Die Griechische Tragödie in ihrer gesellschaftlichen Funktion [Reprint 2021 ed.] 9783112569863, 9783112569856


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German Pages 278 [277] Year 1984

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Die Griechische Tragödie in ihrer gesellschaftlichen Funktion [Reprint 2021 ed.]
 9783112569863, 9783112569856

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DIE GRIECHISCHE TRAGÖDIE IN IHRER GESELLSCHAFTLICHEN FUNKTION

BAND

11

VERÖFFENTLICHUNGEN des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der D D R HERAUSGEGEBEN VON

JOACHIM H E R R M A N N

DIE GRIECHISCHE TRAGÖDIE IN IHRER GESELLSCHAFTLICHEN FUNKTION

HERAUSGEGEBEN VON

H E I N R I C H KUCH

Mit 9 Zeichnungen und 36 Abbildungen auf 20 Kunstdrucktafeln

AKADEMIE-VERLAG • B E R L I N 1983

Redaktion: Dankwart Rahnenführer

Erschienen im Akademie-Verlag, D D R - 1086 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1983 L i z e n z n u m m e r : 202 • 100/119/83 P r i n t e d in t h e G e r m a n Democratic Republic Gesamtherstellung: IV/2/14 V E B Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 4450 Gräfenhainichen • 6015 E i n b a n d u n d S c h u t z u m s c h l a g : K a r l Salzbrunn L S V 8051 B e s t e l l n u m m e r : 753 546 7 (2153/11) DDR 28,- M

Inhalt

Vorwort

7

Gesellschaftliche Voraussetzungen Heinrich K u c h (Berlin)

und

Sujet der

griechischen

Tragödie.

Von 11

Die W e l t a n s c h a u u n g des Dichters u n d die V e r a n t w o r t u n g des Helden in der griechischen Tragödie. Von Viktor J a r c h o (Moskau)

41

I n d i v i d u u m u n d Gesellschaft in der tragischen D i c h t u n g d e r Griechen. Von Heinrich K u c h (Berlin)

61

Die Prometheus-Gestalt (Budapest)

85

in der griechischen Tragödie. Von

Zsigmond

Ritook

Die Krise der traditionellen W e l t a n s c h a u u n g in den trojanischen Tragödien des Euripides. Von J u r i j Sicalin (Moskau)

103

Die Musik der griechischen Tragödie u n d ihre W a n d l u n g e n u n t e r v e r ä n d e r t e n historischen Bedingungen. Von L u k a s Richter (Berlin)

115

Griechische Tragödie u n d Theaterpraxis. Von K u r t Treu (Berlin)

141

Die „Achilleis" des Aischylos. Eine Theaterinszenierung u n d ihre ideologische W i r k u n g auf die athenische Polisgesellschaft im Spiegel v o n Darstellungen der bildenden K u n s t . Von B e r n h a r d Döhle (Berlin)

161

Antike ästhetische Theorien zur gesellschaftlichen F u n k t i o n der griechischen Tragödie. Von L u k a s R i c h t e r (Berlin)

173

K a t h a r s i s u n d Consolatio. E i n Beitrag zum Wesen der K a t h a r s i s . Von I s a j M. N a c h o v (Moskau)

193

Zur Wirkungsgeschichte der griechischen Tragödie in der Antike. Von K u r t Treu (Berlin)

201

Die Rezeption der griechischen Tragödie in der sozialistischen Gesellschaft. Von Christoph Trilse (Berlin) "

217

Register

241

Vorwort

Die griechische Tragödie gehört zu einem Kulturerbe, das in unserem kulturellen Leben, wie sich mit guten Gründen feststellen läßt, ein integrierender Bestandteil ist. Damit wird indessen die Bedeutung, die die Antike und mit ihr die griechische Tragödie für uns jetzt und hier hat, beinahe noch unterspielt; denn „keine andere Literatur- und Kunsttradition", so formulierte Werner Mittenzwei im Hinblick auf das DDRTheater, „hat so nachhaltig auf den gegenwärtigen Kunstfortschritt eingewirkt wie die Antikerezeption". 1 Jene fruchtbare Wirkung ist in hohem Grade eine Wirkung der griechischen Tragödie. Hier wird zugleich eine große Traditionslinie sichtbar. Die tragische Dichtung der Griechen hat eine jahrhundertelange Rezeptionsgeschichte ausgelöst, die im Grunde genommen bereits im 5. J h . v. u. Z. beginnt, als die Tragödie ihre Blütezeit erreichte. Die griechische Tragödie ist ein voraussetzungsreiches Kunstwerk. Sie konnte sich in jenem 5. J h . unter den gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen der Polisdemokratie Athen entfalten, die selbst überaus reiche, aber ebenso widerspruchsvolle Voraussetzungen hatte. Wer einen Zugang zur tragischen Dichtung der Griechen sucht, muß von den materiellen und geistigen Verhältnissen ihrer Umwelt ausgehen. Die Tragödie wurzelt in ihnen. Vornehmlich von ihrer Zeit erhält sie ihre Impulse, und auf ihre Zeit wirkt sie ein, mit den ihr zu Gebote stehenden ästhetischen Aussagemöglichkeiten. Die Tragödie reagiert mit der Empfindsamkeit des Kunstwerkes auf die gesellschaftliche Atmosphäre der Polis. Nicht daß sie die Probleme des Stadtstaates etwa einfach abgebildet hätte; sie setzt sich vielmehr produktiv zu ihnen in Beziehung und hebt die aktuellen Erscheinungen ihrer Welt auf die Ebene künstlerischer Verallgemeinerung. Sie versucht im tragischen Bezirk, die Fragen zu durchdringen, die die Polisgesellschaft bewegten, und es muß hervorgehoben werden, daß sich die tragische Dichtung an die großen, die entscheidenden Probleme ihrer Zeit wagte. Die Welt, den Zustand der Gesellschaft und des Staates will sie durchschaubarer machen sowie grundlegende historische Prozesse und nicht zuletzt in allem den Menschen, seine Potenzen und Grenzen, seine Wesenskräfte. Damit geht von ihr eine ästhetisch vermittelte Bildung in umfassender Weise aus, eine Formung des Menschen, eine Weiterentwicklung seines Bewußtseins, auch wenn sich in den einzelnen historischen E n t wicklungsphasen die Absichten einer solchen Bildung erheblich unterschieden und unterschiedliche Erfolge hatten. Es ist vor allem der schwierige, über viele Niederlagen führende Weg des Menschen 1

W . Mittenzwei, D i e Antikerezeption des D D R - T h e a t e r s . Zu den A n t i k e s t ü c k e n v o n Peter H a c k s u n d Heiner Müller, in: K a m p f der R i c h t u n g e n . S t r ö m u n g e n u n d T e n d e n z e n der internationalen Dramatik, Leipzig 1978, 524—556; Zitat 527, vgl. ebd. 524.

8

Vorwort

vom Objekt zum aktiv werdenden Subjekt, den die Tragödie in Grundsituationen und modellhafter Ausprägung bewußt macht, immer zur Entscheidung und Veränderung bereit. Was sie gestaltet und durchspielt, wird in der Öffentlichkeit des Theaters vorgeführt. Es ist — was nicht genug betont werden kann — eine öffentliche Angelegenheit der Gesellschaft. Ein Theater dieser Qualität ist politisches Theater in weitestem Sinne, d. h. polisbezogenes Theater, und das gilt nicht nur für seinen Inhalt, sondern auch für die äußeren Formen der Organisation. Daß der Tragödie selbst, wie sich zeigen wird, demokratische Elemente immanent sind, erscheint überaus bedeutsam. Wichtig ist ferner ihr Prozeßcharakter, der angesichts ihrer Entwicklung innerhalb der hier betrachteten Jahrhunderte außer Frage steht. Wenn auch an ihre historisch frühen und relativ unreifen Bedingungen gebunden, weisen die im Drama herausgestellten humanistischen Werte und progressiven Ideale, wie etwa die Selbstverwirklichung des Menschen, weit über die gesellschaftlichen Gegebenheiten Athens hinaus und antizipieren künftige menschliche Möglichkeiten. Mit ihren vielfältig künstlerischen Einwirkungen auf die Polis und deren Selbstverständnis erfüllte die griechische Tragödie eine bedeutsame gesellschaftliche Funktion. Die wissenschaftliche Forschung hat sich mit der griechischen Tragödie unter den verschiedensten Aspekten eingehend beschäftigt. 2 Nicht hinreichend berücksichtigt wurde der Gesichtspunkt der Funktion, die die Tragödie in ihrer Gesellschaft hatte. Daraus leitet sich die Berechtigung, ja die Aufgabe ab, diesen Problemkreis zu untersuchen. Der Gedanke der gesellschaftlichen Funktion ist die tragende Idee des vorliegenden Bandes, der im Zentralinstitut für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der DDR erarbeitet wurde, in Kooperation mit Fachkollegen aus der Sowjetunion und der VR Ungarn sowie im Zusammenwirken mit außerhalb der Akademie tätigen DDR-Wissenschaftlern. Es handelt sich hierbei jedoch nicht um einen Sammelband voneinander losgelöster Einzelbeiträge, sondern vielmehr um eine vor allem nach Schwerpunkten unternommene Darstellung, deren Teile aufeinander abgestimmt und zu einer bestimmten Einheit verbunden sind. Das Werk hat interdisziplinären Charakter, denn an der Interpretation sind die Disziplinen Geschichte, Philologie, Philosophie, Archäologie, Literatur-, Kunst-, Musikund Theaterwissenschaft beteiligt. Die Themen der Beiträge betreffen zentrale Fragen, wie die gesellschaftlichen Grundlagen und das Sujet der griechischen Tragödie, geschichtsphilosophische Aspekte und das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Ferner werden weltanschauliche Probleme der tragischen Dichtung analysiert, vor allem in Verbindung mit dem Begriff der Verantwortung und unter Berücksichtigung der Krise, die die traditionelle Weltanschauung erfuhr. Der Musik und der Aufführungspraxis der griechischenTragödie widmen sich weitere Untersuchungen. Berücksichtigung finden gleichfalls antike ästhetische Theorien zur gesellschaftlichen Funktion der Tragödie. Mit Prometheus wird eine Gestalt der tragischen Dichtung herausgestellt, der gerade in letzter Zeit in der Forschung verstärkte Aufmerksamkeit zukam, die aber in weiterem Rahmen als Symbol des Kampfes für Humanismus und gesellschaftlichen Fortschritt gilt. Wie sich die ideologische Wirkung einer Theaterinszenierung in Zeugnissen der 2

Vgl. den letzten Forschungsberieht v o n H . Strohin, in: Anzeiger für die Altertumswissenschaft 30, 1977, 1 2 9 - 1 6 6 ; C. Collard, The S t u d y of Greek Tragedy, an Inaugural Lecture Delivered at the U n i v e r s i t y College of Swansea o n 17 February, 1976; H . K u c h , Zur Interpretation der griechischen Tragödie, in: Philologus 123, 1979, 202—215.

Vorwort

9

bildenden K u n s t spiegeln k a n n , zeigt der Beitrag über die Aischyleische „Achilleis". Den Abschluß bilden Studien zur Wirkungsgeschichte der griechischen Tragödie in der Antike u n d zu ihrer Rezeption in der sozialistischen Gesellschaft. An dieser Übersicht wird deutlich, wie sich die Darstellung vorwiegend auf relevante Aspekte der Tragödie konzentriert. Ist das Ganze des weiten Problemfeldes, das sich mit der tragischen Dichtung der Griechen öffnet, in dieser Weise auch nicht zu u m fassen, so will das vorliegende Werk doch einen Beitrag leisten, der das Verständnis des Ganzen erleichtert. D a ß die Autoren des U n t e r n e h m e n s in Einzelfragen m i t u n t e r abweichende Auffassungen vertreten, erscheint angesichts des I n t e r p r e t a t i o n s spielraums weder unverständlich noch bedenklich. Allgemeine Ü b e r e i n s t i m m u n g besteht indessen in der Grundfrage des Bandes, u n d so wird allenthalben aufgezeigt, welche F u n k t i o n bzw. F u n k t i o n e n die griechische Tragödie in der Gesellschaft hatte. Bei der I n t e r p r e t a t i o n wurde das dialektische Verhältnis von Historizität u n d A k t u a l i t ä t f r u c h t b a r gemacht. Das bedeutet, die griechische Tragödie in ihrer historischen Entwicklung zu begreifen, sie aber von den Positionen der Gegenwart aus zu sehen. Nach allem bedarf es k a u m noch der Feststellung, d a ß sich das vorliegende U n t e r n e h m e n auf den dialektischen u n d historischen Materialismus g r ü n d e t , o h n e dessen Positionen der Untersuchungsgegenstand in seiner historischen Verflechtung wie in seiner Dialektik nicht h ä t t e abgehandelt werden können. D a s U n t e r n e h m e n setzt in seinem Bereich die marxistisch-leninistische Erbeaneignung fort, die in den letzten J a h r e n auch auf dem Gebiet der griechisch- römischen Altertumswissenschaft in der D D R Fortschritte zu verzeichnen h a t t e . 3 Mit der F o r t f ü h r u n g dieser Linie verbindet sich die I n t e n t i o n , die humanistischen W e r t e der griechischen Tragödie u n d ihre realistischen Leistungen zu erschließen, ihre großen, ihre bewunderungswürdigen Leistungen, die wie f ü r vorangehende progressive E p o c h e n auch f ü r unsere Zeit bedeutsam sind. Zugleich ist mit dem W e r k eine Vertiefung des Geschichtsbewußtseins beabsichtigt. Der vorliegende B a n d richtet sich nicht n u r an die Fachwissenschaft. E r will zugleich den aktuellen Bedürfnissen des Theaters entsprechen. Die Aneignung der a n t i k e n D r a m a t i k durch das sozialistische T h e a t e r setzt wissenschaftliche I n f o r m a t i o n u n d theoretische F u n d i e r u n g voraus. W e n n sich in diesem B a n d auch keine szenischen Rezepte finden, so k a n n er doch Anregungen u n d A u s k ü n f t e f ü r die A u f f ü h r u n g s p r a x i s 3

Vgl. Kulturgeschichte der Antike, Autorenkollektiv unter L e i t u n g v o n R . Müller, B d . 1: Griechenland, 3. Aufl. Berlin 1980, B d . 2: R o m , 2. Aufl. Berlin 1982 (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Alte Geschichte u n d Archäologie der A k a d e m i e der Wissenschaften der D D R 6, 1—2); Hellenische Poleis. Krise — W a n d l u n g — W i r k u n g , hrsg. v o n E . Ch. Welskopf, B d . 1—4, Berlin 1974; D i e R o l l e der V o l k s m a s s e n in der Geschichte der vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen. Z u m X I V . Internationalen Historiker-Kongreß in San Francisco 1975 hrsg. v o n J. H e r r m a n n und I. Sellnow, Berlin 1975 (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für A l t e Geschichte u n d Archäologie der Akademie der W i s s e n s c h a f t e n der D D R 7); Der Mensch als Maß der Dinge. S t u d i e n z u m griechischen Menschenbild in der Zeit der B l ü t e und Krise der Polis, hrsg. v o n R . Müller, Berlin 1976 (ebd. B d . 8). Auf d e m Gebiet des D r a m a s vgl. auch D i e gesellschaftliche B e d e u t u n g des antiken D r a m a s für seine und für unsere Zeit. P r o t o k o l l der K a r l - M a r x - S t ä d t e r F a c h t a g u n g v o m 29. bis 31. 10. 1969, hrsg. v o n W . H o f m a n n und H . K u c h , Berlin 1973 (Schriften zur Geschichte und K u l t u r der A n t i k e 6).

10

Vorwort

geben, und kein Zweifel besteht nach manchen überraschenden Erfahrungen, wie nützlich gesicherte historische Grundlagen und ein reflektiertes Tragödienverständnis sind, um die Potenzen des griechischen Dramas für die moderne Bühne produktiv werden zu lassen. In diesem Zusammenhang bleibt zu unterstreichen: Bei der Rezeption der griechischen Tragödie im zeitgenössischen Theater geht es nicht um künstliche Wiederbelebung des Vergangenen oder um sentimentale Heldenbeschwörung, es geht dabei stets um uns selbst, um unser Selbstverständnis und die Erkenntnis unserer Möglichkeiten, die eigene Zeit zu gestalten. Für Anregungen und fruchtbaren Austausch in der Konzeptionsphase des Projekts gebührt Prof. Dr. Wolfgang Heise Dank. Wertvolle Anregungen gingen ebenfalls von Prof. Dr. habil. Walter Hofmann, Prof. Dr. sc. Johannes Irmscher und Prof. Dr. habil. Ilse Becher aus, wofür ihnen sehr gedankt sei. Zu danken ist in besonderem Maße Prof. Dr. sc. Reimar Müller für förderliche Hinweise sowie nicht zuletzt dem Kollektiv Griechisch-römische Kulturgeschichte des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie, in dem das Tragödienprojekt auch eine öffentliche Angelegenheit war. Berlin, im November 1981

Heinrich Kuch

Gesellschaftliche Voraussetzungen und Sujet der griechischen Tragödie V o n H E I N E I C H KTJCH ( B e r l i n )

Die E n t s t e h u n g der griechischen Tragödie liegt über weite Strecken im D u n k e l n , u n d es ist infolge der Quellenlage nicht gelungen, jenes D u n k e l so weit aufzuhellen, d a ß die Ursprünge des tragischen Spiels einleuchtend u n d in allem überzeugend erklärt werden können. Wer nach Urelementen dramatischer F o r m sucht, sieht sich einem weiten Feld primitiver Riten, kultischer Tänze u n d Masken gegenüber, die auf allen K o n t i n e n t e n begegnen u n d bis in die urgesellschaftliche Frühzeit zurückreichen, in der Dämonenglaube u n d S c h a m a n e n t u m eine erhebliche Rolle spielten. Indessen läßt sich n u r mit k ü h n e n H y p o t h e s e n aus jenem sog. prähistorischen Bereich eine direkte Linie zur griechischen Tragödie ziehen. Verläßlicher erscheint, was Aristoteles in seiner „ P o e t i k " (1449 a 9—31) u n d andere antike Quellen ü b e r die Herausbildung der tragischen Dichtung aussagen, auch wenn sich die überlieferten Nachrichten nicht immer lückenlos zusammenfügen. 1 Die Ausführungen des Aristoteles zur E n t s t e h u n g der Tragödie — sagen wir: in der archaischen Zeit, im 7. u n d noch im 6. J h . v. u. Z. — sind durch den Entwicklungsgedanken bestimmt, wie er auch von der historisch besser überschaubaren E p o c h e des 5. J h . gestützt wird. „Viele Veränderungen durchlief die Tragödie" (1449 a 14f.). D a n n hörte sie in ihrer Entwicklung auf, da sie ihre spezifische Gestalt erreicht h a t t e (ebd.). Ob die Tragödie jedoch in ihren F o r m e n hinreichend ausgebildet war, u n d z w a r i m Hinblick auf ihr Wesen wie auch auf ihre b ü h n e n m ä ß i g e Umsetzung — diese F r a g e h a t der antike Theoretiker leider ausgeklammert (1449 a 7—9). Seinen Darlegungen ist indessen zu entnehmen, d a ß sich die Tragödie aus zwei Wurzeln herleitet. Die eine Wurzel besteht im Dithyrambos, d e m Kultlied des Dionysos. D e r Lyriker Archilochos bekennt, das schöne Lied des Dionysos, d e n D i t h y r a m b o s , a n s t i m m e n zu k ö n n e n , wenn ihm der Wein die Sinne überwältigt (Fr. 120 W . ; 1

V o n s o l c h e n G r u n d l a g e n a u s g e h e n d , h a t A . L e s k y , D i e t r a g i s c h e D i c h t u n g der H e l l e n e n , 3. A u f l . G ö t t i n g e n 1972, 17—48, e i n e n k o n s t r u k t i v e n L ö s u n g s v e r s u c h v o r g e l e g t , w o b e i er v o r a l l e m die E r g e b n i s s e v o n U . v o n W i l a i n o w i t z - M o e l l e n d o r f f , W . K r a n z , M. P o h l e n z u n d K . Ziegler h e r a n z i e h e n k o n n t e . L i t e r a t u r a n g a b e n z u U r s p r u n g s p r o b l e m e n i m einzelnen bei A . L e s k y , ebd. s o w i e i n : G n o m o n 44, 1972, 199—202. V o n a n d e r e n E r k l ä r u n g s v e r s u c h e n seien g e n a n n t : G. T h o m s o n , A i s c h y l o s u n d A t h e n . E i n e U n t e r s u c h u n g der g e s e l l s c h a f t l i c h e n U r s p r ü n g e d e s D r a m a s , B e r l i n 1957 ( N a c h d r u c k 1979), 184—206; H . P a t z e r , D i e A n f ä n g e der griechischen T r a g ö d i e , W i e s b a d e n 1 9 6 2 ; W . B u r k e r t , Greek T r a g e d y a n d Sacrificial R i t u a l , i n : Greek, R o m a n a n d B y z a n t i n e S t u d i e s 7, 1966, 87—121; G. F . E l s e , T h e Origin a n d E a r l y F o r m of Greek T r a g e d y , C a m b r i d g e / M a s s . 1 9 6 7 ; F . R . A d r a d o s , F e s t i v a l , C o m e d y a n d T r a g e d y . T h e Greek O r i g i n s of T h e a t r e , L e i d e n 1 9 7 5 ; O. S z e m e r e n y i , T h e Origins of R o m a n D r a m a a n d Greek T r a g e d y , i n : H e r m e s 103, 1975, 300-332.

12

HEINBICH

KUCH

77 D.), 2 wobei der Dichter als Vorsänger aufzufassen und ein Chor nicht nur von Mitzechern, sondern auch Mitsingenden hinzuzudenken ist. Die Relation zwischen Vorsänger und Chor hat allenfalls den Anflug eines dialogischen Charakters. Die andere bei Aristoteles erscheinende Wurzel der Tragödie ist das „ S a t y r h a f t e " (aarvQixóv), vermutlich eine frühe Form chorischer Darbietung mit d r a m a tischem Einschlag, ausgeführt von als Satyrn Verkleideten, ein Spiel mit Tanz und Gesang, das jedoch vom entwickelten Satyrspiel des Pratinäs von Phleius (um 515) zu trennen ist. 3 Daß die ursprünglich selbständigen Satyrn — das sind F r u c h t b a r keitsdämonen — zu Begleitern des Dionysos wurden, des Gottes der Fruchtbarkeit und des Weins, später des Theatergottes, erscheint für das Verständnis des Satyrikon wichtig. Die beiden Elemente, die in der Aristotelischen „Poetik" als Ursprungsform der Tragödie begegnen, nämlich der Dithyrambos und das Satyrikon, finden sich offenbar im sog. Satyrdithyrambos des Arion vereinigt, wie eine Gruppe einander ergänzender Zeugnisse nahegelegt. 4 Unter jener Neuschöpfung aus Korinth ist ein Dithyrambos zu verstehen, den Darsteller von Satyrn zu E h r e n des Dionysos im R u n d t a n z singend vortrugen. Nach Solon bei Johannes Diakonos 5 habe Arion — vermutlich damit — das „erste D r a m a der Tragödie" kreiert, was einige Verlegenheit schafft; denn die Tragödie „in Bewegung gesetzt" zu haben, und zwar in Athen, wird Thespis u n d seinen Anhängern zugeschrieben (Plutarch, Solon 29, 6). In der Tragödie des Thespis findet sich jedenfalls dem Chor ein Schauspieler gegenübergestellt. Das geschah offenbar schon einige Zeit vor jener ersten überlieferten staatlichen Tragödienaufführung in Athen, die in die J a h r e 536/35—534/33 fällt, so daß die Dionysien 535—533 hierfür in Frage kommen. 6 Mit dieser Form ist die Tragödie geboren, von der die weitere Entwicklung ausging, um im 5. J h . in den Leistungen des Aischylos, des Sophokles und des Eurípides ihren höchsten Ausdruck zu finden. Das Thema des vorliegenden Beitrages zielt nicht darauf ab, die problemgeladenen Vorstadien der Tragödie darzulegen und auf diesem vieldiskutierten Feld neue Debatten zu beginnen. Indessen können sich die Ausführungen nicht von der F r ü h geschichte lösen, bevor nicht die einschlägigen Erklärungsversuche zum Namen der Tragödie (rgaywdia) genannt werden. 7 Das W o r t wurde als „Gesang beim 2

3 4

5 0

7

Jambi et elegi G r a e c i . . . , ed. M. L. W e s t , B d . 1, Oxford 1971; Anthologia lyrica Graeca, ed. E . Diehl, Fase. 3, 3. Aufl. Leipzig 1952. Vgl. A. Lesky, D i e tragische D i c h t u n g der Hellenen (vgl. A n m , 1), 2 6 f . H e r o d o t 1, 23; Suda unter d e m Stichwort „Arion"; J o h a n n e s D i a k o n o s , K o m m e n t a r zu Hermogenes, bei H . R a b e , i n : R h e i n i s c h e s Museum N . F . 63, 1908, 150; Proklos, Chrestomathie 12. Vgl. A. L e s k y , D i e tragische D i c h t u n g der Hellenen (vgl. A n m . 1), 38—40 sowie die dort (39f.) aufgeführten archäologischen Zeugnisse. S. A n m . 4. Marmor P a r i u m A 43 (F. J a c o b y , D i e F r a g m e n t e der griechischen Historiker 2 B , Berlin 1929, Nr. 239; vgl. 2 D , Berlin Í930, S. 691 f.); Suda, unter d e m Stichwort „Thespis". Vgl. Tragicorum Graecorum f r a g m e n t a 1, ed. B . Snell, G ö t t i n g e n 1971, D I D D 1; 1 T 1 u n d 2 m i t Interpretation; A. Lesky, D i e tragische D i c h t u n g der Hellenen (vgl. A n m . 1), 4 9 f . Für die D i o n y s i e n 533 entscheidet sieh H . J. Mette, U r k u n d e n dramatischer A u f f ü h r u n g e n in Griechenland, Berlin (West) — N e w York 1977 (Texte und K o m m e n t a r e 8), I eol. 1, 1—4, S. 2. Mette zieht jedoch ebd. S. 5 für die Aufführung des Thespis noch die D i o n y s i e n 534 in Betracht. Vgl. K . Ziegler, Tragoedia, in: P a u l y s R e a l - E n c y c l o p ä d i e der classischen Altertums-

Gesellschaftliche Voraussetzungen und Sujet

13

Bocksopfer" bzw. „Gesang um den Bockspreis" oder als „Gesang der Böcke" gedeutet. Die zweite Interpretation verstand die ausgelassenen und geilen Satyrn eben als „Böcke". Die weithin angenommene Hypothese muß sich allerdings damit abfinden, daß die Satyrn auf den bildlichen Darstellungen des 6. und 5. J h . neben ihrem hauptsächlichen Requisit, dem Phallos, als tierisches Attribut einen Pferdeschwanz tragen. Zur Stützung des „Bocksgesangs" läßt sich immerhin das sog. Zottelkleid des Silen, des „Väterchens" der Satyrn, sowie der Fellschurz der Satyrn auf der Neapler Satyrspielvase 8 heranziehen, der für ein Rudiment der Bocksnatur ausgegeben wurde. 9 Die Schwierigkeiten, die sich aus der nicht leicht hinwegzuinterpretierenden Diskrepanz zwischen Bocks- und Pferdecharakteristika ergeben, wären beseitigt, wenn man sich entschließen würde, TQaymôôç, von dem sich sekundär Tqaycoöia bildete, aus dem Hethitischen herzuleiten, wie es unlängst vorgeschlagen wurde. 10 Danach hätte sich aus dem Partizip tarkuwant- des hethitischen Verbs tarkuwai-, „tanzen" griechisches *TQaycoôôç entwickelt, womit anatolisch-ionische Tänzer in Attika bezeichnet worden wären, die möglicherweise in Satyrgestalt auftraten. Die Übernahme der Bezeichnung wird in das 8.-7. J h . gesetzt, als sich Griechenland allgemein orientalischen Einflüssen öffnete. Erst durch den Kontakt mit den xmfJtwdoi, den Mitgliedern des singenden Komos, des Schwarmzuges — d. h. der Urzelle der Komödie —, wären die *rpayo)ôot zu rgayojôoi geworden, indem sie Tanz mit Gesang verbanden. Später, offenbar nicht vor dem 5. Jh., hätte TQaywôôç zu der Auffassung geführt, etwas mit Böcken zu tun zu haben. Die vorgetragene These wird gestützt durch Aristophanes, Wespen 1478f., wo Thespis als „Tänzer" erscheint, während Athenaios 1, 22 a die Auffassung wiedergibt, „die alten Dichter, Thespis, Pratinas, Phrynichos" seien „Tänzer genannt" worden. Die Verbindung zum Dithyrambos findet sich durch die rvgßaaia hergestellt, einen Tanz, der besonders mit dem Dithyrambos in Zusammenhang gebracht wurde (vgl. Pollux 4, 105)."

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Wissenschaft 6 A 2, Stuttgart 1937, 1 8 9 9 - 2 0 7 5 , bes. 1 9 1 7 - 1 9 2 8 ; W. Burkert, Greek Tragedy and Sacrificial Ritual (vgl. Anm. 1), 88 A n m . 2. Vgl. die Abbildung bei E . Simon, Das antike Theater, Heidelberg 1972 (Heidelberger Texte. Didaktische Reihe, H e f t 5), Taf. 7; Erläuterung ebd. 27—31; P . Ghiron-Bistagne, Recherches sur les acteurs dans la Grèce antique, Paris 1976, 84—86. Vgl. A. Lesky, D i e tragische Dichtung der Hellenen (vgl. A n m . 1), 37. O. Szemerényi, The Origins of R o m a n Drama and Greek Tragedy (vgl. A n m . 1), 300— 332, bes. 3 2 4 - 3 3 0 . A. Pickard-Cambridge, Dithyramb, Tragedy and Comedy, 2. Aufl. v o n T. B . L. Webster, Oxford 1966, 33. O. Szemerényi, The Origins of R o m a n Drama and Greek Tragedy (vgl. Anm. 1), 328 gibt als hethitische Ausgangsbasis für rvQßaaia das Partizip tarw-anU v o n tarwai-, „tanzen" oder abstraktes tarw-at-, „Tanz" an. A m „Bocksgesang" der Tragödie hält H. H o m m e l fest, Bocksbeutel und Aryballos. Philologischer Beitrag zur Urgeschichte einer Gefäßform, Heidelberg 1978 (Sitzungsberichte der Heidelberger A k a d e m i e der Wissenschaften, Philosoph.-hist. Klasse, Jg. 1978, 2), lOf.; desgleichen G. A. Seeck, Geschichte der griechischen Tragödie, in : D a s griechische Drama, hrsg. v o n G. A. Seeck, Darmstadt 1979, 155—203, bes. 159, der O. Szemerényis Aufsatz i m Literaturverzeichnis zwar nennt (202), ohne auf dessen These einzugehen. Aufgeschlossen g e g e n über jener These K . H. Kinzl, Zur Vor- und Frühgeschichte der attischen Tragödie. Einige historische Überlegungen, in: Klio 62, 1980, 1 7 7 - 1 9 0 , bes. 180.

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HEINBICH

KUCH

So ist die Diskussion über das Wort rgayrndia bis jetzt im Fluß. Daß die Tragödie aus dem Dionysoskult hervorging, wird indessen nicht zu bezweifeln sein, obwohl sich auch zu dieser Frage kritische Stimmen erhoben. 1 2 Zunächst ist an die bereits zur Sprache gebrachten dionysischen Elemente zu erinnern, aus denen nach Aristoteles die Tragödie erwuchs: das Kultlied des Dionysos, der Dithyrambos, sowie das „Satyrhafte". Zu beachten bleiben ferner die Spielbedingungen. Die Aufführung von Tragödien :yvar in Athen prinzipiell an Dionysosfeste gebunden. 1 3 Hier ragen an Bedeutung die Städtischen oder Großen Dionysien im Elaphebolion (März/April) hervor, an denen im 5. J h . und wahrscheinlich, von einigen Ausnahmejahren abgesehen, den früheren Teil des 4. J h . hindurch drei Tage der Tragödie vorbehalten blieben. 14 Thespis hat 536/35—534/33 an den Großen Dionysien eine Tragödie aufgeführt. E s war die erste überlieferte staatlich organisierte Aufführung (Marmor Parium A 43). 15 Aber auch dieLenäen im Gamelion (Januar/Februar), eigentlich das Fest der Komödie, sahen Tragödienaufführungen vor. Die staatliche Organisation ist hier einige Zeit, etwa zehn J a h r e , vor 421/20 anzunehmen. 1 6 Hinzu kommen die auf Kommunalebene gefeierten Feste, die Ländlichen Dionysien im Poseideon (Dezember/Januar), deren Leitung den jeweiligen Demen zufiel. 17 Zum Fest der Großen Dionysien wurde die K u l t s t a t u e des Dionysos von Eleutherai, an der Grenze zwischen Attika und Böotien gelegen, nach Athen gebracht und in seinem heiligen Bezirk am Südhang der Akropolis aufgestellt, so d a ß die Spiele in seiner Gegenwart vor sich gingen. 18 Der an der Orchestra befindliche kleine alte Dionysostempel wird in die Mitte des 6. J h . datiert. 1 9 I n der ersten Reihe des Dionysostheaters h a t t e der Dionysospriester seinen Ehrensitz. 2 0 Der Repräsentant des Dionysoskultes mußte es sich gefallen lassen, in den „Fröschen" des Aristophanes (405) mit in das Spiel hineingezogen zu werden. An ihn, den exklusiv vorn Sitzenden, wandte sich, in der Komödie vermeintlich in Gefahr geraten, die Gestalt des Dionysos mit den W o r t e n : „Mein Priester, hilf mir! Nachher trinken wir auch einen" (297). 12

Vgl. die Literatur bei A. L e s k y , D i e tragische D i c h t u n g der Hellenen (vgl. A n m . 1), 40. Vgl. A. Pickard-Cambridge, T h e Dramatic F e s t i v a l s of A t h e n s , 2. Aufl. v o n J. Gould und D . M. Lewis, Oxford 1968; H . - D . Blume, E i n f ü h r u n g in das antike Theaterwesen, D a r m s t a d t 1978, 14—29. Zu den Zuschauern vgl. H . K i n d e r m a n n , D a s T h e a t e r p u b l i k u m der Antike, Salzburg 1979, 1 1 - 1 1 9 . 14 A . Pickard-Cambridge, The D r a m a t i c F e s t i v a l s of A t h e n s (vgl. A n m . 13), 66 und 79. Zu Aufführungsfragen vgl. ferner T. B . L. Webster, Greek Theatre Production, L o n d o n 1956; H . C. Baldry, T h e Greek Tragic Theatre, L o n d o n 1971. I n diesem B a n d vgl. den Beitrag v o n K . Treu, Griechische Tragödie und Theaterpraxis, S. 141 — 159. 15 Vgl. oben A n m . 6. io Vgl. H . J . Mette, U r k u n d e n dramatischer Aufführungen in Griechenland (vgl. A n m . 6), I I I D 1 u n d S. X V („etwa 430"). 17 Über dramatische A u f f ü h r u n g e n an den Ländlichen D i o n y s i e n vgl. A. Pickard-Cambridge, T h e D r a m a t i c F e s t i v a l s of A t h e n s (vgl. A n m . 13), 42—54. 18 Vgl. A . Pickard-Cambridge, The D r a m a t i c F e s t i v a l s of A t h e n s (vgl. A n m . 13), 57 u n d 60; E . Simon, D a s antike Theater (vgl. A n m . 8), 8f. 19 M. Bieber, The H i s t o r y of t h e Greek and R o m a n Theater, 2. Aufl. Princeton N . J. 1966, 54. 20 N a c h M. Maass, D i e Prohedrie des Dionysostheaters in A t h e n , M ü n c h e n 1972 (Vestigia 15), 60—76, s t a m m t der u n s erhaltene reich verzierte Sessel des Dionysospriesters aus d e m 4. Jh. v. u. Z.

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Gesellschaftliche Voraussetzungen und Sujet

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Es besteht kein Zweifel, daß der Dionysospriester auch bei Tragödienaufführungen seinen Vorzugsplatz einnahm, in diesem Rahmen indessen sicher vor direkter Einbeziehung. Nach allem sprechen jedenfalls gewichtige Gründe für die Verbindung der Tragödie mit dem Dionysoskult, und die Vorstellungen, die auf der Agora stattfanden, bevor die Spiele an den Südhang der Akropolis verlegt wurden, sind gleichfalls „dionysische Agone", wie Photios in seinem Lexikon (unter dem Stichwort „Ikria") mitteilt. Daß die Maske in tiefere Schichten, sozusagen in vordionysische, zurückreicht, zeigt ihr prähistorisches Vorkommen. Nichtdionysischen Ursprungs ist offenbar der Ärmelchiton 21 der Schauspieler, was auch für den Kothurn, den weichen Theaterschuh mit flacher Sohle, gilt, wie unlängst verständlich gemacht wurde. 22 Noch ein letztes dionysisches Element bleibt zu nennen, das für das Drama von erstrangiger, grundsätzlicher Bedeutung ist: die Ekstase des Dionysoskultes. Sie beruht auf dem Prinzip der Verwandlung. Jenes Prinzip, in der Frühzeit irrational ekstatisch verwirklicht, wurde im Lauf der Entwicklung in die Bahn rationaler Gestaltung gelenkt. Welche gesellschaftlichen Kräfte bei der Herausbildung der Tragödie wirksam wurden, läßt sich seit der archaischen Zeit genauer bestimmen. Dionysos, den Gott der Fruchtbarkeit und des Weins, verehrten naturgemäß die bäuerlichen Schichten des Demos in besonderem Maße. Hier sahen die Tyrannen des 6. Jh., die sich im Kampf gegen ihre aristokratischen Widersacher auf den Demos stützten, eine kulturpolitische Chance, deren Nutzung sich überaus bedeutsam auswirken sollte. Um den Demos zu begünstigen, förderten sie nachdrücklich den populären Dionysoskult. Damit wuchs die Tragödie, von deren Beziehungen zum Kult des Dionysos im Vorangegangenen die Rede war. Arion konnte seinen Satyrdithyrambos, das „erste Drama der Tragödie", wie es heißt (vgl. oben S. 12), um 600 in Korinth unter der Tyrannis des Periander entwickeln. I n Sikyon sorgte der Machthaber Kleisthenes (ca. 600—570) dafür, daß die „tragischen Chöre", die vordem die Geschicke des Heros Adrastos besungen hatten, dem Dionysos gegeben wurden (Herodot 5, 67), und der athenische Tyrann Peisistratos ließ es sich angelegen sein, die Großen Dionysien so auszugestalten, daß an diesem Fest die Tragödienaufführung zur Sache des Staates wurde. 23 Die bereits erwähnte Aufführung des Thespis von 536/35—534/33 ist die erste belegbare Inszenierung unter staatlicher Leitung. Unter Einwirkung der kulturpolitischen Maßnahmen, die die Tyrannen des 6. J h . zur Förderung des Dionysoskults im Interesse des Demos und nicht zuletzt in ihrem eigenen durchsetzten, erreichte die Tragödie ihre Grundform, bestehend aus dem Chor und einem Schauspieler. Offenbar schon auf der Ebene der Vorstufen vollzog sich im Inhaltlichen des Dargebotenen ein entscheidender Wandel, der das klassische Sujet der späteren Tragödie begründete. An die Stelle der ursprünglich dionysischen Themen t r a t zunehmend der Heroenmythos. Damit war die Möglichkeit gegeben, Inhalte und Gehalte von großer Vielfalt und gesellschaftlicher Bedeutsamkeit mit einzubeziehen, die über den relativ begrenzten Rahmen des Dionysischen weit hinausgingen. Indem 21

22 23

Vgl. J. Dingel, D a s Requisit in der griechischen Tragödie, Diss. T ü b i n g e n 1967, 2 5 f . H . - D . Blume, Einführung in das antike Theaterwesen (vgl. A n m . 13), 97, läßt d e n Armelchiton noch aus dionysischem Bereich s t a m m e n . Vgl. E . Simon, D a s antike Theater (vgl. A n m . 8), 2 3 f . ; vgl. auch 21 f. Vgl. auch L. Deubner, A t t i s c h e Feste, 2. Aufl. v o n B . Doer, Berlin 1966, 1 3 8 - 1 4 2 .

