Die Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung im Privatrecht [1 ed.] 9783428582778, 9783428182770

Die Arbeit befasst sich mit der Abgrenzung judikativer und legislativer Kompetenzen im deutschen Verfassungsstaat. Im Mi

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German Pages 460 [461] Year 2021

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Die Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung im Privatrecht [1 ed.]
 9783428582778, 9783428182770

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Schriften zur Rechtstheorie Band 296

Die Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung im Privatrecht Von

Felix Jocham

Duncker & Humblot · Berlin

FELIX JOCHAM

Die Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung im Privatrecht

Schriften zur Rechtstheorie Band 296

Die Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung im Privatrecht

Von

Felix Jocham

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Universität Würzburg hat diese Arbeit im Jahr 2020 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-18277-0 (Print) ISBN 978-3-428-58277-8 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die Arbeit befasst sich mit den Grenzen der Rechtsfortbildung im Privatrecht und insoweit mit der Abgrenzung judikativer und legislativer Kompetenzen im deutschen Verfassungsstaat. Im Mittelpunkt steht die Fragestellung, bis zu welchem Punkt ein Zivilgericht eine Rechtsfrage selbst beantworten kann, wenn sich die Antwort nicht unmittelbar aus dem Gesetzestext ergibt, und ab welchem Punkt hierzu nur der demokratisch legitimierte Gesetzgeber befugt ist. Die Arbeit wurde im Wintersemester 2020/2021 von der Juristischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur konnten bis Anfang Dezember 2020 berücksichtigt werden. Ein herzlicher Dank gebührt Herrn Prof. Dr. Florian Bien, Maître en Droit (Aix-Marseille III), der mich während meiner langjährigen Lehrstuhltätigkeit stets besonders gefördert und unterstützt hat. Ihm und dem gesamten Lehrstuhlteam danke ich für die vielen wertvollen Erinnerungen. Herrn Prof. Dr. Wolfram Buchwitz danke ich herzlich für die Erstellung des Zweitgutachtens und den interessanten Einblick in die Welt des römischen Rechts, den ich während der Zeit an seinem Lehrstuhl erhalten habe. Ein besonderer Dank gilt Herrn PD Dr. Patrick Meier, der mir stets als scharfsinniger Advocatus Diaboli zur Verfügung stand, um meine Thesen zu testen. Danken möchte ich meiner Frau Tina Jocham, die nicht nur das Manuskript gelesen hat, sondern stets eine unschätzbare Verbündete ist, die mein Leben bereichert. Zuletzt möchte ich mich besonders bei meiner Familie, allen voran bei meinen Eltern und Großeltern, bedanken, die mich immer bedingungslos auf meinem Weg begleitet haben. Würzburg, im Dezember 2020

Felix Jocham

Inhaltsverzeichnis Einleitung 

15

Erster Teil

Das Fundament des Grenzsystems 

A. Die Grundannahmen zur Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der schwierige Begriff der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Rechtsfortbildungsbegriff in der Fachsprache . . . . . . . . . . . . . . . . a) Fortbildung und Auslegung des Rechts als Dualismus . . . . . . . . . . aa) „Fortbildung des Rechts“ bei der Grundsatzvorlage   . . . . . . . bb) „Fortbildung des Rechts“ im Rechtsmittelrecht . . . . . . . . . . . . cc) „Fortbildung des Rechts“ im Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . b) Fortbildung als Rechtsanwendung oder Rechtssetzung? . . . . . . . . . aa) Rechtssetzungsbefugnis trotz Gewaltenteilung? . . . . . . . . . . . . bb) Rechtssetzungsbefugnis wegen Gewaltenverschränkung? . . . . cc) Rechtssetzungsbefugnis trotz Gesetzesbindung? . . . . . . . . . . . (1) Normsetzungsbefugnis im Lückenbereich? . . . . . . . . . . . . (2) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Rechtsfortbildungsbegriff in dieser Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Formen der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsfortbildungsinstrumente in der Einzelbetrachtung . . . . . . . . . . . a) Echte Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Analogie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Teleologische Extension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Teleologische Reduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Teleologische Substitution oder Modifikation? . . . . . . . . . . . . b) Unechte Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Erst-recht-Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Umkehrschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Berufung auf Rechtsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Norminterne Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Normübergreifende Abwägung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Ökonomische Analyse des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . gg) Weitere Scheinformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21 22 22 23 23 24 26 29 30 31 32 33 34 35 39 39 40 41 42 42 46 49 50 51 52 55 56 58 59 61 61 62 63

8 Inhaltsverzeichnis (1) Leerformeln  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Bedürfnisse des Rechtsverkehrs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsfortbildungsinstrumente in der Gesamtbetrachtung . . . . . . . . . . a) Einteilung nach der Entfernung von Wortlaut und Wertung . . . . . . b) Einteilung nach dem Rangverhältnis der Wertungen  . . . . . . . . . . . c) Einteilung nach der Art ihrer Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Einteilung nach Wortlautdefizit in Tatbestand oder Rechtsfolge . . 3. Rechtsfortbildungsinstrumente im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63 66 67 67 71 72 73 74

B. Die Grundannahmen zu den Grenzen der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . I. Das Zusammenwirken von Rechtsmethodik und Recht . . . . . . . . . . . . . . 1. Verfassungsfreie Methodik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ein Begründungsversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfassungsorientierte Methodik als Zirkelschluss? . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gesetzesbindung als verfassungsrechtliche Methodenvorgabe . . . . . . . II. Die Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht . . . . . . . . . . . . . . 1. „Gesetz und Recht“ im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) „Gesetz“ als Maßstab? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) „Gesetz und Recht“ als Maßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Gesetz und Recht“ im Besonderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bindung der Zivilgerichte an Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bindung der Zivilgerichte an Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bindung der Zivilgerichte an Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die unmittelbare Geltung des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . (1) Unmittelbar geltendes Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Unmittelbar geltendes Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Mittelbar geltendes Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Nicht umgesetzte Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Umgesetzte Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die unmittelbare Wirkung des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . (1) Anforderungen im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Unmittelbare Wirkung als „wesensgleiches Plus“? . . (b) Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung . . . . . . . (2) Anforderungen im Besonderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Unmittelbar wirkendes Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . . (b) Unmittelbar wirkendes Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . d) Bindung der Zivilgerichte an Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Bindung der Zivilgerichte an Gewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . f) Bindung der Zivilgerichte an Richterrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Bindung der Zivilgerichte an überpositives Recht?  . . . . . . . . . . . . h) Bindung der Zivilgerichte an privatautonomes Recht . . . . . . . . . . . III. Die Auflösungsmechanismen bei Wertungskollisionen . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kollisionen im horizontalen Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74 75 75 75 76 77 79 80 80 80 82 83 83 84 86 88 88 91 93 95 97 98 98 98 101 104 104 105 108 110 111 115 118 119 120

Inhaltsverzeichnis9 2. Kollisionen im vertikalen Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kollision von Privat- und Verfassungsrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kollision von Privat- und Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kollision von Privat- und Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

122 122 124 127

C. Ergebnis des Ersten Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Zweiter Teil

Die Entwicklung des Grenzsystems 

130

A. Die Grenzen der Rechtsfortbildung in Rechtsprechung und Literatur . . I. Die Grenze von zulässiger und unzulässiger Fortbildung des Rechts . . . 1. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bewertung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Grenze von Auslegung und zulässiger Fortbildung des Rechts . . . . . 1. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bewertung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

130 130 130 136 142 144 146

B. Eigener Lösungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Grenzen der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Grenzen der Rechtsfortbildung als Grenzen der Lücke . . . . . . . . . . . 1. Die „Lücke“ nach herrschender Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Lückenbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die „Lücke“ nach hier vertretener Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Grenze der Lücke als Kongruenz von Normtext und -zweck . . . . . . IV. Die Grenze des Normtexts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Normtext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeiner und juristischer Sprachgebrauch? . . . . . . . . . . . . . . . . b) Entstehungs- oder geltungszeitlicher Sprachgebrauch? . . . . . . . . . . c) Üblicher, natürlicher oder möglicher Sprachgebrauch? . . . . . . . . . d) Fazit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Normtextanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Erste Stufe: Evidenzkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Arbeitskategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Sprachevidenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zweite Stufe: Referenzkontrolle  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Gesetzliche Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Gerichtliche Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Nachschlagewerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Dritte Stufe: Konvergenzkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Methoden der Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Verfahren der logischen Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Verfahren der Merkmal- und Komponentensemantik . . . . (3) Verfahren der Stereotypen- und Prototypensemantik . . . .

150 150 151 151 151 153 156 158 160 160 160 162 163 164 164 165 165 166 168 168 169 169 171 171 172 173 174

10 Inhaltsverzeichnis bb) Methoden der Semantik in der Normtextanalyse . . . . . . . . . . . (1) Übernahme der semantischen Verfahren . . . . . . . . . . . . . . (a) Logische Semantik: Vom logischen zum hermeneu­ tischen Zirkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Merkmalsemantik: Von der abschließenden zur hinreichenden Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Prototypensemantik: Von der unscharfen zur trennscharfen Textgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Zusammenwirken der semantischen Verfahren . . . . . . . . . cc) Konvergenzkontrolle auf Basis der linguistischen Semantik . . (1) Normtext als grundlegender Maßstab . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Positive Kandidaten als fortentwickelter Maßstab . . . . . . (3) Konstitutive Bedingungen als endgültiger Maßstab . . . . . dd) Konvergenzkontrolle im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis zur Grenze des Normtexts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Grenze des gebotenen Normzwecks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gebotener Normzweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Normzweckanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Erste Stufe: Die Wertung der Einzelnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Grundsatz: Explizit mitgeteilter Normzweck . . . . . . . . . . . . . . bb) Ausnahme: Nicht explizit mitgeteilter oder mitgeteilter ­ungültiger Normzweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Normzweckausfall: Legislativwille vermeintlich ­inexistent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Normzweckstörung: Legislativwille gegenstandslos . . . . . (3) Normzweckerreichung: Legislativwille vollendet . . . . . . . (4) Normzweckfortfall: Legislativwille weggefallen . . . . . . . . (5) Normzweckänderung: Neuer Legislativwille erkennbar . . cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zweite Stufe: Die Wertung gleichrangiger Normen . . . . . . . . . . . . c) Dritte Stufe: Die Wertung verfassungsrechtlicher Normen . . . . . . . aa) Begrenzung durch Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Wirkung der Grundrechte im Privatrecht  . . . . . . . . . . . . . (a) Vertikalwirkung der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Horizontalwirkung der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . (aa) Unmittelbare Horizontalwirkung? . . . . . . . . . . . . (bb) Mittelbare Horizontalwirkung als Folge­ erscheinung einer „Ausstrahlungswirkung“? . . . (cc) Mittelbare Horizontalwirkung als Folge­ erscheinung der „Privatrechtsbindung“ . . . . . . . (c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Gleichheitsgrundrechte als Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Besondere Gleichheitssätze als Grenze . . . . . . . . . . . . (b) Allgemeiner Gleichheitssatz als Grenze . . . . . . . . . . .

175 175 176 176 177 178 179 180 180 181 183 183 184 184 186 187 187 191 192 192 194 195 198 199 200 203 203 203 205 208 208 210 212 219 219 220 222

Inhaltsverzeichnis11 (3) Freiheitsgrundrechte als Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 (a) Freiheitsgrundrechtliche Abwehrfunktion als Grenze . 226 (aa) Verbotene Rechtsfortbildung zulasten des Beklagten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 (bb) Gebotene Rechtsfortbildung zulasten des Beklagten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 (b) Freiheitsgrundrechtliche Schutzfunktion als Grenze . 231 (aa) Verbotene Rechtsfortbildung zulasten des Klägers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 (bb) Gebotene Rechtsfortbildung zulasten des Klägers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 bb) Begrenzung durch sonstiges Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . 240 (1) Demokratieprinzip als Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 (2) Rechtsstaatsprinzip als Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 (a) Gewaltenteilung und Gesetzesbindung . . . . . . . . . . . . 243 (b) Gesetzesvorrang und Normverwerfungsmonopol . . . . 245 (c) Gesetzesvorbehalt und Wesentlichkeitstheorie . . . . . . 247 (d) Rechtssicherheit und Vertrauensschutz . . . . . . . . . . . . 250 (3) Bundesstaatsprinzip als Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 (4) Weitere verfassungsrechtliche Vorgaben als Grenze . . . . . 254 d) Vierte Stufe: Die Wertung unionsrechtlicher Normen . . . . . . . . . . . 255 aa) Begrenzung durch EU-Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 (1) EU-Grundrechte als Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 (a) Wirkung der EU-Grundrechte im Privatrecht . . . . . . . 256 (aa) EU-Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 (bb) Vertikalwirkung der EU-Grundrechte . . . . . . . . . 258 (cc) Horizontalwirkung der EU-Grundrechte . . . . . . 260 (b) EU-Gleichheitsgrundrechte als Grenze . . . . . . . . . . . . 261 (c) EU-Freiheitsgrundrechte als Grenze . . . . . . . . . . . . . . 262 (aa) Freiheitsgrundrechtliche Abwehrfunktion als Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 (bb) Freiheitsgrundrechtliche Schutzfunktion als Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 (2) EU-Grundfreiheiten als Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 (a) Wirkung der EU-Grundfreiheiten im Privatrecht . . . . 264 (aa) Vertikalwirkung der EU-Grundfreiheiten . . . . . . 264 (bb) Horizontalwirkung der EU-Grundfreiheiten . . . . 265 (b) Grundfreiheitliche Abwehrfunktion als Grenze . . . . . 269 (c) Grundfreiheitliche Schutzfunktion als Grenze  . . . . . . 270 (3) Weitere primärrechtliche Vorgaben als Grenze . . . . . . . . . 270 bb) Begrenzung durch EU-Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 (1) Verordnungen als Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 (2) Richtlinien als Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 (a) Unmittelbar wirkende Richtlinie als Grenze . . . . . . . . 274

12 Inhaltsverzeichnis (b) Mittelbar wirkende Richtlinie als Grenze . . . . . . . . . . 275 (aa) Grenzwirkung der umgesetzten Richtlinie . . . . . 277 (bb) Grenzwirkung der nicht umgesetzten Richtlinie vor Ablauf der Umsetzungsfrist  . . . . . . . . . . . . 279 3. Ergebnis zur Grenze des gebotenen Normzwecks . . . . . . . . . . . . . . . . 280 C. Ergebnis des Zweiten Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Dritter Teil

Das Grenzsystem in der Anwendung 

A. Normtextvereinbarkeit und Normzweckvereinbarkeit (Auslegung) . . . . . I. Wertung der Einzelnorm: Irrtumsanfechtung bei Smart Contracts . . . . . . 1. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Normtextanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Normzweckanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wertung einer gleichrangigen Norm: Herausgabe des Mehrerlöses vom Nichtberechtigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Normtextanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Normzweckanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Wertung einer verfassungsrechtlichen Norm: Ehegatte des Mieters als Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Normtextanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Normzweckanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Wertung einer unionsrechtlichen Norm: Geldschuld als Bringschuld im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Normtextanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Normzweckanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Normtextvereinbarkeit und Normzweckunvereinbarkeit (zulässige normtexteinschränkende Rechtsfortbildung) . . . . . . . . . . . . . . . I. Wertung der Einzelnorm: Abtretbarkeit unpfändbarer Forderungen . . . . . 1. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Normtextanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

282 282 283 283 284 284 286 288 288 288 289 289 291 296 296 296 297 297 300 303 303 303 305 305 306 310 311 311 311 312 312

Inhaltsverzeichnis13 b) Normzweckanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wertung einer gleichrangigen Norm: Vertretung der Personengesellschaft durch einen beschränkt geschäftsfähigen Komplementär . . . . . . . . 1. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Normtextanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Normzweckanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Wertung einer verfassungsrechtlichen Norm: Wettbewerbsverbot des Handlungsgehilfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Normtextanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Normzweckanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Wertung einer unionsrechtlichen Norm: Verjährungsverkürzung bei gebrauchten Kaufgegenständen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Normtextanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Normzweckanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Normtextunvereinbarkeit und Normzweckvereinbarkeit (zulässige normtexterweiternde Rechtsfortbildung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Wertung der Einzelnorm: Erlöschen als Rücktrittsfolge . . . . . . . . . . . . . . 1. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Normtextanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Normzweckanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wertung einer gleichrangigen Norm: Verjährung von Ersatzansprüchen aus atypischer Gebrauchsüberlassung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Normtextanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Normzweckanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Wertung einer verfassungsrechtlichen Norm: Nachbarschaftsrechtlicher Ausgleichsanspruch bei faktischem Duldungszwang . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Normtextanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Normzweckanalyse  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

312 314 314 314 315 315 315 317 318 318 319 319 320 325 326 326 327 327 327 331 332 332 332 334 334 334 337 337 337 338 338 339 340 340 340 342 342 343

14 Inhaltsverzeichnis c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 IV. Wertung einer unionsrechtlichen Norm: Banken mit Sitz in einem anderen EU-Mitgliedstaat als taugliche Bürgen für eine Sicherheitsleistung . . 348 1. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 2. Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 a) Normtextanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 b) Normzweckanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 D. Normtextunvereinbarkeit und Normzweckunvereinbarkeit (unzulässige Rechtsfortbildung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 I. Wertung der Einzelnorm: Einkaufsvollmacht des Ladenangestellten . . . . 360 1. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 2. Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 a) Normtextanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 b) Normzweckanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 II. Wertung einer gleichrangigen Norm: Gefährdungshaftung für autonome Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 1. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 2. Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 a) Normtextanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 b) Normzweckanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 III. Wertung einer verfassungsrechtlichen Norm: Regressvorbereitender Auskunftsanspruch des Scheinvaters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 1. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 2. Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 a) Normtextanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 b) Normzweckanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 IV. Wertung einer unionsrechtlichen Norm: Beweislastumkehr für Vermittler verbundener Reiseleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 1. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 2. Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 a) Normtextanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 b) Normzweckanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 Zusammenfassung 

383

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Entscheidungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454

Einleitung Die Gewaltenteilung bildet das Rückgrat jeder rechtsstaatlichen Verfassung.1 Nach dieser Leitidee gilt im Ausgangspunkt: Die Legislative setzt Recht, die Exekutive vollzieht Recht und die Judikative spricht Recht. Auch wenn das Grundgesetz, etwa beim Initiativrecht der Bundesregierung gem. Art. 76 Abs. 1 GG, das ursprünglich von Montesquieu2 geprägte Ideal nicht in Reinform verwirklicht, geht die deutsche Verfassung davon aus, dass die Legislative als Rechtssetzer,3 Exekutive und Judikative hingegen als Rechtsanwender tätig werden. Konsequent folgt aus Art. 20 Abs. 3 GG, dass die rechtsprechende Gewalt an „Gesetz und Recht“ gebunden ist, weshalb ihr als Bindungsadressat nicht erlaubt sein kann, Gesetz oder Recht selbst zu erlassen. Als Rechtsanwender sind die Richter somit zwar keine „Richterkönige“,4 aber mehr als bloße „Subsumtionsautomaten“.5 Sie schulden dem Gesetzgeber keinen unbedingten Buchstabengehorsam, sondern vollziehen die Bestimmungen der Rechtsordnung in denkendem Gehorsam.6 In der Folge ist anerkannt, dass die Gerichte die anzuwendenden Rechtssätze zur Lösung eines konkreten Rechtsstreits auslegen und mitunter sogar fortbilden müssen, falls sie sich als unvollständig erweisen. Anders als der schweizerische Art. 1 ZGB7 und die österreichischen §§ 6, 7 ABGB8 gibt das deutsche Recht eiBadura, Staatsrecht, 2018, S. 425. Gewaltenteilungslehre nach Montesquieu: Vogel, Zur Praxis und Theorie der richterlichen Bindung an das Gesetz im gewaltenteilenden Staat, 1969, S. 72 ff. 3  In dieser Arbeit wird ausschließlich aus Gründen der Lesbarkeit die männliche Form verwendet. Eine geschlechtsspezifische Einschränkung ist damit nicht verbunden. 4  Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 1984, S. 801. 5  Insoweit sehr plakativ: Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, 2008. 6  Grundlegend zum „denkenden Gehorsam“: Heck, AcP 112 (1914), 1, 51. 7  Art. 1 Abs. 2 und 3 ZGB: „Kann dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden, so soll das Gericht nach Gewohnheitsrecht und, wo auch ein solches fehlt, nach der Regel entscheiden, die es als Gesetzgeber aufstellen würde. Es folgt dabei bewährter Lehre und Überlieferung.“ 8  §§ 6, 7 ABGB: „Einem Gesetze darf in der Anwendung kein anderer Verstand beygelegt werden, als welcher aus der eigenthümlichen Bedeutung der Worte in ihrem Zusammenhange und aus der klaren Absicht des Gesetzgebers hervorleuchtet.“ (§ 6 ABGB). „Läßt sich ein Rechtsfall weder aus den Worten, noch aus dem natür­ lichen Sinne eines Gesetzes entscheiden, so muß auf ähnliche, in den Gesetzen bestimmt entschiedene Fälle, und auf die Gründe anderer damit verwandten Gesetze 1  Vgl. 2  Zur

16 Einleitung

nem Gericht aber keine Leitlinien an die Hand, wie zu verfahren ist, wenn das Gesetz nicht unmittelbar ein Entscheidungsprogramm enthält. Auch wenn die Kompetenz zur Rechtsfortbildung von niemand ernsthaft bestritten wird,9 ist jedoch nach über 150 Jahren wissenschaftlichem Diskurs10 weiterhin ungeklärt, wo genau ihre Grenzlinien verlaufen.11 Nicht übertrieben ist deshalb, dass Frowein die Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung zu den

Rücksicht genommen werden. Bleibt der Rechtsfall noch zweifelhaft; so muß solcher mit Hinsicht auf die sorgfältig gesammelten und reiflich erwogenen Umstände nach den natürlichen Rechtsgrundsätzen entschieden werden.“ (§ 7 ABGB). 9  Zur Kompetenz der richterlichen Rechtsfortbildung: BVerfG, Urt. v. 18.12.1953 – 1 BvL 106/53 – Gleichberechtigung, BVerfGE 3, 225, 243; BGH, Urt. v. 30.10.1951 – I ZR 117/50, BGHZ 3, 308, 315; BAG, Urt. v. 27.01.1955 – 2 AZR 479/54, BAGE 1, 279, 280; erstmals explizit, dass die Rechtsfortbildungskompetenz vom BVerfG stets anerkannt wurde: BVerfG, Beschl. v. 14.02.1973 – 1 BvR 112/65 – Soraya, BVerfGE 34, 269, 288; zur allgemeinen Akzeptanz der Rechtsfortbildungsbefugnisse der Zivilund Arbeitsgerichte: Wiedemann, NJW 2014, 2407, 2411; die grundsätzliche Zulässigkeit ebenfalls anerkennend: Fischer, Die Weiterentwicklung des Rechts durch die Rechtsprechung, 1971, S. 7 ff.; Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, S. 21 ff. und passim; Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 15 und passim; Ossenbühl, Richterrecht im demokratischen Rechtsstaat, 1988, S. 17 ff.; Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung, 1995, S. 137 ff.; Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, S. 148; Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S.  220 ff.; Arndt, NJW 1963, 1273, 1282; Stein, NJW 1964, 1745; Zippelius, NJW 1964, 1981, passim; Larenz, NJW 1965, 1, passim; Redeker, NJW 1972, 409, 415; Coing, JuS 1975, 277; Picker, JZ 1984, 153, 154 ff.; Bydlinski, JZ 1985, 149; Leisner, DVBl 1986, 705, 707; Sendler, DVBl 1988, 828; Gusy, DÖV 1992, 461; Drechsler, ZJS 2015, 344; Hilger, in: Paulus/Diederichsen/Canaris (Hrsg.), Festschrift Larenz, 1973, S. 109 ff.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band II, 1980, S. 913; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 366; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S.  187; Schwacke, Juristische Methodik, 2011, S. 121 ff.; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 2012, S. 63 ff.; kritisch und sehr restriktiv indes: Hillgruber, JZ 1996, 118, 124; vertiefend: Hillgruber, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 2020, Art. 97 GG, Rn.  63 ff. 10  Zu dieser Einschätzung: Möllers, in: Altmeppen/Fitz/Honsell (Hrsg.), Festschrift Roth, 2011, S. 474; zur Diskussion zu Zeiten Savignys: Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, S. 68 ff. 11  Zur Ungewissheit bei der Bestimmung der Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung: Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, S. 87, der die Grenzlinien infolge des unscharfen Lückenbegriffs ebenfalls als „vage“ bezeichnet; Arndt, NJW 1963, 1273, 1274, der feststellt, dass „Unsicherheit [besteht], wo die Grenze zwischen Gesetzgeber und Richter verläuft“; ähnlich: Kempf/Schilling, NJW 2012, 1849, 1850; Wiedemann, NJW 2014, 2407, 2408; Kingreen/Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, 2020, Rn. 1348, die konstatieren, dass es „eine klare, in Rechtsprechung und Schrifttum allgemein anerkannte Grenze zwischen zulässiger und unzulässiger richterlicher Rechtsfortbildung nicht“ gebe.

Einleitung17

„Ewigkeitsfragen der Jurisprudenz“12 zählt. Dass die Diskussion hierüber nach so langer Zeit „aktueller denn je“13 ist, hat wohl mehrere Gründe. Wissenschaftstheoretisch hat die Forschungslücke das Potenzial, das Verständnis der Rechtswissenschaft als Wissenschaft in seinen Grundfesten zu erschüttern. Ist ein konstitutives Merkmal einer Wissenschaft, über gesicherte Erkenntnismethoden zu verfügen,14 schüren Zweifel an den Grenzen der Entscheidungsmacht zugleich Zweifel an der Wissenschaftlichkeit der gesamten Disziplin.15 Während die Erfahrungswissenschaften empirische Methoden einsetzen, um Erkenntnisse zu gewinnen, bemühen Rechtswissenschaftler die juristische Methodenlehre, um das in abstrakt-generelle Vorschriften gegossene Recht zu erfassen und auf einen konkreten Rechtsstreit zu übertragen.16 Ist die Reichweite der Rechtsfortbildungsbefugnis jedoch unbestimmt, kann in diesem Bereich von einer gesicherten Erkenntnismethode keine Rede sein. Um dem Selbstanspruch der Rechtswissenschaft gerecht zu werden, ist es daher vonnöten, die Grenzen der Rechtsfortbildung weiter auszuleuchten. Staatstheoretisch ist bedenklich, dass die Fortbildungsgrenze die Kompetenzbereiche von Legislative und Judikative trennt. Ist ihr Verlauf ungewiss, droht eine Machtverschiebung im Gewaltengefüge und dadurch mit Rüthers’ Worten die „heimliche Revolution vom Rechtsstaat zum Richterstaat“.17 Doch auch abseits jeder Zuspitzung bleibt bedenklich, dass die Judikative ohne klare Grenzen ihre Befugnisse selbst erweitert kann. Dies wird dem EuGH nicht selten vorgeworfen;18 die Kritik gilt aber potenziell in gleicher Weise für die nationalen Gerichte. Gelingt es, den Grenzverlauf der richter­ lichen Rechtsfortbildung näher herauszuarbeiten, kann eine sukzessive Erweiterung judikativer Machtbefugnisse offengelegt und dem notfalls durch den Gesetzgeber entgegengetreten werden. 12  Frowein, in: Die Hochschullehrer der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg (Hrsg.), Festschrift 600-Jahr-Feier der Universität Heidelberg, 1986, S. 557, der seine Aussage auf die „Grenzen des Richterrechts“ bezieht; ähnlich: Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, 2006, S. 10 m. w. N.; Hirsch, DNotZ 2000, 729, 733 („ewige Problem der Grenzen von Richtermacht“). 13  Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 13 Rn. 4. 14  In diese Richtung: Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 284, die unter Wissenschaft „methodisch-rationales Bemühen um Erkenntnisfortschritt“ verstehen. 15  Besonders deutliche Worte fand Julius von Kirchmann für seine Zweifel an der Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft: v. Kirchmann, Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft: Ein Vortrag, gehalten in der juristischen Gesellschaft zu Berlin, 1848. 16  Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 655. 17  Rüthers, Die heimliche Revolution vom Rechtsstaat zum Richterstaat, 2016. 18  Statt vieler, dafür in aller Deutlichkeit: Jahn, NJW 2008, 1788.

18 Einleitung

Rechtspraktisch ist besonders gravierend, dass jede kompetenzwidrige Rechtsfortbildung im Privatrecht immer zulasten eines Privaten geht. Obsiegt der Kläger im Zivilprozess durch eine unzulässige Fortbildung, wird der Beklagte unmittelbar schlechter gestellt. Umgekehrt kann aber auch der Kläger benachteiligt werden, wenn seine Klage infolge einer nicht legitimierten Fortbildung abgewiesen wird. Ein kompetenzüberschreitender Akt des erkennenden Gerichts belastet in der Folge stets eine Privatperson in grundrechtsrelevanter Weise. Die Gefahr der unerlaubten Rechtsfortbildung ist im Privatrecht besonders hoch. Dem Bürger drohen zwar ähnliche Nachteile, wenn eine Bestimmung in einem anderen Rechtsgebiet unzulässig fortgebildet wird und er deshalb vor den Straf-, Finanz-, Sozial- oder Verwaltungsgerichten unterliegt. Anders als vor den Zivil- oder Arbeitsgerichten ist das Risiko aber verringert, weil sich die Gerichte bewusst sind, dass eine Rechtsfortbildung zum Nachteil des Privaten verboten oder zumindest nicht ohne Weiteres erlaubt ist. Im Strafrecht dürfen Sanktionsnormen wegen Art. 103 Abs. 2 GG niemals zulasten des Täters fortgebildet werden;19 im Steuerrecht werden steuerverschärfende Analogien von einzelnen Senaten des Bundesfinanzhofs als unzulässig erachtet20 und auch in anderen Gebieten des öffentlichen Rechts wird die Analogiefähigkeit von Eingriffsnormen 19  Der in Art. 103 Abs. 2 GG und in § 1 StGB verankerte Grundsatz „nulla poena sine lege“ erfasst nicht nur ein Verbot der Analogie zulasten des Täters, sondern ein umfangreiches Rechtsfortbildungsverbot, soweit durch sie die Strafe des Täters erst begründet oder verschärft wird. So in st. Rspr. z. B. BVerfG, Urt. v. 03. 06. 1962 – 2 BvR 15/62 – Gesetzesgebundenheit im Strafrecht, BVerfGE 14, 174, 185; BVerfG, Beschl. v. 23. 10. 1985 – 1 BvR 1053/82 – Anti-Atomkraftplakette, BVerfGE 71, 108, 115; BGH, Urt. v. 07. 11. 1990 – 2 StR 439/90, BGHSt 37, 226, 230, wonach eine Analogie „nur zugunsten des Beschuldigten zulässig ist“; jüngst: BVerfG, Beschl. v. 28. 07. 2015 – 2 BvR 2558/14, 2 BvR 2571/14, 2 BvR 2573/14, NJW 2015, 2949, 2954; ebenso, wobei „Analogie“ in Analogieverbot nicht im technischen Sinne, sondern weiter zu verstehen ist: Radtke, in: BeckOK-GG, 2020, Art. 103 GG, Rn. 38; im Ergebnis ebenso: Remmert, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 2020, Art. 103 Abs. 2 GG, Rn. 82 f.; zum historischen Hintergrund und Schutzzweck des Art. 103 Abs. 2 GG: Rüthers/Höpfner, JZ 2005, 21, 22; siehe zur Anwendbarkeit von Art. 103 Abs. 2 GG im Ordnungswidrigkeitenrecht: BVerfG, Beschl. v. 23. 10. 1985 – 1 BvR 1053/82 – Anti-Atomkraftplakette, BVerfGE 71, 108, 115; BVerfG, Beschl. v. 29. 11. 1989 – 2 BvR 1491, 1492/87, NJW 1990, 1103; BVerfG, Beschl. v. 11. 01. 1995 –2 BvR 1473/ 89, NJW 1995, 3050, 3051; einfachgesetzliche Ausprägungen dieses Grundsatzes finden sich in § 1 StGB und § 3 OwiG. 20  Für ein Analogieverbot, soweit dadurch ein neuer Steuertatbestand geschaffen wird: BFH, Urt. v. 27. 11. 1985 – I R 42/85, BStBl. II 1986, 272: „[…] eine steuerverschärfende Analogie im Steuerrecht [sei] dann unzulässig, wenn sie einen steuerbegünstigten Tatbestand schaffen würde“. Ebenfalls gegen die analoge Begründung neuer Steuertatbestände: Weber-Grellet, DStR 1991, 438, 443; hingegen für die (partielle) Zulässigkeit der steuerverschärfenden Analogie: BFH, Urt. v. 20. 10. 1983 – IV R 175/79, NVwZ 1984, 823 f.

Einleitung19

teilweise abgelehnt.21 Ist eine privatbelastende Fortbildung in bestimmten Gebieten kategorisch untersagt oder wird ihre Zulässigkeit zumindest höchstrichterlich angezweifelt, ist der Rahmen des kompetenzgemäßen Handelns klarer abgesteckt, wodurch die Richter für derartige Verstöße sensibilisiert werden. Rechtspolitisch ist unglücklich, dass die Gerichte neu entstehende Rechtsfragen nur in das geltende Recht „einpflegen“ können, soweit ihre Kompetenzen reichen. Sind diese überschritten, darf ausschließlich der Gesetzgeber tätig werden. Ist der Grenzverlauf aber nicht trennscharf, kann das Dilemma entstehen, dass die Judikative ein bestimmtes Ergebnis nicht bewirken kann, weil ihre Befugnisgrenzen überdehnt würden, die Legislative aber ebendies normiert hätte, wenn ihr bewusst gewesen wäre, dass nur sie die Antwort auf die Rechtsfrage geben kann. Eine Grenztransparenz verhindert damit nicht nur, dass die Rechtsprechung die rechtspolitischen Vorstellungen des Gesetzgebers durch ihre eigenen ersetzt. Vielmehr vermag sie die Problemstellungen zu identifizieren, in denen eine rechtspolitische Entscheidung der Legislative nötig ist, die nicht durch die Rechtspraxis ersetzt werden kann. Je leichter die Kompetenzbereiche also voneinander unterschieden werden können, desto effektiver kann jede der Gewalten ihre Aufgaben wahrnehmen und desto effizienter ist gewährleistet, dass das Rechtssystem auch mit den Rechtsfragen der Zukunft Schritt halten kann. All dies lässt es notwendig erscheinen, einen neuen Anlauf zu wagen, um die Grenzen der Rechtsfortbildung weiter herauszuarbeiten. Diese Arbeit möchte dazu einen Beitrag leisten, indem sie untersucht, welche Grenzen den Zivilgerichten bei der Fortbildung des einfachgesetzlichen Privatrechts gezogen sind. Die hierauf gerichtete Studie gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil sind die wesentlichen Grundannahmen zu erarbeiten, die das Fundament für die Analyse bilden. Hierzu ist zunächst die richterliche Rechtsfortbildung als Institut näher zu charakterisieren, um Klarheit über den Gegenstand zu erhalten, dessen Grenzlinien im weiteren Fortgang zu untersuchen sind. Insoweit wird es notwendig sein, eine präzise Begriffsbestimmung vorzunehmen und echte Formen von unechten zu unterscheiden, die häufig zu Unrecht als Rechtsfortbildungsinstrumente eingestuft werden. Ist die Rechtsfortbildung in ihren Grundzügen erschlossen, rücken sodann ihre Grenzen in den Mittelpunkt der Betrachtung. In dieser Hinsicht wird nachzu21  Siehe dazu: Meier/Jocham, JuS 2016, 392, 395; hierzu exemplarisch: BVerfG, Beschl. v. 14. 08. 1996 – 2 BvR 2088/93, NJW 1996, 3146, wonach die Fachgerichte verkannt hatten, dass die „Verwaltungsbehörde […] nicht über dem Gesetz steht und nicht befugt ist, selbst neue Eingriffstatbestände zu schaffen“, weshalb „sie die gesetzliche Grundlage nicht im Wege der analogen Anwendung des § 121 Abs. 5 StVollzG gewinnen“ konnte.

20 Einleitung

weisen sein, dass die Problemstellung zwar in der Methodik als Rechtsanwendungslehre wurzelt, für eine praktikable Lösung aber auch das anzuwendende materielle Recht einbezogen werden muss. Ausgehend von dieser Prämisse müssen im Anschluss potenzielle Grenzbausteine identifiziert werden, indem analysiert wird, welche Rechtssätze unter welchen Voraussetzungen in Betracht kommen, um der richterlichen Rechtsfortbildung Grenzen zu ziehen, ehe kurz zu betrachten ist, wie auftretende Rechtssatzkollisionen aufgelöst werden können. Anschließend ist im zweiten Teil ein Grenzsystem zu etablieren, das aufzeigt, wie die Grenzen der Rechtsfortbildung in strukturierter Weise präzisiert werden können. Auf die Auseinandersetzung mit dem bisherigen Forschungsstand folgt der Lösungsansatz dieser Arbeit, in dem ein neuer Lückenbegriff entwickelt wird, der die Schwächen der herrschenden Konzeption kompensieren kann und in den ein strukturiertes Prüfprogramm integriert ist. Dieses umfasst eine Normtext- und eine Normzweckanalyse, mit deren Hilfe über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der angedachten Rechtsfortbildung entschieden werden kann. Abschließend werden die gewonnenen Erkenntnisse im dritten Teil auf ihre Praxistauglichkeit erprobt. Hierzu werden für alle Schritte des zuvor entwickelten Grenzsystems ausgewählte Rechtsfragen des Privatrechts analysiert und im Lichte der neuen Erkenntnisse verortet.

Erster Teil

Das Fundament des Grenzsystems Ziel dieser Arbeit ist es, die Grenzen näher herauszuarbeiten, die die Zivilgerichte bei der Fortbildung des Privatrechts1 zu beachten haben. Die Entwicklung eines transparenten Grenzsystems ist indes in vielerlei Hinsicht ein komplexes Vorhaben. Der Erste Senat des BVerfG konstatierte bereits in seinem berühmten Soraya-Beschluss vom 14.02.1973, dass die Grenzen der Rechtsfortbildung „nicht in einer Formel“ erfasst werden könnten.2 Mit Blick auf die europarechtlich-induzierte Fortbildung des nationalen Rechts scheint auch Herresthal die Komplexität als Ursache für die geringe Forschungsdichte zu erkennen. So vermutet er „in der übergreifenden Struktur der aufgeworfenen Problemkomplexe“ einen Grund, warum die unionsrechtlich veranlasste Fortbildung des nationalen Rechts bislang weder in der Rechtsprechung noch im Schrifttum hinreichend berücksichtigt wurde.3 Die Vielschichtigkeit ist jedoch keine Besonderheit des Unionsrechts und seines Einflusses auf das nationale Recht. Vielmehr ist sie dem Institut der richterlichen Rechtsfortbildung an sich und der Suche nach ihren Grenzen im Allgemeinen inhärent. Erschwert wird die Aufgabe dadurch, dass genau genommen erst die Unklarheiten um die Figur der Rechtsfortbildung beseitigt werden müssen, bevor deren Grenzen erarbeitet werden können. Der Titel dieser Arbeit „Die Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung im Privatrecht“ beschreibt daher nicht nur eine, sondern zwei Unbekannte. Insoweit zeigt sich, dass schon der Begriff der richterlichen Rechtsfortbildung nicht als gesichert gilt. Seine Verwendung ist derart vielseitig, ja nahezu beliebig,4 dass Fischer in seiner Habilitationsschrift nach einer 62-seitigen Begriffsanalyse mit dem Ergebnis schließen muss, dass nicht einmal „ein von allen akzeptierter Begriffskern von Rechtsfortbildung […] feststellbar“ 1  Arbeitsrechtliche Fragestellungen bleiben bei der Bearbeitung im Wesentlichen außer Betracht. 2  BVerfG, Beschl. v. 14.02.1973 – 1 BvR 112/65 – Soraya, BVerfGE 34, 269, 288. 3  Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, 2006, S. 355. 4  Siehe dazu: Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, S. 95, wonach „Rechtsfortbildung selbst bei ein und demselben Autor je nach Untersuchungsgegenstand ganz Unterschiedliches bezeichnen kann.“; ähnlich: Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band III, 1976, S. 701, der eine „verwirrende Terminologie“ konstatiert.

