gestählte Zeit dich dann zum < Helden > Manne gebildet Scheidet der Schiffer selbst vom Meere, die schwimmende Fichte Tauscht nicht mehr Waaren, es trägt dann alles jegliches Erdreich. 40 Nicht mehr duldet den Karst der Boden, die Hizze der Weinstode. Und es erlößt die Färsen vom Joch der rüstige Landmann. Dann lernt Wolle nicht mehr mit bunten Farben sich zu schmücken Sondern auf Wiesen schmückt dann selbst das Fell sich der Widder Bald mit rosigen Purpur und mit dem Golde des [Strich?] krauts 45 Und willfährig bekleidet die weidenden Lämmer die Sandyx. Rollt hin, selige Jahre, so sprachen zur Spindel die Parzen < Stets einmüthig > Immer vereint zum ewigen Schlüsse des heiligen Schicksals. Strebe zum herrlichen Ruhm hinan, schon < harret die Zeit dein > nahen die Zeiten Theurer Göttersohn gedeihe durch Jupiters Pflege. 50 Siehe wie mit der lastenden Wölbung sich neiget der Weltkreis Und die Erd und das Meeresgefild, und der endlose Himmel, Siehe! wie alles entgegen sich freut der kommenden < Jahrsreih > Folge. Bliebe vom langen Leben mir dann noch ein Enddien nur übrig Und noch Athem, um würdig dein Heldenleben zu feyren 55 Mich besiegte dann nicht der Thrazier Orfeus mit Hymnen Nicht ob auch jenem die Mutter, der Vater dem hold wär; Kalliopa dem Orfeus, dem Linus der schöne Apollo Pan auch stritt er mit mir < wenn Arcadien wäre der Richter > vor < aller arcad fischen] Hirten > ganz Arcadiens Ohren Vor Arcadien < auch > müßte < besiegt er > auch Pan besiegt sich erkennen. 60 Lieblicher Knabe beginne < i m Lächeln zu begrüßen > die lächelnde Mutter zu kennen Der zehn zögernde Monde so manchen Ekel erzeugten. Lieblicher Knabe beginn, < wem nimmer die Eltern gelächelt > wen lächelnd die Eltern nicht grüßten Traun! den bewirthet kein Gott und keine der Göttinnen kost ihn. Erläuterungen·. Z. 13-14 lautete zunächst: < Unserer Laster Spuren vertilgst du, sind welche noch übrig > ; dann: < Dich verehrt als Vertilger die Erde, wenn die < Ohnmacht > vertilgten / Spuren unserer Laster von ewiger Furcht sie befreyen > . - Z. 34: über „ein zweyter Typhis erstehn" ist eingefügt: „durch Zeus Vorsorge Gediehner"; ein mir unverständlicher Zusatz, da er keine Vorlage im lateinischen Text hat - gemeint ist aber wohl Tiphys, der Steuermann der Argo. - Ζ. 44: die Übersetzung für lat. croceus (Safran) ist nicht zu entziffern; vielleicht „Strichkraut". - Es folgt nach einem langen Strich quer über die Seite: Silen

Virgils sechste Ekloge

Jugendlich schämte sich nicht in < Syrakusischen > Sicilischen Weisen zu scherzen Meine Thalia, erröthete nimmer im Hayne zu wohnen:

432

Anhang Da ich Helden aber und Kampf sang, zupfte am Ohre Cynthius midi ermahnend: Dem Hirten, Tityrus ziemt es Feiste Schafe zu weiden und ländliche Lieder zu dichten.

II. Politisdi-panegyrisdie Gedichte Die folgenden Gedichte gehören zu der im Jugendnachlaß Hardenbergs sehr zahlreich vertretenen Gruppe politisch-panegyrischer Lyrik, die sich vorwiegend an die preußischen Könige Friedrich II. und Friedrich Wilhelm II. sowie an den Habsburger Joseph II. wendet; sie erscheint besonders aufschlußreich, da sich hier bei aller Unselbständigkeit und Unreife ein Zug zur mythischen Verklärung und hymnischen Feier des idealen Herrsdiertums äußert, der auf die Monarchie-Fragmente des Novalis vorausdeutet und ein überraschendes Licht auf die innere Prädisposition des jungen Hardenberg wirft, die später zur Verkündigung des goldenen Zeitalters unter den Bildern und Symbolen der preußischen Monarchie des Jahres 1798 führt. Die Gedichte stammen sämtlich aus den Jahren 1788-1790; Muster sind fast immer die Oden Karl Wilhelm Ramlers, seltener Klopstocks vaterländische Lyrik. Die zunächst naheliegende Folgerung, daß einige Gedichte, die an Friedrich II. gerichtet sind und ihn als nodi lebend darstellen (vgl. 4, V. 29 ff. und 6, V. 33 ff.), vor dem 17. August 1786 geschrieben sein müssen, wird durch den Charakter der Schriftzüge und die Beschaffenheit des Papiers widerlegt, die übereinstimmend auf 1788/89 verweisen. Auch der Einwand, daß es sich um spätere Abschriften handeln könnte, ist angesichts der häufigen Korrekturen kaum stichhaltig, zumal stilistisch kein Unterschied zu den Gedichten an Friedrich Wilhelm II. festgestellt werden kann. Hardenberg scheint sich hier (abgesehen von der Nachahmung bestimmter Muster) einer Fiktion bedient zu haben, um den großen, von ihm verehrten König als den Friedensfürsten nach langen Kriegen feiern zu können (vgl. 2-6) und ihn zugleich seinem Neffen, Friedrich Wilhelm II., als Vorbild hinzustellen (vgl. die merkwürdige Übereinstimmung von 4, V. 33ff.und 12, V. 42 ff.). 1 Katalog Samuel, Nr. 8, VIII: Ode beym Tode Josefs. Foliobogen, W Z IV. Offenbar unmittelbar nach Josephs Tod geschrieben (20. Februar 1790). Auf der Rückseite des Bogens u. a. der Prosaentwurf eines weiteren Gedidites aus diesem Anlaß. Ode beym Tode Josefs. Wie Sturmtritt rauscht im Wipfel des Eichenhayns Ein Flügelschlag einher und am heiligen Eidibaum zittern alle Kränze; Schauer auf Schauer durdiwogt mein Innres. Ha! ists die Muse! sage du Göttliche Der Vorzeit kundig, Seherinn künftiger Jahrhunderte, welch schwarzer Kummer Furdit dir die Stirn und umhüllt dein Auge! Jüngling es starb,

Anhang

433

Den Barden fällt die Leyer aus der Hand. Die Kränze an der heiligen Eiche verwelken urplötzlich Ihr wart glücklich, Väter, eure Zeiten fielen in Josephs und Friedrichs Jahre; in Deutschlands Goldne Zeit. Sie wird beschrieben. Aber wir junge Zucht sahen zwar die Abendröthe Josephs und Fridrichs noch Aber nun bricht cimmerische Nacht über uns herein. Toleranz flieht aus Preußen, und Joseph nahm die Vorsicht weg, weil überall nun eiserne Saat aufkeimt. Frankreich, Niederlande et cet. Weh uns, schon seh ich (nun die Beschreibung der elenden künftigen Zeiten) Ein Strahl der Hoffnung glänzt auf mein Saytenspiel aber dir Joseph, vermag die Bitte des Frommen Dichters der für alle Deutschen bittet etwas und hält dich ein unerbittlidies < Geschick > Schicksal nicht und sandte dich als < Friedensengel > Schutzgeist zum Sionis oder in noch fernere Welten nicht die Allmadit, o! so umschwebe deine < Enkel > dir folgenden Fürsten und begeistre sie < mit > zu et cet.: O! Hoffnung, Freudenspenderinn du machst die < Hoffnung > Zukunft rosenhell und stimmst die traurig tönende Leyer zu freudigem Tönen. Kaum sang ich noch traurig. Jezt aber leer ich den Wonnebecher den mir die Hoffnung beut und dem Trunkenen entfällt die Leyer, die im Fallen schon Dythyrambische Töne < jauchzt > frolodct. 2 Katalog Samuel, Nr. 4, VII: Der Frieden. Ein Hymnus in 10 vierzeiligen Strophen, aus dem Samuel die 3. und 4. Strophe in seinem Versteigerungskatalog mitgeteilt hat. Folioblatt, W Z III. Daneben in der rechten Spalte: Lycas und Phidyle; unten und auf der Rüdeseite: An Ramler. - Vorbild ist offenbar Ramlers Gedicht ,An den Frieden' (Poetische Werke, 1. Theil, Berlin 1800, S. 41/42); vgl. dort die letzten Zeilen: „Bind' an der Hölle Thor mit siebenfacher Kette / Auf ewig den Verderber fest", mit V. 15-16. Der Frieden 1

Dich süßen Frieden heischt der Irokese Gesättigt von des Feindes Blut Wenn ihm sein junges Weib die halb bedeckte Blöße Benezt mit Thränenflut. 5 Ihn auch der Gallier, wenn Kampfesmüde Sein milder Landeswein ihn ruft, Und süßer Mädchenstimme mit Syrenenliede, Aus ferner Zonen Luft. 10

Auch ruft nach zwölf mit Sieg bekrönten Schlachten Borussiens Held Friderich Nach den vergebens oft Karthaunen, Bomben krachten, Gelübde weihend dich

Zurück in sein ererbetes Gefilde Entvölkert von des Krieges Wuth 15 Der jezt beym kalten Pol am diamantnen Schilde Gefeßelt ewig ruht. 0 ! Ziehe doch mit den Begleiterinnen, Der Korn bekränzten Ceres ein, Die Hayne fülle du mit holden Pierinnen 20 Doch den Pokal mit Wein. Und Amaltheens reiches Horn entleere Auf unsre Saatenlose Flur Wo Galliens und Oesterreichs und Nordens Heere Verließen ihre Spur. 28 Mihi, Die Idee des goldenen Zeitalter·

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434 25

30

In kurzen winken dir die Pierinnen Mit Opfern und mit frohen Dank Des Saemannes, der Schnitter und der Winzerinnen Mit lauten Lobgesang. Für didi stimmt seine ungelehrge Leyer Der hiebevor nur Siege sang Und Thaten Friederidis mit kriegerischem Feuer Tyrteen nach sich schwang,

Zu sanftem Tönen, singt die volle Sdheuer Des Landmanns und des Dorfes Fest 35 Wie Vater Friederich verfallenes Gemäuer Zu Städten bauen läßt. Erhöre, Friede dodi so viele Bitten Vom König bis zur Winzerinn Sey heimisch im Pallast und in den niedern Hütten 40 Um nimmer zu entfliehn. 3 Katalog Samuel, Nr. 6, n: An den König. 3 vierzeilige Strophen. Foliobogen, W Z II. Das mitgeteilte Brudistüdk befindet sidi auf der 2. Seite der Handschrift, die ferner die Gedidite: An Lyden / Das Vergißmeinnicht / An Phidylis / An Posthumus / An Licin / An den plauischen Grund (I, 328/29) enthält. Der Rest der Handschrift ist abgesdinitten. An den König. 1

Thalia, weldien Helden besinge idi, Des Lorbeer noch die späteste Nachwelt kennt, Von Tausend Zungen hodigepriesen Und von dem Schwesternchor oft besungen.

5

Den schon der Knabe unter der Scholien Geräusch aus Sdiriften nüchterner Väter kennt, Und des sidi oft der Edle Jüngling Thränen im feurigen Auge freutt.

Die kühnen Krieger, weldie die Argo trug 10 Nadi Kolchos, der Trennung der Könige Die mächtiger der Mäonide Goldene Sayten herabgesungen. Erläuterungen·. Z. 10: der < Zwist !> Trennung der Könige. - Z. 11 lautete zunädist: < Von griechischen Blut die Troja sah > . 4 Katalog Samuel, Nr. 8, II: An den König. 10 vierzeilige Strophen, an Friedridi II. gerichtet. Folioblatt, W Z III. Auf der rechten Spalte und auf der Rückseite des gleichen Blattes befindet sich das folgende, unter 5 mitgeteilte Gedicht ,Berlin und Rom'. Darunter eine durdistridiene Überschrift: „Fridrichs Ankunft im Elysium" [!]. - Zur Datierung vgl. unsere Vorbemerkung, S. 432. An den König. 1

Soll idi gepfleget von der Musenchören Der Städte Jubel hoch und laut

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485

Am Golde meiner Sayten singen und dadurch verehren Auf den die Erde schaut. 5 Den König der an Weisheit Mark Aurelen An Tugend gleicht dem Antonin Und der zum Sitze seines Ruhmes wollte wählen Dich, herrliches Berlin. Die du an Pracht und hohen, edlen Schmucke 10 Weit über Roma didi erhebst Und nicht, wie jenes unter der Neronen Drucke Gefesselt, Sklavisch lebst. Und der in sieben mühevollen Jahren Stets neues Muths den Kampf erneut, 15 Für sein erstrittnes Erbtheil tausend der Gefahren Sich kaltes Bluts geweiht.

20

Und endlich durch den Lorbeerreichsten Frieden Sein weises Haupt vollends gekrönt In allen Musenkünsten Meister, ganz gesdiieden Vom Streit, sein Land verschönt

O! König, du für unsre niedre Erde Ein nie gesehnes Meteor Didi ziehn einst im Triumf die hohen Sonnenpferde Zu froher Götter Chor 25 Und angestaunet sitzest du beym Mahle Des Zeus, ein anderer Herkul Und Caesar reicht dir selbst die goldne Nectarschaale, Gelehnt an deinen Stuhl Ja, Friedrich wenn du einst in ferner Sonne 30 Entschwungen sterblichen Gefild So lasse doch zu deiner Bürger höchsten Wonne Zurück dein Ebenbild. In deinen Neffen der an Herzens Güte Dem Titus, dem Quiriten gleicht, 35 Und seinen Oheim, dich, fast an der WeisheitsBlüthe Am steilen Ziel erreicht. Von deinem Weisen Munde unterrichtet, Den Honig deiner Lehren sog Begierig, und wozu ein König sich verpflichtet 40 Mit Ernste überwog. Erläuterungen·. Z. 16: < Dich > Sich kaltes Bluts geweiht. - Z. 24 ursprünglich: < Zu dem Olymp empor > . - Z. 29: wenn du einst < nach langen Sonnen > in ferner Sonne. Z. 31 ursprünglich: < Voll Unruh u voll Müh > . - Z. 36: Am < hohen > steilen Ziel.

5 Katalog Samuel, Nr. 8, II: Berlin und Rom. 14 vierzeilige Strophen in Form eines Wettgesanges zwischen den beiden Städten. Folioblatt wie 4. Das Gedicht ist eins der schwächsten und fehlerhaftesten aus dem ganzen Jugendnachlaß (vgl. die Katachresen Zeile 19 und 49); es entbehrt, schon vom Thema her, nicht einer gewissen unfreiwilligen Komik. Dennoch darf es in dem von uns angedeuteten Zusammenhang biographisches Interesse beanspruchen. Vorbild sind wohl Ramlers Gedichte ,Uraniens Lob Berlins' und ,An die Stadt Berlin' (Poëtische Werke, a. a. O. S. 25 ff. und 35 ff.). 28*

436

Anhang Berlin u Rom. 1

5

Berlin Idi die Tochter Germaniens an dem Gestade der Sprea, Über ein großes Gefild Ausgestreckt, der Siz anjezt der flüchtigen Musen Heimisch bey dir hiebevor Roma Ehe Manas Urenkel die sichren Kamönen vertrieben Mir aus dem nährenden Schoos War mehr Athmendes Erz und täuschender Marmor mir eigen Als jezt Germanien faßt.

Berlin Siehe! wie strahlen in meinem Gemäuer die goldnen Pallaste 10 Sieh! wie der Ueberfluß haußt In den ärmlichen Hütten vom Urgroßvater ererbt; Müßigen Enkeln ihr Theil. Roma Einstens straiten noch schönre Palläste bewohnet von Freyen Mir in dem prächtigen Schoos 15 Keine dürftigen Hütten vermochte die Armuth zu finden Außen und innen nur Gold. Berlin Blühender Jünglinge Tanz mit gesunden, rosichten Mädchen Seh(e)n die Fluten der Spree Und das rege Gewimmel des Mühe nicht scheuenden Kaufmanns 20 Stört midi selbst Nadits in der Ruh. Roma Kräfte stählende Spiele der Jugend sahen die Bürger Sahen ihr muthig Geschlecht, Und ich schmähte den Wucher, der zürnende Meere verhönet Auf dem zerbrechlichen Stamm. Berlin 25 Ja mein lebender Markt mit Söhnen Gradivens [?] geschmücket Lebend im starrenden Stein, Welche sich bildeten hier, ergreifet mit Eifer den Jüngling Sie zu erreichen am Ziel. Roma Meine Triumfirer verewigen andre Trofäen 30 Welche Teutoniens Wuth Und der nagenden Zeit getrozt, den weinenden Knaben Sie zu verdienen gespornt. Berlin Männer hab ich ernährt mit Muttersorge erzogen Seidliz und Ziehten und Kleist 35 Ramler hat midi gesungen, Thaliens erwähleter Liebling, In dem gewaltigen Lied. Roma Meine Kinder sind auch der Unsterblichkeit würdig, Katoni Caesar und Brutus, Marceli Und mit tönender Hymne besang midi der Grazie Liebling 40 Flakkus und höher Virgil.