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sich der Mythos der Heroenwelt mit der Sphäre des Dionysoskults zu verbinden begann, entstand eine bemerkenswerte Synthese: die Synthese einer vor allem zum Demos gehörenden Kulturerseheinung und eines Grundelements ältester Adelskultur. Bereits für Arions Satyrdithyrambos läßt sich eine Verschiedenheit der Mythen annehmen, wenn sich die Angabe ovvo/iaaavra bei Herodot 1, 23 (vgl. die Suda unter dem Stichwort „Arion") auf die Benennung von Einzeltiteln richtet, und die „tragischen Chöre", die von Kleisthenes in Sikyon dem Heros Adrastos genommen und dem Dionysos gegeben wurden,, haben vermutlich ihre traditionellen Heldenlieder beibehalten. Beide Nachrichten lassen Phasen eines Übergangsprozesses erkennen. Sie machen sichtbar, wie der Heroenmythos in dionysische Spiele eindrang. Den inhaltlichen Wandel scheint auch das vielbezeugte Sprichwort zu bezeichnen „Das hat mit Dionysos nichts zu tun". 2 4 Auf diese Weise gelang es bereits dem entstehenden tragischen Spiel, sich in seinem künstlerischen Inhalt vom Dionysoskult zu emanzipieren. Wer sich darauf beschränkt, die Entstehung der Tragödie aus dem Dionysischen, dem Bereich des Maskengottes, zu erklären, verabsolutiert den kultischen Ursprungsbereich. Bereits die kulturpolitischen Eingriffe der Tyrannen und der dadurch begünstigte Demos lassen die Weite des gesellschaftlichen Rahmens erkennen, in dem sich das tragische Spiel herausbildete. Als Basis der Entstehung und dann der weiteren Entwicklung bleiben die gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse des 6. und 5. J h . zu beachten. Statt jene grundlegenden Bedingungen stillschweigend vorauszusetzen, wie es in der Tragödienforschung nicht selten geschieht, will die Interpretation wenigstens in kurzen Zügen einige bedeutsame Fakten aus der Welt der Polis vorführen, in der sich die Tragödie entfalten konnte. Zwischen den grundlegenden Bedingungen gerade Athens und der tragischen Dichtung bestanden mehr oder weniger funktionelle Beziehungen, und es ist keine Frage, daß sich die komplizierte Entwicklung der Tragödie in einem Prozeß vollzog, der sich in dialektischer Einheit mit dem komplizierten historischen Prozeß in Attika befand. So spärlich sich die Überlieferung über die Ursprünge der Tragödie erweist — es sind doch Orte greifbar geworden, die im Herausbildungsprozeß des tragischen Spiels eine wichtige Rolle spielten. Hier begegnen Korinth und Sikyon, beide im Nordosten der Peloponnes gelegen, und vor allem Athen. Die Quellen (vgl. oben S. 12) differieren in der Frage, wer die erste Tragödie geschaffen habe, Arion in Korinth oder Thespis aus Ikaria in Attika. In einer anderen Überlieferung wird Epigenes von Sikyon als erster Tragödiendichter herausgestellt; Thespis sei nach Epigenes erst der 16. oder der zweite Tragiker gewesen (Suda, unter dem Stichwort „Thespis"). So stehen sich attische und dorische Ansprüche auf die Tragödie gegenüber. 25 Die Peloponnesier waren, wie sich zeigte, an den Frühstufen tragischen Spiels zweifellos wesentlich beteiligt, aber die Vollendung der Tragödie gelang in Attika. 2 6 Was auf der Peloponnes geleistet wurde, waren chorische Darbietungen, 27 bei denen das dialo24

Vgl. A. L e s k y , D i e tragische D i c h t u n g der H e l l e n e n (vgl. A n m . 1), 42—44. Belege für das g e n a n n t e Sprichwort bei K . Ziegler, Tragoedia (vgl. A n m . 7), 1933f. 25 Vgl. Aristoteles, P o e t i k 1448 a 2 9 - 1 4 4 8 b 2. 26 Vgl. Themistios, R e d e n 27, 337 b i n der Ausgabe v o n G. D o w n e y u n d A. F. N o r m a n , B d . 2, Leipzig 1971. 27 Vgl. A . L e s k y , D i e tragische D i c h t u n g der Hellenen (vgl. A n m . 1), 46.

Gesellschaftliche Voraussetzungen und Sujet

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gische Element über Ansätze nicht hinauskam. Erst in Attika, in der Tragödie des Thespis, steht das Dialektisch-Dialogische eigenständig neben dem Tänzerisch-Chorischen. Und in Athen, der attischen Metropole, vollzog sich auch die weitere Entwicklung der Tragödie, die in den Glanzleistungen der drei großen attischen Tragiker gipfeln sollte. Wer die attische Tragödie verstehen will, kann nicht umhin, sich ihre geschichtliche Umwelt bewußt zu machen. In den Blick geraten damit die materiellen wie die geistigen Bedingungen, die sich in der historischen Entwicklung Attikas seit dem 6. J h . herausbildeten. Jene weiträumigen, komplexen Voraussetzungen der Produktion und Reproduktion zu erschließen, wäre Aufgabe einer umfassenden Kulturgeschichte. Im Rahmen der vorliegenden Ausführungen können, wie gesagt, nur einige Gesichtspunkte vorgetragen werden, um die gesellschaftliche Wirklichkeit der attischen Tragödie zu skizzieren. Da sind zuerst die antike Produktionsweise und die ihr entsprechenden Eigentumsverhältnisse zu nennen. Die Sklaverei, in der Mitte des 6. J h . noch in wenig entwickeltem Stadium, stieg im Laufe des 5. J h . in einem Maße an, daß sie zum bestimmenden Faktor der Produktionsverhältnisse wurde. 28 Bis in das 5. J h . hinein hat die Sklaverei in der tragischen Dichtung unmittelbar keine tieferen Spuren hinterlassen. Offenbar galt sie als eine alltägliche, selbstverständliche Erscheinung. Erst das Drama des Euripides mit seiner Kritik am Bestehenden öffnete sich der Sklavenproblematik in hohem Grade. Sosehr die Sklaverei die Produktionsverhältnisse in Attika prägte, beruhte die materielle Produktion und Distribution indessen zu wesentlichen Teilen auf der Arbeit von freien Eigentümern: den unteren und mittleren Schichten der Bauern, Handwerker und Kaufleute. Die Entstehungszeit der Tragödie ist von heftigen Auseinandersetzungen der gesellschaftlichen Kräfte Attikas gekennzeichnet. Von Solon, 594/93 als „Versöhner" •mit außerordentlichen Vollmachten gewählt, 29 um die sozialen Gegensätze auszugleichen, bis zu den Kleisthenischen Reformen (ca. 508/07) standen sich im gesellschaftlichen Spannungsfeld verschiedene Gruppierungen gegenüber. Für die Härte der Unterdrückung, der sich die attischen Bauern durch die großen Grundbesitzer gegen Ende des 7. J h . ausgesetzt sahen, zeugt die weite Verbreitung der Schuldsklaverei. Solon bereitete ihr ein Ende und verfügte einen Schuldenerlaß. Nach eigenem Zeugnis befreite er das „versklavte" Land und befreite die „Versklavten" (Fr. 30, 7 und 13—15 Schon B . Büchsenschütz, Besitz und Erwerb im griechischen Alterthume, Halle 1869, 117—122, hat Zeugnisse über die Massen von „Barbaren"sklaven im Griechenland der Pentekontaetie gesammelt. Vgl. W . L. Westermann, The Slave Systems of Greek and Roman Antiquity, Philadelphia 1955, 6f.; M. I. Finley, W a s Greek Civilization Based on Slave Labour?, in: Slavery in Classical Antiquity. Views and Controversies, ed. by M. I. Finley, Cambridge — New York 1968 (Nachdruck der Ausgabe von 1960 mit Supplement zur Bibliographie), 5 3 - 7 2 ( =Historia 8, 1959, 1 4 5 - 1 6 4 ) , bes. 60; I . A . Sisova, Poraboscenie voennoplennych v Grecii V—IV vv. do n. e., in: D. P . Kallistov, A. A. Nejchardt, I. S. Sifman, I. A. Sisova, Rabstvo na periferii anticnogo mira, Leningrad 1968, 4 9 - 9 2 , bes. 62. Vgl. E . Ch. Welskopf, Probleme der Sklaverei als Privateigentumsverhältnis in der Antike, Berlin 1977 (Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der D D R , Gesellschaftswissenschaften, J g . 1977, 6/G). 29 Vgl. H. Bengtson, Griechische Geschichte von den Anfängen bis in die römische Kaiserzeit, 5. Aufl. München 1977, 122; R . Sealey, Zum D a t u m der Solonischen Gesetzgebung, in: Historia 28, 1979, 238—241, datiert Solons Gesetzwerk in das Jahrzehnt 580-570. 28

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Griech. Tragödie

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G.-P. ; 36 W.; 24 D.). 30 I m Zuge seiner „Lastenabschüttlung"31 hat Solon offenbar eine Art Bauernbefreiung 32 durchgeführt. Über dieses historisch relevante F a k t u m sollte man bei der Betrachtung der Frühgeschichte des tragischen Spiels nicht hinweggehen, wenn gerade die Bauern den Dionysoskult pflegten. Solons Eingriffe werden in ihnen ein neues Lebensgefühl geweckt haben, obwohl die Forderungen nach Aufteilung des Landes nicht erfüllt wurden. I n den sozialen Auseinandersetzungen des 6. J h . erscheinen weitere Gegensätze bemerkenswert. Den aristokratischen großen Grundbesitzern, der traditionellen regierenden Elite, traten mit dem Aufschwung der Warenproduktion und vordringender Geldwirtschaft Kräfte aus Handel und Gewerbe entgegen, die zunehmend nach politischem Einfluß drängten, je mehr ihre ökonomische Macht wuchs. Welchen Einfluß sich Nichtaristokraten verschaffen konnten, zeigt das bei Aristoteles (Staat der Athener 13, 2) bezeugte Gremium, das aus zehn Mitgliedern bestand und statt des Archon eponymos an die Spitze des Staates trat, nachdem der zwei Jahre und zwei Monate im Amt bleibende Archon Damasias (582—580) gestürzt worden war. Zu diesem leitenden Gremium gehörten fünf Eupatriden, also Adlige, drei nichtadlige Grundbesitzer (Agroikoi) und zwei Gewerbetreibende (Demiurgoi). Während konservative Adlige noch in den Kategorien der alten Adelspoliteia dachten, errichtete Peisistratos, gleichfalls aus adliger Familie, die Tyrannis. Durch weitgehende Förderung wußte er den Demos für sich einzunehmen. Daß sich die Maßnahmen des Tyrannen auch unmittelbar auf die Tragödie auswirkten, wurde bereits erwähnt (vgl. S. 15). Auf dem Kampfplatz der entgegenstehenden Richtungen bleibt schließlich der Gegensatz zwischen den konservativen Aristokraten und den als progressiv zu bezeichnenden Adligen zu nennen, die sich mit dem Demos verbanden. Auf gleiche Weise hatte bereits Peisistratos seine Herrschaft gesichert. Herodot berichtet (5, 66, 2), daß der Alkmeonide Kleisthenes den Demos für sich gewann. 33 Auch wenn das betreffende Verb 30

31 32

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P o e t a r u m elegiacorum testimonia et fragmenta, edd. B . Gentiii et C. Prato, B d . 1, Leipzig 1979; I a m b i et elegi Graeci . . . , e d . M . L. W e s t , B d . 2, Oxford 1972; Anthologia lyrica Graeca, ed. E . Diehl, Fase. 1, 3. Aufl. Leipzig 1949. Aristoteles, S t a a t der A t h e n e r 6, 1; Diodor 1, 79, 4; Plutarch, Solon 15, 2. Vgl. H . Bengtson, Griechische Geschichte v o n den A n f ä n g e n bis in die römische Kaiserzeit (vgl. A n m . 29), 123. Vgl. H e r o d o t 5, 69, 2 ; Aristoteles, Staat der Athener 20, 1. K . H . Kinzl, A t h e n s : B e t w e e n T y r a n n y and D e m o c r a c y , in : Greeee and t h e E a s t e r n Mediterranean in A n c i e n t H i s t o r y and Prehistory. Studies Presented t o F. Schachermeyr on t h e Occasion of H i s E i g h t i e t h B i r t h d a y , ed. b y K . H . Kinzl, Berlin (West) - N e w York 1977, 1 9 9 - 2 2 3 , will über den W o r t l a u t v o n H e r o d o t 5, 66, 2 hinaus d e m dort aufgeführten D e m o s aristokratische Führer zuweisen, denn „the required massive following" des Kleisthenes „could o n l y be delivered", so wird argumentiert, „by their noble leaders" (201 A n m . 11). Vgl. dagegen M. Ostwald, N o m o s and t h e Beginnings of t h e A t h e n i a n D e m o c r a c y , Oxford 1969, 143: K l e i s t h e n e s „made t h e people t h a t which his aristocratie éralgoi had been before, n a m e l y , t h e main: source of his political support". Vgl. auch P. Lévêque, F o r m e s des contradictions et voies de d é v e l o p p e m e n t à A t h è n e s de Solon ¡i Clisthène, in: Historia 27, 1978, 522—549, bes. 535—538. D i e v o n K . H . Kinzl zur K o m p l e t t i e r u n g seiner Interpretation herangezogenen Herodotstellen 3, 70, 2 und 3, 70, 3 beziehen sich übrigens auf gesellschaftlich andersartige Verhältnisse, auf persische, die für das griechische D e m o k r a tieverständnis nur bedingt in Frage k o m m e n . Vgl. ferner K . H . Kinzl, Arjfioxoazia. Studie zur Frühgeschichte des Begriffes, in: G y m n a s i u m 85, 1978, 1 1 7 - 1 2 7 und 3 1 2 - 3 2 6 .

Gesellschaftliche Voraussetzungen und Sujet

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QooeTaiQi&a&ai in einer adligen Vorstellungswelt wurzelt, in der Sphäre der Hetairien oder politischen Clubs — entscheidend bleibt die Verbindung des Aristokraten Kleisthenes mit dem Demos. Dieses Zusammengehen gab offenbar den Ausschlag im Kampf des Alkmeoniden gegen seinen konservativen Widersacher Isagoras. I m Ergebnis jener Klassenkämpfe konnte mit den Kleisthenischen Reformen (ca. 508/07) der Grund zur athenischen Polisdemokratie gelegt werden. 34 Es wäre eine gewagte Idee, sich den Demokratisierungsprozeß im Athen des 6. und dann des 5. J h . als eine geradlinig einheitliche, bewußt auf ein festes Ziel gerichtete Aktion vorzustellen. Die Gestaltung des athenischen Staates wurde von den jeweiligen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen mit ihren spezifischen Kräften und meist gegenstrebigen Intentionen bestimmt. Dennoch läßt sich von den Kleisthenischen Reformen über die innenpolitischen Kämpfe zur Zeit der Perserkriege bis zu den Reformen des Ephialtes (462) und zur Perikleischen Ära eine Entwicklungslinie ziehen, die bei allen retardierenden und rückläufigen Momenten und trotz der Opposition 35 einer mächtigen konservativen Aristokratie doch eine wachsende Demokratisierung in der Polis Athen ergibt. Auch über die spezifische Form der athenischen Polisdemokratie sollten keine allzu kühnen Vorstellungen aufkommen, wie sie möglicherweise einem unreflektierten Demokratieverständnis entspringen könnten. Die qualitativ neue Staatsform war durch scharfe Widersprüche innerhalb der attischen Bevölkerung geprägt, deren überwiegende Mehrheit von den politischen Rechten der athenischen Demokratie ausgeschlossen blieb. Das betraf einmal die Metöken, d. h. die mit ansässigen Freien ohne Bürgerrecht, ferner die Frauen der athenischen Bürger und in besonderem Maße die Sklaven. Ein nüchternes, ja gegenüber idealistischen Konzeptionen ein ernüchterndes Bild ergeben die Zahlen, die durch moderne Schätzungen der einzelnen Bevölkerungsschichten gewonnen wurden. 36 Danach belief sich die Gesamtbevölkerungszahl Attikas im J a h r 431, also in der Blütezeit Athens vor dem Ausbruch des Peloponnesischen Krieges (431—404), auf 315500. 172000 davon sollen auf die Familien der athenischen Bürger entfallen, aber die entscheidende Zahl der athenischen Bürger, der Männer im Alter von 18 bis 59, beträgt in der angestellten Rechnung 43000 (?). Wer die geschätzte Anzahl der athenischen Bürger (43000 [?]) mit der gleichfalls geschätzten Summe der attischen Gesamtbevölkerung (315500) vergleicht, kann jedenfalls ermessen, in welcher Minderheit sich die privilegierten Polisbürger befanden. Die Division 315500 : 43000 ergibt den Quotienten 7,33. Das Bild rundet sich durch die Angaben für die Metöken und die Sklaven. Zur Gesamtbevölkerung Attikas gehörten in jener Zeit 28500 Metöken, davon 9500 (?) Männer im Alter von 18 bis 59, und 115000 Sklaven. Die Zahlen blieben naturgemäß 3,1

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o•

Überlegungen über K l e i s t h e n e s nach der Durchführung seiner R e f o r m e n stellt R . D . Cromey an, Kleisthenes' F a t e , in: Historia 28, 1979, 129—147. Vgl. hierzu R . Klein, D i e innenpolitische Gegnerschaft gegen Perikles, in: Perikles u n d seine Zeit, hrsg. v o n G. Wirth, D a r m s t a d t 1979 (Wege der F o r s c h u n g 162), 4 9 4 - 5 3 3 (Originalbeitrag 1976), w o indessen auch gezeigt wird, wie der „erste Mann" durch seine persönliche Machtstellung u n d seinen „aufgeklärten R a t i o n a l i s m u s " (vgl. ebd. 509) in Gegensatz zum D e m o s geriet. A. W . Gomme, The Population of A t h e n s in t h e F i f t h and F o u r t h Centuries B . C., Oxford 1933 (Glasgow U n i v e r s i t y Publications 28), 26. Vgl. A. W . G o m m e , T h e P o p u lation of A t h e n s again, in: The Journal of Hellenic Studies 79, 1959, 61—68.

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HEINRICH

KUCH

nicht k o n s t a n t . Gerade nach dem gewählten Stichjahr 431 erfolgte ein enormer R ü c k gang, ja geradezu ein Absturz. Die ersten sechs Kriegsjahre, in denen Athen überdies zweimal von einer verheerenden Seuche heimgesucht wurde, forderten fast 100000 Opfer, so d a ß die attische Gesamtbevölkerung, wieder nach der gleichen Schätzung, bis zum J a h r 425 auf 218000 s a n k : 29000 (?) Polisbürger von 18 bis 59 J a h r e n , also die politisch privilegierte Anzahl, einschließlich ihrer Familienangehörigen 116000, 21000 Metöken (7000 Männer im angegebenen Alter) u n d 81000 Sklaven. Das Verhältnis von Gesamtbevölkerung (218000) u n d bevorrechteter Minderheit (29000 [?]) h a t sich indessen gegenüber dem J a h r 431, f ü r das als Quotient 7,33 errechnet wurde, nicht wesentlich verändert. Der Quotient f ü r 425 beträgt 7,51. I n beiden Fällen befand sich also weniger als ein Siebentel im Besitz der politischen Vorrechte. Die offizielle Ideologie zielte darauf ab, die athenische Bürgerschaft als eine geschlossene Einheit hinzustellen und den E i n d r u c k einheitlicher Geschlossenheit zu erwecken, wofür die Gefallenenrede des Perikles bei Thukydides ein b e r ü h m t e s Zeugnis ist. Indessen war auch die Minderheit der politisch Bevorrechteten und Bevorteilten durch soziale Gegensätze in hohem Grade differenziert. Erhebliche Unterschiede in Besitz und Bildung ließen sehr unterschiedliche Möglichkeiten zu, die bestehenden politischen R e c h t e wahrzunehmen. W a s die gesellschaftlichen Bedingungen der Polisdemokratie d e m I n d i v i d u u m a n Chancen zur Selbstverwirklichung boten, k o n n t e von den einzelnen Bürgern nicht in gleichem Ausmaß genutzt werden. Die vier nach dem jährlichen E i n k o m m e n eingerichteten Solonischen Klassen bestanden auch im 5. J h . weiter. 3 7 I n diesem Prinzip timokratischer E i n s t u f u n g findet die Ungleichheit der Eigentumsverhältnisse ihren rechtlichen Ausdruck. Folgerichtig leiteten sich von den sozialökonomischen Unterschieden innerhalb der Bürgerschaft ungleiche politische R e c h t e ab. So stand beispielsweise das Amt des Archon eponymos — auf seine B e d e u t u n g f ü r das Theater k o m m e n wir noch zurück (unten S. 23) — bis in das zweite J a h r z e h n t des 5. J h . hinein ausschließlich der 1. Solonischen Klasse offen, deren Zugehörige im J a h r immerhin 500 Scheffel Getreide (1 Scheffel = ca. 40 Liter) oder 500 Maß Öl oder Wein produzieren bzw. 500 Drachmen verdienen m u ß t e n . E r s t 487/86 erlangten die „ R i t t e r " , die 2. Solonische Klasse — für sie waren 300 Scheffel, Maß oder D r a c h m e n verbindlich —, das Recht, jene F u n k t i o n zu bekleiden, während die 3. Solonische Klasse, die Zeugiten — hier lag die untere Grenze bei 200 der genannten Einheiten —, beinahe eine Generation später, nämlich 458/57 Z u t r i t t zum Archontat erhielten. D a ß sich den Theten, der 4. Solonischen Klasse, praktisch keine Möglichkeit eröffnete, das offiziell höchste A m t des Staates zu übernehmen, 3 8 zeigt in aller Deutlichkeit die Grenzen der athenischen Demokratie. Hier ist indessen hinzuzufügen, daß seit 487/86 der Archon eponymos, ja ü b e r h a u p t das Gremium der neun Archonten in seiner politischen B e d e u t u n g bekanntlich hinter die F u n k t i o n der Strategen z u r ü c k t r a t . Wichtiger erscheint ein anderer Gesichtspunkt. Die leitenden Positionen wie das Archontat, jedenfalls bis 487/86, die Strategie und das Schatzmeisteramt forderten von ihren I n h a bern — neben einer entsprechenden Bildung u n d entsprechenden Fachkenntnissen — 37

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U b e r die G e l t u n g s d a u e r d e r Solonischen Gesetze vgl. E . R u s c h e n b u s c h , ZöKwvog vö/iot. D i e F r a g m e n t e des S o l o n i s c h e n G e s e t z e s w e r k e s m i t einer T e x t - u n d U b e r l i e f e r u n g s g e s c h i c h t e , W i e s b a d e n 1966 ( H i s t o r i a , E i n z e l s c h r i f t e n 9), 32—36. Vgl. H . B e n g t s o n , G r i e c h i s c h e G e s c h i c h t e v o n d e n A n f ä n g e n bis in die r ö m i s c h e K a i s e r zeit (vgl. A n m . 29), 200.

Gesellschaftliche Voraussetzungen und Sujet

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eine sichere Vermögensgrundlage, u m d e n A n f o r d e r u n g e n d e r f ü h r e n d e n F u n k t i o n e n gerecht werden zu k ö n n e n . Diese V o r a u s s e t z u n g e n t r a f e n n u r auf die Oberschicht zu, w ä h r e n d sich die u n t e r e n Schichten G e d a n k e n u m die B e s t r e i t u n g ihres L e b e n s u n t e r h a l t s m a c h e n m u ß t e n . U n t e r solchen B e d i n g u n g e n s t a n d die E i n h e i t d e r a t h e n i s c h e n B ü r g e r s c h a f t im Zeichen innerer W i d e r s p r ü c h l i c h k e i t . Die D i a l e k t i k v o n W i d e r s p r ü c h lichkeit u n d E i n h e i t galt a u c h f ü r die Perikleische Zeit. D a ß es in dieser Ä r a gelang, einen relativen, zeitweiligen Ausgleich d e r gegenstrebigen K r ä f t e zu schaffen, bildete eine V o r a u s s e t z u n g f ü r die Blütezeit der Polis, die in der K u n s t d e n P a r t h e n o n (448— 432) h e r v o r b r a c h t e u n d in der tragischen D i c h t u n g beispielsweise die „ A n t i g o n e " (442) des Sophokles sowie die Euripideische „Alkestis" (438). E s gehört zu d e n B e s o n d e r h e i t e n der a t h e n i s c h e n D e m o k r a t i e , d a ß die A r i s t o k r a t e n im politischen L e b e n eine wichtige Rolle spielten, was sich n i c h t auf d e n K a m p f bes c h r ä n k t , in d e m sich die a r i s t o k r a t i s c h e R e a k t i o n d e m P r o z e ß d e r D e m o k r a t i s i e r u n g widersetzte. Selbst die f ü h r e n d e n Persönlichkeiten d e r D e m o k r a t e n e n t s t a m m t e n bis in d a s letzte D r i t t e l des 5. J h . hinein adligen F a m i l i e n : D e r A l k m e o n i d e K l e i s t h e n e s , der L y k o m i d e Themistokles, schließlich Perikles, m ü t t e r l i c h e r s e i t s a u s d e m Geschlecht der A l k m e o n i d e n — sie alle h a b e n sich bei der G e s t a l t u n g d e r D e m o k r a t i e in h o h e m G r a d e v e r d i e n t g e m a c h t , u n d sie alle w a r e n A r i s t o k r a t e n . Ob a u c h E p h i a l t e s , ein weiterer Spitzenpolitiker der D e m o k r a t e n , a r i s t o k r a t i s c h e r H e r k u n f t w a r , l ä ß t sich n i c h t sicher entscheiden. D e r Glanz der adligen H ä u s e r h a t indessen, in V e r b i n d u n g mit d e m Z u s t a n d unserer Überlieferung, 3 9 m a n c h e I n t e r p r e t a t i o n so g e b l e n d e t , d a ß es ihr unterlief, d e n a r i s t o k r a t i s c h e n Einfluß,, d e r im A t h e n des 5. J h . o h n e Zweifel bet r ä c h t l i c h war, zu ü b e r s c h ä t z e n u n d die politische W i r k s a m k e i t des D e m o s e i n e m historischen S c h a t t e n d a s e i n zu überlassen. M a n s p r a c h v o n einem „ I n d i a n e r s o m m e r der A r i s t o k r a t i e " / ' 0 Wie weit er sich ü b e r d a s 5. J h . e r s t r e c k t e , wird v e r s c h i e d e n v e r a n s c h l a g t . 4 1 Die e x t r e m s t e Position n i m m t a n , d a ß die Geschichte A t h e n s m i n d e s t e n s bis z u m E n d e des Peloponnesischen K r i e g e s (404) wesentlich die Geschichte seiner f ü h r e n d e n Familien sei. 42 E i n B o n m o t , d a s solcher G e s i n n u n g e n t s p r a n g , ist zu geschliffen, als d a ß es u n t e r s c h l a g e n werden sollte: „ A t h e n w a r n a t ü r l i c h k e i n e Oligarchie in der Theorie, n u r in der P r a x i s . " 4 3 Die F o r m u l i e r u n g erscheint jedoch zu zugespitzt, u m die politische R e a l i t ä t der P o l i s d e m o k r a t i e ganz wiedergeben zu k ö n n e n . Angesichts d e r S p a n n u n g e n , die im 6. u n d 5. J h . zwischen d e n v e r s c h i e d e n e n sozialen Polen b e s t a n d e n , sollte es schwerfallen, eine Seite, in diesem F a l l e die aristokratische, zu verabsolutieren. Wie sich erwies, v e r s t a n d e n es P e i s i s t r a t o s u n d n a c h i h m 39 Vgl. I. Hahn, Klassengebundenheit, Tendenz und Anspruch auf Objektivität in der antiken Geschichtsschreibung, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Wilhelm-PieckUniversität Rostock, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche R e i h e 28, 1979, 433-447. 40 41

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F. J. Frost, Greek Society, Lexington/Mass.—Toronto—London 1971, 50. Vgl. J. Martin, Von Kleisthenes zu Ephialtes. Zur E n t s t e h u n g der athenischen D e m o kratie, in: Chiron 4, 1974, 5—42, bes. 22: „Die politische Organisation Athens" blieb „auch nach Kleisthenes zunächst eine oligarchische". Weitere Literatur zu dieser Frage bei H . Kuch, Zur Interpretation der griechischen Tragödie, in: Philologus 123, 1979, 2 0 2 - 2 1 5 , bes. 203. P. J. Bicknell, Studies in Athenian Politics and Genealogy, Wiesbaden 1972 (Historia, Einzelschriften 19), VII. Kritisch dazu K . H . Kinzl, in: Gymnasium 81, 1974, 310. P. MacKendrick, in: Gnomon 45, 1973, 508.

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HEINBICH

KUCH

Kleisthenes, bei der Verwirklichung ihrer politischen Absichten auf den Demos zu bauen, womit sie in der Praxis Erfolg hatten. Die geschichtliche Rolle des Demos ist im Laufe des 5. J h . offenbar um so mehr gewachsen, je weitere Möglichkeiten sich ihm im Zuge des Demokratisierungsprozesses öffneten. Mit den territorialen zehn Phylen des Kleisthenes, die die politische Funktion der alten gentilizischen, vom Adel kontrollierten vier Phylen übernahmen, war der Grund für den Aufbau eines neuen Staates gele,gt. Daß Kleisthenes in seiner Phylenordnung die Demen als kleinste Selbstverwaltungseinheiten institutionalisierte, versetzte den traditionellen gentilizischen Abhängigkeitsverhältnissen den entscheidenden Schlag. 44 Auf dem Boden der KJeisthenischen Neuerungen bestanden nunmehr gleiche Ausgangspositionen für alle, die es sich leisten konnten, politisch tätig zu werden. Wenn Aristoteles über Kleisthenes urteilt, er habe „der Masse den Staat übergeben" (Staat der Athener 20, 1), so mutet die Formulierung etwas großzügig an. Die Aussage aber „nicht in demokratischem Sinne" 45 verstehen zu wollen, heißt ein Zeugnis auf den Kopf stellen, das dem politischen Erstarken der unteren und mittleren Schichten Rechnung trägt. Im Laufe des 5. J h . verlor die Aristokratie als Klasse weitere Positionen. Der Areopag, der alte Adelsrat, wurde durch die Reformen des Ephialtes (462) politisch entmachtet. Seine Kontrollfunktionen fielen an den Rat, die Volksversammlung und das Geschworenengericht (vgl. Aristoteles, Staat der Athener 25, 2), was eine Stärkung der demokratischen Einrichtungen bedeutete. Ein gutes Jahrzehnt später k a m ein von Perikles vorgeschlagenes Bürgerrechtsgesetz durch (451/50), nach dem athenischer Bürger nur sein konnte, wer väterlicher- und auch mütterlicherseits von Athenern abstammte. Damit wurde die Aristokratie, die sich bei ihren Eheverbindungen in panhellenischer Manier nicht auf Athen zu beschränken pflegte, empfindlich getroffen. Die Politik des Perikles förderte dagegen auf breiter Front die mittleren u n d unteren Schichten des Demos. Für die Übernahme von politischen und richterlichen Funktionen wurden, wie bekannt, staatliche Gelder bereitgestellt. Tagegelder, gedacht als Ausgleich für den bei der politischen Tätigkeit entstehenden Verdienstausfall, erhielten zuerst die Mitglieder des Geschworenengerichts (Aristoteles, Staat der Athen er 27, 4) und des Rates, dann alle durch das Los ermittelten Amtsträger (vgl. Plutarch , Perikles 9, 3). Auf diese Weise gelang es, die mittleren und unteren Schichten zunehmend in die Leitung der Polis miteinzubeziehen. Daß den Aktivitäten des Demos allerdings Grenzen gesetzt waren, erklärt sich, wie bereits gesagt, aus dem Klassencharakter der athenischen Demokratie. 44 45

J. Martin, V o n Kleisthenes zu Ephialtes (vgl. Anrn. 41), 15; vgl. 17£. E b d . 19. F ü r J. Martin wurde die Volksversammlung „jetzt eins der Organe, in d e n e n die Adligen ihre K ä m p f e austrugen" (19). Vgl. jedoch beim gleichen Verfasser e b d . 22: „Infolge der Kleisthenisehen Phylenreform enthielt die Verfassung jetzt mehr d e m okratische Möglichkeiten." Vgl. auch K . H . Kinzl, A t h e n s : B e t w e e n T y r a n n y and D emocracy (vgl. A n m . 33), 199—223, bes. 223 mit d e m Urteil über die Periode v o n 5 1 0 bis 480: „ I t is a period . . . not only of transition, but one in whieh the f o u n d a t i o n s were laid." W e l c h e ökonomische B e d e u t u n g die unteren und mittleren Schichten g e w a n nen, läßt sich den Ausführungen v o n E . K l u w e über „Die Rolle des H a n d w e r k s in der P o Iis" e n t n e h m e n , in: P r o d u k t i v k r ä f t e und Gesellschaftsformationen in v o r k a p i t a l i s t i s c h e r Zeit, hrsg. v o n J. Herrinann und I. Sellnow, Berlin 1982 (Veröffentlichungen des Zent ralinstituts für A l t e Geschichte und Archäologie der A k a d e m i e der Wissenschaf t e n der D D R 12), 2 8 9 - 3 0 1 .

Gesellschaftliche Voraussetzungen und Sujet

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I m Lichte der Perikleischen Förderungsmaßnahmen gewinnt die Entwicklung des Archontats neue Konturen. Daß die Zeugiten 458/57 dieses Amt übernehmen konnten, spricht nicht nur für die Abstufung, sondern auch für die Erweiterung der politischen Rechte. Für die Tragödie hat der Archon eponymos eine besondere Bedeutung. I h m fiel die Aufgabe zu, die dramatischen (und dithyrambischen) Wettbewerbe an den Großen Dionysien zu leiten. Damit trug er keine leichte Verantwortung, zumal die Möglichkeit bestand, ihn in der Volksversammlung, die nach dem Fest im Dionysostheater tagte, zur Rechenschaft zu ziehen (vgl. Demo'sthenes, Rede gegen Meidias 8 f.). I n der Vorbereitungsphase der dramatischen Wettkämpfe an den Großen Dionysien hatte der Archon eponymos die eingereichten Stücke durchzusehen und mit der Auswahl von drei Tetralogien 46 das Programm für die Tragödienaufführungen festzulegen. Daß hierbei der Aspekt, ob die Texte „für die Öffentlichkeit geeignet" seien, seine Bedeutung hatte, läßt Piaton, Gesetze 817 d, erkennen. 47 Wenn von den finanziellen Maßnahmen zur Unterstützung des Demos die Rede ist, darf im Hinblick auf das Thema am Ende nicht vergessen werden, daß Perikles die Zahlung eines sog. Schaugeldes einführte (Plutarch, Perikles 9, 1—3), um auch den ärmeren Bürgern den Theaterbesuch zu ermöglichen. 48 Was im Theaterrund aufgeführt bzw. verhandelt wurde, war eine öffentliche Angelegenheit, zu der jeder Polisbürger Zutritt haben sollte wie zur Volksversammlung. Damit ist das entscheidende Stichwort gefallen, entscheidend jedenfalls für die spezifische Form der Polisdemokratie. Die Volksversammlung ist — das läßt sich nicht bestreiten — die höchste Instanz der athenischen Demokratie. Sie entschied über Krieg und Frieden, über Bündnisse, Gesetze, sie wählte und kontrollierte die politischen Funktionsträger, sie befand über alle Angelegenheiten, die zur Entscheidung vorgebracht wurden. Damit soll keineswegs die Bedeutung des Rates der 500 herabgesetzt werden, 49 und die gewichtige Rolle der adligen Persönlichkeiten fand sich im Vorhergehenden nachdrücklich betont. Indessen trug die Tätigkeit des Rates mit der Vorbereitung der Vorlagen für die Volksversammlung eben vorbereitenden Charakter, und die exponierten Einzelpersönlichkeiten hatten das Recht, vor den versammelten Bürgern Vorschläge zu machen 5 0 — die Entscheidung traf die Volksversammlung. 5 1 46

Vgl. im Detail die oben in Anm. 14 genannten Arbeiten. Über Piatons Haltung zur tragischen Dichtung vgl. jetzt A. Cameron, Plato's Affair with Tragedy. Lectures in Memory of Louise T a f t Semple, Delivered April 8 and 9, 1975, The University of Cincinnati 1978. 48 Vgl. auch R . Klein, Die innenpolitische Gegnerschaft gegen Perikles (s. A n m . 35), 496f. Anders F. Kolb, Polis und Theater, in: D a s griechische Drama, hrsg. v o n G. A. Seeck, Darmstadt 1979, 504—545, bes. 520f. E . Ruschenbusch, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 36, 1979, 303—308, plädiert sehr zuversichtlich für die Einführung des Theorikon im 4. Jh. durch Eubulos. 49 I m Urteil von R . A. de Laix, Probouleusis at Athens. A Study of Politicäl DecisionMaking, Berkeley — Los Angeles — London 1973, wurde und blieb der R a t während des 5. Jh. „the chief Organ of government" (192). Vgl. dagegen P . J. Rhodes, The Athenian Boule, Oxford 1972, 213: I m Laufe des 5. Jh. war der R a t „an essential adjunct of the sovereign assembly" geworden. so Vgl. Thukydides 1, 140, 1 (ZvpßovXevrea); 1, 139, 4 (jia e /jm); 2, 13, 2 (Ttanyvu ); 2, 60, 4 47

(nagcuveoavTa). 51

Vgl. M. I. Finley,

Democracy Ancient and Modern, London 1973, 2 4 f . ; M. I. Finley,

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HEINRICH

RUCH

Hierin realisierte sich die geschichtliche Potenz des Demos in entscheidender Weise. Diese Aktivität ist — neben dem Wirken des Demos im Rat und im Geschworenengericht — nicht gering zu veranschlagen. Dem Athen im 5. Jh. würde eine ganze Dimension fehlen, wollte man seinen außenpolitischen Einflußbereich außer acht lassen, der sich von Sizilien bis zur Krim erstreckte. Die Macht der Stadt hat sich im Delisch-Attischen Seebund objektiviert. Es erscheint berechtigt, den Seebund als das notwendige Komplement derPolisdemokratie zu betrachten. 478/77 in der uneigennützig anmutenden Absicht gegründet, die Freiheit der Griechen gegen die Perser zu verteidigen bzw. zu erkämpfen, entwickelte sich der Bund, ursprünglich eine Vereinigung freier und autonomer Griechenstädte, in wachsendem Maße zum Machtinstrument, mit dem sich Athen seinen politischen Vorrang sicherte. 52 Im Jahr 425 gehörten dem Attischen Seebund ca. 400 Städte an. 53 Die Bevölkerungszahl jenes Imperiums wurde auf 2 000 000 geschätzt. M Ein solcher Machtkomplex war in Griechenland bis zu dieser Zeit singular. Indessen entsprach der Attische Seebund der historischen Tendenz, über die einzelne Polis hinaus größere politische Einheiten zu bilden, wie es im 5. Jh. in Sizilien unternommen und im 4. Jh. in Griechenland ständig neu versucht wurde, als erst Sparta, dann Böotien und auch Thessalien auf jene Weise nach der Hegemonie strebten, die schließlich Makedonien erreichte. In diesem Ringen entwickelte übrigens selbst das 404 besiegte Athen erneut Aktivitäten, indem es 377 den zweiten Attischen Seebund gründete. Daß Sparta

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A t h e n i a n D e m a g o g u e s , i n : S t u d i e s in A n c i e n t Society, ed. b y M. I . F i n l e y , L o n d o n — B o s t o n 1974, 1 - 2 5 ( = P a s t a n d P r e s e n t 21, 1962, 3 - 2 4 ) , bes. 10: „ t h e A s s e m b l y w a s t h e c r o w n of t h e s y s t e m " ; Ch. G. S t a r r , A H i s t o r y of t h e A n c i e n t W o r l d , 2. A u f l . N e w Y o r k 1974, 299; D e m o c r a c y a n d t h e A t h e n i a n s . A s p e c t s of A n c i e n t Politics, ed. b y F . J . F r o s t , N e w Y o r k — L o n d o n — S y d n e y — T o r o n t o 1969, 2. Vgl. a u c h E . K l u w e , N o c h m a l s z u m P r o b l e m : D i e soziale Z u s a m m e n s e t z u n g d e r a t h e n i s c h e n E k k l e s i a u n d ihr E i n f l u ß auf p o l i t i s c h e E n t s c h e i d u n g e n , i n : K l i o 59, 1977, 72. Vgl. R . Meiggs, T h e A t h e n i a n E m p i r e , 2. A u f l . O x f o r d 1973; W . Schuller, Die H e r r s c h a f t d e r A t h e n e r i m E r s t e n A t t i s c h e n S e e b u n d , B e r l i n ( W e s t ) — N e w Y o r k 1974; d a z u vgl. J . D . S m a r t , T h e A t h e n i a n E m p i r e , i n : P h o e n i x 31, 1977, 2 4 5 - 2 5 7 , u n d J . P e c i r k a , i n : E i r e n e 15, 1977, 144—146; ders., D i e a t h e n i s c h e D e m o k r a t i e u n d d a s a t h e n i s c h e R e i c h , i n : K l i o 57, 1975, 307—311. Ü b e r d i e d i r e k t e K o n t r o l l e , d e r sich die B u n d e s g e n o s s e n a u s g e s e t z t f a n d e n , vgl. J . M. B a l c e r , I m p e r i a l M a g i s t r a t e s in t h e A t h e n i a n E m p i r e , i n : H i s t o r i a 25, 1976, 2 5 7 - 2 8 7 ; W . Schuller, D i e S t a d t a l s T y r a n n A t h e n s H e r r s c h a f t ü b e r seine B u n d e s g e n o s s e n , K o n s t a n z 1978; R . Meiggs, T h e Crisis of A t h e n i a n I m p e r i a l i s m , i n : P e r i k l e s u n d seine Zeit, hrsg. v o n G. W i r t h , D a r m s t a d t 1979 ( W e g e d e r F o r s c h u n g 162), 2 2 7 - 2 7 0 ( = H a r v a r d S t u d i e s in Classical P h i l o l o g y 67, 1963, 1 - 3 6 ) . Vgl. f e r n e r M. I . F i n l e y , T h e F i f t h - C e n t u r y A t h e n i a n E m p i r e : a B a l a n c e S h e e t , i n : I m p e r i a l i s m in t h e A n c i e n t W o r l d . T h e C a m b r i d g e U n i v e r s i t y R e s e a r c h S e m i n a r in A n c i e n t H i s t o r y , ed. b y P . D . A. G a r n s e y a n d C. R . W h i t t a k e r , C a m b r i d g e — L o n d o n - N e w Y o r k - M e l b o u r n e 1 9 7 8 , 1 0 3 - 1 2 6 ; 3 0 6 - 3 1 0 ; d e r A u t o r k o m m t a m E n d e zu f o l g e n d e m E r g e b n i s : „ A t h e n i a n i m p e r i a l i s m e m p l o y e d all t h e f o r m s of m a t e r i a l exploit a t i o n t h a t w e r e a v a i l a b l e a n d possible in t h a t s o c i e t y " ( e b d . 126). Vgl. K . R a a f l a u b , B e u t e , V e r g e l t u n g , F r e i h e i t ? Z u r Z i e l s e t z u n g d e s D e l i s c h - A t t i s c h e n S e e b u n d e s , i n : Chir o n 9, 1979, 1 - 2 2 . R . Meiggs, T h e A t h e n i a n E m p i r e (vgl. A n m . 52), 327; H . B e n g t s o n , G r i e c h i s c h e Ges c h i c h t e v o n d e n A n f ä n g e n bis in die r ö m i s c h e K a i s e r z e i t (vgl. A n m . 29), 193: „ m e h r a l s 400 P o l e i s " . C h . G. S t a r r , A H i s t o r y of t h e A n c i e n t W o r l d (vgl. A n m . 51), 310.