22

Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

ist.5 Weil die Vielzahl der Auffassungen aber nicht nur die Terminologie betrifft, muss die Fortbildung des Rechts als Untersuchungsgegenstand in allen relevanten Facetten ausgeleuchtet werden. In der Folge sind zunächst (unter A.) Begriff und Formen der richterlichen Rechtsfortbildung zu klären, ehe der Blick (unter B.) auf die zweite Unbekannte zu richten ist: Die Grenzen an sich. Hier ist das Fundament zu erarbeiten, auf dem das Grenzsystem errichtet werden wird. Untersucht werden muss hierfür das Verhältnis von Methodik als Rechtsanwendungslehre einerseits und dem geltenden Recht als potenzieller Erkenntnisquelle andererseits. Zu klären ist die Frage, ob eine Rechtsanwendungslehre, die im Grundsatz losgelöst von den anzuwendenden Rechtssätzen Regeln für deren Anwendung formuliert, ihrerseits durch die anzuwendenden Normen beeinflusst werden kann. Ist die Antwort hierauf gefunden, ist sodann zu analysieren, welche Wertungen6 des geltenden Rechts überhaupt in Betracht kommen, um die Grenzlinien der Fortbildungsbefugnis zu bilden. Im Anschluss ist kurz auf die Auflösungsmechanismen einzugehen, die beim Konflikt mehrerer Wertungen entscheiden, ob das erkennende Gericht das Recht unmittelbar fortbilden darf oder ob eine Vor­ lagepflicht besteht.

A. Die Grundannahmen zur Rechtsfortbildung I. Der schwierige Begriff der Rechtsfortbildung Zu Beginn einer Grenzanalyse muss notwendigerweise der Gegenstand bestimmt werden, dessen Grenzen zu beschreiben sind. Nur wenn offengelegt wird, was in dieser Arbeit unter „richterlicher Rechtsfortbildung“ verstanden wird, können die gewonnenen Erkenntnisse sinnvoll verortet werden. Ohne eine begriffliche Präzisierung7 kann es nicht verwundern, dass auf Grundlage unterschiedlicher Annahmen auch verschiedene Aussagen über die Grenzlinien zutage treten.

5  Fischer,

Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, S. 93. Begriffe „Wertung“, „Normzweck“, „ratio legis“ und „Wertentscheidung“ werden in dieser Arbeit synonym verwendet. Es sei jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Verwendung dieser Begrifflichkeiten an dieser Stelle noch keine Stellungnahme zu der Frage enthält, ob der Wille des Gesetzgebers oder der Wille des Gesetzes hierunter zu fassen ist. Siehe für einen Überblick zum Streitstand: Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers, 2017, S. 80 ff. 7  Siehe dazu: Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, S. 96, der bemängelt, dass sich viele Autoren nicht um eine klare Begrifflichkeit bemühen. 6  Die



A. Die Grundannahmen zur Rechtsfortbildung23

Für einen Einblick in die Vielzahl der Verständnismöglichkeiten dieses Begriffs sei auf Fischers umfangreiche Befassung8 verwiesen. In dieser Arbeit wird nicht das Ziel verfolgt, die Grenzen aller denkbaren Deutungsvarianten von „Rechtsfortbildung“ zu untersuchen. Es genügt daher eine terminologische Eingrenzung mit Blick auf die an dieser Stelle wesentlichen Aspekte. Gleichwohl gilt es, den Ausdruck der richterlichen Rechtsfortbildung in seiner vorzugswürdigen Deutung sukzessiv zu erarbeiten. Die Konkretisierung des Rechtsfortbildungsbegriffs erfordert die Herauslösung der prägenden Merkmale, die nur in ihrer Gesamtheit den Ausdruck charakterisieren können. 1. Der Rechtsfortbildungsbegriff in der Fachsprache Festzustellen ist, dass der Begriff der richterlichen Rechtsfortbildung als Terminus technicus nur einer fachsprachlichen Analyse zugänglich ist und ein Rückgriff auf den alltäglichen Sprachgebrauch aus diesem Grund ausscheiden muss. a) Fortbildung und Auslegung des Rechts als Dualismus Zu einer ersten Eingrenzung der Terminologie ist das Verhältnis von Auslegung und Fortbildung des Rechts zu klären. Wäre die Auslegung ihrerseits als Kategorie der richterlichen Rechtsfortbildung zu begreifen,9 würden die hier zu erforschenden Grenzlinien konsequenterweise einen größeren Bereich umschließen. Wenngleich ein derart umfassender Begriff der herrschenden10 8  Fischer,

Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, S. 34 ff. für die Annahme, dass ein prinzipieller Unterschied zwischen extensiver Interpretation und Lückenfüllung durch Analogie nicht besteht: Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956, S. 255. 10  Wiedemann, NJW 2014, 2407, der die Trennung in Auslegung und Rechtsfortbildung in der deutschen Methodenlehre als „nahezu einhellige Meinung“ bezeichnet; statt aller: Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, S. 25; Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S. 21; Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, 1988, S. 10; Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 220; Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 51; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 149; Heyder, Gültigkeit und Nutzen der besonderen juristischen Schlussformen in der Rechtsfortbildung, 2010, S. 23; Wank, Auslegung und Rechtsfortbildung im Arbeitsrecht, 2013, S. 55, außerdem S. 31 ff. und S. 102 ff.; ebenso: Stein, NJW 1964, 1745, 1748, der in Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung als ihre Fortsetzung trennt, wenngleich er auf derselben Seite missverständlich davon spricht, dass „das Recht im Sinn einer Weiterentwicklung durch Auslegung des gesetzten Rechts fortzubilden“ ist; Larenz, NJW 1965, 1; Wank, JuS 1980, 545, der bereits im Titel in Gesetzesauslegung und Rechtsfortbil9  Exemplarisch

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

Trennung von Auslegung und Fortbildung des Rechts widerspricht, könnte er indes nicht verworfen werden, wenn das Gesetz ihn gebieten würde. aa) „Fortbildung des Rechts“ bei der Grundsatzvorlage Ein erster Anhaltspunkt für die Behandlung durch das Gesetz findet sich im Prozessrecht in den Bestimmungen zur sog. „Grundsatzvorlage“,11 die das Merkmal „Fortbildung des Rechts“ im Normtext nennen. Mit dieser Formulierung normieren die §§ 132 GVG, 11 VwGO, 11 FGO, 45 ArbGG und 41 SGG jeweils in ihrem Absatz 4, dass der erkennende Senat eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung dem Großen Senat12 zur Entscheidung vorlegen kann, wenn das nach seiner Auffassung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist. Auffällig ist dabei, dass das Merkmal „Fortbildung des Rechts“ in der Kommentarliteratur nahezu nicht näher erörtert wird. Teilweise wird vertreten, „eine Entscheidung des Großen Senats zur Fortbildung des Rechts [sei] erforderlich […], wenn bei dem zugrunde liegenden Sachverhalt und der dung trennt; Fischer, ZfA 2002, 215, 218; Rüthers/Höpfner, JZ 2005, 21; Herres­ thal, JuS 2014, 289, 290, der für die richtlinienkonforme Rechtsgewinnung Auslegung und Fortbildung unterscheidet: Drechsler, ZJS 2015, 344; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 366; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 186; Schwacke, Juristische Methodik, 2011, S. 121; Zip­pelius, Juristische Methodenlehre, 2012, S. 39; Reimer, Juristische Methodenlehre, 2020, Rn. 548. 11  Die Grundsatzvorlage ist ein Mechanismus, der durch die §§ 132 GVG, 11 VwGO, 11 FGO, 45 ArbGG und 41 SGG in allen fünf Gerichtsbarkeiten verankert ist und es ermöglicht, Fragen von grundsätzlicher Bedeutung dem Großen Senat des jeweiligen obersten Bundesgerichts vorzulegen. Die Grundsatzvorlage verfolgt den Zweck, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu wahren und so nachhaltig Rechtssicherheit zu gewährleisten. Für die ordentliche Gerichtsbarkeit: Zimmermann, in: MünchKomm-ZPO, Band 3, 2017, § 132 GVG, Rn. 1; Feilcke, in: KK-StPO, 2019, § 132 GVG, Rn. 1; Graf, in: BeckOK-GVG, 2020, § 132 GVG, Rn. 3. Für die Verwaltungsgerichtsbarkeit: Gersdorf, in: BeckOK-VwGO, 2019, § 11 VwGO, Rn. 1; Pietzner/Bier, in: Schoch/Schneider, VwGO, 2020, § 11 VwGO, Rn. 9. Für die Finanzgerichtsbarkeit: Teller, in: Gräber, FGO, 2019, § 11 FGO, Rn. 1. Für die Arbeitsgerichtsbarkeit: Prütting, in: GMP, 2017, § 45 ArbGG, Rn. 1; Koch, in: Erfurter Kommentar, 2021, § 45 ArbGG, Rn. 1. Für die Sozialgerichtsbarkeit: Leitherer, in: MKLS, 2020, § 41 SGG, Rn. 2 und 17; Udsching, in: BeckOK-SozR, 2020, § 41 SGG, Rn. 1. 12  Dies sind beim Bundesgerichtshof der Große Senat für Zivilsachen und der Große Senat für Strafsachen (§ 132 Abs. 1 S. 1 GVG), der Große Senat beim Bundesverwaltungsgericht (§ 11 Abs. 1 VwGO), der Große Senat beim Bundesfinanzhof (§ 11 Abs. 1 FGO), der Große Senat beim Bundesarbeitsgericht (§ 45 Abs. 1 ArbGG) und der Große Senat beim Bundessozialgericht (§ 41 Abs. 1 SGG).



A. Die Grundannahmen zur Rechtsfortbildung25

damit verbundenen Rechtsprechung der Instanzgerichte Anlass besteht, Leitsätze für die Rechtsanwendung aufzustellen oder vorhandene Gesetzes­lücken rechtsschöpferisch auszufüllen.“13 Soll nach dieser Begriffsbestimmung nicht nur die Schließung von Lücken im Gesetz unter „Fortbildung des Rechts“ fallen, bedeutet dies, dass auch die Auslegung hierunter zu fassen sein müsste. Unterstützt wird diese Deutung durch eine teils vertretene Ansicht, die das Merkmal als erfüllt ansieht, „wenn der Senat mit einer bestimmten Rechtsauslegung […] brechen und der Rechtsanwendung eine neue Richtung geben will.“14 Im Gegensatz dazu wird vereinzelt ein restriktives Verständnis bevorzugt, nach dem für die „Rechtsfortbildungsvorlage nach Abs. 4“15 nur die gesetzesimmanente16 und die gesetzesübersteigende17 Rechtsfortbildung in Betracht komme, die Voraussetzungen der Grundsatzvorlage aber nur gegeben seien, „wenn deutlich jenseits der Teleologie eines Einzelgesetzes Recht auf überpositiver Grundlage gesprochen“ werde.18 Soweit eine die Grundsatzvorlage rechtfertigende „Fortbildung des Rechts“ erst deutlich jenseits der Teleologie eines Einzelgesetzes beginnt, ist dieses Merkmal aber nicht auf die gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung beschränkt, sondern scheint sogar nur einen kleinen Anteil dieser zu umschließen.19 Bemerkenswert ist, dass die beiden Extrempositionen in der übrigen Kommentarliteratur keinen Widerhall finden. Es fehlen nicht nur Hinweise auf ihre Existenz; die terminologische Durchdringung scheint vielmehr auch im Übrigen nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen.20 So wird das Merkmal „Fortbildung des Rechts“ entweder schlicht mit Rechtsfortbildung

13  Graf,

in: BeckOK-GVG, 2020, § 132 GVG, Rn. 27 m. w. N. in: KK-StPO, 2019, § 132 GVG, Rn. 20 m. w. N. 15  Zimmermann, in: MünchKomm-ZPO, Band 3, 2017, § 132 GVG, Rn. 25. 16  Die „gesetzesimmanente Rechtsfortbildung“ bezeichnet einen Fortbildungsakt, der sich innerhalb des „ursprünglichen Plans, der Teleologie des Gesetzes selbst,“ bewegt: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 366; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 187. 17  Demgegenüber reicht die „gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung“ noch über die Teleologie der Einzelnorm hinaus, bleibt „aber innerhalb des Rahmens und der leitenden Prinzipien der Gesamtrechtsordnung“: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 366; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 187. 18  Zimmermann, in: MünchKomm-ZPO, Band 3, 2017, § 132 GVG, Rn. 26. 19  Denn der Bereich der „gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung“ beginnt uno actu mit dem Überschreiten der Teleologie der Einzelnorm und nicht erst „deutlich jenseits“ derselben. 20  So auch: Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, S.  62 f. 14  Feilcke,

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

gleichgesetzt21 oder bleibt gar gänzlich unbeachtet.22 Ist eine gefestigte Auslegung damit aber nicht festzustellen,23 kann aus den §§ 132 GVG, 11 VwGO, 11 FGO, 45 ArbGG und 41 SGG jedenfalls nicht gefolgert werden, „Fortbildung des Rechts“ meine zwingend auch Auslegung. Umgekehrt lässt sich den Normen jedoch auch kein Argument für die Trennung beider Bereiche entnehmen. bb) „Fortbildung des Rechts“ im Rechtsmittelrecht Ein zweiter Anhaltspunkt für die begriffliche Behandlung durch das Gesetz zeigt sich aber im Rechtsmittelrecht. Dort ist die „Fortbildung des Rechts“ vielfach eine hinreichende Bedingung für die Zulassung eines Rechtsmittels. Das erstinstanzliche Zivilgericht lässt in diesem Fall gem. § 511 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 ZPO die Berufung zu. Ebenso ist die Zulassung der Revision gem. § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 ZPO und der Sprungrevision nach § 566 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 ZPO geregelt. Das Gleiche gilt für die Zulassung der Revision zum BGH nach § 219 Abs. 2 Nr. 3 BEG. Unter dieser Bedingung zuzulassen ist gleichermaßen die Rechtsbeschwerde gem. §§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO, 74 Abs. 2 Nr. 2 GWB, 83 Abs. 2 Nr. 2 MarkenG und 100 Abs. 2 Nr. 2 PatG, soweit sie jeweils statthaft ist. Dasselbe gilt für die Rechtsbeschwerde nach § 70 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 FamFG. Keine entsprechende Regelung findet sich allerdings in der StPO, wohl aber in § 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG, der die Rechtsbeschwerde regelt. Im Rechtsmittelrecht der VwGO ist das Merkmal seit Wegfall des § 124b VwGO a. F. nicht mehr enthalten.24 Es findet sich aber nach wie vor in § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO, wodurch die Revision zum BFH zur „Fortbildung des Rechts“ eröffnet ist. Die einschlägigen Vorschriften des ArbGG und SGG kennen diesen Grund hingegen nicht.

21  Für eine synonyme Verwendung von „Fortbildung des Rechts“ und „Rechtsfortbildung“: Leitherer, in: MKLS, 2020, § 41 SGG, Rn. 17; Koch, in: Erfurter Kommentar, 2021, § 45 ArbGG, Rn. 4. 22  Ohne Stellungnahme zum Bedeutungsgehalt des Merkmals „Fortbildung des Rechts“: Gersdorf, in: BeckOK-VwGO, 2019, § 11 VwGO, Rn. 5; Teller, in: Gräber, FGO, 2019, § 11 FGO, Rn. 26 f.; Udsching, in: BeckOK-SozR, 2020, § 41 SGG, Rn.  8 f.; Wullenkord, in: BeckOK-ArbR, 2020, § 45 ArbGG, Rn. 7. 23  Siehe zu den verbleibenden terminologischen Unsicherheiten: Bakker, Grenzen der Richtermacht, 1994, S. 120 ff. 24  § 124b VwGO a. F. wurde durch das Gesetz zur Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Verwaltungsprozess (RmBereinVpG) vom 20. Dezember 2001, BGBl. I v. 28. 12. 2001, S.  3987 ff. mit Wirkung zum 01. 01. 2005 aufgehoben.



A. Die Grundannahmen zur Rechtsfortbildung27

Anders als bei der Grundsatzvorlage25 hat sich im Rechtsmittelrecht26 eine einheitliche Terminologie durchgesetzt. So dürfte es als nahezu einhellige Meinung27 gelten, dass ein Rechtsmittel zur „Fortbildung des Rechts“ zuzulassen ist, „wenn der Einzelfall Veranlassung gibt, Leitsätze für die Aus­ legung von Gesetzesbestimmungen des materiellen oder formellen Rechts aufzustellen oder Gesetzeslücken auszufüllen.“28 Dass nicht nur die Fortbildung, sondern zugleich die Auslegung unter den extensiven Rechtsfortbildungsbegriff des Rechtsmittelrechts fällt, bestätigt der Gesetzgeber für § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 ZPO ausdrücklich.29 Liegt den jeweiligen Regelungen des Rechtsmittelrechts damit eine weite Begrifflichkeit30 zugrunde, deutet dies möglicherweise darauf hin, die Rechtsfortbildung umfasse im Allgemeinen auch den Bereich der Auslegung.31 25  Die Vorschriften zur Grundsatzvorlage, die an die „Fortbildung des Rechts“ anknüpfen: §§ 132 GVG, 11 VwGO, 11 FGO, 45 ArbGG und 41 SGG. 26  Die Vorschriften des Rechtsmittelrechts, die an die „Fortbildung des Rechts“ anknüpfen: §§ 511 Abs. 4 S. 1 Nr. 1, 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, 566 Abs. 4 S. 1 Nr. 2, 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO, 219 Abs. 2 Nr. 3 BEG, 74 Abs. 2 Nr. 2 GWB, 83 Abs. 2 Nr. 2 MarkenG, 100 Abs. 2 Nr. 2 PatG, 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG und § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO. 27  So auch: Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, S. 65, der einen „bis ins Detail einheitlichen Sprachgebrauch von Fortbildung des Rechts“ attestiert. 28  Für die Revisionszulassung im Zivilverfahren: Koch, in: Saenger, Hk-ZPO, 2019, § 543 ZPO, Rn. 13; Ball, in: Musielak/Voit, ZPO, 2020, § 543 ZPO, Rn. 7; Kessal-Wulf, in: BeckOK-ZPO, 2020, § 543 ZPO, Rn. 23; Krüger, in: MünchKommZPO, Band 2, 2020, § 543 ZPO, Rn. 11. Für die Berufungszulassung im Zivilverfahren: Rimmelspacher, in: MünchKomm-ZPO, Band 2, 2020, § 511 ZPO, Rn. 72; ebenso, wenngleich nur ein Verweis auf die identische Auslegung bei der Zulassung der Revision angeführt wird: Wulf, in: BeckOK-ZPO, 2020, § 511 ZPO, Rn. 39; ebenfalls mit einem Verweis auf den Gleichlauf mit den Zulassungsgründen bei der Revision (§ 543 Abs. 2 ZPO) und der Rechtsbeschwerde (§ 574 Abs. 2 ZPO): Wöstmann, in: Saenger, Hk-ZPO, 2019, § 511 ZPO, Rn. 31; Ball, in: Musielak/Voit, ZPO, 2020, § 511 ZPO, Rn. 41. Für die Revisionszulassung in der Finanzgerichtsbarkeit: Ratschow, in: Gräber, FGO, 2019, § 115 FGO, Rn. 41. Für die Zulassung der Rechtsbeschwerde nach § 80 OwiG: Hadamitzky, in: KK-OwiG, 2018, § 80 OwiG, Rn. 37. 29  BT-Drucks. 14/4722, S. 104, in der der ZPO-Reformgesetzgeber explizit darauf hinweist, dass „hinsichtlich des Inhalts und des Umfangs der beiden Zulassungselemente […] auf die zu den genannten Bestimmungen entwickelten Grundsätze zurückgegriffen werden [kann]. Danach ist die Revision zur Fortbildung des Rechts zuzulassen, wenn der Einzelfall Veranlassung gibt, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen des materiellen oder des Verfahrensrechts aufzustellen oder Gesetzeslücken auszufüllen (BGHSt 24 S. 15, 21)“; hierzu: BGH, Beschl. v. 12.11.1970 – 1 StR 263/70, BGHSt 24, 15. 30  In st. Rspr. z. B. BGH, Beschl. v. 04.07.2002 – V ZB 16/02, BGHZ 151, 221, 225 (für § 574 ZPO); BGH, Beschl. v. 27.03.2003 – V ZR 291/02, BGHZ 154, 288, 292; BGH, Beschl. v. 13.08.2003 – XII ZR 303/02, BGHZ 156, 97, 98 f. (für § 543 ZPO). 31  Hirsch, Rechtsanwendung, Rechtsfindung, Rechtsschöpfung, 2003, S. 16.

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

Dafür könnte die Autorität des demokratischen Gesetzgebers angeführt werden, der diese Deutung im Rechtsmittelrecht explizit32 billigte. Obwohl dem eindeutigen Willen der Legislative ein sehr hoher Stellenwert gebührt, wäre es indes übereilt, diese isolierte Stellungnahme zu nutzen, um sie über ihren eigentlichen Anlass hinaus zu verallgemeinern.33 Vielmehr ist zunächst im Detail zu prüfen, ob die Gesetzesmaterialien34 einen Anhaltspunkt dafür enthalten, dass der ZPO-Reformgesetzgeber eine generelle Aussage über die methodische Struktur der Rechtsfortbildung treffen wollte. Das ist aber nicht der Fall.35 Zieht man den maßgeblichen Abschnitt der amtlichen Gesetzesbegründung36 zurate, belegen bereits die einleitenden Worte „Hinsichtlich des Inhalts und des Umfangs der beiden Zulassungselemente“,37 dass die Einlassung des Gesetzgebers auf die revisionsrechtliche Sphäre und damit allein auf die spezifische Bedeutung des Zulassungsgrunds „Fortbildung des Rechts“ beschränkt war.38 Hätte er beabsichtigt, den Begriff der „Fortbildung des Rechts“39 über seine Bedeutung als Zulassungsgrund hinaus zu prägen, hätte der Gesetz­ geber die Reichweite seiner Äußerung nicht durch den einleitenden Zusatz „Hinsichtlich des Inhalts und des Umfangs der beiden Zulassungselemente“40 limitiert. Hierfür spricht außerdem, dass der Ausdruck „Fortbildung des Rechts“ als rechtsmittelrechtliches Merkmal in einen besonderen Kontext41 eingebettet wurde, der mit dem methodischen nicht vergleichbar ist. Im ­Prozessrecht ist insoweit die ratio prägend, zur Förderung der Rechtsein32  BT-Drucks. 33  So

14/4722, S. 104. aber: Hirsch, Rechtsanwendung, Rechtsfindung, Rechtsschöpfung, 2003,

S. 16. 34  BT-Drucks. 14/4722, S. 104. 35  So zu Recht: Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, S.  66 f. 36  BT-Drucks. 14/4722, S. 104. 37  BT-Drucks. 14/4722, S. 104: „Hinsichtlich des Inhalts und des Umfangs der beiden Zulassungselemente kann auf die zu den genannten Bestimmungen entwickelten Grundsätze zurückgegriffen werden. Danach ist die Revision zur Fortbildung des Rechts zuzulassen, wenn der Einzelfall Veranlassung gibt, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen des materiellen oder des Verfahrensrechts aufzustellen oder Gesetzeslücken auszufüllen (BGHSt 24 S. 15, 21)“ [Hervorhebung v. Verf.]; zur Entscheidung: BGH, Beschl. v. 12. 11. 1970 – 1 StR 263/70, BGHSt 24, 15. 38  Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, S. 66 f. 39  Näher zum zivilprozessrechtlichen Rechtsfortbildungsbegriff: Lames, Rechtsfortbildung als Prozeßzweck, 1993, S. 26 f.; Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung, 1995, S. 145 f. 40  BT-Drucks. 14/4722, S. 104. 41  Zu den Funktionen des prozessualen Rechtsfortbildungsbegriffs: Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung, 1995, S. 145 f.



A. Die Grundannahmen zur Rechtsfortbildung29

heit42 bei ungelösten Rechtsfragen ein Rechtsmittel zuzulassen, um eine zügige Klärung durch die obergerichtliche oder höchstrichterliche Rechtsprechung herbeizuführen.43 Für die Wahrung dieser Funktion44 ist es aber ohne Belang, ob eine offene Rechtsfrage durch Auslegung oder Fortbildung des Rechts beantwortet werden kann.45 Ist die extensive, die Auslegung einschließende Deutung aber nur im Lichte dieser Funktion gerechtfertigt, kann sie nicht als generelle Aussage, sondern nur als rechtsmittelrechtliche Besonderheit verstanden werden. Weil auch die Grundsatzvorlage gem. §§ 132 GVG, 11 VwGO, 11 FGO, 45 ArbGG und 41 SGG auf die Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung46 zielt, gelten dieselben Überlegungen, wenn man die Terminologie des Rechtsmittelrechts auch auf das Merkmal „Fortbildung des Rechts“ der Grundsatzvorlage überträgt.47 cc) „Fortbildung des Rechts“ im Verfassungsrecht Gebieten die prozessrechtlichen Regelungen zur Grundsatzvorlage und die des Rechtsmittelrechts kein abweichendes Verständnis, folgt der herrschende48 Dualismus von Auslegung und Rechtsfortbildung jedoch aus der 42  Siehe zu dieser Funktion der Zulassungsgründe: Kessal-Wulf, in: BeckOK-ZPO, 2020, § 543 ZPO, Rn. 14. 43  Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, S. 65 f. 44  Zur Funktion der Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung: BT-Drucks. 14/4722, S. 66; ferner: Ball, in: Musielak/Voit, ZPO, 2020, § 543 ZPO, Rn. 1; KessalWulf, in: BeckOK-ZPO, 2020, § 543 ZPO, Rn. 14; für die finanzgerichtliche Revision: Ratschow, in: Gräber, FGO, 2019, § 115 FGO, Rn. 2. 45  So zutreffend: Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, S. 66. 46  Auch die Grundsatzvorlage erfüllt die Funktion, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu wahren. Für die ordentliche Gerichtsbarkeit: Zimmermann, in: MünchKomm-ZPO, Band 3, 2017, § 132 GVG, Rn. 1; Feilcke, in: KK-StPO, 2019, § 132 GVG, Rn. 1; Graf, in: BeckOK-GVG, 2020, § 132 GVG, Rn. 3. Für die Verwaltungsgerichtsbarkeit: Gersdorf, in: BeckOK-VwGO, 2019, § 11 VwGO, Rn. 1; Pietzner/ Bier, in: Schoch/Schneider, VwGO, 2020, § 11 VwGO, Rn. 9. Für die Finanzgerichtsbarkeit: Teller, in: Gräber, FGO, 2019, § 11 FGO, Rn. 1. Für die Arbeitsgerichtsbarkeit: Prütting, in: GMP, 2017, § 45 ArbGG, Rn. 1; Koch, in: Erfurter Kommentar, 2021, § 45 ArbGG, Rn. 1. Für die Sozialgerichtsbarkeit: Leitherer, in: MKLS, 2020, § 41 SGG, Rn. 2 und 17; Udsching, in: BeckOK-SozR, 2020, § 41 SGG, Rn. 1. 47  Graf, in: BeckOK-GVG, 2020, § 132 GVG, Rn. 27, der den Gleichlauf der Tatbestandsmerkmale zwar nicht explizit erklärt, sein Verständnis aber mit einem Verweis auf BGH, Beschl. v. 12. 11. 1970 – 1 StR 263/70, BGHSt 24, 15, 21 belegt, in der der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs das Merkmal für die Beschwerde im Ordnungswidrigkeitenrecht, also nur für die rechtsmittelrechtliche Sphäre, definiert. 48  Für das herrschende Verständnis: Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, S. 25; Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S. 21; Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, 1988, S. 10; Looschelders/Roth, Juristische Methodik im

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

Verfassung. Insoweit ist zwar das Merkmal „Fortbildung des Rechts“ nicht ausdrücklich erwähnt, doch ist allgemein anerkannt, dass Art. 103 Abs. 2 GG die strafschärfende Rechtsfortbildung verbietet, eine Auslegung aber zulässt.49 Obwohl das Rechtsfortbildungsverbot zulasten des Täters eine Besonderheit des Strafrechts ist, belegt es, dass das Grundgesetz die Rechtsanwendung in Auslegung und Fortbildung des Rechts scheidet, da nur so einer der beiden Bereiche untersagt werden kann. Weil das „Recht“ nicht nur im Strafrecht angewendet wird, ist anzunehmen, dass die Aufspaltung beider Rechtsanwendungssphären für alle Rechtsgebiete gewollt ist. Anderenfalls würden für die Rechtsanwendung im Strafrecht andere methodische Vorgaben gelten als für die im Zivil- oder öffentlichen Recht, was dem Anspruch der juristischen Methodik als allgemeiner Rechtsanwendungslehre nicht gerecht wird. b) Fortbildung als Rechtsanwendung oder Rechtssetzung? Steht damit fest, dass Auslegung und Fortbildung zwei verschiedene Sphären beschreiben, ist ferner zu klären, ob das „Recht“ im Bereich der „richterlichen Rechtsfortbildung“ noch angewendet oder neu erschaffen wird. Mag die Qualifikation als Rechtsanwendung oder Rechtssetzung auf den ersten Blick als terminologische Feinheit erscheinen, zeigt sich auf den zweiten, dass die Zuordnung zu der einen oder anderen Kategorie zugleich eine Stellungnahme zum strukturellen Verhältnis von Rechtsprechung und Gesetzgebung in sich trägt. Denn je weiter die Grenzen der richterlichen Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 220; Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 51; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 149; Heyder, Gültigkeit und Nutzen der besonderen juristischen Schlussformen in der Rechtsfortbildung, 2010, S. 23; Wank, Auslegung und Rechtsfortbildung im Arbeitsrecht, 2013, S. 55, ferner S. 31 ff. und S. 102 ff.; ebenso: Stein, NJW 1964, 1745, 1748, der in Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung als ihre Fortsetzung trennt, wenngleich er auf derselben Seite missverständlich davon spricht, dass „das Recht im Sinn einer Weiterentwicklung durch Auslegung des gesetzten Rechts fortzubilden“ ist; Larenz, NJW 1965, 1, 1; Wank, JuS 1980, 545, 545, der bereits im Titel in Gesetzesauslegung und Rechtsfortbildung trennt; Fischer, ZfA 2002, 215, 218; Rüthers/Höpfner, JZ 2005, 21, 21; Herresthal, JuS 2014, 289, 290, der für die richtlinienkonforme Rechtsgewinnung Auslegung und Fortbildung unterscheidet; Wiedemann, NJW 2014, 2407, 2407; Drechsler, ZJS 2015, 344; Meier/Jocham, JuS 2016, 392, 392; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 366; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 186; Schwacke, Juristische Methodik, 2011, S. 121; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 2012, S. 39; Reimer, Juristische Methodenlehre, 2020, Rn. 548. 49  Hierzu in st. Rspr. z. B. BVerfG, Urt. v. 03. 06. 1962 – 2 BvR 15/62 – Gesetzesgebundenheit im Strafrecht, BVerfGE 14, 174, 185; BGH, Urt. v. 07. 11. 1990 – 2 StR 439/90, BGHSt 37, 226, 230.



A. Die Grundannahmen zur Rechtsfortbildung31

Entscheidungsmacht gezogen werden, desto weiter wird die Einschätzungsprärogative des demokratischen Gesetzgebers zurückgedrängt. Weil die Kom­petenzbereiche von Legislative und Judikative insoweit untrennbar miteinander verbunden sind, ist es unerlässlich, für die Einordnung als Rechtsanwendung oder Rechtssetzung die Rolle beider Staatsgewalten näher zu betrachten. aa) Rechtssetzungsbefugnis trotz Gewaltenteilung? Folgt man dem Gedanken einer strikten50 Gewaltenteilung,51 ist allein die Legislative zur Normsetzung berufen, während sich die Kompetenzen der Judikative in der reinen Normanwendung erschöpfen. Im Verfassungsstaat folgt die Funktionszuweisung indes nicht aus einer abstrakten Idee; vielmehr wirkt der Grundsatz der Gewaltenteilung nur, soweit er aus den konkreten Regelungen der Verfassung abgeleitet werden kann.52 Die klassische Dreiteilung der Staatsmacht in gesetzgebende, vollziehende und rechtsprechende Gewalt wird dabei in Art. 1 Abs. 3 GG vorausgesetzt. Obwohl schon Art. 20 Abs. 3 GG die Legislative an die „verfassungsmäßige Ordnung“ sowie die Exekutive und Judikative an „Gesetz und Recht“ bindet, stellt Art. 1 Abs. 3 GG ausdrücklich klar, dass die „nachfolgenden Grundrechte“53 alle Staatsgewalten gleichermaßen unmittelbar verpflichten. Explizit verankert ist der Grundsatz der Gewaltenteilung außerdem in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG. Die hierin enthaltene Grundentscheidung wird durch die gewaltenspezifischen

50  Dazu, dass das Konzept einer strikten Gewaltenteilung in der deutschen Verfassungsgeschichte nie verfolgt wurde: Huster/Rux, in: BeckOK-GG, 2020, Art. 20 GG, Rn. 160. 51  Zu den Ursprüngen des Gewaltenteilungsgedankens: Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, 1689, II § 107. Die Trennung in gesetzgebende, vollziehende und rechtsprechende Gewalt ist indes nur eine Form der Gewaltenteilung, nämlich eine solche in funktioneller Hinsicht, die ihrerseits einen Unterfall der horizontalen Gewaltenteilung bildet. Neben der funktionellen existieren die organisatorische und die personelle Gewaltenteilung als weitere Unterfälle der horizontalen Gewaltenteilung. Vertiefend dazu: Gröpl, Staatsrecht I, 2020, Rn. 887 ff. 52  Huster/Rux, in: BeckOK-GG, 2020, Art. 20 GG, Rn. 159. 53  Die „nachfolgenden Grundrechte“ in Art. 1 Abs. 3 GG beziehen sich inhaltlich auf Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, der klarstellt, dass nicht nur die Grundrechte im I. Abschnitt, sondern auch die grundrechtsgleichen Rechte aus Art. 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 GG die drei Gewalten als geltendes Recht unmittelbar binden. Siehe dazu: Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar, Band I, 2013, Art. 1 III GG, Rn. 31; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 2020, Art. 1 Abs. 3 GG, Rn. 10; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, 2020, Art. 1 GG, Rn. 30; a. A. aber Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 2020, Rn. 148, die unter „Grundrechten“ nur jene des I. Abschnitts des GG verstehen.

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

Regelungskomplexe in den Art.  70 ff., Art.  83 ff.54 und Art. 92 ff. GG aufgegriffen und konsequent ausgestaltet.55 Infolgedessen ist der Legislative in den Art. 70 ff. GG die Kompetenz zur Gesetzgebung übertragen, während die Judikative gem. Art. 97 Abs. 1 GG dem Gesetz als Produkt des Gesetzgebungsverfahrens unterworfen ist. In ihrer Wirkung legen Art. 70 Abs. 1 GG und Art. 97 Abs. 1 GG damit eine strikte Gewaltenteilung nahe. Auf dieser Grundlage wäre allein die gesetzgebende Gewalt Rechtssetzer und die rechtsprechende Gewalt nur Rechtsanwender. bb) Rechtssetzungsbefugnis wegen Gewaltenverschränkung? Obwohl das Grundgesetz die Staatsgewalt damit in klassischer Weise trennt, ist die strenge Funktionszuweisung zu der einen oder anderen Seite nicht ohne Ausnahmen. Vielmehr zeigt sich, dass die im Grundsatz unabhängigen Gewalten an zahlreichen Stellen miteinander verschränkt sind.56 Besonders deutlich ist dies an der Verbindung von Legislative und Exekutive zu erkennen. So hat die Bundesregierung gem. Art. 76 Abs. 1 Var. 1 GG nicht nur ein Initiativrecht im Gesetzgebungsverfahren, sondern kann über Art. 80 GG ermächtigt werden, selbst Recht zu setzen.57 Vor diesem Hintergrund erscheint auch zwischen Legislative und Judikative eine Verflechtung der Kompetenzen denkbar, die eine richterliche Rechtssetzung gestatten könnte. Es trifft zwar zu, dass die rechtsprechende Gewalt gem. Art. 92 GG ausschließlich den Richtern vorbehalten ist, wodurch eine Wechselwirkung zulasten der Judikative im Bereich des Rechtsprechungsmonopols58 54  Streng genommen erfasst die Exekutive nicht nur die Verwaltung, die für den Vollzug von Bundesgesetzen in den Art. 83 ff. GG und für den Vollzug von Landesgesetzen durch die Länder in Art. 30 GG geregelt ist, sondern auch die Regierung, der sich das Grundgesetz in den Art. 62 bis 69 GG widmet. Siehe dazu: Gröpl, Staatsrecht I, 2020, Rn. 1240 ff. 55  Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn. 82. 56  Huster/Rux, in: BeckOK-GG, 2020, Art. 20 GG, Rn. 160. 57  Zum Erlass einer Rechtsverordnung kann gem. Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG nicht nur die Bundesregierung, sondern auch ein einzelner Bundesminister oder eine Landesregierung, nicht aber ein einzelner Landesminister ermächtigt werden. Siehe zum Kreis der Ermächtigungsadressaten gem. Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG: Uhle, in: BeckOK-GG, 2020, Art. 80 GG, Rn. 10 ff. 58  BVerfG, Urt. v. 08. 02. 2001 – 2 BvF 1/00 – Wahlprüfung Hessen, BVerfGE 103, 111, 136, in der der Zweite Senat des BVerfG in einem Urteil am Ende eines abstrakten Normenkontrollverfahrens feststellt, dass „die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut [ist]. Ihre Ausübung ist den Gerichten des Bundes und der Länder vorbehalten. Der Gesetzgeber, auch der Landesgesetzgeber, darf deshalb eine Angelegenheit, die Rechtsprechung im Sinne von Art. 92 erster Halbsatz GG ist, nicht anderen Stellen als Gerichten zuweisen“; ferner zum Rechtsprechungsmonopol: Morgenthaler, in: BeckOK-GG, 2020, Art. 92 GG, Rn. 1.