Anhang

437

Berlin Krieger mit siegender Hand mit blutger, durchlöcherter Fahne Maditen midi grofi und berühmt Vindobonens Gewalt, sonst Krone der Städte in Deutschland, Gaben sie mir und das Reich. Roma 45 Durch die Kriege entsdiwang idi midi meinen niedrigen Hügeln Hieß nur Behausung des Mars, Machte die Völker mir zinsbar nach allen Winden der Erde Beugte die Punisdie Stadt. Berlin Künste des Friedens entblühen aus meinem schwangeren Busen 50 Von dem Beherrsdier gewärmt Welchen Unsterblichkeit ziert die Stime, so kühn in Gefahren, Weiser in friedlicher Ruh. Roma Deiner Künste, die du mir rühmst, bin idi dodi die Mutter Reidi nodi an Trümmern der Kunst, 55 Doch verstummen muß idi, du rühmst dich der Könige Größten Sdiwester, da nimm dir den Palm. Erläuterungen·. Z. 3: < Ausgestreut > Ausgestreckt. - Z. 23: vor „zürnende" durdigestrichen < goldfeil > , darüber < niedrig > , daneben < tollkühn > . - Z. 40: < mächtger > höher. - Z. 49: < in > aus meinem. - Z. 50: < gelabt > gewärmt. - Z. 56: den < Kranz > Palm.

6 Katalog Samuel, Nr. 8, III: An den König. 38 Verszeilen, an Friedrich II. gerichtet. Folioblatt, WZ III. Die Handschrift enthält daneben die Gedidite: An Lycidas / An Hebe / Daphnis und Phidyle / Lied der Nymphe Galatea (s. unter 7). An den König. 1 Willst du nodi nicht der Ruh, Vater des Vaterlands, Nidit im friedlichen Schoos finster Kamönen, mit Muntern Flötengesang heiter ergötzen dich; In der Arbeit geübt, sdiimmerndes Lorbeers reidi, 5 Meister jeglicher Kunst, welche der Bürger Glück Und dein eignes vermehrt reißt du dich wieder auf Für Germaniens Wohl, welches bedrängt dich ruft. Aber nidit mehr umringt von den benachbarten Herrschern, die am Gestad fruchtbarer Ebbe sind 10 Und im rauhern Land ewig mit Schnee bedeckt Und am Ladoga See reidi an erwärmenden Fellen glänzendes Wilds, nicht von den Galliern Die undankbar dir und kriegendes Muths erfüllt Nidit der Rhenus abhielt der sie auch fliehen sah 15 Als in Roßbadis Gefild du sie zurückwarfst Mit dem furchtbaren Sdiwerdt, welches sich röthete Siebenmal in dem Blut trotziger Drohungen, Und vom Siege gefolgt viele Genidee bradi Die Megäre gereizt, dich zu beleidigen. 20 Nein! sie kannten dich nun wurden nidit mehr getäuscht Und verehrten dich voll hoher Bewunderung.

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Anhang Ja sie halfen dir audi wieder den Mäditigen Agamemnon dem nadi Freyheit gelüstete Die der Ahnherr Armin seinen Gefilden gab, 25 Dessen Geist sidi gesenkt dreyfadi aufs theure Haupt Das den Fürsten zuerst Königespflidit gelehrt. Gib den Frieden doch bald unserer Flur zurück Die didi göttlich verehrt und dir Altäre baut, Reidi dem Feinde den Palm wenn er zurück sidi zieht 30 In die Schranken des Reidis welches sein Erbtheil ist: Lebe lange nodh dann, Muster der Könige, Von den Edlen geliebt und der Unsterblichkeit Deiner Thaten geweiht; lebe noch lange uns Siehe die Fakel blühn ströme den Segen aus. 35 Aber holt didi dereinst naht sidi dein Lebensziel Zeus zum hohen Olymp bleibe als Genius Deinem Vaterland treu, sdiütze der Unschuld Redit, Und mit segnenden Arm leite die Könige. 7

Katalog Samuel, Nr. 8, III: Lied der Nymphe Galatea. 11 vierzeilige Strophen, wiederum auf Friedrich II. bezogen. Folioblatt wie 6. Die Panegyrik verhüllt sidi hier ins schäferlich-bukolische Genre: eine seit dem 17. Jahrhundert beliebte Form der höfischen Poesie. Angeregt wohl durch Ramlers ,Lied der Nymphe Persante' (Poetische Werke, a. a. 0 . S. 43 ff.). - Links in der Ecke mehrfach durchstrichen: < Bey der Wiege eines Knaben > / < Elegie > / < Lied der Nymphe Galatea > / < Jüngst war ich unter Ulmen eingesdilafen / Durch die ein kleines Quelldien schlich > . Lied der Nymphe Galatea. 1

0 ! idi die glücklichste von meinen Schwestern Die rund im Kranze um mich stehn Sah unsern Friderich, den größten Helden gestern Gleich einem Gott, so schön

5

Er kam zur Kühlung unter meine Zweige Von seinen Lieblingen umringt Bey ihnen stand er wie bey Buchen meine Eiche, Mit Heldenmuth geschmückt

Aus seinem Auge stralte Weisheit mächtig 10 So scharf und hell sah ich noch keins, Und Königsmilde sah noch keins so unverdächtig So väterlich, als seins. Er sezte sich in meinem dunkeln Rasen Wo ihn ein süßer Traum beschlich 15 Urplötzlich ward es still, die Weste selbst vergaßen Im süßen Anschaun sich. Betasteten nur seine Heldenwangen Und sezten auf die Lippen sidi Und schwebten sanft dann fort zu offnen Blumen, sangen: 20 Wir rührten Friderich. Wie podite mir das Herz das voll Entzücken Wie war mein Blick voll Trunkenheit Gewiß idi tausdiete mit diesen Augenblicken Nicht die Unsterblichkeit.

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Und war vom Schicksal mir nicht Tod besdiieden Zur Göttin machte mich der Blick, Denn da er zwanzig Stunden schon von mir geschieden Faß idi nodi kaum mein Glück. W i e ward mir, als idi ihn bald darauf verschwinden Dort hinter jener Krümmung sah Und auf den Zeen selbst mein Blick ihn nicht mehr finden Vermogte, ach! wie da? Doch meine Thränen höret auf zu rinnen Von Kränzen werd ich nun nidit leer Die mir nun weiht die Zahl der süßen Pierinnen Und seiner Freunde Heer. Und werde ich midi zum Olymp einst schwingen W i l l ich wie Epheu an ihm seyn Beym frohen Göttermahl will ich ihm Nektar bringen Und Dythyrambens Wein. So sang die schönste der Hamadryaden Als mich der leichte Sdilummer fand In Sanssouciens Hayn wo hohe Eichen laden Zur Ruh, am Quellenrand.

Erläuterungen: Z. 7 ursprünglich: < Dodi er stand da wie unter > Buchen meine Eiche. Z. 29: in der Handschrift „wird" statt „mir"; wohl ein Schreibfehler. - Z. 33: < fließen > rinnen. - Z. 42: der leichte < Schlaf umfing > Sdilummer fand. - Z. 43: in Sanssouciens Hayn < auf Blumenvollen Pfaden > . 8 Katalog Samuel, Nr. 2, I X : An Jupiter. 6 vierzeilige Strophen, anläßlidi der Krankheit des Königs (von Sachsen oder von Preußen?). Das Gedidit befindet sich in einer größeren Handschrift, die aus 2 gefalteten Foliobogen zu 8 SS. zusammengeheftet worden ist. W Z I I I . Neben weiteren 18 Gedichten enthält das Manuskript noch die beiden folgenden Stücke ,An einen friedlichen König' und ,Caesar' (s. unter 9 u. 10). An Jupiter 1

Zeus erhabenster Gott, welcher das Schicksal lenkt Unerforsdilidi und oft versteckt Jedem sterblichen Geist, welchen nidit Gott Apoll Ariadnisdien Faden lieh.

5

Groß [ . . . ] Würmdien das hier froh in dem Sande kriecht Und im Himmel Gestirnen [ . . . ] Und in unserer Erd, weldie Geschöpfe nährt In verschiedener Bildung schön.

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Doch am größten in sich, wenn er sich selber denkt, Hör des Sterblidien schwaches Flehn, Der im Opfer dich ruft das er dir lebend weiht Für das Leben des Königs. Sieh mein armes Gelübde meinen geliebtesten Wunsch Dodi mit gnädigen Vaterblick, Weihen will ich ein Lamm dir das nur einen Herbst Sdiwarzgefledcet durchlebet hat.

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Anhang Unser König ist krank, welcher uns stets geliebt, Oft die einsame Mitternacht Im Gedanken an uns sorgsam durdiwadit und uns 20 Überschauet mit Vaterblick. 0 ! erhalte ihn uns, König der Könige Der du lenkest den Tod, es sdiauen Zu dir flehendes Blidcs ganze Provinzen hin Bitten Leben dem Könige. Erläuterungen: Die beiden Lücken [...] enthalten unleserliche Stellen. 9

Katalog Samuel, Nr. 2, IX: An einen friedlichen König. 6 vierzeilige Strophen, mit dem Zusatz: gereimt. Handschrift wie 8, WZ III. An einen friedlichen König, gereimt. 1 Soll nicht die dichterische Leyer tönen Dem König der den Frieden liebt An Kriegessdiall nicht kann sein mildes Ohr gewöhnen Und sich bey Mord betrübt 5 Dem Wutausruf und Angst und bange Klagen Und Ächzen aus der tiefen Brust Nicht auf dem Blutfeld an der düstern Seele nagen, Die sich der Schuld bewußt Der seine Reiche nicht zu mehren strebet 10 Seys auch durch Ungerechtigkeit Und der am Bilde des Eroberers erbebet, Aus Menschgefühl, nicht Neid, Gewiß ein solcher König ist gesungen Zu werden, von dem Barden wehrt, 15 Der stets mit Ruhme nach dem Lorbeerkranz gerungen Und der mit Adlern fährt. Ihn preis die spätste Nachwelt laut und immer Leb er in aller Edlen Herz Sein Name wohne da in weit erhabnem Schimmer 20 Als in dem festen Erz. Er sorgte für das Glück von Millionen Und ahmte Gott nach, der ihn < schuf > weiht Der sorgt fürs Glück von unsrer Welt, von Orionen, Für Herrscher Seligkeit

10 Katalog Samuel, Nr. 2, IX: Caesar. 14 vierzeilige Strophen. Handschrift wie 8 u. 9, W Z III. Auch dieses Gedicht steht, wie das vorige, in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Hymnen an Friedrich II., vgl. die Obereinstimmung von V. 53 ff. zu 4, V. 21 ff. Caesar 1 Auf Muse Klio reiche mir die Leyer Zu einem schönen Heldenlied

Anhang Das rauschender ertönt zu eines Helden Feyer Bekannt in Nord und West und Ost und Süd. 5 Es tönet von dem hohen Helicone An den ein alter Wald sidi schmiegt Hinab mit Donnerruf in jene niedre Zone Die Segens reidi an seinem Fuße liegt. Dir Caesar singe ichs der einstens weinte 10 Am Bild des Macedoniers, Mit dessen Güte bald den Muth in sich vereinte Und bog den Nacken des Iberiers. Und während zehen Jahren unermüdlich In Gallien den Säbel schwang 15 Und manche Nation auch drohend oder gütlich Oft durch den Namen nur in Feßeln zwang. Zuerst voll Muth ins Land der Thuiskonen Hineindrang immer unbesiegt, Britanniens entfernte tapfere Nationen 20 Beschützet von dem Siegesgott bekriegt. Und da von Stolz und Dündcel angeschwollen Pompejus aus den Ufern drang Gleich einem Waldstrom der entrauschet seinen vollen Gestaden mit Verheerungsreichen Klang 25 Wagst du es nur allein zu wiederstehen Du einzger Schutz dem Vaterland Du zwangest ihn bald aus Hesperien zu gehen Und folgtest ihn mit deiner mächtgen Hand. Und bald darauf sah Pharsalus dich Sieger 30 Der römschen Freyheit Genius, Du trafst mit starkem Muth des Orientes Krieger, Gerühmet selbst vom Feinde mit Verdruß. Auch Liebe, Mitleid hat dein Herz empfunden Sonst weniger Helden Eigenthum 35 Du kämest sähest und besiegtest, hast gefunden Daß Krieges Lorbeer nicht der schönste Ruhm. Und daß der Feinde edeles Verzeihen Mehr werth als tausend Lorbeer sind Daß denen die sich auch der stillen Muße weihen 40 Ein ungetrübter Bach von Wonne rinnt. Wie nun von dir Erynnis ganz verwiesen Und jegliche Kamöne blüht Im Staate, jeden froh die heitern Tage fließen Dich nicht Urania und Klio flieht, 45 So bot das Volk von deiner Huld entzündet Dir, großer Held, der Krone Glück, Du schlugst sie aus, ein Ruhm mit Gleichmuth angeilickct Kömmt oft, das wußtest du, gehäuft zurück. Nun wütete der Orkus dir Verderben 50 Gab deinen Freunden Mord Entschluß Du mußtest durch die blutgen Hände derer sterben Die lieb wie Brutus dir und Kassius.

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Du fuhrest im Triumfe von der Erde Hinauf zu Deinesgleichen hin O lenke künftig oft die nektartrunknen Pferde Herab, gib deinen Enkeln deinen Sinn.

Erläuterung·. Strophe 12 (V. 45-48) ist am Rande eingefügt. 11 Katalog Samuel, Nr. 8, I: Mein Vaterland. 13 vierzeilige Strophen, im Tone von Klopstocks vaterländischen Oden. Folioblatt, W Z II. - Mit dem ,Caesar Germaniens' kann Joseph 11. gemeint sein, wie in Hardenbergs Gediditen ,An Joseph den Zweiten' und .Caesar Joseph' (I, 312-15); dodi ist daneben auch eine Anspielung auf Friedrich Wilhelm II. möglidi, mit dessen hymnisdier Feier im folgenden Gedicht sich V. 45 ff. wörtlich berührt (s. unter 12, V. SOfif.). Mein Vaterland 1

Höre Kalliope von des Parnaßes Höhe Meinen dampfenden Ruf, Bringe Begeisterung mit, Mächtge Flammenbegeistrung Denn idi singe mein Vaterland.

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Ja mein staunendes Ohr höret die Göttin schon Wie vom Felsen sie stürzt, himmelanstrebende Tannen stürmend durchrauschet, Mit des Aquilo Flügelschlag.

Manas Enkelinn hieß meine Gebärerinn 10 Die im blühenden Ring mir in dem Thal zuerst Welches Bäche durchflechten Wies den röthlichen Tagesgott, Wie in heiliger Früh er das Gestad verließ Und die Pfade betrat hinterm Gebürge dort, 15 Die mit triefenden Teppich Ihm bereitet die Rosige Wies den dunkleren Hayn, welcher die Väter deckt Mit bemooßten Gestein prangender Inschrift leer Nie besungen von Barden 20 Welche gleiche Vergessenheit In die ewige Nacht unserem Erdenblick Ungerechter versenkt, als der Scholastiker Magres, dürres Geschwätze, Bey Homäros zu glänzen wehrt. 25

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Ja da schwor idi ihr oft schwor ich dem Vater, da Kaum zu lallen begann mein unbefiederter Mund, den Haß der Tyrannen Tod fürs ächzende Vaterland. Als das heißere Blut mir durch die Adern sdioß Und mir goldenes Haar dichter mein Kinn besät Schlug in Trümmern der Vorzeit Oft für Freyheit mein träumend Herz. Wehmuth stürzte mir dann nieder auf Urgestein, Wenn gefesselt idi sah keuchend mein Vaterland,

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Stimme lodcender Liebe Hört idi dann nicht und Freundsdiafts Ruf.