Gesellschaftliche Voraussetzungen u n d Sujet

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schon im 6. J h . seinen Peloponnesischen Bund ins Leben gerufen hatte, darf nicht außer acht gelassen werden, so locker auch sein Zusammenhalt im Vergleich zur straffen Organisation des Attischen Seebundes im 5. J h . war. Die Mitglieder des Attischen Seebundes, des ersten und großen, profitierten zweifellos auch von der athenischen Vormachtstellung, die ihnen Schutz vor äußeren Bedrohungen garantierte, so daß Wirtschaft und Handel gedeihen konnten, was wiederum ebenfalls den Interessen Athens entsprach. Andererseits sahen sich die Bundesgenossen Schritt für Schritt auf die Stufe tributpflichtiger Untertanen gedrängt. Daß das Territorium der athenischen Herrschaft in sog. Steuerbezirke eingeteilt war, unterstreicht den Charakter des Abhängigkeitsverhältnisses. Zur Zeit der Großen Dionysien waren die entsprechenden Gelder in Athen abzuliefern (Eupolis, Poleis Fr. 240 Kock), 55 und welche Bitternis muß den Vertretern der Bundesgenossen das schöne Theaterfest getrübt haben, wenn sie sahen, wie die Tribute — so berichtet Isokrates, Über den Frieden 82 — im Dionysostheater vorgeführt wurden. Athenische Siedler im Bundesgegebiet, Inspektoren in den Städten und nicht zuletzt die schlagkräftige athenische Flotte erwiesen sich lange Zeit als geeignete Mittel, das Herrschaftssystem aufrechtzuerhalten. Versuche mehrerer Bundesgenossen, von Athen abzufallen, wurden mit Gewalt vereitelt, wie 446 auf Euböa oder 441—439 auf Samos. Die Unterdrückung und Ausbeutung der Mitgliedstaaten des Seebundes sicherten den Ausbau der athenischen Demokratie. Im Athen des 5. J h . durchdrangen sich somit die verschiedensten Elemente: die epochalen Errungenschaften der Polisdemokratie, die Sklaverei und der imperiale Charakter des Seebundes, was für das Verständnis der attischen Tragödie nicht unwesentlich ist, und es bleibt gleichfalls zum Verständnis der Tragödie zu beachten, daß sich die Polisdemokratie Athen — ihre zuständigen Archonten leiteten ja die Theatervorstellungen — im 5. J h . zur progressivsten Form politischer Organisation in der antiken Klassengesellschaft entwickelt hat, denn sie erschloß dem Demos neue, bis dahin nicht erreichte Wirkungsmöglichkeiten im politischen und kulturellen Leben. Unter den skizzierten politischen und sozialen Bedingungen blühte die attische Kultur im 5. J h . auf, zu deren reifsten Leistungen die Herausbildung des Dramas zählt. Tragödie und Komödie sind auf dem Boden der objektiven gesellschaftlichen Tatsachen der Polisdemokratie und der in ihr ausgetragenen Klassenauseinandersetzungen gewachsen. Es 'ist keine Frage, daß sich die beiden dramatischen Gattungen gegenseitig beeinflußten, wie auch die Tragödie mit den anderen Erscheinungen des geistigen Lebens in einem Verhältnis wechselseitiger Einwirkungen stand. Das gilt etwa für die Musik, zumal sie mit zur Tragödie gehörte. 56 Aber auch zwischen tragischem Spiel und Geschichtsschreibung bestanden bestimmte Beziehungen. 57 Für das Verhältnis zwischen Tragödie und Komödie muß wenigstens erwähnt werden, wie Aristophanes das Euripideische Drama parodierte. Der fortwährende parodierende 55

Comicorum A t t i e o r u m fragmenta, ed. Th. K o c k , B d . 1, Leipzig 1880, S. 322. Vgl. Scholien zu Aristophanes, Aeharner 378. 56 Vgl. i m vorliegenden B a n d L. Richter, D i e Musik der griechischen Tragödie u n d ihre W a n d l u n g e n unter veränderten historischen B e d i n g u n g e n , S. 115—139. 57 Zu diesem Problem v g l . A. Lesky, Tragödien bei H e r o d o t ? , in: Greece and t h e E a s t e r n Mediterranean in A n e i e n t H i s t o r y and Prehistory . . ., ed. by K . H . Kinzl, Berlin (West) — N e w York 1977, 2 2 4 - 2 3 0 , bes. 229.

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HEINBICH

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Rückgriff auf Eurípides war indessen nicht ohne Einfluß auf Aristophanes selbst, der von seinem Dichterkollegen Kratinos spöttisch als evQimda.QiOTO(pavi£a>v bezeichnet wurde (Fr. 307 Kock). 58 Euripidaristophanizein heißt auf Euripideische und Aristophanische Art dichten — eine nicht wenig gehässige Neubildung, denn ihre Aussage setzt die Originalität des Aristophanes herab. Der erste Teil jener Wortbildung, euripid-, die Euripides-Komponente, ist gewissermaßen das Vorzeichen für die Aristophanische Schreibart. Aber bei allem Spott, der hier ausgegossen wird, kann nicht übersehen werden, daß mit der scharfzüngigen Bezeichnung die von Eurípides auf Aristophanes ausgehenden ästhetischen Wirkungen zum Ausdruck kommen. Sosehr die attische Tragödie auch in ihrem Wesen von der athenischen Poliswelt geprägt ist, läßt sich offenbar im Bereich der dramatischen Kunst ein Phänomen nicht ausschließen, das sich ebenfalls auf anderen Gebieten der geistigen Kultur findet: eine relative autonome Entwicklung im Ästhetischen. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Diese Erscheinung besteht nicht etwa selbständig neben dem gesellschaftlich Determinierten, sondern ist mit diesem in einer Weise dialektisch verzahnt, daß das Determinierte und das in gewisser Hinsicht Autonome organisch zusammengehören. Ein bestimmtes, ein relativ autonomes künstlerisches Eigenleben ist dem Formenapparat der Tragödie zuzuschreiben. Metrik und Stilistik kommen dabei ins Blickfeld sowie die Bauformen, 5 9 aus dfenen sieh die Struktur einer Tragödie zusammensetzt und an die die Dichter bei allen Möglichkeiten der Veränderung, Variation und Neugestaltung gebunden blieben. Ebenso ist die relative Autonomie im Inhaltlichen gegeben, wobei hier im Hinblick auf die Forderungen der Analyse davon abgesehen werden soll, wie unzulässig es ist, den Inhalt eines Kunstwerkes von seiner Form zu trennen. c o Der überlieferte My-thos wurde von den Tragikern jeweils neu interpretiert und damit verändert. Besonders aussagekräftig erscheinen die Geschicke der Elektra und des Orest, ein Thema, das alle drei großen attischen Tragiker gestalteten: Aischylos in der „Orestie", Sophokles in der „Elektra", Eurípides in seiner „Elektra" sowie schließlich im „Orest" — jeder auf seine individuell eigenständige Weise. Daß die Neuformung entscheidend von der persönlichen Sicht des Dichters abhing wie von der historischen Situation, in die er sich gestellt sah, bedarf nach allem keiner Erwähnung. Aber das Moment der mächtig wirkenden Tradition des Stoffes als poetischer Substanz fällt unter den Begriff jener kunstinternen Eigengesetzlichkeit. Wo der unmittelbare Einfluß der gesellschaftlichen Verhältnisse endet und die gewisse Eigenbewegung der Kunst beginnt, wird im einzelnen nicht immer leicht festzustellen sein. So fließend die Grenzen auch sein mögen die relativ autonomen Kunstmittel rechtfertigen es jedenfalls, die Entwicklung des attischen Dramas nicht ausschließlich aus den Anforderungen der Polis zu erklären. Daß jedoch erst die Bedingungen des sich politisch wie kulturell weit entfaltenden Athens die Blüte der Tragödie ermöglichten, wird nicht zu bezweifeln sein. Wie die Kämpfe der entgegenstehenden gesellschaftlichen Kräfte die Entwicklung des Theaters beeinflußten, zeigt sich beispielsweise schon in der wechselvollen Zeit vor 58 59

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Coinicorum A t t i c o r u m f r a g m e n t a , B d . 1 (vgl. A n m . 55), S. 102. Vgl. D i e B a u f o r m e n der g r i e c h i s c h e n Tragödie, hrsg. v o n W . J e n s , M ü n c h e n 1971 ( B e i h e f t e zu P o é t i c a , H e f t 6). Ü b e r I n h a l t und F o r m vgl. M. K a g a n , V o r l e s u n g e n zur m a r x i s t i s c h - l e n i n i s t i s c h e n Ä s t h e tik, 3. A u f l . B e r l i n 1974, 4 6 5 - 4 8 5 .

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der W e n d e z u m 5. J h . , als die athenische T y r a n n e n h e r r s c h a f t ihrem E n d e entgegenging u n d die neue, die demokratische S t a a t s o r d n u n g begründet wurde. U n t e r Peisis t r a t o s h a t t e die Tragödie des Thespis entstehen können. Demgegenüber fällt es auf, d a ß von den Peisistratiden n u n m e h r mit dem D i t h y r a m b o s eine rein chorische F o r m dramatischer A u f f ü h r u n g gefördert wurde, was einen Rückgriff gewissermaßen auf eine Vorstufe der Tragödie bedeutet. Großes Ansehen genoß im Athen des Hipparchos offenbar der Chorlyriker Lasos von Hermione (vgl. Herodot 7, 6, 3). E r entwickelte die Chordichtung weiter und beschäftigte sich auch theoretisch mit der Musik (Suda, unter d e m Stichwort „Lasos"). Nach A t h e n k a m gleichfalls der Lyriker Simonides von Keos, berufen von Hipparchos (Ps.-Platon, Hipparchos 228 c; Aristoteles, S t a a t der Athener 18, 1). Die F ö r d e r u n g der chorlyrischen A u f f ü h r u n g e n wurde n a c h d e m Sturz der T y r a n n e n h e r r s c h a f t (510 Vertreibung des Hippias) mit der E i n f ü h r u n g des agonalen Prinzips u n d der Choregie fortgesetzt. E s bleibt zu v e r m u t e n , d a ß es vor allem die konservativen Aristokraten waren, die es sich vor u n d nach 510 angelegen sein ließen, die ursprüngliche Chordichtung als Ausdruck alter Adelskultur zu u n t e r s t ü t z e n . Dagegen scheint die Tragödie mit ihren demokratischen E l e m e n t e n primär von den demokratisch orientierten gesellschaftlichen K r ä f t e n gefördert worden zu sein. 0 1 Die B e h a u p t u n g demokratischer E l e m e n t e in der tragischen Dichtung bedarf des Nachweises. I n der Tragödie des Thespis s t a n d dem Chor ein Schauspieler gegenüber, sei es als „ A n t w o r t e r " oder „Interpret". 6 2 Wie seine F u n k t i o n auch gedeutet wird, findet sich der E x p o n e n t in der Anfangsphase in dieser oder jener Weise in besonderem Maße auf den Chor bezogen. 6 3 Aber jener E x p o n i e r t e h a t zugleich, d a er nicht z u m Chor gehört, gegenüber d e m Chor eine eigenständige Qualität, die in der Folge schärfer hervortreten sollte, als ein zweiter und d a n n ein d r i t t e r Schauspieler die Position des ersten verstärkten. 6 4 Die Dialektik zwischen Chorbezogenheit u n d E m a n z i p a t i o n läßt sich f ü r den Schauspieler des Thespis jedenfalls nicht übersehen. Wichtiger erscheint in unserem Zusammenhang, d a ß durch die Zweiheit der Pole, Chor u n d Schauspieler, j e t z t die Möglichkeit des Dialogs gegeben ist, zwischen d e m einzelnen Darsteller u n d dem Chor oder zwischen dieser Einzelperson u n d dem Chorführer. So k a n n diskutiert, v e r a n t w o r t e t , entschieden werden, u n d der P h a n t a s i e beginnen sich neue R ä u m e zu öffnen. I n der Anekdote (Plütarch, Solon 29, 6f.) —wenn es eine ist— wirft Solon 6 1

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Vgl. F. Stoessl, D i e A n f ä n g e der Theatergeschichte A t h e n s , in: Grazer Beiträge 2, 1974, 213—250, der die R e f o r m e n des Theaterbetriebes m i t der politischen Situation in Verbindung bringt und die Fronten wie folgt absteckt : „In A t h e n rang eine aristokratisch-konservative R i c h t u n g , die v o n Sparta unterstützt wurde u n d F r o n t gegen Persien machte, und eine fortschrittlich demokratische, die Ausgleich m i t Persien suchte und gegen Sparta stand" (ebd. 225). F. Stoessl läßt die beiden R i c h t u n g e n in diesen Jahren durch den konservativen Isagoras und den A l k m e o n i d e n K l e i s t h e n e s repräsentiert sein. W e n n den g e n a n n t e n Politikern die F ö r d e r u n g s m a ß n a h m e des A g o n s für die chorischen Aufführungen bzw. für die Tragödien zugesehrieben wird (ebd. 227: „vermutlich . . . ein Werk des Isagoras"; 226: „ein . . . Schritt . . . , wie er d e m K l e i s t h e n e s wohl zuzutrauen ist"), so wird die N e u o r d n u n g in diesem wie j e n e m F a l l — vielleicht zu direkt — m i t Einzelpersönlichkeiten verbunden. A. Lesky, Die tragische D i c h t u n g der Hellenen (vgl. A n m . 1), 5 4 f . Vgl. P. GhironBistagne, Recherches sur lfes acteurs dans la Grèce antique (vgl. A n m . 8), 115—119. Vgl. E . Simon, D a s antike Theater (vgl. A n m . 8), 11. Vgl. G. A. Seeck, Geschichte der griechischen Tragödie (vgl. A n m . 11), 162.

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dem Thespis vor zu „lügen". 6 5 W a s der Kreis u m Thespis kreierte, bewegte viele durch seine „Neuheit" (ebd. 29, 6), während der greise Solon, nachdem ihn Thespis über den spielerischen Charakter der Vorführung aufgeklärt habe, sogar in Rage geraten sein soll. Soweit P l u t ^ r c h ! I n d e m sich jedenfalls in der f r ü h e n Tragödie die K o m m u n i k a tions- und Vorstellungsmöglichkeiten gegenüber den F o r m e n der Lyrik erweiterten, t r a t das Tänzerisch-Chorische dorischer Provenienz zugunsten des Dialektisch-Dialogischen zurück. Mit den ihm i m m a n e n t e n Elementen demokratischer N a t u r wie Diskussion, Verantwortung 6 6 , Entscheidung, vielleicht schon sozialer Phantasie, entsprach das Dialektisch-Dialogische der Tragödie dem Trend zur Demokratie, der sich in der neuen O r d n u n g des Kleisthenischen Staates vergegenständlichte. Die demokratischen Elemente der Tragödie u n d die demokratischen Bestrebungen im politischen Leben — sie waren beide auf die Veränderung des Bestehenden gerichtet, durch Neuinterpretation im Spiel, durch Neugestaltung in der Wirklichkeit. Angesichts der allgemeinen, mehr oder weniger festen Bindung an die kulturelle Tradition wäre die A n n a h m e bedenklich, d a ß ausschließlich die Konservativen die chorischen A u f f ü h r u n g e n geschätzt h ä t t e n . E s würde offenbar ebenso einseitig sein, Gefallen u n d Geschmack an der Tragödie auf die D e m o k r a t e n zu beschränken. Aber die Schlag auf Schlag erfolgenden F ö r d e r u n g s m a ß n a h m e n , die der alten u n d der neuen G a t t u n g innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne galten, legen den Gedanken a n rivalisierende gesellschaftliche Gruppen bzw. Gruppierungen nahe. 6 7 Nach allem läßt sich vermuten, d a ß es im wesentlichen die konservativen Aristokraten waren, die die traditionelle Chordichtung im Theater durch die F o r m des W e t t b e w e r b s u n d die Choregie auszugestalten suchten. D a ß die gleichen Mittel angewendet wurden, u m der jungen tragischen Dichtung ebenfalls helleren Glanz zu verleihen, wird, wie gleichfalls v e r m u t e t werden kann, in erster Linie der demokratischen Gegenseite 6 8 zuzuschreiben sein. An den Großen Dionysien wurde das agonale Prinzip f ü r die Männerchöre im J a h r des Archons Lysagoras (509/08) eingeführt (Marmor P a r i u m A 46) — d. h. a n den Dionysien 508 - , 6 9 f ü r die Tragödie in der 67. Olympiade (512/11-509/08) (vgl. Suda u n t e r dem Stichwort „Phrynichos" [762]). Hierbei scheiden die J a h r e 512/11 u n d 511/ 10 — es waren Hippias' letzte J a h r e in Athen — wahrscheinlich aus, denn Hippias m u ß t e nach dem gewaltsamen Tode des Hipparchos (514) vor allem auf die unmittelbare Sicherung seiner H e r r s c h a f t bedacht sein. 70 So empfehlen sich — nach der Ver65

Vgl. die R e f l e x i o n e n zur Tragödie bei Gorgias 82 B 23 D . - K . (Die Fragmente der Vorsokratiker, griechisch und deutsch v o n H . Diels, 7. A u f l . von W . Kranz, B d . 2, Berlin [West] 1954); B . Snell, M y t h o s und Wirklichkeit in der griechischen Tragödie, in: D i e E n t d e c k u n g des Geistes. Studien zur E n t s t e h u n g des europäischen D e n k e n s bei den Griechen, 4. Aufl. Göttingen 1975, 9 5 - 1 1 0 , bes. 98. cc Vgl. in diesem B a n d V. Jarcho, D i e W e l t a n s c h a u u n g des Dichters und die Verantwortung des H e l d e n in der griechischen Tragödie, S. 41—59. 07 N a c h F. Stoessl, D i e A n f ä n g e der Theatergeschichte A t h e n s (vgl. A n m . 61), 227, sollte die Einführung des D i t h y r a m b e n a g o n s „den i m Jahr vorher eingeführten W e t t kampf der Tragödiendichter konkurrenzieren u n d übertrumpfen". 08 Vgl. in diesem Zusammenhang auch oben S. 21f. 69 T. J. Cadoux, The Athenian Archons from Kreon to Hypsichides, in: T h e Journal of Hellenic Studies 68, 1948, 7 0 - 1 2 3 , bes. 122; H. J. Mette, Urkunden dramatischer Aufführungen in Griechenland (vgl. A n m . 6), I col. 1, 101—103. 70 Vgl. F. Stoessl, D i e Anfänge der Theatergeschichte A t h e n s (vgl. A n m . 61), 225f. m i t Belegen.

Gesellschaftliche V o r a u s s e t z u n g e n u n d S u j e t

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treibung des Hippias (510) — die Großen Dionysien von 509 oder 508 als Daten für die Einführung des Wettkampfprinzips bei Tragödienaufführungen. 71 Die fragmentarisch erhaltenen sog. Fasti 7 2 , die in ihrer ursprünglichen Form offenbar aus der Zeit um 346 stammen, sich aber aus offiziellen athenischen Dokumenten herleiten, begannen, wie angenommen wird, mit der Begründung der Choregie, d. h. mit einem herausragenden Ereignis der Theaterwelt, das möglicherweise in das Jahr 502/01 fällt. Demnach würde das System der Choregie für die chorischen Vorführungen mit den Großen Dionysien des Jahres 501 einsetzen, und das gleiche läßt sich für die Choregie bei den Tragödienaufführungen annehmen. 7 3 Da der Anfang unseres inschriftlichen Zeugnisses nicht erhalten ist, kann-in dieser Frage nur mit Hypothesen gearbeitet werden. Bei allen Unsicherheiten, die damit gegeben sind, empfiehlt es sich indessen, die Einführung der Choregie im Zusammenhang mit den Reformen des Kleisthenes (ca. 508/07) zu sehen, denn die Ordnung der zehn Kleisthenischen Phylen bildete die Grundlage für die zehn Dithyrambenchöre der Männer (die Chöre der Jungen sollen hier außer Betracht bleiben), wobei jede Phyle einen Choregen für ihren Männerchor zu stellen hatte. 74 So kann die Choregie durchaus einige Jahre vor 502/01 ins Leben gerufen sein. Die verschiedenen Vorstöße zur Bereicherung des Theaterbetriebes wären schwer erklärbar, wollte man sie nicht als Versuche begreifen, in der Öffentlichkeit Wirkungen zu erzielen. Daß die vom Theater ausgehenden Wirkungen ideologischer Natur waren, legen die dahinterstehenden dezidiert politischen Kräfte nahe. Den Demokraten gelang auch auf dem Gebiet des offenbar vornehmlich von den konservativen Aristokraten 71

F . Stoessl, D i e A n f ä n g e d e r T h e a t e r g e s c h i c h t e A t h e n s (vgl. A n m . 61), 225, h ä l t die G r o ß e n D i o n y s i e n v o n 509 f ü r d a s W a h r s c h e i n l i c h s t e ; vgl. e b d . 227 A n m . 49. I G I I / I I I 2 2318 u n d E . C a p p s , A N e w F r a g m e n t of t h e L i s t of V i c t o r s a t t h e C i t y D i o n y s i a , i n : H e s p e r i a 12, 1943, 1—11. D i e D a t i e r u n g d e r sog. F a s t i n a c h A . P i c k a r d C a m b r i d g e , T h e D r a m a t i c F e s t i v a l s of A t h e n s (vgl. A n m . 13), 103; e b d . 1 0 4 : „ T h e i n s c r i p t i o n itself r e a d s like a t r a n s c r i p t of a n o f f i c i a i r e c o r d . " 73 Vgl. F . Stoessl, D i e A n f ä n g e d e r T h e a t e r g e s c h i c h t e A t h e n s (vgl. A n m . 61), 2 2 8 - 2 3 0 sowie d i e d o r t a u f g e f ü h r t e L i t e r a t u r . Vgl. f e r n e r A . P i c k a r d - C a m b r i d g e , D i t h y r a m b , T r a g e d y a n d C o m e d y (vgl. A n m . 11), 66. F . Stoessl v e r m u t e t in s e i n e m e b e n g e n a n n t e n A u f s a t z (229f.), d a ß die gesetzliche R e g e l u n g f ü r d i e E i n r i c h t u n g d e r C h o r e g i e bei D i t h y r a m b e n - u n d a u c h bei T r a g ö d i e n a u f f ü h r u n g e n i m J a h r 503/02 e r f o l g t sei, d e m A m t s j a h r d e s A r c h o n s H e r m o k r e o n , u n d z w a r n a c h d e n D i o n y s i e n v o n 502. D a g e g e n s e t z t H . J . M e t t e , U r k u n d e n d r a m a t i s c h e r A u f f ü h r u n g e n in G r i e c h e n l a n d (vgl. A n m . 6), I col. 1, 1—4, d e n B e g i n n d e r F a s t i sowie d e n B e g i n n d e r Choregie f ü r die T r a g ö d i e n m i t j e n e r A u f f ü h r u n g d e s T h e s p i s in d a s J a h r 533. E s f r a g t sich j e d o c h a n g e s i c h t s d e s e n t s c h i e d e n e v o l u t i o n ä r e n E n t s t e h u n g s p r o z e s s e s d e r T r a g ö d i e , o b die C h o r e g i e in e i n e m so f r ü h e n S t a d i u m s c h o n b e s t a n d u n d sogleich m i t d e r e r s t e n ü b e r l i e f e r t e n s t a a t lichen T r a g ö d i e n a u f f ü h r u n g v e r b u n d e n w a r . D i e Choregie s c h e i n t wie d a s a g o n a l e P r i n z i p eine E r r u n g e n s c h a f t in d e r w e i t e r e n E n t w i c k l u n g d e s t r a g i s c h e n Spiels g e w e s e n zu sein. N o t w e n d i g w u r d e d a s S y s t e m d e r Choregie o f f e n b a r m i t d e n 5 0 k ö p f i g e n C h ö r e n der K l e i s t h e n i s c h e n Zeit. D i e K o s t e n f ü r die A u f f ü h r u n g d e s T h e s p i s t r u g m ö g l i c h e r w e i s e d e r T y r a n n P e i s i s t r a t o s ; vgl. F . Stoessl, D i e A n f ä n g e d e r T h e a t e r g e s c h i c h t e A t h e n s (vgl. A n m . 61), 219. Ca. 560 als B e g i n n d e r F a s t i z i e h t P . G h i r o n - B i s t a g n e in B e t r a c h t , R e c h e r c h e s sur les a c t e u r s d a n s la Grèce a n t i q u e (vgl. A n m . 8), 23.

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Vgl. A . P i c k a r d - C a m b r i d g e , T h e D r a m a t i c F e s t i v a l s of A t h e n s (vgl. A n m . 13), 75—77 m i t den einschlägigen Zeugnissen.

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protegierten D i t h y r a m b o s ein beachtlicher Erfolg. Da f ü r die Männerchöre jede der zehn Phylen 50 Mitglieder zu stellen h a t t e — das gleiche galt d a n n für die J u n g e n chöre —, sieht m a n der Organisation des Dithyrambenagons die neue P h y l e n o r d n u n g des Kleisthenes zugrunde gelegt. So präsentierte sich der I n h a l t der alten aristokratischen Dichtung in demokratischem R a h m e n . Das K u l t u r g u t der Adelswelt wurde auf diese Weise in die von den D e m o k r a t e n bestimmte Entwicklung integriert. Neben der Organisationsform fällt ein anderes Moment im Demokratisierungsprozeß schwer ins Gewicht. D a ß die neue Ordnung der zehn Phylen die Basis für die D i t h y r a m benchöre bildete, gab der kulturellen Aktivität der Bürger Auftrieb. Die zehn Männerchöre zu je 50 Mitgliedern machen immerhin 500 Beteiligte aus, u n d rechnet m a n die zehn Jungenchöre mit ebenfalls je 50 Mitwirkenden hinzu, ergibt sich die Zahl von 1000, die a n den Großen Dionysien in den chorischen Darbietungen des Theaters auft r a t e n . I n dieser Weise sind auch die kulturellen Möglichkeiten des Demos durch die Kleisthenischen R e f o r m e n erweitert worden. Die dramatischen G a t t u n g e n , die im 5. J h . in A t t i k a a u f b l ü h t e n , Tragödie wie Komödie, h a b e n beide einen eminent gesellschaftlichen Charakter, so unterschiedlich ihr Sujet, der Gegenstand ihrer Gestaltung, auch ist. W ä h r e n d die Komödie die Poliswirklichkeit nahezu direkt widerspiegeln konnte, indem sie zeitgenössische Gegebenheiten u n v e r m i t t e l t in das Spiel mit einbezieht, auf zeitgenössische Institutionen ohne einen poetischen K o d e Bezug n i m m t u n d unbedenklich historische Personen a u f t r e t e n läßt — während der Komödie also bei ihren Subjekt-Objekt-Beziehungen ein bein a h e direkter Zugang zum Polisleben offenstand, obwohl die Realität im Komischen zugespitzt, phantastisch ausgestaltet und so im ganzen in genialer Verzerrung dargestellt wird, war die Tragödie im allgemeinen auf das Medium des H e r ö e n m y t h o s angewiesen, u m die aktuellen Probleme im Theater zu diskutieren. Mythos u n d aktuelle Probleme? So unvereinbar eine Verbindung beider Bereiche auf den ersten Blick erscheint — die Praxis der Tragödie beweist, d a ß mythische Welt u n d Polisaktualität einander keineswegs ausschließen, sondern in der Lage sind, im K u n s t w e r k zu einer ästhetischen Einheit von so hohem R a n g zu verschmelzen, daß die attische Tragödie als K r o n e der griechischen Dichtung angesehen werden k a n n . Aristoteles jedenfalls h a t in seiner „ P o e t i k " die Tragödie höher bewertet als das E p o s (1462b 12-15). Eine Tragödie b e r u h t auf einem Konflikt. Schon die mehr a n d e u t e n d e n als ausführenden Darlegungen zu d e n historischen Bedingtheiten lassen erkennen, welche Fülle an Konfliktstoff A t h e n mindestens seit Solons Zeit barg. Die gesellschaftlichen Widersprüche u n d Spannungen, die politischen Auseinandersetzungen, die verschiedenen kriegerischen Ereignisse — nachzulesen in jeder Geschichte Griechenlands —, die Auswirkungen der sich immer weiter entfaltenden W a r e n p r o d u k t i o n — diese Verhältnisse u n d weitere widerspruchsreiche Entwicklungen des 6. u n d 5. J h . riefen in der Polis bisher nicht erlebte Konflikte hervor. Hinzu k o m m t die Tradition tragischer Geschicke aus der urgesellschaftlichen Frühzeit. Die individuellen u n d gesellschaftlichen K a t a s t r o p h e n , wie sie sich in der Gegenwart abspielten u n d in der Vergangenheit zugetragen h a t t e n , erwiesen sich jedenfalls als ergiebige Inspirationsquellen f ü r die Tragödien des Theaters. Wie in der politischen Wirklichkeit, galt es auf der tragischen Bühne, Stellung zu nehmen u n d Rechenschaft abzulegen, was jedoch a n bestimmte Voraussetzungen gebunden ist. „Zum w a h r h a f t tragischen H a n d e l n " , formulierte Hegel in seiner „Ästhe-

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tik", „ist es notwendig, daß bereits das Prinzip der individuellen Freiheit und Selbständigkeit oder wenigstens die Selbstbestimmung, für die eigene Tat und deren Folgen frei aus sich selbst einstehen zu wollen, erwacht sei." 75 Diese Grundbedingungen tragischen Handelns begannen sich in Attika auf breiter Basis seit Solons Befreiungsmaßnahmen, also in der Entstehungszeit tragischen Spiels, herauszubilden. Sie waren spätestens mit der Begründung der Polisdemokratie ca. 508/07 gegeben. Wie das Individuum unter den neuen Gegebenheiten im demokratischen Stadtstaat agieren konnte, hing bekanntermaßen entscheidend von seiner gesellschaftlichen Stellung ab. Aber ungeachtet der sozial differenzierten Handlungsmöglichkeiten waren Diskussion, Verantwortung und freie Entscheidung durch die Kleisthenischen Reformen in besonderem Maße zu Prinzipien des öffentlichen Lebens geworden. Eben jene demokratischen Prinzipien fanden sich nicht nur auf der politischen Bühne, sondern waren auch im tragischen Bezirk wesentliche Bedingungen, 76 sie waren dem Dialektisch-Dialogischen der Tragödie, wie oben ausgedrückt, immanent. Unter solchen Voraussetzungen erwies sich die Tragödie als geeignet, die aktuellen Probleme Athens in künstlerischer Form zu gestalten. Die Beziehungen zwischen Geschichte und Tragödie wurden in der Forschung verschiedentlich behandelt, 7 7 wobei die Auffassungen weit auseinandergehen. Es erforderte viel Scharfsinn, in den Texten der Tragiker „Anspielungen" auf zeitgenössische Ereignisse aufzuspüren. Die Jagd auf Einzelheiten grenzt die Zeitbezogenheit der tragischen Dichtung auf mögliche Berührungspunkte ein, so daß das Detail eine übermäßige Bedeutung erhält und das Ganze notwendigerweise aus dem Blick gerät. 78 Bei den Beziehungen zur historischen Realität geht es aber nicht um diese oder jene Anspielung innerhalb des Textes, 79 sondern um das ganze Kunstwerk, das sich als umfassendes 75

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G. W . F . Hegel, Ästhetik, nach der zweiten A u s g a b e H . G. H o t h o s (1842) redigiert . . • v o n F. Bassenge, B d . 2, 3. Aufl. Berlin - W e i m a r 1976, 557. Vgl. H . K u c h , Polisdemokratie und Tragödie, in: D i e R o l l e der V o l k s m a s s e n in der Geschichte der vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen. Z u m X I V . Internationalen Historiker-Kongreß in San Francisco 1975 hrsg. v o n J. H e r r m a n n u n d I. Sellnow, Berlin 1975 (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für A l t e Geschichte u n d Archäologie der A k a d e m i e der W i s s e n s c h a f t e n der D D R 7), 2 6 3 - 2 7 6 , bes. 271; v^l. auch 267. Mit R e c h t hebt Chr. Meier in der Bochumer Diskussion „Dramentheorie — Handlungstheorie" (20. und 21. 6. 1975), in: P o e t i c a 8, 1976, 3 2 1 - 4 5 0 , die „außerordentlich erweiterten Möglichkeiten des H a n d e l n s und Bewirkens" hervor, die „mit d e m Gang zur D e m o k r a t i e freigesetzt" wurden und in der Demokratie „kulminierten" (439). D a ß die Tragödie nach i h m „— w e n n auch gewiß nicht durchweg — eine Oppositionsfunktion" wahrgen o m m e n haben soll, „nämlich aus der archaischen Vorstellungswelt heraus . . . Grenzen und Unabsehbarkeiten menschlichen H a n d e l n s vorzuführen und d a m i t den verbreiteten O p t i m i s m u s in Frage zu stellen" (440), schränkt das F u n k t i o n s s p e k t r u m der Tragödie unzulässig ein. Vgl. auch den H i n w e i s v o n H . Flashar (ebd. 442), daß die Tragödie „doch zu großen Teilen gerade auch die Ü b e r w i n d u n g mythischer Unberechenbarkeiten" zeigt. W e n n indessen G. Müller in seinem „Antigone"-Kommentar, Heidelberg 1967, für die „überzeitliche B e d e u t u n g " (14) der D i c h t u n g eintritt, g e h t er hinter P o s i t i o n e n zurück, die bereits v o m Historismus erreicht wurden. Vgl. auch J. de R o m i l l y , La tragédie grecque, 2. A u f l . Paris 1973 (Littératures anciennes 1), 165. Vgl. F. Stoessl, in: A c t a CongressusMadvigiani. P r o c e e d i n g s o f the Second I n t e r n a t i o n a l Congress of Classical Studies, B d . 1: General part, K o b e n h ^ v n 1958, 162—165, bes. 1 6 5 .