A. Die Grundannahmen zur Rechtsfortbildung33

kaum59 vorstellbar ist. Das schließt es indes nicht aus, dass der Rechtsprechung gegenüber der Gesetzgebung weitergehende Kompetenzen eingeräumt sein können. Möglich wäre insoweit eine Parallelität von exekutiver und judikativer (abgeleiteter) Normsetzungsbefugnis. Weil die vollziehende Gewalt die Möglichkeit zur Normsetzung aber nur über Art. 80 GG erhält, müsste auch für eine Rechtssetzungskompetenz der rechtsprechenden Gewalt eine Legitimationsgrundlage existieren. Die Verfassung müsste daher eine Ausnahmeregelung enthalten, die den Richter von seiner in Art. 20 Abs. 3 GG angeordneten Gesetzesbindung befreit, um ihm singuläre Akte der Rechtssetzung zu ermöglichen, wie sie der Exekutive nach Art. 80 GG gestattet sind. Ist eine solche nicht zu ermitteln, bleibt es bei der Vorgabe des Art. 20 Abs. 3 GG, nach der jede Tätigkeit der Gerichte gesetzes- und rechtsgebunden ist, sodass auch die Fortbildung des Rechts in dieser Beziehung nur als richterliche Rechtsanwendung qualifiziert werden könnte. cc) Rechtssetzungsbefugnis trotz Gesetzesbindung? Auf der Suche nach einer Ausnahme ist zunächst die Struktur der richterlichen Gesetzesbindung näher zu betrachten. Art. 97 Abs. 1 GG gewährleistet zwar die sachliche Unabhängigkeit des Richters, wodurch er nicht an Weisungen gebunden ist.60 Obwohl ihn dies vor einem unmittelbaren Einfluss der Legislative schützt,61 bedeutet das jedoch nicht, dass seine Gesetzesbindung gelockert ist.62 Art. 97 Abs. 1 Hs. 2 GG stellt vielmehr explizit klar, dass er trotz sachlicher Unabhängigkeit dem Gesetz unterworfen ist. Bestätigt wird dies in Art. 20 Abs. 3 GG, der die Rechtsprechung wie Art. 97 Abs. 1 GG an das „Gesetz“, aber auch an das „Recht“ bindet.63 Die Auslegung der beiden Merkmale ist höchst umstritten,64 für die Qualifikation der Rechtsfortbildungsakte als Rechtsanwendung oder Rechtssetzung ist der Streitentscheid aber in letzter Konsequenz nicht relevant. Es trifft zwar zu, dass die zu den vereinzelten Ausnahmen: Gröpl, Staatsrecht I, 2020, Rn. 1427. zur sachlichen Unabhängigkeit als Weisungsunabhängigkeit: BVerfG, Urt. v. 17. 12. 1953 – 1 BvR 335/51 – Entlassung von Nationalsozialisten, BVerfGE 3, 213, 224; Bakker, Grenzen der Richtermacht, 1994, S. 162; Detterbeck, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 97 GG, Rn. 11. 61  Zur sachlichen Unabhängigkeit der Richter (auch) gegenüber der Legislative: Meyer, in: von Münch/Kunig, GG-Kommentar, Band 2, 2012, Art. 97 GG, Rn. 15; Detterbeck, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 97 GG, Rn. 12. 62  Detterbeck, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 97 GG; von Coelln, in: Gröpl/ Windthorst/von Coelln, GG, 2020, Art. 97 GG, Rn. 12. 63  Umfassend zum Verhältnis der Merkmale Gesetz und Recht aus verfassungsrechtlicher Sicht: Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht, 2003, S. 114 ff. 64  Eingehend zum Streitstand: Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht, 2003, S. 114 ff.; überblicksartig auch: Gröpl, Staatsrecht I, 2020, Rn. 441 ff. 59  Siehe 60  Siehe

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divergierenden Ansichten zu einem weiteren oder engeren Verständnis der richterlichen Bindung führen. Dies ändert indes nichts daran, dass die Rechtsprechung unabhängig von der Art ihrer Spruchrichtertätigkeit wegen Art. 20 Abs. 3 GG immer an „Gesetz und Recht“ gebunden ist. Bleibt sie ihnen aber stets unterworfen, muss es selbst bei großzügigster Auslegung der beiden Merkmale ausgeschlossen sein,65 dass die Judikative Gesetze erlässt oder Recht setzt,66 weil sie es anderenfalls in der Hand hätte, die Grenzen ihrer Entscheidungsmacht selbst zu bestimmen. Solange die Gesetzes- und Rechtsbindung gem. Art. 20 Abs. 3 GG ohne Ausnahmen fortbesteht, kann die rechtsprechende Gewalt folglich immer nur als Rechtsanwender tätig werden. (1) Normsetzungsbefugnis im Lückenbereich? Dieser Einordnung wird teils mit der Begründung widersprochen, der Richter könne in einer Gesetzeslücke kein Recht finden und es daher nicht anwenden, sondern müsse es selbst setzen.67 Schließlich offenbare eine Lücke im Gesetz das Fehlen einer gesetzgeberischen Wertung. Könne der Richter eine solche damit nicht nachvollziehen, müsse er das Recht selbst schaffen.68 Deshalb sei es missverständlich, wenn das BVerfG im Zusammenhang 65  Ähnlich bereits: Meier/Jocham, JuS 2016, 392, 398, wonach die Bindung des Richters an Recht und Gesetz nur solange sinnvoll bleibt, wie „der Rechtsanwender nicht selbst bestimmen kann, wo der Inhalt des Gesetzes [oder des Rechts] endet.“ 66  Ähnlich: Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band III, 1976, S. 706, für den aus der richterlichen Gesetzesbindung „zwingend [folge,] „daß die durch Rechtsfortbildung geschaffenen Präjudizien keine Rechtsquellen im Sinne der herkömmlichen Rechtsquellenlehre sein können.“ Dennoch für den Rechtssetzungscharakter der richterlichen Tätigkeit: Gropp, Die Rechtsfortbildung contra legem, 1974, S. 4, der von „richterlichen Rechtssetzung“ spricht; Jestaedt, in: Bumke (Hrsg.), Richterrecht zwischen Gesetzesrecht und Rechtsgestaltung, 2012, S. 68 f., der gleichwohl zu dem zutreffenden Ergebnis kommt, dass sich die „richterliche Rechtsfortbildung nur dann im verfassungsrechtlichen Rahmen [bewegt], wenn die mit ihr in Anspruch genommene Außerachtlassung, Ergänzung oder Veränderung der an sich maßstäblichen Gesetzesvorgaben sich ihrerseits ausnahmsweise auf eine positivrechtliche Ermächtigung durch Gesetz oder höherrangiges Recht berufen kann. Ebenfalls für eine richterliche Rechtssetzung: Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 56, die indes einschränkend ergänzt, dass „Rechtsetzung […] keine originäre, von der Gewaltenordnung der Rechtsprechung unmittelbar zugewiesene Aufgabe [verkörpert], sondern […] lediglich eine abgeleitete und nachgeordnete Befugnis“ darstellt; Redeker, NJW 1972, 409, 413 und passim; Drechsler, ZJS 2015, 344, 345, der den „Gestaltungsauftrag der Rechtsprechung“ anerkennt, „auch eigenes Recht zu erzeugen“. 67  Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 824 f. 68  Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 824 f.



A. Die Grundannahmen zur Rechtsfortbildung35

mit der Rechtsfortbildung von „schöpferischer Rechtsfindung“69 spreche. Denn gefunden werden könne nur, was zuvor in irgendeiner Form angelegt war, woran es fehle, wenn die Rechtsordnung im entscheidungserheblichen Regelungskomplex lückenhaft sei.70 Infolgedessen müssten „Gesetzesanwendung und richterliche Normsetzung […] im Interesse der rationalen Diskutierbarkeit der Entscheidungsergebnisse und ihrer Begründungen auseinandergehalten werden.“71 Das setze zudem voraus, dass der „Normsetzungscharakter der richterlichen Entscheidung im Lückenbereich“ nicht geleugnet werde.72 (2) Kritik Dieser Einwand ist von einigem Gewicht. Er stützt sich einerseits auf die folgerichtige und unbestreitbare Feststellung, dass etwas Inexistentes nicht „gefunden“ werden kann. Andererseits ist auch das Plädoyer für Methodenehrlichkeit73 zu begrüßen, die verhindert, dass Gerichte ihre rechtsfortbildende Tätigkeit als Auslegung maskieren und dadurch eine gegenüber der Auslegung umfangreichere74 Begründungspflicht umgehen.75 Obwohl beide Aspekte ihre Berechtigung haben, ist aber der daraus gezogene Schluss nicht überzeugend. Das Argument, dass nichts „gefunden“ werden könne, was nicht vorhanden ist, beruht nämlich auf der Annahme, dass bei einer Regelungslücke eine gesetzgeberische Wertung fehlt. Dies wird aber nur sehr selten der Fall sein. 69  Grundlegend zum Begriff in der Verfassungsrechtsprechung: BVerfG, Beschl. v. 14. 02. 1973 – 1 BvR 112/65 – Soraya, BVerfGE 34, 269, 287. 70  Siehe dazu: Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 824. 71  Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 825. 72  Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 825. 73  Zum Gedanken der Methodenehrlichkeit: Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn.  813 f. 74  Solange die Gerichte die gesetzlichen Regelungen unmittelbar, also innerhalb ihres Wortlauts, anwenden, ist ihre Entscheidung unmittelbar durch den Gesetzgeber legitimiert. Ähnlich wie die Verwaltung handelt damit auch die Judikative noch innerhalb ihrer „Ermächtigungsgrundlage“. Je weiter sich der Richter von dieser Befugnisnorm entfernt, desto umfangreicher wird seine Pflicht, zu begründen, warum er sich noch durch diese Norm oder ggf. durch ihre Fortbildung legitimiert sieht; näher zur erhöhten Begründungserfordernis: Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 2004, S. 23 f.; Meier/Jocham, JuS 2016, 392, 393; Danwerth, ZfPW 2017, 230, 239; Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 4 Rn. 38 und § 13 Rn. 24; Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 4 Rn. 74. 75  Umfassend zu den rechtlichen Konsequenzen der sog. „verdeckten Rechtsfortbildung“: Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, S. 511– 533.

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

Insoweit ist Larenz zuzustimmen, dass „eine ‚Lücke‘ des Gesetzes nicht etwa ein ‚Nichts‘ darstellt, sondern das Fehlen einer bestimmten, nach dem Regelungsplan oder dem Gesamtzusammenhang des Gesetzes zu erwartenden Regel bedeutet.“76 Enthält das Gesetz in einem Regelungsbereich keine Vorschrift, bedeutet dies folglich nicht automatisch, dass keine gesetzliche Wertung existiert. Eine solche wird sich vielmehr oftmals aus dem gleichrangigen oder höherrangigen Recht ergeben und kann auf den zu entscheidenden Fall übertragen werden. Sollte eine gesetzliche Wertung ausnahmsweise tatsächlich nicht vorhanden sein, darf der Richter das Recht nach hier vertretener Ansicht gleichwohl nicht selbst setzen. Anderenfalls betriebe er Rechtspolitik, weil er nicht den Wertvorstellungen der Legislative zur Anwendung verhilft, sondern gleich einem „Richterkönig“ persönliche Gerechtigkeitsvorstellungen als Entscheidungsmaßstab heranzieht. In einer Demokratie können jedoch nur mehrheitsfähige Gerechtigkeitsvorstellungen gerichtlichen Entscheidungen zugrunde liegen.77 Richterliche Rechtssetzung wäre demgegenüber ein verfassungswidriger Eingriff in originäre Kompetenzen des Gesetzgebers, weil dem Grundgesetz hierfür keine Ermächtigung entnommen werden kann. Nach der zutreffenden Rechtsprechung des BVerfG ist es mithin unzulässig, wenn Richter „Befugnisse beanspruchen, die von der Verfassung eindeutig dem Gesetzgeber übertragen worden sind.“78 Ihnen ist es nicht gestattet, sich „aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz [zu] begeben, also objektiv betrachtet sich der Bindung an Recht und Gesetz entziehen.“79 Ist die Rechtsfortbildung nur erlaubt, wenn sie durch gesetzliche Wertungen legitimiert wird, muss sie als Rechtsanwendung begriffen werden. Angewendet wird dann zwar nicht der Wortlaut der Norm, aber die ihr zugrunde liegende Wertung.80 76  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 375 [Hervorhebung im Original]. 77  Insoweit sehr überzeugend: Zippelius, Juristische Methodenlehre, 2012, S. 60, der deshalb fordert, dass der Richter, „wo immer möglich, nicht nach seinem höchstpersönlichen Rechtsempfinden urteilen, sondern diese Entscheidung als Repräsentant der Gemeinschaft treffen“ soll. Er solle daher „zu ermitteln suchen, welche Auslegung […] den mehrheitlich konsensfähigen Gerechtigkeitsvorstellungen wohl am besten entspräche“. 78  Grundlegend: BVerfG, Beschl. v. 21. 07. 1955 – 1 BvL 33/51 – Junktimklausel, BVerfGE 4, 219, 234; explizit als st. Rspr. bestätigt durch: BVerfG, Beschl. v. 12. 11. 1997 – 1 BvR 479/92 und 307/94 – Kind als Schaden, BVerfGE 96, 375, 394. 79  BVerfG, Beschl. v. 03. 11. 1992 – 1 BvR 1243/88 – Erörterungsgebühr, BVerfGE 87, 273, 280; BVerfG, Beschl. v. 12. 11. 1997 – 1 BvR 479/92 und 307/94 – Kind als Schaden, BVerfGE 96, 375, 394; BVerfG, Beschl. v. 25. 01. 2011 – 1 BvR 918/10 – Dreiteilungsmethode, BVerfGE 128, 193, 210; jüngst bestätigt: BVerfG, Beschl. v. 23. 05. 2016 – 1 BvR 2230/15, 1 BvR 2231/15, NJW-RR 2016, 1366, 1369. 80  Für ein solches Verständnis: BVerfG, Beschl. v. 30. 03. 1993 – 1 BvR 1045/89, 1381/90, 1 BvL 11/90, BVerfGE 88, 145, 166 f., in der der Erste Senat dem Aus-



A. Die Grundannahmen zur Rechtsfortbildung37

Ferner ist es erstrebenswert, dem Bedürfnis nach Methodenehrlichkeit Rechnung zu tragen und so der Gefahr verdeckter Rechtsfortbildungen vorzubeugen.81 Dafür ist es indes nicht geboten, den „Normsetzungscharakter der richterlichen Entscheidung im Lückenbereich“82 anzuerkennen. Für eine rationale Kontrolle genügt es vielmehr, den rechtsfortbildenden Charakter der richterlichen Tätigkeit offenzulegen. Wird sie nicht als Auslegung getarnt und ausführlich begründet, kann der Prozess der Entscheidungsfindung nachvollzogen und das Ergebnis auf seine Validität überprüft werden. Die geforderte „rationale Diskutierbarkeit der Entscheidungsergebnisse“83 wird in der Folge schon dadurch gewährleistet, dass die Gerichte die Rechtsfortbildung als solche kenntlich machen. Ob man sie als Akt der Rechtsanwendung oder Rechtssetzung qualifiziert, ist hierfür ohne Belang. Kann Methodenehrlichkeit aber damit ebenso gut erreicht werden, wenn die Fortbildung des Rechts der Rechtsanwendung zugeordnet wird, ist es nicht überzeugend, ihr mit Verweis auf dieses Ziel einen Rechtssetzungscharakter zu attestieren.84 Abseits dessen wäre eine judikative Rechtssetzungsbefugnis aber ohnehin aus den genannten Gründen unzulässig. Eine ausnahmslose85 Gesetzesbindung der Gerichte ist nämlich nicht nur unverzichtbar,86 sie ist auch in der Sache gerechtfertigt. Erst sie verleiht richterlichem Handeln Legitimität87

gangsgericht in der Auffassung widerspricht, „ein Richter verletze seine Gesetzesbindung (Art. 20 Abs. 3 GG) durch jede Auslegung, die nicht im Wortlaut des Gesetzes vorgegeben ist[,] […] [weil] damit […] die Aufgabe der Rechtsprechung zu eng umrissen [ist und] Art. 20 Abs. 3 GG […] die Gerichte [verpflichtet], nach ‚Gesetz und Recht‘ zu entscheiden.“ Hiermit stellt der Erste Senat unmissverständlich klar, dass die Verfassung die Rechtsanwendung nicht auf die Wortlautauslegung beschränkt, sondern auch eine sorgfältig begründete Rechtsfortbildung zulässt. 81  Zur Problematik verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht: Foerste, JZ 2007, 122 ff. 82  Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 825. 83  Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 825. 84  So aber: Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 825. 85  Siehe zur Unabdingbarkeit der Gesetzesbindung: BVerfG, Beschl. v. 11. 10. 1978 – 1 BvR 84/74 – Sachverständigenhaftung, BVerfGE 49, 304, 318; Krey, JZ 1978, 465; Hillgruber, JZ 1996, 118, 118; Dreier, Jura 1997, 249, 256. 86  Vertiefend zur demokratisch gebotenen Bindung des Richters an Recht und Gesetz: Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II, 2004, § 24 Rn. 24; Dreier, Jura 1997, 249, 256; Hillgruber, in: Maunz/Dürig, GGKommentar, 2020, Art. 97 GG, Rn. 63. 87  Siehe zum Gesetz als Grundlage sachlich-inhaltlicher demokratischer Legitimation: Dreier, Jura 1997, 249, 256; Schnapp, in: von Münch/Kunig, GG-Kommentar, Band 1, 2012, Art. 20 GG, Rn. 26; Huster/Rux, in: BeckOK-GG, 2020, Art. 20 GG, Rn. 164; zu den drei Arten demokratischer Legitimation im Überblick: Gröpl, Staatsrecht I, 2020, Rn. 265 ff.

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

und sichert den Vorrang des demokratischen Gesetzgebers.88 Nur die starke Rückbindung an das Gesetz kann die faktische Unantastbarkeit der Richter rechtfertigen. Aus diesem Grund wird dies neben Art. 20 Abs. 3 GG auch in Art. 97 Abs. 1 Alt. 2 GG erneut bekräftigt. Weil die demokratische Legitimation des Richters anders als bei den Mitgliedern der Legislativorgane nicht durch Wiederwahl erneuert89 oder durch eine Abwahl entzogen werden kann, ist seine Bindung an das Gesetz als Legitimationsgrundlage ein „notwendiges Gegenstück zur richterlichen Unabhängigkeit“.90 Wäre der Richter zur Rechtssetzung befugt, könnte er nicht nur die Reichweite seiner Entscheidungsgewalt selbst definieren, sondern auch den Willen der demokratischen Mehrheit im Alleingang entwerten.91 Das ist selbst beim Versuch „gerechter Urteile“ kaum zu rechtfertigen. Denn in einer pluralistischen Gesellschaft sind die Vorstellungen von „Gerechtigkeit“92 so vielgestaltig wie die Indi­ viduen selbst, weshalb der demokratische Konsens entscheiden muss. Neben den rechtlichen Bedenken ist der Gesetzgeber aber auch tatsächlich besser geeignet, abstrakt-generelle Regelungen zu formulieren. Anders als den Gerichten steht ihm ein breites Instrumentarium wie der Einsatz von Expertenkommissionen93 zur Verfügung, wodurch er in der Lage ist, die Auswirkungen einer Entscheidung weitgehender zu antizipieren, als dies einem Gericht etwa durch den Einbezug von Sachverständigen möglich ist. Es ist daher auch insoweit überzeugend, dass in einer parlamentarischen Demokratie die Mehrheit in den Gesetzgebungsorganen bestimmt, welche Gerechtigkeitsvorstellungen konsensfähig sind und über den Weg des demokratischen Einigungsprozesses zu Rechtsnormen werden. An diese Entscheidung ist der Richter nach Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG gebunden.94 88  Zum Vorrang des Gesetzgebers: Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 649.

89  So für die demokratische Legitimation durch Wiederwahl: Redeker, NJW 1972, 409, 415. 90  BVerfG, Beschl. v. 11.  10. 1978 – 1 BvR 84/74 – Sachverständigenhaftung, BVerfGE 49, 304, 318; Dreier, Jura 1997, 249, 256; in der Sache ebenso: Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt, 2006, S. 190. 91  Im Ergebnis ebenso, wenngleich nicht für die Frage der richterlichen Kompetenz zur Rechtssetzung, sondern für die Methodenlehre im Allgemeinen: Schenke, in: Dreier (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes, 2009, S. 73: „Wenn der Grundsatz der Gesetzesbindung nicht aufgegeben werden soll, muss die Methodenlehre der Rechtsanwendung folglich vorgegeben sein und darf nicht zur Disposition der rechtsanwendenden Gewalten stehen.“ 92  Siehe zur philosophischen Gerechtigkeitsdebatte: Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 1977, S. 391 ff. 93  Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, §  13 Rn. 83; eingehend zu den Gründen gegen eine Rechtsfortbildung durch die Gerichte anstelle des Gesetzgebers: Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 154 ff. 94  Daher betont Zippelius, Juristische Methodenlehre, 2012, S. 60, zu Recht, dass der Richter, „wo immer möglich, nicht nach seinem höchstpersönlichen Rechtsemp-



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dd) Fazit Setzt die Legitimität der Spruchrichtertätigkeit damit stets eine Rückanbindung an eine gesetzliche Grundlage voraus,95 ist es gleichgültig, ob die Gerichte durch Auslegung oder Fortbildung des Rechts zu ihrer Entscheidung gelangen. Infolge der ausnahmslosen Gesetzes- und Rechtsbindung gem. Art. 20 Abs. 3 GG können die Akte der Gerichte ungeachtet der Handlungsform immer nur Rechtsanwendung, niemals aber richterliche Rechtssetzung sein. 2. Der Rechtsfortbildungsbegriff in dieser Arbeit Wie gezeigt ist die „richterliche Rechtsfortbildung“ ein vielgestaltiger Begriff, der sich je nach zugrunde gelegtem Verständnis unterschiedlich charakterisieren lässt. Ihre Grundlagen und Grenzen können daher nur effektiv beschrieben werden, wenn der Untersuchungsgegenstand so exakt wie möglich eingegrenzt ist. Eine Begriffsbestimmung unter Rückgriff auf die Alltagssprache erwies sich als ebenso wenig zweckmäßig wie ein solcher auf die Fachsprache, da selbst dort ein „kleinster gemeinsamer Nenner“96 nicht zu finden war. Ist ein herrschendes Verständnis nicht feststellbar, konnte es in dieser Arbeit nicht genügen, eine vertretbare Deutung des Rechtsfortbildungsbegriffs ohne nähere Begründung vorauszusetzen. Stattdessen war es nötig, die konstitutiven Merkmale der Rechtsfortbildung herausarbeiten. Auf der Grundlage der vorstehenden Vorarbeiten kann der Rechtsfortbildungsbegriff wie folgt beschrieben werden: Die „richterliche Rechtsfortbildung“ ist eine Handlungsform der rechtsprechenden Gewalt, die gem. Art. 92 Hs. 1 GG von Richtern ausgeübt wird. Diese können als verfassungsgebundene97 Akteure nicht nach Belieben „Recht sprechen“, sondern erfüllen ihre Funktion in den Grenzen der Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 97 Abs. 1 GG.98 Infolgedessen kann die zulässige Tätigkeit der „richterlichen Rechtsfortbildung“ nur im Lichte der Gesetzesbindung finden urteilen, sondern diese Entscheidung als Repräsentant der Gemeinschaft treffen“ soll. 95  Siehe dazu: Westermann, Wesen und Grenzen der richterlichen Streitentscheidung im Zivilrecht, 1955, S. 32. 96  Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, S. 93. 97  Siehe zur Verfassungsbindung der Dritten Gewalt: Hillgruber, JZ 1996, 118. 98  Classen, in: von Mangoldt/Klein/Stark, GG-Kommentar, Band 8, 2018, Art. 97 GG, Rn. 13, der insoweit zu Recht bemerkt, dass sich die richterliche Tätigkeit schon „aus Gründen demokratischer Legitimation“ darauf beschränken muss, „die Wertungen und Entscheidungen des Gesetzgebers zu ergänzen und systemimmanent weiterzuführen.“

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

korrekt beschrieben werden. Sind die Richter an Gesetz und Recht gebunden, können sie das „Recht“ niemals selbst setzen, sondern es ausschließlich anwenden.99 Ihre Befugnisse beschränken sich jedoch nicht auf den Vollzug des Normtexts im buchstäblichen Sinne. Vielmehr sind sie zur Auslegung und Fortbildung des Rechts berechtigt, um zu vollziehen, was der Gesetzgeber mit der Norm bezwecken wollte. Ob die Gerichte auslegend oder rechtsfortbildend tätig werden, entscheidet das Merkmal der „Gesetzeslücke“. Solange die Gerichte gesetzliche Bestimmungen berichtigen, um eine legislative Wertung voll zur Geltung zu bringen, schließen sie eine Lücke im Gesetz. Stützt sich die Korrektur hingegen allein auf rechtspolitische Eigenwertungen, die im Gesetz keinerlei Ausdruck finden, ist das anwendbare Recht nicht lückenhaft, sodass das richterliche Verhalten in diesen Fällen niemals gestattet sein kann.100 Für die Zwecke dieser Studie meint richterliche Rechtsfortbildung mithin die Handlungsform der Rechtsprechung, die sich als Anwendung von Gesetzesrecht im Lückenbereich charakterisieren lässt, weil mit ihr ein Normtext angepasst wird, wenn Wortlaut und Wertung der Norm nicht oder nicht mehr übereinstimmen.101

II. Die Formen der Rechtsfortbildung Ist der schwierige Rechtsfortbildungsbegriff näher eingegrenzt, sind nun die Mechanismen zu beschreiben, mit denen Lücken im Gesetz geschlossen werden können. Wie der Ausdruck der Rechtsfortbildung werden auch ihre Formen nicht einheitlich beurteilt.102 Für eine Systematisierung ist es daher nötig, die echten Rechtsfortbildungsinstrumente zu charakterisieren und alle Verfahren auszuschließen, die ihnen zwar regelmäßig zugeordnet werden, in der Sache aber nicht zu ihnen zählen. Erst dann können die echten Mechanismen in ihrem Verhältnis zueinander geordnet werden.

99  Solange das Recht im Sinne einer legislativen Wertentscheidung fortbildet wird und sei es nur auf Grundlage einer grundrechtlichen Schutzpflicht, die notwendigerweise keine spezifische Entscheidungsgrundlage für einen Rechtsstreit vermittelt, ist dies nach hier vertretener Ansicht keine Rechtssetzung, sondern (noch) Rechtsanwendung; a. A. Jestaedt, in: Bumke (Hrsg.), Richterrecht zwischen Gesetzesrecht und Rechtsgestaltung, 2012, S. 64; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 883. 100  Westermann, Wesen und Grenzen der richterlichen Streitentscheidung im Zivilrecht, 1955, S. 32. 101  Ausführlich zum Methodenkonzept dieser Arbeit unter: Zweiter Teil B. 102  Schwacke, Juristische Methodik, 2011, S. 129, für den bei „den Verfahren der Lückenschließung […] vieles streitig“ ist und „hier bereits terminologisch Uneinigkeit“ konstatiert.



A. Die Grundannahmen zur Rechtsfortbildung41

1. Rechtsfortbildungsinstrumente in der Einzelbetrachtung Bevor beurteilt werden kann, welche der angeblichen „Rechtsfortbildungsformen“ tatsächlich als solche bestätigt werden können, ist notwendigerweise die Frage zu klären, welche Eigenschaften für einen „echten“ Fortbildungsakt wesentlich sind. Die Antwort ergibt sich aus der Funktion der Rechtsfortbildung, die Lücken in den anzuwendenden Rechtsnormen schließt.103 Dabei ist an dieser Stelle noch nicht entscheidungserheblich,104 wie die „Lücke im Gesetz“ im Detail zu beschreiben ist, da es zum Zwecke der Einordnung genügt, festzustellen, dass sie auch nach einhelliger Ansicht eine „planwidrige Unvollständigkeit innerhalb des positiven Rechts (d. h. des Gesetzes im Rahmen seines möglichen Wortsinnes […]) gemessen am Maßstab der gesamten geltenden Rechtsordnung“ voraussetzt.105 103  Zur Lückenfüllfunktion der Rechtsfortbildung: In st. Rspr. z. B. BVerfG, Beschl. v. 14. 02. 1973 – 1 BvR 112/65 – Soraya, BVerfGE 34, 269, 287; BVerfG, Beschl. v. 11. 10. 1978 – 1 BvR 84/74 – Sachverständigenhaftung, BVerfGE 49, 304, 321; BVerfG, Beschl. v. 19. 10. 1983 – 2 BvR 485, 486/80 – Sozialplan, BVerfGE 65, 182, 191 f.; BGH, Urt. v. 28. 11. 1975 – V ZR 127/74, BGHZ 65, 300, 302; BGH, Urt. v. 15. 02. 1984 – VIII ZR 213/82, BGHZ 90, 145, 153; Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm in der verfassungskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung, 1969, S. 75; Schneider, Richterrecht, Gesetzesrecht und Verfassungsrecht, 1969, S.  18 f.; Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, S. 25; Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 71; Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S.  17 f.; Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, S.  48 f.; Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 286; Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 126; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 83; Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, 2006, S. 217; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 72; Wank, Auslegung und Rechtsfortbildung im Arbeitsrecht, 2013, S. 133; Zippelius, NJW 1964, 1981, 1982; Fischer, ZfA 2002, 215, 234; Wiedemann, NJW 2014, 2407, 2411; Drechsler, ZJS 2015, 344; Meier/Jocham, JuS 2015, 490, 494; Meier/Jocham, JuS 2016, 392, 393; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 366; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 187; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 633; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2011, S. 472 ff.; Schwacke, Juristische Methodik, 2011, S. 125; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 2012, S. 63 ff.; kritisch, wenngleich wenig überzeugend: Heyder, Gültigkeit und Nutzen der besonderen juristischen Schlussformen in der Rechtsfortbildung, 2010, S. 30, für den „das Lückenkonzept der herrschenden Meinung wenig zum Verständnis beiträgt. […] Tatsächlich hat man bei der Rechtsfortbildung keine Lücke […] festzustellen und anschließend […] zu schließen. Vielmehr muss man das gesetzliche Regelungswerk ergänzen, um Widersprüche gegen die Werte, Zwecke und Grundsätze zu vermeiden, die dem Regelungswerk zu entnehmen sind und die mit Anspruch auf universelle Geltung auftreten.“ 104  Ausführlich zur Auseinandersetzung mit dem herrschenden Lückenbegriff unter: Zweiter Teil  B. II. 1. 105  Wegweisend: Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S. 39; grundlegend zum Kern dieser Definition aber bereits: Elze, Lücken im Gesetz, 1916,

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Ist die gesetzliche Wertung der Maßstab,106 anhand dessen die „Vollständigkeit“ überprüft wird, kann es zu einer „Unvollständigkeit“ nur kommen, wenn Wortlaut und Wertung der Norm voneinander abweichen. Dient die Fortbildung des Rechts der Beseitigung dieses Missstandes, benötigt sie in der Folge Instrumente, die geeignet sind, die auftretenden Lücken zu schließen. Eine Abweichung ist dabei in zwei Varianten denkbar. Entweder ist der Wortlaut im Verhältnis zur Wertung zu weit oder er ist zu eng. Um die Lücke zu schließen, muss der Rechtsfortbildungsakt im ersten Fall die Formulierung im Gesetzestext einschränken können, während sie im zweiten Fall erweitert werden muss. a) Echte Formen aa) Analogie Anders als bei der teleologischen Extension oder Reduktion ist die normtextverändernde Wirkung der Analogie zwar nicht bereits in ihrem Namen enthalten, aber unstreitig. So wird bei ihr eine bestehende Rechtsfolge auf einen ungeregelten, aber wertungsmäßig vergleichbaren107 Sachverhalt erstreckt.108 Im Ergebnis wird mit ihr der Wortlaut einer Bestimmung auf Tatbestandsseite erweitert. S. 6; ferner zu diesem Begriffsverständnis: Schmidt, Richterliche Rechtsfortbildung in Deutschland und der Schweiz, 2017, S. 56 f.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2011, S. 473; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 832 [Hervorhebung v. Verf.]. 106  Weil mitunter mehrere gesetzliche Wertungen kollidieren können, bildet nicht die Wertung der Einzelnorm, sondern erst der „gebotene Normzweck“ den finalen Maßstab, der in einer transparenten und schrittweisen Normzweckanalyse ermittelt wird. Der gebotene Normzweck ist ein Konzept, das zu einem späteren Zeitpunkt noch im Detail vorzustellen sein wird; vertiefend dazu unter: Zweiter Teil  B. V. 1. 107  Siehe zur „vergleichbaren Wertungslage“ als vorzugswürdige Terminologie gegenüber der traditionellen „vergleichbaren Interessenlage“: Meier/Jocham, JuS 2016, 392, 396 f. 108  Allgemein zur Analogie: BGH, Urt. v. 13. 07. 1988 – IVa ZR 55/87, BGHZ 105, 140, 143 f.; Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, 1951, S. 72; RothStielow, Die Auflehnung des Richters gegen das Gesetz, 1963, S. 84 f.; Achtmann, Möglichkeiten und Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung auf der Grundlage des Bonner Grundgesetzes, 1965, S. 115; Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band III, 1976, S. 723; Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band IV, 1977, S. 284; Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache“, 1982, S. 1 ff.; Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S.  24 f.; Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, S. 95; Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 304; Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 127; Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, 2006, S. 239; Schenke, Die



A. Die Grundannahmen zur Rechtsfortbildung43

Als wohl bedeutendstes109 Fortbildungsinstrument ist sie im Privatrecht nahezu in allen Regelungskomplexen anzutreffen. So haftet nach § 31 BGB nicht nur der Verein, sondern in analoger Anwendung der Vorschrift auch eine Personengesellschaft des Handelsrechts.110 Im Schuldrecht geht bei Abtretung der zu sichernden Forderung in Analogie zu § 401 BGB die Vormerkung über, obwohl sie im Tatbestand nicht eigens genannt wird.111 Und auch im Sachenrecht ist die Analogie zu § 906 Abs. 2 S. 2 BGB112 von großer praktischer Bedeutung.113 Der BGH114 gewährt mit ihr nicht nur bei rechtlich zu duldenden Einwirkungen einen Ausgleichsanspruch, sondern erweitert den Kreis der Anspruchsberechtigten um die Eigentümer eines Grundstücks, die eine Beeinträchtigung zwar nicht zu dulden hätten, sie aber aus tatsäch­ Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 58; Heyder, Gültigkeit und Nutzen der besonderen juristischen Schlussformen in der Rechtsfortbildung, 2010, S. 47; Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 2012, S. 199; Schmidt, Richterliche Rechtsfortbildung in Deutschland und der Schweiz, 2017, S. 63; Larenz, NJW 1965, 1, 4 f.; Gern, NVwZ 1995, 1145, 1146; Rüthers/Höpfner, JZ 2005, 21, 23; Würdinger/Bergmeister, Jura 2007, 15, 16 ff.; Herresthal, JuS 2014, 289, 292; Wiedemann, NJW 2014, 2407, 2409; Meier/Jocham, JuS 2015, 490, 493 f.; Meier/Jocham, JuS 2016, 392, 394; Danwerth, ZfPW 2017, 230, 232 f.; Neuner, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2015, § 12 Rn. 32 zur Analogie auf unionsrechtlicher Ebene; Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 1959, S. 339 f.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 381; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 202; Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 1999, Rn.  481 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2011, S. 475; Schwacke, Juristische Methodik, 2011, S. 130; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 2012, S. 55; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band I, 2013, Rn. 371 ff.; Schnapp, Logik für Juristen, 2016, S. 149; Reimer, Juristische Methodenlehre, 2020, Rn.  555 ff. 109  Schneider, JA 2008, 174, 175; Meier/Jocham, JuS 2016, 392, 394; Schwacke, Juristische Methodik, 2011, S. 130, der der Analogie „in der Rechtspraxis […] die Hauptrolle“ zuspricht. 110  RG, Urt. v. 13.  02. 1911 – Rep. VI. 652/09, RGZ 76, 35, 48; RG, Urt. v. 20. 06. 1935 – VI 591/34, RGZ 148, 154, 160; BGH, Urt. v. 08. 02. 1952 – I ZR 92/51, NJW 1952, 537, 538; für eine gewohnheitsrechtliche Anerkennung; Martinek, Repräsentantenhaftung, 1979, S. 60 f.; ebenso: Arnold, in: MünchKomm-BGB, Band 1, 2018, § 31 BGB, Rn. 15. 111  BGH, Beschl. v. 21. 06. 1957 – V ZB 6/57, BGHZ 25, 16, 23, wenngleich ohne die Analogie offenzulegen; Rohe, in: BeckOK-BGB, 2020, § 401 BGB, Rn. 5 f.; Stürner, in: Jauernig, BGB, 2020, § 401 BGB, Rn. 2. 112  Ausführlich zu diesem Beispiel unter: Dritter Teil  C. III. 113  Brückner, in: MünchKomm-BGB, Band 8, 2020, § 906 BGB, Rn. 195. 114  Zum nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruch in st. Rspr. z. B. BGH, Urt. v. 15. 06. 1967 – III ZR 23/65, BGHZ 48, 98, 101 f.; BGH, Urt. v. 26. 10. 1978 – III ZR 26/77, BGHZ 72, 289, 291 f.; BGH, Urt. v. 02. 03. 1984 – V ZR 54/83, BGHZ 90, 255, 262 f.; BGH, Urt. v. 20. 04. 1990 – V ZR 282/88, BGHZ 111, 158, 162 f.; BGH, Urt. v. 30. 05. 2003 – V ZR 37/02, BGHZ 155, 99, 102 f.

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

lichen oder rechtlichen Gründen nicht abwehren können.115 Infolgedessen haftet der Grundstückseigentümer etwa für Wasserrohrbrüche oder Wohnungsbrände unabhängig von einem Verschulden.116 Alle der soeben skizzierten Fälle sind Musterbeispiele für Einzelanalogien, bei denen ein Sachverhalt in den Tatbestand der Einzelnorm einbezogen und ihre Rechtsfolge auf diese Weise auf ihn erstreckt wird.117 Auch wenn die Einzelanalogie den Regelfall bildet, ist die Möglichkeit zur analogen Rechtsanwendung aber nicht auf sie beschränkt. Außerdem denkbar ist eine Gesamt­ analogie,118 bei der der Sachverhalt dem Tatbestand mehrerer Normen unterstellt wird und so ihre einheitliche Rechtsfolge auf ihn übertragen werden kann.119 Das wohl bekannteste Beispiel hierfür ist der quasinegatorische Unterlassungsanspruch, der in Gesamtanalogie zu den §§ 12, 862 und 1004 BGB begründet wird.120 Die drei Vorschriften haben gemeinsam, dass sie bei dro115  Vertiefend dazu im Schrifttum: Ringshandl, Der bürgerlich-rechtliche Aufopferungsanspruch, 2009, S. 83 ff.; Bertkau, ZfS 2002, 483, 484 ff.; Hagen, in: Medicus/ Mertens/Nörr/Zöllner (Hrsg.), Festschrift Lange, 1992, S. 483 ff.; Katzenstein, in: Lobinger/Richardi/Wilhelm (Hrsg.), Festschrift Picker, 2010, S. 425 ff. 116  Brückner, in: MünchKomm-BGB, Band 8, 2020, § 906 BGB, Rn. 198. 117  Die Begriffe „Einzelanalogie“ und „Gesetzesanalogie“ werden synonym verwendet. Da „Gesetzesanalogie“ im Hinblick auf das Bezugsobjekt „Gesetz“ leicht missverständlich ist, ist Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 383 zuzustimmen, dass „Einzelanalogie“ der treffendere Ausdruck ist. Siehe zur Einzelanalogie im Allgemeinen: Gern, NVwZ 1995, 1145, 1146; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2011, S. 477; Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 2015, S.  88 f.; Reimer, Juristische Methodenlehre, 2020, Rn. 558. 118  Zur Unterscheidung von Einzel- und Gesamtanalogie oder ihrem synonymen Begriffspaar Gesetzes- und Rechtsanalogie: Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 1959, S. 340. 119  Eine ähnliche Parallelität findet sich bei den Begriffen „Gesamtanalogie“ und „Rechtsanalogie“. Obwohl auch sie in der Sache die gleiche Form des Analogieschlusses bezeichnen, ist der Ausdruck „Gesamtanalogie“ vorzugswürdig; so zutreffend: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 383; allgemein zur Gesamtanalogie: Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, 1979, S. 35 f.; Gern, NVwZ 1995, 1145, 1146; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2011, S. 478; Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 2015, S. 90; Reimer, Juristische Methodenlehre, 2020, Rn. 558; kritisch zur Einordnung der „Rechts- oder Gesamtanalogie“ als Analogie: Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S. 98 f., der zu Bedenken gibt, dass es sich bei der Gesamtanalogie „nicht um einen Schluß vom Besonderen auf Besonderes, sondern vom Besonderen auf das Allgemeine, also nicht um Analogie, sondern um Induktion“ handele. 120  So schon: RG, Urt. v. 05. 01. 1905 – Rep. VI. 38/04, RGZ 60, 6, 7; RG, Urt. v. 16. 10. 1905 – Rep. VI. 13/05, RGZ 61, 366, 369; RG, Urt. v. 15. 02. 1927 – II 317/26, RGZ 116, 151, 153; allgemein zum quasinegatorischen Unterlassungsanspruch: Kotz, Grundlagen negatorischer und quasi-negatorischer Haftung, 2004, S. 101 ff.; zur ne-



A. Die Grundannahmen zur Rechtsfortbildung45

hender121 Schutzgutverletzung einen Anspruch auf Unterlassung vermitteln. Obwohl die einzelnen Regelungen dies nur isoliert für das Namensrecht, den Besitz und das Eigentum ausdrücklich normieren, ist in jeder ratio legis122 der Gedanke123 angelegt, dass ein effektiver Rechtsschutz nur unter Einschluss einer präventiven Komponente gelingen kann.124 Anderenfalls ergäbe sich die groteske Situation, dass der Rechtsgutsinhaber die Verletzung abwarten müsste, um den erlittenen Schaden liquidieren zu können. Das ist weder zumutbar noch ökonomisch. Weil diese Erkenntnis für andere absolute Rechte gleichermaßen gilt, ist nach herrschender Ansicht ein erweiterter Präventivschutz im Wege einer (Gesamt-)Analogie zu den §§ 12, 862, 1004 BGB geboten.125 Als Konsequenz der Wenn-dann-Struktur126 der Rechtssätze kann der Wirkungskreis einer bereits normierten Rechtsfolge nur dadurch vergrößert wergatorischen Haftung im Allgemeinen: Schmidt, Der negatorische Beseitigungsanspruch, 1924, S. 1 ff.; Hohloch, Die negatorischen Ansprüche und ihre Beziehung zum Schadensersatzrecht, 1976, S. 40 ff.; Baur, AcP 160 (1961), 465 ff.; Mertens, NJW 1972, 1783 ff.; Henckel, AcP 174 (1974), 97, 98 ff. 121  Der Wortlaut der jeweiligen Vorschrift ist missverständlich, wenn er davon spricht, dass die Möglichkeit einer Unterlassungsklage nur bei „weiteren Beeinträchtigungen“ eröffnet ist. Ein Anspruch auf Unterlassung besteht bereits dann, wenn die „erste Beeinträchtigung hinreichend nahe bevorsteht (sog. Erstbegehungsgefahr).“ So zutreffend für § 1004 BGB: Raff, in: MünchKomm-BGB, Band 8, 2020, § 1004 BGB, Rn. 302. Dass eine drohende Verletzung für den Unterlassungsanspruch genügt, hat BGH, Urt. v. 19. 06. 1951 – I ZR 77/50, BGHZ 2, 394, 395 f. früh anerkannt. 122  Die Begriffe „ratio legis“, „Wertung“, „Normzweck“ und „Wertentscheidung“ werden in dieser Arbeit synonym verwendet. 123  Im Gegensatz zu der oben abgelehnten Fallgruppe wird hier nicht auf einen allgemeinen, übergesetzlichen Rechtsgedanken rekurriert. Vielmehr kann er aus konkreten Vorschriften gefolgert werden, weshalb eine hinreichende Legitimationsgrundlage besteht. 124  So zutreffend für § 1004 BGB: Fritzsche, in: BeckOK-BGB, 2020, § 1004 BGB, Rn. 2 ff.; dazu außerdem bereits: Meier/Jocham, JuS 2016, 392, 394. 125  RG, Urt. v. 05.  01. 1905 – Rep. VI. 38/04, RGZ 60, 6, 7; RG, Urt. v. 16. 10. 1905 – Rep. VI. 13/05, RGZ 61, 366, 369; RG, Urt. v. 15. 02. 1927 – II 317/26, RGZ 116, 151, 153; zum vorbeugenden Unterlassungsanspruch außerdem: BGH, Urt. v. 19. 06. 1951 – I ZR 77/50, BGHZ 2, 394, 395 f.; BGH, Urt. v. 21. 04. 1998 – VI ZR 196/97, BGHZ 138, 311, 321; oftmals wird heutzutage nur noch die Analogie zu § 1004 BGB angeführt: Schulte-Nölke, in: Hk-BGB, 2019, § 1004 BGB, Rn. 1; Fritzsche, in: BeckOK-BGB, 2020, § 1004 BGB, Rn. 2 ff. 126  Siehe zur Wenn-Dann-Struktur eines Rechtssatzes: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 251 f., wonach der „Rechtssatz […] wie jeder Satz eines mit dem anderen [verknüpft]. Er ordnet dem generell umschriebenen Sachverhalt, dem Tatbestand, eine ebenso generell umschriebene Rechtsfolge zu. Der Sinn dieser Zuordnung ist, daß immer dann, wenn der im Tatbestand bezeichnete Sachverhalt vorliegt, die Rechtsfolge eintritt“; ebenso: Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 72 f.; Schwacke, Juristische Methodik, 2011, S. 22 ff.