Meine Harfe empfand dann audi den Ungestüm Der vom Herzen sidi drang zürnend zur regend Hand, Keine Ländliche Lieder 40 Lispelnd, donnernd den Satyrs Troz. Dodi seitdem du erschienst, Caesar Germaniens, Licht dem seufzenden Volk, strömet die Freude mir Wieder, daß vom Gestade Flut durch Hayne und Aehren dringt. 45

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Freyheit kehret zurück in das verlaßne Land Unterm Fußtritte blühn Städte und Künste auf Reigen blühender Mäddien, Froher Jünglinge folgen ihr. Freu Germanien didi, jauchze dem Caesar zu Der dich segnete, und siehe mit Vaterfleiß Zog dir künftige Fürsten Ihm an innerm Gehalte gleich.

Erläuterungen: Z. 25: dem Vater, < auch > da. - Z. 27: Mund, < Tyrannen zu hassen > den Haß der Tyrannen. - Z. 33: auf < uralt > Urgestein. - Z. 40: Lispelnd, < Trotziger Geißelschall > donnernd den Satyrs Troz. - Z. 44: Hayne und < Felder > Aehren. 12 Katalog Samuel, Nr. 8, IV: An Friedrich Wilhelm (II.). Ein Hymnus in 45 Zeilen. Foliobogen, zu Quartformat gefaltet, W Z I (sehr selten, weist auf Anfang bis Mitte 1788). Die Handschrift enthält daneben die Gedidite: Caesar Joseph (I, 312) / Mein Landgut / An Klopstodc. An Friedrich Wilhelm 1

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König, wichtiger Name, dem Menschenfreunde, dem Ohr denkender Weisen, und Selbst dem nüchternen Könige, Unverdorben vom Gift schmeichelnder Höflinge Und den Ehrenbezeugungen Seines hoffenden Volks, das mit Gelübden ihn Und mit Weihrauch empfängt von Gott, Der die Könige wählt, sie auf der Waagsdiaal wog, Die das Schicksal des Lands bestimmt. Wenn die Wollust ihn lockt mit dem Syrenenton, Ruhe die ihm versaget ist, Und der schimmernde Ruhm, welcher mit einem Fuß Auf die blutigen Leichen tritt Die das Schlachtfeld besäen, auf die Verzweifelung Banger Mütter und Sterbender, Auf der Waysen Geschrey, welches den Vater heischt; Mit dem anderen Fuße, auf Lorbeerkränze, gerühmt noch in den spätesten Fernen - dodi nur von Thöriditen, Und auf feilen Gesang; lange Unsterblichkeit Mit der Enkel Gespött gewürzt. Und auf nagende Reu welche den Schlummer scheucht

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Und die Träume mit Schrecken füllt; Ruft der Name die Pflicht wieder zurück ins Herz 25 Waffnet mit der Aegide ihn, Daß er Palmen ergreift, nur für das wahre Glück Seines Landes besorgt, das Schwerdt, Das vom Vater ererbt, ewiger Ruhe weiht, Und der Buhlerinn < Künste > Reiz versdimäht 30 Unterm Fußtritt entblühn Blumen und Saaten ihm, Städte weldien der Indus zollt Und Amerikas Flur, Afrika, Asien Und der Seine Gefilde, und Edler Britten Gefild, weldies die Thems durchströmt 35 Reich an Freyheit und Ahnen Muth. Mit dem singenden Chor fröhliger Mädchen sind Reigen blühender Jünglinge Fest verschlungen, die Schaar bringet ihm Kränze dar. Wehrter ihm als die Delfischen, 40 Die umschlingen die Stirn stolzer Eroberer, Unbeneidet vom Göttlichen. Solcher König bist du, Fridridis Wetteiferer, Und sein glücklicher Neffe, du. Lebe lange noch uns, groß in der Herrscherkunst 45 Und beglücke dein Vaterland. 13 Katalog Samuel, Nr. 8, IX: An Fridrich Wilhelm (II.). 7 vierzeilige Strophen. Folioblatt, W Z II. Auf der Rückseite des Blattes befindet sich ein ins Deutsche übertragener Homer-Vers (Ilias V. 315: „Und sie opferten Apollon die erwählten Hekatomben") sowie eine Reihe von griechischen Vokabeln. Das Blatt scheint aus dem Frühjahr 1789 zu stammen. An Fridrich Wilhelm 1

Du gütger Enkel tapfrer Königs Ahnen Und jezt selbst Zierde einem Thron Beschüzzet und umschwebt von deines Oheims Manen, Der unsrer Erd entflohn

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Die nicht der unerweidite Orkus raubte Die nicht mit goldner Ruthe trieb Merkur und die nicht [ . . . ] der dichtbelaubte, Der unbesucht nie blieb.

Ernähre mild an deinen Herrscherbusen 10 Der allumfassend ist und groß, Den lang verwayseten Apoll mit seinen Musen, Ihr Dank ist grenzenlos, Und baue einen edeln Tempel ihnen Zur ewigen Behausung hin 15 W o [ . . . ] Dichter opfern, fröhlich dienen, Wohin die Künste ziehn.

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Und wär auch einst die halbe Welt gestorben Dein Lob nicht laut der Welt bekannt, So hallte es doch nach von Harfen und Theorben Die dich noch selbst gekannt.

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Unsterblidb machen nicht die Heldenthaten Den, Weldien nidit ein Didïter singt Audi Güte den nidit, der des Landmanns reiche Saaten Nidit andern gleidi verschlingt. 25 Der Thetis Sohn war ganz gewiß begraben In dunkler Vorzeit tiefe Nacht Mit Nestor ohne des Homäros Zaubergaben Die ewig sie gemacht. Erläuterungen·. Z. 7 und 15 enthalten ein unleserliches Wort = [ . . . ] . - Z. 28 ursprünglich: Die gemacht. - Die letzten beiden Strophen (angelehnt an Horaz, Oden IV, 9, V. 25 ff.) zeigen häufige Korrekturen bei der Niederschrift, die aber kaum zu entziffern sind. 14 Katalog Samuel, Nr. 8, X: An die Könige. Ein Hymnus in 16 vierzeiligen Strophen. Folioblatt, WZ III. Neben der Überschrift steht, durch Striche eingerahmt, der Vermerk „An einen jungen Prinzen", wobei es unklar ist, ob dies die Uberschrift zu einem geplanten Gedicht oder eine Titelvariante zu den vorliegenden Strophen sein soll. - Auf dem gleichen Blatt befinden sich, mehrfach durchstrichen, die ersten 4 Zeilen eines Gedichtes ,Die Music', das in Kat. Nr. 2, IX ausgeführt worden ist. Die Entstehungszeit dürfte, hier wie dort, 1789 sein. An die Könige 1 Hoch im lyrischen Flug schwebet mein Heilgesang, Jedem Könige der übet die Herrsdierpflicht, Tönt mit Schwanengesang und mit des Donners Ruf Daß es hallt im Gebürge umher. 5

Hoher Muse ists wehrt Fürsten zu lehren, daß Sie auch Menschen nur sind, anderen gleiches Recht, Millionen nur sich Ihnen vertrauten, daß Sie erhielten Gerechtigkeit.

Mit allsehendem Aug alles durchschauten [...] 10 Das für Tugend gleidi scharf als für des Lasters Keim, Dunkle Biedere hebt, prangende Bosheit stürzt In die eigne Verzweifelung Und das gleißende Gift, süßer als Nectartrank Von der Schönheit gereicht aus, des Chamäleons, 15 Eines Höfischen Mund, nagende Schmeicheley, Ihrer Größe Bewußt, verschmähn. Fürsten, die es zu seyn, würdig vertändeln nicht Ihre kostbare Zeit heilig der edlern Müh Bey dem Tische des Glücks oder auf wilder Jagd 20 Ganz im Taumel der Lust versenkt. Nicht das theuere Gold welches der Baurenschweis Und die Thräne wie Brod nezte und drückend macht Wenn am Tage der Reu Trübe Erinnrung ruft Ward dem Laster es nicht geweiht? 25 Einer Dirne geschenkt schändlichen Reitzen Lohn, Einem schmeichelnden Mund eitlem Gepräng geweiht, Und der trügenden Schaar welche sich Thränen lügt Unschuld, Tugend und Leidenschaft.

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Anhang Sie verehren nidit den welcher als Jüngling sdion 30 Reiche elend gemadit, weinen Nadieifrung ihm, Wachen Nächte nidit durch, da sie die Ehrsucht stört Der Gedanke an Sdiladitengedräng. Dodi Gedanken ans Wohl und die Zufriedenheit Ihrer Kinder erhält öfters ihr Auge wach 35 Denken Heinrichen gleich, welcher dem Unterthan Dodi am Sonntag ein Hühngen wünsdit. Greifen niemals zum Schwerdt als zu dem Sdiutze nur Ihres Erbes und dann führt sie der Siege Gott Auf der glücklidien Bahn sdilinget den Kranz ums Haupt 40 Weldier wahres Verdienst nur ziert. Aber leben sie audi immer in Friedens ruh Und beglücken ihr Volk, leben wies Fürsten ziemt Nur der Menschheit nidit sich, geben Gesetze die Weisheit athmen und Billigkeit. 45 Daß kein Armer nicht seufzt, Müttern für Kinder Brot, Nicht das Laster regiert, nidit der Gerechte darbt; Und mit Segen die Flur grünet und Fülle gibt Keine Mauern nidit oede sind. Jeder Bürger mit Fleis was er gelernet übt 50 Nidit unnöthigen Prunk macht und Trägheit haßt Schlingt der trefflichste Kranz doch sidi ums Fürstenhaupt Weldier blüht zur Unsterblichkeit. Nadiwelt nennet sie noch immer der Ehrfurcht voll In Aeonen hinaus schauet auf sie noch hin 55 Wie zum Sirius, der über die Sterne glänzt, Tausend Zungen erheben sie. Und die Seligkeit schon, die sie hienieden lohnt, Ist die grosseste die Sterbliche beglüdct, Der Gedanke allein, tausenden gab idi Glück: 60 Ist der kleinste Gedank von Gott Sie zu singen da wär mir mein Gesang zu schwach Nur empfunden ist sie; aber nun schweig er auch Bis mit neuer Gewalt ihm, und mit Donnerruf Die Begeisterung wiederkehrt.

Erläuterungen: Z. 9: hier fehlt offenkundig ein Wort = [···]. - Z. 25: Einer Dirne geschenkt < welch > . - Z. 35/36: Heinrich IV. von Frankreich; vgl. .Glauben und Liebe' II, 48: „Der beste unter den ehemaligen französischen Monarchen hatte sidi vorgesetzt, seine Untertanen so wohlhabend zu machen, daß jeder alle Sonntage ein Huhn mit Reis auf seinen Tisch bringen könnte. Würde nicht die Regierung aber vorzuziehn sein, unter welcher der Bauer lieber ein Stück verschimmelt Brot äße als Braten in einer andern, und Gott für das Glück herzlich dankte, in diesem Lande geboren zu sein?" - Z. 46: Nidit das Laster regiert, < aber die Tugend > .

III. Bukolische und schäferlich-anakreontisdie Gedichte Daß die bukolischen und schäferlidi-anakreontisdien Gedichte innerhalb der Jugendlyrik Hardenbergs einen bedeutenden Platz einnehmen, geht bereits aus der

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Auswahl hervor, die Paul Kluckhohn und nadi ihm Ewald Wasmuth in ihren Ausgaben mitgeteilt haben (die 2. Auflage der Edition Wasmuths, Heidelberg 1953-57, hat allerdings aus Raumgründen auf den neuerlichen Abdruck der Jugendlyrik Verzicht leisten müssen). Erweitert wurde diese Auswahl kürzlich in der Neuauflage von Novalis' Schriften (Kl.-S. I2, Stuttgart 1960, S. 459 ff.). Dennoch findet sich unter den mir vorliegenden unveröffentlichten Stücken eine ganze Reihe von Gedichten, die besonderes Interesse beanspruchen dürfen - angefangen von den Übersetzungen (Theokrit, Vergil) und der Anlehnung an fremde Vorbilder (Geßner, Gleim, Rost, Wieland, Gotter), über einige Gedichte, in denen später wieder aufgenommene Themen anklingen (vgl. z. B. Nr. 7), bis zu jenen ländlichen Idyllen und rokokogetönten Schäfergedichten, in denen sich die frühe Verwandlungsfähigkeit und unbekümmerte Versifikationslust des jungen Hardenberg äußert. Natürlich ist der dichterische Wert - wie bei den Jugendarbeiten überhaupt - gering; für die Auswahl maßgebend war das biographische Interesse, das ζ. B. auch in den Widmungsgedichten und Episteln Anhaltspunkte findet, da diese die literarische Bildungswelt Hardenbergs um 1790 eindrucksvoll spiegeln. Den Abschluß dieser Gruppe bilden - neben einigen anakreontischen Gedichten, die den fiktiven Charakter dieser Dichtungsart beleuchten - zwei thematisch außer der Reihe stehende Kloster-Gedichte (Nr. 26), die den erwähnten Spieltrieb Hardenbergs fast verblüffend zu erkennen geben - offenkundig gleichzeitig entstanden und am gleichen Gegenstande sich entzündend, behandeln sie ihr Thema auf eine radikal entgegengesetzte Weise und liefern damit einen wesentlichen Beitrag zur Deutung der gesamten Jugendlyrik. Die Datierung der Gedichte schwankt wiederum zwischen 1788 und 1790; sie werden hier thematisch gruppiert und unabhängig von der mutmaßlichen Reihenfolge ihrer Entstehung dargeboten.

1 Katalog Samuel, Nr. 21, X: Theocrits erste Idylle Thyrsis oder der Wettgesang. 11 Verszeilen. Foliobogen, zu Quartformat gefaltet, nur eine Seite beschrieben. WZ IV. Unter dem Übersetzungsversudi befinden sich einige Notizen: „Theocrit Casamoursaline Hiionnet / Hercynisdie Wald, Sdiwärmerey / Lieder, Episteldien et cetera zehn oben an". Theocrits erste Idylle Thyrsis oder der Wettgesang 1

Lieblich lispelt die Fidite < am silbernen Quelle > des Haynthals, Hirte der Ziegen audi du < flötest > singst süß auf melodischen Schilfrohr; Du empfingest nach Pan den Preis, wenn er den gehörnten Gaisbock nähme, so trügst du < davon > die hüpfende Ziege zum Preise 5 Wenn er aber die Ziege empfinge, so fiele das Gaißlein Dir zur Belohnung und süß ist das Fleisch der säugenden Gaislein [.] Süßer ertönt dein Lied, o Hirt, als der strömende Bergquell Welcher von Thürmender Klippe in lachende Augen herabrauscht. Führten die Musen hinweg zum Preis ein wolliges Schäfchen 10 Traun, so empfingest du ein milchendes Lämmdien, behagte Ihnen aber das Lamm, so würde das Sdiaaf dir zum Preise.