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HEINBICH

KUCH

ä s t h e t i s c h e s P h ä n o m e n auf d i e W i r k l i c h k e i t richtet, j a u m die g a n z e G a t t u n g in ih. Av i e l s e i t i g e n W i r k u n g s s t r u k t u r i e r t h e i t . W i e s i c h in d e n D r a m e n d e s E u r i p i d e s „die g e s a m t e G e s c h i c h t e seiner Z e i t " f i n d e t , w u r d e w i e folgt g e s e h e n : „ J e d e E r f a h r u n g , u n d jeder G e d a n k e , d i e seine E p o c h e b e w e g t e n ; j e d e H o f f n u n g , d i e sie b e f l ü g e l t e , j e d e E n t t ä u s c h u n g , die sie n i e d e r w a r f " , w u r d e n in d i e K u n s t a b s o r b i e r t . 8 0 A n der t r a g i s c h e n K u n s t l ä ß t sich in der T a t der Z u s t a n d d e s S t a d t s t a a t e s a b l e s e n . D i e t r a g i s c h e D i c h t u n g e n t n i m m t ihr S u j e t der g e s a m t e n P o l i s r e a l i t ä t , u n d sie r i c h t e t s i c h a u c h auf d i e s e s G a n z e . 8 1 I n s o f e r n sie sich auf d i e R e a l i t ä t g r ü n d e t , sich d i e W i r k l i c h k e i t ä s t h e t i s c h a n e i g n e t in s t ä n d i g e m W a n d e l s o w i e in u n a b l ä s s i g e r W e c h s e l w i r k u n g m i t jener sich d i a l e k t i s c h e n t w i c k e l n d e n W i r k l i c h k e i t u n d d a b e i g e r a d e a u c h die w e s e n t l i c h e n B e d i n g u n g e n der g e s e l l s c h a f t l i e h e n wie i n d i v i d u e l l e n E x i s t e n z g e s t a l t e t — i n s o f e r n ist die Tragödie realistisch.82 80

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G. Z u n t z , E u r i p i d e s u n d die P o l i t i k seiner Zeit, i n : E u r i p i d e s , hrsg. v o n E . - R . Schwinge, D a r m s t a d t 1968 ( W e g e d e r F o r s c h u n g 89), 417—427 ( = C o n t e m p o r a r y P o l i t i c s in t h e P l a y s of E u r i p i d e s , i n : A c t a Congressus M a d v i g i a n i . P r o c e e d i n g s of t h e Second I n t e r n a t i o n a l Congress of Classical S t u d i e s , B d . 1: G e n e r a l p a r t , K o b e n h a v n 1958, 155—162), Z i t a t 424. Vgl. A . L e s k y , D i e t r a g i s c h e D i c h t u n g d e r H e l l e n e n (vgl. A n n i . 1), 360, ü b e r E u r i p i d e s : „. . . w o h l a b e r r e g t sich a n allen E c k e n u n d E n d e n seines W e r k e s die P r o b l e m a t i k d e r Zeit, in die er sich gestellt s a h . " G e m e s s e n a n d e r „ G e s a m t h e i t j e n e s D a s e i n s " (G. Z u n t z , E u r i p i d e s u n d die P o l i t i k seiner Zeit [vgl. A n m . 80], 424), zeigt es sich, wie s c h m a l d e r P f a d ist, auf d e m sich die p s y c h o a n a lytisch o r i e n t i e r t e n V e r s u c h e b e w e g e n ; vgl. beispielsweise G. D e v e r e u x , D r e a m s in G r e e k T r a g e d y . A n E t h n o - P s y c h o - A n a l y t i c a l S t u d y , B e r k e l y 1976. P s y c h o a n a l y t i s c h e u n d s t r u k t u r a l i s t i s c h e K o n z e p t i o n e n v e r b i n d e t Ch. Segai, P e n t h e u s a n d H i p p o l y t u s on t h e Couch a n d o n t h e G r i d : P s y c h o a n a l y t i c a n d S t r u k t u r a l i s t R e a d i n g s of G r e e k T r a g e d y , i n : T h e Classical W o r l d 72, 1978, 129—148. Z u r „ e x i s t e n t i a l i s t p s y c h o a n a l y s i s " v o n W . Sale, E x i s t e n t i a l i s m a n d E u r i p i d e s : Sickness, T r a g e d y a n d D i v i n i t y in t h e M e d e a , t h e H i p p o l y t u s a n d t h e B a c c h a e , C l a y t o n / V i c t o r i a 1977, k r i t i s c h P . G. M a s o n , T h e J o u r n a l of H e l l e n i c S t u d i e s 99, 1979, 174f. Z u r P r o b l e m a t i k d e s R e a l i s m u s vgl. C. T r ä g e r , M e t h o d o l o g i s c h e P r o b l e m e d e r R e a l i s m u s f o r s c h u n g . A n t i k e s E r b e u n d sozialistische G e g e n w a r t , i n : W e i m a r e r B e i t r ä g e 20, 1974, H e f t 4, 5—30; W . H o f m a n n u n d J . W e r n e r , R e a l i s m u s in d e r a n t i k e n K u n s t u n d L i t e r a t u r , i n : D a s A l t e r t u m 19, 1973, 255—259; R . Müller, Z u m P r o b l e m d e s R e a l i s m u s in d e r a n t i k e n L i t e r a t u r , e b d . 20,1974,10—16. F ü r d a s P r o b l e m f e l d G e s c h i c h t e u n d T r a g ö d i e sollen a u ß e r d e n b e r e i t s a n g e f ü h r t e n S t u d i e n n o c h f o l g e n d e A r b e i t e n g e n a n n t w e r d e n , die in u n t e r s c h i e d l i c h e r W e i s e d i e T r a g ö d i e z u r h i s t o r i s c h e n R e a l i t ä t in B e z i e h u n g s e t z e n : T. B . L . W e b s t e r , P o l i t i c a i I n t e r p r é t a t i o n s in G r e e k L i t e r a t u r e , M a n c h e s t e r 1948, 28—55; J . Carrière, L a t r a g é d i e g r e c q u e , a u x i l i a i r e d e la j u s t i c e e t d e la p o l i t i q u e , i n : S t u d i i clasice 15, 1973, 13—21; J . - P . V e r n a n t , L e m o m e n t h i s t o r i q u e de la t r a g é d i e en G r è c e : q u e l q u e s c o n d i t i o n s sociales e t p s y c h o l o g i q u e s , i n : J . - P . V e r n a n t , P . VidalN a q u e t , M y t h e e t t r a g é d i e en Grèce a n c i e n n e , P a r i s 1973, 11—17 ( = A n t i q u i t a s GraecoR o r n a n a ac t e m p o r a n o s t r a . A c t a C o n g r e s s u s I n t e r n a t i o n a l i s h a b i t i B r u n a e d i e b u s 1 2 - 1 6 m e n s i s Aprilis M C M L X V I , P r a h a 1968, 2 4 6 - 2 5 0 ) ; J . D a l f e n , Polis u n d Poiesis. D i e A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t d e r D i c h t u n g bei P l a t o n u n d seinen Zeitgenossen, M ü n chen 1974, bes. 72 u n d 81 ; P . W a l c o t , G r e e k D r a m a in I t s T h e a t r i c a l a n d Social C o n t e x t , Cardiff 1976. B e i aller A n e r k e n n u n g d e r R e v e r e n z , die v o n P . W a l c o t d e r M a c h t d e s g e s p r o c h e n e n W o r t e s e n t g e g e n g e b r a c h t wird (ebd. 22—43; 102), u n d u n g e a c h t e t d e r schönen B e o b a c h t u n g e n allenthalben zur Theaterpraxis m u ß doch gesagt werden, daß die P u b l i k a t i o n die E r w a r t u n g e n n i c h t g a n z e r f ü l l t , die ihr T i t e l z u m „social c o n t e x t " e r w e c k t . Z u v e r g l e i c h e n b l e i b e n die w e r t v o l l e n I n t e r p r e t a t i o n e n v o n F . Stoessl, die als

Gesellschaftliche V o r a u s s e t z u n g e n u n d Sujet

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"Als Beispiele für das, was auf der tragischen Bühne gestaltet wurde, kommen zuerst die ständigen Fragen nach dem Wesen der Welt, des Menschen und der Gesellschaft in Betracht. Damit eng verbunden, nehmen der zählebige traditionelle Götterglauben und die vordringenden Ideen der rationalistischen Aufklärung einen weiten R a u m ein sowie die Vorstellungen eines übermächtig waltenden Schicksals, aber auch die K r a f t des Menschen, der sich in wachsendem Maße seiner menschlichen Möglichkeiten bewußt zu werden beginnt und die Schranken der Konvention zu durchbrechen sucht, um sich neue Bereiche zu erschließen. Bei der Anführung von Beispielen sind nicht zufällig Gegensatzpaare aufgetreten, die den antinomischen Charakter des tragischen Spiels unterstreichen, und an Gegensätzlichkeiten bleiben Notwendigkeit und Zufall zu nennen, Vernunft und Irrationales, fast erschreckend nüchterne Klarheit und wiederum unbändig hervorbrechendes Pathos, humane Höhen des Ethos, aber daneben Barbarisches, das sich in der Vernichtung entfaltet. Diese und weitere Gegensätze treten uns in tragischer Verstrickung entgegen, in unerbittlicher Auseinandersetzung, die oft zur Selbstbehauptung, aber meistens zur Katastrophe führt. Was die Tragödie realitätsbezogen durchspielt, findet sich jedoch im allgemeinen aus der athenischen Wirklichkeit in die Welt des Mythos projiziert. Damit war ein Bereich gewonnen, der für die künstlerischen Aussagen der Dichtung ein beinahe unerschöpfliches ästhetisches Reservoir bietet. Der Mythos, eine frühe Form zur geistigen Bewältigung von Natur und Gesellschaft, war allgemein bekannt und galt in Griechenland offenbar als eigene Geschichte. Er wurde bereits im homerischen Epos wie in der Lyrik reflektiert, aber im 5. J h . erreichte die geistige Durchdringung des Mythos eine neue Qualität, da die Interpretation von den gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnissen der Polisdemokratie ausging. In der Anfangsphase des Jahrhunderts wurde eine weitere ästhetische Möglichkeit der Gestaltung von Zeitgeschehnissen erprobt. Phrynichos griff nach dem Ionischen Aufstand (Herbst 494 Fall von Milet) zu einem direkt zeitgenössisch historischen Stoff, als er seine „Eroberung Milets" schrieb, die vermutlich 492 aufgeführt wurde. Die thematische Neuerung, also der Übergang aus dem Reich des Mythos in die Sphäre jüngster Geschichte, erfolgte möglicherweise als eine Reaktion auf die unmittelbare Persergefahr. Die hautnahe persische Bedrohung scheint den Tragödienstoff zeitnah gemacht zu haben. Da aber der Mythos gleichfalls als Geschichte angesehen wurde, war der Sprung aus jener frühen „Geschichte" in die Zeitgeschichte vielleicht nicht gar so weit. Schon zwei Jahre nach der „Eroberung Milets" des Phrynichos sah sich Griechenland einer Perserinvasion gegenüber (490 Schlacht bei Marathon). Die Verwendung direkt historischen Sujets in der Tragödiendichtung scheint sich in dieser Phase auf den F o r t s e t z u n g seines Aufsatzes „Die A n f ä n g e der Theatergeschichte A t h e n s " (vgl. A n m . 61) erschienen sind (2: „Die Jahre der frühesten erhaltenen Texte"), in: Grazer Beiträge 8, 1979, 57—73. Mit wichtigen Einsichten F . K o l b , Polis u n d Theater, in: D a s griechische Drama, hrsg. v o n G. A . Seeck, D a r m s t a d t 1979, 504—545, auch wenn die spezifisch gesellschaftlichen B e d i n g u n g e n sehr summarisch erfaßt werden, so daß die „kraftvollen Spannungen" (ebd. 516) der Gesellschaft offenbleiben. W a s in dieser P u b l i k a t i o n beachtlich, w a s erstaunlich erscheint, k a n n hier nicht weiter ausgeführt w e r d e n ; vgl. dazu d e m n ä c h s t die R e z e n s i o n v o n H . K u c h in der „Klio". Chr. Meier, A i s c h y l o s ' E u m e n i d e n und das A u f k o m m e n des Politischen, i n : D i e E n t s t e h u n g des P o l i t i s c h e n bei den Griechen, Frankfurt a. M. 1980, 144—246. Mit revolutionierender F r a g e s t e l l u n g V. Citti, Tragedia e lotta di classe in Grecia, N a p o l i 1979. 3

Griech. Tragödie

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HEINRICH KUCH

Bereich der persisch-griechischen Auseinandersetzungen 83 beschränkt zu haben, in denen es für Griechenland um Sein oder Nichtsein ging. Phrynichos legte die Entscheidungsschlacht bei Salamis (480) seinen „Phoinissen" zugrunde, die wohl mit der für 476 bezeugten Aufführung in Zusammenhang zu bringen sind. Der Eindruck des unter Anspannung aller Kräfte errungenen Sieges, der angesichts der persischen Übermacht vorher sehr in Frage stand — dieser Eindruck wirkte so stark, daß Aischylos schon vier Jahre nach den „Phoinissen" die gleiche historische Thematik in seinen „Persern" (472) wiederaufnehmen konnte. Spätestens in den „Persern" zeigten sich indessen die Spannungen zwischen historischem Gegenstand und dichterischer Gestaltung. Der Dichter hatte sich im Interesse des Kunstwerkes erlaubt, geschichtliche Zustände etwas zu verändern, was den Zeitgenossen auffallen mußte. 8 4 Durchgreifende Änderungen am historischen Geschehen vorzunehmen verbot andererseits die geschichtliche Wahrheit. So konnte sich das dichterische Ingenium, im großen und ganzen an den Gang der tatsächlichen Ereignisse gebunden, nur in bestimmten Grenzen entfalten. Die unmittelbar zeitgenössische Thematik wurde unter diesen Bedingungen in der Tragödie, so paradox es auch erscheint, zum Hemmnis für die ästhetische Durchdringung der Zeit. Daß zeitgenössische Thematik und dichterische Gestaltung einander ausschließen, läßt sich von dem vorliegenden Fall aus literaturtheoretisch keineswegs verallgemeinern, und schon Aristoteles hat hier im Prinzip das Richtige gesehen. Auch wer „Geschehenes" zur Darstellung bringt, ist ein Dichter (Poetik 1451b 29f.), wobei sich der Theoretiker auf die Bedeutung beruft, die er in seinem Dichtungsverständnis dem Wahrscheinlichen zumißt (vgl. ebd. 1451 a 36—38 und unten S. 35): denn manches Geschehene sei in der Wirklichkeit so vor sich gegangen, wie es nach der Wahrscheinlichkeit hätte geschehen können (1451b 30f.). Indem Aristoteles keine Bedenken hat, das Reale auf diese Weise der für ihn maßgeblichen Kategorie des Wahrscheinlichen unterzuordnen, hält er die Behandlung unmittelbar zeitgenössischer Thematik für poetisch legitim. Wenn die Umstände der Wirklichkeit wieder berücksichtigt werden sollen, erwies sich das direkt historische Sujet immerhin noch aus einem anderen Grunde in der tragischen Dichtung als hemmend. Die junge Polisdemokratie zeigte sich überaus empfindlich gegen die Exponierung einzelner Bürger, worin eine Gefährdung der eben erreichten politischen Isonomie gesehen wurde. 85 Nicht zufällig bestand im Athen des 83

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W i e zur Zeit der Bedrohung durch die Perser zeitgenössische H a l t u n g e n auch m i t den Möglichkeiten des M y t h o s gestaltet wurden, macht B . D ö h l e wahrscheinlich: D i e „Achilleis" des Aischylos. E i n e Theaterinszenierung und ihre ideologische W i r k u n g auf die athenische Polisgesellschaft i m Spiegel v o n Darstellungen der bildenden K u n s t , i n diesem B a n d S . 1 6 1 - 1 7 2 . D i e auffälligsten dichterischen Freiheiten, die sich Aischylos in den „Persern" gegenüber der Geschichte gestattete, behandelte D . J. Conacher, Aeschylus' Persae: a Literary Commentary, in: Serta Turyniana. Studies in Greek Literature and P a l a e o g r a p h y in Honor of A. Turyn, ed. b y J. L. Heller with t h e assistance of J. K . N e w m a n , U r b a n a — Chicago - L o n d o n 1974, 1 4 3 - 1 6 8 , bes. 147f. Vgl. E . G. Schmidt, D a s Menschenbild bei Aischylos und Sophokles, in: Der Mensch a l s Maß der Dinge. Studien z u m griechischen Menschenbild in der Zeit der B l ü t e u n d Krise der Polis, hrsg. v o n R . Müller, Berlin 1976 (Veröffentlichungen des Z e n t r a l i n s t i t u t s für A l t e Geschichte und Archäologie der A k a d e m i e der W i s s e n s c h a f t e n der D D R 8), 9 3 - 1 3 5 , bes. 102.

Gesellschaftliche Voraussetzungen u n d Sujet

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5. J h . eine Abneigung, Einzelpersönlichkeiten, welche Verdienste sie a u c h immer vorzuweisen h a t t e n , durch die Aufstellung öffentlicher E h r e n s t a t u e n auszuzeichnen. 8 6 U n d offenbar waren Aischylos die H ä n d e gebunden, wenn er in den „Persern" auf griechischer Seite keine Individuen herausstellte. Gefeiert wurde die Kollektivität des attischen Demos. Die a u f t r e t e n d e n Personen sind ausnahmslos P e r s e r : Atossa, der Bote, die Erscheinung des Dareios, Xerxes, was durch den Kunstgriff erreicht wurde, d a ß das Stück fernab von Griechenland auf persischem Boden spielt. Aus den genannten Gründen k o n n t e sich jedenfalls das direkt historische S u j e t in der attischen Tragödie des 5. J h . nicht durchsetzen. Dagegen sah sich u n t e r den gesellschaftlichen u n d kulturellen Bedingungen der römischen R e p u b l i k die national ausgerichtete d r a m a tische Dichtung der F a b u l a p r a e t e x t a in keiner Weise gehindert, Persönlichkeiten der Gegenwart zu verherrlichen. Naevius' Stück „Clastidium" feierte den Sieg des M. Claudius Marcellus (222), die „Ambracia" des E n n i u s die E r o b e r u n g der gleichnamigen S t a d t durch M. Fulvius Nobilior (189). Als Sujet der Tragödie h a t sich der Mythos durchgesetzt. Aristoteles n e n n t ihn „gleichsam die Seele . . . der Tragödie" (Poetik 1450a 38f.). Der mythische Stoff, überaus modulierbar im R a h m e n der vielschichtigen Überlieferung u n d vielfältig auszudeuten (vgl. ebd. 1453b 22—26), bot einen n a h e z u unbegrenzten Spielraum. 8 7 Ohne d a ß Rücksicht auf die offizielle H a l t u n g zu Individuen genommen werden m u ß t e , ließ der Mythos im Gegenteil eine fast grenzenlose Freiheit in der Zeichnung v o n Einzelpersonen, auch wenn einzuräumen ist, d a ß f ü r die Individuen der griechischen Tragödie im Vergleich zu modernen Individualitäten eine b e s t i m m t e Großflächigkeit c h a r a k t e r i stisch bleibt. Nach der Aristotelischen „ P o e t i k " ist es Aufgabe eines Dichters, nicht das Geschehene darzustellen, sondern was h ä t t e geschehen k ö n n e n u n d was möglich wäre nach der Wahrscheinlichkeit oder der Notwendigkeit (1451a 36—38). Diese literaturtheoretische Position unterstreicht, wie sich f ü r die dichterische Gestaltung mit den Mitteln des Mythos weite Horizonte öffnen, weite Möglichkeiten, u m Mensch, Gesellschaft u n d Welt im tragischen Geschehen ästhetisch zu vergegenständlichen u n d sie, wenn nicht zu ergründen, so doch gegebenenfalls d u r c h s c h a u b a r e r zu m a c h e n . Die poetische Weiträumigkeit begünstigte das Spiel des E x p e r i m e n t s (vgl. ebd. 1453 b 25f.) in einem Maße, d a ß von der tragischen D i c h t u n g auch k ü n f t i g e menschliche Möglichkeiten antizipiert werden konnten, die im 5. J h . erst in Ansätzen vorlagen. Wie sollte hierbei nicht das Problem der Selbstverwirklichung des Menschen e r w ä h n t werden? Der Mythos h a t t e noch einen weiteren ästhetischen Vorzug. Seine Adaptionsfähigkeit erlaubte es in großzügiger Weise, individuelle u n d gesellschaftliche G r u n d situationen in modellhafter Ausprägung zu gestalten. D a s b e d e u t e t nichts weniger als den mutigen Schritt zur Verallgemeinerung. W a s Aristoteles zum C h a r a k t e r der Dichtung aussagt, erscheint auch in diesem Z u s a m m e n h a n g wesentlich, wobei der Vergleich mit der Geschichtsschreibung das Wesen der Dichtung n o c h ' s c h ä r f e r 66

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E . K l u w e , A t t i s c h e A d e l s g e s c h l e c h t e r u n d i h r e R o l l e als A u f t r a g g e b e r in d e r b i l d e n d e n K u n s t d e r s p ä t a r c h a i s c h e n u n d f r ü h k l a s s i s c h e n Zeit, e b d . 29—63, v o r a l l e m 58—62; V . Zinserling, L e i t b i l d v o r s t e l l u n g e n in d e r b i l d e n d e n K u n s t d e r F r ü h k l a s s i k , e b d . 6 5 - 9 2 , bes. 76. Vgl. a u c h B . Snell, M y t h o s u n d W i r k l i c h k e i t in d e r g r i e c h i s c h e n T r a g ö d i e (vgl. A n m . 65), 95—110, bes. 109. Ü b e r d e n Begriff d e s M y t h o s in d e r „ P o e t i k " d e s A r i s t o t e l e s v g l . A . F . L o s e v , I s t o r i j a a n t i c n o j e s t e t i k i . A r i s t o t e l ' i p o z d n j a j a k l a s s i k a , M o s k v a '1975, 440f.

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profiliert. Der Geschichtsschreiber stellt die historische Realität dar, der Dichter die Möglichkeiten (vgl. Poetik 1451 b 4 f.). 88 „Deshalb ist die Dichtung auch philosophischer u n d bedeutender als die Geschichtsschreibung", denn die Dichtung stelle mehr das Allgemeine dar, die Geschichtsschreibung das Einzelne (ebd. 1451 b 5—7). Das b e t r i f f t die Tragödie in besonderem Maße, die in der T a t nicht so sehr die Fragen des Tages als vielmehr die F r a g e n der Zeit aufgreift. Gerade in der Überwindung der zeitgebundenen Einzelheiten u n d in der dichterischen Verallgemeinerung liegt die poetische Leistung der Tragödie. W o k o n k r e t e Details der demokratischen Polis, also einer im Vergleich zur mythischen Welt relativ komplizierten Gesellschaftsform, von Belang sind, wurden sie im allgemeinen auf dem Wege poetischer Umschreibung in die Sublimität der Dichtung integriert. Auf der E b e n e künstlerischer Verallgemeinerung, aus der alltäglich Zufälliges e n t f e r n t zu werden pflegte, gelang die dichterische Aneignung der Wirklichkeit mit dem Mythos, wie die erhaltenen Tragödien beweisen. Übrigens waren offenbar auch die unmittelbar zeitgenössischen Stoffe zum Aufzeigen eines modellhaft Allgemeinen verpflichtet, was sich a n den „Persern" des Aischylos erkennen läßt, in denen das Thema der H y b r i s u n d Ate eine zentrale Stellung einnimmt. 8 9 Die Zeitgeschichte in der Tragödie h a t t e in diesem P u n k t wohl den Mythos zum Muster. Das gilt vielleicht noch in einem anderen Fall. Die Geschehnisse der mythischen Welt lagen zeitlich weit zurück. Sie waren u m so klarer in den Blick zu fassen, als sie sich in einer bestimmten Distanz zum Betrachter befanden. Gleichfalls weit entfernt, aber örtlich entfernt, präsentieren sich die von der Tragödie ausgewählten zeitgenössischen Ereignisse, insofern die dramatische H a n d l u n g fernab von Griechenland spielte. 90 So setzte der Mythos gewissermaßen die M a ß s t ä b e f ü r die Gestaltung der Zeitgeschichte, wenn es nicht die Erfordernisse des Genos waren. Seine weiten dichterischen Möglichkeiten sicherten dem Mythos jedenfalls im 5. J h . , n a c h d e m sich das direkt zeitgenössische Sujet im ganzen als unzulänglich erwiesen hatte, die uneingeschränkte Herrschaft in der Tragödie u n d der Tragödie ein a d ä q u a t e s Gestaltungsmittel, u m die Fragen, die die Polis bewegten, öffentlich klären zu helfen. Nach Hegel ist das K u n s t w e r k „wesentlich eine Frage, eine Anrede an die widerklingende B r u s t " , bis es in weiterem Z u s a m m e n h a n g „ein Zwiegespräch mit j e d e m " wird, „welcher d a v o r s t e h t " . 9 1 I n dieser Tradition befindet sich die Feststellung, „das sprachliche K u n s t w e r k " ist „nicht in die L u f t hinein u n d nicht f ü r den N a c h r u h m , sondern im Hinblick auf einen konkreten E m p f ä n g e r geschrieben". 9 2 Die von K . Marx aufgedeckten dialektischen Beziehungen zwischen P r o d u k t i o n u n d K o n s u m t i o n k o n n t e n in letzter Zeit f ü r die moderne Literaturtheorie f r u c h t b a r gemacht werden, 88

Vgl. auch A. I. D o v a t u r , Aristotel' i istorija, in: Vestnik drevnej istorii 1978, 3 (145), 3-9. 89 Vgl. auch D . J. Conacher, Aeschvlus' Persae: a Literatury C o m m e n t a r y (vgl. A n m . 84), 1 4 3 - 1 4 5 . 90 Vgl. V . Ehrenberg, F r o m Solon t o Socrates. Greek H i s t o r y and Civilization during t h e S i x t h and F i f t h Centuries B . C., London 1971, 172. 91 G. W . F . Hegel, Ä s t h e t i k (vgl. A n m . 75), B d . 1, 3. Aufl. Berlin - Weimar 1976, 79 und 259. 92 W. Krauss, Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag. Studien und Aufsätze, Berlin 1959 (Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft 8), 19—71, Zitat 66. Vgl. W . Krauss, Grundprobleme der Literaturwissenschaft. Zur Interpretation literarischer Werke, Reinbek bei H a m b u r g 1971, 39.

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wobei die „dialogische Struktur" des Werkes und sein „Adressatenbezug" eine wesentliche Rolle spielen. 93 In hohem Maße wirkungsästhetisch strukturiert ist nicht zuletzt die griechische Literatur. 9 4 Der ausgeprägt öffentliche Charakter der tragischen Dichtung 95 weist nicht nur auf das F a k t u m , sondern auch auf die Intention einer Einwirkung auf ihr Publikum. Das tragische Spiel fand im 5. J h . in Athen auf der Orchestra des Dionysostheaters statt, das bedeutet: inmitten der Zuschauer, ohne daß eine hohe Proskenienbühne die dramatische Erörterung vom Publikum weiter abgerückt hätte,' wie es in hellenistischer Zeit geschah. Kein geringerer als Aristophanes 96 hat die gesellschaftliche Funktion der Tragödie klar aussprechen lassen, als er in seinen „Fröschen" vom J a h r 405, der ersten Literaturkomödie, den etwa 50 Jahre toten Aischylos und den gerade 407/06 gestorbenen Euripides im Hades in einem Dichterwettstreit zusammenführte. Da heißt es (1054f.): „Denn was für die Knaben der Lehrer ist, der sie bildet und lenkt, das ist für Erwachsne der Dichter", so übersetzt L. Seeger. Statt des einen Dichters in der deutschen Übertragung steht im griechischen Original der Plural : die Dichter, was für die Anzahl der Wirkungsquellen wie für die Vielfalt der Wirkungen nicht ohne Belang ist. Die zitierte Aussage über die gesellschaftliche Funktion der tragischen Dichtung wurde Aischylos in den Mund gelegt. Es ist interessant zu sehen, wie beide Konkurrenten, so sehr sie sich ästhetisch voneinander unterscheiden, in der Auffassung der gesellschaftlichen Aufgabe der Tragödie im Prinzip übereinstimmen. Als bewundernswerte Vorzüge des Dichters hob Euripides Talent und pädagogische Kunst hervor, „und daß wir die Polisbürger bessermachen" (1009f.), bevor Aischylos in den Versen 1054f., wie sich schon zeigte, die erzieherische Rolle der Dichter durch den Vergleich mit dem Lehrer unterstreicht, um fortzufahren: „Wir müssen unbedingt das Nützliche darlegen" (1056; vgl. 1031). Er sagte „wir",und das „Wir" gebrauchte schon Euripides in der eben erwähnten Partie (1009), was die Funktion der Gattung betont. Nachdem 93

M. N a u m a n n , Z u m P r o b l e m der „Wirkungsästhetik" in der Literaturtheorie, Berlin 1975 (Sitzungsberichte der A k a d e m i e der W i s s e n s c h a f t e n der D D R , Jg. 1974, 11), bes. 16f., Zitate 13. Vgl. die Ausführungen desselben Verfassers in: M. N a u m a n n , D . Schlenstedt, K . Barck, D . Kliche, R . Lenzer, Gesellschaft — Literatur — Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht, 2. A u f l . Berlin — Weimar 1975, 17—97. Ferner M . N a u m a n n , D a s D i l e m m a der „Rezeptionsästhetik", in: Weimarer B e i t r ä g e 23, 1977, H e f t 1, 5—21. Vgl. jedoch auch H.-G. Werner, Methodische P r o b l e m e wirkungsorientierter U n t e r s u c h u n g e n zur Dichtungsgeschichte, in: Weimarer Beiträge 25, 1979, H e f t 8, 1 4 - 2 8 . 9/ ' H . K u c h , Wirkungsästhetische A s p e k t e der griechischen Literatur, in : W i s s e n s c h a f t l i c h e Zeitschrift der Wilhelm-Pieck-Universität R o s t o c k , Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche R e i h e 27, 1978, 5 0 7 - 5 1 0 . 95 Vgl. auch J. de R o m i l l y , La tragédie grecque (vgl. A n m . 78), 163. Zur Öffentlichkeit des griechischen Theaters vgl. ebenfalls S. Melchinger, D a s Theater der Tragödie. A i s c h y l o s , Sophokles, Euripides auf der B ü h n e ihrer Zeit,'München 1974, 5; zu dieser P u b l i k a t i o n s . D e u t s c h e Literaturzeitung 98, 1977, 3 1 9 - 3 2 2 . Mit fruchtbaren Gedanken W . Rösler, Polis und Tragödie. Funktionsgeschichtliche B e t r a c h t u n g e n zu einer a n t i k e n Literaturgattung, K o n s t a n z 1980 (Konstanzer Universitätsreden 138). 96 Vgl. B . Snell, Aristophanes und die Ästhetik, in: D i e E n t d e c k u n g des Geistes. S t u d i e n zur E n t s t e h u n g des europäischen D e n k e n s bei den Griechen, 4. Aufl. G ö t t i n g e n 1975, 1 1 1 - 1 2 6 , bes. 112f.

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Aischylos bei dem Unterweltsagon der Komödie den Sieg errungen hatte, kehrt er nach Athen zurück „zum Nutzen für die Polisbürger" (1487),97 wie es der Chor sagt, damit die gesellschaftliche Funktion der Tragödie bekräftigend. Nach dem Zeugnis der Aristophanischen „Frösche" hat die Funktion der Tragödie einen humanisierenden Charakter. Sie realisierte sich in einer vielfältig künstlerischen Einflußnahme auf die Probleme der Polis. Andererseits läßt das reiche Aufgreifen von Fragen der Zeit erkennen, welche starken Impulse von der gesellschaftlichen Wirklichkeit auf die tragische Dichtung ausgingen. Die attische Tragödie wurde so zu einem Organ für das Selbstverständnis der Polisbürger. Sie wurde in wachsendem Maße zu einer spezifischen Form des gesellschaftlichen Bewußtseins, die die athenische Wirklichkeit aktiv mitprägte. I n diesem Sinne erfüllte die attische Tragödie eine bedeutsame gesellschaftliche Funktion 9 8 in der Polis. Die gesellschaftliche Funktion der tragischen Dichtung verwirklichte sich nach allem in einer reichen ästhetischen Objektivierung. Während die Tragödie im 5. J h . in besonderem Maße auch auf politisch erzieherische Wirkungen abzielte, setzte mit den veränderten historischen Verhältnissen im 4. J h . ein Funktionswandel ein. 99 I m Zusammenhang mit dem Trend weiter Kreise der Gesellschaft, sich ins Private und Individuelle zurückzuziehen, scheint es die nachklassische Tragödie, nicht ohne originelle Neuerungsbestrebungen, im ganzen stärker darauf angelegt zu haben, der Unterhaltung 1 0 0 und Zerstreuung zu dienen als sich konstruktiv für die Polis zu engagieren. Astydamas I I etwa griff das Interessante auf, das Überraschende, das Aufregende, und Chairemon wußte mit idyllischen Pikanterien zu brillieren. 101 Die Tragödie des 4. J h . hatte offenbar mehr Effekte als Effekt. Die Ausstrahlungen und Einwirkungen der tragischen Dichtung auf die athenische Gesellschaft werden — um wieder in das 5. J h . zurückzukehren — beträchtlich gewesen seim, auch wenn sie sich nicht bemessen lassen. Bei aller Zuversichtlichkeit erscheint indessen die Warnung berechtigt, den Einfluß des Theaters nicht zu überschätzen. 97

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Vgl. Frösche 686f. und schon Acharner 6 3 3 - 6 3 5 ; 641 f.; 6 5 6 - 6 5 8 : Vgl. auch Kratinos, Fr. 4 D e m i a ñ c z u k ( S u p p l e m e n t u m comicum. Comoediae Graecae fragmenta . . . collegit, disposuit . . . I. D e m i a ñ c z u k , K r a k o w 1912, S. 33). W e l c h e Anstrengungen die Nachbardisziplinen unternehmen, u m den Problemkreis literarischer F u n k t i o n e n zu untersuchen, machen folgende Veröffentlichungen deutlich F u n k t i o n der Literatur. Aspekte — Probleme — Aufgaben. Herausgeberkollektiv: D . Schlenstedt, B . Burmeister, I. Idzikowski, D . Kliche, Berlin 1975. Zur Problematik vgl. die R e z e n s i o n v o n H.-G. Werner, in: D e u t s c h e Literaturzeitung 98, 1977, 238—240; K o n t e k s t 1974. Literaturno-teoreticeskie issledovanija, Moskva 1975; K o n tekst 1979 . . Moskva 1980; Ideologie — Literatur — Kritik. Französische Beiträge zur marxistischen Literaturtheorie, hrsg. und m i t einer E i n l e i t u n g versehen v o n K . Barck und B . Burmeister, Berlin 1977; F u n k t i o n und Wirkung. Soziologische U n t e r s u c h u n g e n zur Literatur und K u n s t , hrsg. v o n D . Sommer, D . Löffler, A. W a l t e r und E . M. Scherf, Berlin — Weimar 1978. Vgl. schließlich M. K a g a n , D i e sozialen F u n k t i o n e n der K u n s t , in: K u n s t und Literatur 27, 1979, 1123—1144.

Vgl. H . K u c h , Zur Euripides-Rezeption i m Hellenismus, in: Klio 60, 1978, 1 9 1 - 2 0 2 , bes. 197 f. 100 Vgl. auch P. Ghiron-Bistagne, D i e Krise des Theaters in der griechischen W e l t i m 4. Jahrhundert v. u. Z., in: Hellenische Poleis. Krise — W a n d l u n g — Wirkung, hrsg. von Ch. Welskopf, B d . 3, Berlin 1974, 1 3 3 5 - 1 3 7 1 , bes. 1345 u n d 1348. 101 B. Snell, Szenen aus griechischen Dramen, Berlin (West) 1971, 1 3 8 - 1 5 3 und 1 5 8 - 1 6 9 .

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Plutarch war offensichtlich von der Wirkungslosigkeit der attischen Tragödie überzeugt (De gloria Atheniensium 348 cd). Wenn er etwa den Mauerbau des Themistokles oder die Freiheit Athens, deren Gewinn er Miltiades zuschreibt, den Leistungen der Tragödie gegenüberstellt, so geht der Autor zumindest sehr einfach und gegenständlich vor. Die Tragödie ist ein ideelles Produkt, ein Ergebnis des Bewußtseins. I n dieser Eigenschaft liegen die Möglichkeiten wie die Grenzen ihrer Wirkung beschlossen. Wer vom Theater, im 5. J h . wie auch heute, eine unmittelbar mechanische Umsetzung des Ideellen ins Materielle erwartet, überfordert die spezifischen Wirkungsbedingungen der Bühne. Um tiefgehende Veränderungen etwa der sozialen Struktur herbeizuführen, bedarf es der Gesamtheit der materiellen und geistigen Beziehungen einer Gesellschaft. Als Produkt des Bewußtseins ist die tragische Dichtung in der Lage, ihrerseits Bewußtsein zu entwickeln. So kann die Tragödie Wirklichkeit schaffen, u m die Wirklichkeit zu verändern.

Die Weltanschauung des Dichters und die Verantwortung des Helden in der griechischen Tragödie* Von

VIKTOR JAECHO

(Moskau)

Die Frage, inwieweit der Mensch für sein Tun verantwortlich sei und auf Grund welcher Kriterien er selbst und die Mitwelt sein Verhalten, die Motive und Auswirkungen seiner Handlungen beurteilen, ist eines der herausragenden Themen der griechischen Tragödie, und dies hat seine Gründe: Diese von der athenischen Demokratie hervorgebrachte und dem gesamten Kollektiv der Bürger zugewandte literarische Gattung war ihrer Natur nach dazu bestimmt, die zentralen Probleme der öffentlichen Moral zur Diskussion zu stellen. Dabei muß daran erinnert werden, daß die attische Tragödie nur ein Glied in einer bereits recht langen Kette der literarischen Entwicklung darstellte, in deren Verlauf das Heldenepos, das Lehrgedicht und schließlich alle Gattungen der antiken Lyrik entstanden und zur Blüte gelangt waren. Deshalb läßt sich das, was die griechische Tragödie zur Erörterung des Problems der Verantwortlichkeit beigetragen hat, nur dann in seiner ganzen Bedeutung erfassen, wenn man sich die überkommenen ideologischen Vorstellungen vergegenwärtigt, von denen sich die attischen Tragödiendichter abzusetzen hatten. Wenn wir bei der Untersuchung der Tragödien sowie der älteren literarischen Gattungen das Problem der'Verantwortlichkeit aus dem komplexen Zusammenhang von künstlerischen Bildern und ethischen Ideen, den jedes echte Kunstwerk darstellt, herauslösen, so birgt dies freilich die Gefahr einer gewissen Einseitigkeit in sich. Indessen ist die Zergliederung des lebendigen Organismus eines Kunstwerks unvermeidlich, wenn wir es unter einem vorgegebenen Blickwinkel analysieren wollen, und der verfügbare Raum zwingt uns zur Beschränkung auf wesentliche Seiten der Frage; wir möchten uns daher im folgenden auf die weltanschauliche Bedeutung des Problems der Verantwortlichkeit sowie auf den Umstand konzentrieren, daß die Entwicklung dieses Phänomens von ganz bestimmten Veränderungen in der Ideologie der athenischen Demokratie verursacht und vorangetrieben worden ist. Doch zunächst einige Bemerkungen zur traditionellen Auffassung von der Verantwortlichkeit des Menschen, wie die attische Tragödie sie zur Zeit ihrer Entstehung vorfand. 1.

Wie die Epen dieses Problem sahen, läßt sich in aller Kürze am Beispiel der drei Haupthelden der „Ilias" zeigen: am Beispiel des Achilleus, Agamemnon und Hektor. In der wissenschaftlichen Literatur wird Achilleus des öfteren dafür getadelt, daß sein unbändiger Stolz Patroklos das Leben gekostet, daß er sich über die Interessen des griechischen Heeres hinweggesetzt und damit den Tod vieler Krieger verschuldet * Aus dem Russischen übersetzt von Gottfried J a n k e .

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habe. Die Weigerung des durch Agamemnons Ungerechtigkeit gekränkten Achilleus, weiter am Kampf teilzunehmen, ist indes die ganz natürliche Reaktion des epischen Helden auf die Verletzung seiner Ehre, und ein um irgendeines höheren Zieles willen geeintes gesamtgriechisches Heer gibt es in der ganzen „Ilias" nicht. Die achäische Streitmacht vor Troja ist aus einzelnen Gefolgschaften zusammengewürfelt, an deren Spitze unabhängige Heerführer stehen. Jeder von ihnen trachtet danach, für sich und sein Geschlecht ewigen Ruhm zu erringen. Und was Patroklos anlangt, so hat ihn Achilleus keineswegs in den Kampf geschickt, sondern nur widerwillig seinem Drängen nachgegeben und ihn überdies gewarnt, die Achäer bis vor die Mauern Trojas zu führen (Ilias 16, 92). Wie kann Achilleus dafür verantwortlich gemacht werden, daß Patroklos seinen Rat nicht befolgte und so „nach dem Willen der Götter bezwungen" (Ilias 19, 9) wurde? Als er die Nachricht vom Tode des Patroklos erhält, bereut Achilleus seine angebliche „Abtrünnigkeit" nicht, sondern empfindet Zorn und Rachgier — diesmal gegenüber Hektor und den Trojanern, die so viele Achäer erschlagen haben. 1 Bei dieser Lage der Dinge fällt es schwer, Achilleus Verantwortungs- oder auch nur Schuldbewußtsein zuzuschreiben. In der Gestalt Agamemnons tritt uns am klarsten eine Auffassung vom Problem der Verantwortlichkeit entgegen, nach der die Tat eines Menschen allein an ihren objektiven Folgen gemessen wird: Agamemnon sieht sich gezwungen zuzugeben, daß die von ihm provozierte Weigerung des Achilleus, am Kampf teilzunehmen, zur Niederlage der Achäer geführt hat und daß eilends etwas unternommen werden müsse, um die Lage zu retten. Doch Agamemnons Bereitschaft, die Verantwortung auf sich zu nehmen (die er lediglich so versteht, daß er zu einer materiellen Kompensation der Achilleus angetanen Kränkung genötigt ist), ist nicht mit einem Eingeständnis seiner Schuld gleichzusetzen. Entsprechend dem Bild, das die Epen von der psychischen Struktur des Menschen haben, sieht Agamemnon den Ursprung seiner „Schuld" in höheren Mächten (Zeus, Moira, Erinys), die ihm „wilde Verblendung ins Herz senkten" (Ilias 19, 86—90). Diese Erklärung darf nicht als spitzfindige Ausflucht eines ertappten Missetäters mißverstanden werden; in ihr offenbart sich nur die Überzeugung aller homerischen Helden wie auch des Dichters, daß die Götter dem Menschen Mut einflößen oder einen klugen Gedanken eingeben, ihn aber auch „des Verstandes berauben" 2 oder in „Verblendung" (okr]) stürzen können. 3 Wenn aber die Ursache seines Zorns, seines Unverstandes usw. außerhalb des Menschen liegt, wie kann man ihn dann für seine Taten moralisch verantwortlich machen? Die einzige Ausnahme von der genannten Regel bildet Hektor. Zwar ist auch für ihn die Verantwortung gegenüber seinem Volk damit verbunden, daß er die Normen des Heroenlebens befolgt, die ihn zwingen, den Tadel seiner Mitbürger zu fürchten; 4 zwar erwarten die Trojaner den rasenden Achilleus außerhalb der Stadtmauern, weil Athena sie „ihrer Einsicht beraubt" hat (Ilias 18, 311), doch Hektor gesteht seinen Fehler ein, den Rat des Polydamas nicht befolgt zu haben, und bleibt auf dem Schlachtfeld, um mit Achilleus zu kämpfen. Hektor handelt hier — wie auch in anderen Fällen — nicht nur als „Ritter ohne Furcht und Tadel", sondern auch als Heerführer, der seine 1 2 3 4

Ilias Ilias Ilias Ilias

18, 9 0 - 9 3 ; 21, 1 3 3 - 1 3 5 ; 22, 271 f. 6, 234; 7, 360 = 12, 234; 9, 377; 15, 724; 17, 470; 18, 311; 19, 137. 2, 111 = 9, 68; 6, 356; 8, 237; 19, 88. 270; Odyssee 4, 261; 15, 233f. 6, 4 4 1 - 4 4 6 ; 22, 1 0 5 - 1 0 7 .

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Heimat, die trojanischen Frauen und Kinder verteidigt. 5 In Hektors Befehl, keine Zeit damit zu vertun, den getöteten Feinden die Rüstungen abzunehmen, sondern vereint das Sehiffslager der Achäer zu stürmen (Ilias 15, 347—351), ertönt bereits die Stimme der entstehenden Polis — ihr galt der gemeinsame Sieg mehr als der R u h m des einzelnen. I m Namen dieser Polis spricht einige Jahrzehnte später Hesiod, wenn er die „gabengierigen Männer" (ävögeg dwQoipdyoi) warnt, ungerechte Urteile zu fällen, und die Folgen schildert, die dem Staat aus der Hybris der Machthaber erwachsen können 6 — hierin besteht der wesentliche Unterschied zwischen der Ethik Hesiods und den Moralvorstellungen, wie sie sich etwa in der „Odyssee" widerspiegeln. Auch dort werden Warnungen ausgesprochen: Aigisthos, die Gefährten des Odysseus, die Freier der Penelope werden gewarnt, oft sogar von einer Gottheit oder einem Seher; 7 doch diese Warnungen beziehen sich ausschließlich auf das eigene Schicksal der Menschen, die sich der Verletzung der geltenden ethischen Normen schuldig gemacht haben. Aigisthos, die Gefährten des Odysseus und die Freier der Penelope schlagen allen guten R a t in den Wind und kommen um, doch aus ihrem Untergang ergibt sich für die Mitbürger kein solches Massenelend, wie es Hesiod als Folge der Freveltaten der „gabengierigen Männer" für die ganze Stadt erwartet. Man hat schon früher die Ähnlichkeit zwischen der Klage des Zeus über den Unverstand der Menschen in der „Odyssee" und Solons Vorwürfen an die Adresse seiner Mitbürger bemerkt, welche Dikes heilige Gebote nicht befolgen und damit großes Leid über jedes Haus in der Stadt heraufbeschwören. 8 Der moralische Appell in Solons Elegien ist für uns deshalb von besonderer Relevanz, weil er an die Bürger Athens gerichtet ist — derselben Polis, in der ein rundes Jahrhundert später eine neue literarische Gattung das Thema der Verantwortlichkeit aufgreifen sollte: die attische Tragödie des 5. J h . Während diese Problematik im Epos gänzlich fehlt und in der didaktischen Dichtung eine eher vordergründige Lösung erfährt, entwickelt die Tragödie ihre eigene Auffassung von der Welt und vom Platz des Menschen in ihr — eine Auffassung, deren dialektische Tiefe sichtbar wird, wenn man untersucht, in welcher Weise die Frage nach der Verantwortung des Menschen vor sich selbst und seiner Mitwelt von den drei großen Tragödiendichtern behandelt wird. 9 Jeder von ihnen geht dabei — bedingt durch seine jeweilige Weltanschauung — seinen eigenen Weg. 2.