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

den, dass der Normtext im Tatbestand erweitert wird.127 Um eine derartige Fortbildung zu bewirken, existiert die Analogie und zwar ungeachtet dessen, ob sie als Einzel- oder Gesamtanalogie zum Einsatz kommt. Insoweit ist sie ein taugliches Fortbildungsinstrument, die eine Erweiterung des Wortlauts auf Tatbestandsseite ermöglicht. bb) Teleologische Extension Ist die Analogie befähigt, einen zu engen Wortlaut zu weiten, stellt sich unweigerlich die Frage, wie sie von der teleologischen Extension abzugrenzen ist, welche die rechtserweiternde Wirkung bereits in ihrem Namen trägt. Das Verhältnis beider Institute ist bis heute weitgehend ungeklärt.128 Infolgedessen sind die Einlassungen im Schrifttum so mannigfaltig, dass sich ein gemeinsamer Nenner nicht herausbilden konnte. Vereinzelt wird die teleologische Extension neben der Analogie nicht thematisiert.129 Manche behandeln sie als identisches Fortbildungsinstrument.130 Für andere ist sie ein Spezialfall der Analogie.131 Wiederum andere bestreiten dies und betonen in umgekehrter Weise den Aliud-Charakter beider Mechanismen.132 Dass die Wenn-dann-Struktur nicht aus jeder Norm sofort erkennbar ist, rechtfertigt dabei keine andere Beurteilung. Denn erläuternde, einschränkende oder verweisende Rechtssätze konkretisieren wiederum nur den Tatbestand oder die Rechtsfolge eines „vollständigen Rechtsatzes“, dem seinerseits eine Wenn-dann-Struktur zugrunde liegt. Mittelbar kann damit wohl nahezu jede Vorschrift auf eine solche Struktur zurückgeführt werden; siehe zu den sogenannten „unvollständigen Rechtssätzen“: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 257 ff. 127  In der Sache könnte die Analogie daher als teleologische Extension auf Tatbestandsseite bezeichnet werden. Zur Unterscheidung von teleologischer Extension und Analogie sogleich. 128  Siehe zum Ganzen bereits: Meier/Jocham, JuS 2016, 392, 394. 129  Siehe dazu: Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 58 und 172 ff., der nur den Dualismus von Analogie und teleologischer Reduktion in den Mittelpunkt seiner Ausführungen rückt, wobei unbeantwortet bleibt, ob er die Analogie mit der teleologischen Extension gleichsetzt oder ihre Existenz schlicht nicht anerkennt; Heyder, Gültigkeit und Nutzen der besonderen juristischen Schlussformen in der Rechtsfortbildung, 2010, S. 35 ff. und 47 ff. 130  So wohl: Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2011, S. 475, der es als „unnötig“ betrachtet, „von der Analogie eine teleologische Extension zu unterscheiden.“ 131  Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 904. 132  Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S. 89 f.; zustimmend: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 397, der hierunter Fälle fasst, „in denen der zu enge Wortsinn erweitert wird, ohne daß es sich um eine Analogie handelt“; ebenso: Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 216.



A. Die Grundannahmen zur Rechtsfortbildung47

Festzuhalten ist, dass weder die Nichtanerkennung der teleologischen Extension noch ihre Gleichstellung mit der Analogie überzeugen können. Enthält das Gesetz eine Rechtsfolge, kann sie im Wege der Analogie auf einen ungeregelten Sachverhalt erstreckt werden, indem er in den Tatbestand der Norm integriert wird. Das kann indes nur gelingen, wenn die Rechtsordnung eine passende Rechtsfolge bereitstellt. Ist eine solche nicht feststellbar, existiert aber schon keine gesetzliche Anordnung, die übertragen werden könnte. Die Analogie stößt dann an ihre Grenzen, da sie nur bestehende Rechtsfolgen übertragen, aber keine neuen erzeugen kann.133 Der Wortlaut kann aber nicht nur auf Tatbestandsseite, sondern auch auf Rechtsfolgenseite von der Wertung der Norm abweichen. Während die Analogie lediglich im ersten Fall zum Ziel führt, ist sie im zweiten von der Anwendung ausgeschlossen. Hier zeigt sich der Bereich der teleologischen Extension. Sie ist das einschlägige Fortbildungsverfahren, wenn die ratio legis eine Anpassung des Wortlauts auf der Rechtsfolgenseite fordert.134 Wer ihre Existenz ablehnt, sie für obsolet hält oder sie mit der Analogie gleichsetzt, müsste derartige Fortbildungen konsequenterweise verweigern. Ohne sie wäre es in der Folge unmöglich, der Witwe eines getöteten Arbeitnehmers über die Rechtsfolge des § 844 Abs. 2 BGB hinaus135 für die Zeit nach der mutmaßlichen Dauer seines Lebens Schadensersatz zu gewähren, weil sie wegen des vorzeitigen Ablebens des Arbeitnehmers keine Witwenrente aus der Rentenversicherung erhält.136 Ebenfalls ausgeschlossen wäre die Beschränkung der Vertretungsmacht des Prokuristen für Verpflichtungsgeschäfte, aus denen auf eine Veräußerung und Belastungen von Grundstücken geklagt werden könnte.137 bereits: Meier/Jocham, JuS 2016, 392, 394. wohl erstmals explizit: Meier/Jocham, JuS 2015, 490, 495; vertiefend: Meier/Jocham, JuS 2016, 392, 394; im Ergebnis ebenso, allerdings ohne diesen Unterschied herauszuarbeiten: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 397 f., der als Rechtsprechungsbeispiel BGH, Urt. v. 29. 04. 1960 – VI ZR 51/59, BGHZ 32, 246 ff. skizziert, bei dem keine bestehende Rechtsfolge übertragen, sondern eine neue weitergehende Rechtsfolge geschaffen wurde; ebenso: Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 216 f. 135  Zur Rechtsfolge des § 844 Abs. 2 BGB: „[…] insoweit Schadensersatz zu leisten, als der Getötete während der mutmaßlichen Dauer seines Lebens zur Gewährung des Unterhalts verpflichtet gewesen sein würde“. 136  So aber zu Recht: BGH, Urt. v. 29. 04. 1960 – VI ZR 51/59, BGHZ 32, 246, 248 f.; siehe zu diesem Beispiel außerdem: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 397 f.; ebenso: Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 216 ff. 137  Zutreffend für eine teleologische Extension: Canaris, Handelsrecht, 2006, § 12 Rn. 17; für eine Analogie zu § 49 Abs. 2 HGB hingegen: Krebs, in: MünchKommHGB, Band 1, 2016, § 49 HGB, Rn. 43; Meyer, in: BeckOK-HGB, 2020, § 49 HGB, Rn. 43; Weber, in: Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, Band 1, 2020, § 49 HGB, 133  Dazu 134  So

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

Erfüllt die teleologische Extension damit die Funktion, den Wortlaut auf Rechtsfolgenseite zu weiten, um ihn an die ratio legis anzugleichen, kann sie folglich entgegen der Ansicht von Rüthers, Fischer und Birk nicht als Spe­ zialfall der Analogie betrachtet werden.138 Denn anders als beim vermeint­ lichen Regelfall werden beim angeblichen Sonderfall keine Rechtsfolgen übertragen, sondern diese erst neu geschaffen. Analogie und Extension können in der Konsequenz als teleologische Extension auf Tatbestands- bzw. Rechtsfolgenseite verstanden werden. Dies führt jedoch zu dem gegenteiligen Schluss, dass die teleologische Extension nicht Spezialfall der Analogie ist; vielmehr ist Letztere eine Unterkategorie der teleologischen Extension, nämlich allein bezogen auf die Tatbestandsseite. In der Sache zeigt sich damit ein Aliud-Verhältnis beider Institute.139 Canaris geht davon aus, dass bei der teleologischen Extension „nicht mehr mit dem Kriterium der Rechtsähnlichkeit, sondern unmittelbar mit der ratio legis gearbeitet“140 werde. Gegen eine solche Differenzierung spricht indes, dass auch der Analogieschluss nur mit Blick auf die ratio legis erfolgt. Erst sie bildet den legitimen Maßstab für die Vergleichbarkeit zweier Sachverhalte. Aus diesem Grund kann es nicht überzeugen, die Analogie für ähnliche Fälle, die teleologische Extension hingegen für unähnliche Fälle zu verwenden.141 Das gilt nicht zuletzt deshalb, weil nicht offenlegt wird, wann ein Sachverhalt als „unähnlich“ eingestuft wird. Nach hier gewonnener Überzeugung ist die Trennung beider Instrumente über ihre Wirkung zu erreichen. Obwohl beide Formen einen normtextverändernden Effekt haben, führt der der Analogie nur zu einer Übertragung bestehender Rechtsfolgenanordnungen durch eine Erweiterung des Wortlauts auf Tatbestandsseite, während der der teleologischen Extension neue Rechtsfolgen kreiert, indem er den Wortlaut auf Rechtsfolgenseite weitet.

Rn. 16; ohne Stellungnahme methodischen Einordnung: Roth, in: Koller/Kindler/ Roth/Drüen, HGB, 2019, § 49 HGB, Rn. 7, der lediglich davon spricht, dass § 49 Abs. 2 HGB „über den Wortlaut hinausgehend auch auf Verpflichtungsgeschäfte zu erstrecken“ sei; ebenso: Schubert, in: Oetker, HGB, 2019, § 49 HGB, Rn. 27. 138  Anders aber: Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 904. 139  Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S. 89 f.; zustimmend: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 397, der hierunter Fälle fasst, „in denen der zu enge Wortsinn erweitert wird, ohne daß es sich um eine Analogie handelt“; ebenso: Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 216; so auch: Drechsler, ZJS 2015, 344, 347 in Fn. 38. 140  Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S. 90. 141  So aber explizit: Schwacke, Juristische Methodik, 2011, S. 139.



A. Die Grundannahmen zur Rechtsfortbildung49

cc) Teleologische Reduktion Als Pendant zu Analogie und Extension kann die teleologische Reduktion142 verstanden werden.143 Anders als diese ist die Reduktion aber nicht begrifflich gespalten, sondern bildet das Gegenstück zu beiden Verfahren. Die leichte Inkonsistenz ist wohl darauf zurückzuführen, dass der Gedanke der Analogie aus dem römischen Recht überliefert ist144 und sich terminologisch durchgesetzt hat, bevor die teleologische Extension und Reduktion in der Methodenlehre entwickelt wurden.145 Die teleologische Reduktion kann zur Anwendung gebracht werden, um einen zu weiten Wortlaut auf die engere ratio legis zurückzuführen. Konträr zu Analogie und Extension wird bei ihr nicht unterschieden, ob der Wortlaut auf Tatbestands- oder auf Rechtsfolgenseite eingeschränkt werden muss, obwohl dies in gleicher Weise möglich wäre. Ein prominentes Beispiel ist die teleologische Reduktion des § 107 BGB, die den beschränkt Geschäftsfähigen in die Lage versetzt, Willenserklärungen ohne Mitwirkung des gesetzlichen Vertreters abzugeben, die für ihn rechtlich neutral sind, also weder einen rechtlichen Vorteil noch einen Nachteil bedeuten.146 142  Zur teleologischen Reduktion: Achtmann, Möglichkeiten und Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung auf der Grundlage des Bonner Grundgesetzes, 1965, S. 133, der sie jedoch als „Restriktion“ bezeichnet; Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band III, 1976, S. 723; Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band IV, 1977, S. 286 f., der ebenfalls von „Restriktion“ spricht; Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S.  261  ff.; Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S.  128 f.; Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, 2006, S. 241; Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 58; Schmidt, Richterliche Rechtsfortbildung in Deutschland und der Schweiz, 2017, S. 65; Larenz, NJW 1965, 1, 5; Herresthal, JuS 2014, 289, 292; Wiedemann, NJW 2014, 2407, 2409 f.; Drechsler, ZJS 2015, 344, 347; Meier/Jocham, JuS 2015, 490, 495 f.; Meier/Jocham, JuS 2016, 392, 395; Danwerth, ZfPW 2017, 230, 230 ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 391 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 210 ff.; Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 1999, Rn. 493 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2011, S. 480 f.; Schwacke, Juristische Methodik, 2011, S. 140 f.; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 2012, S. 56, der sie als „Restriktion“ bezeichnet. 143  Zur teleologischen Reduktion als Gegenstück zur Analogie: Larenz, NJW 1965, 1, 5. 144  Raisch, Juristische Methoden, 1995, S. 11 f., wonach die Analogie damals aber weder so bezeichnet noch methodisch reflektiert wurde. 145  Siehe dazu nur: Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 1999, Rn. 493, wonach der Ausdruck der „teleologischen Reduktion“ erst durch Larenz eingeführt wurde. 146  Siehe zur teleologischen Reduktion des § 107 BGB: Spickhoff, in: MünchKomm-BGB, Band 1, 2018, § 107 BGB, Rn. 54; ebenso, wenngleich ohne Stellungnahme zur methodischen Konstruktion: Hefermehl, in: Soergel, BGB, Band 2, 1999,

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

dd) Teleologische Substitution oder Modifikation? Neben Analogie, teleologischer Extension und Reduktion werden vereinzelt noch die Substitution147 und Modifikation148 als Fortbildungsinstrumente angeführt. Das erste Verfahren soll nach Reimer zur Anwendung kommen, wenn ein Merkmal im Wortlaut nicht nur reduziert oder extendiert, sondern gänzlich ausgetauscht werden muss. Als Beispiel nennt er § 80b Abs. 2 VwGO, nach dem das „Oberverwaltungsgericht“ auf Antrag anordnen kann, dass die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage fortbesteht. Nach der Rechtsprechung des BVerwG149 gelte dies mit Blick auf die ratio legis150 aber nicht nur für das „Oberverwaltungsgericht“, sondern für das jeweils zuständige Rechtsmittelgericht, das ausnahmsweise auch das Bundesverwaltungsgericht sein könne.151 Demnach müsse im Wortlaut „Oberverwaltungsgericht“ durch „Rechtsmittelgericht“ substituiert werden.152 Reimer ist zuzustimmen, dass eine Reduktion oder Extension isoliert in einigen Fällen nicht ausreichend ist. Das zwingt jedoch nicht zu dem Schluss, dass ein weiteres Fortbildungsinstrument anerkannt werden muss. Denn die Problematik zu § 80b Abs. 2 VwGO könnte in Bezug auf das BVerwG auch durch eine Analogie gelöst werden. Und selbst wenn eine Normtextsubstitution unausweichlich ist, ist sie in der Sache nichts anderes als eine Kombination aus Reduktion und Extension. Ähnliches gilt für das zweite Verfahren: die teleologische Modifikation.153 Sie kommt für Looschelders und Roth in Betracht, wenn „zwar der Anwendungsbereich der Norm der Wertentscheidung des Gesetzgebers entspricht, der Inhalt der Norm aber modifiziert werden muß, weil er aus anderen Grün-

§ 107 BGB, Rn. 7; Dörner, in: Hk-BGB, 2019, § 107 BGB, Rn. 9; für eine teleologische Extension: Harte, Der Begriff des lediglich rechtlichen Vorteils i. S. d. § 107 BGB, 2008, S. 46 (so in der Sache, auch wenn missverständlich von „erweiternd auslegen“ gesprochen wird); Schreiber, Jura 1987, 221, 222 („teleologischer Extension“). 147  Zur teleologischen Substitution: Reimer, Juristische Methodenlehre, 2020, Rn.  626 f. 148  Zur teleologischen Modifikation: Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 272 f. 149  BVerwG, Beschl. v. 19. 06. 2007 – 4 VR 2.07, BVerwGE 129, 58, 61. 150  BVerwG, Beschl. v. 19. 06. 2007 – 4 VR 2.07, BVerwGE 129, 58, 62 f. 151  Reimer, Juristische Methodenlehre, 2020, Rn. 626. 152  Reimer, Juristische Methodenlehre, 2020, Rn. 626. 153  Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S.  272 f.



A. Die Grundannahmen zur Rechtsfortbildung51

den der Wertentscheidung widerspricht.“154 Das sei insbesondere der Fall, wenn „dem gesetzlichen Tatbestand eine weitere, an sich nicht vorgesehene Rechtsfolge zugeordnet werden muß, um der Wertentscheidung des Gesetzgebers gerecht zu werden.“155 Wie herausgearbeitet werden konnte, ist dies jedoch schon die Aufgabe der teleologischen Extension im hier verstandenen Sinne.156 Nach Looschelders und Roth könne aber auch umgekehrt „eine Einschränkung der Rechtsfolgenanordnung erforderlich werden, um der Wertentscheidung des Gesetzgebers Rechnung zu tragen.“157 Auch das trifft im Ergebnis zu, doch existiert für diesen Fall die teleologische Reduktion.158 Festzuhalten ist damit, dass es an sich möglich wäre, die teleologische Substitution und Modifikation als Rechtsfortbildungsinstrumente anzuerkennen. Nach hier vertretenem Methodenkonzept sind beide Formen jedoch obsolet, weil ihre Funktionsbereiche bereits in den anerkannten Fortbildungs­ instrumenten aufgehen. b) Unechte Formen Während eine lückenschließende Funktion für die teleologische Reduktion und Extension sowie für die Analogie festgestellt werden kann, werden im Schrifttum weitere „Rechtsfortbildungsformen“ vertreten, die in der Sache aber nicht in der Lage sind, eine Lücke zu schließen, mithin ein Auseinanderfallen von Wortlaut und Wertung einer Norm zu beheben.

154  Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 272 und 259, nach deren Konzept die teleologische Reduktion und Extension nur auf den Tatbestand einer Vorschrift bezogen sind. Ist eine Änderung der Rechtsfolge erforderlich, sei hierfür die Rechtsfolgenmodifikation einschlägig. 155  Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 272. 156  Zur Funktion der teleologischen Extension unter: Erster Teil  A. II. 1. a) bb); anders aber: Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 260, für die die teleologische Extension auf die Erweiterung der Tatbestandsseite beschränkt bleibt. 157  Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 272. 158  A. A. Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 260, für die die teleologische Reduktion nur auf Tatbestandsseite zum Einsatz kommt.

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

aa) Erst-recht-Schluss Aus diesem Grund ist das argumentum a fortiori, der Erst-recht-Schluss,159 entgegen weitverbreiteter Ansicht160 keine Form der Rechtsfortbildung.161 Durch den Schluss „a maiore ad minus“ oder „a minore ad maius“162 wird nämlich keine Veränderung am Wortlaut bewirkt. Er kann zum Einsatz gebracht werden, um eine Reduktion oder Extension der Gesetzesformulierung argumentativ zu stützen, ist hiermit aber nur Bestandteil der Begründung, ohne die Anpassung des Wortlauts selbst herbeizuführen. Verdeutlichen lässt sich dies anhand von § 49 Abs. 2 HGB, wonach der Prokurist „zur Veräußerung und Belastung von Grundstücken“ nur ermächtigt ist, wenn ihm diese Befugnis besonders erteilt wurde. Obwohl der Wortlaut dem Prokuristen die dinglichen Verfügungsgeschäfte versperrt, kann der Schutzzweck des § 49 Abs. 2 HGB nur dann erreicht werden, wenn die Norm 159  Siehe zur logischen Struktur des argumentum a fortiori: Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 104 ff.; Schnapp, Logik für Juristen, 2016, S. 157 ff. 160  Für die herrschende Ansicht, die den Erst-recht-Schluss als Rechtsfortbildungsform behandelt: Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S. 78, wonach „das argumentum a fortiori bzw. a maiore nicht nur der Lückenausfüllung dient, sondern auch ein Mittel der Lückenfeststellung ist“; Schmidt, Richterliche Rechtsfortbildung in Deutschland und der Schweiz, 2017, S. 282: „qualifizierter Fall der Analogie“, wobei sie ihre Aussage auf das argumentum a maiore ad minus beschränkt; Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre, 1948, S. 148: „Spezialfälle des Analogieschlusses“; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 389: „Der Analogie nahe verwandt ist das sogenannte „argumentum a maiore ad minus“; mit identischer Formulierung: Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 208; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2011, S. 479: „verstärkte Abart des Analogieschlusses“; Schwacke, Juristische Methodik, 2011, S. 137: „Besondere Fälle der Analogie“; Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 2015, S. 87 und 90 f., der den Erst-recht-Schluss in seine beiden Formen ebenfalls den Analogieschlüssen zurechnet; ebenso: Zippelius, Juristische Methodenlehre, 2012, S. 55: „Sonderfall dieses Schlusses ist das argumentum a minore ad maius“; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 897: „Spezialfall des Analogieschlusses“; differenzierend aber: Reimer, Juristische Methodenlehre, 2020, Rn. 325, der den Erst-recht-Schluss als „Fall der Rechtsfortbildung in Form der Analogie“ wertet, sofern auf einen „tatsächlich ungeregelten Fall“ geschlossen wird, ihn aber ausnahmsweise nicht der Rechtsfortbildung zurechnet, wenn er als Instrument eine implizite Regelung verdeutlicht, weil dann „kein ungeregelter Fall“ vorliege; unklar hingegen: Engisch, Einführung in das juristische Denken, 2018, S. 214, der den Erst-recht-Schluss unter „andere Argumente [fasst], die in ähnlicher Weise wie der Analogieschluss und der Umkehrschluss dazu dienen können, gegebene rechtliche Normen für eine Lückenausfüllung fruchtbar zu machen.“ 161  So bereits: Meier/Jocham, JuS 2016, 392, 395. 162  Heyder, Gültigkeit und Nutzen der besonderen juristischen Schlussformen in der Rechtsfortbildung, 2010, S. 137 ff.



A. Die Grundannahmen zur Rechtsfortbildung53

auch für das zugrunde liegende schuldrechtliche Verpflichtungsgeschäft die Vertretungsmacht verweigert.163 Der Prinzipal, der vor der Veräußerung oder Belastung seiner Grundstücke geschützt werden soll,164 muss daher erst recht davor bewahrt werden, dass der Prokurist ihn wirksam zu einer solchen Veräußerung oder Belastung verpflichtet. Anderenfalls liefe der mit der Beschränkung der Vertretungsmacht bezweckte Schutz leer,165 weil die zu verhindernde Veräußerung oder Belastung aufgrund des wirksamen Verpflichtungsgeschäfts klageweise erstritten werden könnte.166 Das argumentum a fortiori liefert in dieser Konstellation die Begründung, warum Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäft wertungsmäßig gleichartig behandelt werden müssen. Die Gleichstellung selbst wird hingegen erst durch eine teleologische Extension zu § 49 Abs. 2 HGB167 bewirkt, die den Wortlaut auf der Rechtsfolgenseite um die genannten Verpflichtungsgeschäfte erweitert.168 Das argumentum a fortiori kann also immer nur Begründung für die Anwendung einer Rechtsfortbildungsform sein.169 Für die eigentliche Fortbildung müsste der Erst-recht-Schluss aber eine normtextverändernde Wirkung erzeugen, über die er aber nicht verfügt.

163  Für diese herrschende Einschränkung des Umfangs der Prokura: Krebs, in: MünchKomm-HGB, Band 1, 2016, § 49 HGB, Rn. 43; Roth, in: Koller/Kindler/Roth/ Drüen, HGB, 2019, § 49 HGB, Rn. 7; Schubert, in: Oetker, HGB, 2019, § 49 HGB, Rn. 27; Meyer, in: BeckOK-HGB, 2020, § 49 HGB, Rn. 43; Weber, in: Ebenroth/ Boujong/Joost/Strohn, HGB, Band 1, 2020, § 49 HGB, Rn. 16; Canaris, Handelsrecht, 2006, § 12 Rn. 17; Schmidt, Handelsrecht, 2014, § 16 Rn. 32. 164  Zum Schutzzweck des § 49 Abs. 2 HGB: Meyer, in: BeckOK-HGB, 2020, § 49 HGB, Rn. 43. 165  Ebenso: Weber, in: Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, Band 1, 2020, § 49 HGB, Rn. 16. 166  Schubert, in: Oetker, HGB, 2019, § 49 HGB, Rn. 27; Canaris, Handelsrecht, 2006, § 12 Rn. 17. 167  So überzeugend: Canaris, Handelsrecht, 2006, § 12 Rn. 17; demgegenüber für eine Analogie zu § 49 Abs. 2 HGB: Krebs, in: MünchKomm-HGB, Band 1, 2016, § 49 HGB, Rn. 43; Meyer, in: BeckOK-HGB, 2020, § 49 HGB, Rn. 43; Weber, in: Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, Band 1, 2020, § 49 HGB, Rn. 16; ohne Stellungnahme zur Qualifikation als Analogie oder teleologische Extension: Roth, in: Koller/Kindler/Roth/Drüen, HGB, 2019, § 49 HGB, Rn. 7, der lediglich davon spricht, dass § 49 Abs. 2 HGB „über den Wortlaut hinausgehend auch auf Verpflichtungsgeschäfte zu erstrecken“ sei; ebenso: Schubert, in: Oetker, HGB, 2019, § 49 HGB, Rn. 27. 168  Wie bereits angedeutet bewirken nach dem hier vertretenen Verständnis sowohl die Analogie als auch die teleologische Extension eine Erweiterung des Normtexts. Während bei der Analogie der Wortlaut auf Tatbestandsseite erweitert wird, ist die teleologische Extension für die Erweiterung des Normtexts auf Rechtsfolgenseite berufen. Näher zu diesem Verständnis unter: Erster Teil  A. II. 1. a) aa) und bb). 169  Siehe dazu bereits: Meier/Jocham, JuS 2016, 392, 395.

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

Dass es sich um keine Rechtsfortbildung handelt, belegt zudem der Umstand, dass der Erst-recht-Schluss auch auf der Ebene der Auslegung angewendet werden kann. Das ist beispielsweise bei § 119 Abs. 1 Alt. 2 BGB der Fall, wenn der Erklärende kein Erklärungsbewusstsein hat, ihm die Willenserklärung aber nach der Rechtsprechung des BGH zurechenbar ist.170 Ob die Erklärung gem. § 142 Abs. 1 BGB ex tunc beseitigt werden kann, hängt davon ab, ob das fehlende Erklärungsbewusstsein unter § 119 Abs. 1 Alt. 2 BGB zu fassen ist. Traditionell werden dem Erklärungsirrtum des § 119 Abs. 1 Alt. 2 BGB Fälle zugerechnet, in denen das objektiv Erklärte vom subjektiv Gewollten abweicht, weil ein falsches Erklärungszeichen171 verwendet wird, der Erklärende sich also verschreibt, vertippt, vergreift oder verspricht.172 Sämtliche Konstellationen haben demnach gemein, dass der objektiv geäußerte Geschäftswille nicht besteht. Hieraus könnte der Schluss gezogen werden, anfechtungsberechtigt sei nur, wer mit seiner Willenserklärung eine bestimmte Rechtsfolge nicht herbeiführen wolle. Ein derart restriktives Verständnis findet im Normtext indes keinen Anhalt. Ein Erklärungs­ irrtum ist gem. § 119 Abs. 1 Alt. 2 BGB vielmehr dann gegeben, wenn der Anfechtende „eine Erklärung dieses Inhalts überhaupt nicht abgeben wollte“. Das ist zwar auch beim fehlenden Geschäftswillen erfüllt, schließt die Kon­ stellation des fehlenden Erklärungsbewusstseins aber nicht aus. Wenn bereits derjenige geschützt wird, der eine bestimmte Rechtsfolge nicht erzeugen wollte, muss dies wertungsmäßig erst recht für den gelten, dem nicht einmal bewusst war, dass er mit seiner Erklärung überhaupt eine Rechtsfolge setzt. Der Erst-recht-Schluss kann daher begründen, dass die Konstellation des fehlenden Erklärungsbewusstseins unter § 119 Abs. 1 Alt. 2 BGB fällt,173 ohne dass dies einer Wortlautkorrektur bedarf. Ist er somit in gleicher Weise 170  Grundlegend: BGH, Urt. v. 07. 06. 1984 – IX ZR 66/83, BGHZ 91, 324, 330, wonach eine „Willenserklärung […] bei fehlendem Erklärungsbewußtsein allerdings nur dann vor[liegt], wenn sie als solche dem Erklärenden zugerechnet werden kann. Das setzt voraus, daß dieser bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hätte erkennen und vermeiden können, daß seine Erklärung oder sein Verhalten vom Empfänger nach Treu und Glauben und mit Rücksicht auf die Verkehrssitte als Willenserklärung aufgefaßt werden durfte.“ 171  Faust, Bürgerliches Gesetzbuch, 2020, § 19 Rn. 2. 172  Armbrüster, in: MünchKomm-BGB, Band 1, 2018, § 119 BGB, Rn. 46; Dörner, in: Hk-BGB, 2019, § 119 BGB, Rn. 6; Mansel, in: Jauernig, BGB, 2020, § 119 BGB, Rn. 6. 173  So im Ergebnis: BGH, Urt. v. 07. 06. 1984 – IX ZR 66/83, BGHZ 91, 324, 329; Gudian, AcP 169 (1969), 232; 233; von Craushaar, AcP 174 (1974), 2, 9 ff.; Hepting, in: Rüfner (Hrsg.), Festschrift 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1988, S. 209 ff.; Hefermehl, in: Soergel, BGB, Band 2, 1999, Vor § 116 BGB, Rn. 14; Armbrüster, in: MünchKomm-BGB, Band 1, 2018, § 119 BGB, Rn. 101, Rn. 23; Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerliches Rechts, 1992, S. 449 f.; Medicus/Petersen, Allgemeiner Teil des BGB, 2016, Rn. 607; in der Sache wohl ebenso: Kramer, Grundfragen der vertrag­



A. Die Grundannahmen zur Rechtsfortbildung55

geeignet, Auslegungs- und Rechtsfortbildungsakte zu legitimieren, kann er nicht nur einer der beiden Kategorien angehören. bb) Umkehrschluss Grundsätzlich Identisches gilt für das argumentum e contrario,174 den Umkehrschluss.175 Er wird zwar regelmäßig als Gegenstück zur Analogie176 bezeichnet, ist aber tatsächlich kein Fortbildungsinstrument.177 Während die lichen Einigung, 1972, S. 121 ff.; ebenfalls für ein Anfechtungsrecht: Dörner, in: HkBGB, 2019, § 119 BGB, Rn. 13. 174  Da mit dem argumentum e contrario der Schluss vollzogen wird, dass ein bestimmter Fall nicht erfasst ist, weil der Gesetzgeber sich bewusst gegen seine Aufnahme entschieden, also qualifiziert geschwiegen hat, nennt man den Umkehrschluss auch argumentum e silentio: Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, 1951, S. 70. 175  Siehe zur logischen Struktur des argumentum e contrario: Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 100 ff. 176  Für den Umkehrschluss als Gegenstück zur Analogie: Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band IV, 1977, S. 285; Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S. 45; Heyder, Gültigkeit und Nutzen der besonderen juristischen Schlussformen in der Rechtsfortbildung, 2010, S. 123, der zwar nicht von Gegenstücken spricht, dies aber seinen Ausführungen zugrunde legt; Schmidt, Richterliche Rechtsfortbildung in Deutschland und der Schweiz, 2017, S. 59, die den Umkehrschluss als „Pendant des Analogieschlusses“ versteht; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 390; ebenso: Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 209; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2011, S. 476 f., der nur Kelsens Einwand der Wertlosigkeit beider Schlussformen widerspricht [Kelsen, Reine Rechtslehre, 1960 (Unveränderter Nachdruck 1967), S. 350], nicht aber ihrer Einordnung als Gegenstücke; Schwacke, Juristische Methodik, 2011, S. 138, der den Umkehrschluss als „Gegenargumenta­ tionsform zur Analogie“ beschreibt, ihn jedoch in überzeugender Weise „nicht zu den Verfahren der Lückenschließung“ rechnet; Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 2015, S. 91, für den der „Umkehrschluss […] die Schwester der Analogie“ ist; Engisch, Einführung in das juristische Denken, 2018, S. 206, der Umkehrschluss und Analogieschluss als Alternativen betrachtet; Reimer, Juristische Methodenlehre, 2020, Rn. 320, der die Entscheidung für den Umkehrschluss als „Entscheidung gegen [die] Analogie“ bezeichnet; kritisch aber: Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, 1951, S. 71, der bemängelt, dass die schweizerische Doktrin „in treuer Befolgung ausländischer Vorbilder […] die eigentliche Funktion des argumentum e contrario verkannt“ habe. Hierzu gehöre, dass „man das argumentum e contrario als Gegenstück eines ebenfalls rein formalistischen Analogieverfahrens“ auffasse. 177  A. A. Wiedemann, NJW 2014, 2407, 2409, der die „Einordnung von Analogie, teleologischer Reduktion und Umkehrschlüssen als gesetzesnahe Fortbildung [als] rechtstheoretisch weitgehend gesichert“ betrachtet; ebenso: Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 1999, Rn. 476, der als technische Hilfsmittel für die Füllung von Lücken im Gesetz u. a. „Analogien oder Umkehrschlüsse“ in Betracht zieht; jedenfalls missverständlich: Engisch, Einführung in das juristische Denken, 2018, S. 214, der im Nebensatz andeutet, der Umkehrschluss könne zur Lückenfüllung eingesetzt

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

Analogie die Lückenhaftigkeit einer Norm beseitigt, indem sie den zu engen Tatbestand um einen nicht geregelten, aber wertungsmäßig vergleichbaren Sachverhalt erweitert, belegt ein folgerichtiger Umkehrschluss die Lücken­ losigkeit der Rechtsordnung. Schließlich beruht eine fehlende Regelung keineswegs zwangsläufig auf einem Versehen des Gesetzgebers, sondern kann daraus resultieren, dass er sich bewusst entschieden hat, den betroffenen Sachverhalt nicht zu normieren.178 Existiert eine bewusste Negativentscheidung des Gesetzgebers, ist das Gesetz nicht lückenhaft. Stattdessen hat das qualifizierte Schweigen179 der Legislative zur Folge, dass eine Fortbildung in diesem Fall unterbleiben muss.180 Der Umkehrschluss ist somit kein Fortbildungsinstrument, sondern nur ein Argument gegen die Rechtsfortbildung. cc) Berufung auf Rechtsprinzipien Ebenfalls zweifelhaft ist, ob die Berufung auf allgemeine Rechtsprinzipien181 den Anforderungen eines Lückenfüllinstruments gerecht wird. Dies wird von einigen Autoren im Schrifttum befürwortet, die hierin ein Mittel erblicken, um Gesetzeslücken zu schließen.182 Auch wenn nicht bestritten werden soll, dass eine Vielzahl von ungeschriebenen Rechtsmaximen besteht, darf ihre bloße Existenz nicht dazu verleiten, sie als unerschöpfliche Quelle für neue Rechtsinstitute zu betrachten und damit das geschriebene Recht zu verändern. Stattdessen ist immer im Einzelfall zu prüfen, ob ein bestimmter Grundsatz in der anwendbaren Norm Ausdruck gefunden hat. Wer dies ignoriert, vernachlässigt, dass nicht alle bestehenden Rechtsprinzipien stets in Reinform und ohne Widersprüche zu verwirklichen sind. werden: „Über andere Argumente, die in ähnlicher Weise wie der Analogieschluss und Umkehrschluss dazu dienen können, gegebene rechtliche Normen für die Lückenfüllung fruchtbar zu machen […]“; den Rechtsfortbildungscharakter des Umkehrschlusses ablehnend: Meier/Jocham, JuS 2016, 392, 395. 178  Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, 1951, S. 70. 179  Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, 1951, S. 70; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 899. 180  Daher auch „argumentum e silentio“, siehe dazu: Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, 1951, S. 70. 181  Schwacke, Juristische Methodik, 2011, S. 138 f.; Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 2015, S. 87, aber auch: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 401 und 397, der allerdings einschränkend nur den Rückgriff auf ein Prinzip in Betracht zieht, das „im Wege der Verallgemeinerung einer Regel“ gefunden wird; ebenso: Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 221 und 216. 182  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 397, der dieses Vor­ gehen zur „gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung“ zählt; ebenso: Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 216; Schwacke, Juristische Methodik, 2011, S. 138 f.; Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 2015, S. 87.



A. Die Grundannahmen zur Rechtsfortbildung57

Deutlich wird das am Beispiel des § 1138 BGB. Er normiert insbesondere, dass der Gutglaubenstatbestand des § 892 BGB „für die Hypothek auch in Ansehung der Forderung“ Beachtung findet. Hierdurch wird erreicht, dass der gutgläubige Zessionar das Grundpfandrecht erwerben kann, auch wenn die hypothekarisch gesicherte Forderung nicht besteht. Um dies zu ermög­ lichen, fingieren die §§ 1138, 892 BGB den Bestand der Forderung, welcher für den gutgläubigen Erwerb der akzessorischen Hypothek nötig ist.183 Die Forderung an sich kann nicht gutgläubig erworben werden.184 Die Regelung des § 1138 BGB löst insoweit einen Konflikt, der sich dadurch abzeichnet, dass drei Maximen miteinander konkurrieren, ohne dass eine als evident vorrangig behandelt werden kann. Am Anfang steht das in § 892 BGB ver­ ankerte Prinzip, dass der gutgläubige Erwerb von dinglichen Rechten an Grundstücken im Grundsatz möglich ist.185 Das müsste folglich auch für die Hypothek gelten. Sie ist jedoch ihrem Wesen nach ein akzessorisches Grundpfandrecht, sodass sie untrennbar mit der hypothekarisch zu sichernden Forderung verbunden ist.186 Weil die Forderung nicht gutgläubig erworben werden kann, wäre einem Zessionar aufgrund des Akzessorietätsprinzips der Erwerb der Hypothek vom Nichtberechtigen versperrt, sofern das zu sichernde Recht nicht besteht. Um dies zu verhindern, opfert § 1138 BGB den Grundsatz der Akzessorietät.187 Der Prinzipienwettstreit188 zwischen Akzessorietät der Hypothek, Möglichkeit des gutgläubigen Erwerbs dinglicher Grundstücksrechte und Unmöglichkeit eines gutgläubigen Forderungserwerbs hätte auf einer abstrakten Ebene aber auch zugunsten einer anderen Position entschieden werden können. Zu wessen Gunsten die Konfliktlage aufzulösen ist, hat der Gesetzgeber zu entscheiden. Er sichtet und gewichtet die betroffenen Interessen und führt sie unter Berücksichtigung bestehender Prinzipien in systemkonformer Weise 183  RG, Urt. v. 29. 06. 1932 – V 82/32, RGZ 137, 95, 97; Wiegang, JuS 1975, 205, 213 f.; Staudinger, in: Hk-BGB, 2019, § 1138 BGB, Rn. 3; Lieder, in: MünchKommBGB, Band 8, 2020, § 1138 BGB, Rn. 15; Baur/Stürner, Sachenrecht, 2009, § 38 Rn. 22; Müller/Gruber, Sachenrecht, 2016, Rn. 3454. 184  Dazu: Herrler, in: Palandt, 2021, § 1138 BGB, Rn. 1; Baur/Stürner, Sachenrecht, 2009, Rn. 22; Müller/Gruber, Sachenrecht, 2016, Rn. 3454. 185  Siehe zu dieser Maxime: Lieder, in: MünchKomm-BGB, Band 8, 2020, § 1138 BGB, Rn. 2. 186  Zum Grundsatz der Akzessorietät: Rohe, in: BeckOK-BGB, 2020, § 1113 BGB, Rn.  4 ff. 187  Staudinger, in: Hk-BGB, 2019, § 1138 BGB, Rn. 3: „Durchbrechung des Akzessorietätsgrundsatzes“; Berger, in: Jauernig, BGB, 2020, § 1138 BGB, Rn. 1: „Einschränkung des Akzessorietätsprinzips“; Rohe, in: BeckOK-BGB, 2020, § 1138 BGB, Rn. 3: „Die Vorschrift lockert die Akzessorietät der Hypothek“. 188  Zur Kollision dieser drei Prinzipien: Lieder, in: MünchKomm-BGB, Band 8, 2020, § 1138 BGB, Rn. 1 f.