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2 Katalog Samuel, Nr. 21, IX: Die Fischer / Die einundzwanzigste Idylle des Theocrits. 65 Verszeilen (vollständig). Gefalteter Bogen zu 4 SS., die letzte Seite ist unbeschrieben. WZ VI (spät, vielleicht erst in Jena 1790/91 verfaßt). - Die Übertragung darf durchaus als eine selbständige Leistung Hardenbergs gelten, wenn man etwa Johann Heinrich Voß' Nachdichtung zum Vergleich heranzieht (Tübingen 1808, S. 182 ff.)· Die Fischer Die einundzwanzigste Idylle des Theocrits. 1 Diophantes, nur Armuth ermuntert die Menschen zum Kunstfleiß Sie die Genossin der Arbeit, denn drückende Sorge gestattet Nimmer dem arbeitseligen Manne erquickende Ruhe Wenn um Mitternacht selbst ihn ein kleiner Schlummer beschleichet 5 So verstört ihn doch stracks die immerdräuende Sorge [.] Zween schon greisige Fischer entschlummerten nebeneinander Auf der Streu von getrocknetem Schilf, in der Hütte von Flechtwerk, Angelehnt an des Hüttchens bemooste Wand und bey ihnen Lag ihr Handwerkszeug, geflochtene Körbe und Ruthen 10 Haken [?] und Netze, bewunden mit Meergras, Schnüre von Roßhaar, Zuggarne, künstlich (geflochtene) Reusen von Binsen, Felle und Tauwerk Und ein morscher Kahn auf Walzen und unter den Häupten Eine schlechte Matte und Kleidungsstücke und Mützen. Dies war der Fischer Gewerb und all ihr Reichthum; sie hatten 15 Keiner ein Töpfchen, nicht eins; entbehrlich schien alles beym Fischfang, Alles und Armuth war ihre Genossin rings, um sie wohnte Nirgends ein Nachbar, nur rauschte von jeglicher Seite die Woge An das erschütterte Hüttchen mit sanfter leiser Berührung, Lunas Wagen war noch nicht gelangt bis zur Mitte der Laufbahn 20 Als von der Nahrungssorge geweckt die Fischer den Schlummer Aus den Augen sich rieben mit traulichen Herzensgespräche. A. Lieber, sie reden nicht wahr, die da wähnen der Sommer verkürze Dann die Nächte, wenn Zeus die längeren Tage uns sendet, Noch ist das Frühroth fern und doch sah ich Gesichte die Fülle 25 Ja! vergaß ich mich? ists Wahn? Traun lang sind die Nächte. B. Klage den lieblichen Sommer nicht an, Asphaiion, nimmer Wechseln die Zeiten nach Willkühr: die Unruh, die Feindinn des Schlafes Machte die Nacht dir so lang. A. O! kannst du Träume mir deuten: Denn ich erblickte erfreuliche Dinge; mein Traumgesicht sollst du 30 Wissen; denn sieh! wir theilen den Fang, drum laß uns die Träume auch Theilen, du bist ja so schlau, wie kein andrer, der beste Traumausleger ist der, den eigne Weisheit beseelet. Muße haben wir ja, denn was soll man auf Blättern am Meeresstrand Liegend thun, wenn man sanft in der Hütte von Zweigen nicht schlummert 85 Und wir können nicht bey Fackeln so reichen Fang thun Als der das Prytaneum bewohnt, wir vermögen ja keine. B. Sage das Nachtgesicht mir und erzähle alles dem Freunde A. Gestern abend als ich nach geendigtem Fischfang einschlief Nicht sehr mit Speise erfüllt; du weißt ja wir schonten uns sorgsam 40 Denn wir aßen erst spät am Abend, erblickt ich mich selber Lauernd auf einer Klippe, denn sitzend belauscht ich die Fische Hin und her bewegte ich den trüglichen Köder am Schilfrohr Und der größesten einer biß an, denn wie ein Träumender Jagdhund Wild nur wittert, so ich nur Fische, er hieng an der Angel

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45 Blut vergießend, es bog durdi sein Zappeln das Rohr sidi hinunter Und ich streckte die Hand nadi ihm nidit ohne Besorgtseyn Wie ich den großen Fisch mit der kleinen Angel erhielte. Beißest du mich, so sagt ich, als ich ans Beißen gedachte Siehe! so beiß ich didi wieder und griff ihn als er nicht losriß 50 Und ich erblickte die Arbeit vollbracht: ein goldener Fisch kam Aus dem Wasser, durdiaus gediegen Gold, mich ergriff Furcht Daß es nicht etwa war der Lieblingsfisch Poseidons Oder vielleicht ein Kleinod der bläulichen Amphitrita Sorgsam nahm ich ihn nun von der Angelruthe herunter 55 Daß nicht ein wenig Gold aus dem Mund an der Angel zurückblieb Und zog ihn darnadh mit dem Seil herauf ans Felsen Gestade Schwörend nie wieder den Fuß hinfort an den Meerstrand zu setzen Und am Lande zu bleiben und über mein Gold zu gebieten Hiebey wacht ich auf. Du aber merdce o! Gastfreund 60 Meiner Rede: mich ängstet anjezt was ich habe geschworen [.] B. Ängste dich nicht: Du hast nicht geschworen, hast nicht den goldnen Fisch gesehn noch gefangen, die Träume gleichen den Lügen Denn wenn du wachend und nicht im Sdilaf an dem Orte willst suchen Wirst du troz der Ahndung des Naditgesichts fleischerne Fische 65 Suchen müssen, damit du beym goldnen Traum nicht verhungerst. Erläuterungen·. Die Niederschrift zeigt starke Korrekturen. Z. 2: denn drückende Sorge gestattet / Nimmer. - Z. 5: < so erweckt ihn doch gleich die nimmerentweidiende Sorge > So < verscheucht > verstört ihn dodi stracks. - Z. 6: < Blättergepolstert > Auf der Streu. - Z. 12: unter < dem Kopfe > den Häupten. - Z. 13: < lag ein . . . Pfuhl > Eine schledbte Matte. Z. 24: < tausend Gesichte > Gesichte die Fülle. - Z. 25: < Täuschung > Wahn. - Z. 32: < der eigener Weisheit sich < rühmet > freuet > den eigne Weisheit beseelet. - Z. 33: < Aphrodite > Amphitrita. - Z. 36: Als < die Bewohner des Prytaneums wir sind ja so reich nicht > der das Prytaneum bewohnt, wir < haben > vermögen ja keine. - Z. 46: < Besorgniß > Besorgtseyn. - Z. 48: als ich < darüber bestürzt war > ans Beißen gedachte. - Z. 50: < Und idi sah die Arbeit geendet > Und ich erblidcte. - Z. 50: Fisch < hieng > kam. - Z. 56: ans (Felsen) Gestade < der Meeresfluht > . - Z. 58: und < königlich mit dem Gold zu leben > über mein Gold. - Z. 60: mich ängstet anjezt < der gethane > < geschworne > < geleistete > < Eidschwur > was ich habe geschworen. - Z. 62: die Träume < sind wahr wie die > gleichen den Lügen. - Z. 63: im < Traum > Schlaf. Z. 65: nicht < verschmachtest > verhungerst. 3 Katalog Samuel, Nr. 7, XV: Epigrammen. 4 Verszeilen. Foliobogen, W Z V. Auf dem ersten Blatt, das oben abgeschnitten ist, stehen einige Notizen („Herder, Helvetius, Voss, Volkslied, Göckingk. Zuschauer, / Herder. Oper. Geron, Nathan, Weltgeschichte."), darunter das folgende Epigramm, das sich als eine Übersetzung der 1. Ekloge Vergils, Z. 1-4, erweist. Auf der Rückseite des Bogens, der sonst unbeschrieben ist, findet sich noch eine Übertragung aus Vergils Geórgica, Buch II, Z. 1-10. Epigrammen. Tityrus! Du in den Sdiatten der breiten Buche gelagert Feyerst die ländliche Muse mit leichtzerbrechlichem Rohre. Wir verlassen des Vaterlands Gränzen, die seligen Fluren, Fliehn das heimische Land, Du Tityrus müßig im Schatten 29 Mihi, Die Idee de« goldenen Zeitalter·

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Erläuterungen·. Ζ. 2 ist am Rande variiert: „Sinnest auf zartem Rohre die lieblichen Weisen des Landvolks". - Hardenberg hat hier die berühmten Verse Vergils als Epigramm behandelt, die, schon bei Vergil im Selbstzitat wiederkehrend (Geórgica IV, 566), als das „bukolische Lagerungsmotiv" durch die Hirten- und Schäferdichtung aller Zeiten wandern. Vgl. unsere Arbeit, S. 121. 4 Katalog Samuel, Nr. 2, IX: An den Apoll. 9 vierzeilige Strophen. Handschrift wie unter II, 8-10, WZ III. Die 8 SS. dieser Handschrift sind zweispaltig beschrieben; das vorliegende Gedicht befindet sich auf der 1. Seite (linke Spalte). Es folgen noch u. a. die anakreontisdien Gedichte .Weisheit des Lebens' (3. Seite), ,Das Bad' (7. Seite) und ,An Amor' (8. Seite). Wohl angeregt durch die Beschäftigung mit Horaz (vgl. Oden I, 30-31); im Jugendnachlaß finden sich mehrfach Übertragungen des Horaz (u. a. Oden I, 38; II, 10; III, 9 u. III, 28). An den Apoll. 1

Auch ich Apoll, Sänger der neuern Zeit, Will mit Gesang dich loben, daß Wiederhall Aus moosigen Gemäuer dringet Welchem der grünende Busch herabhängt.

5

Doch lehre mich, o stralender Jüngling dem Der arge Frühling nie von den Wangen welkt Den Schönheit formet die weißen Glieder Welcher durch goldene Pfeile furchtbar,

Ein Lied das deiner würdiger hoch ertönt 10 Von meiner Flöte oder der Saytenreih, Die Hermes dir geschenket da du Ihm den Caduceus wieder schenktest. Komm um es mir zu lehren ins Hüttchen, das Mir einst ein guter Hirte aus Zweigen flocht 15 Und warmes Stroh dazwischen mengte Wie mit Naiden mich Hymen einte. Den Nectar und Ambrosia findest du nicht, Doch wohl ein schäumend Schüsselchen Milch, die Sie, Naide selbst der Kuh entmolken 20 Findest ein jähriges Lamm und Birnen, Die ich gepfropfet, als idi zum erstenmal Empfand den süßen liebenden Kuß von ihr Da ich sie fand am Rand des Baches Weinend, Sie hatte ein Lamm verlohren. 25 Doch komme nicht als Gott, ich versänke sonst Nein, wie du kämest zu dem Admet als Hirt Dein blaues Auge lachte Ruhe Goldenes Haar lag auf deiner Schulter 30

35

Und lächle milde wie du im heitern Lenz Auf Blumenauen lächelst, als TagesGott Auf Blüthenbäume und den Schäfer, Welcher mit frühen Gesang dich grüßet. Und bring die Musen, deine Gespielinnen Auch mit, es ist ein Hüttchen genügsam Raum Die Grazien sind hier und Venus, Meiner Naide Begleiterinnen.

Anhang

451

5 Katalog Samuel, Nr. 6, h: Idylle 7 von Gesner. 2 vierzeilige Strophen. Folioblatt, W Z II (früh). Auf dem gleichen Blatt folgen in drei Spalten nebeneinander die Gedichte: An die Dichtkunst (I, 291) / Burgunderwein (I, 290) / Das erste Veilchen (I, 292). - Es handelt sich um den abgebrochenen Versuch einer Versifizierung von Geßners Idylle ,Amyntas' (Schriften, 2. Band, Zürich 1782, S. 22). Auch eine „Idylle nach Mahler Müller" wird als Plan notiert (Kat. Nr. 4, XX). Idylle 7 von Gesner An einem Morgen kam der Hirt Amynt Mit < Reißholz > schwanken Ruthen schwerbeladen wieder, Die Lüfte weheten gelind Und Echo tönte Filomälens Lieder. Da sah der gute Hirte an Dem Quelle eine Eiche stehen Die jung dodi keine Blätter mehr gewann, In kurzen wars um sie geschehen. Erläuterungen·. Das Ganze ist umkringelt und mehrfach gestrichen, offenbar, nachdem Hardenberg 15 seiner Gedichte zu einer Sammlung zusammengestellt und fortlaufend numeriert hat.

6 Katalog Samuel, Nr. 8, VI: Lyaeus. 12 vierzeilige Strophen. Vielleicht angeregt durch Gleims Gedicht ,Die Erscheinung des Bacchus' (Sämmtlidie Werke, hg. von W. Körte, II. Band, Halberstadt 1811, S.56ff.). - Foliobogen, W Z I (früh). Es folgt in der Handschrift noch das Gedicht ,An meine Freunde' (s. unter 7). Lyaeus. 1

Als ich jüngst in dem dunkeln Budienhayne Von Sorgen ganz ermüdet schlief Die Ley er neben mir, die jetzo Klagen, keine Gesänge freudig rief,

5

Die Bäume rund um mich in Melodien Voll Mitgefühls ertönten süß, Des Baches Nympfe ihre Wellen Elegien Aus Mitleid rieseln hieß

Erschien mir Bacchus Epheu um die Stirne 10 Noch purpurroth von Chierwein, An seiner Seite eine reizgeschmückte Dirne; Die Liebe mögt es seyn. Ein Jüngling wars in seiner Jugendblühte Mit einem Stabe und Pokal, 15 In seinem Blicke ruhten Göttermuth und Güte Und Freuden ohne Zahl,

20

Mit Flötenstimme sagte mir der Frohe: O! Jüngling warum härmst du dich Vielleicht daß dir ein süßes Mädchen tückisch flöhe Und deinem Arm entwich?

452

Anhang Sey Klüger, lebe immer nur zufrieden Und laß ein Mäddien treulos seyn, Ein Mäddien bleibts, sie alle schuf ja Zeus hienieden Den Jüngling zu erfreun. 25 Bleibt spröde die so fliehe zu der andern Und alle werden streng nicht seyn Und merckst du Sorgen nahn, so mußt du eilig wandern Zu meinem Tempel ein. Beym OpferWeine müssen dann entfliehen 30 Der bleiche Kummer mit dem Schmerz Doch werden dann dafür Erycina einziehen Und Amor und der Sdierz. Doch hörst du nidit, wird dich der Tod ereilen Wenn du des Ruhmes steile Bahn 35 Kaum halberstiegen bist, kein Kranz kann ihn verweilen Und Gold sieht er nicht an. Da wichen mit dem Bacchus meine Träume Idi sähe midi zur Lust erwadit Nun klagten mir nicht mehr die sdilanken Ulmenbäume 40 Sie zeigten frohe Pracht. Die Nymphe rieselte nun Freudenlieder Im Wettstreit mit der Vögel Chor Mein Herz, das bebte nun vor lauter Freuden wieder, Mein Lied [flog] froh empor 45

Drum lieben Brüder, laßt uns [...] Lyäen Dodi huldigen und jauchzet auf Thürmt Pfänder, die ihr nahmt der Freundinn, als Trofäen In unserm Tempel auf.

Erläuterungen·. Z. 37: Da < schwanden > wichen. - Z. 44 und 45 sind zu ergänzen ( = [· · ·]). da das Papier abgerissen ist. 7 Katalog Samuel, Nr. 8, VI: An meine Freunde. 9 vierzeilige Strophen. Handschrift wie 6, W Z I. Besonders interessant sind die Verse 21-32, in denen sich der Eindruck der Reiseberichte Georg Forsters über die Trauminsel Otaheiti in der Südsee spiegelt, vielleicht im Anklang an F. L. Stolbergs ,Insel' von 1788. Vgl. auch den späteren Brief Hardenbergs vom April 1791 an J.B. Erhard mit ähnlichen Assoziationen ( „ . . . daß wir uns als zwei neue Cookes, von denen der eine nach Westen, der andre nach Osten ausgesegelt wäre, triumphierend mit neuen Entdeckungen und verehrt von unkultiviertem Menschen als Stifter ihrer Kultur und Aufklärung wie Könige des Ozeans auf unsrer Weltumseglung begegneten . . . " , IV, 15). An meine Freunde 1

Sind wir denn hier das Spiel des Glückes Das sich bald hier bald dorthin neigt, Und liegen auf der Wage des Geschickes, Die vorhin sank, nun steigt?

5

Und sollen immer denn Tyrannen Beherrschen unser Wohl und Leid Erhöhen, wenn sie Redliche verbannen Die Niederträchtigkeit!

Anhang

453

Und stolze Priester uns gebieten 10 Was unsre Seele glauben soll, Mit Feuer und Sthwerd verkündigen den Frieden Des heiligen Wahnsinns voll! Und Kriege ganze Nationen Ins Unglück stürzen um den Ruhm 15 Daß Einem unterthan mehr Regionen Als Waffeneigenthum?

20

Und soll uns dann in Fesseln zwingen Die nachgeahmte Hässlichkeit Um Weihrauch einem < Schändlichen > Mäditigen zu bringen Nur groß durch Schändlichkeit? Nein! Freunde kommt, laßt uns entfliehen Den Fesseln, die Europa beut, Zu Unverdorbnen nach Taiti ziehen Zu ihrer Redlichkeit.

25

Und laßt uns da das Volk belehren Wie Orfeus einstens that; Das Saytenspiel soll ihrer Wildheit wehren Errichten einen Staat,

Wo nur Natur den Scepter führet, 30 Durch weise Künste unterstüzt, Und jeder in dem Stand, der ihm gebühret, Dem Vaterlande nüzt Und wo nicht blutige Trofäen Auf offnem Platze aufgestellt, 35 Und nicht dem Gott zu dem wir innig flehen Ein blutig Opfer fällt. Erläuterungen·. Neben der vierten Strophe (Z. 13 ff.) findet sidi am Rande ein weiterer Strophenentwurf: „Wolan so trinket, wackre Brüder / Glüdc unserm edlen Lauf; / Besteigt das Schiff mit schwellendem Gefieder / Und steckt die Wimpel auf." 8 Katalog Samuel, Nr. 11,1: In einem Alpenhüttdien. 11 sechszeilige Strophen. Foliobogen, gefaltet, die obere Hälfte des 1. Blattes ist abgeschnitten. WZ I (früh). In einem Alpenhüttdien 1

Hier wo die wahre Freyheit wohnt Und einen müden Pilger lohnt Wo Einfalt noch und Unschuld ist Und wo nicht Bosheit und nicht List 5 Die Sitten aus der Väterzeit Verderbet hat und auch nicht Neid. In einem Alpenhüttdien bin Idi jezt mein Freund mit frohen Sinn Sdiau über Berg und Thäler hin 10 Seh unter mir die Wolken fliehn Die Brust schlägt mir so hehr und frey Idi fühl daß ich ein Deutscher sey

454

Anhang Ein Deutsdier von den Alten nodi Der nie sein Knie vorm Golde bog 15 Der Hof nicht liebt, nicht Sklaverey Der Wahrheit saget ohne Sdieu Der liebet Biederkeit und Treu Und dem sein Herz von Goldsucht frey 20

In diesem Hüttdien nur mit Stroh Bedeckt bin idi doch herzlich froh. Die frische Mildi, der harte Käss Schmeckt gut im hölzernen Gefäß Macht stark und reinigt uns das Blut Macht lustig, heiter, gibt uns Muth.