Durch die von historischem Optimismus durchdrungene Weltsicht des Aisch3'los, wie sie besonders deutlich im Schluß der „Orestie" zum Ausdruck kommt, dürfen wir uns nicht darüber hinwegtäuschen lassen, daß der „Vater der Tragödie" erst im Verlauf 5 Ilias 15, 4 9 6 - 4 9 9 ; 16, 8 3 0 - 8 3 5 ; 17, 2 2 3 - 2 2 6 ; 21, 5 8 6 - 5 8 8 ; 22, 4 3 3 - 4 3 5 ; 24, 2 1 4 - 2 1 6 . 499f. 729f. 6 Hesiod, Werke und Tage 238—249. Ausführlich hierüber: V. N . Jarcho, Religioznonravstvennajaproblematika v poemach Gesioda, in: Vestnik drevnej istorii 1965, 3, 3—21; deutsches Resümee in: Bibliotheca classica orientalis 13, 1968, 108—110. 7 Odyssee 1, 3 2 - 4 3 ; 2, 1 4 6 - 1 7 6 ; 12, 2 7 1 - 2 7 6 . 2 9 5 - 3 0 3 ; 18, 1 4 3 - 1 5 0 ; 20, 3 5 0 - 3 7 0 . 8 W. Jaeger, Solons Eunornie, in: Sitzungsberichte der Preußischen A k a d e m i e der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse 1926, 73f. 9 Vgl. in diesem B a n d H . Kuch, Gesellschaftliche Voraussetzungen und Sujet der griechischen Tragödie, S. 27—31.

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seines dichterischen Schaffens zu einer tiefen Einsicht in die Dialektik der gesellschaftlichen Entwicklung gelangt ist, nachdem er eine gewisse Eindimensionalität seines künstlerischen Denkens überwunden hatte — ursprünglich steht er mit seinen Auffassungen in der Nähe der Ideologie der späten Archaik. Das Gesagte trifft auch auf die Behandlung des Problems der Verantwortlichkeit in den Werken des Aischylos zu. Schon in der ersten zuverlässig datierten Tragödie des Aischylos, den 472 aufgeführten „Persern", wird deutlich, daß der Dichter zutiefst von der Gerechtigkeit der herrschenden Ordnung und der göttlichen Weltregierung überzeugt war. Wenn Xerxes bei dem Versuch, Hellas zu unterwerfen, eine Niederlage erleidet, dann nicht, weil er strategische oder taktische Fehler gemacht hätte, im Gegenteil — alle seine Maßnahmen lassen den Perserkönig als besonnenen Heerführer erscheinen (337—344; 372—376). Sein Scheitern hat andere Ursachen: E r hat versucht, die von den Göttern selbst festgesetzte Verteilung von Meer und Festland, wonach dieses den Persern, jenes den Griechen gehörte, gewaltsam zu ändern (vgl. 101—114); er hat sich gegen den heiligen Hellespont vergangen, indem er eine Brücke über ihn bauen ließ und damit seinen von der Natur vorgeschriebenen Lauf störte (744—751); er wollte das freie Hellas ebenso wie den Hellespont in Ketten legen. Solche gegen die natürliche Ordnung der Dinge gerichteten Handlungen vermag sich nur ein Mensch auszudenken, dessen Verstand verwirrt ist. Und so wird leitmotivisch alles, was Xerxes unternimmt, als dumm, unvernünftig, in unverzeihlicher Verblendung begangen hingestellt. 10 Zwar bestreitet die Mutter des Königs, daß ihr Sohn dem Staat Rechenschaft schulde, 11 was rein juristisch stimmt. Aber die klägliche Rückkehr des Xerxes macht deutlich, welch unermeßliche Verantwortung ein Mensch auf sich lädt, der in seinem Unverstand die vernünftige Weltordnung zu stören versucht. Ein ganz anderes Bild bieten die „Hiketiden" des Aischylos. Von besonderem Interesse für unser Thema ist hier die Gestalt des Argiverkönigs Pelasgos. Im Gegensatz zu Xerxes, von dessen bereits gefaßtem Entschluß der Chor den Zuschauer unterrichtet, wird Pelasgos in dem Moment gezeigt, da er eine schwierige moralische Entscheidung zu treffen hat: Die Danaiden aufzunehmen, würde die Polis der Gefahr eines Krieges mit den Söhnen des Aigyptos aussetzen; die Schutzflehenden abzuweisen, würde eine Verletzung des heiligen Gastrechts bedeuten, über dessen Einhaltung Themis und Zeus wachen. Kein Wunder, daß Pelasgos gründlich nachdenken muß und daß dieser Prozeß drei qualvolle Etappen durchläuft, in denen dem König das Dilemma, vor dem er steht, und das Ausmaß der daraus entstehenden Verantwortung voll bewußt werden. 12 Pelasgos entscheidet sich schließlich für das 10

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Ausführlich hierüber V . J a r c h o , Zum Menschenbild der aischyleischen T r a g ö d i e , i n : Philologus 1 1 6 , 1 9 7 2 , 1 9 3 - 1 9 6 . oi>% vnev&vvog ndXei ( P e r s e r 2 1 3 ) — i m Gegensatz z u m d e m o k r a t i s c h e n A t h e n , wo selbst die h ö c h s t e n B e a m t e n v o r der V o l k s v e r s a m m l u n g R e c h e n s c h a f t über ihr T u n und L a s s e n abzulegen h a t t e n . Ausführlich hierüber V . J a r c h o , R a z m y s l e n i e iresenie P e l a s g a v t r a g e d i i E s c h i l a „Moljasc i e " , i n : V o p r o s y a n t i ö n o j l i t e r a t u r y i klassiceskoj filologii, M o s k v a 1 9 6 6 , 9 9 — 1 0 6 ; deutsches R e s ü m e e i n : B i b l i o t h e c a classica orientalis 14, 1 9 6 9 , 3 2 7 — 3 2 9 ; F . F e r r a r i , II d i l e m m a di Pelasgo, i n : A n n a l i della Scuola N o r m a l e Superiore di P i s a , Cl. di L e t t e r e . . . 4, 2, 1 9 7 4 , 3 7 5 — 3 8 5 ; P . B u r i a n , P e l a s g u s a n d P o l i t i c s in A e s c h y l u s ' D a n a i d T r i l o g y , i n : W i e n e r Studien 8, 1974, 5 — 1 4 ; T h . G. R o s e n m e y e r , W a h l a k t und E n t s c h e i d u n g s p r o -

Weltanschauung des Dichters und Verantwortung des Helden

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Gastrecht und erreicht, daß die Volksversammlung seinen Entschluß billigt. Von besonderem Gewicht ist, daß in den fraglichen Partien der Tragödie sowohl das Bemühen des Pelasgos selbst als auch die Argumente des Chors auf eine maximale Stimulierung seiner Verstandeskräfte gerichtet sind: Die moralische Entscheidung wird auf einen intellektuellen Prozeß zurückgeführt, der unter den normalen Bedingungen geistiger Tätigkeit abläuft. 1 3 Da sich dem Aischylos nun die Welt als im Grunde vernünftig darstellt, entsprechen die bei klarem Verstände angestellten Überlegungen des Pelasgos dem die Welt lenkenden Willen des Zeus und garantieren die Befolgung der göttlichen Gebote. 14 Die Gestalt des Pelasgos ist von Aischylos viel tiefgründiger behandelt als die des Xerxes — allein schon die Alternative, vor die der Held in den „Hiketiden" gestellt wird, läßt erkennen, wie tief der Dichter hier in die geistige Welt des Menschen eingedrungen ist. Trotzdem zeigt diese Alternative noch keine tragischen Züge: Dem König wird klar, daß es besser sei, das ewige göttliche Gesetz einzuhalten als es zu verletzen. Das Problem der Verantwortlichkeit erfährt also in den „Hiketiden" ebenso wie in den „Persern" noch eine eindimensionale Lösung. Den Charakter des tragischen Widerspruchs nimmt es erstmals 15 in den „Sieben gegen Theben" an. Der Held dieser Tragödie, der Thebanerkönig Eteokles, hat in den letzten J a h r zehnten bei den Philologen wieder starkes Interesse gefunden. 16 Wir können hier nicht auf die vorgetragenen Meinungen eingehen; es genügt festzustellen, daß die Gestalt des Eteokles in gewisser Weise zwei Komponenten zeigt, was besonders jene Forscher in Verlegenheit bringt, die an die Dichtungen der Antike das gleiche Maß anlegen wie an die Literatur der Neuzeit. Gibt man jedoch diesen falschen methodischen Ansatz auf, so wird man unschwer feststellen können, daß die häufig widerstreitenden Emotionen und Stimmungen, die in der menschlichen Seele gleichzeitig und nebeneinander ab-

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zeß in der antiken Tragödie, in: Poética 10, 1978, 1—24, bes. 18—20. Mein oben zitierter Aufsatz ist keinem der genannten Forscher bekannt. Hiketiden 396f. (xqlvai und verwandte Wörter); 407; 41'7f. ( E b d . 1 1 Vgl. K . J o e r d e n , Hinterszenischer R a u m und außerszenisohe Zeit. Untersuchungen zur d r a m a t i s c h e n Technik der griechischen Tragödie, Diss. Tübingen 1960 (maschinenschriftlich). Vgl. auch K . J o e r d e n , Zur B e d e u t u n g des Außer- u n d Hinterszenischen, in: Die B a u f o r m e n der griechischen Tragödie, hrsg. v o n W . J e n s , München 1971 (Beihefte zu P o e t i c a , H e f t 6), 3 6 9 - 4 1 2 . 7

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Mann Mitte 40. Die Teilnahme an den militärischen Auseinandersetzungen mit den Persern würde allein nicht ausreichen, um Aischylos als Anhänger der Demokraten zu erweisen. Zahlreiche Adlige befanden sich in den athenischen Streitkräften, und selbst die aristokratische Reaktion konnte sich von der Verteidigung der Stadt offiziell nicht ausschließen, wollte sie nicht in die Gefahr der politischen Isolierung geraten. Woran sich jedoch die Haltung des Aischylos erkennen läßt, ist das demokratische Engagement seines dichterischen Werkes. Die Aischyleische Tragödie ist durchdrungen von den Ideen der jungen Polisdemokra.tie Athen, deren progressiver Gehalt durch die künstlerische Meisterschaft des Dichters erhabenen Ausdruck erhält. Ja, es sind „erhabene W o r t e " , die Aischylos „auftürmt", wie Dionysos in den Aristophanischen „Fröschen" urteilt (1004), und seine Worte werden aus der Größe seiner Gedanken hergeleitet (1057f.). Die Artikulierung des Neuen gelang dem Tragiker um so aussagekräftiger, als er selbst ein Mann des künstlerischen Fortschritts, geradezu ein Bahnbrecher in der tragischen Dichtung war. Durch die Einführung eines zweiten Schauspielers und die Reduzierung der Chorpartien veränderte Aischylos kühn die traditionelle Form des Genos, so daß er, wenn auch mit der Tradition durch viele Fäden verbunden, sich im Gegensatz zur aristokratisch traditionellen Form befand und die Voraussetzungen zur freieren Entfaltung des Dialektisch-Dialogischen und jener schon erwähnten demokratischen Elemente der Tragödie schuf: der Diskussion, der Verantwortung, der Entscheidung. W e r von den erhaltenen sicher datierten Stücken ausgeht, sieht sich bei der Interpretation auf einen Zeitraum von 15 Jahren beschränkt, auf die Zeit von den „Persern" (472) bis zur „Orestie" (458). Den Ausgangspunkt für das dramatische Geschehen in den „Persern" bildet der Sieg der Griechen über die persischen Invasoren in der Seeschlacht bei Salamis (480). Das Stück selbst spielt offenbar in der Nähe des persischen Königspalastes in Susa. So treten der Chor der persischen Alten, die Königin Atossa, der Bote, die Erscheinung des Dareios und am Schluß Xerxes auf — ausnahmslos Perser —, während schon aus örtlichen Gründen Griechen am szenischen Ablauf schwerlich beteiligt sein können. Welchen ästhetischen und politischen Schwierigkeiten sich ein Tragiker bei der Gestaltung eines unmittelbar zeitgenössischen Sujets gegenübersah, wurde bereits dargelegt. 12 I n den „Persern" betritt jedenfalls kein Grieche die Szene, und auch im T e x t werden bewußt alle Chancen ausgelassen, eine historische griechische Persönlichkeit dieser Zeit auch nur zu nennen. Hierfür ist in besonderem Maße die berühmte Partie charakteristisch, in der sich die Perserkönigin nach Athen erkundigt. Wenn im vermutlich ausgefallenen Vers 235 a,13 wie angenommen, von der Flotte die Rede gewesen sein sollte, dann hätte sich hier eine günstige Gelegenheit geboten, auf den Initiator des athenischen Flottenbauprogramms, Themistokles, wenigstens erwähnungsweise einzugehen. Das geschah aber sicherlich ebensowenig wie im Vers 240 [238], wo die Bezeichnung des gleichen Mannes, wie sichtbar ist, im Wortlaut fehlt. Auf die Frage nach dem materiellen Reichtum wird dort „eine Silberquelle" genannt, ein „Schatz der E r d e " . Eine ganz so autochthone Angelegenheit waren die Silberminen von Laureion — um sie handelt es sich — indessen nicht. Jeder Athener wußte, daß die gestiegenen Erträge der Minen auf Antrag des Themistokles, statt zur Verteilung an die einzelnen Bürger zu

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Vgl. in diesem Band oben S. 33-35. Vgl. die Aischylos-Ausgabe von D. Page, Oxford 1972.

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gelangen, für den Bau einer starken Flotte verwendet wurden. 1 4 Aber der N a m e des weitsichtig Planenden fällt nicht im Text. Ebenso verhält es sich im Bericht über die Ereignisse bei Salamis. Die List des Themistokles, u m die Perser an gewünschter Stelle zur Schlacht zu veranlassen (vgl. 355—360; 361 f.), und der siegreiche Kampf der Griechen (vgl. 386^432; 4 4 7 - 4 7 1 ; 480f.) werden geschildert, ohne daß der Stratege Erwähnung findet. 1 5 Auf diese Weise tritt in der zeitgenössischen Tragödie das Individuum hinter das Kollektiv zurück, mehr noch, es geht im Kollektiv auf. Als Bestandteil der Gemeinschaft ist es mit dem Ganzen so fest verschmolzen, daß es sich in der Tragödie nicht von der Gesellschaft lösen kann. I n den „Persern" äußert sich deutlich die Empfindlichkeit des noch jungen demokratischen Staates gegenüber dem einzelnen. Die „Silberquelle" gehört „ihnen" (240 [238]), den Athenern. Sie bilden eine geschlossene Einheit, und nicht zufällig findet sich ihre Hoplitenphalanx, in der sich Speer an Speer, Schild an Schild reiht (238 [240]) hervorgehoben. Die Erage, welcher „Despot" (vgl. 241) sie lenke, r u f t in erster Linie den Kontrast mit den persischen Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnissen hervor, ohne daß sich hierbei Assoziationen an die in Athen abgeschaffte Tyrannenherrschaft gänzlich ausschließen lassen würden. I n der Antwort artikuliert der Dichter in jedem Fall das stolze Selbstbewußtsein der Bürger einer freien Stadt (242): „Keines Mannes Sklaven sind sie, keinem Menschen Untertan" (Übersetzung von J . G. Droysen). Die Freiheitsidee leuchtet auch im Bericht über die Schlacht bei Salamis auf, in der in der T a t die Freiheit auf dem Spiel stand. „Jetzt geht es um alles" (405), erscholl es auf griechischer Seite vor dem Aufeinandertreffen der Schiffe. E s erscheint bedeutsam, wie die Freiheit, die im Gespräch Atossas mit dem Boten als eine athenische Errungenschaft gewürdigt wurde, n u n m e h r angesichts der drohenden Unterwerfung durch die Perser zu einem gesamtgriechischen Vorzug erweitert wird (401—405): „Auf ihr Söhne der Hellenen, befreit das Vaterland, befreit die Kinder, Frauen, die Stätten der heimatlichen Götter und die Gräber der Vorfahren!" Die Athener stellten das weitaus stärkste Kontingent der Flotte, 1 6 und aus Athen k a m mit Themistokles auch der überragende strategische Kopf. Daß es indessen u m ganz Griechenland ging und daß griechische Streitkräfte k ä m p f t e n , hat der dichterische Text historisch getreu zum Ausdruck gebracht (z. B. 2; 186; 234; 271; 334; 338; 355 369; 384; 388; 393; 402; 417; 452; 455). Zugleich weiß Aischylos jedoch, Athen in ein helles Licht zu setzen (vgl. beispielsweise 2 3 1 - 2 4 5 ; 285f.; 347-349; 355; 474; 716; 976). „Denkt an Athen und Griechenland" (824), m a h n t Dareios, wobei die Verbindung der Stadt und des Landes wie ihre Reihenfolge f ü r die athenische Sicht bezeichnend sind. Die „dorische Lanze" (817) wird indessen mit Bezug auf die noch folgende Schlacht bei Plataiai nicht vergessen. Während in den „Persern" des Aischylos das athenische Individuum in der Gemeinschaft der Athener aufgeht, hebt sich aus dem gesamtgrie14

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H . Bengtson, Griechische Geschichte v o n den A n f ä n g e n bis in die römische Kaiserzeit, 5. Aufl. München 1977, 167f.; vgl. auch 161 f. Vgl. auch E . G. Schmidt, D a s Menschenbild bei Aischylos u n d Sophokles, in: Der Mensch als Maß der Dinge. Studien z u m griechischen Menschenbild in der Zeit der B l ü t e u n d Krise der Polis, hrsg. v o n R . Müller, Berlin 1976 (Veröffentlichungen des Z e n t r a l i n s t i t u t s für A l t e Geschichte und Archäologie der A k a d e m i e der W i s s e n s c h a f t e n der D D R 8), 9 3 - 1 3 5 , bes. 102. Zu den Zahlen vgl. H . Bengtson, Griechische Geschichte (vgl. A n m . 14), 174.

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chischen Rahmen Athen deutlich hervor, sei es die Stadt, die Streitkräfte, der athenische Demos oder die athenische Gesellschaft. Erst der Mythos versetzte die Tragödie in die Lage, das Individuum der Polis zu emanzipieren. In den „Sieben gegen Theben" von 467 tritt uns mit König Eteokles gleich eine Idealgestalt entgegen. Daß die Königs- und Adelssphäre des Mythos den Hauptakteuren, die im Zentrum des tragischen Spiels stehen, den genuin tragischen Gestalten, prinzipiell gesellschaftliche Exponiertheit verleiht, darf nicht überraschen. Auch im Besitz der Königswürde des mythischen Theben erweist sich Eteokles als ein Repräsentant der Poliswelt, woran schon der Anfang des Dramas keinen Zweifel läßt. Mit dem ersten Vers geht sein Ruf an die „Politen des Kadmos" (1). Eteokles, „auf dem Schiff der Polis das Steuer führend" (2 f.), mit wachem Blick die Situation im Auge, fordert die Bürger Thebens verantwortungsbewußt auf, die belagerte Stadt gegen den bevorstehenden Angriff des feindlichen Heeres zu verteidigen (10—16; 22—35). Umsichtig organisiert er den Abwehrkampf, wobei in den bereits erwähnten sieben archaischen Redepaaren auf die einzelnen Berichte des Spähers jeweils eine Anordnung des Polisherrschers folgt. Am siebenten Tor, so wird gemeldet, steht Eteokles' eigener Bruder Polyneikes zum Angriff bereit. Der wilde Ausbruch, mit dem Eteokles auf diese Botschaft reagiert, indem er das ödipusgeschlecht, dem er angehört, beklagt, das „gottverblendete", „von den Göttern tief gehaßte", das „tränenreiche" (653f.) —dieser Ausbruch legt den Konflikt des Stadtverteidigers frei: auf der einen Seite seine Verpflichtungen gegenüber der Polis, auf der anderen Seite die gentile Bindung an die eigene Familie. Den Fluch des ödipus auf seine Söhne sieht der entsetzte Eteokles in Erfüllung gehen (655; vgl. 709—711). Bereits am Anfang des Dramas wurden der „Fluch und die gewaltige Erinys des Vaters" (70) apostrophiert. Es wäre jedoch verfehlt, Eteokles in der Situation des Konflikts nur unter dem Aspekt des ödipusfluches zu sehen. Bedeutsam ergeht am Schluß des Berichtes über den Feind am siebenten Tor zweimal die Aufforderung an Eteokles, eine Entscheidung zu treffen (650 und 652: yvw&i,), verstärkt jeweils durch das einleitende direkte „Du aber selbst". I m ersten Fall gilt es, den Gegner für Polyneikes zu bestimmen (vgl. 650), dann heißt es, „die Stadt zu lenken" (vgl. 652), unter Wiederaufnahme der Schiffsmetapher von Vers 2 f. Damit ist Eteokles deutlich als Leiter der Polis angesprochen, und in dieser Eigenschaft wird von ihm die Entscheidung erwartet. E r selbst bezeichnet sich überdies in der gleichen Szene als Herrscher —im griechischen Text steht „Archon" (674). Auf jenen Vers wird die Interpretation noch zurückkommen, um nicht die eben hervorgehobene Seite der Gestalt zu verabsolutieren. Wie die Aufforderung zur Verteidigung der Stadt die rationalen Kräfte des Eteokles anspricht, ist nach den angeführten Versen offensichtlich. Eteokles faßt den schweren Entschluß, seinem Bruder Polyneikes selbst entgegenzutreten (672f.). Dabei gründet er sich auf die Überzeugung (672), daß Dike nicht auf der Seite des Polyneikes steht, auch wenn dieser die Göttin der Gerechtigkeit für sich in Anspruch nimmt (vgl. 642—648). Der tragische Konflikt des Eteokles findet sich in dem schon erwähnten Vers 674 verdichtet: „Sowohl dem Herrscher als Herrscher wie dem Bruder als Bruder" will er sich entgegenstellen und „als Feind mit dem Feinde" (675) kämpfen. Seine Entscheidung fällt für die Polis und gegen die gentile Bindung, auch wenn der Chor bis zuletzt nicht aufhört, die Blutsbande zu beschwören (vgl. 681; 694; 718). Der Entscheid wird durch den Befehl bekräftigt, so schnell wie möglich Beinschienen herbeizuschaffen (675 f.). Wer an der Teilbewaffnung Anstoß 5*

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nimmt, 17 verkennt die Funktion der Anweisung, die Kampfbereitschaft des Heros in die Qualität der Tat umschlagen zu lassen. Eine vollständig umständliche Wappnung wäre ein Produkt philologischer Phantasie. Der Aufbruch des Eteokles zum siebenten Tor resultiert aus einem Zusammenspiel subjektiver Entscheidung und — für ihn — objektiver Notwendigkeit 18 : Er selbst wählt den Kampf gegen den Bruder und führt sein Verteidigungswerk bis zur letzten Konsequenz fort, aber er steht zugleich unter dem Zwang des Ödipusfluches. So ist auch das Ende des Eteokles einerseits metaphysisch vorgezeichnet. Andererseits geht der Held aus eigenem Entschluß und im Bewußtsein des eigenen Untergangs (vgl. 719; 703; 695-697; 689-691; 684) für die Stadt in den Tod, in großer, in edler Haltung. Darin liegt seine Tragik, darin besteht jedoch zugleich seine menschliche Größe. Der Eteokles des Aischylos ist die ideale, Gestalt des Polisbürgers, der im Interesse der Gemeinschaft sein Leben nicht schont, und kein Zweifel kann aufkommen, daß jenes Ideal aus der Sicht des Marathonkämpfers konzipiert wurde. Optimistisch beginnend (792), verkündet der Bote die Rettung der Stadt, wobei erneut das Bild vom Schiff wiederkehrt, das jetzt in ruhiger See dahingeleitet (vgl. 795f.). So ist der Erfolg für das Ganze vorangestellt (vgl. 793; 795-799). Wie der Kampf am siebenten Tor ausging, wird erst allmählich enthüllt. Der Einsatz des Eteokles sicherte den Fortbestand der Polis, deren Rettung der Bote wiederholt betont (812 [820]; 817 [815]), jedoch nicht ohne die Verbindung zum Doppeltod der Ödipussöhne herzustellen. Wenn die Gemeinschaft jetzt weiterleben kann, dann durch die Tat und das tragische Geschick des einzelnen.19 Das Verantwortungsbewußtsein des Eteokles kehrt in der Haltung wieder, die König Pelasgos in den „Hiketiden" (wahrscheinlich 463) an den Tag legt, als ihn 17

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W . S c h a d e w a l d t , D i e W a p p n u n g d e s E t e o k l e s . Zu A i s c h y l o s ' „ S i e b e n gegen T h e b e n " , i n : H e l l a s u n d H e s p e r i e n . G e s a m m e l t e S c h r i f t e n z u r A n t i k e u n d zur n e u e r e n L i t e r a t u r in zwei B ä n d e n , zweite A u s g a b e u n t e r M i t a r b e i t v o n K . B a r t e l s hrsg. v o n R . T h u r o w u n d E . Zinn, B d . 1, Z ü r i c h - S t u t t g a r t 1970, 3 5 7 - 3 6 7 ( = E r a n i o n . F e s t s c h r i f t f ü r H . H ü m mel, hrsg. v o n J . K r o y m a n n u n d E . Z i n n , T ü b i n g e n 1961, 105—116). A. L e s k y , Die t r a g i s c h e D i c h t u n g d e r H e l l e n e n (vgl. A n m . 6), 92—97, v e r t r i t t m i t R e c h t die D o p p e l m o t i v a t i o n . W e n n er d a b e i v o n „ e i n e r s c h i c k s a l h a f t e n N o t w e n d i g k e i t " s p r i c h t , d i e E t e o k l e s „in e i g e n e m E n t s c h l u ß auf s i c h n i m m t " (92), so w e r d e n b e i d e K o m p o n e n t e n zu e i n e m „ I n e i n a n d e r " (93) v e r s c h m o l z e n , w ä h r e n d d e r T e x t d o c h e h e r ein M i t e i n a n d e r d e r M o t i v e e r k e n n e n l ä ß t . D o c h soll d e r U n t e r s c h i e d dieser N u a n c e n n i c h t ü b e r b e t o n t w e r d e n . Vgl. f e r n e r A . L e s k y , E n t s c h e i d u n g u n d V e r a n t w o r t u n g in d e r T r a g ö d i e d e s Aischylos, i n : W e g e zu Aischylos, h r s g . v o n H . H o m m e l , B d . 1, D a r m s t a d t 1974 ( W e g e d e r F o r s c h u n g 87), 3 3 0 - 3 4 6 , bes. 3 4 2 - 3 4 4 ( = D e c i s i o n a n d R e s p o n s i b i l i t y in t h e T r a g e d y of A e s c h y l u s , i n : T h e J o u r n a l of H e l l e n i c S t u d i e s 86, 1966, 78—85); V . J a r c h o , D r a m a t u r g i j a E s c h i l a i n e k o t o r y e p r o b l e m y d r e v n e g r e c e s k o j t r a g e d i i , M o s k v a 1978, 85—97. Vgl. in d i e s e m B a n d V. J a r c h o , Die W e l t a n s c h a u u n g d e s D i c h t e r s u n d die V e r a n t w o r t u n g d e s H e l d e n in d e r g r i e c h i s c h e n T r a g ö d i e , S. 41—59, bes. 45—47. Z u m u m s t r i t t e n e n P r o b l e m d e s Schlusses d e r T r a g ö d i e vgl. H . E r b s e , Z u r E x o d o s d e r S i e b e n : (Aisch. S e p t . 1005—78), i n : S e r t a T u r y n i a n a . S t u d i e s in G r e e k L i t e r a t u r e a n d P a l a e o g r a p h y in H o n o r of A . T u r y n , ed. b y J . L . H e l l e r w i t h t h e a s s i s t a n c e of J . K . N e w m a n , U r b a n a — C h i c a g o — L o n d o n 1974, 169—198; R . D . D a w e , T h e E n d of S e v e n a g a i n s t T h e b e s y e t a g a i n , i n : D i o n y s i a c a . N i n e S t u d i e s in G r e e k P o e t r y , b y F o r m e r P u p i l s P r e s e n t e d t o Sir D . P a g e o n H i s S e v e n t i e t h B i r t h d a y , e d . b y R . D . D a w e , J . D i g g l e , P . E . E a s t e r l i n g , C a m b r i d g e 1978, 8 7 - 1 0 3 .

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Danaos u n d seine Töchter, auf der Flucht vor den Söhnen des Aigyptos, u m Asyl bitten. Schwer ist der Groll des Zeus hikesios (347) — d. h. des Zeus in seiner Eigenschaft als Schützer der Schutzsuchenden —, gibt der Chor der D a n a i d e n zu bedenken. D a m i t b e r u f t er sich auf die höchste I n s t a n z in dieser Angelegenheit. Pelasgos sah dagegen zuerst die Gefahr eines Krieges (342), u n d es ist das Risiko kriegerischer Auseinandersetzung mit den Aigyptossöhnen, das er von der Polis fernhalten will (vgl. 357f.). Der König n e n n t sich im Vers 963 nqoararrji;, „Leiter", ein Terminus, mit dem im Athen des 5. J h . der führende demokratische Politiker bezeichnet wurde. 2 0 So ist Pelasgos wie Eteokles in den „Sieben gegen T h e b e n " ein Mann des S t a d t s t a a t e s , u n d der Chor versteht es, ihm gegenüber das „Schiff der Polis", mit den frischgebrochenen Zweigen der Schutzflehenden b e k r ä n z t (345), als A r g u m e n t zu verwenden. E s m u ß unterstrichen werden, d a ß die Zusage z u m Beistand u n d somit die E n t scheidung über das Asylgesuch der Danaiden nicht in der H a n d des Pelasgos liegen (vgl. 368f.; 377; bes. 398f.). Diese K o m p e t e n z b e s c h r ä n k u n g entspricht in auffallender Weise der Situation des zeitgenössischen P r o s t a t e s in A t h e n : Nicht i h m fiel die Entscheidung zu, sondern der Volksversammlung. 2 1 Z u m a l die Gemeinschaft betroffen ist (vgl. 366), soll in den „Hiketiden" das „Volk" „gemeinsam" (367) Abhilfe gegen das drohende Unheil schaffen. Eine Ü b e r e i n k u n f t mit „allen B ü r g e r n " (369) h a t der Zusage a n die D a n a i d e n vorauszugehen. Pelasgos k a n n also „nicht ohne den D e m o s " handeln (398). Unsicherheit u n d F u r c h t beschleichen den E x p o n e n t e n der Polis (379f.; vgl. 397), als der Chor ihn vor der Blutschuld warnt (375), wobei als erschwerend h i n z u k o m m t , d a ß es sich u m B l u t s v e r w a n d t e handelt (449; vgl. 323—327). Die Angelegenheit ist nicht leicht zu entscheiden (397), bekennt Pelasgos. E r steht im K o n f l i k t zwischen den Geboten der Götter (vgl. 396) u n d den Verpflichtungen gegenüber der S t a d t (vgl. 401). Die W e n d e in seinen Überlegungen f ü h r t die D r o h u n g der D a n a i d e n herbei, sich a n den Götterbildern zu erhängen (465). Angesichts dieses Ansinnens, eines unübertrefflichen Greuels (473), entschließt sich Pelasgos, sich f ü r die Schutzflehenden einzusetzen. Der Groll des Zeus, der die Asylsuchenden beschützt, ist der letzte, der entscheidende Gedanke vor dem tätigen Eingreifen des Landeskönigs. Wenn Pelasgos jetzt handelt, so k a n n sich seine A k t i v i t ä t n u r in d e m bereits bezeichneten R a h m e n entfalten. Der Prostates hat, wie gesagt, nicht die Befugnis, über die A u f n a h m e der D a n a i d e n selbst zu entscheiden. Die E n t s c h e i d u n g liegt beim D e m o s (vgl. die schon genannten Verse, vor allem 398f.). D a h e r sucht Pelasgos sogleich, auf die Bürger einzuwirken. „Alle Bürger" (484) sollen die Zweige der Schutzflehenden sehen, so wird der „Demos" den Bedrängten günstiger gesinnt sein (488), u n d der 20

Ü b e r p o l i t i s c h e T e r m i n i in d e n „ H i k e t i d e n " v g l . V . E h r e n b e r g , O r i g i n s of D e m o c r a c v , i n : Polis u n d I m p e r i u m . Beiträge zur alten Geschichte, hrsg. v o n K . F . Stroheker u n d A . J . G r a h a m , Z ü r i c h - S t u t t g a r t 1965, 2 6 4 - 2 9 7 ( = H i s t o r i a 1, 1950, 5 1 5 - 5 4 8 ) , b e s . 266—274 ( T h e C o n s t i t u t i o n in A e s c h y l u s ' S u p p l i a n t s ) . — Z u r D a t i e r u n g d e r „ H i k e t i d e n " v g l . ü b r i g e n s A . L e s k y , D i e t r a g i s c h e D i c h t u n g d e r H e l l e n e n (vgl. A n m . 6), 78—80. B e s t e c h e n d e G r ü n d e f ü r d a s J a h r 475 bei F . Stoessl, D i e H i k e t i d e n des Aischylos als g e i s t e s g e s c h i c h t l i c h e s u n d t h e a t e r g e s c h i c h t l i c h e s P h ä n o m e n , W i e n 1979 ( Ö s t e r r e i c h i s c h e A k a d e m i e d e r W i s s e n s c h a f t e n , P h i l o s o p h . - h i s t . K l a s s e , S i t z u n g s b e r i c h t e 356), 7-25.

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V g l . d i e A u s f ü h r u n g e n in d i e s e m B a n d o b e n S. 23 f.

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König will eilen, um die „Gemeinschaft" günstig zu stimmen (518). Wenn die Männer zusammengerufen werden sollen (vgl. 517), kann kein Zweifel aufkommen, daß es hier um die Einberufung der Volksversammlung geht. Was Pelasgos erreichen wird, hängt von seiner Überzeugungskraft (523: neid-d)) ab. Er sieht sich damit auf ein Mittel angewiesen, das in der athenischen Volksversammlung bei der Entscheidungsfindung eine beträchtliche Rolle spielte. Daneben erscheint, offenbar im Hinblick auf die Unsicherheitsfaktoren der Abstimmung, das Glück (523: TV'/T]) so wichtig, daß es wie die nei&w angerufen wird. Die Interpretation hat bisher auf die beschränkten Kompetenzen des Pelasgos hingewiesen, ohne dabei seine Möglichkeiten im Rahmen der Volksversammlung zu bezeichnen. Das ergibt sich indessen auch im Drama erst im Zusammenhang mit dem Bericht, daß der Demos einstimmig die Aufnahme der Danaiden beschloß (vgl. 600—624),22 und da wird im Text des Dichters verständlicherweise nicht von Befugnissen gesprochen, sondern die Tat mitgeteilt: Pelasgos stellte den Antrag für den Beschluß (615f.; 619; vgl. 608). Der Ekklesia Vorschläge zu machen — darin erschöpfte sich auch das Recht des Prostates in der zeitgenössischen Volksversammlung Athens. Wesentlich für Pelasgos erscheint, daß er mit seinem Antrag die Polis warnte vor dem Groll des Zeus hikesios (616f.). Aus all dem ergibt sich die Bedingtheit des Individuums in den „Hiketiden". Ungeachtet seiner königlichen Stellung ist Pelasgos in entscheidendem Maße abhängig von der Gemeinschaft. E r ist ein Glied des Ganzen, und als solches kann er sich, an den Demos gebunden, nur innerhalb seiner Gesellschaft verwirklichen, auch wenn er sich als Prostates offiziell aus den Bürgern heraushebt (vgl. 963f.). Hinzukommt ein übergreifendes Moment, das für die Aischyleische Tragödie von besonderer Bedeutung ist: die Macht des Zeus. Der Demos stimmte überwältigend einmütig ab (605—624), wobei ein kühnes Bild gezeichnet wird: Bei der Abstimmung durch Handheben „starrte der Himmel vor rechten Händen" (607f.), die indessen nicht nur die rechten und richtigen waren, sondern auch den Danaiden Glück verhießen (607: %egol öeiimvv/ioig), indem sie für deren Asyl votierten. Der „ganze Demos" (vgl. 607; 621; 624) entschied sich für die Schutzsuchenden, und die Abstimmung erfolgte, noch ehe vom Herold die offizielle Aufforderung erging (622). Aber ausschlaggebend ist für Aischylos eine andere Potenz. Am Ende des 20 Verse umfassenden Beschlußfassungsberichts wird — in noch nicht einem vollen Vers — erklärt: Doch Zeus führte die Vollendung herbei (624). Sosehr das Individuum oder in diesem Fall die Summe der Individuen in der Tragödie aktiv werden konnten — über ihnen stand als entscheidende Substanz der höchste Gott, dessen Macht gerade auch in den „Hiketiden" einprägsam gefeiert wird (86-103; 524-526; 592-599). Wie Eteokles in den „Sieben gegen Theben" hat vermutlich auch Pelasgos aus den 22

Über die starken politischen Elemente in diesen Versen und ihren Realismus vgl. H . Kuch, Polisdemokratie und Tragödie, in: Die Rolle der Volksmassen in der Geschichte der vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen. Zum X I V . Internationalen HistorikerKongreß in San Francisco 1975 hrsg. v o n J. Herrmann und I. Sellnow, Berlin 1975 (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der D D R 7), 2 6 3 - 2 7 6 , bes. 272f. Über Berührungspunkte zwischen dem 5. Jh. und d e m Heroenzeitalter vgl. K . J. Dover, I tessuti rossi dell' Agamennone, in: Dioniso 48, 1977, 5 5 - 6 9 , bes. 68f.

I n d i v i d u u m und Gesellschaft

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„Hiketiden" im Verlauf der Trilogie den Tod gefunden. Die Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft forderten dagegen in der „Orestie", mit der Aischylos sein künstlerisches Werk krönte, nicht das Leben des einzelnen, wie jedenfalls das Los des Orest beweist. Der tragische Konflikt des Helden, der seine Mutter Klytaimestra getötet hatte, um den von ihr ermordeten Vater zu rächen, wird am Ende auf dem gewaltlosen und unblutigen Wege einer Gerichtsverhandlung gelöst. Mit dem Freispruch steht dem Agamemnonsohn wieder die Rückkehr in die Gemeinschaft seiner Heimat Argos offen. Die glückliche Lösung ist indessen überaus voraussetzungsreich. In der „Orestie" stoßen zwei scheinbar unversöhnliche Gegensätze aufeinander: die Erinyen, die „alten Gottheiten" (Eumeniden 150), und die „neuen" Götter (vgl. Eumeniden 721 f.), die olympischen, auf der Bühne repräsentiert durch Apollon und Athena. Während die Erinyen, die mutterrechtliche Vorstellungen 23 vertreten (Eumeniden 208—212; 653—656), den Muttermörder verfolgen, verteidigt Apollon die T a t des Orest, nachdem er sie gefordert hatte; denn für die Olympier steht der Mann höher als die Frau (vgl. Eumeniden 640; 737—740), ein Prinzip, das gleichfalls in der Polisordnung galt. Für den Aktionsradius des Individuums erscheint es bedeutsam, daß Orest von sich aus entschlossen ist, seinen Vater zu rächen, und im Bewußtsein eigener Verantwortung handelt, auch wenn die Veranlassung von Apollon ausging (vgl. Choephoren 1 - 3 ; 18f.; 435-437; Eumeniden 463-467). Wie schon in den „Sieben gegen Theben" und in den „Hiketiden" feststellbar, wirken auch hier menschliche und göttliche Kräfte zusammen. Dieses Miteinander zeigt sich nicht zuletzt bei der Abstimmung über den Fall des Orest. Zu Richtern sind athenische Polisbürger berufen (Eumeniden 487f.; 638f.; 680; 707-710). Daß sie über die Streitsache der Götter befinden, unterstreicht die Bedeutung menschlichen Handelns bei Aischylos. Doch der glückliche Ausgang für Orest kommt erst durch den letzten, Stimmengleichheit herstellenden und damit Freispruch bedeutenden Stein zustande, den Athena hinzusetzt (Eumeniden 734f.; 741; 752f.).Mit dem befreienden Entscheid sieht sich Orest in sein Vaterland zurückgeführt (754—758), so daß Individuum und Gesellschaft, bisher voneinander getrennt, wieder vereinigt sind. Die Idee der Harmonie zieht in der „Orestie" indessen weitere und höhere Kreise; sie gewinnt, wie sich zeigen wird, umfassenden Charakter. Um eine für das Verständnis wesentliche Erscheinung nicht außer acht zu lassen, muß die Interpretation nochmals zurückgreifen. Noch während der Debatte zwischen den streitenden Parteien begründet Athena in den „Eumeniden" den Areopag als Gerichtshof (681—710). Wenn dem Areopag die Blutgerichtsbarkeit zugesprochen wird, so erhält er in der „Orestie" von 458 nicht mehr Rechte, als Ephialtes ihm in der geschichtlichen Realität des Jahres 462 belassen hatte. Diese Ähnlichkeit, so aussagekräftig sie für die Stellung des Aischylos zur athenischen Polisdemokratie ist, sollte indessen nicht über einen wesentlichen Unterschied zwischen dem historischen alten Adelsrat als einem Bollwerk der Tradition und dem jungen, frisch eingesetzten Areopag der Dichtung hinwegtäuschen. Neu geschaffen, ist der Areopag im Drama Prinzip einer neuen Entwicklung, die mit der Errungenschaft der staatlichen Rechtspflege die urtümlich gentile Blutrache der Erinyen hinter sich läßt, und wer die Diskussion, die Abstimmung, die Entscheidung auf der Szene beobachtet — von den athenischen Politen in ihrer richterlichen Funktion 23

Hierzu vgl. E . G. Sehniidt in seinem N a c h w o r t z u : Aischylos, D i e sieben Tragödien, Leipzig 1971, 3 1 2 - 3 2 0 .