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

einer Wertentscheidung189 zu, die sodann den Inhalt einer bestimmten Rechtsnorm bildet. Angesichts dieses Vorrechts können existierende Rechts­ prinzipien nicht als eine Ansammlung stets zulässiger Topoi betrachtet werden, die der Rechtsanwender nach Belieben einsetzen kann. Vielmehr können sie nur dann eine Argumentation überzeugend stützen, wenn sie durch gesetzgeberische Wertungen im Einzelfall anerkannt oder aus ihnen ableitbar sind. Infolgedessen ist es unerlässlich, immer zuerst durch Auslegung der einschlägigen Regelungen zu prüfen, ob und inwieweit ein allgemeines Rechtsprinzip in ihnen verwirklicht ist. Ist das nicht der Fall, ist die Maxime für den zu entscheidenden Sachverhalt ohne Relevanz.190 Ist sie hingegen in einem beachtlichen Ausmaß in den streitentscheidenden Normen enthalten, äußert sie sich lediglich als Bestandteil der ratio legis und ist in diesem Rahmen zu berücksichtigen. Die Wertung einer Norm per se formuliert aber nur das Ziel, das mit der Rechtsfortbildung erreicht werden muss, gibt aber nicht das Instrument vor, um den Wortlaut hieran anzupassen. Das kann nur durch Extension oder Reduktion des anpassungsbedürftigen Normtexts bewerkstelligt werden. Der Rückgriff auf abstrakte Rechtsgedanken ist damit unzulässig oder überflüssig und kann zudem die normtextverändernde Wirkung niemals selbst erzeugen, die für eine Rechtsfortbildungsform entscheidend ist. dd) Abwägung Ähnlich kritisch ist es, die Güterabwägung den Fortbildungsinstrumenten zuzuordnen.191 Unbenommen der oft schwierigen Struktur der Abwägung192 189  Die Begriffe „Wertentscheidung“, „Wertung“, „Normzweck“ und „ratio legis“ werden in dieser Arbeit synonym verwendet. 190  Die Vorschrift des § 1138 BGB könnte also folglich nicht mit der Begründung teleologisch reduziert werden, sie verstoße gegen das allgemeine Prinzip der Akzessorietät. Vielmehr ergibt sich gerade aus ihrer Existenz, dass der Akzessorietätsgrundsatz in diesem Fall in seinem Wirkungskreis eingeschränkt ist. 191  So aber: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 413, der seine Aussage in der Sache allerdings auf die normübergreifende Abwägung beschränkt, ohne sie ausdrücklich so zu bezeichnen; ebenso: Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 232; Schwacke, Juristische Methodik, 2011, S.  142 ff. 192  Was unter „Abwägung“ zu verstehen ist, ist bereits begrifflich nicht eindeutig. In einem weiteren Sinne könnte hierunter „jede Entscheidungsfindung mit Gestaltungsspielraum“ (Erbguth, JZ 2006, 484, 485) zu fassen sein. In einem engeren Sinne könnte „Abwägung“ aber auch den „Ausgleich zwischen gegenläufigen Belangen“ bezeichnen. Siehe dazu und zum Ganzen: Reimer, Juristische Methodenlehre, 2020, Rn. 485; zur Struktur der Abwägungsentscheidung: von Arnauld, in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit, 2015, S. 287 f.



A. Die Grundannahmen zur Rechtsfortbildung59

kann auch sie stets nur eine Vorfrage für die Fortbildung oder Auslegung des Rechts sein. Dies gilt ungeachtet dessen, ob die Abwägung auf eine Norm beschränkt bleibt oder ob der Ausgleich zwischen mehreren Normen geschaffen werden muss.193 (1) Norminterne Abwägung Bei einer norminternen Abwägung sind konfligierende Belange innerhalb einer Bestimmung in Einklang zu bringen. Das betrifft nahezu immer den Vollzug von Regelungen, die unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten. Hierzu zählen beispielsweise die Merkmale „nicht zugemutet“ in § 313 BGB, „aus wichtigem Grund“ in § 314 BGB, aber auch „sonstiges Recht“ in § 823 Abs. 1 BGB, etwa wenn die Verletzung der Rahmenrechte wie dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht oder dem Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb im Raum steht. Wo der Gesetzgeber eine Generalklausel oder einen anderen unbestimmten Rechtsbegriff194 gebraucht, erweitert er unbestreitbar den Entscheidungsspielraum der Gerichte. Das widerspricht nicht der gesetzgeberischen Anordnung, sondern steht im Einklang mit ihr. Weil die Legislative nicht alle regelungsbedürftigen Sachverhalte antizipieren kann, korrespondiert die sprachliche Offenheit des Wortlauts mit der ratio legis, die sicherstellen möchte, dass die Judikative in gewissen Grenzen auch auf künftige Rechtsfragen angemessen reagieren kann, selbst wenn diese erst durch den gesellschaftlichen oder technischen Fortschritt sichtbar werden. Soweit dies bezweckt ist, ergibt sich kein Auseinander­ fallen von Wortlaut und Wertung, weshalb die Vorschriften nicht lückenhaft sind.195 Unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten vielmehr eine „legitime Vertrauenserklärung des Rechtssetzers an den Rechtsanwender“,196 diese im Wege der Auslegung zu konkretisieren. Zwar belegen zahlreiche Neuschöpfungen wie das Anwartschaftsrecht, das allgemeine Persönlichkeitsrecht oder das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb, dass dies mit einer weitreichenden Gestaltungsmacht der Judikative einhergeht. Solange

193  Zur Unterscheidung zwischen norminterner und normübergreifender Abwägung: Reimer, Juristische Methodenlehre, 2020, Rn. 482. 194  Zum Unterschied von Generalklausel und unbestimmtem Rechtsbegriff: Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 33, die das entscheidende Kriterium darin erblickt, dass eine Generalklausel „in besonders großem Maße unbestimmt“ ist; ähnlich: Müller, ‚Richterrecht‘, 1986, S. 84, wonach Generalklauseln „nur als besonders allgemein gehaltene, als besonders vage „Normen“ gelten“. 195  Anders aber: Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 836, die „Generalklausel als Lücken“ qualifizieren. 196  So sehr überzeugend: Reimer, Juristische Methodenlehre, 2020, Rn. 480.

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

die ratio legis die Konkretisierungen trägt, ist hiergegen im Grundsatz197 nichts einzuwenden. Dass dies auch in demokratischer Hinsicht nicht notwendigerweise bedenklich ist, zeigt sich darin, dass der Gesetzgeber jederzeit über die Möglichkeit verfügt, Fehlentwicklungen zu korrigieren. Bewegt sich die norminterne Abwägung innerhalb des gesetzlichen Merkmals und stimmen Text und Zweck der Norm weiterhin überein, begleitet sie den Rechtsfindungsprozess des auslegenden198 Rechtsanwenders. Das Abwägungsergebnis begründet in diesem Fall das Auslegungsergebnis. Kann die 197  Wohl grundlegend zum Begriff der Delegationsnormen: Heck, Grundriß des Schuldrechts, 1929 (Nachdruck 1974), S. 11. 198  Dezidiert gegen die Konkretisierung von Generalklauseln als auslegende Tätigkeit: Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 836a, für welche die „normsetzende Funktion der Justiz in diesem Bereich […] gern geleugnet oder verdrängt“ wird. Sie stimmen mit Lange, Liberalismus, Nationalsozialismus und Bürgerliches Recht, 1933, S. 5 überein, dass Generalklauseln als „Kuckuckseier im liberalistischen Rechtssystem“ betrachtet werden können, obwohl Lange, selbst Mitglied der NSDAP, dies im Gegensatz zu Rüthers, Fischer und Birk wohl eher als Chance denn als Bedrohung gesehen hatte. Trotz ihrer ehrenwerten Bedenken und ihrer daher erkennbar zielgeleiteten Argumentation können die daraus gezogenen Schlüsse nicht überzeugen. Denn die Anerkennung einer richterlichen Normsetzungskompetenz ist nicht notwendige Bedingung, um Rechtsperversionen wie die zur Zeit des nationalsozialistischen Regimes zu verhindern. Seit und unter der Geltung des Grundgesetzes wird derartigen ideologischen Entgleisungen vielmehr nachhaltig durch die Ewigkeits­ garantie des Art. 79 Abs. 3 GG Einhalt geboten. Sie „verbietet Verfassungsänderungen, durch welche die in Art. 1 und Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze berührt werden.“ (BVerfG, Urt. v. 23. 04. 1991 – 1 BvR 1170, 1174, 1175/90 – Bodenreform I, BVerfGE 84, 90, 120 f.). Mit diesem verstärkten Schutz dürfte die Wiederholungsgefahr hinreichend gebannt sein. Überdies kann ungewünschten im Wege der Auslegung gewonnenen Konkretisierungsergebnissen stets durch eine Gesetzesänderung begegnet werden. Ebenso wie durch den Gebrauch von unbestimmten Rechtsbegriffen der Judikative ein weiter Entscheidungsspielraum eingeräumt wird, kann dieser auch jederzeit wieder gesetzlich eingeschränkt oder sogar entzogen werden. Aus diesen Gründen erscheint es nach hier vertretener Ansicht unbedenklich, die Konkretisierung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen als Auslegung zu werten, soweit Text und Zweck der betroffenen Norm im Einklang stehen. Insoweit ist tendenziell eher Engisch, Einführung in das juristische Denken, 2018, S. 198 zuzustimmen, der die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe als „planmäßige Auflockerung der gesetzlichen Bindung“ [Hervorhebung v. Verf.] qualifiziert. Ähnlich: Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956, S. 51, für den jeder Rechtssatz, auch eine Generalklausel, eine Weisung „mit größeren oder kleinerem diskretionären Raum für den Richter“ enthält. Wer mit Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 837 eine richterliche Normsetzungskompetenz anerkennt, lockert nicht die Bindung der Rechtsprechung an Recht und Gesetz, sondern beseitigt sie. Wie der Erste Senat in BVerfG, Beschl. v. 14. 02. 1973 – 1 BvR 112/65 – Soraya, BVerfGE 34, 269, 286 aber zutreffend betont, ist die „traditionelle Bindung des Richters an das Gesetz […] ein tragender Bestandteil des Gewaltentrennungsgrundsatzes und damit der Rechtsstaatlichkeit“. Ihre Beseitigung wäre daher nicht nur nicht überzeugend, sie wäre auch mit der Verfassung unvereinbar.



A. Die Grundannahmen zur Rechtsfortbildung61

Abwägung in der Folge auch eine Auslegung stützen, ist ihre Qualifikation als Rechtsfortbildungsmechanismus schon aus diesem Grund nicht überzeugend. (2) Normübergreifende Abwägung Ebenso wie die norminterne kann auch die normübergreifende Abwägung nicht als Fortbildungsinstrument qualifiziert werden,199 bei der konfligierende Wertungen mehrerer gleichrangiger Normen in Einklang gebracht werden müssen. Weil die Auflösungsmechanismen für Kollisionen zwischen mehreren Bestimmungen aber meist zum Ziel führen, verbleibt als prominenter Anwendungsfall die Schaffung praktischer Konkordanz zwischen Grundrechten mehrerer Grundrechtsträger.200 Unabhängig davon, auf welcher Ebene sich die normübergreifende Abwägung bewegt, führt sie immer dazu, dass zwischen mehreren an sich gleichrangigen Wertungen ein Vorrangverhältnis begründet wird.201 Sie schließt damit keine Lücke im Gesetz, sondern klärt die relevante Vorfrage, welche Wertentscheidung maßgeblich ist. Erst wenn dies feststeht, kann der Wortlaut gegebenenfalls mithilfe eines Fortbildungsinstruments angepasst werden, um eine Übereinstimmung mit der so freigelegten Wertung der Regelung herbeizuführen. Weil die Abwägung aber weder in ihrer norminternen noch in ihrer normübergreifenden Ausprägung eine normtextändernde Wirkung erzeugt, kann sie zwar eine Rechtsfortbildung begründen, diese allerdings nicht selbst bewirken. ee) Rechtsvergleichung Nicht dem Bereich der Rechtsfortbildung zuzuordnen ist weiter die Rechtsvergleichung, die mehrere Rechtsordnungen wissenschaftlich analysiert, um aus der Gegenüberstellung einen Erkenntnisgewinn abzuleiten.202 Als eigenständige Disziplin wird sie in erster Linie203 auf rechtspolitischer Ebene relevant, indem sie Konzepte und Ideen ausländischer Rechtsordnungen dem 199  Siehe zur normübergreifenden Abwägung: Reimer, Juristische Methodenlehre, 2020, Rn.  537 ff. 200  Reimer, Juristische Methodenlehre, 2020, Rn. 537.  201  In der Theorie bleibt die Konstellation denkbar, dass auch eine normübergreifende Abwägung die Kollision nicht aufzulösen vermag. Ist dies festzustellen, gelangt man zur Perplexität der kollidierenden Normen und damit zu ihrer Nichtigkeit. So sehr überzeugend: Reimer, Juristische Methodenlehre, 2020, Rn. 686. 202  Siehe dazu: Haase, JA 2005, 232, 233. 203  Näher zur Zielsetzung der Rechtsvergleichung: Kischel, Rechtsvergleichung, 2019, § 2 Rn. 1 ff.

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

inländischen Gesetzgeber zugänglich macht.204 Auf diese Weise wird es der rechtssetzenden Gewalt ermöglicht, Lösungsansätze anderer Rechtskreise zu übernehmen und im deutschen Recht zu implementieren, wenn sie sich ohne Friktionen in die nationale Rechtsordnung einfügen. Die Rechtsvergleichung schließt selbst indes keine Lücken, sondern bietet Anregungen zur Lösung bestimmter Problemstellungen durch den Gesetzgeber.205 Greift er sie auf, können die Erkenntnisse einer rechtsvergleichenden Analyse damit aber mittelbar bei Auslegung und Fortbildung Bedeutung erlangen, soweit sie die legislative Wertentscheidung beeinflusst haben. Eine Lückenschließfunktion kommt der Disziplin der Rechtsvergleichung unmittelbar hingegen nicht zu. ff) Ökonomische Analyse des Rechts Ähnliches gilt für die ökonomische Analyse des Rechts,206 die sich im Gegensatz zur Rechtsvergleichung nicht an fremden Rechtsordnungen orientiert, sondern um einen Erkenntnistransfer aus der Wirtschaftswissenschaft bemüht ist.207 Im Sinne einer „ökonomischen Effizienzjurisprudenz“ setzt sie sich zum Ziel, die Rechtsordnung mithilfe von Kosten-Nutzen-Analysen so zu optimieren, dass ihre Regelungen effizient sind und die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt erhöhen.208 Insoweit ist auch sie von besonderer Bedeutung für die rechtspolitische Optimierung der Rechtsordnung,209 da mit ihr ermittelt werden kann, wie gesetzliche Regelungen ausgestaltet sein müssen, um Anreize für effizientes Handeln zu setzen und rechtswidrigen Verhaltensweisen vorzubeugen.210 Eine Optimierung am Effizienzkriterium stößt jedoch 204  Zur Bedeutung der Rechtsvergleichung für die Gesetzgebung: Haase, JA 2005, 232, 233; Kischel, Rechtsvergleichung, 2019, § 2 Rn. 22 ff. 205  Hierzu: Kischel, Rechtsvergleichung, 2019, § 2 Rn. 78, wonach es bei der Rechtsvergleichung im Allgemeinen und sogar bei der „rechtsvergleichenden Auslegung [im Besonderen] […] um Hilfestellungen [gehe und] […] nicht um eine Internationalisierung im Sinne einer Harmonisierung um jeden Preis. Im Gegenteil ist gerade aus rechtsvergleichender Sicht die Erhaltung der jeweils eigenen Rechtskultur und damit auch der eigenständigen Lösungen und Lösungswege der verschiedenen Rechtsordnungen ein hoher Wert.“; in der Folge sieht auch Kischel nur in Ausnahmefällen einen Anwendungsbereich für eine rechtsvergleichende Auslegung; ebenfalls dazu: Kischel, Rechtsvergleichung, 2019, § 2 Rn. 78. 206  Zur Entwicklung der ökonomischen Analyse des Rechts: Schwintowski, JZ 1998, 581, 581 ff. 207  Zur Ausrichtung an den Erkenntnissen der Wohlfahrtsökonomie: Baumann, RNotZ 2007, 297, 298; Scheufen, Angewandte Mikroökonomie und Wirtschaftspolitik, 2020, S. 21 ff. 208  Zum Begriff und zu dieser Zielsetzung: Baumann, RNotZ 2007, 297, 298. 209  Näher zur rechtspolitischen Bedeutung: Taupitz, AcP 196 (1996), 114, 122 ff. 210  Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 5 Rn. 122; ferner zur Anreizwirkung: Scheufen, Angewandte Mikroökonomie und Wirtschaftspolitik, 2020, S. 2 f.



A. Die Grundannahmen zur Rechtsfortbildung63

anerkanntermaßen211 an Grenzen, weil eine hieran orientierte Ressourcenverteilung weder gesellschaftlichen Wertvorstellungen entsprechen noch gerecht sein muss.212 Infolgedessen ist der demokratisch legitimierte Gesetzgeber dazu berufen, die Wertentscheidungen des Grundgesetzes umzusetzen213 und bei der Rechtssetzung verfassungskonforme Antworten auf diese Fragen zu finden. Hat er sich im Zuge dessen wie typischerweise im Haftungs-,214 Kartell- oder Kapitalmarktrecht215 von ökonomischen Überlegungen leiten lassen, ist diese legislative Wertentscheidung bei der Auslegung und Fortbildung zu berücksichtigen. Insoweit können die Erkenntnisse einer ökonomischen Analyse zwar die Wertung einer Norm beeinflussen, Gesetzeslücken aber nicht selbst schließen. gg) Weitere Scheinformen Neben den erörterten Verfahren werden den „Rechtsfortbildungsformen“ noch weitere Instrumente zugerechnet. Auch bei ihnen zeigt eine genaue Untersuchung indes, dass sie lediglich Scheinformen darstellen, da sie nicht geeignet sind, die für eine Fortbildung charakteristische Lückenschließungsfunktion zu erfüllen. (1) Leerformeln Das gilt zunächst für die Natur der Sache,216 die nach Larenz herangezogen werden kann, um Gesetzeslücken zu schließen.217 Besonders schwierig 211  Statt aller: Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 2012, S. XXXIX, wonach „es wichtig [sei], anzuerkennen, dass die Regeln eines wünschenswerten menschlichen Zusammenlebens sich nicht ausschließlich am Effi­ zienzziel orientieren können.“ 212  Zu dieser Kritik: Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 5 Rn. 130; ferner zu den Grenzen der ökonomischen Analyse: Fezer, JZ 1986, 817, 821 ff.; insoweit differenzierter: Kirchgässner, JZ 1991, 104, 110 ff. 213  Siehe dazu: Lindner, JZ 2008, 957, 963; Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 5 Rn. 130. 214  Zu den Durchbrechungen der Effizienzorientierung im Haftungsrecht: Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 5 Rn. 131. 215  Zur Effizienz als Maßstab im Kapitalmarktrecht: Möllers, AcP 208 (2008), 1, 35, wonach sich „der Gesetzgeber im Kapitalmarktrecht ausdrücklich auf die Funk­ tionsfähigkeit der Märkte beruft“. 216  Eine weitverbreitete Definition stammt von Dernburg, System des Römischen Rechts: Der Pandekten, Erster Teil, 1911, S. 64: „Die Lebensverhältnisse tragen, wenn auch mehr oder weniger entwickelt, ihr Maß und ihre Ordnung in sich. Diese den Dingen innewohnende Ordnung nennt man Natur der Sache. Auf sie muß der

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

gestaltet sich schon, wie die Natur der Sache218 als Begriffshülse mit Inhalt zu füllen ist. Zu diesem Punkt bemerkt selbst Larenz, dass über den Ausdruck „außerordentlich viel geschrieben worden [sei], ohne daß über ihn bisher ein allgemeines Einverständnis erzielt oder eine klare Begrenzung gewonnen wäre.“219 Dieser Befund ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die „Natur“ immer nur mit Blick auf das konkrete Bezugsobjekt, nicht aber von ihm losgelöst bestimmt werden kann. Existiert die Natur der Sache aber nur als „Natur der konkret zu betrachtenden Sache“, kann ihr Inhalt so vielgestaltig sein wie ihre Bezugsobjekte. Tatsächlich wurzelt der Erkenntnisgewinn nicht in der „Natur“, sondern in einer Analyse der „Sache“.220 Erst sie bringt die tragenden Gründe hervor. Werden sie offengelegt, ist die Berufung auf die Natur der Sache obsolet.221 Werden sie unterschlagen, bleibt die Natur der Sache als inhaltsleere Hülse zurück, die für sich kein zulässiges Argument222 begründet. Doch selbst wenn man zur gegenteiligen Überzeugung gelangen würde, könnte die Natur der Sache nur denkende Jurist zurückgehen, wenn es an einer positiven Norm fehlt, oder wenn dieselbe unvollständig oder unklar ist.“ 217  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 417 ff. und S. 401: „[…] dagegen ist die Frage, wie die Lücke auszufüllen ist, sei es durch Analogie, eine teleologische Extension, den Rückgriff auf ein Prinzip oder die Natur der Sache, noch offen.“ [Hervorhebung v. Verf.]; ebenso: Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 221. 218  Siehe zum Phänomen „Natur der Sache“: Baumgarten, Die Wissenschaft vom Recht und ihre Methode, 1920, S. 301 ff.; Stratenwerth, Das rechtstheoretische Pro­ blem der „Natur der Sache“, 1957, S. 6  ff.; Fechner, Rechtsphilosophie, 1962, S.  146 ff.; Ballweg, Zu einer Lehre von der Natur der Sache, 1963, S. 7 ff.; Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, 1964, S. 106 ff.; Müller, Normstruktur und Normativität, 1966, S. 94 ff.; Sprenger, Naturrecht und Natur der Sache, 1976, S. 63 ff.; Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache“, 1982, S. 44 ff.; Radbruch, in: Hernmarck (Hrsg.), Festschrift Laun, 1948, S. 157 ff.; Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1993, S.  181 ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 417 ff.; ­Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 236 ff.; Schwacke, ­Juristische Methodik, 2011, S. 145; Zippelius, Rechtsphilosophie, 2011, S. 37 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2011, S. 51 ff. und S. 459 ff.; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band I, 2013, Rn. 32 und 123 ff. 219  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 417; ebenso: Larenz/ Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 236. 220  Ähnlich: Schmidt, Richterliche Rechtsfortbildung in Deutschland und der Schweiz, 2017, S. 73. 221  So zutreffend für das „Wesensargument“: Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 73, die die „Natur der Sache“ aber als „besondere Version des Wesensarguments“ verstehen. 222  Zur „Natur der Sache“ als Scheinargument: Fechner, Rechtsphilosophie, 1962, S. 147, der die „Natur der Sache“ zutreffend wie plakativ als „Zauberformel“ bezeichnet; Dreier, Zum Begriff der „Natur der Sache“, 1965, S. 1 ff. und 83 ff.; Schmidt, Richterliche Rechtsfortbildung in Deutschland und der Schweiz, 2017, S. 73.



A. Die Grundannahmen zur Rechtsfortbildung65

Begründungsmuster für die Rechtsfortbildung sein, weil sie nicht die Fähigkeit besitzt, eine Gesetzeslücke zu schließen. In gleicher Weise ist für ähnliche Leerformeln zu entscheiden. Zu nennen sind das Wesen,223 die Rechtsidee,224 rechtsethische Prinzipien225 oder oberste Verfassungsgrundsätze.226 Wie bei einem isolierten Rückgriff auf die Natur der Sache werden durch ihre Verwendung die wahren Gründe verschleiert und durch Formeln ersetzt.227 Es ist daher so nachvollziehbar wie überzeugend, sie mit Scheuerle als „Kryptoargumente“228 zu bezeichnen. Auch ihr Bedeutungsinhalt kann erst durch eine kritische Auseinandersetzung mit ihrem Bezugsobjekt ermittelt werden. Geschieht dies, ist es gleichgültig, ob man das Ergebnis „Natur“ oder „Wesen“ nennt. Wird auf eine Analyse des Gegenstands verzichtet oder werden die Ergebnisse nicht transparent dargelegt, enthält der abstrakte Bezug auf die Natur oder das Wesen der Sache selbst keine Aussage, sondern vernebelt, dass eine Begründung nicht existiert.229 Identisches gilt für die Rechtsidee, rechtsethische Prinzipien oder oberste Verfassungsgrundsätze. Können sie aus den Vorschriften des gleichrangigen oder höherrangigen Rechts abgeleitet werden, sind sie Bestandteil des Normzwecks230 und schon deshalb zu beachten. Finden sie in den einschlägigen Regelungskomplexen keinen Ausdruck, müssen sie für die Rechtsanwendung richtigerweise unberücksichtigt bleiben.

223  Meist zeigt sich das „Wesensargument“ als „Wesen eines Rechtsinstituts“, als „Wesen einer Sache“ oder als „Wesen einer Einrichtung“; eingehend zum Wesens­ argument im juristischen Begründen: Scheuerle, AcP 163 (1964), 429, 430 ff. 224  Engisch, Einführung in das juristische Denken, 2018, S. 243: „magische Kraft des Zauberbesens Rechtsidee“; zur Rechtsidee als Leerformel: Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 916. 225  Siehe zur Rechtsfortbildung mit Rücksicht auf ein rechtsethische Prinzipien: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 421 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 240 ff.; Schwacke, Juristische Methodik, 2011, S. 145. 226  Schwacke, Juristische Methodik, 2011, S. 145. 227  Zu Recht kritisch insoweit: Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 914. 228  Scheuerle, AcP 163 (1964), 429, 430; zustimmend: Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 73. 229  Schmidt, Richterliche Rechtsfortbildung in Deutschland und der Schweiz, 2017, S. 385. 230  Die Begriffe „Normzweck“, „Wertung“, „ratio legis“ und „Wertentscheidung“ werden in dieser Arbeit synonym verwendet. Es sei jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Verwendung dieser Begrifflichkeiten an dieser Stelle noch keine Stellungnahme zu der Frage enthält, ob der Wille des Gesetzgebers oder der Wille des Gesetzes hierunter zu fassen ist. Siehe für einen Überblick zum Streitstand: Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers, 2017, S. 80 ff.

66

Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

Neben ihrer Untauglichkeit als Argumente231 im Allgemeinen sind die genannten Leerformeln aber auch im Besonderen nicht geeignet, eine Modifikation des Wortlauts zu bewirken. Das gilt selbst dann, wenn sie nicht nur als substanzlose Scheinbegründungen zum Einsatz kommen, sondern die dahinterstehenden Argumente offengelegt werden. Wiederum sind sie nur Teil der gesetzlichen Wertung, die allein die Zielvorgabe enthält. Während eine Rechtsfortbildungsform die Normtextanpassung bewerkstelligen kann, sind sie nur Begründung hierfür. (2) Bedürfnisse des Rechtsverkehrs Zuletzt wird eine Rechtsfortbildung mit Rücksicht auf besondere Bedürfnisse des Rechtsverkehrs für möglich erachtet.232 Larenz verweist hierzu auf die spruchrichterliche Entwicklung zahlreicher Rechtsinstitute wie die Sicherungsübereignung, die Einziehungsermächtigung und das Anwartschaftsrecht.233 Ihre Entstehung beruhe zwar nicht auf einer Rechtsfortbildung contra legem, könne aber auch nicht aus dem Gesetz erklärt werden.234 Ihre „Zulassung und der weitere Ausbau dieser Rechtsinstitute [sei] durch den „Plan“ des Gesetzes keineswegs gefordert, [weshalb] das Fehlen einer entsprechenden Regelung […] auch keine Gesetzeslücke“235 darstelle. Die Anerkennung einer „bedürfnislegitimierten“ Rechtsfortbildung ist jedoch bereits für sich genommen bedenklich. Fraglich ist, wie die Fortbildung des Rechts gerechtfertigt sein kann, wenn eine Gesetzeslücke nicht besteht. Wer diese ablehnt, akzeptiert die Lückenlosigkeit der anzuwendenden Normen. In einem lückenfreien Regelungskomplex ist für eine legitime Fortbildung des Rechts aber kein Raum. Daher wäre das Problem nur in zwei Richtungen zu lösen. Zum einen könnte die Rechtsfortbildung in einem solchen Fall grundsätzlich untersagt werden. Zum anderen wäre denkbar, zu eruieren, ob die Bedürfnisse des Rechtsverkehrs mittelbar etwa durch die Grundrechte der beteiligten Rechtssubjekte berücksichtigt werden könnten. Nur soweit man der zweiten Möglichkeit 231  Zum

430 ff.

Wesensargument als Kryptoargument: Scheuerle, AcP 163 (1964), 429,

232  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 414 ff.; ebenso: Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 233 ff.; zustimmend: Schwacke, Juristische Methodik, 2011, S. 145. 233  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 414; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 233. 234  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 414; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 233. 235  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 414.



A. Die Grundannahmen zur Rechtsfortbildung67

folgt, lässt sich Larenz’ Aussage verstehen. Inwieweit hierfür Anhaltspunkte im Gesetz zu finden sind, muss Gegenstand der Untersuchung sein, ehe eine Rechtsfortbildung erfolgen kann. Hierzu ist zu prüfen, welche Bestandteile der Rechtsordnung in der Lage sind, einen Anknüpfungspunkt zu bilden und was zu fordern ist, um eine legitime Fortbildung zu rechtfertigen. Die aufgeworfenen Probleme betreffen aber bereits die Art und Weise, wie die Bedürfnisse des Rechtsverkehrs eine Rechtsfortbildung im Einzelfall rechtfertigen können. An dieser Stelle muss jedoch nur entschieden werden, ob die Bedürfnisse des Rechtsverkehrs geeignet sind, selbst als Fortbildungsmechanismen zu wirken. Das ist zu verneinen. Auch wenn nicht bestritten werden soll, dass der Rechtsverkehr in vielerlei Hinsicht Erfordernisse erkennen lässt und ein Tätigwerden der Staatsgewalt provoziert, ist hiermit noch nicht geklärt, ob schon die Judikative oder erst die Legislative diesen Missstand beheben und einem Bedürfnis entsprechen kann. Ist das Gericht hierzu ausnahmsweise berufen, kann dies aber nur auf Grundlage einer gesetzlichen Wertung erfolgen, die eine rechtsfortbildende Anpassung der Rechtsordnung an die Erfordernisse des Rechtsverkehrs gestattet. Sie selbst sind aber weder die unmittelbare Legitimationsgrundlage noch ein Mittel, welches die Fortbildung des Rechts herbeiführen kann, da sie nicht fähig sind, einen von der ratio legis abweichenden Wortlaut an sie anzugleichen. 2. Rechtsfortbildungsinstrumente in der Gesamtbetrachtung Nachdem erarbeitet ist, dass Analogie, teleologische Extension und Reduktion die einzigen echten Formen der Rechtsfortbildung darstellen, müssen sie im Folgenden systematisiert werden.236 Dies ist vonnöten, um die im Methodenschrifttum vertretenen Ansätze zu ordnen und so Erkenntnisse für diese Arbeit ableiten zu können. a) Einteilung nach der Entfernung von Wortlaut und Wertung Ein klassisches Konzept, das entscheidend von Larenz beeinflusst wurde, unterteilt die Rechtsfortbildung in eine gesetzesimmanente und eine gesetzes­ übersteigende Variante.237 Weil Larenz und Canaris die Grenzlinie von Ausbereits: Meier/Jocham, JuS 2016, 392, 394 f. Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 366 ff.; vereinzelt wird zwischen einer Rechtsfortbildung „intra legem“, „praeter legem“ und „contra legem“ unterschieden. Siehe hierzu: Schneider, Richterrecht, Gesetzesrecht und Verfassungsrecht, 1969, S. 16 f. 236  Hierzu

237  Larenz,

68

Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

legung und Fortbildung im möglichen Wortsinn erblicken,238 beruht ihre Systematisierung auf dem Kriterium, wie weit sich die ausschlaggebende Wertung vom Wortlaut entfernt. In ihrer gesetzesimmanenten Form überschreite die Rechtsfortbildung die Grenze des möglichen Wortlauts, bleibe „aber noch im Rahmen des ursprünglichen Plans, der Teleologie des Gesetzes selbst.“239 Ihre Funktion sei somit die Füllung von Gesetzeslücken im engeren Sinne.240 Bewirkt werden könne das durch die Analogie, die teleologische Reduktion und Extension, aber auch durch die „Entscheidung auf Grund eines im Wege der Verallgemeinerung einer Regel gefundenen Prinzips“.241 Im letzten Punkt zeigt sich eine erste Abweichung vom hier vertretenen Methodenkonzept. Denn wie gezeigt ist die Fortbildung unter Rückgriff auf ein allgemeines Prinzip nicht als Kategorie der Rechtsfortbildung anzuerkennen. Wird das Prinzip aus einer konkreten Bestimmung abgeleitet, ist es Bestandteil ihrer ratio legis. Maßgeblich ist dann aber nicht das allgemeine Prinzip, sondern die konkrete Wertung der Vorschrift, die die betroffene Maxime in sich trägt. Findet dieses keinen konkreten Anhaltspunkt in den gesetzlichen Wertungen, kann ein darauf gestützter Fortbildungsakt niemals zulässig sein. Möchte man die Kategorie der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung aufrechterhalten, dürften zu ihr nur die Analogie, die teleologische Extension und Reduktion gezählt werden. Noch weiter geht nach Larenz und Canaris die Rechtsfortbildung in ihrer gesetzesübersteigenden Form.242 Sie entferne sich sogar vom ursprünglichen

238  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 366; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 187. 239  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 366; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 187. 240  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 370; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 191. 241  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 397; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 216. Die Autoren nennen überdies die „Güterabwägung im Einzelfall“ als „Methode der Rechtsfortbildung, weil sie dazu dient, Normkollisionen, für die es an einer ausdrücklichen Regel im Gesetz fehlt, zu lösen, die sich überschneidenden Anwendungsbereiche von Normen gegeneinander abzugrenzen und dadurch Rechte, deren Umfang wie der des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, offen geblieben ist, zu konkretisieren.“ So explizit: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 413; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 232. Wie gezeigt kann die Anerkennung einer „Güterabwägung im Einzelfall“ als Rechtsfortbildungsinstrument nicht überzeugen. Sie kann stets nur Vorfrage der Fortbildung sein, diese aber niemals selbst bewirken. 242  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 366; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 187.



A. Die Grundannahmen zur Rechtsfortbildung69

Plan, also der Teleologie des Gesetzes selbst,243 bleibe „aber innerhalb des Rahmens und der leitenden Prinzipien der Gesamtrechtsordnung“.244 Anders als die gesetzesimmanente orientiere sie „sich [also] nicht mehr allein an der ratio legis […], sondern an einem darüber hinausgreifenden Rechtsgedan­ ken.“245 Selbst wenn wie „in der Regel noch gewisse Anhaltspunkte im Gesetz gefunden werden können, so geh[e] sie doch über den Rahmen einer bloßen Lückenfüllung hinaus.“246 Obwohl die „methodischen Hilfsmittel der Gesetzesauslegung und der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung“ damit an ihre Grenzen stoßen, bedürfe auch „eine derartige Rechtsfortbildung der Begründung mit rechtlichen Erwägungen“.247 Ein Rückgriff auf unabweisbare Bedürfnisse des Rechtsverkehrs,248 die Natur der Sache249 oder rechtsethische Prinzipien250 ist für Larenz und Canaris aber ausreichend, um eine Rechtsfortbildung zu rechtfertigen. Ein solches Verständnis ist mit dem hier vertretenen Methodenkonzept unvereinbar. Wie dargelegt wurde, kann ein Bedürfnis des Rechtsverkehrs an sich nicht genügen, um eine Fortbildung zu tragen. Unverzichtbar ist vielmehr ein Anhalt in den gesetzlichen Wertungen, die ein solches Vorgehen rechtfertigen können. Das Gleiche gilt für die Natur der Sache und die Berücksichtigung rechtsethischer Prinzipien. Auch sie sind nur befähigt, eine Fortbildung zu gestatten, wenn sie sich als Bestandteil der ratio legis äußern. Von ihr losgelöst verfügen sie über keinerlei Legitimationskraft. Infolgedessen kann an der Kategorie der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung nur

243  So zur gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 366; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 187. 244  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 366; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 187. 245  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 414; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 232. 246  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 413; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 232. 247  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 414; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 232 f. 248  Siehe zur Rechtsfortbildung mit Rücksicht auf die Bedürfnisse des Rechtsverkehrs: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 414; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 233. 249  Zur Rechtsfortbildung mit Rücksicht auf die Natur der Sache: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 417; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 236. 250  Zur Rechtsfortbildung mit Rücksicht auf ein rechtsethisches Prinzip: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 421; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 240.

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

festgehalten werden, wenn die „rechtlichen Erwägungen“251 aus konkreten Normen ableitbar sind. Auch wenn es somit theoretisch möglich erscheint, die Trennung in eine gesetzesimmanente und eine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung aufrechtzuerhalten, sollte auf sie verzichtet werden. Zum einen ist bereits die Bezeichnung als „gesetzesimmanent“ oder als „gesetzesübersteigend“ missverständlich, weil nicht eindeutig ist, welches „Gesetz“ hier namensgebend ist. Zwar legt die Differenzierung nahe, dass die fortzubildende Einzelnorm angesprochen ist, doch ist dies keinesfalls zwingend. Denn auch für Larenz und Canaris ist es bei der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung sogar die Regel, dass „gewisse Anhaltspunkte im Gesetz gefunden werden können“.252 Dies kann aber dazu führen, dass ein Gesetz dadurch „überstiegen“ wird, dass der Inhalt eines anderen Gesetzes, etwa einer Verfassungsnorm, für maßgeblich erklärt wird. Aus diesem Grund ist das Begriffspaar bereits in terminologischer Hinsicht bestenfalls unglücklich. Zum anderen ist die Unterscheidung in der Sache nicht unproblematisch. Denn eine Einzelnorm ist auch253 für die Zwecke ihrer Fortbildung stets in ihrem Gesamtkontext zu betrachten. So erschließt sich der Normzweck der anzuwendenden Vorschrift oftmals erst unter Berücksichtigung ihrer systematischen Stellung im Gesetz. Kann die ratio legis der betroffenen Bestimmung damit aber nur ermittelt werden, wenn ihr Verhältnis zu anderen Wertungen der Gesamtrechtsordnung betrachtet wird, stellt sich auch in sach­ licher Hinsicht die Frage, ob dies noch als gesetzesimmanent bezeichnet werden kann.254 Aus den genannten Gründen wird dem missverständlichen Dualismus von gesetzesimmanenter und gesetzesübersteigender Rechtsfortbildung im weiteren Verlauf der Studie nicht gefolgt.

251  Siehe zu diesem Oberbegriff für die genannten Kriterien: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 414; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 233. 252  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 413; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 232 [Hervorhebung v. Verf.]. 253  Die Berücksichtigung der Systematik ist nicht nur bei der Fortbildung, sondern auch bei der Auslegung des Rechts höchst relevant. Vertiefend zur systematischen Auslegung: Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 141 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2011, S. 442 ff.; Schwacke, Juristische Methodik, 2011, S. 93 ff. 254  Zu dieser Kritik bereits: Meier/Jocham, JuS 2016, 392, 394.