25 Vom frischgefallnen Schnee weiß Sieht man die Gipfel und durdis Eis Mandi Thal den Bergen gleich gemacht Und blinkend wie die Winternadit Durch ihrer Sterne zahlreich Heer 30 Und wie beym Sonnenlicht das Meer Beym feisichten besdiäumten Fluß Der an der Alpen grüner Fuß Dahinrauscht seh ich Blumen schön Und viele Alpenbeeren stehn 35 Die würzig sind und süß und frisch Im schön und grausenden Gemisch. Und oben auf den nackten Höhn Sieht man verwegne Gemsen stehn Sie trozzen selbst dem Flintensdiuß 40 Und machen daß der Jäger muß Oft voll Verdruß zurückegehn Und sie von unten hüpfen sehn. Am Hange weiden Heerden dort An einem grasereichen Ort 45 Der Schäfer bläßt auf der Sdialmey Sein Mädchen singt dazu sie sey Ihm treu und lieb ihn nur allein Und wolle stets die Seine seyn. 50

Von Kräutern winzig und gesund Sieht man den Hang bedecket und Von ihnen weht den starken Duft Erquickend her die reine Luft Wie die zur Patriarchenzeit So rein, gesund von Gift befreyt.

55 Ja Freund dies seh ich alles hier Und wünschte recht von Herzen dir Du möchtest hier bey mir dodi seyn So heiter, munter, didi so freun Und die Natur romantisch schön 60 An meiner Seite doch mit sehn Ja geh ich wieder einst hieher Da mußt du mit ich ruh nicht ehr Und hole selbst im Nothfall dich

Anhang

455

Dem selten so ein Freund wohl glidi 65 Aus deinem städtsdien Aufenthalt Mit Güte nidit nein mit Gewalt.

9 Katalog Samuel, Nr. 11, III: Das Landleben. 11 vierzeilige Strophen. Halbe Folioseite, querbesdirieben. W Z nicht erkennbar. Vermutlich etwas später als das vorige Gedicht (1789?). Die Strophen sind von Hardenbergs Hand numeriert. Das Landleben 1

5

Es mögen sich die Thoren freuen Des Stadtgetümmels aber sie Die sidi für Einfalt, Unschuld scheuen Erfrische audi die Landluft nie. Wir aber Freunde wollen wallen Zur Bauernhütte hin aufs Land Wo oft mich schon bey Nachtigallen Der erste Strahl der Sonne fand

Und den idi dann mit offnen Blicken 10 Und glänzenden Gesicht versdilang Und sich mein Geist dann voll Entzücken So schnell als er zum Himmel sdiwang Auch meine kleine Sdiäferflöte Ertönte dann zu dem Gesang 15 Der Lerdie die der Morgenröthe Sich hohes Flugs entgegen sdiwang. Durch meine Haare spielten Weste Und durdi mein wallendes Gewand Die Vögel beugten zarte Äste 20 Um die sich nodi das Moos nicht wand. Die Flur die sah idi nun erwachen Den Bauer, Hirten, Wandersmann Sah die Natur rings um midi lachen Und wie der junge Tag begann. 25 Und sah dann oft auf einem Hügel Wie fröhlidi da mein Mädchen saß Umwehet von des Zephyrs Flügel Ihr ländlich Morgen brod da aß Es flatterten die goldnen Locken 30 Man sah den Nacken durch ihr Fliehn Der weißer als des Sdinees Flodcen Gewölkt mit sanften Frühroth schien

35

Idi flog zu ihr mit leichten Sdiritten Zu langsam war mir dodi mein Fuß Erhielt von ihr nadi kurzen Bitten Wie Blumenduft so süß den Kuß.

Dodi seht, was sing ich euch von Küßen Und von der Liebe Vollgenuß Kommt nur aufs Land, so sollt ihrs wissen 40 Durch einen selbst gegebnen Kuß.

456

Anhang In Städten weiß von soldier Freude Der Weichling nichts, er liebt nur Kunst, Er buhlet nidit im leichten Kleide Um der Natur und Mäddien Gunst. Erläuterungen·. Z. 30 ursprünglich: < Und ließen einen Nacken sehn > . 10 Katalog Samuel, Nr. 11,11: Der Landpfarrer. 10 vierzeilige Strophen. Folioblatt, W Z III. 1

5

10

15

20

Der Landpfarrer. Was kümmern midi die Reichen wohl Mit ihrem Prunk und Staat Idi lebe froh und freudenvoll Wünsch mich nicht in die Stadt. Denn in der Stadt da rasselts so Von Tag bis in die Nadit Man wird ganz sdiwindlidi, wird nicht froh Wird unmuthsvoll gemacht. Und unser Superintendent Lebt auch nidit glücklicher Weil alles klagend zu ihm rennt Und keine Ruhe kennt er Da leb ich zehnmal besser dodi In meinem Dörfchen hier Bin glücklicher gewißlidi noch Als wohl der Großvezier. Und meine Bauern lieben mich Und fragen mich um Rath Und was idi meine sage ich Nehm vor den Mund kein Blatt. Und idi studir nicht Wochen lang Nein was mein Herz mir sagt Sag ich in der Gefühle Drang Bin nicht auf Kunst bedacht.

25

30

35

40

Zu ihren Mälern komme ich Und bin mit ihnen froh Und scherze audi und freue midi Audi unterm biedern Stroh. Ich gehe aus hin in die Flur Und seh die grüne Saat Und wonne midi ob der Natur So macht es nicht die Stadt. Des Nachmittags besuche ich Die Pfarrer um midi her Und oft besudlet selbst auch midi, Audi froh ein Anderer. Beym Pfeifdien Tabadc und bey Bier Da sind wir dann vergnügt Da schwatzen, lachen, scherzen wir Weil uns das Dörfchen gnügt.

Anhang

457

11 Katalog Samuel, Nr. 8, I V : Mein Landgut. 7 vierzeilige Strophen. Foliobogen, zu Quartformat gefaltet, W Z I (wie unter II, 12 beschrieben). Mein Landgut 1

Zufrieden bin ich, Thaliens Liebling idi, Nicht Lebenssorgen und kein schwerer Kummer Stört mich im lieblichen und Mohnbekränzten Schlummer Der midi am Silberquell besdilidh.

5

Sanft rieselt er durch eine Blumenau Und bald durch kühle Schattenreiche Gründe Bespielt des Eichenstamms uralt bemooste Rinde Und nezt Vergißmeinnidit mit Thau.

10

15

20

Audi tränkt er manche Saatenschwangre Flur W o Legionen schwere Aehren nicken, Des Landmanns trunknen Blick durch Hoffnungen beglücken Weil Ceres segnend sie befuhr. Und dort wo schlanke grüne Reben sich In langen Reihn herab vom Hügel schlingen Zu Ladien und zum Scherz zum Reihentanz und Singen Midi laden, Lydia, und Didi, Lacht midi mein väterliches Landgut an Zwar klein und ärmlich doch für meine Musen Bequem, und groß genug für manchen schönen Busen Den ich mir durch mein Lied gewann. Lyäen dampft da öfters ein Altar, Den wir beym Festgelag als Priester ehren Doch dicht bey ihm, da opfern glühend wir Cytheren, Ich mit der frohen Zecherschaar.

25

Erläuterungen·.

So läuft uns oft die Nacht, der Lust geweiht Vorbey indem wir alten Chier trinken, Bis froher Mädchen Reiz, der Flammenaugen Winken Zu Amors Bett zu fliehn gebeut.

Z. 14: < schwingen > schlingen. - Z. 27: < Solange > Bis.

12 Katalog Samuel, Nr. 4, V I I : An Ramler. 15 Verszeilen. Folioblatt, W Z I I I . Das Blatt enthält noch die Gedichte: Der Frieden (mitgeteilt unter II, 2) / Lycas und Phidyle (nach Horaz, Oden I I I , 9). An Ramler. 1

5

Klio säugte dich am Hange des sdiattichten Helicons und die Kost, welche dein junger Mund Athmet, war der Gerudi duftender (Lilien), Rosen und Veilchen. Foibos Apoll schenkte der Gaben dir Viele; Gab dir die Kunst mächtiges Diditerflugs, Der den Lelschen Schwan und den dircäisdien Aar erreicht und im Wettstreit nicht dem Römer fleucht. Mich auch weihte der Chor froher Kamönen zu

458

Anhang Ihrem Freunde und goß ländlichen Diditergeist. 10 Mir in Busen; und wenn du nidit mein Lied versdimähst, Holden Grazien, wie hehren Kamönen werth, Stell ich midi in die Reihe munterer Barden mit, Die die Myrrthe bekränzt zwischen den goldenen Lodcen, und in der Hand Sdiaalen voll Rebensaft 15 Den die Kelter des Rheins schon bey dem ersten Karl Zwang und den [...]

Erläuterungen·. Der Hymnus bridit mit dem Beginn der letzten Verszeile ab. Z. 15 könnte auch ,bey dem besten Karl' gelesen werden. 13 Katalog Samuel, Nr. 4, XI: Die Sdiäferstunde nach Rost. 15 Verszeilen. Ein abgeschnittenes Folioblatt, W Z III oder IV. Es handelt sich um den Beginn eines Schäfergedidites, dessen Vorlage Johann Christoph Rost's gleichnamige Verserzählung bildet (vgl. Schäfererzählungen, Berlin 1742, S. 43 ff. Wieder abgedruckt bei A. Anger, Dichtung des Rokoko, Deutsche Texte 7, Tübingen 1958, S. 131 ff.).

1

5

10

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Die Schäferstunde nach Rost Mag immer Homer berühmte Helden singen Mäcen und Dilettant von der Unsterblichkeit; Und noch nach tausendjährger Zeit Mag ihm der Deutsche Opfer bringen Midi kümmerts nidit, idi lasse Epopeen Und ihren Ruhm, der Helden Musen Laß idi unangefleht auf oeden Felsen gehn Und rund um sidi nur Blut und Trümmer sehn. Kupido gießt mir Lieder in den Busen, Und wenn midi nur geliebte Nymfen flehn Um kleine Verse, bin idi gnug beglücket Und werde von Grazien mit Myrthen gesdimüdcet Und froher Amoretten Schaar Dur[di]flidit mit Rosen mein goldenes Haar Und bringt mir Kinder des Herbstes dar. 14

Katalog Samuel, Nr. 8, V: An die Grazien. 10 vierzeilige Strophen. Großes Folioblatt, W Z I (früh); die Papierbeschaffenheit entspricht Kat. Nr. 8, VI (s. unter 6 u. 7). - Die Handschrift enthält auf der Rückseite noch die Gedichte ,An Licin', ,An Fabius', ,Αη Dellius' (alle bukolisch getönt). An die Grazien. 1

O! Göttinnen im süßen May geboren, Wenn alles Anmuth athmet nur Und Liebe, Boreas den Scepter ganz verloren Auf unsrer freyen Flur.

5

Ihr seyd es ohne die gefällig nimmer Ein anderer Narciß sich bläht So unentbehrlich Hebens jugendlichen Schimmer Als hoher Majestät.

Anhang

10

459

Durch euch nur fängt ein Mädchen unsre Herzen Ihr schaffet rohe Wilde um Durch euch vermochten erst die Musen süß zu scherzen Die sonst nur rauh und stumm.

Ihr lebt in Paphos dunkeln Myrtenhaynen Bey Reihentanz und Wettgesang, 15 Da sieht man immer volle Rosen Nectar weinen Zu eurem Morgentrank.

20

Von Lais seyd ihr jetzt Begleiterinnen Ihr weht im Lüftchen um sie her Das bald das Busentuch verschiebt und bald sich drinnen Verbirgt von ongefähr. Ihr seyd es die in jeder Falte rauschen Des Rocks und wenn ein Thränchen rinnt Blinckt ihr darinn, doch wenn die Blicke schalkhaft lauschen Belebt ihr sie geschwind.

25

30

Ihr wart bis jezt vorzüglich den Franzosen Nur hold, taub Teutonidens Flehn Doch Wieland kränzte euch mit Deutschlands jungen Rosen Und ihr erhörtet den. O! hört an immer lodernden Altären Mich, Freundinnen Anakreons, Leiht mir ein gütig Ohr den Wunsch mir zu gewähren Am Fuße Helicons.

Belebet mich, belebet meine Lieder, Das ist mein innig heißes Flehn 35 Begeisterung durch euch entschwebe mir hernieder Aus rosenfarbnen Höhn.

40

Nicht die Unsterblichkeit soll mich ja reitzen Der Mädchen Beyfall lohne mich Für Mädchen sang ich nur, will nach dem Lächeln geitzen Das Lais Mund entsdilich.

Erläuterungen·. Z. 5: ohne die < nichts Schöne > gefällig nimmer. - Z. 28 ursprünglich: < Ihr ließt es gern geschehn > . - Z. 34: < Wunsdi > Flehn.

15 Katalog Samuel, Nr. 2, IX: An Amor. 7 vierzeilige Strophen. Handschrift wie unter 4 beschrieben, W Z III. An Amor. 1

Froher Knabe komme, welchem Jugend blühet Ewig auf der Wange, welche purpurn glühet, Der mit leichten Fittich sanft auf Blumen schwebst Und am liebsten in der Jugend Herzen lebst.

5

Komm in Lais Hütte fröhlig angeflogen Leb in ihrem Herzen das dich oft betrogen Jetzo mich an Ketten hart gefeßelt hält, Die dich Kleinen schmähet, nur sich selbst gefällt.

Anhang

460

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20

Die mit J a g d vertreibet und mit Thierehetzen Mildere Gefühle, und sich nur ergötzen Kann mit Blut und Pfeilen, süße Küsse schmäht, Fesselt viele, wie ein Sdinitter Halme mäht. Tag und Nacht verseufze idi an ihrer Schwelle Ungenüzt und trübe läuft die Lebenswelle Midi hast du verwundet heile midi auch nun, Höre doch mein Flehen, adi du kannst es thun? T r i f sie mit dem Pfeile der vom Honig süße, Nicht von Galle bitter, daß sie audi genieße Freuden froher Liebe und in meinem Arm Lieg in Sturmenäditen wonnevoll und Warm Guter Amor höre, dodi mein ämsig Flehen, Schon als Knabe sahst du midi zum Tempel gehen Den ich dir geweihet in dem Myrrthenhayn Eine Laube war es sdiattidit, duftend, klein

25

Sterbliche und Götter müssen dir gehorchen Wenn du willst erregst du ihnen Liebessorgen Hast j a selbst Dianen in dein Joch geschmiegt W i e sie sich an jenes Jünglings Brust gewiegt. 16

Katalog Samuel, Nr. 2, V : An Zelie. 3 aditzeilige Strophen und 4 Verszeilen (abgebrochen). Folioblatt, W Z II. Das Blatt enthält noch die Gedichte: An Louise / An ein fallendes Blatt (I, 297 f.) / Die Liebe (I, 296). An Zelie. 1

5

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Kennst du nicht den Gott der Liebe Der die Sterblichen betrügt Dessen Winke aller Triebe Oft audi alle Lust entfliegt W i l l idi ihn dir warnend zeigen Aber doch nur im Gedieht L a ß dich nicht von ihm beschleidien Von dem kleinen Bösewidit. Jetzo ladit er, schmeichelt, scherzet Zeigt von außen sich so süß Wenn man ihn als Kind geherzet Wird urplötzlich er ein < Dieb > Ries, Lange kann er sich verstellen Zeigt als Unschuld sich durch Kunst; Lange trug ich seine Sdiellen Kenne seine Schmeichelgunst. Unbesieglidi werden seine Reitze, in sehr kurzer Zeit, Und bald läßet er uns keine Hoffnung, da er Flucht verbeut Durdi die diamantnen Bande Die im Spiel er uns umschlang W o er launenvoll sich wandte Folgen wir dann Liebekrank.