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war schon die Rede —, kann nicht übersehen, wie hier allenthalben, sogar schon vor der feierlichen Konstituierung des Areopags, Elemente hervortreten, die an die zeitgenössische Polisdemokratie erinnern. 24 Mit dem Sieg der Sache des Orest verbindet sich, wie schon angedeutet, der Gedanke einer umfassenden Harmonie, in der die Gegensätze in der Polis wie in der Götterwelt, wenn sich diese Bereiche in der Symbiose von mythisch Vergangenem und aktuell Gegenwärtigem trennen lassen, ihren Ausgleich finden. I n großzügiger Humanität werden die das Alte repräsentierenden Mächte, die Erinyen, in die Polis integriert, um als Eumeniden das Recht zu schützen (Eumeniden 910; 992—995), womit die neue Entwicklung gesichert wird, und reichen Segen zu stiften (903-1031). Eine weitere Harmonie, eine Einheit auf höchster Ebene, wird unmittelbar am Schluß der Trilogie in einer bedeutsamen Feststellung sichtbar: „Zeus, der Allessehende, und Moira stimmten so überein" (1045f.). Die betonte Endstellung der Aussage legt es nahe, die Einigkeit der obersten göttlichen Gewalten für den Ausgang des dramatischen Gesamtgeschehens in Anspruch zu nehmen. Das betrifft in erster Linie die Weise, wie der Konflikt des Orest und der Konflikt zwischen den alten und den neuen Göttern gelöst wurde. Die gemeinsame Zustimmung von Zeus und Moira gilt aber auch der neuen Entwicklung, die sich in wesentlichen Zügen mit der demokratischen Polis berührt. Es besteht kein Zweifel, daß Aischylos die neue gesellschaftliche Ordnung der „Eumeniden" im Einklang mit der göttlichen Weltordnung sieht. 25 Der Schluß der „Orestie" kennt keine tragische Lösung. Aufgebaut wird eine Ordnung der Gerechtigkeit, ein Kosmos der Polis analog zur gerechten Weltordnung des Zeus. So endet das Drama konstruktiv und optimistisch. Ein versöhnlicher Ausgang läßt sich indessen auch für die „Danaiden", die „Phryger", die „Promethie" — wenn sie von Aischylos stammt — sowie weitere Tragödien annehmen. 26 In seinem Streben nach Ausgleich und dichterischer Gerechtigkeit suchte Aischylos, Individuum und Gesellschaft in Übereinstimmung zu bringen. Wesentliche Impulse für eine solche Gestaltung gingen vermutlich von seinem Demokratieverständnis aus, das auf dem Gleichheitsgedanken der Isonomia beruhte. Der demokratische Grundzug des Aischyleischen Werkes begegnete uns im Vorangehenden auf Schritt und Tritt. Wenn noch einmal ein Rückgriff auf die „Orestie" erlaubt ist, so sollen die ernsten Worte nicht überhört werden, die sich gegen innenpolitische Auseinandersetzungen 24

Vgl. H . K u c h , Der D i c h t e r und die Demokratie. Bemerkungen zu Aischylos, in: Aischylos und Pindar. Studien zu Werk und Nachwirkung, hrsg. v o n E . G. Schmidt, Berlin 1981 (Schriften zur Geschichte u n d Kultur der A n t i k e 19), 1 3 5 - 1 4 4 . 25 E b d . 142 f. Vgl. auch Dioniso 48, 1977, 1 3 5 - 1 3 9 . 26 Vgl. A. L e s k y , D i e tragische D i c h t u n g der Hellenen (vgl. A n m . 6), 107f.; 150; 1 4 3 - 1 4 5 ; 168. Leichten Zweifel an einer Danaiden-Tetralogie äußerte O. Taplin, The Stagecraft of Aeschylus. The Dramatic U s e of E x i t s and E n t r a n c e s in Greek Tragedy, Oxford 1977, 194—198. Gegen die E c h t h e i t des „Gefesselten P r o m e t h e u s " entschied sich — nach anderen Philologen — jetzt M. Griffith, T h e A u t h e n t i c i t y of P r o m e t h e u s B o u n d , Cambridge 1977. In seiner R e z e n s i o n dieses B u c h e s b e t o n t A . F . Garvie, in: T h e Journal of Hellenic Studies 99, 1979, 1 7 2 f . : „At t h e v e r y least n o one should ever again t a k e t h e authenticity for granted" (173). Vgl. auch M. L. W e s t , T h e P r o m e t h e u s Trilogy, ebd. 130—148. Vgl. in diesem B a n d Zs. R i t o o k , D i e Prometheus-Gestalt in der griechischen Tragödie, S. 8 5 - 1 0 1 .

Individuum und Gesellschaft

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richten u n d zur einheitlichen Geschlossenheit der Polis a u f r u f e n (Eumeniden 861—866; 976—986). Da brechen offensichtlich die Widersprüche des S t a d t s t a a t e s hervor, die Aischylos nicht übersehen konnte. Von den antagonistischen Gegensätzen her fällt auf das großartig dichterische Bild der Harmonie in den „ E u m e n i d e n " der S c h a t t e n der Harmonisierung. Wer den relativen Ausgleich der sozialen K r ä f t e berücksichtigt, u m den die heraufziehende Perikleische Zeit innerhalb der Bürger b e m ü h t war, wird indessen zugestehen müssen, d a ß die Aischyleische H a r m o n i e der Polis in einer zeitweiligen gesellschaftlichen Tendenz eine gewisse E n t s p r e c h u n g f a n d . Nach der A u f f ü h r u n g der „Orestie" (458) verließ der Dichter seine H e i m a t s t a d t , u m Sizilien aufzusuchen. Veranlaßten seinen Weggang letztlich die Widersprüche Athens? D a ß das Verhältnis des Aischylos zu den Athenern a m E n d e durch Unstimmigkeiten getrübt gewesen zu sein scheint, läßt Aristophanes (Frösche 807) v e r m u t e n , u n d es m a c h t betroffen, d a ß diesem Vers geradezu eine Disharmonie zu e n t n e h m e n ist. N a c h dem Tode Hierons I. von S y r a k u s (466) blühte in Sizilien weithin die D e m o k r a t i e a u f : in Syrakus, Gela, Selinus, K a m a r i n a , schließlich (461) in Rhegion-Messana, ja in Akragas u n d offenbar auch in Himera schon einige J a h r e vor d e m Tode Hierons. 2 7 456/55 starb Aischylos in Gela. So war es i h m vergönnt, den demokratischen Aufschwung in Sizilien mitzuerleben, der sich n a c h d e m Sturz der T y r a n n e n h e r r s c h a f t e n offenbar durch die Ungebrochenheit des N e u a n f a n g s auszeichnete. Der Z u s t a n d der Harmonie, der sich bei Aischylos zwischen I n d i v i d u u m u n d Gesellschaft hergestellt findet, wird von der Sophokleischen Tragödie nicht ü b e r n o m men. Ohne Zweifel begegnen a u c h hier große Beispiele rückhaltlosen Einsatzes des einzelnen f ü r die Gemeinschaft, u n d das t r i f f t ebenfalls, u m es vorwegzunehmen, sogar auf die Euripideische Tragödie zu, obwohl sich in ihr die Auflösungserscheinungen der Polis in besonderem Maße widerspiegeln. D a ß alle drei großen attischen Tragiker in vorwärtsweisenden, in heroischen Gestalten das E n g a g e m e n t f ü r die Gesellschaft objektivierten, unterstreicht die progressive P o t e n z des athenischen S t a d t s t a a t e s u n d beweist die fortschrittsverbundene K r a f t der griechischen Tragödie, deren Große sich, wenn auch in unterschiedlicher Weise u n d trotz m a n c h e r eigenen Vorstellungen, den progressiven E r r u n g e n s c h a f t e n der Polisdemokratie verpflichtet w u ß t e n . Diese h u m a nen, in der tragischen Dichtung hervorgehobenen Werte, die auf eine hohe A b s t r a k tionsebene gebracht, darin bestehen, daß sich der Mensch verwirklicht, indem er f ü r die Menschen eintritt, jedenfalls f ü r die Menschen in seinem sozialen Umkreis — diese Ideale sind integrierende Bestandteile z u k u n f t s t r ä c h t i g e r gesellschaftlicher Verhältnisse bis heute. Von d e m heroisch H u m a n e n , von dem Bezirk menschlicher Höchstleistungen f ü h r t ein gerader Weg zur Sophokleischen Tragödie mit ihren hochgesteigerten N o r m e n u n d Anforderungen. Sosehr sich der einzelne hier f ü r die Gemeinschaft nicht n u r einsetzt, sondern a u f opfert — was das D r a m a des Sophokles entscheidend p r ä g t , ist eher die Loslösung des I n d i v i d u u m s von der Gesellschaft. Diese Erscheinung entspricht der historischen Wirklichkeit. Spätestens seit der J a h r h u n d e r t m i t t e lassen sich Zeichen eines erstarkenden Individualismus sowie wachsender Sonderinteressen erkennen, die sich d a n n beherrschend geltend machen sollten. 2 8 Sophokles gehörte zu den ersten Kreisen des Perikleischen A t h e n s u n d besaß d u r c h 27 Vgl. D i o d o r 11, 53, 3 - 5 ; 68, 1 u n d 5 f . ; 72, 2 ; 76, 4 - 6 . 28 T h u k y d i d e s 2, 65, 7. Vgl. 3, 82; A r i s t o p h a n e s , F r ö s c h e 1429; I s o k r a t e s 3, 19.

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HEINRICH

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die Übernahme verschiedener leitender Funktionen 29 eine reiche politische Erfahrung. 443/42, als die Tributbezirke des Attischen Seebundes neu geordnet wurden, hatte er die wichtige Position des Hellenotamias (Schatzmeister) inne. Im Krieg gegen Samos, das sich vom athenischen Druck frei machen wollte, war er an der Seite des Perikles Stratege (441/40), und wenigstens noch ein zweites Mal übte Sophokles das Strategenamt aus. So bot sich ihm von höchster Ebene die Gelegenheit zu Einblicken und Einsichten in das gesellschaftliche Getriebe seiner Umwelt. Noch im hohen Alter gehörte Sophokles (geboren ca. 497/96) dem 413 gebildeten Kollegium der zehn Probuloi (Vörberater) an, das zu dieser Zeit die oberste Behörde in Athen 30 war und mit dem sich die Wende zur Oligarchie ankündigte. Es spricht für sein politisches Verantwortungsbewußtsein, daß er den oligarchischen Trend öffentlich kritisierte (vgl. Aristoteles, Rhetorik 3 , 1 8 , 1 4 1 9 a 26—30), als der Terror der Oligarchen ausbrach und die Demokratie abgeschafft war (vgl. Thukydides 8, 67—70).31 Welchen Mut seine Kritik an der Reaktion erforderte, die ihre Gegner aus dem Wege zu räumen verstand, darf nicht vergessen werden. Die kühne Standhaftigkeit des Dichters legen auch seine großen Gestalten an den Tag. Die scharf profilierte Sophokleische Einzelfigur, die sich auf der Bühne vor dem seit etwa 458 bestehenden Spielhintergrund der Skene (Bühnengebäude) in ihren Konturen eindrucksvoll abheben konnte, 32 - tritt mehr oder weniger in Gegensatz zur Gemeinschaft und führt einen heroischen Kampf für Ideale, die von der herrschenden Auffassung abgelehnt werden. In dieser Weise stellt sich Antigone aus dem gleichnamigen Drama (wahrscheinlich 442) gegen die Anordnungen des Tyrannen Kreon. Nur einem unreflektierten Staatsverständnis kann es unterlaufen, die Polis (7; 36) des Kreon für den Staat zu halten. Welchen Charakter das Regime im Theben des Stückes hat, ergibt sich aus einer Reihe von Zeugnissen. Da ist von einer „Bekanntmachung" (vgl. 27) für die Bürger die Rede. Läßt schon die Form der Aussage aufhorchen — ihr Inhalt vermittelt niederschlagende Eindrücke: Polyneikes, Antigones und Ismenes Bruder, der die Stadt angegriffen hatte, soll nicht bestattet, sondern unbeweint und unbeerdigt den Vögeln zum Fraß überlassen werden (26—30; vgl. die Verschärfung von 203—206). Diese Bekanntmachung, mehr ein Erlaß oder eine Anordnung, begegnet bereits im Vers 8 {xriQvyfia), um ständig wiederaufgenommen zu werden (27; 32; 34; 192; 203; 454). Sie ging keineswegs vom Volk aus, sie gilt für das „gesamte Volk der Polis" (7; vgl. 27; 192f.; 203). Ihr Urheber ist „der Stratege" (8), d. h. Kreon. E r „verbot" (47; vgl. 44) unter Androhung der Todesstrafe (35f.), und es gibt keinen Zweifel: Kreon ist ein Tyrann (vgl. 60; 506f.; 1056; 1163; vgl. auch 739). Aber aussagekräftiger als diese Bezeichnung erweist sich Kreons Selbstverständnis als Herrscher: „Ich habe alle Macht und den Thron" (173), was 29

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Vgl. P . Karavites, Tradition, Skeptieism, and Sophocles' Political Career, in: Klio 58, 1976, 359—365. Die Zeugnisse zu Sophokles' politischer Aktivität vgl. jetzt bei S. R a d t : Tragicorum Graecorum fragmenta, Vol. 4, ed. S. R a d t , Göttingen 1977, 44—46. H. Bengtson, Griechische Geschichte (vgl. Anm. 14), 246. Vgl. a u c h W . M. Calder III, Die Technik der Sophokleischen Komposition im „Philoktet", in: Hellenische Poleis. Krise — Wandlung — Wirkung, hrsg. von E . Ch. Welskopf, Bd. 3, Berlin 1974, 1 3 8 2 - 1 3 8 8 , bes. 1 3 8 6 f . ; H . Bengtson, Griechische Geschichte (vgl. Anm. 14), 247. Vgl. S. Melchinger, Das Theater der Tragödie. Aischylos, Sophokles, Euripides auf der Bühne ihrer Zeit, München 1974, 178.

I n d i v i d u u m und Gesellschaft

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der Chor bestätigt (213f.; vgl. ferner die Selbstaussage des Regierenden 666f.), während die Bürger den Nacken unter das Joch zu beugen haben (vgl. 291 f.). Kreon ist bei seinen Festsetzungen nicht an die Meinung der Polis gebunden (734), er herrscht zu eigenem Nutzen (736); er hat die Macht, und die Polis gilt, wie er meint, als sein Besitz (738). Mit dem zuletzt zitierten Gedanken antwortet Kreon auf Haimons demokratische Gegenposition: „Das ist keine Polis, die einem einzelnen Mann gehört" (737). Kreons autokratischer Macht tritt Antigone entgegen. Nicht daß sie Polyneikes bestattet hätte, was angesichts der aufgestellten Wachposten schwer möglich gewesen wäre. Die Bestattung wurde eher symbolisch vollzogen, aber indem sie den Leichnam mit Staub bedeckte (vgl. im einzelnen 426—431) und ihm jedenfalls die gebührenden Ehren erwies (vgl. 245—247), übertrat sie das Verbot des Machthabers. Antigone beruft sich gegenüber Kreon auf die „ungeschriebenen und unerschütterlichen Gesetze der Götter" (454f.). So steht das Recht der tyrannischen Herrschaft gegen das Recht der Götter, wobei zu beachten ist, daß die ungeschriebenen Gesetze der Tradition verhaftet sind (vgl. Piaton, Gesetze 793 a b). 33 Die offene Konfrontation führt zur Verurteilung der Heldin und schließlich zu ihrem Freitod, aber der große Verlierer wird am Ende der gewaltige Kreon selbst (vgl. 1272—1275; 1345f.) durch den Verlust seines Sohnes Haimon, der sich an der Leiche der geliebten Antigone den Tod gibt, und durch den Verlust seiner Frau Eurydike, die sich gleichfalls das Leben nimmt. Nicht Antigone, sondern Kreon bricht zusammen. Es wurde versucht, für den Protagonisten des Stückes, das „Antigone" heißt, Kreon auszugeben und Antigone „as a woman with an idée fixe" hinzustellen. 34 Eine solche Interpretation geht an der heroisch humanen Botschaft der Antigone vorbei. Die tragische Heldin des Stückes ist unbezweifelbar Antigone. 35 Daß Kreon zu spät einzusehen beginnt, es sei „das beste", die Gesetze zu bewahren, von denen sich Antigone leiten ließ (vgl. 1113 f.), macht auchihn zu einer tragischen Gestalt. 36 Wer Antigone 33

Über die ungeschriebenen Gesetze vgl. V. Ehrenberg, Sophokles und Perikles, München 1956, 25—62. Zur Kontroverse bei Sophokles vgl. J. Dalfen, Gesetz ist nicht Gesetz und f r o m m ist n i c h t fromm. D i e Sprache der Personen in der sophokleischen A n t i g o n e , in : Wiener Studien N . F . 11 (90), 1977, 5 - 2 6 . 3/ * W . M. Calder I I I , Sophokles' Politicai Tragedy, A n t i g o n e , in : Greek, R o m a n and B y z a n tine Studies 9, 1968, 3 8 9 - 4 0 7 ; geäußerte A n s i c h t 390, Zitat 392. E i n e „große, aber vergebliche Anstrengung" — so bewertet D . Korzeniewski, in: G y m n a s i u m 85, 1978, 90 A n m . 4, den v o n W . M. Calder I I I vorgelegten D e u t u n g s v e r s u c h n o c h t recht mild. 35 H . Patzer, H a u p t p e r s o n und tragischer H e l d in Sophokles' „Antigone", W i e s b a d e n 1978 (Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der J o h a n n W o l f g a n g GoetheU n i v e r s i t ä t Frankfurt a m Main 15, 2), bes. 103. Vgl. auch G. F . Else, T h e Madness of Antigone, Heidelberg 1976 (Abhandlungen der Heidelberger A k a d e m i e der Wissenschaften, Philosoph.-hist. Klasse, Jg. 1976, 1), bes. 101. D a ß indessen „the folly and fury" des Chorverses 603 „are identified with" A n t i g o n e , wie G. F . E l s e w a h r h a b e n will (75), ist ein unglücklicher Gedanke. Über die m y t h i s c h e Vorlage sowie die Sophokleische Leistung vgl. H . P e t e r s m a n n , M y t h o s u n d G e s t a l t u n g in Sophokles' A n t i g o n e , i n : Wiener Studien N . F . 12 (91), 1978, 6 7 - 9 6 ; V. di B e n e d e t t o , Moduli di u n a n u o v a s o g g e t t i v i t à nell' Antigone, i n : Annali della Scuola N o r m a l e Superiore di Pisa, Classe di Lettere e Filosofia, Ser. 3, B d . 10, 1, 1980, 7 9 - 1 2 3 . 36

Vgl. A. Lesky, D i e tragische D i c h t u n g der H e l l e n e n (vgl. A n m . 6), 204. Für H . P a t z e r , H a u p t p e r s o n und tragischer H e l d in Sophokles' „Antigone" (vgl. A n m . 35), 104, ist Kreon dagegen „der zu einer Art ,Gegenheld' ausprofilierte Untragische".

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H E I N B I C H KTTCH.

verstehen will, kann über ihre enge Verbundenheit mit der Welt der Toten nicht hinwegsehen. Sie ist fest entschlossen, Polyneikes zu bestatten (71 f.); dabei zu sterben erscheint ihr schön (72). Mehr noch: Sie zieht den Tod dem Leben vor (460—466), der Tod bedeutet Antigone im Vergleich zu ihrem jammervollen Leben einen Gewinn (463f.). „Meine Seele ist schon lange tot" (559f.). Wenn sich die Ödipustochter bei ihrem letzten Gang zu den Ihren aufbrechen sieht (892f.) und hofft, im Totenreich dem Vater, der Mutter, dem Bruder willkommen zu sein (897—899; vgl. 73), so wird offenbar, wie ihre Todessehnsucht eine Sehnsucht nach den Toten ist, d. h. nach ihren toten Angehörigen. Da kommen die gentilen Bindungen in den Blick, die sie über die Bindungen an die Polis des Kreon gestellt hatte. Der Gedanke der Blutsverwandtschaft (45f.; 4 6 6 - 4 6 8 ; 5 0 2 - 5 0 4 ; 511; 513; 658f.) bestimmt die Tat der Antigone in entscheidender Weise. 37 Wenn sich Antigone als Glied einer Gemeinschaft empfindet, dann ist es offenbar eine Gemeinschaft unter gentilen Vorzeichen. Bereits im ersten Vers des Dramas hebt ihre Anrede an Ismene die Gemeinsamkeit mit der Schwester in starker Weise hervor. Auch Antigones berühmtes Wort „Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da" (523) gehört hierher, denn es bezieht sich auf den toten Bruder, dessen Bestattung verboten worden war. Aber dieser Ausspruch läßt zugleich ihr Wesen erkennen, 38 dessen humanitäre Substanz selbst von Kreons Macht nicht vernichtet werden kann. Es ist erstaunlich, wie schwer es jenes Humanitätsbekenntnis hat, um in der Forschung die verdiente Würdigung zu finden. Obwohl sie das Sterben gewählt hat (555), geht Antigone nicht etwa leichten Herzens in den Tod. Wie wenig sie ihr Leben erfüllt sieht, zeigen ihre ergreifenden Klagen (876-882; 8 9 1 - 8 9 6 ; 916-920). Dieser menschliche Zug läßt ihren Heroismus nur um so schärfer hervortreten. In einer allgemeinen Atmosphäre des Schreckens und des Schweigens (504f.; 509; 690f.; vgl. 700), 39 die in der Stadt des Gewaltregimes herrscht, engagiert sich Antigone allein, in tapferer Haltung, für die Humanität, womit sie sich von der Stadt trennt und in einen gewissen Gegensatz zu ihr tritt. „Ungeheuer ist viel. Doch nichts ungeheuerer als der Mensch", singt der Chor (332f.; Übertragung von Hölderlin) in jenem ersten Stasimon, das die Errungenschaften des Menschen feiert. Damit wird ein Thema angeschlagen, das im philosophischen Denken der Perikleischen Epoche zentrale Bedeutung hatte, zumal sich die menschliche Kreativität — im Rahmen des historisch Möglichen — überaus produktiv entfalten konnte. Es genügt, in diesem Zusammenhang an zwei profilierte Zeugnisse zu erinnern. Nach dem Urteil des Anaxagoras war der Mensch infolge des Besitzes von Händen das klügste Lebewesen (Fr. 59 A 102 Diels-Kranz), womit die Bedeutung der Arbeit für die Entstehung der Kultur gesehe-n wurde. Den progressiv schöpferischen Zug der Zeit artikulierte Protagoras mit seinem berühmten Satz: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, daß sie sind, der nichtseienden, daß sie nicht sind" (Fr. 80 B 1 Diels-Kranz). In der „Antigone" ertönt das Lied vom 37

38 39

Vgl. hierzu B . M. W . K n o x , T h e Heroic Temper. Studies in Sophoolean Tragedy, B e r k e ley — Los Angeles 1964, 76 — 82; R . Labellarte, yevog e jidhg nell' Antigone di Sofocle, B a r i 1977. A. Lesky, Die tragische Dichtung der Hellenen (vgl. Anm. 6), 198. Schwierig ist das ßia nohrcöv der Verse 79 und 907, wenn die „Bürger" hier nicht als „ S t a a t " verstanden werden.

Individuum und Gesellschaft

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Menschen, unmittelbar bevor die Heldin, bei ihrer T a t ergriffen, vor K r e o n geführt wird. I n die R e i h e der v o m Chor besungenen menschlichen G r o ß t a t e n fügt sich die Menschentat der Antigone würdig ein. W i e sich das Chorlied weit eher auf K r e o n beziehen soll, 4 0 wird angesichts seiner I n h u m a n i t ä t nicht recht verständlich. E s wäre indessen verfehlt, das Lied auf eine Person zu beschränken, denn Sophokles greift hier offenbar selbst in die geistigen Auseinandersetzungen seiner Zeit ein, ohne d a ß dadurch die Integration des Einzelliedes in das dramatische Ganze aufgehoben würde. 4 1 W e n n der D i c h t e r die herausragenden Leistungen des Menschen preist, weiß er die Bewunderung für das B a h n b r e c h e n d e in seine Verse zu legen, a u c h wenn ihm die K ü h n h e i t der T a t e n gleichsam den A t e m zu verschlagen scheint. U n ü b e r h ö r b a r k o m m e n denn auch seine Bindungen an die Tradition und den Götterglauben zum Ausdruck. Sophokles m a c h t das Ansehen in der Polis abhängig von der Stellung zu den „Gesetzen des Landes und dem beschworenen R e c h t der G ö t t e r " ( 3 6 8 f . ) . W e r diese Normen a c h t e t , genießt hohes Ansehen in der S t a d t , a b e r nichts gilt in ihr, wer die gleichen Normen verletzt (vgl. 3 7 0 f . ) . D a s „beschworene R e c h t der G ö t t e r " (369) des Chorliedes berührt sich eng mit den v o n Antigone vertretenen „ungeschriebenen und unerschütterlichen Gesetzen der G ö t t e r " ( 4 5 4 f . ) . D e r D i c h t e r und seine Heldin — sie finden sich Seite an Seite. So gesehen, erhebt sich Antigone „hoch in der P o l i s " (370), und t a t s ä c h l i c h — die Heroin weiß es nicht — steht die Polis hinter ihr (vgl. 692—700; 733), ohne unter d e m Druck des Terrors den Mut zu haben, sich offen zu Antigone zu b e k e n n e n (vgl. die einschlägigen Stellen oben). U n d es ist der M a c h t h a b e r K r e o n , der n a c h dem Urteil der S t a d t isoliert wird. Die Idee der Menschentat verbindet sich in Antigone mit d e m Begriff des T a t m e n schen. Schon gleich zu Anfang leuchtet der Gedanke der T a t auf ( 3 5 ; 4 1 ) , und als Antigone dem Herrscher verhaftet vorgeführt wird, b e k e n n t sie sich frei zu dem, was sie getan hat ( 4 4 3 ; vgl. 384 die W o r t e des W ä c h t e r s ) . „Dich hat dein eigenwilliger T r o t z v e r n i c h t e t " , sagt ihr der Chor (875). W e r sich die Aussage i m griechischen W o r t l a u t näher ansieht, erkennt in der Unbeugsamkeit C h a r a k t e r und in j e n e m eigenen Willen den eigenen E n t s c h l u ß (vgl. auch 8 2 1 : amovo/iog). Antigone hat das dramatische Geschehen wesentlich von sich aus b e s t i m m t . 4 2 Sie zerbricht a n der herrschenden gesellschaftlichen M a c h t , a b e r ihre menschliche Größe k a n n n i c h t zerstört werden. Die verschiedenen Beziehungen, in denen das Individuum zu seiner Umwelt s t e h t : Antigones gentile Bindungen, die v o n ihr vertretenen ungeschriebenen Gesetze, ihre Loslösung von der S t a d t , a b e r a u c h i h r Ansehen in der S t a d t , die humanistische Aktion der Heldin —diese Aspekte zeigen, d a ß das I n d i v i d u u m reicher und komplizierter gestaltet ist als der durch K r e o n repräsentierte M a c h t a p p a r a t . 40 41

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So A. Lesky, Die tragische Dichtung der Hellenen (vgl. Anm. 6), 196f.; vgl. auch 205. Vgl. ebd. 205; 196f.; ders., Der Herren eigner Geist. Zur Deutung der Chorlieder des Sophokles, in: Das Altertum und jedes neue Gute," für W . Schadewaldt zum 15. März 1970, hrsg. von K . Gaiser, Stuttgart - Berlin( West) - Köln - Mainz 1970, 7 9 - 9 7 . Vgl. auch E . B . Bongie, The Daughter of Oedipus, in: Serta Turyniana. Studies in Greek Literature and Palaeography in Honor of A. Turyn, ed. by J . L . Heller with the assistance of J . K . Newman, Urbana — Chicago — London 1974, 239 — 267, bes. 244 und 266. Das Argument der ungeschriebenen Gesetze von 454f. — „not . . . one of her strongest reasons for defying Creon's decree" (ebd. 257) — scheint indessen unterschätzt zu werden.

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Dem Modell Antigone lassen sich weitere Gestalten der Sophokleischen Tragödie an die Seite stellen, aus deren Kfeis zwei, drei eben noch erwähnt werden sollen, bevor die Interpretation mit einem Blick auf Euripides schließt. Von der gleichen Entschlossenheit zur Tat ist Elektra beseelt, die sich ebenfalls im Konflikt mit der herrsehenden Macht befindet. Das gleichnamige Drama gehört dem Spätwerk des Dichters an. Die etwa 30 Jahre, die vermutlich zwischen der „Antigone" und der „Elektra" liegen, beweisen die Sophokleische Kontinuität in der Gestaltung hochgesteigerter Unbedingtheit beim Kampf gegen Unrechtsverhältnisse. Unterdrückt von dem neuen Regime, das sich mit der Ermordung ihres Vaters Agamemnon etablierte, ist Elektra fest entschlossen (vgl. 1049), mit eigener Hand (1019f.; vgl. 1045) die Rache an Aigisthos, dem Geliebten ihrer Mutter Klytaimnestra, zu vollziehen, der die Herrschaft an sich gerissen hatte. An der Seite des zurückgekehrten Orest ist sie die Seele des Kampfes gegen den Usurpator, zur Tat rufend und mahnend (1415; 1435; 1483—1490). Die Chorpartie, die das Drama beschließt, „bestätigt der Heldin den vollen Erfolg ihrer Bemühungen". 4 3 Wenn die Dresdener „Elektra"-Inszenierung (Regie: K. D. Kirst), die im Herbst 1978 auf dem Programm der Berliner Festtage stand, die Zuschauer am Ende mit dem Eindruck einer gebrochenen Elektra entläßt, so ist das Stück gründlich mißverstanden. Der kämpferischen Haltung der Elektra wird auch die Aufführung im Deutschen Theater, Berlin, von 1980 nur bedingt gerecht (Inszenierung: F. Solter), und es erstaunt nicht weniger, daß die Sophokleische Heldin des Widerstandes — so die dem Programm beigegebenen „Stichworte aus den Proben" — als „Amokläuferin" aufgefaßt wird. I m „König Ödipus" (Oidipus Tyrannos) (erste Hälfte der 20er Jahre des 5. Jh.) bittet der erste Mann der Polis (vgl. 33; 46) am Schluß, aus dem Lande geworfen zu werden (1436; 1518; 1521). Der entschiedenste Einsatz des Individuums für die Gesellschaft steht hier im Zeichen tiefster Tragik, da sich seine Aktivität gegen Ödipus selber kehrt. Mit bedingungsloser Konsequenz sucht er das Wohl der Polis wiederherzustellen, ohne sehen zu können, daß er, der unwissentlich seinen Vater Laios erschlagen und seine Mutter lokaste geheiratet hatte, allein die Ursache des Unglücks ist. Das dramatische Geschehen verläuft nach den Maßstäben eines theonomen Weltbildes, die sich rationalem Zugriff entziehen. Doch die dichterische Enthüllung der Zusammenhänge erfolgt mit einer nahezu methodisch strengen Rationalität, 4 4 an der der Wahrheitssucher Ödipus wesentlichen Anteil hat. Auch wenn der Held in die Katastrophe gerät, bleibt seine menschliche Größe wie im Fall der Antigone bestehen. Wie sich bei Sophokles die Größe des Menschen und menschliches Leid verbinden, wird im „König Ödipus" besonders anschaulich. 45 Die Konfrontation des Individuums mit der Gesellschaft, seine Vereinzelung und Einsamkeit scheinen in den späten Dramen des Sophokles ihren nachhaltigsten Ausdruck gefunden zu haben mit dem auf einer menschenleeren Insel ausgesetzten Phi« H . E r b s e , Z u r „ E l e k t r a " d e s Sophokles, i n : H e r m e s 106, 1978, 2 8 4 - 3 0 0 ; Z i t a t 300. Vgl. K . Stierle, i n : P o e t i c a 8, 1976, 4 3 9 : „ D a s E r s c h a u e r n v o r d e m N u m i n o s e n w i r d m i t M i t t e l n b e w i r k t , die d e r a v a n c i e r t e s t e n R a t i o n a l i t ä t a n g e h ö r e n , n ä m l i c h d e r s y s t e m a t i s c h - a n a l y t i s c h e n E r f r a g u n g eines S a c h v e r h a l t s . " 45 Ü b e r die S y n t h e s e v o n m e n s c h l i c h e r S t ä r k e u n d S c h w ä c h e i n d e r S o p h o k l e i s c h e n T r a g ö d i e vgl. E . G. S c h m i d t , D a s M e n s c h e n b i l d bei A i s c h y l o s u n d S o p h o k l e s (vgl. A n m . 15), 9 3 - 1 3 5 , bes. 1 1 2 - 1 3 1 . 44

I n d i v i d u u m und Gesellschaft

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loktet 4 6 (im gleichnamigen Stück aus dem J a h r 409) und mit Ödipus 47 (im 401 p o s t u m auf die Bühne gebrachten „Ödipus auf Kolonos"), der, von den Göttern gerufen (vgl. 1511; 1626), die menschliche Gesellschaft verläßt. E s wurde bereits erwähnt, d a ß Aischylos nach der Aufführung der „Orestie" (458) Athen verließ und nach Sizilien ging, wo die Demokratie einen neuen Frühling erlebte. Sophokles blieb in der Heimatstadt, ließ aber seinen Helden a m Schluß von Athen aus zu den Göttern aufbrechen. Auch Euripides verließ nach der Inszenierung seines „Orest" (408) die Stadt, u m zu Archelaos nach Makedonien zu emigrieren, in ein L a n d , von dem schon bald eine neue historische Entwicklung ihren Ausgang nehmen sollte. D a ß die großen attischen Tragiker jeder in dieser oder jener Weise, persönlich oder dichterisch, sich am E n d e einer anderen, ihnen offenbar erstrebenswerter erscheinenden Welt zuwandten — wer k a n n hier an Zufälligkeiten glauben? Und sollten es nicht im Grunde die Widersprüche ihrer Gesellschaft gewesen sein, die zu jenem Aufbruch Anlaß gaben? Weitaus stärker als bei Sophokles ist das Verhältnis von Individuum u n d Gesellschaft in der Euripideischen Tragödie gestört, die keine Bedenken hatte, die Krisenerscheinungen der Polis bloßzulegen. Euripides s t a m m t e aus einer grundbesitzenden Familie, die offenbar zu den wohlhabenden Mittelschichten gehörte. 4 8 F ü r die Gestalt u n g der Beziehungen des einzelnen zur Gemeinschaft erscheint es bedeutsam, d a ß Euripides trotz seiner Liebe zu Athen nicht die engen Bindungen a n die Polis hatte, wie es sich für Aischylos und Sophokles feststellen ließ. Vom jüngsten der drei Großen ist kein Tätigwerden in einer bedeutenden amtlich politischen F u n k t i o n bekannt, doch es fragt sich, ob er — angesichts der reichen Möglichkeiten des öffentlichen Lebens in Athen — unbedenklich von allen politischen Funktionen ausgeschlossen werden kann. 4 9 Mit seinem dichterischen Werk griff er jedenfalls nachhaltig in die öffentliche Diskussion zu den Fragen seiner Zeit ein. E s besteht kein Zweifel, d a ß Euripides von der rationalistischen Aufklärung erheblich inspiriert war, mit deren Ideen er sich produktiv und eigenständig auseinandersetzte. I n der Euripideischen Tragödie begegnen verschiedene Menschenbilder, 5 0 u n d 46

Zur Interpretation vgl. Zs. R i t o o k , Politische und h u m a n i s t i s c h e E l e m e n t e i m „Philoktet" des Sophokles, in: D i e gesellschaftliche B e d e u t u n g des a n t i k e n D r a m a s für s e i n e u n d . für unsere Zeit. Protokoll der Karl-Marx-Städter F a c h t a g u n g v o m 29. bis 31. 10. 1969, hrsg. v o n W . H o f m a n n u n d H . K u c h , Berlin 1973 (Schriften zur Geschichte und K u l t u r der A n t i k e 6), 65—78. Andere A k z e n t e setzt Ch. Segal, D i v i n o e u m a n o nel F i l o t t e t e di Sofocle, in: Quaderni U r b i n a t i di eultura classica 23, 1976, 67—89; ders., P h i l o c t e t e s and t h e Imperishable P i e t y , in: H e r m e s 105, 1977, 133—158. Vgl. jedoch J . P . P o e , H e r o i s m and D i v i n e Justice in Sophocles' Philoctetes, Leiden 1974 (Mnemosyne, S u p p l e m e n t 34). 47 W i e P h i l o k t e t ist auch Ödipus änohg, „ohne S t a d t " (Philoktet 1018; Ödipus auf Kolon o s 1357). 48 Vgl. F . Schachermeyr, Zur F a m i l i e des Euripides, in: F o r s c h u n g e n und B e t r a c h t u n g e n zur griechischen und römischen Geschichte, hrsg. a u s A n l a ß seines 80. Geburtstages, W i e n 1 9 7 4 , 2 0 5 - 2 2 6 ( = A n t i d o s i s . Festschrift für W . K r a u s z u m 70. Geburtstag, hrsg. v o n R . Hanslik, A. L e s k y , H . Schwabl, W i e n - K ö l n - Graz 1972, 3 0 6 - 3 2 6 ) . 49 Vgl. P . T. S t e v e n s , Euripides and the Athenians, in: The Journal of Hellenic S t u d i e s 76, . 1966, 8 7 - 9 4 , bes. 91 m i t A n m . 24. 50 Vgl. H . K u c h , F o r m e n des Menschenbildes bei Euripides, i n : D e r Mensch als Maß der Dinge. S t u d i u m z u m griechischen Menschenbild in der Zeit der B l ü t e u n d Krise d e r Polis, hrsg. v o n R . Müller, Berlin 1976 (Veröffentlichungen des Z e n t r a l i n s t i t u t s f ü r

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ebenso unterschiedlich sind die Beziehungen, die sie zu ihrer Umwelt entwickeln. Wer kategorisieren will, dem fallen sogleich die Helden ein und eher noch die Nichthelden, sodann die Frauen, die Jugend, die Sklaven, und damit sind bereits beunruhigend neuralgische Punkte bezeichnet. Die Individuen des Dichters stehen in den vielfältigsten Verhältnissen zu einer Gesellschaft, die die einzelnen Gestalten alle in einem verwirrend komplizierten Spannungsfeld weniger vereint als auseinanderhält. Nur wenigen Linien kann im gegebenen Rahmen, mehr andeutend als ausführend, nachgegangen werden. Wenn in manchen früheren Stücken, wie in den „Herakliden", den „Hiketiden" und dem „Erechtheus" — also in Tragödien von etwa 430 bis zum Ausgang der 20er Jahre 5 1 —, dem Stadtstaat verantwortungsbewußt verbundene Herrscher auftreten, die engagiert die Interessen der Gemeinschaft verfechten, dann bewährt sich auch bei Euripides ein konstruktives Polisethos, das der Dichter den Phänomenen des allgemeinen Niedergangs im Peloponnesischen Krieg kühn entgegenstellt. Der Gedanke einer Übereinstimmung zwischen Individuum und Gesellschaft, der Traum von der Harmonie der Polis war so verführerisch, daß er selbst in der hereinbrechenden Krise erneut versucht wurde. In den späteren Produktionen des Dichters fehlen Beispiele nach der leitbildhaften Art des Aischyleischen Eteokles. Zur heroischen Bewährung, wenn das Wohl des Gemeinwesens auf dem Spiel steht, wird die extreme Form des Opfertodes für die bedrohte Stadt ausgestaltet. Daß ihn die Jungen auf sich nehmen, wie etwa Menoikeus in den „Phoinissen" (aus den Jahren 411—408) (vgl. die Verse 997f.; 1013f.), aber auch schon Makaria in den „Herakliden" (vgl. 502; 530f.), spricht für den Heldenmut der Todbereiten. I n den letzten Worten des Menoikeus (Phoinissen 1015—1018) schwingt eine unverkennbare Resignation mit: Wenn sich „jeder einzelne" (1015) nach Kräften „für die Gemeinschaft" (1016) einsetzen würde, so könnte es um die Städte besser bestellt sein. Wie es in der Wirklichkeit aussah, wußten die Zeitgenossen der athenischen Misere in der möglichen Aufführungszeit des Stückes (411—408) selbst. Für zahlreiche Individuen der Euripideischen Tragödie ist der Versuch bezeichnend, die traditionelle Gesellschaft und ihre der Polis verpflichtete Ideologie zu überwinden, womit der Dichter im Einklang mit den gesellschaftlichen Erfordernissen seiner Zeit stand. Das beginnt mit einem stärkeren Bewußtsein der Gegensätze innerhalb der Polis und mit einem höheren Grad von Rationalität unter dem Einfluß der Aufklärung. Selbst die „Hiketiden", in der antiken Inhaltsangabe als „Enkomion auf die Athener" gerühmt, sind nicht frei von bedenklich kritischen Einwänden gegen das im ganzen progressiv gezeichnete, aber doch überhöhte Bild der Polisdemokratie (vgl. 404—408; 433-441), die mit dichterischer Freiheit dem Athen des 5. J h . entlehnt wurde. Was der Herold aus Theben über die Realisierung der politischen Möglichkeiten vorbringt (417—422), trifft so genau den wunden P u n k t der athenischen Demokratie, daß die Kritik im folgenden nicht widerlegt werden kann. In seiner Gegenrede (426— 456) geht Theseus über die Monita großzügig hinweg. Dieses Verfahren soll indessen nicht für den eben genannten höheren Grad von Rationalität in Anspruch genommen

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A l t e G e s c h i c h t e u n d A r c h ä o l o g i e d e r A k a d e m i e d e r W i s s e n s c h a f t e n d e r D D R 8), 283 b i s 307. L e t z t e r F o r s c h u n g s b e r i c h t z u r g r i e c h i s c h e n T r a g ö d i e ( S o p h o k l e s - E u r i p i d e s ) v o n H . S t r o h m , i n : Anzeiger f ü r die A l t e r t u m s w i s s e n s c h a f t 30, 1977, 129—166. N a o b wie v o r w i c h t i g T . B . L . W e b s t e r , T h e T r a g e d i e s of E u r i p i d e s , L o n d o n 1967. D e r in d i e Zeit v o r 422 g e h ö r e n d e „ T h e s e u s " ist w a h r s c h e i n l i c h ein S a t y r s p i e l ; vgl. D . F . S u t t o n , E u r i p i d e s ' T h e s e u s , i n : H e r m e s 106, 1978, 4 9 - 5 3 .