A. Die Grundannahmen zur Rechtsfortbildung71

b) Einteilung nach dem Rangverhältnis der Wertungen Das eben angedeutete Zusammenspiel der Gesetzeswertungen ist eine der größten Herausforderungen bei der Fortbildung des Rechts. Denn erst wenn ermittelt ist, welche Wertung maßgeblich ist, kann der Sinn und Zweck bestimmt und festgestellt werden, ob eine Abweichung von Wortlaut und ratio legis vorliegt, die im Wege der Rechtsfortbildung geschlossen werden muss. Für ein Auseinanderfallen kann dabei bereits die Wertung der Einzelnorm sprechen. Ebenso ist denkbar, dass Text und Zweck einer Norm auf den ersten Blick übereinstimmen und erst auf den zweiten der Einfluss einer gleich- oder höherrangigen Wertung erkennbar wird, der eine Abweichung begründet. Obwohl es dem weiteren Verlauf der Untersuchung vorbehalten ist, zu zeigen, wie derartige Normzweckkonflikte für die Fortbildung des Rechts zu harmonisieren sind, kann schon hier festgehalten werden, dass Rechtsfortbildungsmechanismen nach dem Verhältnis der anzuwendenden Wertungen systematisiert werden können. Zu unterscheiden wäre danach eine Rechtsfortbildung in horizontalen und eine in vertikalen Normkomplexen. Die erste Kategorie umschließt die Konstellationen, in denen – wie im Privatrecht gewöhnlich – die Wertung der Einzelnorm oder eine gleichrangige Wertung die maßgebliche Zielvorgabe formuliert. Insoweit kann von einer Rechtsfortbildung gesprochen werden, die sich allein im horizontalen Normkomplex bewegt. Für die zweite Kategorie ist eine Wertung des höherrangigen Rechts entscheidend. Das betrifft alle Fälle, in denen die Verfassungs- oder Unionsrechtskonformität nur durch die Fortbildung des einfachen Gesetzesrechts erreicht werden kann. Ein berühmtes Beispiel für die verfassungskonforme Rechtsfortbildung findet sich in der Soraya-Entscheidung des BVerfG.255 Dort billigte der Erste Senat eine Fortbildung durch den BGH, in der Letzterer einen Ersatz in Geld für die Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zugesprochen hatte,256 obwohl das Rechtsgut nicht in § 253 BGB a. F. aufgezählt war. Ungeachtet der methodischen Konstruktion lässt sich feststellen, dass die Rechtsfortbildung wegen der höherrangigen Wertung der Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG geboten war.257 Als ähnlich bedeutsam erweist sich das Urteil des BGH vom 21.12.2011, in dem der VIII. Senat im Anschluss an die Entscheidung des EuGH258 die Bestimmung 255  BVerfG, Beschl. v. 14. 02. 1973 – 1 BvR 112/65 – Soraya, BVerfGE 34, 269, passim. 256  BGH, Urt. v. 08. 12. 1964 – VI ZR 201/63, NJW 1965, 685, passim. 257  Zur Entscheidung: BVerfG, Beschl. v. 14. 02. 1973 – 1 BvR 112/65 – Soraya, BVerfGE 34, 269, 292. 258  EuGH, Urt. v. 16. 06. 2011 – verb. Rs. C‑65/09 und C‑87/09 – Gebr. Weber/ Wittmer und Putz/Medianess Electronics, ECLI:EU:C:2011:396; im Ergebnis befür-

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

des § 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB a. F.259 wegen Art. 3 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie260 dahingehend anzupassen hatte, dass die Nacherfüllungsvariante „Lieferung einer mangelfreien Sache“ auch den kostenfreien Ausbau und Abtransport der eingebauten mangelhaften Sache erfasst. Obgleich der Senat dies in seiner Entscheidung als richtlinienkonforme Auslegung bezeichnete, handelte es sich in Wahrheit um eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung zu § 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB a. F., weil der Wortlaut der Vorschrift insoweit überschritten war.261 Weil die Fortbildung des nationalen Rechts auch hier durch eine höherrangige Wertung veranlasst war, lässt sich von einer Rechtsfortbildung im vertikalen Normenkomplex sprechen. c) Einteilung nach der Art ihrer Wirkung Darüber hinaus können die Fortbildungsinstrumente auch nach der Art ihrer Wirkungskraft systematisiert werden. Denkbar sind zwei Kategorien: Auf der einen Seite stehen die Mechanismen, die das Recht erweitern und auf der anderen jene, die das Recht beschränken. Die Einteilung nach ihrer Wirkung gleicht in der Sache einer Systematisierung, die sich an der Art der Lücke orientiert.262 Ist der Wortlaut enger als die ratio legis, zeigt sich eine offene Lücke,263 die nur durch einen Fortbildungsakt geschlossen werden kann, der eine normtexterweiternde Wirkung erzeugt. Hierzu zählen die Analogie und die teleologische Extension. Ist der Wortlaut demgegenüber weiter als die

wortend: Bien, ZEuP 2012, 644, 663; Tröger, AcP 212 (2012), 296, 332; Wagner, ZEuP 2016, 87, 114 f.; kritisch: Förster, ZIP 2011, 1493, 1500; Kaiser, JZ 2011, 978, 988; Lorenz, NJW 2011, 2241, 2245; Maultzsch, GPR 2011, 253, 259; siehe zur ­weiteren Entwicklung: Oetker/Maultzsch, Vertragliche Schuldverhältnisse, 2018, § 2 Rn. 195. 259  Der Privatrechtsgesetzgeber nahm diese Entscheidung zum Anlass, für die EuGH-Fallkonstellation mit Wirkung zum 01. 01. 2018 in § 439 Abs. 3 BGB n. F. einen Aufwendungsersatz des Käufers zu kodifizieren; siehe hierzu: Oetker/Maultzsch, Vertragliche Schuldverhältnisse, 2018, § 2 Rn. 195. 260  Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Mai 1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter („Verbrauchsgüterkaufrichtlinie“), ABl. EG v. 07. 07. 1999, L 171, S.  12 ff. 261  Statt aller: Herresthal, JuS 2014, 289, 295. 262  Siehe dazu bereits: Meier/Jocham, JuS 2016, 392, 394 f.; außerdem: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 381  ff. für offene Lücken und S.  391 ff.; ebenso: Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S.  202 ff. bzw. S.  210 ff. 263  Zur offenen Lücke: Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, 1951, S. 62; Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band III, 1976, S. 720; Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S. 136.



A. Die Grundannahmen zur Rechtsfortbildung73

ratio legis, spricht man von einer verdeckten Lücke,264 die eine rechtsfortbildende Normtextverengung erfordert. Das wird mit der teleologischen Reduktion bewirkt, die den zu weiten Text auf den Zweck zurückführt. d) Einteilung nach Wortlautdefizit in Tatbestand oder Rechtsfolge Da sich die rechtsfortbildende Tätigkeit der Gerichte in der Ausfüllung von Gesetzeslücken erschöpft, ist eine Systematisierung nach der Art der Wirkung in anwendungsbezogener Hinsicht sachdienlich. Diese Einteilung beschreibt indes nur, welche  Wirkung erzeugt wird, nicht aber, welcher Normtextbestandteil mit der Fortbildung angepasst werden muss. Infolgedessen erscheint es überdies förderlich, innerhalb dieser Kategorie danach zu differenzieren, ob der Normtext im Tatbestand oder in der Rechtsfolge erweitert oder beschränkt wird. Folgt man diesem Gedanken, können jeweils die teleologische Extension und Reduktion auf Tatbestands- und auf Rechtsfolgenseite unterschieden werden.265 Während die Unterteilung bei der teleologischen Reduktion bislang unüblich ist und allenfalls der Übersichtlichkeit dient, werden die teleologische Extension im Tatbestand (Analogie) und in der Rechtsfolge sprachlich strikt getrennt.266 Grund hierfür ist wohl das deutlich höhere Alter der Analogie,267 die sich lange vor Entwicklung der teleologischen Extension terminologisch durchgesetzt hat.268

264  Zum Begriff der verdeckten Lücke: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 377; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 198; Schwacke, Juristische Methodik, 2011, S. 128. 265  Ausführlich zur Anwendung dieser Instrumente unter: Dritter Teil. 266  Statt aller zur Unterscheidung von Analogie und teleologischer Extension: Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 904, die die teleologische Extension als Spezialfall der Analogie bezeichnen; für den Aliud-Charakter beider Instrumente: Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S. 89 f.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 397; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 216; gegen die Differenzierung hingegen: Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2011, S. 475, der es als „unnötig“ empfindet, „von der Analogie eine teleologische Extension zu unterscheiden.“ 267  Zum Analogiegedanken im römischen Recht: Raisch, Juristische Methoden, 1995, S.  11 f. 268  Ähnlich für die teleologische Reduktion: Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 1999, Rn. 493, was aber in gleicher Weise für die teleologische Extension gilt.

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

3. Rechtsfortbildungsinstrumente im Überblick Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass für die Fortbildung des Rechts zahlreiche denkbare Verfahren behauptet werden, von denen die meisten allerdings ungeeignet sind, die Lückenfunktion auszuüben. Das führt dazu, dass prominente vermeintliche Rechtsfortbildungsformen wie der Erstrecht-Schluss in Wahrheit die notwendige rechtserweiternde oder rechtsbeschränkende Wirkung eines Fortbildungsinstruments nicht aufweisen. Sie können allenfalls als Begründungsmuster eingesetzt werden, wobei ihre Anwendung oftmals nicht auf die Fortbildung beschränkt ist, sondern gleichermaßen ein Auslegungsergebnis stützen kann. Als echte Formen der Rechtsfortbildung verbleiben damit nur die Analogie, die teleologische Extension und Reduktion. Um sie nach ihrer Funktion anwendungsspezifisch einzuteilen, empfiehlt sich eine Systematisierung nach der Art der Wirkung und innerhalb dieser Kategorie nach der Verortung des Wortlautdefizits. Ist der Wortlaut im Tatbestand zu erweitern, kann dies mit der Analogie bewirkt werden, die so als teleologische Extension auf Tat­ bestandsseite beschrieben werden könnte. Ist der Wortlaut in der Rechtsfolge zu eng, ist die teleologische Extension das taugliche Instrument, um zur Verwirklichung der ratio legis eine neue Rechtsfolge zu schaffen. Erweist sich der Wortlaut im Tatbestand oder in der Rechtsfolge als zu weit, ist er durch eine teleologische Reduktion auf die engere ratio legis zu kürzen.

B. Die Grundannahmen zu den Grenzen der Rechtsfortbildung Nachdem Begriff und Formen der Rechtsfortbildung geklärt wurden, muss nun erarbeitet werden, woraus sich ihre Grenzen ergeben können. Hierfür ist das komplexe Verhältnis von Rechtsmethodik und geltendem Recht zu entflechten, um freizulegen, ob die Grenzanalyse auf eine methodische Unter­ suchung beschränkt bleiben muss269 oder ob auf das geltende Recht als Erkenntnisquelle zurückgegriffen werden kann. Im Anschluss ist zu untersuchen, welche Bestandteile der Rechtsordnung überhaupt in der Lage sind, der Rechtsfortbildung Grenzen zu ziehen. Abschließend sind die Kollisions­ 269  So: Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, der bereits in seinem Untertitel „Eine methodologische Studie über Voraussetzungen und Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung praeter legem“ [Hervorhebung v. Verf.] offenlegt, dass er sich bei der Grenzanalyse auf die Methodik beschränkt; unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Perspektive aber: Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 23 ff., der dort insbesondere den Einfluss der Grundrechte auf die Fortbildung des Privatrechts ausführlich darlegt.



B. Die Grundannahmen zu den Grenzen der Rechtsfortbildung 75

mechanismen zu sichten, die nötig sind, um mehrere grenzrelevante Wertungen in ihrem Verhältnis zueinander zu ordnen.

I. Das Zusammenwirken von Rechtsmethodik und Recht Geklärt werden muss zunächst das Verhältnis von Rechtsanwendungslehre und anzuwendendem Recht. Weil die richterliche Rechtsfortbildung traditionell als methodisches Problem270 betrachtet wird, könnte dies zu dem Schluss verleiten, ihre Grenzen isoliert in der Methodik zu suchen.271 Nicht infrage zu stellen ist, dass der Untersuchungsgegenstand in der Methodenlehre wurzelt, wohl aber, ob hieraus zu schließen ist, dass die Lösung nur in einer ­innermethodischen Grenzanalyse entwickelt werden kann. 1. Verfassungsfreie Methodik? Dieser Schluss wäre nur angemessen, wenn die Methodik als reine MetaDisziplin zu verstehen wäre, die vom geltenden Recht losgelöst ist. Bestünde keine Verbindung, dürften die Normen der Rechtsordnung konsequenterweise nicht als Erkenntnisquelle für ein methodisches Problem dienen. a) Ein Begründungsversuch Für eine Trennung kann ins Feld geführt werden, dass die Methodik als Rechtsanwendungslehre die „Meta-Regeln“ definiert, wie die Bestimmungen der Rechtsordnung auf einen konkreten Rechtsstreit zu übertragen sind. Das Verhältnis von Rechtsanwendungslehre und Recht könnte daher so beschrieben werden, dass die Methodenlehre auf einer übergeordneten Ebene die Handlungsanweisungen formuliert, nach denen das anzuwendende Recht auf einer untergeordneten Ebene zu verwirklichen ist. Legt man ein derartiges Modell zugrunde, würde die Methodik zwar die Anwendung der Regelungen des Rechtssystems beeinflussen, sie bliebe aber andersherum von einer Einwirkung der anzuwendenden Normen unberührt. Wäre die Methodenlehre 270  Statt aller und zu Recht: Larenz, NJW 1965, 1, 1, der dies bereits in seiner Überschrift „Richterliche Rechtsfortbildung als methodisches Problem“ zum Ausdruck bringt. 271  So aber: Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 251, der zur Bestimmung der Grenzen des Richterrechts gegenüber dem Gesetzgeber zwei Zugänge erkennt: den über die Methodenlehre und den über das Verfassungsrecht. In Umsetzung dieses Verständnisses sucht Wank die Grenzen des Richterrechts zunächst in der Methodik (S. 17 ff.) und wendet sich sodann dem Verfassungsrecht zu (S. 82 ff.), nachdem er zu dem Ergebnis kommt, dass sich die Methodenlehre „als nur beschränkt geeignet zur Begrenzung des Richterrechts erwiesen“ hat (S. 78).

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

von einem Einfluss des Rechts befreit, könnten sich hieraus keine Grenzen für das methodologische Verfahren der Rechtsfortbildung ergeben. Es wäre in diesem Fall nur konsequent, die Grenzanalyse auf methodische Aspekte zu beschränken. b) Kritik Obwohl dies auf den ersten Blick plausibel erscheint, ist ein Modell getrennter Ebenen nicht mit der Gesetzesbindung aus Art. 20 Abs. 3 GG in Einklang zu bringen. Ist die Judikative an „Gesetz und Recht“ gebunden, können auch die von ihr verwendeten Methoden nicht von dieser Rückanbindung entkoppelt sein. Die Gesetzesbindung ist vielmehr, wie das BVerfG zu Recht betont, „ein tragender Bestandteil des Gewaltenteilungsgrundsatzes und damit der Rechtsstaatlichkeit“,272 der nicht durch eine willkürliche Methodenwahl umgangen werden darf. Um ihre Preisgabe zu verhindern, „muss die Methodenlehre der Rechtsanwendung folglich vorgegeben sein und darf nicht zur Disposition der rechtsanwendenden Gewalten stehen.“273 Insoweit wendet sich Art. 20 Abs. 3 GG also nicht nur gegen eine strikte Trennung, sondern fordert im Gegenteil eine Verflechtung von Rechtsmethodik und Recht.274 Hierfür spricht ferner, dass die Gesetzesbindung nicht nur der Rechtsstaatlichkeit, sondern auch der Demokratie dient, indem sie den Vorrang der parlamentarischen Legislative sichert.275 Wäre der Richter in seinen Methoden frei, könnte er den Willen der demokratischen Mehrheit ignorieren und durch seinen eigenen Willen ersetzen.276 Um dies zu verhindern, sind die Gerichte gem. Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG an die demokratischen Konsenslösungen gebunden. Darf die Judikative deshalb nur in diesem 272  BVerfG,

273  Schenke,

S. 73.

Beschl. v. 14.02.1973 – 1 BvR 112/65 – Soraya, BVerfGE 34, 269, 286. in: Dreier (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes, 2009,

274  Schenke, in: Dreier (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes, 2009, S. 73, der die Existenz von „Methodenverfassungsrecht“ voraussetzt und die Prärogative über Methodenfragen dem Gesetzgeber als Annex zur Normsetzung zuweist; zu Letzterem: Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 400 f. 275  So zutreffend: Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 708. 276  Sehr deutlich: Meyer, in: von Münch/Kunig, GG-Kommentar, Band 2, 2012, Art. 97 GG, Rn. 22, wonach es dem „Richter verboten [ist], zur Herstellung „materieller Gerechtigkeit“, was immer das für ihn heißen mag, auf Kosten seiner Gesetzesbindung zu entscheiden.“; ebenso: Schnapp, in: von Münch/Kunig, GG-Kommentar, Band 1, 2012, Art. 20 GG, Rn. 61, der insbesondere „nicht die Möglichkeit [sieht], subjektivistische Gerechtigkeitsvorstellungen an die Stelle der positivierten Werteordnung des GG treten zu lassen.“; ebenso der Erste Senat des Verfassungsgerichts: BVerfG, Urt. v. 17. 12. 1953 – 1 BvR 323/51, 195/51, 138/52, 283/52, 319/52 – Angestelltenverhältnisse, BVerfGE 3, 162, 182.



B. Die Grundannahmen zu den Grenzen der Rechtsfortbildung 77

Rechtsrahmen entscheiden, müssen sich auch ihre Methoden innerhalb dieser Grenzen halten. Schließlich leiten sie den Entscheidungsprozess, sodass ihre Anwendung ein notwendiges Durchgangsstadium des Richterspruchs darstellt. Muss das Entscheidungsergebnis gesetzeskonform sein, kann für den Weg dorthin nichts anderes gelten. Dass sich die Methodik nicht von der Verfassung lösen kann, belegt überdies Art. 3 Abs. 1 GG, der das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit in sich trägt.277 Dem wird aber nur entsprochen, wenn die Rechtsnormen auch gleichartig vollzogen werden. Letztlich werden vergleichbare Sachverhalte aber nur dann in gleichförmige Urteilssprüche münden, wenn jeder Entscheidungsprozess einheitlichen Methoden folgt. Könnten die Richter ihre Methodik nach Belieben wählen, bliebe die Rechtsanwendungsgleichheit ein unerreichbares Ideal. Die Summe dieser Gründe hat in der Literatur zu der Bestrebung geführt, die Methodik „von ihrem hermeneutischen Kopf auf die verfassungsrechtlichen Füße“278 zu stellen. Ungeachtet dessen, ob die konstitutionalisierte Rechtsanwendungslehre mit Schenke als „konkretisiertes Verfassungsrecht“279 bezeichnet wird, ist jedenfalls festzuhalten, dass methodische Probleme im Wirkungskreis der richterlichen Gesetzesbindung nicht isoliert, sondern nur mit Blick auf die verfassungsrechtlichen Vorgaben zu lösen sind. Die Methodik darf in der Folge nicht als verfassungsneutrale Meta-Disziplin verstanden werden.280 2. Verfassungsorientierte Methodik als Zirkelschluss? Die Annahme einer konstitutionalisierten Methodenlehre281 ist jedoch keineswegs unproblematisch. Berechtigterweise hat Kriele in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass es widersprüchlich erscheint, die Methodenlehre aus der Verfassung zu entwickeln, weil die Vorgaben des Grundgesetzes ihrerseits erst im Wege der Verfassungsinterpretation ermittelt werden 277  Röhl/Röhl,

Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 604. sehr plakativ: Schneider, DÖV 1975, 443, 452; zustimmend: Krey, JZ 1978, 465; Ipsen, DVBl 1984, 1102, 1104; Schenke, in: Dreier (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes, 2009, S. 64; zum verfassungsrechtlichen Bezug von Methodenfragen: Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme, 1997, S. 17; Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 2004, S. 22; Wank, ZGR 1988, 314, 315; Hillgruber, JZ 1996, 118, 118, der bereits in seiner Überschrift „Richterliche Rechtsfortbildung als Verfassungsproblem“ diese Ansicht vermittelt; Röthel, JuS 2001, 424, 426 f.; Rüthers, JZ 2006, 53, 60; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 253 ff.; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 603. 279  Schenke, in: Dreier (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes, 2009, S. 56. 280  Hierzu auch: Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 706. 281  Zum Begriff: Schenke, in: Dreier (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes, 2009, S. 56. 278  So

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

müssten.282 Das legt in der Tat einen Zirkelschluss nahe, wenn der Verfassungsrahmen zunächst durch die methodische Aufbereitung des Grundgesetzes konkretisiert werden muss, bevor er die Entwicklung jener methodischer Verfahren beeinflussen kann, die zuvor eingesetzt wurden, um ebendiese Vorgaben zu identifizieren. Die Extraktion einer verfassungskonformen Methodik aus einer auslegungsbedürftigen, aber methodisch nicht behandelten Verfassung erweist sich insoweit als äußert problematisch. Christensen sieht hierin zu Recht keinen logischen, sondern allenfalls einen hermeneutischen Zirkel, weil man von einem vorkonstitutionellen Vorverständnis ausgehen kann.283 Ebendies betonen auch Röhl und Röhl, die ergänzen, es gebe „schon vor allen methodischen Bemühungen […] ein Alltagsverständnis der Verfassung, das sich mit jedem Durchgang durch den Zirkel des Verstehens verbessern“ lasse.284 Dem ist im Wesentlichen zuzustimmen. Im Gegensatz zu einem logischen ist die Annahme eines hermeneutischen Zirkels unbedenklich, weil er entgegen seiner missverständlichen Bezeichnung nicht an den Ausgangspunkt zurückkehrt, sondern das Verständnis auf eine neue Stufe hebt.285 Metaphorisch beschreibt er also weniger einen horizontalen Kreis, als vielmehr eine Aufwärtsspirale, die das Erkenntnisniveau laufend anhebt. Auch wenn die Metapher als Modell überzeugt, muss doch ihr Ausgangspunkt präzisiert werden. Dieser liegt nicht in einem Alltagsverständnis der Verfassung, sondern in den Methoden, die in der Privatrechtswissenschaft vor 1949 entwickelt wurden286 und älter sind als das Bonner Grundgesetz.287 Die klassischen Auslegungskriterien288 prägten nämlich schon die Rechtsan282  Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 1967, S. 35; zustimmend: Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 3, der den Verweis auf das Grundgesetz insofern als „Münchhausen-Dilemma“ bezeichnet, „als sich die Methode der Verfassungsinterpretation nicht aus dem Grundgesetz selbst ergeben kann.“ 283  Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989, S. 222 spricht von einem „methodisch nicht gesicherten Vorverständnis“; in der Sache zustimmend: Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 603; allgemein zum hermeneutischen Zirkel: Betti, Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften, 1967, S. 219 ff.; Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 20. 284  Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 603. 285  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 206. 286  Badura, Staatsrecht, 2018, S. 23. 287  Das Grundgesetz trat mit Ablauf des Tages der Verkündung, also mit Ablauf des 23. 05. 1949 in Kraft (Art. 145 Abs. 2 GG). Es gilt folglich seit dem 24. 05. 1949; vertiefend zur Entstehungsgeschichte: Badura, Staatsrecht, 2018, S. 28 ff. 288  Statt aller zu den klassischen Auslegungskriterien: Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 141 ff.; Schwacke, Juristische Methodik, 2011, S. 88 ff.; ferner hierzu und zu ihren Hintergründen: Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 4 Rn. 17 ff.



B. Die Grundannahmen zu den Grenzen der Rechtsfortbildung 79

wendung zu jener Zeit und beeinflussten das Vorverständnis der Mütter und Väter des Grundgesetzes,289 die diese Grundmethodik der Verfassungsinterpretation implizit zugrunde legten.290 Weil schon damals ein vorkonstitutionelles Methodeninstrumentarium zur Verfügung stand, um den Verfassungsinhalt erstmals zu erschließen, ist die Annahme eines Zirkelschlusses vor diesem Hintergrund widerlegt. Eine verfassungskonforme Methodik kann insoweit zwar nicht aus einer methodisch unbehandelten Verfassung extrahiert werden; dies war indes auch nicht nötig, weil die verfassungsrechtlichen Vorgaben zum ersten Mal mithilfe vorkonstitutioneller Methoden konkretisiert werden konnten. Wurden auf diese Weise Verfassungsinhalte präzisiert, bilden sie fortan den Rahmen für das konstitutionelle Methodeninstrumen­ tarium und sind aus diesem Grund in der Lage, die Entwicklung künftiger Instrumente zu beeinflussen. 3. Gesetzesbindung als verfassungsrechtliche Methodenvorgabe Zum Verfassungsinhalt gehört mit Art. 20 Abs. 3 GG die Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht. Weil die Rückbindung der Gerichte an diese Legitimationsgrundlage als „tragender Bestandteil des Gewaltenteilungsgrundsatzes und der Rechtsstaatlichkeit“291 keine Ausnahmen kennt,292 sind alle Rechtsprechungsakte an diesem Maßstab zu messen.293 Insoweit kann keine Rechtsanwendung erlaubt sein, die den normativen Anforderungen des Art. 20 Abs. 3 GG nicht genügt. Aufgrund dieser verfassungsrecht­ lichen Vorgabe zur Methodik ist vorgeschrieben, dass sich der Richter auch 289  Umfassend zur Entstehungsgeschichte: Mußgnug, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band I, 2003, § 8 Rn. 33 ff.; Badura, Staatsrecht, 2018, S.  28 ff. 290  Siehe dazu: Badura, Staatsrecht, 2018, S. 23, der zu Recht betont, dass die „allgemeine Lehre der juristischen Auslegungskunst, die vor allem in der Privatrechtswissenschaft entwickelt worden ist, […] auch für das Verfassungsgesetz gültig [sei].“ 291  BVerfG, Beschl. v. 14. 02. 1973 – 1 BvR 112/65 – Soraya, BVerfGE 34, 269, 286. 292  Hillgruber, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 2020, Art. 97 GG, Rn. 32, der betont, dass die „ausnahmslos angeordnete Gesetzesbindung […] dem erklärten Willen des Verfassungsgebers“ entspreche; zur grundlegenden Bedeutung der Gesetzesbindung: BVerfG, Beschl. v. 14. 02. 1973 – 1 BvR 112/65 – Soraya, BVerfGE 34, 269, 286, in der der Zweite Senat überzeugend klarstellt, dass die richterliche Gesetzesbindung aus Art. 20 Abs. 3 GG „ein tragender Bestandteil des Gewaltenteilungsgrundsatzes und damit der Rechtsstaatlichkeit“ ist. 293  Ähnlich: Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 21 f., der das geltende Recht als „Fluchtpunkt der juristischen Methodenlehre“ bezeichnet, „an dem sich die Auslegung, Konkretisierung und Fortbildung der Rechtsordnung auszurichten hat.“

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

bei der Rechtsfortbildung an Gesetz und Recht halten muss. Infolgedessen können alle Regelungen, die dem Begriffspaar in Art. 20 Abs. 3 GG unterfallen, auch dieses methodische Instrument beschränken, weshalb sich Grenzen der Rechtsfortbildung auf allen Ebenen der Rechtsordnung zeigen können.

II. Die Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht Die Bedeutung des Art. 20 Abs. 3 GG besteht aber nicht nur darin, eine neue Erkenntnisquelle für die Grenzen der Fortbildung zu erschließen. Er bildet darüber hinaus den Ausgangspunkt für die Grenzanalyse. Denn aus der Prämisse einer strikten Bindung richterlicher Kompetenzen an Gesetz und Recht folgt, dass auch die Rechtsfortbildung diesen Handlungsspielraum nicht verlassen darf. Akzeptiert man die strikte Grenze des Art. 20 Abs. 3 GG, steckt er den Rahmen ab, in dem richterliche Rechtsfortbildung stattfinden kann. 1. „Gesetz und Recht“ im Allgemeinen Um zu ermitteln, welche Rechtsakte die Rechtsfortbildung beschränken können, ist das Merkmal „Gesetz und Recht“ in Art. 20 Abs. 3 GG näher zu bestimmen. Bevor es ausgelegt werden kann, ist jedoch zu klären, ob Art. 97 Abs. 1 GG nicht als speziellere Regelung294 zu betrachten ist, da sie den Richter nur dem „Gesetz“, nicht aber dem „Recht“ unterwirft. Sollte Art. 97 Abs. 1 GG gegenüber Art. 20 Abs. 3 GG vorrangig sein, könnte sich die Verfassungsinterpretation auf das erste Merkmal beschränken. a) „Gesetz“ als Maßstab? Für die Qualifikation des Art. 97 Abs. 1 GG als die den Art. 20 Abs. 3 GG verdrängende lex specialis könnte sprechen, dass dieser sich exklusiv an den Richter richtet, während Art. 20 Abs. 3 GG rechtsprechende und vollziehende Gewalt betrifft. Neben dem Wortlautvergleich scheint die Systematik für ein Vorrangverhältnis des Art. 97 GG zu sprechen, der als Bestandteil der Art. 92 ff. GG einem speziellen Regelungskomplex angehört, welcher nur für die Rechtsprechung gilt. Trotz dieser Erwägungen wäre ein Schluss auf die Spezialität des Art. 97 Abs. 1 GG aber übereilt. Zuvor ist zu berücksichtigen, 294  Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht, 2003, S. 130 sieht in Art. 97 Abs. 1 GG die speziellere Regelung, betont aber, dass es sich wegen der durch Art. 79 Abs. 2 GG abgesicherten Wichtigkeit des Art. 20 Abs. 3 GG lediglich um eine „nichtverdrängende Spezialität“ handelt; bereits früher für eine „nicht-verdrängende Spe­ zialität“: Müller, ‚Richterrecht‘, 1986, S. 117 f.



B. Die Grundannahmen zu den Grenzen der Rechtsfortbildung 81

dass die lex specialis-Regel einen Auflösungsmechanismus295 darstellt, der nur in Betracht kommt, um eine Kollision gleichrangiger Bestimmungen des identischen Normgebers aufzulösen.296 Das setzt aber voraus, dass sich mehrere Normen mit sich widersprechenden Regelungsinhalten gegenüberstehen, ihre parallele Anwendung also dazu führen kann, dass eine identische Rechtsfrage in unterschiedlicher Weise beantwortet werden müsste.297 Die jeweiligen Formulierungen scheinen in der Tat in die Richtung eines Normwiderspruchs298 zu deuten, da Art. 20 Abs. 3 GG von „Gesetz und Recht“, Art. 97 Abs. 1 GG aber nur von „Gesetz“ spricht. Bei genauer Prüfung erweist sich dieser erste Eindruck aber als unzutreffend. Art. 20 Abs. 3 GG bezweckt ausschließlich die Bindung aller drei Gewalten, wohingegen Art. 97 GG im Kern die richterliche Unabhängigkeit gewährleistet und in diesem Zusammenhang nur in Absatz 1 klarstellt, dass ein sachlich unabhängiger299 Richter dem Gesetz unterworfen bleibt.300 Insoweit wird gewährleistet, dass die sachliche Unabhängigkeit nicht als Unabhängigkeit gegenüber dem Gesetz301 verstanden wird. Infolgedessen darf das Merkmal nicht überwertet werden. Seine Bedeutung erschöpft sich darin, die Reichweite der richterlichen Unabhängigkeit zu präzisieren. Dass ihm darüber hinaus der 295  Vertiefend zur Rechtsnatur der lex specialis-Regel im Besonderen und der Konfliktlösungsregeln im Allgemeinen: Vranes, ZaöRV 65 (2005), 391, 392 ff. 296  Reimer, Juristische Methodenlehre, 2020, Rn. 684; näher dazu auch: Lindner, Öffentliches Recht, 2017, Rn. 354 ff. 297  Lindner, Öffentliches Recht, 2017, Rn. 348 spricht insoweit klarstellend von einer „Regelungskollision“. 298  Zum Begriff: Lindner, Öffentliches Recht, 2017, Rn. 348, der die Begrifflichkeiten „Regelungskollision“ und „Normwiderspruch“ synonym verwendet. 299  Siehe zur sachlichen Unabhängigkeit als Weisungsunabhängigkeit: BVerfG, Urt. v. 17. 12. 1953 – 1 BvR 335/51 – Entlassung von Nationalsozialisten, BVerfGE 3, 213, 224; Detterbeck, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 97 GG, Rn. 11. 300  Hillgruber, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 2020, Art. 97 GG, Rn. 26, der „die den Richtern verfassungsrechtlich versprochene Unabhängigkeit […] im Aussagezentrum des Art. 97 Abs. 1 GG [sieht] und die bloße Gesetzesunterworfenheit […] als deren einzige, im übrigen als selbstverständlich angesehene und bereits in Art. 20 Abs. 3 GG ausgesprochene Beschränkung“ beurteilt; ähnlich: von Coelln, in: Gröpl/ Windthorst/von Coelln, GG, 2020, Art. 97 GG, Rn. 12, der zutreffend anmerkt, dass die „Unabhängigkeit gegenüber der Legislative […] selbstverständlich keine Lockerung der Bindung an das Gesetz [bedeute], die Abs. 1 Hs. 2 im Gegenteil sogar noch beton[e]“; wohl ebenfalls in diese Richtung: Huster/Rux, in: BeckOK-GG, 2020, Art. 20 GG, Rn. 171, die den Unterschied beider Vorschriften darin erblicken, dass „Art. 97 Abs. 1 die unabhängigkeitssichernde Schutzfunktion der ausschließlichen Bindung an das Gesetz beton[e], [während] Art. 20 Abs. 3 insoweit auf die legitimationsstiftende Bedeutung der Gesetzesbindung ab[stelle].“ 301  Zur gesetzesbindungssichernden Funktion der richterlichen Unabhängigkeit: Bakker, Grenzen der Richtermacht, 1994, S. 162 f.; Detterbeck, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 97 GG, Rn. 11.

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

Regelungsgehalt zukommen soll, die Staatsfundamentalnorm302 des Art. 20 Abs. 3 GG inhaltlich zu beeinflussen, die ihrerseits in der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG als unveränderbar verbürgt ist, erscheint nicht nahe­ liegend. Ungeachtet dessen haben beide Regelungen folglich verschiedene Zweckrichtungen303 und enthalten keine widersprüchlichen Anordnungen. Besteht somit nur ein scheinbarer Normwiderspruch,304 kann Art. 97 Abs. 1 GG nicht im Wege der Spezialität vorrangig sein. Maßgeblich bleibt Art. 20 Abs. 3 GG, der die Schranken der judikativen Gewalt grundgesetzlich festschreibt. b) „Gesetz und Recht“ als Maßstab Finden die Kompetenzen der Rechtsprechung ihre Grenzen in „Gesetz und Recht“, muss untersucht werden, welche Bestandteile der Rechtsordnung hierunter fallen und potenziell in der Lage sind, die richterliche Rechtsfortbildung zu beschränken. Welcher Auslegung von Art. 20 Abs. 3 GG der Vorzug gebührt, wird in der Literatur seit langer Zeit lebhaft diskutiert und war bereits Gegenstand eigener Abhandlungen.305 Im Mittelpunkt der Diskussion steht vor allem die Frage, welche Aussagekraft dem „Recht“ neben dem „Gesetz“ zukommt.306 Die dogmatische Durchdringung wird dadurch erschwert, dass das Merkmal „Gesetz“ unterschiedlich weit interpretiert wird und die Reichweite der jeweiligen Deutung ihrerseits die Auslegung von „Recht“ beeinflusst.307 Infolgedessen existiert eine Vielzahl an Meinungen, deren Reichweite von überpositiven Gerechtigkeitsvorstellungen,308 über untergesetzliche Normen309 302  Windthorst, in: Gröpl/Windthorst/von Coelln, GG, 2020, Art. 20 GG, Rn. 1 und insbesondere Rn. 6 zu ihrer Teilhabe an der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG, wodurch sie „dem Zugriff des verfassungsändernden Gesetzgebers entzogen“ ist. 303  Nämlich die Bindung der Judikative an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) und die Präzisierung der richterlichen Unabhängigkeit (Art. 97 GG). 304  Reimer, Juristische Methodenlehre, 2020, Rn. 684 nennt dies „unechte Normkollision“. 305  Eingehend dazu: Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht, 2003, S.  23 ff. passim. 306  Vertiefend zum Streitstand: Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht, 2003, S.  114 ff. 307  Siehe zu dieser Wechselwirkung bei der Auslegung beider Merkmale: Gröpl, Staatsrecht I, 2020, Rn. 442. 308  Andeutungsweise für den Einschluss überpositiver Gerechtigkeitsvorstellungen: BVerfG, Beschl. v. 14. 02. 1973 – 1 BvR 112/65 – Soraya, BVerfGE 34, 269, 286 f. 309  Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar, Band 2, 2018, Art. 20 GG, Rn. 285.



B. Die Grundannahmen zu den Grenzen der Rechtsfortbildung 83

bis hin zur Tautologie310 kaum weiter sein könnte.311 Für die Zwecke dieser Studie ist diese Fragestellung letztlich nicht entscheidungserheblich. Maßgeblich ist allein, dass eine grenzrelevante Wertung die Rechtsprechung als Gesetz oder Recht bindet. 2. „Gesetz und Recht“ im Besonderen Für das Aufspüren grenzrelevanter Wertungen genügt es folglich, zu untersuchen, welche Bestandteile des geltenden Rechts den Zivilrichter binden. Fallen sie unter „Gesetz oder Recht“, sind sie geeignet, der Rechtsfortbildung Grenzen zu ziehen. a) Bindung der Zivilgerichte an Privatrecht Primärer Entscheidungsmaßstab der Zivilrechtsprechung ist naturgemäß das Privatrecht, das im Wesentlichen aus formellen Bundesgesetzen besteht. Hierin enthalten sind abstrakt-generelle Regelungen, nach denen eine privatrechtliche Streitigkeit verbindlich zu entscheiden ist. Grenzbestimmende Wertungen können sich insoweit zunächst aus den zivilrechtlichen Entscheidungsnormen312 ergeben. Hierzu gehören beispielsweise das Bürgerliche Gesetzbuch als zentrale Kodifikation, aber auch die Gesetzbücher des Neben- und Sonderprivatrechts,313 die sich etwa mit den handels- und gesellschaftsrechtlichen oder wettbewerbsrechtlichen Besonderheiten des Privatrechtsverkehrs befassen. Als formelle Gesetze sind sie „Gesetz“ im Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG.314 Daneben wird die Privatrechtsordnung vereinzelt durch rein materielle Gesetze ergänzt. Zu ihnen gehört etwa die StVO, die als Bun310  Für „Gesetz und Recht“ als Tautologie: Schnapp, in: von Münch/Kunig, GGKommentar, Band 1, 2012, Art. 20 GG, Rn. 61. 311  Eingehend zur Fragestellung: Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht, 2003, S.  114 ff. 312  Zur Unterscheidung von Entscheidungs- und Verhaltensnormen: Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 121. 313  Siehe zur umstrittenen Abgrenzung von „Neben- und Sonderprivatrecht“ und den damit einhergehenden Systematisierungskonzepten: Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 6 Rn. 6 ff. 314  Nach allgemeiner Ansicht ist anerkannt, dass formelle Gesetze dem Gesetzesbegriff des Art. 20 Abs. 3 GG unterfallen: Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht, 2003, S. 116; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG-Kommentar, Band II, 2015, Art. 20 GG (Rechtsstaat), Rn. 93; Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn. 107; Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 2020, Art. 20 Abs. 3 GG, Rn. 60; Windthorst, in: Gröpl/Windthorst/von Coelln, GG, 2020, Art. 20 GG, Rn. 110; implizit auch: Schnapp, in: von Münch/Kunig, GG-Kommentar, Band 1, 2012, Art. 20 GG, Rn. 61, der unter als „Gesetz“ im Sinne von Art. 20 Abs. 3 GG „alle gültigen

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

desrechtsverordnung zwar das Produkt einer exekutiven Normsetzung ist, deren Bestimmungen aber, soweit ihnen ein Schutzgesetzcharakter zukommt, im Rahmen von § 823 Abs. 2 BGB in gleicher Weise eine verbindliche Wirkung entfalten.315 Darüber hinaus können neben den Schutzgesetzen des § 823 Abs. 2 BGB auch sämtliche Verbotsgesetze über § 134 BGB relevant werden. Weil hiervon nach Art. 2 EGBGB grundsätzlich jede Rechtsform erfasst ist, können durch den Verweis Vorschriften anderer Rechtsgebiete in den Entscheidungsmaßstab einbezogen werden, die normalerweise außerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit Bedeutung erlangen. Insofern besteht Einigkeit, dass Art. 20 Abs. 3 GG sowohl formelle und materielle Gesetze als auch rein materielle einschließt.316 Ist eine Regelung des Privatrechts317 demnach einer der beiden Kategorien zuzurechnen, bindet sie die Zivilgerichte und verfügt derart über die Eignung, die richterliche Rechtsfortbildung zu beschränken. b) Bindung der Zivilgerichte an Verfassungsrecht Auch wenn die ordentlichen Gerichte in Zivilsachen dazu berufen sind, Auseinandersetzungen zwischen Privaten zu entscheiden, ändert die privatrechtliche Natur des Rechtsstreits nichts an der Tatsache, dass öffentliche Gewalt in all ihren Erscheinungsformen nur innerhalb der von der Verfassung

Rechtssätze“ versteht; zum Begriff des formellen Gesetzes: BVerfG, Beschl. v. 23. 02. 1965 – 2 BvL 19/62, BVerfGE 18, 389, 391. 315  Für den Einschluss rein materieller Gesetze (Rechtsverordnungen und Satzungen) unter den Gesetzesbegriff des Art.  20 Abs.  3 GG: BVerfG, Beschl. v. 31. 05. 1988 – 1 BvR 520/83 – Unterhaltsleistung ins Ausland, BVerfGE 78, 214, 227; Riggert, Die Selbstbindung der Rechtsprechung durch den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG), 1993, S. 20; Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht, 2003, S. 117; Schnapp, in: von Münch/Kunig, GG-Kommentar, Band 1, 2012, Art. 20 GG, Rn. 62, der „alle gültigen Rechtssätze“ erfasst sieht, ohne dass im Hinblick auf materielle Gesetze eine Einschränkung gemacht wird; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GGKommentar, Band II, 2015, Art. 20 GG (Rechtsstaat), Rn. 93; Windthorst, in: Gröpl/ Windthorst/von Coelln, GG, 2020, Art. 20 GG, Rn. 110; a. A. Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II, 2004, § 26 Rn. 37 f.; ein Unterschied zwischen formellen und materiellen Gesetzen zeigt sich jedoch hinsichtlich der Verwerfungskompetenz. Als nicht formelles Gesetz ist diese nicht gem. Art. 100 GG beim BVerfG konzentriert, sondern verbleibt bei den Fachgerichten. Eine verfassungswidrige Bundesrechtsverordnung darf daher von den Fachgerichten selbst verworfen werden. 316  Statt aller: Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn. 107. 317  Näher zur Struktur der Privatrechtsordnung: Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 1996, S. 415 ff.; Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 6 Rn. 1 ff.