Anhang

461

25 Was! du seufzest, sdieinst zu lächeln Unruh hebt den Busen dir Während ich didi warne, fächeln Um dich Amoretten hier, 17 Katalog Samuel, Nr. 2, IX: Das Bad. 16 Zeilen eines anakreontisdien Gedichtes. Handschrift wie unter 4 beschrieben, WZ III. Das Bad. 1 Hier badete Amor sich heute Der Unvorsichtge entschlief Da kamen die Nymphen voll Freude Und tauchten die Fackel ihm tief 5 Ins Quelldien, da mischten sich Wellen Und Liebe; sie täuschten sidi sehr Die Nymphen, sie tranken mit hellen Gewässer die Liebe nur mehr. O! Mäddien, die Liebe nicht scheuen, 10 Die trinken die liebliche Flut. Die Liebe, die wird sie erfreuen Mit sanfter entzückender Glut. Ich hab m i c h hier oftmals gebadet Mit meiner Laura allein, 15 Und nach dem Bade so ladet Der Sdilummer im Grase uns ein.

18 Katalog Samuel, Nr. 7, VI: Ohne Überschrift. 3 achtzeilige Strophen im Rokokoton. Wohl angeregt durch F. W. Gotters Gedidit ,Das schlafende Mäddien', das ähnlich beginnt („O! wie schön, vom Ahornbaum umschattet, / Lieget sie, die kleine Nice, da!"); vgl. Gedichte von Friedrich Wilhelm Gotter, I. Band, Gotha 1787, S. 75. - Folioblatt, W Z III oder IV. Wahrscheinlich 1790. 1 Da lag sie sanft vom Ahornbaum umschattet Der ihrem Reiz nodi größre Reitze lieh, Indem der Sdiatten sich mit Alabaster gattet Und der erhizten Phantasie 5 Was zu verrathen gab, das Ganze mehr belebte; Und Wollust, die sie fast ganz siditbarlich umschwebte Entfaltete stets neue Seligkeit, Ich staunte an und sah wohl eine Ewigkeit. Urbinos Ideal erträumt an Mädchenbusen 10 Widi ihr, denn kein so wallendes Kontour Sah, glaub ich Paris nidit und keine von den Musen Des Sdiweizers, der genährt mit Nektar und Natur, Cytheren selbst besdilidi in Pafos kühlen Bade, Und wie sie zu den blumiditen Gestade 15 Der trunkne Zefyr trug, im Traumgesicht erblickt, Und wie die Göttin da die Grazien geschmückt.

Anhang

462

Sanft hub der Busen sich entflammt von losen Träumen, Die ihn mit weichen Morgenroth Hold übergössen, ihn vermochten nidit zu zäumen 20 Die Haare, denen nidit ein Band zu ruhn gebot, Schwarz waren sie, die auf die Schulter fielen Von Elfenbein, die schöner nodi durdi sie, Audi von der Nachbarschaft der Liebe Anmuth lieh, Auf die gesezt die Zephirettdien spielen. Erläuterungen·. Mit dem Schweizer Z. 12 ist wohl Geßner gemeint. - Z. 13: in Pafos < Blüten > kühlen Bade. 19 Katalog Samuel, Nr. 4, X : Filosofey. 9 vierzeilige Strophen. Folioblatt, W Z III. In der rechten Spalte oben finden sidi 4 Zeilen unter der Überschrift , < Epistel > an Manon': „Thaliens Liebling du, o süßes romantisches Mäddien, / Wie ganz entzückend schön / Wenn du als Bäuerinn naif an dem schnurrenden Räddien / Johannen sähest stehn." Filosofey 1

Laßt sich jene Weise zanken Ob wol die Monaden sind Und wir eines Zufalls Wind Unser Daseyn nur verdanken.

5

Wie der Geist den Körper leitet Und auch selbstbeständig sey, Wenn von seiner Hülle frey Er durch ferne Höhen gleitet.

Aber wir, wir wollen hören 10 Was uns Freyheit und Natur Und der Lenz und Epicur Mit der süßen Stimme lehren. Wenn im May die Bäume blühen Und der rege Tauber girrt, 15 Und der bunte Käfer schwirrt Froher Mäddien Wangen glühen,

20

Welche gern beym Jüngling weilen Der vielleicht nodi sdiüditern ist Und vielleicht noch nicht vergißt Strenge Vettern, laßt uns eilen Zum verschwiegenen Gebüsche Von Cytherens Lust erhizt, Daß uns ja nicht ungenüzt Jugend mit der Lust entwisdie.

25 Und in süßer Freunde Kreise Mag bey Saytenspiel und Tanz Und bey heller Kerzen Glanz Oft audi nach Lyäens Weise 30

Bey den schäumenden Pokälen Unser langer Schlummer nahn Lächelnd nehmen wir i[h]n an, Wenn gleidi dann die Freuden fehlen,

Anhang

463

Nidit mehr fröhliche Maenaden Untern Thyrsusstabe drehn, 35 Und wir nicht um Gnade flehn Bey den gütigen Najaden. Erläuterungen·. Das Thema - ironische Verachtung des Weisen, der über die Monaden und das Geistwesen des Mensdien grübelt - gehört zu den beliebtesten im Rokoko und wird von Hardenberg häufig variiert. So in dem Gedicht .Weisheit des Lebens' (Kat. Nr. 2, IX) ; ähnlich eine einzelne Strophe unter der Überschrift ,Die alten Weisen' (Kat. Nr. 3, XXII): „Zwar lehren uns die alten Weisen / Wie man den Haß, die Lüsternheit, den Groll / Verbannen kann und sidi vom irdischen losreißen; / Dodi lehren sie uns nidit das höchste Mensdienwol, / Daß man Mädchen küssen soll". 20 Katalog Samuel, Nr. 7, VII: Ohne Überschrift. 24 Zeilen eines anakreontischen Gedidites. Folioblatt, W Z III. Das Blatt enthält daneben in der rechten Spalte eine Reihe von Büchertiteln mit Preisangaben (offenbar Rechnungen), u. a. „Theophrast, Terenz, Castellio / Karl silberne Sdinallen / Resdi / Wieland und Jakobi / Bürger / Komische Erzählungen ν Wieland et cet / Zöllners Monatsschrift / Wielands Allerley ! Herder und Götz / Werthes und Wieland / Albredit Dürers Kupferstiche / Vorschuß von Semlern". 1

5

10

15

20

Wenn um mich im Wechseltanze Weisheit sidi und Freude drehn Bietet mir mit ihrem Kranze Jede von den beyden Feen Glück und Ruhe oder Ehre, Gerne nahm idi beydes an, Wollte wenn es möglich wäre Sie mit gleicher Gunst umfahn. Weisheit mäßigte die Freude Gab der Holdinn Ziel und Maaß Webte ihr aus Rosenseide Kleine Fesseln, wie zum Spaß; Und die Freude sdiläng der weisen Göttin Rosen um das Haar Und verscheuchte sanft mit leisen Tönen ihrer Grillen Schaar. Aber schade daß die beyden Mädchen eigensinnig sind, Daß sie sidi einander neiden [meiden?] Und gar selten einig sind; Darum, weil von Rosen und Myrrthen Dieser Kranz geflochten ist Nehm ich Freude, deine Myrrthen Wo man Sorg und Harm verküßt

21 Katalog Samuel, Nr. 4, X X I ; 6, m; 7, III; 4, XVI: Kleinere Anakreontika, die aus den genannten Handschriften zusammengestellt wurden. Es handelt sidi mitunter nur um einige hingeworfene Verszeilen oder Gediditanfänge, mitunter aber auch - wie unter (d) - um in sich abgeschlossene Sinngedichte nach Muster Göckingks oder Gerstenbergs, für die der Titel der letzten Handschrift bezeichnend ist: .Erotica'. - Alle hier herangezogenen Handschriften haben W Z III oder IV, stammen also aus den Jahren 1789-1790.

Anhang (a) Ein Traumgesidit aus Lilien und Rosen Vom niedlichsten der Träume sanft gewebt Leicht wie ein Frühlingswest um Silberquelldien, schwebt Jezt um die Stirn < des jungen Philosophen > der jugendlichen losen Napäe, die so hold hier unter Myrten ruht; Sie sah die Grazien in seelenvollen Tänzen In Paphos Hayn an einer klaren Flut Mit Rosen sidi und Amors Psyche kränzen (b) An Lais Weldi süßes Lädieln dir am Rosenmunde schwebt, Dir, Siegerin von allen Herzen, Von Grazien umflattert und von Scherzen, Von Laun und Wiz und von Gefälligkeit belebt, Dir hat Socratisdie Philosophie Und alles Sdiönen Harmonie Schon Klotho in den Faden eingewebt. (c) An ein todtes Mädchen. Nidit mehr, rosiges Mäddien umtanzen didi Scherze der Jugend Harmlos gaukeln um dich lieblidie Träume nidit mehr Und kein liebender Jüngling umrankt did) mit bebenden Arme Wenn er Verzeihung, der Schalk, sich von den Lippen geholt Armes Mäddien, anjezt umwebt dich Blässe des Todes < Und ins kalte Bett > Und dein Seeldien ist hin zu Traurigen Auen entflohn. Dir Amor will ich Weihraudi brennen Und dich den Gott der Götter nennen Trifst du Psycharion und midi, Dodi trift geschnellt von Schadenfreude, Dein Pfeil nur midi und nicht uns beyde, Dann nenn idi Sdialk und Frevler dich. (d)

Erotica. Aglaja hatte sich verloren Und ihre Schwestern suchten sie. Wir haben sie, wir fanden sie bey Floren Sie täuschten sich, es war Julie. Venus suchte Adonis, den süßen munteren Liebling, Ungehört lag er seufzend an Juliens Fuß. Rosendüfte erschuf Kronion zu menschlicher Bildung. Vor dem Lächelnden stand, schöner als Venus, Julie. Mit Julien mögt idi zur Götterzeit nicht seyn Sie würde Zeus gar bald zu seiner Göttin weihn.

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Graf malte sdiön dein Bild, dodi sdiöner mal es idi, Denn Liebe führt allein den Pinsel meisterlich. Eine Knospe der Rose bist du, Amalia ähnlich Schön und duftend wie sie und von Zephiren umweht Und ganz didi zu entfalten, erwartest du audi wie diese, Titans wärmenden Strahl, Blicke des losen Cupids. Weißt du wohl warum diese Rosen blühten Schon so früh - zuerst dir sich anzubieten. Du strafst mit einem Schlag den, dir geraubten Kuß Und tust als wärst du voll Verdruß, Dodi um midi hart an dir zu rächen, Begeh idi trotz der Straf, das nämliche Verbrechen. Bist du Laura oder nidit Deutlich sagt es dein Gesicht Nur dein Geist ist minder hart Liebereidier, weich und zart. Blümchen freue didi Du verläßest midi Fliehst bey mir den Schmerz und Gram Gehst zu der, die mir die Freude nahm. Erläuterungen·. Die unter (b) mitgeteilte Strophe wird in einer anderen Handschrift (Kat. Nr. 6, p) noch einmal wiederholt. - Zwischen den beiden unter (c) mitgeteilten Strophen befinden sich in der Handschrift Gedichtanfänge ,An Götter' und ,An Jacobi'. - Die letzte Handschrift (d) enthält unter dem Titel .Erotica' noch das Gedicht .Cythere' (I, 296). Die zehn kleinen Strophen sind von Hardenberg durch Striche einzeln umrahmt worden. 22 Katalog Samuel, Nr. 6, o: An Fridridi. 66 Verszeilen. Anderthalb Folioblätter, W Z III. Die Handschrift enthält u. a. noch ein Gedicht ,An Fridridi II.' (Kl.-S. I», S. 470/71). - Das vorliegende Gedicht könnte an Hardenbergs Jugendfreund Friedrich Brachmann gerichtet sein (vgl. den Brief vom 18. Februar 1790: „ . . . Sie leben in Pleiß-Athen, aber wir an den Ufern der Saale leben wie in Böotien fern von den Musen und ihren Tempeln . . . " , IV, 11). An Fridridi. 1

Mein Fridridi, den Geburt und Gunst gleich hoch erhob Den Freundschaft mir seit langer Zeit verband Um uns die Blumenketten wand Und dem es nicht das größte Lob 5 Daß trefflich munter sein Verstand, Nein denn auch stark sein Herz von Tugendliebe glüht Von Eifer für sein Vaterland Der Sdimeicheley und die Cabale flieht Nicht baut auf Fürstengunst das heißt auf losen Sand, 10 Dich grüsset meine Muse jezt Die gerne lacht und tändelnd schwäzt Mit Amor, Grazien, Cytheren sich ergözt Den Becher liebt sich bey ihm lezt Auf froher Flur gleich einem Satyr springt 90 Mihi, Die Idee dei goldenen Zeitalter·

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Und bey dem lauten Wasserfalle Und bey des Edios Wiederhalle Gern Philomelen hört und mit ihr wetteifernd singt Ein drollig Mädchen ist doch selten Zucht verlezt Nur wenn bey einem Bacchusfest Sie taumelnd schon den stillen Pfad verläßt Und sidi zu Crebillon gesellt Den Katechismus nicht behält, Doch, sieh wie gern sie springt ich wollte von dir singen Und plötzlich wollte sie sich selbst den Weihrauch bringen Gewißlich gähnst du sdion doch höre Noch einen Augenblick wie idi dich Freund verehre Dir alles Gute wünschen will Und dann, dann sag ich selbst: Sey still! Ich hüpfe gern an kühlen Bächen Mag gerne eine Rose brechen Nichts sorgen als wie ich mich will an Lottchen rächen Und mehrere dergleichen Dinge W i e ich ein Veilchen wohl besinge Das meine Hand im May zuerst gepflückt Um meiner Lotte Brust zu schmücken Und daß ich selbst ihr voll Entzücken Gebracht in ihre Hand gedrückt. Dodi du gehst auf der höhern Bahn Zu deiner Nebenmenschen Glücke Und übersiehst mit einem Blicke W a s andre kaum mit 20 sahn Was Politic und Staaten wohl verlangt Didi kümmert nicht, ob dich des Neides Zahn Benagt wenn mandi Geschlecht sein ganzes Glück dir dankt An deinem Golde wieder stumpf, Der Dümmeren Gesdirey hörst du o Freund nur dumpf Und wenn des Segens stimme dir weit stärker schallt W i r d dies bald unterdrückt, die froh zum Himmel wallt. Geh stets mit deinem hohen Muthe Auf dieser Bahn mit seltnem Glück Und gehts mit Güte nicht gebrauche sdiarf die Ruthe Und rück in deinem Plan nur vorwärts nicht zurück Und ringe, daß du einst beweint, von < vielen > Nationen Die dir ihr Glück verdanken dich belohnen Unsterblich wirst durdi ihrer Thränen < heißen > Dank Der dir mehr wehrt als schmeichelnder Gesang Als Stein und Marmor wo die Zeit Oft tilget die Unsterblichkeit, Dodi die nicht die in vielen Herzen blüht Und auf der schönen Flur nicht mehr von Schädeln weiß Die von dem Vater zu dem Sohne zieht Und die sich nur verdient der ehrne Fleiß Sieh, wie selbst Freunde so verschieden Audi leben hier auf Erden. Doch zufrieden Sind beyde, du in deiner höhern Pflidit Idi bey dem reizenden Vergißmeinnidit.