Individuum und Gesellschaft

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werden, der in der Tat durch andere Verhaltensweisen zu belegen wäre. Auf ausgeprägt rationalistischen Positionen stehen in der Euripideischen Tragödie nicht selten die gesellschaftlich Unterprivilegierten und Unterdrückten: die Frauen und die Sklaven. Aus der Zahl der Sklaven, die der Dichter geradezu auf die Bühne strömen läßt und die, aus ihrer ursprünglichen Gemeinschaft gerissen, keine echte Chance haben, wieder eine Gemeinschaft zu finden, ragt durch die Größe ihres Leids Hekabe hervor. Die einstige Königin von Troja weiß ihren scharfen Verstand sowohl in der gleichnamigen Tragödie „Hekabe" (vermutlich 424) wie auch in den „Troerinnen" (415) in glänzender Weise zu bewähren. In ihrem eindringlichen Gebet in den „Troerinnen" (884—888) spiegeln sich offenbar des Dichters eigene Reflexionen, seine Bestrebungen, die Wirklichkeit rational zu durchdringen. Da begegnen als Alternativen für das höchste Prinzip die „Naturnotwendigkeit" und der „Geist der Menschen" (886). Die Verspartie setzt die Kenntnis Heraklits, der Atomistik sowie des Anaxagoras voraus, und gleich der Anfang (884) scheint auf Diogenes von Apollonia Bezug zu nehmen, ohne daß die Vertrautheit mit dem philosophischen Denken dem dichterischen Anliegen oder der eigenständigen Betrachtung des Tragikers Abbruch getan hätte. In der „Hekabe" wird der Titelgestalt selbst eine atheistische Aussage in den Mund gelegt: „Denn aus Konvention glauben wir an die Götter" 5 2 (Hekabe 800). Wenn es um die Ratio geht, muß Medea wenigstens erwähnt werden. 53 Welche überlegenen geistigen Kräfte sie zu entwickeln versteht, zeigen vor allem ihre Auseinandersetzungen mit Iason, dessen eigensüchtige Motive sie mit Scharfblick aufdeckt. Medea, fern vom heimatlichen Kolcherland, befindet sich in der hoffnungslosen Lage eines gesellschaftlichen Außenseiters: von Iason in Korinth verlassen, ohne den Schutz einer Polis (255) und dazu eine „Barbarin" (vgl. 256). Und doch bestimmt sie die dramatische Handlung. Wenn sie in jenem großen Monolog ausspricht, ihre Emotion sei stärker als ihre Überlegungen (1079), so sollte das Zeugnis über den Affekt hier nicht gegen die rationalen Potenzen ins Feld geführt werden. Die Selbstaussage erscheint weit mehr geeignet, einen Weg zur Persönlichkeit der Verzweifelten zu öffnen. I n dem großen Monolog trägt Medea ihren schweren Kampf in ihrem Inneren aus, ohne sich auf eine außermenschliche Instanz zu berufen. 54 Der ebenso rationalen wie psychologisch empfindsamen Gestaltung verdankt das Individuum in der Tragödie des Euripides seine überzeugende Wirkung. 55 62

Vgl. F. Heinimann, N o m o s u n d Physis. H e r k u n f t u n d B e d e u t u n g einer A n t i t h e s e i m griechischen D e n k e n des 5. Jahrhunderts, B a s e l 1945 (Schweizerische B e i t r ä g e zur Altertumswissenschaft 1) (Nachdruck D a r m s t a d t 1965), 1 2 1 f . ; A. L e s k y , D i e tragische D i c h t u n g der Hellenen (vgl. A n m . 6), 518. 53 Vgl. y . Ehrenberg, F r o m Solon t o Socrates. Greek H i s t o r y and Civilization during t h e S i x t h and F i f t h Centuries B . C., L o n d o n 1971, 258, über die „Medea" des E u r i p i d e s : „perhaps t h e m o s t intensely tragic of all his plays". 54 Vgl. B . Snell, D i e E n t d e c k u n g des Geistes (vgl. A n m . 6), 120f.; H . Diller, Ov/iog öe xgeiaocav TWV ifi&v ßovÄevfidTcov. B r u n o Snell z u m 70. Geburtstag, in: K l e i n e Schriften zur a n t i k e n Literatur, hrsg. v o n H . - J . Newiger u n d H . Seyffert, München 1971, 359—368 ( = H e r m e s 94, 1966, 2 6 7 - 2 7 5 ) . 55 Zur „Medea" unlängst P. E . Easterling, T h e I n f a n t i c i d e in Euripides' Medea, i n : Y a l e Classical Studies 25, 1977, 1 7 7 - 1 9 1 ; B . M. W . K n o x , T h e Medea of Euripides, ebd. 193—225 ( = B . K n o x , Word and Action. E s s a y s o n t h e A n c i e n t Theater, B a l t i m o r e — L o n d o n 1979, 2 9 5 - 3 2 2 ) ; A. Dihle, Euripides' Medea, Heidelberg 1977 (Sitzungsberichte der Heidelberger A k a d e m i e der Wissenschaften, Philosoph.-hist. Klasse, J g . 1977, 5). 6

Griech. Tragödie

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HEINRICH

KUCH

Die Bemühungen Euripideischer Gestalten, über den Stadtstaat wenn nicht hinauszukommen, so doch hinauszugreifen, führen bis zur Vertretung panhellenischer und kosmopolitischer Ideen. Bereits in relativ frühen Stücken flackert bisweilen der panhellenische Gedanke auf (Herakliden 1010; Andromache 646; 665f.), um dann in der „Iphigenie in Aulis" weithin zu leuchten. 56 Kosmopolitische Vorstellungen sind nur in Fragmenten überliefert, was zur Vorsicht bei der Deutung mahnt. Daß indessen Gestalten des Dichters auch in dieser Torrn aus dem gesellschaftlichen Rahmen der traditionellen Polis herausstreben, wird sich nicht bezweifeln lassen. „Der ganze Himmel steht dem Adler offen, die ganze Erde ist für einen tüchtigen Mann das Vaterland" (Fr. 1047 Nauck) 57 , und „Überall ist die nährende Erde Vaterland" (Phaethon, Fr. 777 Nauck; vgl. auch Fr. 902 Nauck). Wie hier versucht wird, die gesamte Welt zum sozialen Lebenskreis zu machen, ist offensichtlich. Selbst die gesellschaftlichen Schranken beginnen fragwürdig zu werden, wenn einzelne Vertreter der unteren Schichten und Sklaven nicht nach dem sozialen Status, sondern nach ihrem inneren Wert beurteilt werden. 58 Allenthalben wird in der Euripideischen Tragödie nach neuen Möglichkeiten des Individuums gesucht, bis sich am Ende in einer Welt der Sonderinteressen und des persönlichen Machtstrebens ein bisher unbekannter Individualismus und Egoismus durchsetzen. Die Zwistigkeiten und Kämpfe zwischen Eteokles und Polyneikes gehören sicherlich zum Mythos. Wie der Dichter indessen die im Mythos angelegten Züge ausgestaltet hat, erscheint für seine Zeiterfahrungen aussagekräftig. Beide Brüder, der Angreifer wie der Verteidiger, haben in den „Phoinissen" keine Hemmungen, hinreichend offene Bekenntnisse über ihre Wertvorstellungen abzulegen (vgl. 438; 503). Da ist für Polyneikes das Geld die stärkste Triebkraft (438—442). Eteokles setzt alles daran, die Tyrannis, „die größte Göttin", zu behalten (503—506) und redet einem rücksichtslosen Egoismus das Wort (507f.). Vergeblich sucht lokaste, den Sinn auf das Gleichheitsprinzip zu lenken (535—538). Das „Gleiche" besteht für Eteokles nur dem Namen nach (501 f.). Was beide Gegner beherrscht, ist das persönliche Machtstreben (vgl. 590f.; 601 f.; 634-f.). In den „Hiketiden" fand sich ein vergleichsweise positives Demokratiemodell. Wer die Verachtung demokratischer Werte in den „Phoinissen" und das Gesellschaftsverständnis der führenden Gestalten berücksichtigt, wird in der Annahme nicht fehlgehen, daß der Dichter bei der Zeichnung seiner Helden unter dem Eindruck des Niedergangs der athenischen Polisdemokratie stand. Die Gesellschaft bedeutet dem Individuum des Spätwerks nur mehr noch eine Kulisse, vor deren Hintergrund die persönlichen Interessen durchzusetzen sind. 59 56 Vgl. 350; 414; 514; 7 5 1 - 7 5 6 ; 1271; 1378; 1383-1390; 1393; 1397; 1406; 1420; 1446; 1456; 1473; 1502; 1526; 1529. 57 Tragicorum Graecorum fragmenta, reo. A. Nauck, 2. Aufl. Leipzig 1889. 58 Für den selbstarbeitenden Bauern in der „Elektra", den Auturgos, vgl. Elektra 380—387. Der zum Typ gewordene treue Sklave, dessen gesellschaftliches Verhalten den Interessen der herrschenden Klasse adaptiert ist, begegnet nicht selten: vgl. Medea 54—58; Helena 726-733; 1640f.; Ion 8 5 0 - 8 5 6 ; Bakchen 1027. Zu vergleichen sind die Wertungen in folgenden Fragmenten: Melanippe desmotis, Fr. 511 und Fr. 495, 41—43 Nauck; Phrixos B, Fr. 831 Nauck; vgl. auch Sophokles, Fr. 940 Radt. 59 Zu den „Phoinissen" vgl. auch D. Ebener, Die Phönizierinnen des Euripides als Spiegelbild geschichtlicher Wirklichkeit, in: Eirene 2, 1964, 71—79; J. de Romilly, Les Phéniciennes d' Euripide ou l'actualité dans la tragédie grecque, in: Revue de philologie, de littérature et d'histoire anciennes, 3. Serie 39, 1965, 28—47.

Individuum und Gesellschaft

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In der späten Phase der Tragödie fällt unter den Eigenschaften der Charaktere eine erstaunliehe Biegsamkeit auf. Welche Ausmaße sie annehmen kann, wird sichtbar etwa an dem Agamemnon aus der Euripideischen „Iphigenie in Aulis", die nach dem „Orest" (408) erst in der makedonischen Zeit des Dichters entstanden ist. In der Frage, ob Iphigenie für die Troja-Expedition geopfert oder ob die Tochter doch eher verschont werden soll, läßt Agamemnon unter dem Druck der verschiedenen Motive und Rücksichten (vgl.IphigenieinAulis21-27; 94-98; 107-110; 119-121 ;442f.;449f.; 514; 536f.; 1144 f.; 1259—1275) eine erbärmliche Haltlosigkeit erkennen, in seinen Meinungen hin- und herschwankend. Auf den antinomischen Wellen treibt das Individuum gleichsam ohne Rettungsring. Die Euripideische Tragödie endet, ohne daß eine echte Lösung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft möglich wäre, oft mit einem Wunder. Auch durch den Deus ex machina werden die Widersprüche nicht aufgehoben, eher noch grotesk unterstrichen, so daß am Schluß die Illusion steht. I n dieser Weise trägt das Drama des Eurípides den Charakter einer Endzeit, aber nicht zu übersehen sind hier die Keime neuer Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft, deren Saat im 4. und in weiteren Jahrhunderten aufgehen sollte. Nach der politischen Niederlage Athens (404) machen sich in der attischen Tragödie im 4. Jh. Anzeichen einer ästhetischen Wandlung bemerkbar. Das Theater suchte jetzt, äußerlich an Eurípides anknüpfend, vor allem das Interessante, Überraschende, Aufregende, es gefiel sich in Pikanterien und Finessen,60 die indessen bei aller Pretiosität über den Verlust an politischem Ethos nicht hinwegtäuschen können. Zu den Errungenschaften der Pólisdemokratie Athen gehört die Entwicklung überaus zukunftsträchtiger Formen der dramatischen Kunst. Die frühen, relativ unausgebildeten gesellschaftlichen Gegebenheiten des 5. Jh. mit ihren spezifischen politischen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen, unter denen die technischen Möglichkeiten und Mittel des Theaters verhältnismäßig begrenzt waren — diese Verhältnisse forderten auf der Bühne zu immer neuen Versuchen und Gestaltungen heraus, forderten Ingenium, forderten Leistungen, die in ihrer Geschlossenheit bis heute Bewunderung erregen. Das Verantwortungsbewußtsein des Aischyleischen Eteokles, die Humanität der Antigone, die neue Räume erschließenden Experimente des Euripideischen Dramas — sie alle sind unverzichtbare Werte des Individuums gerade in einer Gesellschaft, in der „das Schicksal des Menschen", um mit Brecht zu sprechen, „der Mensch selber ist". 61 Bei der Erbeaneignung geht es „um Selbstverständnis und Eroberung eigener Möglichkeiten, . . . um ein Universum eigener Erlebnis-, Erfahrungs- und Ausdrucksmöglichkeiten". 62 Die attische Tragödie bietet hervorragende Beispiele für die Selbstbestimmung, Selbstbehauptung und Selbstverwirklichung des Menschen entsprechend den Möglichkeiten der demokratischen Polisordnung. Ihre Botschaft ist bedeutsam auch für die Gegenwart, in der es gilt, die menschlichen Wesenskräfte voll zu entfalten.

Vgl. B. Snell, Szenen aus griechischen Dramen, Berlin (West) 1971, 138—153 zu Astydamas I I ; 154—169 zu Agathon und Chairemon. 61 Vgl. Anmerkungen zur Bearbeitung [der „Antigone" des Sophokles], in: B.Brecht, Stücke, Bd. 11, Berlin 1962, 113-118, Zitat 114. 02 W . Heise, Bemerkungen zum „Erbe", in: Weimarer Beiträge 20, 1974, Heft 10, 156—169, Zitat 164 f.

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Die Prometheus-Gestalt in der griechischen Tragödie Von

ZSIGMOND R I T O Ö K

(Budapest)

„In seinen Göttern malt sich der Mensch." Diese Aussage Schillers trifft nicht nur auf die Göttergestalten, einzeln und statisch betrachtet, zu, sondern auch auf ihre Entwicklung und Beziehung zueinander. In den Mythen spiegeln sich gewisse menschliche Beziehungen wider. Sind diese so grundlegend, daß sie, wenn auch in veränderten Formen, in der Geschichte immer wiederkommen, so kann der Mythos, der eine allgemeine, etwa durch eine Formel ausdrücfebare Beziehung als konkretes Geschehen erzählt, durch die Reduktion gerade auf diese Formelneu interpretiert werden. Dadurch entsteht der Schein, als ob der Mythos etwas Ewiges wäre, eine überzeitliche Wahrheit ausspräche und daher auch seine in verschiedenen Zeiten, unter verschiedenen Umständen auftauchenden Varianten immer im wesentlichen denselben Sinn hätten, d.h. zumVerständnis einer beliebigen Variante beliebige andere verwendbar wären. Es handelt sich dagegen darum, daß eine gewisse menschliche Beziehung oder ein gewisses Problem mehrere Epochen hindurch vorhanden ist, wozu man immer wieder zeitgemäß Stellung nimmt und infolgedessen dem Mythos, der auf eine abstrakte, an sich vielleicht wenig aussagende und in dieser Form für mehrere Epochen gültige Formel reduziert ist, einen neuen, zeitgemäßen, eventuell der früheren Bedeutung widersprechenden Sinn gibt und ihn so neuerzählt. Die Formel ist etwa ein gemeinsamer Nenner, ein Berührungspunkt zwischen verschiedenen Epochen, sie ist aber nicht minder zeitbestimmt als die Interpretation, höchstens ist die Bestimmtheit eine andersartige. Kann kein gemeinsamer Nenner gefunden werden, so ist die Reduktion unmöglich, der Mythos läßt keine Neuinterpretation zu, er bleibt ein antiquarischer Gegenstand, kanonisiert in Handbüchern aufbewahrt. Gelingt es, die Neuinterpretationen bzw. die grundlegenden Motive eines Mythos mit Entwicklungsstufen der betreffenden menschlichen Beziehungen in Zusammenhang zu bringen, so gewinnt man einen wichtigen Ansatz zur Entwicklungsgeschichte des Mythos. 1 Auch der Ursprung und die Urgeschichte des Prometheus-Mythos dürften wohl auf diesem Weg einmal geklärt werden, denn wiewohl diese Frage des öfteren behandelt wurde, bleibt hier noch manches zu tun. 2 1

2

Vgl. J . G. Szilágyi, A r a c h n é , i n : A n t i k T a n u l m d n y o k 24, 1 9 7 7 , 125—138, v o n dessen A u s f ü h r u n g e n ich a u c h bezüglich des W e s e n s d e s M y t h o s m a n c h e s gelernt h a b e . W a h r scheinlich h ä t t e ich n o c h m e h r lernen müssen. Z u m P r o m e t h e u s - T h e m a im A l t e r t u m W . K r a u s , P r o m e t h e u s , i n : P a u l y s R e a l e n c y c l o pädie der classischen A l t e r t u m s w i s s e n s c h a f t 23, S t u t t g a r t 1 9 5 7 , 6 6 6 — 6 8 1 . Ü b e r die V o r g e s c h i c h t e des P r o m e t h e u s - M y t h o s z u l e t z t J . D u c h e m i n , P r o m é t h é e . H i s t o i r e d u m y t h e , de ses origines orientales ä ses i n c a r n a t i o n s m o d e r n e s , P a r i s 1 9 7 4 , bes. 2 7 — 4 6 ; die prinzipiell mögliche These, d a ß der M y t h o s a u s d e m N a h e n Osten s t a m m e , s c h e i n t mir n i c h t überzeugend nachgewiesen zu sein. A u s der f r ü h e r e n r e i c h e n L i t e r a t u r sei d a s besonnene, schöne B u c h v o n L . S é c h a n h e r v o r g e h o b e n : L e m y t h e d e P r o m é t h é e , P a r i s

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Die Gestalt des Prometheus ist vom Feuer nicht zu trennen. Das hat auf der Ebene der menschlichen Beziehungen zwei Aspekte: einmal die Beziehung des Menschen zur Natur, zum anderen die Beziehung zum Mitmenschen. Was die erstere betrifft, dürfte der Gewinn und die Meisterung des Feuers, des fremden und furchtbaren Elements, im Leben der Urmenschen wohl ein Erlebnis sondergleichen sein. Die Entwicklung der Arbeiten mit Feuer, die Kunst der Töpfer und besonders die der Schmiede, brachte aber auch früher nicht vorhandene Spannungen mit sich: die teilweise eben durch solche Arbeitsteilung entstandenen Unterschiede zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten, ferner die Spannung zwischen den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft einerseits und den Handwerkern, Fachleuten andererseits. Diese haben eine Zwischenposition eingenommen. Sie waren selber meistens nicht Leiter in einer Gesellschaft, doch selbst die Machthaber konnten sie nicht entbehren, mußten sie sogar wegen ihres Könnens achten. Andererseits wurden die Handwerker wegen ihrer zauberischen Kenntnisse, obwohl sie sich zum Wohl der ganzen Gemeinde betätigten, auch vom gemeinen Mann im allgemeinen mit Scheu oder sogar mit Furcht betrachtet. Unter solchen Umständen dürften wohl die Geschichten von der Erwerbung des Feuers entstanden sein. Das Feuer wird bald einfach irgendwie, etwa von anderen Gemeinden, Menschen oder Frauen beschafft, 3 bald schlau, wider Willen der Götter, gestohlen. Auch die Prometheus-Gestalt mit ihrer „titanischen Geistesart" mochte sich unter Gegebenheiten entwickelt haben, in denen das geistige Können wohltätig

3

1951. — Im 19. J h . leitete man den Mythos, auf Grund von vedischen Parallelen, aus der indoeuropäischen Vorzeit her: A. Kuhn, Die Herabkunft des Feuers und des Göttertrankes, Berlin 1859. Andere waren zurückhaltender und sahen in Prometheus einen böotischen Erdfeuerdämon, vgl. K. Bapp, in: Roschers Mythologisches Lexikon 3, Leipzig 1897—1909, 3036—3050. Später machte die Forschung auf ähnliche Erzählungen in Georgien aufmerksam und leitete den Mythos von dort her, vgl. zum Beispiel A. Olrik, Ragnarök, übersetzt von W. Ranisch, Leipzig 1922. Die georgische Forschung beschäftigte sich aber damit bereits früher und auch in neuerer Zeit des öfteren, vgl. z. B. M. Cikovani, Der gefesselte Amirani, Tbilissi 1947 (georgisch mit russischem Resümee 427—433); M. öikovani, Das Buch vom Helden Amirani, übersetzt von H. Fähnrich, Leipzig —Weimar 1978. Kürzlich wurde das Thema von E. Sengelia auf der Aischylos-Pindar-Konferenz in Jena behandelt: Kaukasische Parallelen zum Prometheusmythos, in: Aischylos und Pindar. Studien zu Werk und Nachwirkung, hrsg. von E. G. Schmidt, Berlin 1981 (Schriften zur Geschichte und Kultur der Antike 19), 238—249. — Nach der tiefenpsychologischen Religionswissenschaft des 20. J h . sei Prometheus die Verkörperung der titanischen Geistesart, die Verbindung eines schlauen und eines dummen Urwesens, ein mondartiger Gott, der gerade deshalb den Menschen, den Schattenwesen, zu helfen bereit ist: K. Kerenyi, Die antike Religion, Leipzig 1940, 160—163; ausführlicher in seinem Buch: Prometheus. Die menschliche Existenz in griechischer Deutung, Zürich 1946. Eine reiche Sammlung von ethnologischen Parallelen zum Feuerraub bei J . G. Frazer, Myths of the Origin of Fire, London 1930; kürzer in seiner ApollodorosAusgabe, Bd. 2, Cambiidge/Mass. 1921, 326-350. Gerade in der klassischen Parallele zur Prometheus-Geschichte, in der indischen Erzählung, wird die Erwerbung des Feuers durch Mätarisvan nicht als Diebstahl bezeichnet. Er bringt das Feuer vom Himmel, aus der Ferne von den Göttern. Die Tat selbst aber wird nicht im mindesten negativ gewertet, im Gegenteil: Wenn Agni sich verbergen will, überreden ihn die Götter, das Priesteramt beim Opfer zu übernehmen. Die Veda-Stellen beiH. Odenberg, Die Religion der Veda, 3 - 4 . Aufl. Stuttgart - Berlin 1923, 121-124.

Die Prometheus-Gestalt

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und gefährlich, unentbehrlich und unheimlich zugleich erschien, den politischen Macht habern so wohl als auch—aus anderen Gründen—den einfachen Mitgliedern der Gemeinde. Der erste, der in der griechischen Literatur Prometheus erwähnt, ist Hesiod. 4 Besonders bezeichnend für Prometheus ist bei ihm dessen Schläue. (In der „Theogonie" wird sie in 55 Zeilen dreizehnmal erwähnt.) Prometheus wollte sich mit dem übermächtigen Kronossohn in der Klugheit messen. 5 Zeus ist indessen selber schlau, 6 und seine Klugheit ist unübertrefflich. Die Macht kann sich ohne Klugheit nicht behaupten ; es besteht immer die Gefahr, von einer anderen Klugheit übertrumpft zu werden. So besiegte den Krummes sinnenden Kronos gerade der ersinnende Zeus. Auch er war jedoch von jener Gefahr bedroht. Um ihr vorzubeugen, verschlang Zeus die Metis, die Göttin der Klugheit. Metis sollte nämlich einen Sohn gebären, der mächtiger werden würde als der Vater. Durch das Verschlingen der Metis wurde Zeus mit der Klugheit eins. Niemand konnte seine Klugheit überbieten und dadurch seine Macht gefährden, und wer sich mit ihm in der Klugheit zu messen wagte, mußte notwendigerweise unterliegen. 7 So auch der dem Kronos ähnlich Krummes sinnende Prometheus — und das ganz folgerichtig. Zeus ist nämlich nach Hesiod nicht nur der Besieger der alten, titanischen Welt, sondern auch Hüter einer Weltordnung, die auf Recht und Arbeit fußt, d. h. auf Werten, die in Hesiods Augen Unterpfand eines wahrhaft menschlichen Lebens sind. Wer sich gegen Zeus auflehnt, bedroht diese Weltordnung. Prometheus ist also bei Hesiod trotz seines Feuerraubes, kein Held des Handwerks (téchne), was in einem verhältnismäßig wenig entwickelten Land wie Böotien, wo der Bauer Hesiod höchstens zur Verfertigung eines Pfluges einen Fachmann vonnöten hatte, nicht verwundert. 8 Prometheus' Stellung ist auch nicht von da aus zu verstehen. E r ist Vertreter der Menschen und so zugleich Repräsentant jener menschlichen Klugheit, die für den Augenblick selbst gegenüber Zeus sich durchsetzen mag, sich aber mit derZeit als nicht weitsichtig genug erweist. 9 Wer das nicht erkennt und 4

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Theogonie 507—616; W e r k e und Tage 42—105. Über seine Vorlagen haben wir nur Mutmaßungen, vgl. E . Heitsch, Das Prometheus-Gedicht bei Hesiod, i n : Rheinisches Museum 106, 1963, 1—15, mit L i t e r a t u r . W i r müssen wohl mit einer schwankhaften Erzählung rechnen. Fraglich bleibt aber, ob die verschiedenen E l e m e n t e der Hesiodeisehen Erzählung bereits in diesem Schwank vorhanden waren. Vgl. W . Aly, Die literarische Uberlieferung des Prometheus-Mythos, in: Rheinisches Museum 68, 1913, 5 4 8 f . ; 5 5 9 ; F . Wehrli, Hesiods Prometheus. Theogonie v. 507—615, in: Navícula Chiloniensis. Studia philologa Felici J a c o b y . . . oblata, Leiden 1956, 30—36. Theogonie 534. Theogonie 5 8 9 ; Werke und Tage 8 3 ; bes. aber Theogonie 8 8 9 - 8 9 1 . M. Detienne und J . - P . Vernant, L e s ruses de l'intelligence, 2. Aufl. Paris 1978, 62—125. Zum Opfertrug vgl. auch die Ausführungen von J . - P . Vernant, i n : M. Detienne und J . - P . Vernant, L a cuisine du sacrifice en p a y s grec, P a r i s 1979, bes. 84—91. Aussagekräftig erseheint der Sprachgebrauch. -Während das W o r t réxvr¡ bei H o m e r „ K u n s t des Schmiedes und des Schiffbaumeisters" ebenso wie „ L i s t " bedeutet (und das letztere meistens mit einem eher anerkennenden Klang), bezeichnet zéyvrj bei Hesiod mit einer Ausnahme (Theogonie 929, wenn das überhaupt noch Hesiodeisch ist, vgl. M . L . W e s t , Hesiod, Theogony, Oxford 1966, 398f.) nie ein Handwerk, sondern eine L i s t und steht, abgesehen von einer Ausnahme (Theogonie 496), mit einem abwertenden Beiwort (xaxij 1 6 0 ; 7 7 0 ; öoMtj 5 4 0 ; 5 4 7 ; 5 5 5 ; 560). Vgl. W . Marg im K o m m e n t a r zu seiner Hesiod-Übersetzung, Zürich — S t u t t g a r t 232.

1970,

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den Willen des Zeus nicht befolgt, bleibt in einer kurzsichtigen Schlauheit befangen und wird untergehen. 10 Weshalb dieses „dichotomische Gesellschaftsmodell" entstand, ergibt sich aus den „Werken und Tagen". In der Auseinandersetzung einerseits mit den Großgrundbesitzern, die „krumme Urteile fällen" und dadurch gegen das Recht verstoßen, andererseits mit nichts scheuenden, besitzlosen Bettlern, die „nicht arbeiten wollen",11 d. h. mit Kräften, die sich so oder so dem Willen des Zeus widersetzen — wie der Dichter bei der Verschärfung der gesellschaftlichen Gegensätze seine kleinbäuerliche Sicht verallgemeinerte —, konnte er nur einen Entweder-oder-Standpunkt einnehmen und mußte verwerfen, was nicht an der Seite des Zeus stand. Damit war auch die Wertung des Prometheus gegeben. Zwei aitiologische Erzählungen waren überliefert, in denen der mächtige Zeus und der schlaue Prometheus die Hauptrolle spielten. Hesiod übernahm sie. Ihm waren aber nicht die Ursachen wichtig — er erwähnt sie, fragt jedoch nicht, was z. B. die Menschen ohne Feuer machen könnten —, sondern der Gegensatz von Zeus und Prometheus, und da für ihn Zeus der unbedingt Positive, der Beschützer der Unterdrückten, war, konnte jeder Versuch, Zeus zu überlisten, nur als Vergehen betrachtet werden. Im „Gefesselten Prometheus", der uns überlieferten Tragödie, ist die Lage anders.12 10

D a s w i r d d a n n die A n s i c h t d e s K r a t o s i m ü b e r l i e f e r t e n „ P r o m e t h e u s " sein, freilich in e i n e m g a n z a n d e r e n Z u s a m m e n h a n g , in d e m sich diese A n s i c h t als f a l s c h e r w e i s t . 11 E s d r ä n g t sich e i n e m freilich die F r a g e a u f : U m alles g e b r a c h t , w e s h a l b sollten sie e i g e n t lich ? D a s zu b e s p r e c h e n , w ü r d e v o n u n s e r e m T h e m a zu w e i t a b f ü h r e n . I c h e r w ä h n e es, u m a n z u d e u t e n , d a ß H e s i o d k e i n so e i n d e u t i g r e v o l u t i o n ä r e r Geist w a r , wie d a s m a n c h m a l angenommen wird. 12 I n d e r L y r i k w i r d P r o m e t h e u s k a u m e r w ä h n t , a u c h d a r ü b e r wissen wir n u r a u s z w e i t e r H a n d ( S e r v i u s zu Vergil, E c l o g a e 6, 42 = S a p p h o , F r . 207 L o b e l - P a g e ; A i l i a n o s , T i e r g e s c h i c h t e 6, 51 = I b y k o s , F r . 61 P a g e ) , eine W e r t u n g ist also p r a k t i s c h u n m ö g l i c h . B e i P i n d a r , O l y m p i s c h e Siegeslieder 7, 44, a n P r o m e t h e u s zu d e n k e n , sehe ich k e i n e n G r u n d . U n t e r d e n d r e i g r o ß e n T r a g i k e r n w a r n a c h d e r Ü b e r l i e f e r u n g A i s c h y l o s d e r einzige, d e r d e n P r o m e t h e u s - M y t h o s z u m H a u p t g e g e n s t a n d eines W e r k e s m a c h t e , d a s i h m a b e r v e r s c h i e d e n t l i c h a b g e s p r o c h e n w u r d e , u n d es ist in d e r T a t sehr die F r a g e , o b d e r t r a d i e r t e „Gefesselte P r o m e t h e u s " v o n Aischylos s t a m m t . U b e r die G e s c h i c h t e d e r d i e s b e z ü g l i c h e n F o r s c h u n g vgl. z u m Beispiel I . Z a w a d z k a , Die E c h t h e i t d e s Gefesselten P r o m e t h e u s , i n : D a s A l t e r t u m 12, 1966, 210—223 ( = W e g e zu Aischylos, h r s g . v o n H . H o m m e l , B d . 2, D a r m s t a d t 1974, 3 3 3 - 3 5 1 ) . W e r a n d e r E c h t h e i t d e s S t ü c k e s festh ä l t , s i e h t sich d a r a u f a n g e w i e s e n , d i e s p r a c h l i c h e n , m e t r i s c h e n u s w . E i g e n t ü m l i c h k e i t e n e t w a d a m i t zu e r k l ä r e n , d a ß es ein S p ä t w e r k d e s A u t o r s sei, vielleicht s o g a r p o s t u m , v o n s e i n e m S o h n E u p h o r i o n a u f g e f ü h r t . So b e r e i t s T h . B e r g k , G r i e c h i s c h e L i t e r a t u r g e s c h i c h t e , B d . 3, B e r l i n 1884, 312; 314—316. D a s h a t j e d o c h l a n g e f ü r u n m ö g l i c h g e g o l t e n , u n d e r s t G. T h o m s o n a r g u m e n t i e r t e , auf b r e i t e r a r Basis, wieder d a f ü r (Aeschyl'us, P r o m e t h e u s B o u n d , C a m b r i d g e 1932, 38), s e i t d e m v e r b r e i t e t e sich d i e A n s i c h t a l l m ä h l i c h , vgl. C. J . H e r i n g t o n , T h e A u t h o r of P r o m e t h e u s B o u n d , A u s t i n L o n d o n 1970. D i e F r ü h d a t i e r u n g , e t w a u m 469 v . u . Z., v e r t r i t t j e d o c h z. B . H . J . M e t t e , D i e F r a g m e n t e d e r T r a g ö d i e n des Aischylos, B e r l i n 1959, 2 5 6 f . ; ders., D e r v e r l o r e n e Aischylos, B e r l i n 1963, 19. D e r Zweifel a n d e r E c h t h e i t d e s S t ü c k e s ist i n d e s s e n n i c h t v e r s c h w u n d e n . Auf G r u n d e i n e r sehr e i n g e h e n d e n A n a l y s e hielt z u l e t z t M. G r i f f i t h , T h e A u t h e n t i c i t y of „ P r o m e t h e u s B o u n d " , C a m b r i d g e 1977, die U n e c h t h e i t f ü r w a h r scheinlicher. Seine T h e s e i s t : A i s c h y l o s h a t d e n „ B e f r e i t e n P r o m e t h e u s " g e s c h r i e b e n , als s e l b s t ä n d i g e s D r a m a o d e r a l s Teil einer Trilogie, die a u s i n h a l t l i c h m i t e i n a n d e r

Die Prometheus-Gestalt

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Die Göttin Metis wird nicht einmal erwähnt: Statt ihrer ist Prometheus der Allwissende. Auch in der Tragödie ist von einem etwaigen Nachkommen des Zeus die Rede, der die Macht des Vaters stürzen könnte, wie aber diesem Sturz vorzubeugen sei, weiß nur n i c h t z u s a m m e n h ä n g e n d e n S t ü c k e n b e s t a n d . E i n U n b e k a n n t e r v e r f a ß t e in d e r M i t t e d e s 5. J h . d e n „ G e f e s s e l t e n P r o m e t h e u s " , d e n „ B e f r e i t e n " v o r A u g e n . D i e s e s D r a m a w u r d e in d e r a l e x a n d r i n i s c h e n B i b l i o t h e k d e m A i s c h y l o s z u g e s c h r i e b e n . — N o c h u m s t r i t t e n e r ist d e r A u f b a u d e r Trilogie. W i r h a b e n , wie b e k a n n t , k e i n e n e i n d e u t i g e n B e w e i s a u s d e m A l t e r t u m d a f ü r , d a ß die P r o m e t h e u s - D r a m e n G l i e d e r einer e i n h e i t l i c h e n Trilogie gewesen w ä r e n . D i e L a g e wird n o c h v e r w i c k e l t e r d a d u r c h , d a ß d e r K a t a l o g d e r Aischyleischen D r a m e n das Stück „ P r o m e t h e u s der F e u e r b r i n g e r " zwar e r w ä h n t , nicht aber das Satyrspiel „ P r o m e t h e u s der F e u e r e n t z ü n d e r " , o b w o h l das a u s a n d e r e n Quellen b e k a n n t i s t ; w i r wissen, d a ß es m i t d e n „ P e r s e r n " 472 a u f g e f ü h r t w u r d e . N a c h d e r h e u t e a m meisten verbreiteten Ansicht lautet die Reihenfolge der S t ü c k e : „Der gefesselte P r o m e t h e u s " , „Der befreite P r o m e t h e u s " , „ P r o m e t h e u s der F e u e r b r i n g e r " . Seit F . G. W e l c k e r , Die A e s c h y l e i s c h e Trilogie P r o m e t h e u s , D a r m s t a d t 1824, h a b e n j e d o c h m e h r e r e F o r s c h e r d e n „ F e u e r b r i n g e r " a n die e r s t e Stelle g e r ü c k t . Seit G u . C a n t e r , N o v a r u m l e c t i o n u m libri V I I , B a s i l i a e 1566, 354, f a n d e n sich f e r n e r i m m e r w i e d e r P h i l o l o g e n , d i e den „Feuerbringer" mit d e m Satyrspiel „Feuerentzünder" für identisch hielten. N i m m t m a n d a s a n , so k a n n v o n e i n e r P r o m e t h e u s - T r i l o g i e g a r k e i n e R e d e sein, u n d m a n r e c h n e t e d a h e r m i t einer d e r f o l g e n d e n v i e r M ö g l i c h k e i t e n : a) E i n e s d e r d r e i S t ü c k e w a r ein D r a m a a n d e r e n I n h a l t s , u n d z w a r e n t w e d e r d a s e r s t e , so G . H e r m a n n (1819), D e c o m p o s i t i o n e t e t r a l o g i a r u m t r a g i c a r u m , i n : O p u s c u l a , B d . 2, L i p s i a e 1827, 310, o d e r d a s l e t z t e , so H . L l o y d - J o n e s , T h e J u s t i c e of Z e u s , B e r k e l e y — L o s A n g e l e s 1971, 98—103; b) d e r D i c h t e r h a t k e i n e Trilogie, s o n d e r n eine n u r a u s zwei S t ü c k e n b e s t e h e n d e D i l o g i e g e s c h r i e b e n , w o f ü r d i e sizilisehen U m s t ä n d e a n g e f ü h r t w u r d e n , so F . F o c k e , A i s c h y l o s ' P r o m e t h e u s , i n : H e r m e s 65, 1930, bes. 2 6 9 ; 3 0 3 ; c) die Trilogie blieb i n f o l g e d e s T o d e s des V e r f a s s e r s u n v o l l e n d e t , d a s d r i t t e S t ü c k w u r d e n i e g e s c h r i e b e n , s o E . R . D o d d s , T h e P r o m e t h e u s V i n c t u s a n d t h e P r o g r e s s of S c h o l a r s h i p , i n : T h e A n c i e n t C o n c e p t of P r o g r e s s a n d O t h e r E s s a y s , O x f o r d 1973, 3 9 f . ; d) die zwei P r o m e t h e u s - D r a m e n w a r e n ü b e r h a u p t n i c h t Teile d e r s e l b e n Trilogie, so G . H e r m a n n (1828), D e A e s c h y l i P r o m e t h e o s o l u t o d i s s e r t a t i o , i n : O p u s c u l a , B d . 4, L i p s i a e 1831, 257—264; k ü r z l i c h , o h n e H e r m a n n zu k e n n e n , O. T a p l i n , T h e T i t l e of P r o m e t h e u s D e s m o t e s , i n : T h e J o u r n a l of H e l l e nic S t u d i e s 95, 1975, 184—186. D a wir a u s d e m „ F e u e r b r i n g e r " n u r eine einzige, v o m I n h a l t d e s D r a m a s n i c h t s v e r r a t e n d e Zeile k e n n e n , b l e i b e n die R e k o n s t r u k t i o n s v e r s u c h e leider b a r e H y p o t h e s e n . A l l e r d i n g s h ä t t e K . R e i n h a r d t s V e r m u t u n g , d a ß d a s H e i d e l b e r g e r P a p y r u s - F r a g m e n t ( P a p . H e i d e l b . 185 = F r . 323a M e t t e ) zu d i e s e m S t ü c k g e h ö r t , vielleicht m e h r A u f m e r k s a m k e i t v e r d i e n t : V o r s c h l ä g e z u m n e u e n A i s c h y l o s , i n : H e r m e s 85, 1957, 1 2 - 1 7 ; 125f. ( = T r a d i t i o n u n d Geist, G ö t t i n g e n 1960, 1 8 2 - 1 9 0 ) . Vgl. a u c h seinen V o r t r a g P r o m e t h e u s , i n : E r a n o s - J a h r b u c h 25, Z ü r i c h 1957, 277—282 ( = T r a d i t i o n u n d Geist, G ö t t i n g e n 1960, 221—225). Z u m „ P r o m e t h e u s " vgl. f e r n e r R . U n t e r b e r g e r , D e r Gefesselte P r o m e t h e u s des A i s c h y l o s , T ü b i n g e n 1969; A . L e s k y , D i e t r a g i s c h e D i c h t u n g d e r H e l l e n e n , 3. A u f l . G ö t t i n g e n 1972, 134—143. W i c h t i g ist d e r u n l ä n g s t e r s c h i e n e n e A u f s a t z v o n M. L. W e s t , T h e P r o m e t h e u s T r i l o g y , i n : T h e J o u r n a l of H e l l e n i c S t u d i e s 99, 1979, 1 3 0 - 1 4 8 , d e r a m G e d a n k e n d e r Trilogie f e s t h ä l t ( „ P r o m e t h e u s d e r F e u e r b r i n g e r " , „ D e r gefesselte P r o m e t h e u s " , „ D e r b e f r e i t e P r o m e t h e u s " ) , sie a b e r u m 440 a n s e t z t . U n t e r d e m E i n d r u c k d e r S t u d i e n v o n M. G r i f f f i t h u n d M. L . W e s t w a g e ich es n i c h t m e h r , d e n „ G e f e s s e l t e n P r o m e t h e u s " so s e l b s t s i c h e r d e m Aischylos z u z u s c h r e i b e n , wie ich es f r ü h e r g e t a n h a b e . N i c h t alles e r s c h e i n t m i r ü b e r z e u g e n d , w a s g e g e n d i e A u t o r s c h a f t des A i s c h y l o s v o r g e b r a c h t w i r d , so b e s o n d e r s d i e inhaltlichen A r g u m e n t e , aber angesichts der sprachlich-stilistischen u n d vor allem d e r m e t r i s c h e n G r ü n d e m u ß m a n v e r s t u m m e n , w i e w o h l die n e u e D a t i e r u n g i d e e n -