B. Die Grundannahmen zu den Grenzen der Rechtsfortbildung 85

vorgezeichneten Grenzen ausgeübt werden kann.318 Als Teil der rechtsprechenden Gewalt sind daher auch die Akte der Gerichte in Zivilsachen am Maßstab des Grundgesetzes zu messen.319 Für die Grundrechte ergibt sich dies aus Art. 1 Abs. 3 GG.320 Ihre Bindungswirkung wird zusätzlich durch Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG bekräftigt, weil eine Urteilsverfassungsbeschwerde gegen ein zivilgerichtliches Urteil ohne sie undenkbar wäre.321 Ungeachtet der Klarstellung in Art. 1 Abs. 3 GG folgt die bindende Kraft allerdings aus Art. 20 Abs. 3 GG. So belegt nicht zuletzt Art. 79 GG, dass die Grundrechtsartikel wie auch die übrigen Normen des Verfassungsrechts formelle Gesetze sind,322 sodass sie bereits in dieser Hinsicht zur richterlichen Gesetzesbindung beitragen.323 Obgleich damit feststeht, dass die Grundrechte die Zivilgerichte im Vertikalverhältnis zwischen Staat und Bürger binden, ist hiermit noch nicht beantwortet, ob sie den Rechtsstreit auch zugunsten oder zulasten eines Privaten lenken können. Mit anderen Worten geht es um die Frage, ob der Richter infolge dieser Bindung verpflichtet ist, die Grundrechte auch im Horizontalverhältnis zwischen Kläger und Beklagtem durchzusetzen.324 Dem wird zu einem späteren Zeitpunkt 318  Badura,

Staatsrecht, 2018, S. 12. herrschender Ansicht ist auch das Grundgesetz „Gesetz“ im Sinne von Art. 20 Abs. 3 GG: BVerfG, Beschl. v. 31. 05. 1988 – 1 BvR 520/83 – Unterhaltsleistung ins Ausland, BVerfGE 78, 214, 227; Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht, 2003, S. 114; Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn. 107; Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar, Band 2, 2018, Art. 20 GG, Rn. 285; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, 2020, Art. 20 GG, Rn. 53. 320  Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1429. 321  Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 25; vertiefend zur Bindung sämtlicher Staatsgewalt an die Grundrechte: Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1999, Rn. 199; Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 5 Rn. 2; eingehend zum Vorrang der Verfassung: Wahl, Der Staat 20 (1981), 485 ff.; zur Urteilsverfassungsbeschwerde: Zuck, Das Recht der Verfassungsbeschwerde, 2017, Rn. 554 ff. 322  Für den formellen Gesetzescharakter von Verfassungsbestimmungen: Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn. 107; Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 4 Rn. 2. 323  Für die Einordnung des Verfassungsrechts als „Gesetz“ gem. Art. 20 Abs. 3 GG: Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG-Kommentar, Band II, 2015, Art. 20 GG (Rechtsstaat), Rn.  93 f.; Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn. 107; Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar, Band 2, 2018, Art. 20 GG, Rn. 285; implizit auch: Schnapp, in: von Münch/Kunig, GG-Kommentar, Band 1, 2012, Art. 20 GG, Rn. 61, der unter Gesetz „alle gültigen Rechtssätze“ versteht; ähnlich: Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 2020, Art. 20 Abs. 3 GG, Rn. 60; Windthorst, in: Gröpl/Windthorst/von Coelln, GG, 2020, Art. 20 GG, Rn. 110. 324  Ebendies meint wohl Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 24, der es wohl aus diesem Grund nicht als selbstverständlich betrachtet, dass „die Grundrechte 319  Nach

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

nachzugehen sein.325 Für jetzt genügt es, festzuhalten, dass das gesamte Verfassungsrecht326 für die Grenzziehung infrage kommt, weil es die Privatgerichte bindet und somit nicht auszuschließen ist, dass es die Reichweite der Rechtsfortbildung beeinflusst. c) Bindung der Zivilgerichte an Unionsrecht Grenzbestimmende Wertungen können sich ferner aus dem Recht der Europäischen Union ergeben. Weil das Unionsrecht nicht von deutschen Legislativorganen erlassen wird, muss aber zunächst seine Geltung in der nationalen Rechtsordnung bestätigt werden, um von Art. 20 Abs. 3 GG erfasst werden zu können. Das setzt voraus, dass „das Unionsrecht auch im innerstaatlichen Rechtskreis als Recht anerkannt wird, ohne dass es noch eines weiteren mitgliedstaatlichen Aktes bedarf.“327 Obwohl in Wissenschaft und Rechtsprechung nahezu allgemein akzeptiert wird, dass das gesamte Unionsrecht in den Mitgliedstaaten unmittelbar gilt,328 ist dieser Umstand keineswegs selbstverständlich. Denn wie jede andere internationale Organisation wurde auch die Europäische Union329 auf der Grundlage völkerrechtlicher Verträge bei der Anwendung und Fortbildung des Privatrechts durch die Rechtsprechung schon deshalb unmittelbar gelten, weil diese in Art. 1 Abs. 3 GG ebenfalls genannt und mit der Gesetzgebung auf eine Stufe gestellt ist.“; zu betonen ist an dieser Stelle, dass Art. 1 Abs. 3 GG zwar bestimmt, dass die Zivilgerichte an die Grundrechte gebunden sind, nicht aber, inwieweit diese Bindung auch den Inhalt der gerichtlichen Entscheidung beeinflusst; näher zu dieser grundlegenden Unterscheidung: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1486. 325  Ausführlich zur Wirkung der Grundrechte im Privatrecht unter: Zweiter Teil B. V. 2. c) aa) (1). 326  Zum Grundgesetz als „Gesetz“ im Sinne von Art. 20 Abs. 3 GG: BVerfG, ­Beschl. v. 31. 05. 1988 – 1 BvR 520/83 – Unterhaltsleistung ins Ausland, BVerfGE 78, 214, 227; Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht, 2003, S. 114; Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn. 107; Sommermann, in: von Mangoldt/ Klein/Starck, GG-Kommentar, Band 2, 2018, Art. 20 GG, Rn. 285; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, GG-Kommentar, 2020, Art. 20 GG, Rn. 53. 327  Ehlers, in: Schulze/Janssen/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 2020, § 11 Rn. 2. 328  So jedenfalls auf den ersten Anschein: EuGH, Urt. v. 09. 03. 1978 – Rs. 106/77 – Staatliche Finanzverwaltung/S.p.A. Simmenthal, ECLI:EU:C:1978:49, Rn. 14/16, in der der Gerichtshof darlegt, dass „die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts ihre volle Wirkung einheitlich in sämtlichen Mitgliedstaaten […] entfalten müssen“; Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, 2020, Rn. 135; Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 2018, Art. 288 AEUV, Rn. 16 und 36. 329  Zu ihrem Charakter als Staatenverbund: BVerfG, Urt. v. 12. 10. 1993 – 2 BvR 2134, 2159/92 – Maastricht, BVerfGE 89, 155, 181; BVerfG, Urt. v. 30. 06. 2009 – 2 BvE 2, 5/08, 2 BvR 1010, 1022, 1259/08, 182/09 – Lissabon, BVerfGE 123, 267, 348.



B. Die Grundannahmen zu den Grenzen der Rechtsfortbildung 87

errichtet.330 Weil das Völkervertragsrecht den Staat aber nur „nach außen“331 bindet und allein maßgeblich ist, dass die begründeten Verpflichtungen ­eingehalten werden, ist es den Parteien überlassen, wie dieses Ziel „nach innen“, also im nationalen Rechtskreis, erreicht wird.332 Die Bundesrepublik Deutschland folgt in dieser Frage einem dualistischen Modell.333 Völkerrecht und nationales Recht sind hiernach zwei getrennte Rechtssphären.334 Eine völkerrechtliche Pflicht muss infolgedessen durch einen Umsetzungsakt335 in die innerstaatliche Rechtsordnung inkorporiert336 werden, bevor sie einen nationalen Adressaten treffen kann.337 330  BVerfG, Urt. v. 30. 06. 2009 – 2 BvE 2, 5/08, 2 BvR 1010, 1022, 1259/08, 182/09 – Lissabon, BVerfGE 123, 267, 272, wonach der Prozess der europäischen Integration „mit dem Inkrafttreten des in Paris geschlossenen Vertrags über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl aus dem Jahr 1951 […] eingeleitet“ wurde; Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, 2020, Rn. 113; Frenz, Europarecht, 2016, Rn. 3. 331  von Arnauld, Völkerrecht, 2019, Rn. 49; wonach das Völkerrecht den „Staat als einheitliches Rechtssubjekt [betrachtet] und […] blind [ist] für Vorgänge in dessen Inneren.“ 332  Schroeder, Grundkurs Europarecht, 2019, § 5 Rn. 7; von Arnauld, Völkerrecht, 2019, Rn. 498; im Ergebnis ebenso, wenngleich mit Blick auf die EMRK: BVerfG, Beschl. v. 14. 10. 2004 – 2 BvR 1481/04 – EGMR-Entscheidungen, BVerfGE 111, 307, 318. 333  von Arnauld, Völkerrecht, 2019, Rn. 504. 334  BVerfG, Beschl. v. 14. 10. 2004 – 2 BvR 1481/04 – EGMR-Entscheidungen, BVerfGE 111, 307, 318; näher zum dualistischen Konzept in Abgrenzung zum monistischen Modell, dem beispielweise die Schweiz, Österreich, Frankreich oder die USA folgen: Geiger, Staatsrecht III, 2018, S. 14 ff.; von Arnauld, Völkerrecht, 2019, Rn. 502; demzufolge geht auch die h. M. für das Unionsrecht davon aus, dass Letzteres im Grundsatz von mitgliedschaftlichen Recht getrennt ist: BVerfG, Beschl. v. 18. 10. 1967 – 1 BvR 248/63 und 216/67 – EWG-Verordnungen, BVerfGE 22, 293, 296; Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, 2020, Rn. 135; Ehlers, in: Schulze/Janssen/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 2020, § 11 Rn. 5. 335  Dies gilt wohl auch für die „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“, die gem. Art. 25 GG Bestandteil des Bundesrechts sind, den Gesetzen vorgehen und unmittelbar Rechte und Pflichten für die Bewohner des Bundesgebiets begründen, wenn man in Art. 25 GG selbst den Umsetzungsakt erblickt. A. A. wohl: von Arnauld, Völkerrecht, 2019, Rn. 520, der im Grundgesetz einen gemäßigten Dualismus erkennt, der die „Trennung zwischen Innen (staatliches Recht) und Außen (Völkerrecht) nicht strikt“ durchhält; zum Begriff des gemäßigten Dualismus: Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, 1967, S. 141 ff. 336  Der Umsetzungsakt erteilt nach der vorzugswürdigen Vollzugstheorie lediglich den Rechtsanwendungsbefehl für die innerstaatliche Geltung: BVerfG, Urt. v. 12. 07. 1994 – 2 BvE 3/92, 5/93, 7/93, 8/93 – Out-of-area-Einsätze, BVerfGE 90, 286, 364; BVerfG, Urt. v. 22. 11. 2001 – 2 BvE 6/99 – NATO-Konzept, BVerfGE 104, 151, 209; zur a. A., der sog. Transformationstheorie: BVerwG, Urt. v. 18. 01. 1994 – 9 C 48.92, BVerwGE 95, 42, 49 („transformiertes nationales Recht“). 337  von Arnauld, Völkerrecht, 2019, Rn. 504.

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aa) Die unmittelbare Geltung des Unionsrechts (1) Unmittelbar geltendes Primärrecht Die Gründungsverträge und deren Änderungen bis hin zum Vertrag von Lissabon338 sind allesamt völkerrechtliche Verträge,339 welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder Gegenstände der Bundesgesetzgebung berühren.340 Ihre Umsetzung hatte daher gem. Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG341 durch ein Zustimmungsgesetz des Bundes zu erfolgen, wobei seit der Einführung des Art. 23 Abs. 1 GG dessen spezielle Anforderungen zu beachten sind.342 Diesem Erfordernis wurde zuletzt mit dem „Gesetz zum Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007“343 entsprochen. Mit der Umsetzung der Gründungsverträge durch das formelle Bundesgesetz ist die „Brücke“ in den nationalen Rechtskreis geschlagen. Das Zustimmungsgesetz erteilt den Rechtsanwendungsbefehl, der die Geltung des Unionsrechts im innerstaat­ lichen Bereich grundsätzlich autorisiert.344 Insoweit ist der Ansicht des EuGH 338  Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 13. Dezember 2007 („Vertrag von Lissabon“), ABl. EU v. 17. 12. 2007, C 306, S. 1 ff.; umfassend zur Entstehungsgeschichte und Architektur der Europäischen Union: Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 7 ff. bzw. Rn. 54 ff. 339  Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 380. 340  Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 127, wonach sich das Erfordernis des Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG auch den Vertrag über die Europäische Union (EUV) und den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) sowie sämtliche Beitritts- und Änderungsabkommen erstreckt. 341  Näher zum umstrittenen Verhältnis von Art. 59 Abs. 2 GG und Art. 23 Abs. 1 GG: Streinz, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 23 GG, Rn. 63. 342  Streinz, Europarecht, 2019, Rn. 94 ff. 343  Das Gesetz zum Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007, BGBl. II v. 14. 10. 2008, S. 1038 ff., wurde am 08. 10. 2008 ausgefertigt und am 14. 10. 2008 verkündet. Ausweislich seines Art. 2 Abs. 1 ist es am Tag nach seiner Verkündung, also am 15. 10. 2008, in Kraft getreten. 344  In st. Rspr. z. B. BVerfG, Beschl. v. 25. 07. 1979 – 2 BvL 6/77 – Vielleicht-Beschluß, BVerfGE 52, 187, 199; BVerfG, Beschl. v. 22. 10. 1986 – 2 BvR 197/83 – Solange II, BVerfGE 73, 339, 375; ausdrücklich bekräftigt für das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon: BVerfG, Urt. v. 30. 06. 2009 – 2 BvE 2, 5/08, 2 BvR 1010, 1022, 1259/08, 182/09 – Lissabon, BVerfGE 123, 267, 400; anders aber: EuGH, Urt. v. 15. 07. 1964 – Rs. 6/64 – Costa/E.N.E.L., ECLI:EU:C:1964:66 = Slg. 1964, 1259, 1270 f.: „Aus alledem folgt, daß dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll. Die Staaten haben […] eine endgültige Beschränkung ihrer Hoheitsrechte bewirkt, die durch



B. Die Grundannahmen zu den Grenzen der Rechtsfortbildung 89

in Costa/E.N.E.L. zuzustimmen, dass die Gründungsverträge345 eine eigenständige Rechtsordnung geschaffen haben, die „in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden“ ist.346 Obwohl beide Bereiche347 im Grundsatz autonom348 sind, äußert sich hierin eine Verzahnung von supranationalem349 und nationalem Recht,350 die ihrerseits aber erst durch den Rechts­anwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes herbeigeführt wurde und nach wie vor auf ihm beruht. Abzulehnen ist demgegenüber die These des EuGH, das Unionsrecht habe sich von der völkerrechtlichen Grundlage gelöst.351 Dass dem nicht so ist, belegt schon der Umstand, dass die jüngste Reform mit dem Vertrag von Lissabon wiederum durch einen völkerrechtlichen Änderungsvertrag352 vollzogen wurde. Auch die Bestimmung des Art. 48 Abs. 4 UAbs. 2 EUV bestätigt das hier vertretene Ergebnis.353 Er enthält nicht nur eine typische völkervertragliche Ratifikationsklausel,354 sondern rekurriert sogar ausdrücklich auf das mitgliedstaatliche Verfassungsrecht. Des Weiteren ist eine Loslösung von spätere einseitige, mit dem Gemeinschaftsbegriff unvereinbare Maßnahmen nicht rückgängig gemacht werden kann.“ [Hervorhebung v. Verf.]. 345  Zur Zeit der Entscheidung ging es speziell um den EWG-Vertrag. 346  EuGH, Urt. v. 15. 07. 1964 – Rs. 6/64 – Costa/E.N.E.L., ECLI:EU:C:1964:66 = Slg. 1964, 1259, 1269; insoweit anerkannt durch: BVerfG, Beschl. v. 09. 06. 1971 – 2 BvR 255/69 – Milchpulver, BVerfGE 31, 145, 173 f. 347  Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, 2003, S. 34. 348  Auch das BVerfG geht von der Autonomie, also Eigenständigkeit des Unionsrechts, aus, wenngleich es in überzeugender Weise annimmt, dass sie zu keiner Ablösung des Unionsrechts von seinen völkervertraglichen Wurzeln führt; näher dazu: Streinz, Europarecht, 2019, Rn. 228. 349  Supranational bezeichnet hier die Besonderheiten des Unionsrechts gegenüber dem Recht anderer internationaler Organisationen. Hierzu zählen u. a. der Anwendungsvorrang des Unionsrechts (auch gegenüber nationalem Verfassungsrecht), die potenzielle Möglichkeit, Private und andere innerstaatliche Adressaten unmittelbar zu berechtigen und zu verpflichten, die Schaffung von Organen mit eigenen Rechtssetzungsbefugnissen, aber auch das Verfahren, durch Mehrheit zu entscheiden, sodass ein Mitgliedstaat auch gegen seinen Willen verpflichtet werden kann. Siehe dazu im Einzelnen: Streinz, Europarecht, 2019, Rn. 133 ff. 350  Zur „Verzahnung“ von Unions- und nationalem Recht: Streinz, Europarecht, 2019, Rn.  204 ff. 351  Hierzu: Streinz, Europarecht, 2019, Rn. 127 f. und 130 ff.; a. A. EuGH, Urt. v. 15. 07. 1964 – Rs. 6/64 – Costa/E.N.E.L., ECLI:EU:C:1964:66 = Slg. 1964, 1259, 1270 f. 352  BVerfG, Urt. v. 30. 06. 2009 – 2 BvE 2, 5/08, 2 BvR 1010, 1022, 1259/08, 182/09 – Lissabon, BVerfGE 123, 267, 271. 353  Dazu und auch im Übrigen mit überzeugender Argumentation gegen eine Ablösung des Unionsrechts von seiner völkervertraglichen Grundlage: Streinz, Europarecht, 2019, Rn. 130 f. 354  Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 95.

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den völkervertraglichen Wurzeln auch nicht geboten, um eine Erklärung für die Besonderheiten des Unionsrechts355 zu erhalten. Vielmehr lassen sie sich auch im klassischen Modell erklären.356 Für das Vertragsrecht ist es geradezu typisch, dass den Parteien inhaltlich ein Spielraum offensteht, in dem verschiedene Gestaltungen verwirklicht werden können. Dass die Verträge des europäischen Integrationsprozesses weiter reichen als die Verträge herkömmlicher internationaler Organisationen ist daher kein Argument gegen die völkerrechtliche Natur des Unionsrechts,357 sondern lediglich ein Nachweis dafür, dass neuartige Gestaltungen vertraglich fixiert wurden.358 Um den europäischen Einigungsprozess vorantreiben zu können, öffnet das Grundgesetz die nationale Rechtsordnung derart, dass „der ausschließliche Herrschaftsanspruch der Bundesrepublik Deutschland im Geltungsbereich des Grundgesetzes zurückgenommen und der unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit eines Rechts aus anderer Quelle innerhalb des staatlichen Herrschaftsbereichs Raum gelassen wird.“359 In welcher Intensität das Unionsrecht als Recht aus anderer Quelle im nationalen Rechtskreis wirkt, bestimmt allein der im Zustimmungsgesetz enthaltene Rechtsanwendungsbefehl. Für das unmittelbar von den Mitgliedstaaten geschaffene360 EU-Primärrecht gilt dieser Vollzugsbefehl361 ohne Weite355  Näher zu den Besonderheiten, die das Unionsrecht als „supranational“ charakterisieren: Streinz, Europarecht, 2019, Rn. 133 ff. 356  Auch wenn es aus diesen Gründen einzig überzeugen kann, das Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht im Sinne des BVerfG zu deuten, ergeben sich hieraus gleichwohl keine massiven Auswirkungen für die Rechtspraxis. Das BVerfG nimmt zwar mit der Grundrechts-, der Identitäts- und der ultra-vires-Kontrolle drei Kontrollvorbehalte in Anspruch, um die Einhaltung der Integrationsgrenzen zu überwachen, versichert aber zugleich, dass diese europarechtsfreundlich auszuüben sind: BVerfG, Urt. v. 30. 06. 2009 – 2 BvE 2, 5/08, 2 BvR 1010, 1022, 1259/08, 182/09 – Lissabon, BVerfGE 123, 267, 354. In der Sache verbleibt ihnen damit kaum ein Anwendungsbereich; siehe dazu: Streinz, Europarecht, 2019, Rn. 227, wodurch im Ergebnis meist ein Gleichlauf mit der Ansicht des EuGH erreicht wird; hieran dürfte auch die jüngste Entscheidung des Zweiten Senats des BVerfG wenig ändert, der im Zuge von Verfassungsbeschwerden gegen das Programm der EZB zum Ankauf von Wertpapieren zwar eine ultra-vires- und Identitätskontrolle vorgenommen hat, hierbei jedoch erneut betont, dass die Kontrollvorbehalte „europafreundlich“ zu handhaben sind: BVerfG, Urt. v. 05. 05. 2020 – 2 BvR 859/15, 1651/15, 2006/15, 980/16, NJW 2020, 1647, 1651. 357  Daher zu Recht für die völkerrechtliche Natur des Unionsrechts: Streinz, Europarecht, 2019, Rn. 130 f.; grundlegend zum Begriff des „Rechts der Internationalen Institutionen als Entwicklungsstufe des Völkerrechts“: Meng, Das Recht der internationalen Organisationen, 1979, S. 212. 358  Im Ergebnis ähnlich: Streinz, Europarecht, 2019, Rn. 131. 359  BVerfG, Beschl. v. 29.05.1974 – BvL 52/71 – Solange I, BVerfGE 37, 271, 280. 360  In Abgrenzung zum von der EU geschaffenen Sekundär- und Tertiärrecht. Siehe zu dieser Differenzierung: Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäi-



B. Die Grundannahmen zu den Grenzen der Rechtsfortbildung 91

res. Er hat dem Vertrag über die Europäische Union (EUV) und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) samt ihren Anhängen, Anlagen und Protokollen den Weg in den innerstaatlichen Rechtskreis gebahnt.362 Das primäre Unionsrecht gilt dort folglich unmittelbar.363 (2) Unmittelbar geltendes Sekundärrecht Weitaus weniger klar ist, ob der Rechtsanwendungsbefehl auch das sekundäre Unionsrecht364 einschließt, das zwar von den Unionsorganen hervorgebracht wird,365 sich aber auf Ermächtigungen des Primärrechts stützen muss, um wirksam zu sein. Es geht also um die Frage, ob Maßnahmen des Sekundärrechts erneut einen besonderen nationalen Umsetzungsakt benötigen, um in den Mitgliedstaaten unmittelbar zu gelten oder ob hierfür bereits die allgemeine Zustimmung zum Vertrag von Lissabon ausreichend war. Richtigerweise genügt Letzteres. Präzisiert werden muss indes, dass der Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes selbstverständlich nur genügt, wenn die primärrechtliche Ermächtigung ihrerseits die unmittelbare Geltung des Sekundärrechts vorsieht.366 Er ist somit zwar stets eine notwenschen Union, 2020, Rn. 82 und Rn. 86; vereinzelt entsteht das Primärrecht aber auch unter Mitwirkung der Unionsorgane, wie beispielsweise bei den durch den EuGH entwickelten allgemeinen Grundsätzen; näher dazu: Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 383 ff. 361  So richtigerweise die sog. Vollzugstheorie: BVerfG, Urt. v. 12. 07. 1994 – 2 BvE 3/92, 5/93, 7/93, 8/93 – Out-of-area-Einsätze, BVerfGE 90, 286, 364; BVerfG, Urt. v. 22. 11. 2001 – 2 BvE 6/99 – NATO-Konzept, BVerfGE 104, 151, 209; a. A. die sog. Transformationstheorie: BVerwG, Urt. v. 18. 01. 1994 – 9 C 48.92, BVerwGE 95, 42, 49; zum Ganzen: von Arnauld, Völkerrecht, 2019, Rn. 505. 362  Das primäre Unionsrecht umschließt neben EUV und AEUV auch sämtliche Änderungs-, Ergänzungs- und Beitrittsverträge (Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, 2020, Rn. 82 ff.) sowie das EU-Gewohnheitsrecht und die allgemeinen Rechtsgrundsätze (Ehlers, in: Schulze/Janssen/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 2020, § 11 Rn. 5). 363  Zu dieser ganz herrschenden Auffassung: Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, 2020, Rn. 135, der seine Aussage aber über das Primärrecht hinaus auf das gesamte EU-Recht bezieht; Schroeder, Grundkurs Europarecht, 2019, § 5 Rn. 11; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 388. 364  Die Überlegung gilt in gleicher Weise für das tertiäre Unionsrecht, also das auf Grundlage des Sekundärrechts erlassene Recht nach Maßgabe der Art. 290 und Art. 291 AEUV. Wegen seiner geringen Bedeutung im Privatrecht wird es an dieser Stelle ausgeklammert. Vertiefend dazu: Streinz, Europarecht, 2019, Rn. 573 ff. 365  Zu dieser Differenzierung nach der Urheberschaft des Rechtsakts: Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, 2020, Rn. 82 und Rn. 86. 366  Anders aber die h. M., die aus den Judikaten EuGH, Urt. v. 05. 02. 1963 – Rs. 26/62 – Van Gend & Loos/Niederländische Finanzverwaltung, ECLI:EU:C:1963:1

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

dige, nicht aber auch zwingend eine hinreichende Bedingung für die unmittelbare Geltung des sekundären Unionsrechts in einem Mitgliedstaat. Dies folgt aus dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, das in Art. 5 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 EUV festgeschrieben ist. Es besagt, dass die EU über keine Allzuständigkeit367 verfügt, sondern nur innerhalb der Grenzen jener Zuständigkeiten tätig wird, die ihr von den Mitgliedstaaten verliehen wurden.368 Weil die Europäische Union primärrechtlich ermächtigt ist, Maßnahmen des Sekundärrechts zu erlassen, ist die unmittelbare Geltung dieser Akte dogmatisch ohne Weiteres erklärbar, soweit die Verträge nicht ihrerseits fordern, dass hierfür ein zusätzlicher nationaler Umsetzungsakt nötig ist. Ein erster Anhalt für die unmittelbare Geltung sekundärrechtlicher Akte findet sich in Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV, der voraussetzt, dass sich Verpflichtungen der Mitgliedstaaten neben den Verträgen auch aus „Handlungen der Organe der Union“ ergeben können. Wegen ihres unverbindlichen Charakters muss dies zwar für Empfehlungen und Stellungnahmen gem. Art. 288 Abs. 5 AEUV von vornherein ausscheiden; für die Verordnung ist die unmittelbare Geltung aber explizit normiert. Gem. Art. 288 Abs. 2 AEUV ist sie in und EuGH, Urt. v. 15. 07. 1964 – Rs. 6/64 – Costa/E.N.E.L., ECLI:EU:C:1964:66 den Schluss zieht, dass das gesamte Unionsrecht in die nationale Rechtsordnung inkorporiert wurde, weshalb sämtlichen Akten darin auch automatisch eine unmittelbare Geltung zukomme: Klein, Unmittelbare Geltung, Anwendbarkeit und Wirkung von europäischem Gemeinschaftsrecht, 1988, S. 12, der dies sogar für Richtlinien annimmt und davon ausgeht, dass sie „mit ihrem Erlaß automatisch Teil der nationalen Rechtsordnung“ werden; insoweit ebenso: Timmermans, C.M.L.Rev. 16 (1979), 533, 534; Schilling, ZaöRV 48 (1988), 637, 643; Prechal, Directives in European Community Law, 1995, S. 263; Schroeder, Grundkurs Europarecht, 2019, § 5 Rn. 11, der annimmt, „dass alle Rechtsquellen des Unionsrechts unmittelbar in den Mitgliedstaaten gelten […] und nicht von nationalen Transformations- oder Vollzugsakten […] abhängig sind“; gegen die unmittelbare Geltung der Richtlinie wendet sich mit überzeugender Begründung: Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, 1994, S.  173 ff.; zustimmend: Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, 2003, S.  37 f. 367  Zur fehlenden Kompetenz-Kompetenz: Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 178. 368  Aus diesem Grund geht das europarechtliche Schrifttum, so beispielsweise Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, 2003, S. 35, zu Recht davon aus, dass die „Kernfragen nach Geltung, Wirkung und Rang […] im innerstaatlichen Rechtsbereich […] allein aus Sicht des Gemeinschaftsrechts“ (heute: Unionsrecht) zu bestimmen sind; ebenso: Klein, Unmittelbare Geltung, Anwendbarkeit und Wirkung von europäischem Gemeinschaftsrecht, 1988, S. 10; dogmatisch präziser wäre es, klarstellend zu ergänzen, dass dies freilich nur gilt, soweit eine solche Auslegung des Primärrechts mit den Integrationsgrenzen vereinbar ist, sich also innerhalb der Ermächtigung des Zustimmungsgesetzes hält. Insoweit sehr überzeugend: Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, 2003, S. 35, der darauf hinweist, dass die „notwendige Ermächtigung zu dieser ‚Fremdbestimmung‘ […] im jeweiligen nationalen Recht zu suchen“ ist.



B. Die Grundannahmen zu den Grenzen der Rechtsfortbildung 93

all ihren Teilen verbindlich und gilt in jedem Mitgliedstaat unmittelbar. Einigkeit besteht darüber hinaus, dass dies auch für den Beschluss zutrifft,369 obwohl er gem. Art. 288 Abs. 4 AEUV in der Regel370 nur an einen bestimmten Adressatenkreis gerichtet ist.371 Weil sich dies unmittelbar aus dem Primärrecht ergibt, gelten Verordnungen und Beschlüsse schon aufgrund des allgemeinen Rechtsanwendungsbefehls des Zustimmungsgesetzes unmittelbar. (3) Mittelbar geltendes Sekundärrecht Problematischer ist, ob auch die Richtlinie in den Mitgliedstaaten unmittelbar gilt, sie dort also als Recht anerkannt ist, ohne dass weitere innerstaatliche Umsetzungsmaßnahmen erforderlich wären.372 Wegen Art. 288 Abs. 3 AEUV muss dies grundsätzlich verneint werden. Die Richtlinie bindet die Mitgliedstaaten nach ihrer Konzeption nur gegenüber der EU,373 wodurch sie lediglich „nach außen“374 verpflichtet werden, die Zielvorgabe durch eigene Maßnahmen zu erreichen. Wenn das Primärrecht ausdrücklich bestimmt, dass die Richtlinie auf eine nationale Umsetzung angewiesen ist,375 wäre es aber geradezu widersprüchlich, zu behaupten, sie gelte auch ohne den primärrechtlich vorgesehenen Umsetzungsakt unmittelbar.376 369  Zur unmittelbaren (individuellen) Geltung des Beschlusses: Haratsch/Koenig/ Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 422 f. 370  Wie sich aus dem Normtextvergleich von Art. 288 Abs. 4 S. 1 und S. 2 AEUV ergibt, sind auch Beschlüsse ohne bestimmten Adressaten denkbar; siehe hierzu: Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 423. 371  Soweit sich ein Beschluss an einen bestimmten Adressatenkreis richtet, sprechen Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 422 von „individuelle[r] Geltung“. Zu unterscheiden sind insoweit individualgerichtete und staatengerichtete Beschlüsse. 372  Zu diesem Erfordernis der Geltung: Ehlers, in: Schulze/Janssen/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 2020, § 11 Rn. 2. 373  Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, 1994, S. 174. 374  Gemeint ist eine rein völkerrechtliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten im Außenverhältnis zur Europäischen Union und nicht als nationaler Adressat im Innenverhältnis. Dass Art. 288 Abs. 3 AEUV „den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel“ überlässt, steht dieser These nicht entgegen, da das verfassungsrechtliche Kompetenzgefüge stets erfordert, dass die zuständigen nationalen Organe die Umsetzung veranlassen. Sie kommen insoweit „als Vertreter des Staates einer Verpflichtung nach, die die Richtlinie im Außenverhältnis von Gemeinschaft und Mitgliedstaat entfaltet“; so überzeugend: Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, 1994, S. 181. 375  Karpenstein, Praxis des EU-Rechts, 2013, Rn. 56. 376  Anders aber die herrschende Ansicht im europarechtlichen Schrifttum: Klein, Unmittelbare Geltung, Anwendbarkeit und Wirkung von europäischem Gemein-

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

Trotz gegenteiliger Behauptung377 ist auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH in Staatliche Finanzverwaltung/S.p.A. Simmen­ thal378 keine abweichende Bewertung geboten, wenngleich der Gerichtshof ausführt, „[u]nmittelbare Geltung bedeute[t] unter diesem Blickwinkel, daß die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts ihre volle Wirkung einheitlich in sämtlichen Mitgliedstaaten […] entfalten müssen.“379 Liest man das Urteil im Detail, stellt sich heraus, dass die zitierte Passage unzulässig verallgemeinert wird. Denn wie der Passus „unter diesem Blickwinkel“ andeutet, war die Aussage des EuGH auf eine konkrete Vorlagefrage bezogen. Jene war aber nur darauf gerichtet, „die Auswirkungen der unmittelbaren Geltung einer gemeinschaftsrechtlichen Bestimmung im Falle der Unvereinbarkeit mit einer späteren Vorschrift des Rechts eines Mitgliedstaats klarzustellen.“380 Der EuGH äußerte sich daher lediglich zu der Wirkung, die eine unmittelbar geltende Norm des Unionsrechts innehat, ohne sich inhaltlich zu positionieren, welche oder ob ggf. alle EU-Rechtsakte unmittelbar gelten.381 Dass die Rechtsprechung selbst bei anderer Lesart kaum auf die Richtlinie erstreckt werden kann, legt außerdem der Umstand nahe, dass dem Ausgangsverfahren ein Verstoß gegen die Warenverkehrsfreiheit zugrunde lag, deren unmittelbare Geltung infolge ihrer Verankerung im Primärrecht unproblematisch war. Anders als oftmals vertreten ist eine unmittelbare Geltung von Richtlinien zuletzt auch nicht deshalb geboten, weil ohne sie das Prinzip der einheit­

schaftsrecht, 1988, S. 12, wonach die Richtlinie „mit ihrem Erlaß automatisch Teil der nationalen Rechtsordnung“ werde; Timmermans, C.M.L.Rev. 16 (1979), 533, 534; Schilling, ZaöRV 48 (1988), 637, 643; Prechal, Directives in European Community Law, 1995, S. 263; Schroeder, Grundkurs Europarecht, 2019, § 5 Rn. 11; hiergegen zu Recht: Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, 1994, S. 173 f.; zustimmend: Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, 2003, S. 37 f. 377  Statt aller: Schroeder, Grundkurs Europarecht, 2019, § 5 Rn. 11, der aus EuGH, Urt. v. 09. 03. 1978 – Rs. 106/77 – Staatliche Finanzverwaltung/S.p.A. Simmenthal, ECLI:EU:C:1978:49, Rn. 14/16 folgert, dass „alle Rechtsquellen des Unionsrechts unmittelbar in den Mitgliedstaaten gelten […] und nicht von nationalen Transformations- oder Vollzugsakten o. ä. abhängig […] [sind], denn eine solche Abhängigkeit des Unionsrechts würde seine einheitliche Wirkung in den Mitgliedstaaten gefährden.“ 378  EuGH, Urt. v. 09. 03. 1978 – Rs. 106/77 – Staatliche Finanzverwaltung/S.p.A. Simmenthal, ECLI:EU:C:1978:49. 379  EuGH, Urt. v. 09. 03. 1978 – Rs. 106/77 – Staatliche Finanzverwaltung/S.p.A. Simmenthal, ECLI:EU:C:1978:49, Rn. 14/16. 380  EuGH, Urt. v. 09. 03. 1978 – Rs. 106/77 – Staatliche Finanzverwaltung/S.p.A. Simmenthal, ECLI:EU:C:1978:49, Rn. 13 [Hervorhebung v. Verf.]. 381  Dazu auch: Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, 1994, S. 174, der die Entscheidung Staatliche Finanzverwaltung/S.p.A. Simmenthal zu Recht in gleicher Weise deutet.



B. Die Grundannahmen zu den Grenzen der Rechtsfortbildung 95

lichen Wirkung des Unionsrechts gefährdet wäre.382 Zu befürchten wäre dies nur, wenn die Geltung von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat verschieden wäre, nicht aber, wenn ein Unionsrechtsakt entweder in allen oder in keinem unmittelbar gilt.383 Für die Richtlinie trifft Letzteres zu. Indem sie die Mitgliedstaaten allein hinsichtlich des zu erreichenden Ziels bindet, gewährt sie den zuständigen Organen immer einen Wertungsspielraum,384 der es erlaubt, die Umsetzungsmaßnahme unter Berücksichtigung der innerstaatlichen Dogmatik im jeweiligen Rechtsgebiet schonend „in das System des nationalen Rechts einzufügen und daran anzupassen.“385 Würde die Richtlinie den Anspruch erheben, ungeachtet der nationalen Maßnahmen innerstaatlich stets als Recht anerkannt zu werden, wäre dieser Gestaltungsspielraum zumindest teilweise relativiert und der Plan der Vertragsbeteiligten jedenfalls insoweit konterkariert. Letztlich ergibt sich dies aber ohnehin aus dem Primärrecht selbst, weil Art. 288 Abs. 3 AEUV die Form und die Mittel der Umsetzung bewusst den Mitgliedstaaten überlässt. Als problematisch erweist sich in der Praxis daher genau genommen nicht die vermeintlich uneinheitliche Geltung der Richtlinie, sondern die unter Umständen divergierende Rechtslage, die sich je nach Ausgestaltung der Umsetzung in den Mitgliedstaaten ergeben kann. Ebendies nimmt das EU-Primärrecht aber sehenden Auges in Kauf, wenn es den Erlass von Richtlinien vorsieht, die nach ihrer Konzeption einen Kompromiss darstellen zwischen dem Ziel der unionsweiten Rechtsvereinheitlichung einerseits und der Rücksichtnahme auf nationale Besonderheiten andererseits.386 Weil dies dem Plan des Primärrechts entspricht, lässt sich kein unbeabsichtigter Missstand behaupten, der es abweichend von Art. 288 Abs. 3 AEUV rechtfertigen würde, ohne den primärrechtlich festgeschriebenen Umsetzungsakt anzuerkennen, dass die Richtlinie unmittelbar gilt. (a) Nicht umgesetzte Richtlinie Eine Ausnahme gilt jedoch für eine nicht oder nicht ordnungsgemäß umgesetzte Richtlinie, die nach ständiger Rechtsprechung des EuGH und des BVerfG in seltenen Einzelfällen geeignet sein kann, eine unmittelbare Wir382  Diesen Schluss zieht aber: Schroeder, Grundkurs Europarecht, 2019, §  5 Rn. 11. 383  Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, 1994, S. 174. 384  Zum Wertungsspielraum beim Erlass nationaler Regelungen: EuGH, Urt. v. 08. 05. 2008 – Rs. C-491/06 – Danske Svineproducenter/Justitsministeriet, ECLI:EU:C: 2008:263, Rn. 38. 385  Streinz, Europarecht, 2019, Rn. 484. 386  Streinz, Europarecht, 2019, Rn. 483.