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23 Katalog Samuel, Nr. 3, XXIII: An Weber. 26 Zeilen eines Widmungsgedichtes. Folioblatt, WZ III. Das Blatt enthält auf der Vorderseite noch ein durchgestrichenes Gedicht .Warnung an deutsche Mädchen', auf der Rückseite ein siebenzeiliges Widmungsgedicht ,An Schmidt' (d. i. K. Chr. E. Schmid, Hardenbergs Hofmeister und späterer Professor der Philosophie in Gießen). - Das Gedicht an Weber erscheint wegen seiner Anspielungen auf Wielands Verserzählung „Musarion" besonders interessant; vgl. dazu auch die folgende Epistel ,An Herrn Wolf'. An Weber 1 Wie gehts, mein holder, Trauter lieber? Bist du noch stets so wonnig und so froh, Sind Sorgen fern und Bleiche hagre Fieber Von deinem Moosbewachsnen Stroh, 5 Gefällts dir noch mit Mädchen süß zu tändeln, Mit Mädchen blauer Augs, voll Kraft und Zärtlichkeit, Die gern zu schlauversteckten Liebeshändeln Zur Dämmrungszeit im dichtem Hayn bereit; Ja oder nein, sags, oder gehst du lüstern 10 Nach Diogens Unsterblichkeit Mit langen Bart und im zerrißnen Kleid Troz dem, was Thörichte auch flüstern Einher und lauschest in der Einsamkeit, Vielleicht versteckt in eine Tonne, 15 Vertieft in Philosophen Wonne Auf Geister und auf Sphärenklang; Und mißest Welten aus, berechnest Sonnenbahnen, Und bleibst doch immer troz den Wünschen und den Planen Ein Sterblicher der oft vom < Unglück niedersank > Hunger niederzwang 20 Besuchst du midi, der sich mit frohen Sang Oft angenehm hinweg die Sorgen scherzet Gern Rosenwangen küßt und Liljenbusen herzet Wenn mannichmal ihn gleich ein Biendhen stach, So laße die Philosophie zu Hause 25 Zusammt den Spleen, das noch in meiner Klause So unbekannte Ungemach. 24 Katalog Samuel, Nr. 3, XVII: An Herrn Wolf. 65 Zeilen eines Dankgedichtes an Hardenbergs Lehrer, den Rektor der Lateinschule in Weißenfels. Folioblatt, WZ III. - In Kat. Nr. 3, XVIII folgt noch ein weiteres Gedicht ,An Herrn Wolf', das in 38 Zeilen den Dank für ein geliehenes Buch abstattet, „das uns von Vorurtheilen heilt, / Die seit der Amme uns umstricken" (vermutlich ist ein Werk Wielands gemeint). An Herrn Wolf 1 Da kommt sie geritten die Muse vom Blumenbekränzten Parnass, Mit purpurner Wange, die Stirn mit Myrrten umschlungen Losflattert ihr Haar, da sie das Frisiren vergaß Sie ist im Negligee vom Schnürleib ungezwungen 5 Du wirst es ihr gern verzeihn, so ist sie mehr Natur Da sieht man in freyer Wallung den Kontour So hüpft sie nachlässig umher auf weicher Blumenflur 30·

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Und wird nidit von sittsamen Fischbein gedrungen So tändeln die Grazien audi umtanzt vom losen Chor Der schlauen geflügelten Liebesgötter Die in der Veilchen Schooß und in die Rosenblätter Wohin sich ein Thränchen Aurorens verlor Sich schalkhaft verkriechen und verstecken Um bald die sorglosen Mädchen zu necken. Sie bringt dir sicherlich den Dank Mit Saytenspiel und mit Gesang Daß du ihr den Weg zu Italiens Musen gewiesen Die zwischen Blumen dem Bache entlang Der auf dem Atlas dem Hufe des Hippogryphen entsprang, Des Himmelslust und Göttertranks genießen. Du lehrtest mich singen Petrardis Gesang Der zu des göttlichen Mädchens Füßen Den reinsten Strom platonischer Liebe trank Und seine Fantasie in höhere Welten schwang Der wenigen einer, die nicht solidre Speise [...] frey nach Itifalls und Herrn Phanias Weise Zufrieden sind mit geistiger Seelen kost. Du lehrest mir wandeln mit Ariost Und Tasso durch wahre Labyrinthe Von Fabeln und durch ein mänandrisches Gewinde Von Heldenthaten und Zaubereyn Verwandlungen, Reisen und Feereyn, Und kurz was pflegt in romantischen Zeiten zu seyn. Dank ruft sie dir zu aus vollen Herzen Doch Dank ohne Wünsche beliebt nur zu scherzen Und ist nichts werth, bringt keinen Pfennig ein, Doch mit den Wünschen wirds auch so seyn Denn wünscht ich auch dir exempli gratia Sechs Flaschen voll ächten rheinischen Wein Zum Abendbrod idi glaube daß nicht ein deus ex machina Sie mir zu gefallen dir würde verleihn. Ja wär ich König so wollt ich wol danken Auf eine solidere thätige Art Da schickt idi dir, das schwör ich bey Mahomeds Bart, Ein Fäßdien voll Nektar, von Anno eins erspart Gewachsen an feurigen hungarischen Ranken, Doch jezt ist dies stattliche Gedicht Das einzige dürre Vergißmeinnidit. Doch a propos vielleicht ist mir Apollo gewogen Der hohe unsterbliche Jüngling mit silbernen Bogen Da wünsdit ich dir doch von Herzen etwas Was nicht der Grieche Phanias Wie Wieland singet, in Musarion besaß. Nun räthst du es gewiß was meine Muse meinet, Das drollige Mädchen, sie meinet ein Mittelding Vom Manne und Engel, das Sdiönheit und Grazie einet Und Schlauheit und Liebe und Herzen wie Fliegen fieng Sympathisch beym Schmerze des Freundes weinet Und gern zum Socratischen Mahle mit gieng, Du siehst ja täglich die Ideale Und meines Gemähides Originale Um dich in vollen Jugendglanze blühn

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Und sanft wie Rosen beym Morgenroth gliihn. 0 würde je eher je lieber ehr heute 65 Als Morgen dir eine Braut und eine Pfarre zur Beute. Erläuterungen: Die unter 22-24 mitgeteilten Episteln sind offenbar flüchtig hingeworfen und stellen Entwürfe in sehr ungeschickten Versen dar; dennodi sind sie von biographischem Interesse, da sie in zahlreichen Assoziationen die literarische Bildungswelt spiegeln, in der der junge Hardenberg noch um 1790 lebte. In diesem Zusammenhang aufsdilußreich ist auch das petrarkistisdie Gedicht ,Beym Quell zu Vaucluse' (Kat. Nr. 2, XIV). - In einem längeren Widmungsgedicht ,An Louise Fisdier' (Kat. Nr. 3, XVIII), das hier aus Raumgründen nidit abgedruckt wird, finden sich die folgenden, für das Thema unserer Arbeit bezeichnenden Verse: „ . . . Dich, der an Engelssanftmuth keine / Der Charitinnen selbsten glich / Die einst in Cytherens Hayne / Im goldnen Alter froh gespielt . . D a n e b e n steht unter den Bemerkungen am Rande des Gedichtes das Stichwort: „Du bist nicht dieses Lebens werth / Elysiums oder dem goldenen Alter". - In einer anderen Handschrift (Kat. Nr. 3, XIX) wird das gleiche Gedicht unter dem Titel ,An eine Unbekannte' erweitert und variiert; dort heißt es: „ . . . Die einst im goldnen Alter sidi / In Cytherens Myrtenhayne / Mit Rosenbüschen leicht umkühlt . . u n d am Schluß: „ . . . Hinüber nach Elysium / Vor dessen namenlosen Freuden / Nodi stets vermehrt durch Ewigkeiten / Die hödiste Dichterharfe stumm . .

25 Katalog Samuel, Nr. 8, V: An Dellius. 5 vierzeilige Strophen. Handsdirift wie unter 14 beschrieben, W Z I. - Katalog Samuel, Nr. 2, XI: Zurückerinnerung. 7 vierzeilige Strophen. Folioblatt, W Z III. - Die beiden Gedichte beleuditen den fiktiven Charakter der anakreontisdien Lyrik in besonders frappierender Weise, wenn man das Alter des 16-17jährigen Dichters berücksichtigt. An Dellius. 1

Im süßen Dunst von Cytheren An froher Mädchen Rosenbrust Verwelkte ich, die grauen Locken mehren Sich täglich mehr, mir wohl bewußt.

5

Für mich hat keine Marmorwange Mehr Reiz und kein Korallenmund Lockt mich zu Küssen mehr im Liebesdrange Kein zauberisdies Busenrund.

Mein lauer Blick sieht alle Tage 10 Das Freudenheer mich Greis entfliehn Der munteren Mädchen Chor, trotz meiner Klage Zu Jünglingen, die frisdier glühn, Drum will ich nüchtern mich entziehen Der Jugend Spott und ihrem Spiel 15 Zur runzlidien Philosophie entfliehen Die nur dem Greise erst gefiel. Du Freund nimm meine muntern Musen Die Freundinnen der Liebe sind Sie finden bey dir einen wärmern Busen, 20 Der zu erkalten mir beginnt.

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Zurückerinnerung. 1

Wenn ich an meine Jugend denke Die gleich dem Frührot hingeflohn In diese Zeit mein Auge lenke Wo Unsdiuld mir vom Rosenthron

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Gelächelt, mir der Grazien Spiele Gelehrt so süß und freudenvoll, Und öfters bey des Mittags Schwühle Im Hayne meine Harfe scholl

Von Liedern die mir Liebe lehrte, 10 Wettstritte mit der Nachtigall, [Und] ihre Töne doppelt hörte In meines Echos Wiederhall. Wo idi beym frohen Pfänderspiele Die Pfänder fröhlig eingelößt 15 Weil oft mich dann der freye Wille Der Mädchen durch den Kuß erlößt.

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O dieser Kuß schmedtt dann so süße Von einem Munde roth und klein Idi gäbe warlich tausend Küße Der Ninon für ihn obendrein. Jezt eine von den größten Sünden Wärs gab idi einer einen Kuß Nein diese süßen Zeiten schwinden Es kommen Sorgen und Verdruß.

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O könnt idi wieder Jüngling werden Idi gäb all meine Habe hin Idi bliebe gern dann auf der Erden Mit immer heitern Jünglingssinn. 26

Katalog Samuel, Nr. 2, XIII: Im Kloster. 7 vierzeilige Strophen. Folioblatt, W Z III. Unmittelbar auf dieses Blatt folgt, durch drei Sterne getrennt: Ans Kloster in Ruinen. 7 vierzeilige Strophen. Beide Gedichte werden hier aus den in der Vorbemerkung angegebenen Gründen mitgeteilt. - Das Blatt enthält daneben nodi die Gedichte: Natur / An die Linde (I, 277). Im Kloster 1

Hier ferne von dem Weltgetümmel Und mit derselben unbekannt Bin idi, und näher an dem Himmel Vergeß ich allen Erdentand.

5

Und wenn mir hier in meiner Zelle Was irdsdies kommt in meinen Sinn So läute ich an dieser Schelle Und für mich knien die Brüder hin.

Gleich läßt Gott alles irdsche fliehen 10 Und bringet midi zu sich zurück Von Tag zu Tage seh ich ziehen Das Irdsche immer mehr: welch Glück!

Anhang Der Tag der midi in diese Zelle Gebracht war mir der wichtigste 15 Er brachte mich zum Glückes Quelle Verscheucht der Freuden nichtigste. Denn wahre Freuden die beglücken Für einen wahren Weisen sind Man kann sie nie zum Ekel pflücken 20 Und sie verschwinden nicht geschwind. Und diese sind sich zu besiegen Und stets zum Weisheitsquell zu sdiaun Die Freuden die uns dann vergnügen, Kann ich nicht Worten anvertraun. 25

Fast frey fliegt zu dem lautern Quelle Der Wahrheit schon der höhre Geist Er denkt nicht mehr an seine Zelle Die ihn nur schwach noch niederreißt. » » *

Ans Kloster in Ruinen 1

Nie sah ich fröhlicher Ruinen Als deine oedes Kloster hier Sah sie zur Eulen Wohnung dienen In grausam drohendem Gewirr.

5

Wie gut ists daß du Ungeheuer Doch endlich einst gefallen bist, Wo einst bestritt mit Sdiwerdt und Feuer Die Wahrheit Finsterniß und List

Wo stolze Priester unterdrückten 10 Die Jugend und auch die Natur Und das verdammte Sdiwerd auch zückten Auf jede Klugheits Weisheits Spur. Wo Finsterniß und Dummheit thronte Und Bosheit in dem Schaafsgewand 15 Und selbst die ärgste Wollust wohnte Obgleich dich ein Gelübde band

20

Da liegst du nun und bist gefallen Zerstöret von der mächtgern Zeit Du bist verspottet und bist allen Ein Anblick der sie sehr erfreut. Und deine Finsterniß ward helle Durch Luther einst durch Joseph jezt Vergeblich ists daß in der Hölle Der Unglaub neue Stacheln wezt.

25 Zum Schilde stehn uns wackre Männer Die mehren täglich unser Licht Und Joseph lebt der Wahrheit Gönner Er lebt mit leuchtenden Gesicht.

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Erläuterungen·. Es darf als sicher gelten, daß beide Gedidite, die in der Handschrift unmittelbar aufeinander folgen, um die gleiche Zeit entstanden sind. Das Schloß Oberwiederstedt war früher ein Kloster; wahrscheinlich hat sich der junge Hardenberg von diesen Kindheitseindrücken in so gegensätzlicher Weise inspirieren lassen (obwohl hier wie audi sonst bestimmte Muster, etwa Matthisons Gedicht ,Das Kloster', immer vorausgesetzt werden müssen). - Z. 27 des zweiten Gedichtes liefert einen Terminus ante quem (im Februar 1790 starb Joseph II.); die Entstehungszeit liegt aber wahrscheinlich weiter zurück (1788/89: vgl. die Übereinstimmung von Z. 9 ff. mit dem unter III, 7 mitgeteilten Gedicht ,An meine Freunde', Z. 9 ff.).

Literaturverzeichnis

Vorbemerkung Das vorliegende Literaturverzeichnis beruht auf einem strengen Selektionsprinzip. So wurden alle älteren Werke, deren Ergebnisse durch neuere Untersuchungen als überholt gelten dürfen, grundsätzlich ausgesdiieden; audi Aufsätze und Schriften populärwissenschaftlichen Charakters blieben unberücksichtigt. Ferner wurde die in den Anmerkungen verzeichnete Literatur nicht vollständig aufgenommen, sondern nur insoweit, als sie dem hier erstmals unternommenen Versudi einer Bibliographie zur Idee des goldenen Zeitalters in der Diditungs- und Geistesgeschidite entspridit. Dem Literaturverzeichnis liegt folgendes Gliederungsschema zugrunde: A. Quellen. B. Literatur zur Herkunft und Geschichte der Idee des goldenen Zeitalters. I. II. III. IV.

Zur antiken Idee des goldenen Zeitalters. Zur arkadisdien Vorstellungsform des goldenen Zeitalters. Zur chiliastischen Idee des tausendjährigen Reiches. Zur Weitkaiser-Idee in Prophetie und Sage.

C. Literatur zur Ideengesdiidite des 18. Jahrhunderts und zur Romantik. D. Novalis-Literatur. Bei häufiger angeführten Zeitschriften oder Sammelwerken wurden folgende Abkürzungen verwendet: DLE DVjs. GRM HbAW Hermes Neudrucke NF. NJbb. PBB Philologus

™ Deutsche Literatur. Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen = Deutsche Vierteljahrssdirift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschidite = Germanisdi-Romanisdie Monatssdirift = Handbuch der Altertumswissenschaft = Hermes, Zeitschrift für klassische Philologie = Neudrucke deutscher Literaturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts = Neue Folge = Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur = Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, hg. von H. Paul und W. Braune = Philologus, Zeitschrift für das klassische Altertum und sein Nachleben

Literaturverzeichnis

474 RE Pauly-Wissowa =

Paulys Realencyclopädie der classisdien Altertumswissenschaft, neue Bearbeitung begonnen von G. Wissowa

SB

=

Sitzungsberichte

ZfdA

=

Zeitschrift für deutsches Alterthum (später: Zeitschrift für deutsches

ZfdPh

=

Zeitschrift für deutsche Philologie

ZfKG

=

Zeitschrift für Kirchengeschichte

ZfRGG

= Zeitschrift für Religions- und Geistesgesdiichte

Altertum und deutsche Literatur)

A. Quellen Das Quellenverzeidinis enthält nur häufiger angeführte W e r k e und W e r k a u s gaben. Alle sonstigen Nachweise finden sich in den Anmerkungen. Der Übersichtlichkeit wegen sind die Titel, von Novalis ausgehend, in zeitlicher Reihenfolge nach rückwärts angeordnet. Novalis Schriften. Im Verein mit Richard Samuel hg. von Paul Kluckhohn. Bd. I - I V , Leipzig o. J . (1929). (Zit. nach Band und Seitenzahl in römischen und arabischen Ziffern.) Novalis Schriften, hg. von Paul Kluckhohn (t) und Richard Samuel. 2., nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage. Bd. I: Das dichterische Werk. Stuttgart 1960. (Zit. Kl.-S. I 2 .) Novalis, Werke, Briefe, Dokumente, hg. von Ewald Wasmuth. 2. Auflage, Bd. I - I V , Heidelberg 1953-57. Novalis (Friedrich Freiherr von Hardenberg), Der handschriftliche Nadilaß des Dichters. Beschreibendes Verzeichnis von Richard Samuel [für die Versteigerung bei H. Meyer & Ernst und J . A. Stargardt]. Berlin 1930. Friedrich Schlegel und Novalis. Biographie einer Romantikerfreundschaft in ihren Briefen. Auf Grund neuer Briefe Schlegels hg. von Max Preitz. Darmstadt 1957. Friedrich von Sdilegel's sämmtliche Werke. Zweite Original-Ausgabe (in 15 Bänden), Wien 1846. Friedrich Schlegel, Seine Prosaischen Jugendschriften, hg. von J . Minor. Bd. I—II, 1. Auflage, Wien 1882; 2. (unveränderte) Auflage, Wien 1906. Kritische Friedridi-Schlegel-Ausgabe, hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von JeanJacques Anstett und Hans Eichner. Bd. IV, VI, X I , X I V , Paderborn-Mündien-Wien 1958-61. Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm, hg. von Oskar Walzel. Berlin 1890. Friedrich Schleiermacher. Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, hg. von Rudolf Otto. 5. Auflage, Göttingen 1926. Hölderlin, Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe, Bd. III, hg. von Friedrich Beissner. Stuttgart 1957. Johann Gottlieb Fichte, Werke. Auswahl in sechs Bänden, hg. von Fritz Medicus. Leipzig 1908 ff. Oeuvres Philosophiques de M. F. Hemsterhuis, ed. H. J . Jansen. T . I—II, Paris 1792. François Hemsterhuis, Philosophische Schriften, hg. von Julius Hilß. Bd. I—II, KarlsruheLeipzig 1912. Kants Werke. Mit Zugrundelegung der Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften hg. von August Messer. Bd. I—III, Berlin-Leipzig o. J . (1924).