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ZSIGMOND R l T O Ó K

P r o m e t h e u s . Z e u s bedarf a l s o d e s W i s s e n s d e s P r o m e t h e u s , die M a c h t k a n n s i c h o h n e Geist n i c h t b e h a u p t e n — i n s o f e r n ist d i e G e s c h i c h t e d i e g l e i c h e w i e bei H e s i o d . 1 3 D i e H e s i o d i s c h e L ö s u n g (das V e r s c h l i n g e n ) k o n n t e hier j e d o c h n i c h t v e r w e n d e t w e r d e n ; die unterschiedliche Grundsituation brachte eben andere F o l g e n u n d eine ganz andere Lösung mit sich.14 I m K a m p f gegen die T i t a n e n s t a n d e n Zeus und P r o m e t h e u s Seite an Seite, P r o m e t h e u s s c h l o ß s i c h „willig d e m W i l l i g e n " a n (218). N a c h d e m Sieg m a c h t e sich Z e u s d a r a n , s e i n e n e u e W e l t o r d n u n g a u s z u b a u e n . E r t e i l t e d e n G ö t t e r n ihre A n t e i l e u n d Ä m t e r z u (géras, arche: 229—231), w i e e t w a S o l o n . 1 5 D e n M e n s c h e n g a b Z e u s n i c h t s , m e h r n o c h : E r w o l l t e sie v e r n i c h t e n , d a m i t er, der n e u e H e r r s c h e r , für sich eine n e u e M e n s c h h e i t s c h a f f e (231—233). P r o m e t h e u s , o b w o h l d u r c h Z e u s p e r s ö n l i c h n i c h t g e f ä h r d e t , w i d e r s e t z t e sich i h m . I n w e l c h e r W e i s e u n d w e s h a l b , wird n i c h t g e s a g t . M a n m u ß a b e r w i e d e r an Solon denken, der j e d e m ermöglichte, für diejenigen, die Unrecht erlitten, einzut r e t e n , u n d d a s s o g a r f ü r eine bürgerliche P f l i c h t h i e l t . 1 6 A l l e r d i n g s : Z e u s w i e s d e n M e n s c h e n k e i n e n E h r e n a n t e i l z u , w ä h r e n d P r o m e t h e u s i h n e n E h r e (timé) ü b e r d a s R e c h t h i n a u s g a b (30 ; v g l . 38) — b e i d e i n G e g e n s a t z z u S o l o n , der b e t o n t e , d a ß er

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geschichtlich a u c h m a n c h e F r a g e n a u f w i r f t . W i e M. L . W e s t v e r t r e t e ich die I d e e d e r Trilogie. D e r „Gefesselte P r o m e t h e u s " — s t a m m t er v o n A i s c h y l o s o d e r s t a m m t er n i c h t v o n i h m ? — s c h e i n t m i r j e d e n f a l l s , wie in a n d e r e r H i n s i c h t , so a u c h in s e i n e m W e l t b i l d A i s e h y l e i s c h e Z ü g e a u f z u w e i s e n . I n dieser H i n s i c h t teile ich also R . P . W i n n i n g t o n - I n g r a m s A n s i c h t : „ W h o e v e r w r o t e i t , it r e m a i n s , h o w e v e r , a n i m p o r t a n t d o c u m e n t closely r e l a t e d t o A e s c h y l e a n t h o u g h t " (Sophocles. A u I n t e r p r e t a t i o n , C a m b r i d g e 1980, 334), u n d k a n n m i c h n i c h t j e n e n a n s c h l i e ß e n die a u c h d i e G e d a n k e n w e l t d e s D r a m a s f ü r g ä n z l i c h u n a i s c h y l e i s c h h a l t e n (so z u l e t z t G. Müller in d e r B e s p r e c h u n g v o n G r i f f i t h s B u c h , i n : G n o m o n 51, 1979, 6 2 8 - 6 3 4 ) . D a ß es bei d e m V e r f a s s e r d e s P r o m e t h e u s - D r a m a s u m d a s P r o b l e m v o n M a c h t u n d Geist g e h t , ist f r e i l i c h k e i n n e u e r G e d a n k e . So d a c h t e vielleicht a u c h d e r A u t o r d e s z w e i t e n p l a t o n i s c h e n B r i e f e s (310 e — 311 b). D a ß es sich j e d o c h u m die gleiche P r o b l e m a t i k wie bei H e s i o d h a n d e l t , h a b e n M. D e t i e n n e u n d J . - P . V e r n a n t e x a k t n a c h g e wiesen, L e s r u s e s d e l ' i n t e l l i g e n c e (vgl. A n m . 7), bes. 62—65. M a n m u ß sich n u r h ü t e n , u n t e r Geist e t w a s A b s t r a k t - P h i l o s o p h i s c h e s , e t w a i m S i n n d e s 19. o d e r 20. J h . zu v e r s t e h e n : P r o m e t h e u s ' e r s t e T a t i m „ G e f e s s e l t e n P r o m e t h e u s " w a r eine p r a k t i s c h e L i s t . U b e r d e n I n h a l t v o n fifjriç vgl. M. D e t i e n n e u n d J . - P . V e r n a n t , L e s r u s e s d e l'intelligence (vgl. A n m . 7), 17—31. Die f o l g e n d e n G e d a n k e n h a b e ich zu g r o ß e n Teilen auf d e r A i s c h y l o s - P i n d a r - T a g u n g in J e n a (7.—10. J u n i 1977) v o r g e t r a g e n : Zs. R i t o ó k , Z u m K o n f l i k t i n A i s c h y l o s ' „ P r o m e t h e u s " i n : A i s c h y l o s u n d P i n d a r (vgl. A n m . 2), 224—229. D i e i m f o l g e n d e n o h n e w e i t e r e A n g a b e n a n g e f ü h r t e n Z a h l e n b e d e u t e n die V e r s z a h l e n d e s „ G e f e s s e l t e n P r o m e t h e u s " . F r . 5, 1—2. D i e F r a g m e n t e zitiere ich n a c h M. L . W e s t , I a m b i e t elegi Graeci, B d . 2, O x f o r d 1972. Aristoteles, A t h e n a i o n p o l i t e i a 9, 1 ; P l u t a r c h , Solon 18, 6 f. D a s E i n t r e t e n f ü r V e r f o l g t e u n d U n t e r d r ü c k t e w u r d e in d e r t r a g i s c h e n D i c h t u n g zu e i n e m a t h e n i s c h e n G r u n d s a t z g e m a c h t (z. B . E u r í p i d e s , H i l f e f l e h e n d e ) u n d a u c h in H a n d l u n g e n a u ß e r h a l b A t h e n s u n b e d i n g t p o s i t i v g e w e r t e t (z. B . Aischylos, S c h u t z f l e h e n d e ) . Vgl. G. G r o ß m a n n , P r o m e t h i e u n d O r e s t i e , H e i d e l b e r g 1970, 114; 128—147; H . K u c h , F o r m e n des M e n s c h e n bildes bei E u r í p i d e s , i n : D e r M e n s c h als M a ß d e r D i n g e . S t u d i e n z u m g r i e c h i s c h e n M e n s c h e n b i l d in d e r Zeit d e r B l ü t e u n d K r i s e d e r Polis, h r s g . v o n R . Müller, B e r l i n 1976 ( V e r ö f f e n t l i c h u n g e n d e s Z e n t r a l i n s t i t u t s f ü r A l t e G e s c h i c h t e u n d A r c h ä o l o g i e d e r A k a d e m i e d e r W i s s e n s c h a f t e n d e r D D R 8), 2 8 7 - 2 9 1 .

Die Prometheus-Gestalt

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einerseits dem Volk genügend Ehrenanteil gegeben und seine Ehre weder verkleinert noch vergrößert, andererseits aber auch den Mächtigen nipht Unrecht widerfahren gelassen und keinem einen ungerechten Sieg davonzutragen gestattet habe. 17 Zeus ist der Herrscher der Welt, seine Herrschaft aber eine Gewaltherrschaft. E r überwältigte Typhos durch Gewalt (353), er zwang Io und ihren Vater mit Gewalt (592; 672), um von Prometheus ganz zu schweigen,1 den an den Felsen zu schmieden die Gewalt in Person erscheint. So wollte er auch die Menschen, wie die Titanen, in die Unterwelt stoßen. Die Herrschaft durch Gewalt ist aber ein altes, titanisches Erbe. Auch die Titanen meinten,' durch Gewalt dem Zeus Widerstand leisten und herrschen zu können (208), und Typhos wollte ebenfalls durch Gewalt den Zeus besiegen (357). Der neue Herrscher hat sich das alte Erbe selber angeeignet. Ist Zeus der Herrschende, so ist Prometheus der Wissende. Durch seine List vermochte Zeus die Titanen zu überwinden, und er ist es, von dem alle lernen mögen. E r belehrt nicht nur den Chor oder die wandernde Io (z. B. 196; 273; 505; 624; 634; 698).Wie er den Aufgang der Sterne und die Heilmittel gegen Krankheiten den Menschen zeigte (457f.; 482), so ist er und nur er imstande, selbst dem Zeus etwas zu zeigen (170; 914), nämlich wie dieser dem Untergang entrinnen könnte. Prometheus ist der große Lehrer der Welt, und wie der gewaltsame Charakter der Herrschaft des Zeus durch die wiederholte Bezeichnung „Tyrann" (10; 222; 310; 736; vgl. 325; 355), so wird das Wesen des Prometheus durch das stets wiederkehrende „Lernen und Lehren" ins Bewußtsein gerufen. 18 Zeus und Prometheus sind als Tyrann und Opfer wie als Menschenfeind und Menschenfreund einander entgegengesetzt. Nicht aber in jeder Hinsicht. Zeus ist Monarchos (234), Tyrannos (10; 222 usw.), der, ohne Rechenschaft zu geben (324), als einzig Freier (50), eigenwillig (907), durch eigene Gesetze (403) die Welt beherrscht und dem Prometheus Unrecht widerfahren läßt (975; 1093). Prometheus redet andererseits selbst als Gefesselter freimütig (180), ist eigenwillig (964; 1037), und ließ durch eigene Entscheidung (543) den Sterblichen über das Recht hinaus Ehre zuteil werden (30). Beide zeigen manche ähnlichen Züge: Sie handeln beide nach eigenem Belieben, beide wollen den eigenen Willen unbedingt durchsetzen. So wird der Gegensatz zwischen ihnen noch mehr hervorgehoben, aber während der Handlung nimmt seltsamerweise auch ihre Ähnlichkeit zu. Zeus herrscht durch Gewalt. Doch spricht auch Prometheus immer weniger von der Möglichkeit eines Ausgleichs, und in der letzten Rede prophezeit er, daß Zeus sich selbst einen Ringer bereitet, einen unbesiegbaren Unhold — man kann an den ähnlich bezeichneten Typhos denken (353) —, der stärkere Waffen als Blitz und Dreizack ausfindig machen und den alten Fluch des Kronos erfüllen werde (920—925; 910—912). Wie Zeus nur daran denkt, seine Macht um jeden Preis, durch Gewalt aufrechtzuerhalten, so sieht auch Prometheus immer mehr sein Ziel darin, die Macht des Zeus um jeden Preis, auch durch Gewalt, zu stürzen. Früher hatte er Zeus durch seinen Rat geholfen, d. h. dadurch, daß er sein Wissen in positiver Weise zur 17 Fr. 5. 18 Über die dramaturgischen Folgeh dieses Wissens vgl. V. N. Jarcho, Dramaturgija Eschila i nekotorye problemv drevnegreceskoj tragedii, Moskva 1978, 149—153. — Zu den wiederkehrenden Ausdrücken E. I n o u e u n d D . Cohen, Verbal Patternsin the Prometheus Bound, in: Classical Journal 74, 1978, 26—32, mit Literatur, die durch J. B. Baeon, Three Notes on Aeschylus, Prometheus Vinctus, in: Classical Review 42, 1928, 115f., ergänzt werden kann.

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ZSIGMOND R l T O Ö K

Geltung brachte — nun möchte er im Gegenteil, durch das negative Zur-Geltung-Bringen, durch die Verhehlung seines Wissens, jenem Unhold helfen, um Zeus zu vernichten. Prometheus sieht immer mehr nur den Zweikampf zwischen Zeus und sich selbst. Der Umstand, daß der Kampf eigentlich um den Menschen entbrannte, scheint aus seinen Gedanken entschwunden zu sein, und was der erhoffte Unhold für die Menschen bedeuten würde — darum kümmert er sich nicht. Er wird fast ebenso einsam und verstockt wie Zeus, und ihm immer ähnlicher werdend, gerät er in einen immer schärferen Gegensatz zu Zeus. Der Grund des Gegensatzes ist freilich die unterschiedliche Beziehung zu den Menschen: Zeus hat die Menschen vernichten wollen, Prometheus hat sie gerettet. Nicht nur durch den Feuerraub. Der Verfasser des Prometheus-Dramas spricht von einem Geschenk des Prometheus, das weder Hesiod noch die spätere Überlieferung erwähnt. E r schenkte den Menschen, ja er pflanzte in sie die blinden Hoffnungen: Sie sahen ihren Tod nicht voraus (248—250). Was das bedeutet, geht aus einem Gedicht Solons hervor : „Wir Sterblichen glauben — gleich, ob böse, ob gute —, daß alles so schön gehen wird, wie es sich jeder denkt, bis ihm etwas geschieht. Dann wehklagt man. Bis dahin aber nähren wir uns, Gaffende, mit nichtigen Hoffnungen." 1 9 Der Mensch ist ein schwaches, gebrechliches Wesen. Was würde aus ihm werden, wenn er auch die Hoffnung nicht hegen könnte! Die blinde Hoffnung hilft ihm, nicht immer des Todes und seiner Schwäche eingedenk leben zu müssen; die Hoffnung auf einen Erfolg befähigt ihn zum Handeln. .Die Hoffnung ist so eine Vermittlerin zwischen Macht und Ohnmacht — und auch sie ist ein Geschenk des Prometheus. 20 Prometheus gab den Menschen freilich auch das Feuer, das wiederum Lehrer der Künste wurde (llOf.; 254). Was das bedeutet — eine tatsächliche Unterstützung des Menschen und keine bloß illusorische wie etwa die Hoffnung —, wird in der großen Rede des Prometheus ausführlich geschildert (441—506).21 Und dennoch! Prometheus betont gleich am Anfang: Die Menschen schauten zwar, sie schauten aber vergebens; sie horchten, hörten aber nichts, sondern verwirrten alles das lange Leben hindurch, den Traumgestalten ähnlich (448—450). Kaum beendet Prometheus seine Rede, singt der Chor in einem Lied, genau in der Mitte des Stückes, an Prometheus gerichtet: „Hast du nicht die kraftlose Ohnmacht gesehen, die traumesgleiche, durch die der Menschen blindes Geschlecht gefesselt ist?" (546—550). Prometheus gab den Menschen zahlreiche Künste, das Größte sei doch das gewesen, daß, während die Menschen vormals, wurden sie krank, ohne Heilmittel, ohne Salbe (480: ymcnov), hilflos dahinschmachteten, er ihnen gezeigt habe, wie die Arzeneien herzustellen sind (480—482). Wenn er indessen von Io gebeten wird, ihr zu sagen, wo ihre Irrfahrten ein Ende haben würden, und ihr zugleich das Heilmittel ihrer Krankheit zu zeigen (605—607), beantwortet er zwar die erste Frage, aber Io muß in wildem Wahn davonrennen, von der Bremse gestochen « F r . 13, 3 3 - 3 6 . Vgl. K . R e i n h a r d t , A i s c h y l o s als R e g i s s e u r u n d Theologe, B e r n 1949, 5 0 ; F . S o l m s e n , H e s i o d u s a n d A e s c h y l u s , I t h a c a 1949, l l O f . ; G. G r o ß m a n n , P r o m e t h i e u n d O r e s t i e (vgl. A n r n . 16), 50—66. Ü b e r die S t ä r k e u n d zugleich S c h w ä c h e d e s M e n s c h e n i m A i s c h y leischen u n d S o p h o k l e i s c h e n M e n s c h e n b i l d u n d ü b e r die U r s a c h e n dieser A m b i v a l e n z vgl. E . G. S c h m i d t , D a s M e n s c h e n b i l d bei A i s c h y l o s u n d Sophokles, i n : D e r M e n s c h a l s M a ß d e r D i n g e (vgl. A n m . 16), 1 1 2 - 1 3 0 . 21 Auf d e r J e n a e r T a g u n g h a t R . Müller „ D i e K u l t u r g e s c h i c h t e in A i s c h y l o s ' P r o m e t h e u s " b e h a n d e l t , i n : A i s c h y l o s u n d P i n d a r (vgl. A n m . 2), 230—237. 20

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(ZQÍSI: 880), wie sie gekommen war (vgl. 5 6 6 ; 5 9 7 ) : Sie wurde klüger, doch Heilung des verworrenen Sinns fand sie nicht. Mögen die Gaben des Prometheus noch so zahlreich sein — etwas scheint dennoch zu fehlen. D a m i t sind wir wieder in die Nähe einer Solonischen I d e e gekommen. Auch Solon schätzte die T e c h n e , die Handwerke und die K ü n s t e , da sie zum W o h l der Menschen unentbehrlich sind, nichtsdestoweniger b e t o n t er die Unsicherheit und Unberechenbarkeit der menschlichen U m s t ä n d e . 2 2 W a s der W e l t eigentlich fehlt, weiß der Zuschauer bereits von Anfang a n : das R e c h t (dixaiov). Zeus hält es bei sich (186). D a s bedeutet einerseits freilich bloß soviel, d a ß er ein Faustrechtwesen (xeiQodíxr¡g) ist, das „das R e c h t in den H ä n d e n " hält, 2 3 andererseits aber, daß er das R e c h t bei sich aufbewahrt und es der W e l t entzieht. D a wir aus dem „Befreiten P r o m e t h e u s " nur wenige F r a g m e n t e kennen, k o m m t die R e k o n s t r u k t i o n der Handlung über Umrisse nicht hinaus. Die T i t a n e n wurden jedenfalls befreit n a c h dem Willen des Zeus, P r o m e t h e u s wurde befreit, mindestens mit Zustimmung des Zeus, und zwar durch einen Menschen, den S t a r k e n , den leidend Siegreichen, Herakles, d. h. durch den N a c h k o m m e n und das Gegenbild der S c h w a c h e n , der leidend Unterlegenen, I o . E t w a s m u ß t e also auch in der Menschenwelt geschehen, daß ein Mensch, mit Zeus in Einklang handelnd, so stark wurde. Wie und weshalb das vor sich ging — davon sind wir nicht unterrichtet. Ob hier ein Wandel des Zeus, eine E n t w i c k l u n g des G o t t e s anzunehmen sei oder ob die G ö t t e r zwei Gesichter haben und bald so, bald so erscheinen, war in den letzten J a h r z e h n t e n heftig umstritten. 2 4 Weshalb die T i t a n e n und I o befreit wurden, ist im erhaltenen D r a m a nicht begründet. 2 5 Man pflegt sich auf eine Stelle zu berufen, die vielleicht einen W i n k gibt. „ W e h m i r " , seufzt P r o m e t h e u s , worauf H e r m e s : „ J a , dieses W o r t kennt Zeus n i c h t " , und P r o m e t h e u s erwidert: „ D o c h alles lehrt die alternde Z e i t " (980f.). U n d tatsächlich, in einem F r a g m e n t des „Befreiten P r o m e t h e u s " ist zu lesen, daß sich Zeus des in Not geratenen Herakles e r b a r m t e . 2 6 H a t auch Zeus etwas gelernt, was er nicht wußte? Obwohl sich das für m a n c h e n mit der griechischen Götteridee nicht vereinbart, erscheint es dem P r o m e t h e u s als etwas durchaus Mögliches. Die Forscher, die an eine Entwicklung des Zeus denken, zogen daraus die Folgerung, d a ß auch Zeus durch Leid gelernt habe, indem er infolge seiner eigenen B e d r o h u n g zur Nachgiebigkeit gezwungen gewesen wäre. D a s legen gleichfalls die Äußerungen des P r o metheus (z. B . 168—171) nahe. Dennoch scheint die S a c h e komplizierter zu sein. Die Titanen befreite Zeus bereits vorher, was wieder damit erklärt wird, d a ß Zeus den

22 Fr. 13, 4 3 - 7 0 . 23 Hesiod, Werke und Tage 189; 192. 24 Einen Überblick des Streites bis 1956 gibt H. Lloyd-Jones, Zeus in Aesehylus, in: The Journal of Hellenic Studies 76, 1956, 56f. ( = W e g e zu Aischylos, Bd. 1 [vgl. Anm. 12], 269—272), der sich an H. L. Farneil, The Paradox of Prometheus Vinctus, in: The Journal of Hellenic Studies 53, 1933, 40f., und K . Reinhardt, Aischylos als Regisseur und Theologe (vgl. Anm. 20), 68—76 (vgl. auch seinen oben Anm. 12 erwähnten Vortrag, in: Eranos-Jahrbuch 25, 1957, 273—274 =Tradition und Geist, 218f.), anschließt und gegen die Annahme einer Entwicklung argumentiert. E r behandelt die Frage in weiterem religionsgeschichtlichem Zusammenhang (vgl. auch sein oben [Anm. 12] erwähntes Buch, The Justice of Zeus, 95f.), wodurch sich auch die Diskussion erweiterte. Ich verweise auf G. M. A. Grube, Zeus in Aesehylus, in: American Journal of Philology 91, 1970, 43—51 ( = W e g e zu Aischylos, Bd. 1 [vgl. Anm. 12], 301—314), der die Debatte referiert. 25 Auch Pindar spricht davon ohne Begründung, Pythische Siegeslieder 4, 291—293. 26 F r . 326 Mette.

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Fluch des Kronos fürchtete und sich deshalb mit ihm versöhnte — eine plausible Erklärung, wofür sich aber im Stück schwerlich eine Stelle finden läßt. Der Io hat sich schließlich Zeus schon früher erbarmt, auch Herakles wurde schon früher stark, und Zeus erbarmte sich seiner unabhängig von Prometheus. Meines Erachtens kommt man hier allein mit der Lehre durch Leid schwerlich durch. I n der Welt vor Zeus herrschte die rohe Gewalt, waltete der Erbfluch. Damit brach zunächst Prometheus, als er statt der brutalen, geistlosen K r a f t zur List riet und so den Sieg errang. Zeus wollte die Welt nach dem Sieg neugestalten, ohne die Gewalt aufzugeben. Nun verzichtet er auf die Zwangsherrschaft und verzichtet damit auf das Erbe der titanischen Welt. Dieser Prozeß läßt sich auf mehreren Ebenen beobachten, und zwar unter einer merkwürdigen Rollenverteilung zwischen Prometheus und Zeus. Die Titanen wollten durch rohe Gewalt siegen, Prometheus riet zur Schlauheit, so gelang es Zeus, den Sieg davonzutragen, das Titanische wurde jedoch erst dann endgültig besiegt, als Zeus mit der titanisch brutalen Mentalität brach. Zeus hat Io unglücklich gemacht, den Qualen eines langen, Umherirrens unterworfen, Prometheus zeigte ihr den Weg, den sie gehen sollte, um Ruhe zu finden, befreien konnte er sie nicht, das wird ihr durch Zeus zuteil. Zeus hat den Prometheus grausam gefoltert, Prometheus konnte sich kraft seines Wissens um das Geheimnis behaupten, die Befreiung ließ jedoch Zeus zu, und sie wurde durch einen Menschen ausgeführt. 2 7 Zeus wollte die Menschen vernichten, Prometheus hat das verhindert und die Menschen gerettet und sie belehrt, dennoch stand etwas aus, wodurch sie glücklich und stärker wurden. Das scheint ihnen ebenfalls Zeus gegeben zu haben, und zwar das, woran es bislang fehlte: das Recht. 2 8 Wandelt sich Zeus dadurch? Eine schwierige Frage zweifellos. Er besaß das Recht seit je, er hielt es nur bei sich. Und doch: Indem er auf die Gewaltherrschaft verzichtete, verzichtete er auch auf das Recht als „Privateigentum", als Privileg. Dike sitzt nicht bloß bei Zeus. „Allen, denen er sich wohlgesinnt zeigt, sendet er mich selber", sagt die Göttin Dike in einem Aischyleischen Fragment unbekannten Ortes. 29 Zeus mußte erkennen, daß sein ursprüngliches Vorhaben, die Welt neuzugestalten, nur auf diese Weise zu verwirklichen war. So wurde die Welt eine wahrhaft neue, so wurde Zeus eine kosmische, in der Welt wirkende, nicht sie tyrannisch von außen regierende Macht. E r entfaltete sich, er durchdrang die Welt, gestaltete sie neu, machte daraus eine Zeus-Welt. Die Erinyen singen in der „Orestie": „Lobe weder unbeherrschtes Leben noch die Despotie . . . Gott hat der Mitte die Macht gegeben." 30 Als Zeus dem despotischen Leben, in dem alle vom Einzig-Freien unterjocht waren, ein Ende setzte, t r a t er in die Mitte. E r gab etwas auf und gewann etwas, eine Stärkung seiner Macht, nicht nur an und für sich, sondern auch weil er durch diesen Schritt eine Versöhnung mit Prometheus, mit der Klugheit, vorbereitete. Prometheus gab sein Geheimnis frei, und Zeus ließ ihm die schmählichen (auxrjQ 27

D e n b e d e u t s a m e n Zug, d a ß P r o m e t h e u s e b e n durch e i n e n M e n s c h e n befreit w u r d e , h a t I . T r e n c s e n y i - W a l d a p f e l b e s o n d e r s b e t o n t , v i e l l e i c h t ein w e n i g ü b e r b e t o n t , P r o m e t e j P r i k o v a n n y j i O s v o b o z d e n n y j , i n : A n t i ö n o e o b s ö e s t v o , M o s k v a 1967, bes. 3 3 4 f . 28 Z u m R e c h t als G a b e d e s Z e u s v g l . L l o y d - J o n e s , T h e J u s t i c e of Z e u s (vgl. A n m . 12), 99-102. 29 Fr. 530, 11 f. M e t t e , Ü b e r t r a g u n g v o n H . J . M e t t e , D e r verlorene A i s c h y l o s , B e r l i n 1963, 188. 30 E u m e n i d e n 5 2 6 - 5 3 0 .

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97; 125; vgl. 93; 165; 197; 989) Fesseln abnehmen. Der Titan verzichtete auf das „unbeherrschte Leben", er n a h m die neue Herrschaft an und wurde dadurch frei. Auch er t r a t in die Mitte. Ich hege die Hoffnung, sagen die Okeaniden, wenn du von diesen Fesseln befreit sein wirst, wird deine K r a f t u m nichts kleiner sein als die des Zeus (509f.). E s ist n u n ersichtlich, worin der Verfasser des Prometheus-Dramas der Überlieferung (Hesiod) folgte und worin seine Neuinterpretation bestand. Von den Ereignissen übernahm er eigentlich nur den Feuerraub und die T a t des Herakles, 3 1 während er den Mythos mit einer Reihe von neuen Elementen bereichert hat. 3 2 D a s Grundproblem, worauf sich die Geschichte reduzieren läßt, ist auch im „Gefesselten P r o m e t h e u s " das Verhältnis von Macht und Geist. Auch der Tragiker ist der Meinung, d a ß keine Macht ohne Geist stabil sein könnte. Die Lösung jedoch vollzieht sieh völlig anders. S t a t t jener Entweder-oder-Sicht, nach welcher notwendigerweise der eine siegt u n d verschlingt, der andere unterliegt und verschlungen wird, die von der äußersten Schärfe der gesellschaftlichen Gegensätze herrührt, geht es hier u m ein Sowohl-als-auch. Beim Dichter des Prometheils-Dramas stehen sich nicht der mächtige und weise Zeus und der bloß menschlich kluge Schlauberger Prometheus gegenüber, sondern zwei Ebenbürtige, was dramatisch durch ihren ähnlichen Charakter zum Ausdruck kommt, 3 3 zwei Ebenbürtige, deren Gegensatz gerade deshalb so scharf wird, weil sie einander gleich sind. Der Gegensatz zwischen ihnen ist überdies ein komplementärer: ohne Prometheus keine Welt des Zeus, was aber Prometheus begründet hat, m u ß sein großer Widersacher vollenden. Keiner kommt ohne den anderen aus, beide sind aufeinander angewiesen. Daher k a n n n u r ein Ausgleich die Lösung bringen, indem beide auf etwas verzichten, u m dadurch etwas Größeres zu gewinnen. So wird auch der Aufbau des Dramas nach dem Prinzip der Parallelität und Gegensätzlichkeit sinnvoll. A : Hephaistos-Szene: der Gott (der Untertan), der ungern dem Herrscher gehorcht. B : Prometheus und der Chor; es ist hauptsächlich von der Vergangenheit die R e d e ; Prometheus spricht davon, d a ß Zeus mit ihm den Ausgleich suchen wird. C: Okeanos, der zur Nachgiebigkeit rät, was, so meint er, sich lohnen werde. D : Prometheus' große Rede, wie er den Menschen die K u l t u r gegeben hat. Das ist der Mittelpunkt, dessen Bedeutung so auch strukturell hervorgehoben wird, der aber zugleich ein W e n d e p u n k t ist. C': Io, die (bzw. ihr Vater) nachgiebig war. Ob es sich lohnte? B'¡Prometheus und der Chor; es ist hauptsächlich von der Z u k u n f t die Rede; Prometheus spricht vom Unhold, der die Macht des Zeus stürzen wird. A ' : 31

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W i e bekannt, ist sogar fraglich, ob Herakles bei H e s i o d den P r o m e t h e u s tatsächlich befreit oder nur den Adler abgeschossen hat, vgl. M. L. W e s t s K o m m e n t a r (vgl. A n m . 8), 313f. Der Dichter des P r o m e t h e u s - D r a m a s spricht auch v o m Opfertrug n i c h t ; ein N a c h hall v o m Teilen m a g 439 f. sein. Prometheus' Rolle i m Titanenkampf (in einer T i t a n o m a c h i e ? ) ; P r o m e t h e u s u n d die H o f f n u n g (soll das e t w a s m i t Werken und Tagen 9 6 f . zu t u n h a b e n ? ) ; die V e r s ö h n u n g (auf Grund des attischen Kultes). Auch dadurch, daß P r o m e t h e u s infolge seiner Geburt v o n Gaia z u m T i t a n e n wird, was er bei H e s i o d nicht ist. D a s wurde v o n K. R e i n h a r d t m i t R e c h t hervorgehoben (Aischylos als Regisseur und Theologe [vgl. A n m . 20], 3 0 - 3 7 ; E r a n o s - J a h r b u c h 26, 1957, 2 6 1 265 = T r a d i t i o n und Geist [vgl. A n m . 12], 207—212), u n d wird v o n m a n c h e n zu U n r e c h t als etwas Nebensächliches hingestellt. E s ist eine andere Frage, daß ich nicht m i t allen Thesen K . R e i n h a r d t s einverstanden sein kann.

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Hermes-Szene: der Gott (der Untertan), der gern und begeistert dem Herrscher gehorcht. Die Szenen sind in Ringkomposition, d. h. in konzentrischer Komposition angelegt, einander ähnlich und zugleich gegensätzlich. 34 Nach dem, was wir vom nächsten Stück wissen, wurde auch dort das gleiche Prinzip angewandt, sowohl innerhalb des Stückes als auch, wie längst erkannt, 3 5 in bezug auf den „Gefesselten Prometheus". Die Ähnlichkeiten bedeuten zugleich Gegensätzlichkeiten, die Gegensätze folgen einer aus dem anderen (Io — Herakles) und sind miteinander verbunden: Der allmächtige Zeus ist zugleich bedürftig, und auch er wäre bereit, selbst Ursache (Zeuger) seines Sturzes zu sein. Nicht minder widersprüchlich ist die Lage des Prometheus. Nicht nur, weil er, der den Menschen geholfen, auch selbst der Hilfe bedarf (85—86; vgl. auch 472—475), sondern infolge der Hilfe selbst. 36 E r hat zu, sehr geliebt, über das Recht hinaus geholfen. Es soll hier nicht erörtert werden, ob das ein Vorwurf sein kann. Damit hat er jedenfalls gegen die archaische Regel verstoßen: Nichts über das Maß! Geht es aber um Sein oder Nichtsein, wie im Fall der Menschen, so hat ein Zuviel oder Zuwenig keinen Sinn, es ist eine Entweder-oder-Lage. Entweder liebt er die Menschen „zu sehr" und rettet sie, oder er t u t nichts. Im ersten Fall verletzt er die Regel des Maßhaltens, das Recht, im zweiten das Gesetz der Hilfe für diejenigen, die Unrecht leiden. Diese Zwangslage enthält die Möglichkeit der Tragik. 37 Ein wesentlicher Zug der Tragik besteht ja darin, daß etwas Wertvolles zum Untergang verdammt oder auch tatsächlich vernichtet wird. Prometheus gerät in die Gefahr des Vernichtetwerdens, weil er für die Menschen Partei nahm, aber gerade deshalb wird er in den Augen der Zuschauer wertvoll und so zugleich zu einer tragischen Gestalt. Die Zwangslage ist gewissermaßen zeitbedingt: Sie ist eine Folge des Konfliktes zwischen einer archaisch griechischen moralischen Norm und einem Solonischen Gesetz, das in einer konkreten politischen Lage und zu einem konkreten politischen Zweck eingebracht war. Dadurch, daß Prometheus sich für die Menschen — im allgemeinen — entscheidet, was der Dichter offenbar als das richtige(re), das wertvollere Verhalten darstellt, kommt diesem Gesetz eine allgemeinere Bedeutung zu: Wertvoll ist, was die Sache der Menschen fördert. So schuf der Tragiker die Möglichkeit für alle Zeiten, in Prometheus den Helden zu sehen, der für die Sache der Menschen kämpft und sich opfert, d. h. aus Prometheus ein überzeitliches Symbol des Humanen zu machen, wobei freilich immer zeitbedingt bleibt, was man jeweils unter dem Begriff des Humanen versteht. Die tragische Lage des Prometheus wurde indessen keine Tragödie, weil Prometheus schließlich befreit wurde. Das Entweder-oder wurde zu einem Sowohl-als-auch. Zeus und Prometheus begannen zusammen („willig dem Willigen"), gerieten in Gegensatz, um dann zu einem Ausgleich zu kommen. Prometheus spricht eine tiefe Wahrheit 34

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Diese K o m p o s i t i o n s w e i s e wird so angewandt, daß die F o r m d e m I n h a l t entspricht. F ü r die R i n g k o m p o s i t i o n in einzelnen A b s c h n i t t e n vgl. M. Griffith, The A u t h e n t i c i t y of „Prometheus B o u n d " (vgl. A n m . 12), 2 0 7 - 2 0 9 . Zum Beispiel G. Thomson, A e s c h y l u s and A t h e n s , 2. Aufl. L o n d o n 1946, 336; in deutscher Ü b e r s e t z u n g : Aischylos und Athen, Berlin 1957, 355. — D i e Z a h l der Gegensätze könnte freilich vermehrt werden. P r o m e t h e u s sehnt sich i m „Befreiten P r o m e t h e u s " nach d e m Tod, w a s ein Gegensatz nicht nur zu seinem Verhalten i m „Gefesselten P r o metheus" ist, sondern auch dazu, daß der Befreier bald eintreffen wird. Vgl. G. Großmann, Promethie und Orestie (vgl. A n m . 16), 18; 2 5 - 3 1 . Ebd. 26f.; 162-170.

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aus — die, v o m Ganzen her gesehen, offenbar über die unmittelbare Situation der Stelle hinausgeht —, als er bereits am Anfang des erhaltenen Dramas von Zeus erklärt, er werde, seinen unerbittlichen Zorn besänftigend, mit ihm zu Bund und Freundschaft kommen: er, der eifrig Wollende, mit ihm, dem eifrig Wollenden (191—192). E r gebraucht für die Zukunft die gleiche parallele Konstruktion (onevöcov ansvöovTi), mit der er auch den Anfangszustand gekennzeichnet hat (exmv exovxi). Die Lage der Menschen ist ebenfalls ambivalent. Der Mensch ist mächtig und ohnmächtig zugleich. Prometheus spricht nur von der Größe, der Chor nur von der Nichtigkeit der Menschen, von denen für Prometheus keine H i l f e zu erhoffen ist, obwohl, wie das nachzuweisen vielleicht gelang, auch der Prometheische Geist seine Grenzen hat und obwohl Prometheus gerade durch einen Menschen befreit wird, durch einen Menschen, einen Nachkommen des mächtigen Gottes, Zeus, und des ohnmächtigen, elenden Weibes, I o . Das erste Geschenk, das Prometheus den Menschen brachte, war die blinde H o f f nung: Die Menschen wissen, daß sie sterben werden, die Stunde des Todes wissen sie aber nicht, deshalb können sie hoffen, noch große Taten zu vollbringen. Insofern die Menschen nicht mit dem Ende des Lebens, mit den Grenzen der Möglichkeiten rechnen, erweist sich ihre Klugkeit als trügerisch, als bloßer Wahn, wie die Schlauheit des Prometheus bei Hesiod. Würden sie aber nur an die Schranken denken, wüßten sie die Stunde des Todes, so wären sie handlungsunfähig. Deshalb nennt der Chor dieses Geschenk einen großen Nutzen für die Irdischen (251). Der Mensch muß immer in der Spannung von Gegensätzen leben. „Daß du langlebig sein wirst, daß du kurzlebig sein wirst, bedenke also!" sagt der sizilische Dichter Epicharm, was dann auch seinen Widerhall in einem L i e d findet, das Bakchylides Hieron, dem Herrscher v o n Syrakus, widmete. 38 Verfehlt der Mensch die Mitte der Gegensätze, wird es für ihn verhängnisvoll. Das Auseinanderfallen bzw. die Einheit der Gegensätze spielte in der ionischen Philosophie, besonders bei Anaximander und Heraklit, eine wichtige Rolle. W i e Heraklit auf Aischylos wirkte, wurde mehrfach untersucht und unterschiedlich beantwortet, zuletzt in positivem Sinn. Nicht die einzelnen Stellen seien ausschlaggebend, sondern das Weltbild als Ganzes, und bei Aischylos sei die gleiche spannungsvolle Einheit der entgegengesetzten Elemente zu erkennen, die auch Heraklit lehrte. 39 Daß sich gleichfalls im „Gefesselten Prometheus", auch wenn seine Verfasserfrage nicht geklärt ist, tatsächlich eine Einheit der Gegensätze findet, versuchten wir oben nachzuweisen. W i r haben bereits auf Züge im „Prometheus" hingewiesen, die irgendwie an Solon erinnern. Man kann ihre Zahl vermehren. „ M i r gefiel, weder durch Gewalt der Tyrannis etwas zu tun, noch daß v o m fetten Boden des Vaterlandes Gute und Schlechte gleichen Anteil besitzen sollen." 4 0 „ W e n n ich nicht nach Tyrannis und roher Gewalt trachtete, meinen Ruhm befleckend und entehrend, so schäme ich mich dessen nicht, denn ich glaube, auf diese Weise sämtliche Menschen zu besiegen."' 51 „Jene, die schmähliche 38 Epicharm, Fr. 267 Kaibel; Bakchylides 3, 78-82 (vom Jahr 468). 39 B. Gladigow, Aischylos und Heraklit, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 44, 1962, 225-239 ( = Wege zu Aischylos 1 [vgl. Anm. 12], 312-329). Vgl. auch W . Rösler, Reflexe vorsokratischen Denkens bei Aischylos, Meisenheim 1970 (Beiträge zur klassischen Philologie 37).