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J U R Y STRIEDTER:

Namenverzeichnis Das Verzeichnis enthält sämtliche Namen der herangezogenen Quellenliteratur (A. = Anmerkung). Verfasser von Werken der wissenschaftlichen Sekundärliteratur werden nur genannt, wenn sie außerhalb der Anmerkungen im Text angeführt werden. Adso von Montiérender 218 f., 220, 228 Aischylos 26 f., 30 A. Aratos v. Soloi 30, 47, 52f., 71, 77 Α., 163Α. Aristophanes 33 Α. Arnim, Α. v. 232 Arnold, G. 234 Augustinus 104, 199-202, 203, 204, 214, 233 Babrios 37 Batteux, Ch. 148, 156, 159 Beda 203 Behrens, G. 231 Bengel, J. A. 234 ff., 245, 246, 382 Benn, G. 337 A. Benz, E. 7,188, 223 Bickel, E. 95 Birken, S. v. 120 f., 122, 132 Α., 137-142, 148 Boccaccio, G. 112 f., 114, 116 Α., 145 Bodmer, J. J. 155,164 Böhme, J. 37 Α., 234, 236 f., 317, 355 Α., 356 Α., 375 Α., 396 Α. Boll, F. 78 Borcherdt, Η. Η. 115 f. Brant, S. 99 Α., 218 Α. Broch, Η. 411 Α. Büchner, Κ. 56 f., 71, 83 f., 88 Bürger, G. Α. 258 f. Burdach, Κ. 48,211,212 Calpurnius Siculus 97 ff., 108, 116 Campanella, T. 1, 100 (Carmina Einsidlensia) 98 f., 108, 116, 163 A. Catull 52, 54,58, 83 A. Cicero 51 Α., 53, 86 Α., 119 Α., 194 Corrodi, Η. 188 Α., 234 Α. Creydt, W. 428 Curtius, E. R. 105,110 f., 121 (Daniel Proph.) 76 Α., 189 f., 200, 211, 213 Daniel, S. 127 Dante Alighieri 95, 96 Α., 102, 112, 220, 229 Α., 330 Defoe, D. 146 Α. Demokrit 30, 31,86 Α. Dikaiarchos 30 ff.

Dilthey, W. 370 Diodor 24 Α., 30 Α., 361/62 Α., 363 Diogenes 42 Donatus, Aelius 119 Doren, Α. 23, 75 Empedokles 21, 27, 37, 272 Emrich, W. 313 Endelediius 107 Erasmus ν. Rotterdam 120 Euhemeros 24 Eusebius 104, 196 A. Fichte, J. G. 177f., 194A., 248f., 250, 266, 282-286, 288, 289 ff., 292, 293, 298 Α., 299, 305, 324, 356 Α., 385, 400 Fischart, J. 231 Fontenelle, B. de 98 Α., 149, 156 Α., 157, 159, 167 Forster, G. 163 Α., 452 Freyer, Η. 193 Friedrich II. 209 f., 213, 221-224, 225, 226, 228, 230ff.,415 Fulgentius 104 Geliert, Ch. F. 147, 153, 157 Α., 158, 160/ 61 Α. Gerstenberg, H. W. v. 259, 463 Geßner, S. 146 f., 148, 151, 156, 157, 159, 161-166, 167, 168, 169, 179, 259, 359 Α., 417,447,451,462 Gleim, J. W. L. 153, 259, 447, 451 Gödcingk, L. F. G. v. 259, 449, 463 Görres, J. 231 f. Goethe, J. W. v. 62, 128 Α., 157, 183 f., 185 Α., 260, 264/65 Α., 333 Götz, J. Ν. 158, 259 Gotter, F. W. 259, 447, 461, 465 Gottsched, J. Ch. 140 Α., 147-153, 155, 156, 159, 164 Gregor v. Nazianz 105 Grimm, J. u. W. 231 f. Grimmelshausen, H. J. Ch. ν. 116 Α., 229 Α. Gronau, Κ. 40 Grundmann, Η. 203

494

NamenverzeiAnis

Guarini, G. Β. 114, 125 f., 128 f., 132, 133135, 136, 140, 144, 149, 151, 166 Α., 183 f. Haering, Th. 287 f. Hagedorn, F. v. 153 f., 159 Hardenberg, Karl v. 257 Α., 415, 427 Hardy, Α. 126 Harsdörffer, G. Ph. 115, 121 f., 132 Α., 133, 134, 137-139, 140, 141, 144 f. Hegel, G. W. F. 290 Α. Hekataios 24 Helmont, J. Β. v. 355 Α., 360/61 Α., 412/ 13 Α. Hemsterhuis, F. 14, 67 Α., 157/58 Α., 239, 245, 255, 256 f., 258, 261, 265, 267-282, 284, 285 f., 288, 290, 292 f., 307, 320, 323, 343, 348, 349f., 355, 357, 377, 382 Α., 388,418 (Henodi-Budi) 76 Α., 191 Α. Herder, J. G. I I A . , 156, 160, 161, 167-170, 174-176, 179, 180, 182, 256, 269 f., 292, 307, 370 Α., 389 Α., 418, 449, 463 (Hermae Pastor) 106 Hermann, M. G. 30 Α., 53 Α., 65 Α., 257 Herodot 30, 64, 363 Hesiod 1, 3, 11, 13-20, 22 f., 24, 25, 26 f., 28, 29 Α., 30, 35, 41, 42, 43, 44, 47, 48, 53, 55, 56, 59, 71, 73, 77, 80 Α., 85, 94, 194, 195, 237, 273, 274 f., 277 f., 310 Α., 388 Hiebel, F. 362, 408 Hieronymus 104 f., 213 Hölderlin, F. 181, 249, 322 Α., 364 Α. Hofmannsthal, Η. v. 3 Α., 337 Α., 411 Α., 419 Homer 18 Α., 20-22, 24, 28, 30 Α., 31, 90, 93, 162, 169, 194, 237, 445 Horaz 25 f., 73 Α., 79 Α., 81 f., 83, 84, 95 f., I l l Α., 445, 450, 457 Hülsen, Α. L. 12, 373 Α. Huizinga, J. 112 Irenaus 193 (Isaias Proph.) 75, 77, 80 Α., 105, 189 f., 238, 239 Α., 240, 392 Α. Isidorus Orientalis, s. Loeben Jacobi, F. H. 256 Jacobi, J. G. 159 Α., 259, 465 Jacobus de Voragine 216 Α. Jambulos 24 Jans Enikel 225 f. Joachim ν. Fiore 7, 202-212, 222 Α., 223, 236, 247, 317 Α., 382 (Johannes-Apk.) 190 Α., 192 f., 198 Α., 204 Α., 205, 208, 233, 239, 362 Α., 392

Johannes v. Winterthur 226 Just, A. C. 245 Α., 340 Juvenal 100 f. Kallimadios 37 Kamla, H. 388 Kampers, F. 221 Kant, I. 11, 175 Α., 176 f., 182, 185, 241 f., 249 f., 256, 274, 284 Α., 288, 291 f., 294, 305, 307, 320, 330, 350 A. Kleist, E. Ch. v. 159 Klinger, F. M. 170 Klingner, F. 52, 60, 62, 69, 82, 84 f., 92, 94 f. Klopstodc, F. G. 264, 432, 443 Kluckhohn, P. 300, 303, 403, 447 Kohlschmidt, W. 325 Kommerell, M. 388, 393 Konstantin I. 104, 196, 199, 215 Korff, H. A. 417 Krates 32 Kratinos 32 Kritias 30 A. Kroll, J. 23 Lactantius 73, 101, 103 f., 190 Α., 194, 196198, 207, 214 Α., 215, 216 Α., 236, 332 Langosch, Κ. 221 Lavater, J. C. 193 Α., 234, 244 f., 362 Α., 382 f. Léonard, Ν. G. 165 Lessing, G. E. 208 Α., 241, 245-248, 249, 256, 305, 377, 382 (Liber de Flore) 211 Livius 50 Loeben, O. H. v. 165 f., 259 Löwith, Κ. 18 Lope de Vega, F. 115, 121 Lucanus 100 Lucretius 30 Α., 43, 56, 86 Α., 163 Α. (Ludus de Antidiristo) 219 ff. Lukian 26 Α., 34 Α., 100 Luther, M. 233, 375 Α. Malherbe, F. de 100 Mann, Th. 337 Α. Mannlich, E. 126 Α., 136 Α. Marot, C. 99 Melissantes 231 Mendelssohn, M. 167 Α. (Methodius-Apk.) 217 f., 228 Α. Montemayor, J. de 115, 128, 130, 132 f., 136, 137, 144 f., 166 Α. Moritz, Κ. Ph. 65 Α., 257, 310 f. Morus, Th. 1 f.

NamenverzeiAnis Mosdherosdi, J. M. 139/40 A. Mosdios 44,158 A. Muadwin (Naso) 99,108 f. Müller, F. (Maler) 169 f., 451 Musil, R. 3 Α., 337 Α., 411 Α. Mylius, Ch. 152, 158

495

Protagoras 28 ff., 270 Prudentius 111 Pseudo-Kallisthenes 78

Racan, H. de 126 f. Ramler, K. W. 148, 152, 159, 160 f., 164, 168, 169, 182, 259, 261, 262 Α., 432, 433, 435, 436, 438, 457 Nemesios ν. Emesa 76 Α. Rapin, R. 119 Α., 143 Neukirdj, Β. 151 (Reformatio Sigismundi) 229 A. Norden, E. 73, 77, 82 Reinhardt, K. 18 Novalis (nur für den ersten Teil) 13/14 Α., 19 Α., 22 Α., 30 Α., 41 Α., 82 Α., 93 Α., Rienzo, C. di 102, 112, 211 f., 213 100 Α., 166, 172 Α., 181, 183, 186, 188, Rohde, E. 23, 25, 34 190 Α., 195 Α., 198 Α., 208 Α., 227 Α., 229, Ronsard, P. de 98 Α., 100, 115, 130-132, 149 230 Α., 231 f., 237 Α., 240, 242/43 Α., 244, Rost, J. Ch. 153, 158, 259, 447, 458 Rothe, J. 229 f., 415 245, 248 f., 250 ff. Rousseau, J. J. 14 Α., 26, 43 Α., 49, 67, 115, 116 Α., 162, 163 Α., 165, 170-174, 175, 176, Öbenauer, Κ. J. 6 177, 178, 179 Α., 185, 239, 257, 258, 274, Oetinger, F. Ch. 101, 188, 194 f., 234, 236275, 276, 277,283 f., 305, 385 244, 245, 246, 247, 251, 275, 348 Α., 349 f., Rutilius Namatianus 101 362 Α., 382, 383 Olivi, P. J. 210 f., 226 f. Opitz, M. 115, 130, 133, 138 f., 140, 141, Sachs, Η. 33 Α. Saint-Pierre, Β. de 67 Α. 143 f., 146 f. Salutati, C. 113 (Oracula Sibyllina) 73-79, 80 Α., 105, 190 Α., Samuel, R. 7, 305, 314 f., 369, 427 f. 191 Α., 195 Sannazaro, J. 113-120, 122 f., 126, 128, 130, Orígenes 198 131, 132, 135 Ovid 21, 52, 54-56, 65 Α., 66 ff., 73 Α., 77 Α., Saxl, F. 128 79Α., 96 f., 101, 114, 117, 125, 132, 140, Scaliger, J. C. 118f., 120, 121, 126, 132A., 156, 169, 194, 237, 258 Α., 276 133, 136, 137, 138, 162, 182 Schiller, F. v. 147, 165, 177, 178-181, 182, Panofsky, Ε. 68 183, 184 f., 256, 258 Α., 274, 315, 317, Paul, Jean 166 362 Α., 389 Α., 404 f. Petersen, J. 5 f., 255, 341 Schlegel, A. W. 181, 260, 267 Α., 277 Α., Petersen, J. W. 234 281, 288 Α., 303, 308 Α., 325 Α., 400 Α., Petrarca, F. 98 Α., 102, 112, 113 Α., 116 Α., 413 Α., 420 120, 468 Sdilegel, F. IIA., 14, 17Α., 31, 41, 60Α., Petriconi, Η. 115, 117 f., 122, 126, 127, 135 f. 147, 172 Α., 181 f., 244, 248, 249 Α., 250 f., Petrus Damiani 111 255 f., 258, 265, 270 Α., 275 Α., 282, 288, Petrus de Vinea 222 f. 290 Α., 295, 296 Α., 303, 307, 324, 325 Α., Pherekrates 33 333 Α., 335, 338 Α., 340 Α., 342, 343 Α., Pindar 23 f., 63 Α. 344 Α., 347 Α., 370 Α., 376, 377 Α., 381, Platon 15, 28, 34-41, 42, 46, 47, 48 f., 76 Α., 385, 390, 398 Α., 400 Α. 117, 200 Α., 255, 270, 272, 282, 360 Schlegel, J. Α. 155-157, 159, 160, 167 Α. Plotin 353 Α. Schleiermacher, F. 208 Α., 376, 381, 383 Plutarch 25 Α., 276, 361 Α., 363 Schmid, W. 110 Pöschl, V. 93 Schwabe, J. J. 148 f. Poliziano, Α. 99 Α., 122, 128 Seeliger, Κ. 23 Polybios 52, 64ff., 67, 68, 91, 113, ÌSOA., Segrais, J. R. de 157 132 Α., 169 Seneca 45 ff., 171 Α. Pomponius 107 Shaftesbury, Α. Earl of 14, 267 Α. Poseidonios 45 ff., 51 (Sibylla Tiburtina) 216 f., 218 Α., 222 Α., Properz 52, 58 227,228 Α.

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NamenverzeiAnis

(Sibyllen Weissagung) 219, 227 ff. Sidney, Ph. 115, 121, 127, 139 Snell, Β. 18, 56, 62, 63 f., 69, 102 Spee, F. v. 142 f. Spener, Ph. J. 234, 348 Sperber, J. 234 Sprengel, K. 356 Α., 360/61 Α. Steffens, Η. 256 Stolberg, F. L. v. 264, 452 Swedenborg, E. 245 A. Tasso, T. 114, 123-125, 126, 127, 128 f., 132, 133, 134, 135, 149, 183, 184, 468 Telekleides 32 f. Tertullian 193, 194, 198 Α., 214 Theodulf v. Orleans 109 f., 111 Theodulus 108, 112, 113A. Theokrit 44 f., 59, 60, 63 f., 68, 77 Α., 83 Α., 138, 147, 149 Α., 150/51 Α., 152, 161, 167 ff., 257,260, 429, 447 ff. Theopompos 24 f. Thomas v. Eccleston 225 Thukydides 30, 119 Tibull 52, 56-58, 73 Α., 114, 117, 122/23 Α., 163 Α. Tieck, L. 232 Α., 308 Α., 366, 376 Α., 414 f., 416 Α. Tzetzes 43 f.

Urfé, Η. d' 115, 132 f., 136 Α., 140 Α., 166 Α. Usener, Η. 23 Uz, J. P. 155 Α., 259 Vairasse, D. 3 A. Varrò 44 Α., 51 Α., 119 Vergil 1, 21, 44 Α., 50 ff., 53 f., 56 Α., 58-95, 96, 97, 98, 99, 100, 101 f., 103ff., 108ff„ 111, 112, 114 ff., 117, 118, 119, 120, 121, 128, 129, 130 Α., 132 f., 141, 143, 144, 151 Α., 152, 153, 154, 157, 161, 163 Α., 167 ff., 182, 184, 186, 194, 195, 196, 197, 198 Α., 213, 215, 237 f., 257 f., 260, 263, 276, 359 Α., 363, 429ff.,447, 449 f. Voß, J. H. 170, 259, 448 Vossler, K. 105 f. Wasmuth, E. 447 Weigel, V. 234 Weisse, Ch. F. 155 Α., 159 Wellek, R. 4 Wieland, Ch. M. 135 Α., 258 Α., 259, 447, 459, 463, 467 f. Wolf, Α. 428 Xenophanes 27 f. Zemitz, Ch. F. 158 f.