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

kung im nationalen Rechtskreis hervorzubringen.387 Liegen die Voraussetzungen hierfür vor,388 gilt die Richtlinie ausnahmsweise auch dann unmittelbar, weil die Geltung des Rechtsakts im nationalen Rechtskreis ein notwendiges Durchgangsstadium bildet,389 um Wirkungen gegenüber den Rechtsunterworfenen entfalten zu können. Da Privatpersonen keinen Einfluss auf die Umsetzung der Richtlinie haben, ist insoweit indes anerkannt, dass eine unmittelbare Wirkung nur als Sanktionsmechanismus390 in Betracht kommt, wenn sich der Bürger gegenüber dem Staat auf die Richtlinienregelung berufen möchte. Dies setzt neben der hinreichenden Bestimmtheit und inhalt­ lichen Unbedingtheit der europäischen Bestimmung voraus, dass die Richt­ linie trotz Ablaufs der Umsetzungsfrist nicht oder nicht ordnungsgemäß umgesetzt wurde und keine Verpflichtungen im Verhältnis der Privaten unter­ einander begründet.391 Weil eine durch die unmittelbare Wirkung vermittelte 387  Zur unmittelbaren Wirkung der Richtlinie in st. Rspr. z.  B. EuGH, Urt. v. 04. 12. 1974 – Rs. 41/74 – van Duyn/Home Office, ECLI:EU:C:1974:133, Rn. 12 ff.; EuGH, Urt. v. 05. 04. 1979 – Rs. 148/78 – Ratti, ECLI:EU:C:1979:110, Rn. 21 ff.; EuGH, Urt. v. 19. 01. 1982 – Rs. 8/81 – Becker, ECLI:EU:C:1982:7, Rn. 25; EuGH, Urt. v. 22. 06. 1989 – Rs. 103/88 – Fratelli Costanzo/Comune di Milano, ECLI:EU:C: 1989:256, Rn. 29; EuGH, Urt. v. 15. 05. 1993 – Rs. C-193/91 – Finanzamt München III/Mohsche, ECLI:EU:C:1993:203, Rn. 17; anerkannt durch: BVerfG, Beschl. v. 08. 04. 1987 – 2 BvR 687/85 – Kloppenburg-Beschluß, BVerfGE 75, 223, 238 ff.; eingehend dazu auch: Karpenstein, Praxis des EU-Rechts, 2013, Rn. 56 ff. 388  Zu den Voraussetzungen der unmittelbaren Richtlinienwirkung: Karpenstein, Praxis des EU-Rechts, 2013, Rn. 56 ff.; ausführlich dazu auch unter: Erster Teil B. II. 2. c) bb) (2) (b). 389  Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, 2003, S. 33; im Ergebnis ebenso, wenngleich ohne diesen Schluss offenzulegen: Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, 1994, S. 194; trotz der grundsätzlichen Stringenz dieser Schlussfolgerung stellt sich die Frage, inwieweit dann noch ein Unterschied zwischen Geltung und Wirkung einer Richtlinie besteht. 390  Hierzu: EuGH, Urt. v. 05. 04. 1979 – Rs. 148/78 – Ratti, ECLI:EU:C:1979:110, Rn. 21 ff.; EuGH, Urt. v. 07. 03. 1996 – Rs. C-192/94 – El Corte Inglés/Blázquez Rivero, ECLI:EU:C:1996:88, Rn. 16; BVerfG, Beschl. v. 08. 04. 1987 – 2 BvR 687/85 – Kloppenburg-Beschluß, BVerfGE 75, 223, 241; Jarass, NJW 1990, 2420, 2422; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 409. 391  So in st. Rspr. z. B. EuGH, Urt. v. 26. 02. 1986 – Rs. 152/84 – Marshall/Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority, ECLI:EU:C:1986:84, Rn. 48; EuGH, Urt. v. 11. 06. 1987 – Rs. 14/86 – Pretore di Salò, ECLI:EU:C:1987:275, Rn. 19; EuGH, Urt. v. 08. 10. 1987 – Rs. 80/86 – Kolpinghuis Nijmegen, ECLI:EU:C: 1987:431, Rn. 9; EuGH, Urt. v. 14. 07. 1994 – Rs. C-91/92 – Faccini Dori/Recreb, ECLI:EU:C:1994:292, Rn. 20; EuGH, Urt. v. 07. 03. 1996 – Rs. C-192/94 – El Corte Inglés/Blázquez Rivero, ECLI:EU:C:1996:88, Rn. 16 f.; EuGH, Urt. v. 26. 09. 2000 – Rs. C-443/98 – Unilever, ECLI:EU:C:2000:496, Rn. 50; EuGH, Urt. v. 05. 10. 2004 – verb. Rs. C‑397/01 bis C‑403/01 – Pfeiffer u. a., ECLI:EU:C:2004:584, R. 108; EuGH, Urt. v. 07. 06. 2007 – Rs. C-80/06 – Carp, ECLI:EU:C:2007:327, Rn. 20.; EuGH, Urt. v. 24. 01. 2012– Rs. C-282/10 – Dominguez, ECLI:EU:C:2012:33, Rn. 37.



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Geltung nur in absoluten Ausnahmefällen möglich ist, darf diese singuläre Erscheinung nicht dahin verallgemeinert werden, dass auch im Übrigen jede andere Richtlinie unmittelbar gilt.392 Wegen dieser Ausnahme scheint es konsequent, sie weiterhin als lediglich „mittelbar geltenden“ Sekundärrechtsakt zu charakterisieren. Wie noch zu zeigen sein wird, ist dies auch mit den Konzepten der Vorwirkung und der richtlinienkonformen Auslegung und Fortbildung des nationalen Rechts kompatibel, weil der Anknüpfungspunkt hierfür richtigerweise im Primärrecht und nicht in der sekundärrechtlichen Richtlinie selbst liegt. (b) Umgesetzte Richtlinie Wurde die Richtlinie ordnungsgemäß umgesetzt, gilt sie aber auch dann nicht unmittelbar. Vielmehr folgt aus dem zweistufigen Rechtssetzungs­ verfahren,393 dass die Richtlinie auf erster Stufe nur gegenüber den Mitgliedstaaten im völkerrechtlichen Außenverhältnis Verbindlichkeit beansprucht, während nationale Adressaten auf zweiter Stufe allein durch den Umsetzungsakt erreicht werden.394 Er besteht jedoch nicht darin, dass die nationale Maßnahme einen bloßen Vollzugsbefehl erteilt, welcher der Richtlinie zur unmittelbaren Geltung im deutschen Rechtskreis verhilft. Stattdessen werden die Richtlinienvorgaben dort erst durch das deutsche Umsetzungsgesetz verwirklicht, die selbst korrespondierende Regelungen treffen. Entgegen dem ersten Anschein provoziert dies keinen Widerspruch zur herrschenden Vollzugs­ theorie,395 weil das Primärrecht unmissverständlich vorsieht, dass es den Organen der Mitgliedstaaten obliegt, in welcher Art und Weise die europäischen Ziele auf nationaler Ebene implementiert werden. Damit geht das Primärrecht davon aus, dass sich ein Umsetzungsgesetz nicht auf die Erteilung eines Voll392  Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, 1994, S. 194, der in Fn. 281 außerdem zutreffend darauf hinweist, dass zwar theoretisch viele Richtlinien nahezu sämtliche Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung erfüllen, praktisch eine solche aber im Regelfall daran scheitert, dass die Richtlinie ordnungsgemäß umgesetzt wird. 393  Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, 1994, S.  14; Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, 2003, S. 25. 394  So zu Recht: Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, 1994, S. 14; Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, 2003, S. 25 f. 395  Die Vollzugstheorie geht im Gegensatz zur Transformationstheorie davon aus, dass ein Völkerrechtsakt im nationalen Recht nicht „verdoppelt“ wird, sondern durch die Umsetzungsmaßnahme lediglich den Vollzugsbefehl erhält, um im innerstaat­ lichen Rechtskreis unmittelbar zu gelten; siehe hierzu: BVerfG, Urt. v. 12. 07. 1994 – 2 BvE 3/92, 5/93, 7/93, 8/93 – Out-of-area-Einsätze, BVerfGE 90, 286, 364; BVerfG, Urt. v. 22. 11. 2001 – 2 BvE 6/99 – NATO-Konzept, BVerfGE 104, 151, 209; zur Transformationstheorie hingegen: BVerwG, Urt. v. 18.  01.  1994 – 9 C 48.92, ­BVerwGE 95, 42, 49.

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

zugsbefehls beschränken kann, sondern die Modalitäten eigens durch die natio­nale Umsetzungsmaßnahme geregelt werden müssen. Dem schließt sich auch der EuGH im Urteil in der Rechtssache Kommission/Deutschland an, in dem er es für die ordnungsgemäße Umsetzung nicht genügen ließ, dass Deutschland – vergleichbar einem Vollzugsbefehl – einen Verweis auf die Richtlinienbestimmung in die nationale Regelung aufgenommen hatte.396 Gestattet das Primärrecht nur eine Umsetzung durch Transformation,397 beweist dies, dass die Richtlinie selbst weiterhin nur gegenüber dem Mitgliedstaat als Völkerrechtssubjekt unmittelbar gilt, während sie im nationalen Rechtskreis nach wie vor über keine unmittelbare Geltung verfügt.398 bb) Die unmittelbare Wirkung des Unionsrechts Soweit Unionsrecht national als unmittelbar geltendes Recht anerkannt ist, kommt es in Betracht, um die mitgliedstaatlichen Zivilgerichte zu binden. Wann dies auch tatsächlich der Fall ist, wird im verfassungsrechtlichen Schrifttum nicht einheitlich beurteilt. Fest steht zwar, dass in Art. 20 Abs. 3 GG ebenfalls das Unionsrecht angesprochen ist. Unklar bleibt jedoch, unter welchen Bedingungen es dem Begriffspaar zugerechnet werden kann. (1) Anforderungen im Allgemeinen (a) Unmittelbare Wirkung als „wesensgleiches Plus“? Für eine Vielzahl der Autoren kann eine Zuordnung zu Art. 20 Abs. 3 GG nur bei jenen europäischen Rechtsakten erfolgen, die unmittelbar anwendbar 396  EuGH, Urt. v. 20. 03. 1997 – Rs. C-96/95 – Kommission/Deutschland, ECLI:EU: C:1997:165, Rn. 36; dazu auch: Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 403, wonach „eine statische oder dynamische Verweisung auf die umzusetzende Richtlinie innerhalb nationaler Rechtsvorschriften […] nicht eine Umsetzung der jeweiligen Richtlinienbestimmungen in nationales Recht“ ersetze. 397  Im Ergebnis ebenso: EuGH, Urt. v. 30. 05. 1991 – Rs. C-59/89 – Kommission/ Deutschland, ECLI:EU:C:1991:225, Rn. 24; als st. Rspr. bestätigt durch: EuGH, Urt. v. 08. 10. 1996 – verb. Rs. C-178/94, C-179/94, C-188/94 und C-190/94 – Dillenkofer u. a./Bundesrepublik Deutschland, ECLI:EU:C:1996:375, Rn. 48, wonach Richtlinien „in der Weise umgesetzt werden [müssen], daß sie unzweifelhaft verbindlich und so konkret, bestimmt und klar sind, daß sie dem Erfordernis der Rechtssicherheit genügen.“ Den genannten Anforderungen kann wohl nur ein innerstaatliches Umsetzungsgesetz genügen, das die Zielvorgabe der Richtlinie in nationales Recht transformiert. 398  Eine Ausnahme gilt, wie gezeigt, nur für die nicht oder nicht ordnungsgemäß umgesetzte Richtlinie und dies auch nur dann, wenn sie sämtliche Voraussetzungen erfüllt, um nach der Rechtsprechung des EuGH gegenüber nationalen Adressaten unmittelbar Wirkung zu entfalten.



B. Die Grundannahmen zu den Grenzen der Rechtsfortbildung 99

sind.399 Andere formulieren, ohne dies näher zu präzisieren, hierzu müsse das EU-Recht unmittelbar Rechtswirkungen entfalten.400 Letzteres kann einerseits so verstanden werden, dass die unmittelbare Geltung genügen soll. Andererseits scheint es aber auch möglich, dass die unmittelbare Wirkung des Rechtsakts gemeint ist. Erschwert wird die Einordnung dadurch, dass die Autoren ihr eigenes Vorverständnis zumeist nicht offenlegen, obwohl die Ausdrücke der „unmittelbaren Geltung“, der „unmittelbaren Anwendbarkeit“ und der „unmittelbare Wirkung“ sogar im europarechtlichen Schrifttum teils synonym,401 teils mit erheblichen Abweichungen402 gebraucht werden. Reduziert man die Begriffsvielfalt in ihrer Komplexität und versteht die unmittelbare Anwendbarkeit richtigerweise als Synonym zur unmittelbaren Wir­ kung,403 ist gleichwohl sprachlich kaum erkennbar, wie sich Geltung und Wirkung unterscheiden sollen. Trotz alledem wird verbreitet angenommen, die Wirkung weiche dadurch von der Geltung ab, dass sie über einen vollziehbaren Inhalt verfüge.404 Pointiert könnte die unmittelbare Wirkung dem399  Für die „unmittelbare Anwendbarkeit“: Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht, 2003, S. 122; Schmidt-Aßmann, in: Burmeister (Hrsg.), Festschrift Stern, 1997, S.  754 f.; Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn. 107; Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 2020, Art. 20 Abs. 3 GG, Rn. 60; Windthorst, in: Gröpl/Windthorst/von Coelln, GG, 2020, Art. 20 GG, Rn. 114. 400  Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG-Kommentar, Band II, 2015, Art. 20 GG (Rechtsstaat), Rn. 93. 401  Trotz kritischer Reflexion im Ergebnis für einen bedeutungsgleichen Gebrauch aller drei Begriffe: Jarass, NJW 1990, 2420, 2421; für eine synonyme Verwendung der letzten beiden Begrifflichkeiten: Karpenstein, Praxis des EU-Rechts, 2013, Rn.  41 ff.;  Ehlers, in: Schulze/Janssen/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 2020, § 11 Rn. 9; Frenz, Europarecht, 2016, Rn. 12; Haltern, Europarecht, 2017, Rn. 580. 402  Neben dem divergierenden Verständnis der unmittelbaren Anwendbarkeit und Wirkung werden oftmals auch die Begriffe unmittelbare Anwendung, Direktwirkung, Drittwirkung und unmittelbare Geltung gebraucht. Überblicksartig zur terminologischen Vielfalt: Klein, Unmittelbare Geltung, Anwendbarkeit und Wirkung von europäischem Gemeinschaftsrecht, 1988, S. 3 ff.; Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, 1994, S. 15; Kruis, Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis, 2013, S. 109; Scherzberg, in: Siedentopf (Hrsg.), Europäische Integration, 1991, S. 32; Jarass, NJW 1990, 2420, 2420 f. 403  Für den vorzugswürdigen bedeutungsgleichen Gebrauch: Jarass/Beljin, JZ 2003, 768, 769; Wiedmann, in: Gebauer/Wiedmann (Hrsg.), Zivilrecht unter europäischem Einfluss, 2010, S. 44 ff.; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 2016, Art. 1 AEUV, Rn. 26; Streinz, Europarecht, 2019, Rn. 495; a. A. Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 390, die davon ausgehen, ohne sich im Ergebnis einer Ansicht anzuschließen, dass die unmittelbare Wirkung „– je nach Standpunkt – eine zusätz­ liche Voraussetzung der unmittelbaren Anwendbarkeit oder eine Einschränkung dieser Normeigenschaft“ beschreibt. 404  Mit unterschiedlichen Formulierungen zum Erfordernis des vollziehbaren Inhalts: EuGH, Urt. v. 23. 02. 1994 – Rs. C-236/92 – Comitato di coordinamento per la difesa della Cava u. a./Regione Lombardia u. a., ECLI:EU:C:1994:60, Rn. 10 („un-

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

nach als „wesensgleiches Plus“ zur unmittelbaren Geltung charakterisiert werden. Insoweit ist jedoch bereits unklar, ab wann ein Norminhalt als vollziehbar anzusehen ist. Im wörtlichen Sinne könnten hierunter nur Rechtsnormen verstanden werden, die ihrerseits eine Rechtsfolge aussprechen, da ohne eine solche nichts existiert, was ausgeführt werden könnte. Unter dieser Annahme wären aber weite Teile der Rechtsordnung, wie beispielsweise § 276 Abs. 2 BGB, ohne vollziehbaren Inhalt. Schließlich kann der Rechtssatz „Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt“ isoliert nicht durchgeführt werden. Weil er aber als Hilfsnorm im Rahmen einer Anspruchsgrundlage405 von großer Bedeutung ist, wäre es kaum begründbar, seine Vollzugsfähigkeit zu leugnen. Da der Gesetzgeber keine „zwecklosen“ Bestimmungen erlässt, sondern mit jeder Regelung einen konkreten Zweck verfolgt, muss jede handwerklich fehlerfreie Vorschrift entsprechend ihrer Funktion406 aber auch als vollziehbar behandelt werden. Die herrschende Trennung in Geltung und Wirkung ergibt die merkwürdige Konsequenz, dass ein Rechtssatz Bestandteil der nationalen Rechtsordnung wird, weil er unmittelbar gilt, dort aber keinerlei Wirkungen hervorrufen kann, weil er nicht unmittelbar wirkt.407 Nicht überzeugend ist, dass eine solche Trennung faktisch die Anerkennung von „wirkungslosem Recht“ bedeutet, weil der Unionsrechtssatz zwar innerstaatlich gelten kann, aber wirkungslos ist. Das erscheint nicht nur tatsächlich zweifelhaft, sondern ist auch rechtstheoretisch nicht zutreffend, weil die „juristische Geltung“ von Rechtsnormen schon begrifflich für sich beansprucht, dass die Normadressaten an sie gebunden sind.408 Während das Anlass geben mag, die europäische Begriffsbildung zu überdenken, ist hier aber letztlich einzig maßgeblich, dass der Unionsrechtsakt im nationalen Rechtskreis Wirkungen hervorbringen kann. zweideutig eine Verpflichtung begründet“); EuGH, Urt. v. 16. 06. 1966 – Rs. 57/65 – Lütticke/Hauptzollamt Saarlouis, ECLI:EU:C:1966:34 = Slg. 1966, 257, 266 („vollständig, rechtlich vollkommen“); EuGH, Urt. v. 19. 01. 1982 – Rs. 8/81 – Becker, ECLI:EU:C:1982:7, Rn. 25; Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, 2003, S. 33. 405  Zum Verhältnis von Anspruchs- und Hilfsnormen: Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, 1998, S. 41 ff. 406  Im Privatrecht sind dies vor allem die Funktionen als Anspruchsgrundlagen oder Hilfsnormen, wie Definitionen, Verweisungen oder einschränkenden Normen. Näher zu vollständigen und unvollständigen Rechtssätzen: Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 71 ff. und 78 ff. 407  Siehe statt aller zu den Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung: Haratsch/ Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 389 f. 408  Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 334.



B. Die Grundannahmen zu den Grenzen der Rechtsfortbildung 101

(b) Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung Ist für Art. 20 Abs. 3 GG die unmittelbare Wirkung des Unionsrechtsakts entscheidend, ist die Begriffsarbeit aber noch nicht abgeschlossen, weil im Schrifttum teilweise wiederum divergierende Bedeutungsinhalte mit ihr verbunden werden. Frenz geht davon aus, eine Norm habe unmittelbare Wirkung,409 „wenn sich Unionsbürger gegenüber den Mitgliedstaaten unmittelbar auf sie berufen können.“410 Für Ehlers wirkt ein EU-Rechtsakt hin­ gegen schon dann unmittelbar,411 wenn „Adressaten des innerstaatlichen Rechtskreises – dh die Mitgliedstaaten oder Privaten – berechtigt oder verpflichtet werden.“412 Obwohl beide Autoren den gleichen Ausdruck verwenden, ist für Frenz allein die Verpflichtung des Mitgliedstaats und die subjektiv-rechtliche Position der Unionsbürger begriffsprägend, während für Ehlers neben dem Mitgliedstaat ein Privater als innerstaatlicher413 Adressat genügt. Auch wenn der von Frenz gewählte Begriffsinhalt nicht insgesamt unzutreffend ist, kann doch die Verengung auf den Mitgliedstaat als potenziellen Verpflichtungsadressaten nicht überzeugen. Offenkundig wird dies, wenn man anstelle der Anwendbarkeit das Synonym der unmittelbaren Wirkung in den Blick nimmt. Denn im Gegensatz zur Anwendbarkeit impliziert dieser Ausdruck, dass der Rechtsakt zwar gegenüber einem bestimmten Adressaten wirkt, dabei aber nicht notwendig der Mitgliedstaat verpflichtet werden muss. Vor diesem Hintergrund ist es kaum überraschend, dass sich die Aufspaltung in vertikale, umgekehrt vertikale und horizontale Wirkung durchgesetzt hat.414 Im Ergebnis bestimmt nämlich das Regelungsverhältnis einer Norm, welche Rechtsunterworfene sie einschließt und damit auch, in welchen Beziehungen sie Wirkungen hervorbringt.415 Regelt eine Norm ausschließlich das Verhältnis zwischen Privaten und ergibt sich aus ihr keine unmittelbare Verpflichtungsstellung der Zivilgerichte, kann der Privatrechtsrichter die Vorschrift nicht nur deshalb missachten, weil sie in ihrem Kern das Horizon409  Frenz spricht im Original von unmittelbarer Anwendbarkeit bezeichnet sie aber als Synonym zur unmittelbaren Wirkung. 410  Frenz, Europarecht, 2016, Rn. 12. 411  Auch Ehlers spricht von unmittelbarer Anwendbarkeit, geht aber ebenfalls davon aus, dass beide Begriffe Synonym zu verwenden sind. 412  Ehlers, in: Schulze/Janssen/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 2020, § 11 Rn. 9. 413  Es genügt folglich nicht, dass der Mitgliedstaat allein als Völkerrechtssubjekt berechtigt oder verpflichtet wird. 414  Das Verhältnis von Privaten und Staat bezeichnet man als vertikal, die spiegelverkehrte Konstellation von Staat und Privaten als umgekehrt vertikal. Geht es um das Verhältnis zwischen Privaten, nennt man dies horizontal. Statt aller: Haratsch/ Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 390. 415  Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 390.

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

talverhältnis zwischen Privaten betrifft. Die Regelung bleibt für ihn als Entscheidungsnorm verbindlich, weil es seiner kompetenzgemäßen Aufgabe entspricht, das streitige Rechtsverhältnis zwischen den Parteien unter allen rechtlichen Gesichtspunkten zu entscheiden. Daher erheben grundsätzlich alle wirkenden Normen einen Anspruch auf Verbindlichkeit, die den zu entscheidenden Rechtsstreit berühren, unabhängig davon, ob sie das Vertikalverhältnis zwischen Zivilgericht und Prozesspartei oder das Horizontalverhältnis zwischen Kläger und Beklagtem betreffen. Mittelbar erkennt auch Frenz, dass seine Begriffsbestimmung nicht weit genug reicht, da er seine Definition durch einen Klammerzusatz ergänzt, der einräumt, dass sie nur die Konstellation der vertikalen Wirkung beschreibt.416 Infolgedessen ist eine unmittelbare Wirkung anzunehmen, wenn ein innerstaatlicher Adressat durch den Unionsrechtsakt berechtigt oder verpflichtet wird. Belanglos ist hingegen, ob ein Staatsorgan (vertikale Wirkung) als nationaler Adressat417 oder ein Privater (umgekehrt vertikale oder horizontale Wirkung) angesprochen wird. Des Weiteren ist Frenz’ Begriffsverständnis aber noch in einem weiteren Punkt zu eng. Ob sich ein Bürger gegenüber dem Mitgliedstaat auf das Unionsrecht berufen kann, ist nämlich genau genommen eine Folgefrage. Bevor ihr nachgegangen werden kann, muss zunächst die Ausgangsfrage positiv beantwortet sein, ob der Mitgliedstaat überhaupt gebunden ist. Es ist folglich stets in einem ersten Schritt zu ermitteln, ob der Unionsrechtsakt im nationalen Rechtskreis verbindlich ist, ehe in einem zweiten geklärt werden kann, ob ein Privater die sodann ermittelte Bindungswirkung für sich nutzen kann. Weil beide Fragen strikt voneinander zu trennen sind,418 lässt sich auch die unmittelbare Wirkung in eine subjektive und eine objektive Komponente aufspalten,419 wobei für die hier infrage stehende Auslegung von Art. 20 Abs. 3 GG allein Letztere maßgeblich ist. Die Bestimmung richtet sich schon nach ihrem Wortlaut nur an Träger der Staatsgewalt und gewährleistet als tragender Pfeiler der Rechtsstaatlichkeit,420 dass die Akte der Rechtsprechung in „Gesetz und Recht“ ihre Grenzen finden. Nach ständiger Rechtsprechung 416  Frenz,

Europarecht, 2016, Rn. 12. ist also gerade nicht, dass der Staat als völkerrechtlicher Adressat im Außenverhältnis angesprochen ist und ein Staatsorgan als Vertreter des Staates zur Erfüllung dieser Pflicht tätig wird. 418  EuGH, Urt. v. 11.08.1995 – Rs. C-431/92 – Kommission/Deutschland, ECLI:EU: C:1995:260, Rn. 26; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 388. 419  Calliess, NVwZ 1996, 339, 340 f.; Epiney, DVBl 1996, 409, 410; Gellermann, DÖV 1996, 433, 436 f.; Pechstein, EWS 1996, 261; Albin, NuR 1997, 29, 32 f.; Klein, in: Due/Lutter/Schwarze (Hrsg.), Festschrift Everling, Band I, 1995, S. 641 f.; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 2016, Art. 1 AEUV, Rn. 26; Karpenstein, Praxis des EU-Rechts, 2013, Rn. 43. 420  BVerfG, Beschl. v. 14. 02. 1973 – 1 BvR 112/65 – Soraya, BVerfGE 34, 269, 286. 417  Ausreichend



B. Die Grundannahmen zu den Grenzen der Rechtsfortbildung 103

des EuGH setzt dies voraus, dass der europäische Rechtsakt in seiner Formulierung hinreichend bestimmt und inhaltlich unbedingt ist,421 wobei abhängig von der primärrechtlichen Ausgestaltung des Rechtsakts noch weitere Bedingungen hinzutreten können.422 Aus der vorhandenen Kasuistik423 kann insoweit der Gedanke isoliert werden, dass ein Unionsrechtsakt hinreichend bestimmt ist, wenn er Handlungsanweisungen vermittelt,424 die von Exekutive oder Judikative ausgeführt werden können, ohne dass ein vorheriges Tätigwerden der Legislative nötig wäre.425 Ein Unionsrechtsakt ist inhaltlich unbedingt, wenn sein Regelungsgehalt von keiner Bedingung abhängt ist und für seine Anwendung keine zusätzlichen Maßnahmen benötigt werden.426 Hier ist von Interesse, ob den Mitgliedstaaten nach dem Inhalt des EU-Rechtsakts ein Gestaltungsspielraum vorbehalten ist, der von den nationalen Legislativorganen konkretisierend 421  Zur Berechtigung und Verpflichtung Einzelner: EuGH, Urt. v. 05. 02. 1963 – Rs. 26/62 – Van Gend & Loos/Niederländische Finanzverwaltung, ECLI:EU:C:1963:1 = Slg. 1962, 7, 25; EuGH, Urt. v. 16. 06. 1966 – Rs. 57/65 – Lütticke/Hauptzollamt Saarlouis, ECLI:EU:C:1966:34 = Slg. 1966, 257, 266; EuGH, Urt. 03. 12. 1974 – Rs. 33/74 – Van Binsbergen/Bedrijfsvereniging voor de Metaalnijverheid, ECLI:EU: C:1974:131, Rn. 24/26; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 389. 422  Für die Richtlinie ist neben den genannten Kriterien erforderlich, dass sie trotz Ablaufs der Umsetzungsfrist nicht oder nicht ordnungsgemäß umgesetzt wurde und dass durch sie keine unmittelbare Verpflichtung für einen Privaten begründet wird. 423  EuGH, Urt. v. 23. 02. 1994 – Rs. C-236/92 – Comitato di coordinamento per la difesa della Cava u. a./Regione Lombardia u. a., ECLI:EU:C:1994:60, Rn. 10 („unzweideutig eine Verpflichtung begründet“); EuGH, Urt. v. 16. 06. 1966 – Rs. 57/65 – Lütticke/Hauptzollamt Saarlouis, ECLI:EU:C:1966:34 = Slg. 1966, 257, 266 („vollständig, rechtlich vollkommen“); EuGH, Urt. v. 19. 01. 1982 – Rs. 8/81 – Becker, ECLI:EU:C:1982:7, Rn. 25. 424  Ob ein EU-Rechtsakt eine Handlungsanweisung enthält, ist durch Auslegung zu ermitteln. Vergleichbar mit dem nationalen Recht, das eine Auslegung und Fortbildung nach nationalen Methoden gebietet, verlangt jedoch auch eine Vorschrift des Unionsrechts eine Behandlung nach unionseigenen Methoden. Zur autonomen Auslegung des Unionsrechts: Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 2 Rn. 71 ff. Diese sind nicht Gegenstand dieser Arbeit, die sich insoweit auf die Europäisierung der nationalen Methodik beschränkt; eingehend zur „europarechtlichen Methodenlehre“: Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 3 ff.; Langenbucher, in: Langenbucher (Hrsg.), Europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht, 2017, § 1 Rn. 5 ff. 425  Karpenstein, Praxis des EU-Rechts, 2013, Rn. 40, der zu diesem Zweck zwischen „Handlungsanweisung“ und bloßem „Gestaltungsauftrag im Sinne eines vagen Programms“ differenziert. 426  EuGH, Urt. v. 03. 04. 1968 – Rs. 28/67 – Molkerei Zentrale Westfalen-Lippe/ Hauptzollamt Paderborn, ECLI:EU:C:1968:17 = Slg. 1968, 218, 230 f.; EuGH, Urt. v. 23. 02. 1994 – Rs. C-236/92 – Comitato di coordinamento per la difesa della Cava u. a./Regione Lombardia u. a., ECLI:EU:C:1994:60, Rn. 9; EuGH, Urt. v. 26. 05. 2011 – verb. Rs. C-165/09 bis C-167/09 – Stichting Natuur en Milieu u. a., ECLI:EU: C:2011:348, Rn. 95; ferner dazu: Karpenstein, Praxis des EU-Rechts, 2013, Rn. 37 f.

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wahrgenommen werden muss.427 Anders als die detaillierten Rechtsprechungsvorgaben nahelegen, ist der EuGH in der Auslegung der genannten Kriterien jedoch sehr großzügig.428 Ein Unionsrechtsakt gilt in der Konsequenz trotz Gestaltungsspielraums schon dann als inhaltlich unbedingt, wenn er in seiner Zielvorgabe unbedingt formuliert ist.429 (2) Anforderungen im Besonderen Damit ist geklärt, dass das Unionsrecht unter Art. 20 Abs. 3 GG fällt, wenn es unmittelbar wirkt und dass ein europäischer Rechtsakt im Ausgangspunkt hinreichend bestimmt und inhaltlich unbedingt sein muss, um dieser Kategorie zu genügen. Ermittelt werden muss insoweit nur noch, welche Akte konkret unmittelbare Wirkung haben.430 (a) Unmittelbar wirkendes Primärrecht In Anwendung der genannten Maßstäbe genügen weite Teile des EU-Primärrechts den Erfordernissen der hinreichenden Bestimmtheit und inhalt­ lichen Unbedingtheit und wirken folglich unmittelbar. Obwohl für jeden konkreten Primärrechtsakt im Einzelnen zu bestimmen ist, ob er den skizzierten Anforderungen gerecht wird, ist dies für eine Reihe primärrechtlicher Normen höchstrichterlich anerkannt. Hierzu zählen in erster Linie Art. 18 AEUV431 (allgemeines Diskriminierungsverbot), Art. 34 AEUV432 (Warenverkehrs­ freiheit), Art. 45 AEUV433 (Arbeitnehmerfreizügigkeit), Art. 49 AEUV434 (Niederlassungsfreiheit), Art. 56 AEUV435 (Dienstleistungsfreiheit), Art. 63 427  Karpenstein,

Praxis des EU-Rechts, 2013, Rn. 37. speziell für die Auslegung primärrechtlicher Vorschriften: Haratsch/­ Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 389. 429  EuGH, Urt. v. 04. 10. 1986 – Rs. 71/85 – Niederlande/Federatie Nederlandse Vakbeweging, ECLI:EU:C:1986:465, Rn. 20. 430  Siehe auch: Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, 2020, Rn. 137. 431  Zur unmittelbaren Wirkung des allgemeinen Diskriminierungsverbots: EuGH, Urt. v. 20. 10. 1993 – verb. Rs. C-92/92 und C-326/92 – Collins und Patricia Im- und Export/Imtrat und EMI Electrola, ECLI:EU:C:1993:847, Rn. 34 f. 432  EuGH, Urt. v. 22.03.1977 – Rs. 74/76 – Ianelli/Meroni, ECLI:EU:C:1977:51, Rn. 13; EuGH, Urt. v. 29.11.1978 – Rs. 83/78 – Redmond, ECLI:EU:C:1978:214, Rn. 66/67. 433  EuGH, Urt. v. 14. 07. 1976 – Rs. 13/76 – Dona/Mantero, ECLI:EU:C:1976:115, Rn. 20. 434  EuGH, Urt. v. 21. 06. 1974 – Rs. 2/74 – Reyners/Belgischer Staat, ECLI:EU:C: 1974:68, Rn. 24/28. 435  EuGH, Urt. 03. 12. 1974 – Rs. 33/74 – Van Binsbergen/Bedrijfsvereniging voor de Metaalnijverheid, ECLI:EU:C:1974:131, Rn. 18 ff. 428  Siehe



B. Die Grundannahmen zu den Grenzen der Rechtsfortbildung 105

AEUV436 (Kapitalverkehrsfreiheit), im Kartellrecht Art. 101 AEUV437 (Kartellverbot) und Art. 102 AEUV438 (Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung), im Beihilferecht Art. 108 Abs. 3 AEUV,439 aber auch im Arbeitsrecht Art. 157 AEUV,440 der den Grundsatz der Entgeltgleichheit für Männer und Frauen sicherstellen möchte.441 (b) Unmittelbar wirkendes Sekundärrecht Ob das EU-Sekundärrecht unmittelbar wirkt, ist für jeden Akt isoliert zu ermitteln. Da die Verordnung gem. Art. 288 Abs. 2 AEUV in allen Teilen verbindlich ist und in den Mitgliedstaaten unmittelbar gilt, kann aber davon ausgegangen werden, dass sie unmittelbare Wirkung besitzt,442 soweit sie nach den genannten Maßstäben hinreichend bestimmt und inhaltlich unbedingt ist. Keine Probleme bereitet außerdem der Beschluss gem. Art. 288 Abs. 4 AEUV, soweit er diese Anforderungen wahrt und nicht adressatenlos ist.443 Er gilt dann ebenfalls im innerstaatlichen Rechtskreis unmittelbar.444 Auch wenn die Richtlinie nach ihrer primärrechtlichen Ausgestaltung auf einen nationalen Umsetzungsakt angewiesen und eine unmittelbare Wirkung der Richtlinienvorgabe selbst in der Folge im Ausgangspunkt ausgeschlossen ist, kann es nach ständiger Rechtsprechung des EuGH und BVerfG unter sehr engen Voraussetzungen dennoch zu einer solchen Richtlinienwirkung kom-

436  EuGH, Urt. v. 14. 12. 1995 – verb. Rs. C-163/94, C-165/94 und C-250/94 – Sanz de Lera u. a., ECLI:EU:C:1995:451, Rn. 48; insoweit Aufgabe von EuGH, Urt. v. 11. 11. 1981 – Rs. 203/80 – Casati, ECLI:EU:C:1981:261, Rn. 8 ff. 437  EuGH, Urt. v. 13. 07. 1966 – verb. Rs. 56 und 58/64 – Consten und Grundig/ Kommission der EWG, ECLI:EU:C:1966:41 = Slg. 1966, 325, 388 ff.; EuGH, Urt. v. 20. 09. 2001 – Rs. C-453/99 – Courage und Crehan, ECLI:EU:C:2001:465, Rn. 23. 438  EuGH, Urt. v. 27. 03. 1974 – Rs. 127/73 – BRT/SABAM, ECLI:EU:C:1974:25, Rn.  12/14 f. 439  EuGH, Urt. v. 21. 11. 1991 – Rs. C-354/90 – Fédération nationale du commerce extérieur des produits alimentaires u. a./Frankreich, ECLI:EU:C:1991:440, Rn. 12. 440  EuGH, Urt. v. 08. 04. 1976 – Rs. 43/75 – Defrenne/SABENA, ECLI:EU:C:1976:56, Rn. 21/24. 441  Zur Rechtsprechungsübersicht: Karpenstein, Praxis des EU-Rechts, 2013, Rn.  49 f. 442  Zur unmittelbaren Wirkung der Verordnung: EuGH, Urt. v. 14. 12. 1971 – Rs. 43/71 – Politi/Ministero delle finanze, ECLI:EU:C:1971:122, Rn. 9; Jarass, NJW 1990, 2420, 2422; Karpenstein, Praxis des EU-Rechts, 2013, Rn. 52. 443  Näher dazu: Karpenstein, Praxis des EU-Rechts, 2013, Rn. 74 f. 444  EuGH, Urt. v. 06. 10. 1970 – Rs. 9/70 – Grad/Finanzamt Traunstein, ECLI:EU: C:1970:78, Rn. 5; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 427.

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

men.445 Geleitet wurde der Europäische Gerichtshof hierbei von der Überlegung, dass in seltenen Ausnahmefällen mit Blick auf den „effet utile“ sogar eine Richtlinie in der Lage sein müsse, Wirkungen im nationalen Rechtskreis zu erzeugen, da anderenfalls ihre Wirksamkeit gefährdet wäre, wenn ein Mitgliedstaat durch die bloße Nichtumsetzung verhindern könnte, dass die europäische Vorgabe den nationalen Rechtskreis erreicht.446 Insoweit sei ein Vertragsverletzungsverfahren nicht hinreichend effektiv, um die praktische Wirksamkeit der europäischen Bestimmung nachhaltig abzusichern.447 Weil es einzig dem Staat als Adressat der Umsetzungsverpflichtung obliegt, dem Richtlinienziel durch das nationale Umsetzungsgesetz im innerstaatlichen Bereich Bedeutung zu verschaffen, kann sich der Bürger gegenüber dem Staat auf eine trotz Ablaufs der Umsetzungsfrist nicht ordnungsgemäß umgesetzte Richtlinienregelung berufen. Hierfür streitet der Rechtsgedanke des venire contra factum proprium, da es dem Staat nicht gestattet sein kann, einerseits ein Umsetzungsdefizit zu verursachen und sich andererseits darauf zu berufen, dass die Richtlinienbestimmung mangels Umsetzung keine Wirkungen hervorbringen könne.448 Kommt die unmittelbare Wirkung der Richtlinie allerdings nur als Sanktionsmechanismus449 bei Umsetzungsdefiziten 445  Zur unmittelbar wirkenden Richtlinie in st. Rspr. z.  B. EuGH, Urt. v. 04. 12. 1974 – Rs. 41/74 – van Duyn/Home Office, ECLI:EU:C:1974:133, Rn. 12 ff.; EuGH, Urt. v. 05. 04. 1979 – Rs. 148/78 – Ratti, ECLI:EU:C:1979:110, Rn. 21 ff.; EuGH, Urt. v. 19. 01. 1982 – Rs. 8/81 – Becker, ECLI:EU:C:1982:7, Rn. 25; EuGH, Urt. v. 26. 02. 1986 – Rs. 152/84 – Marshall/Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority, ECLI:EU:C:1986:84, Rn. 46; EuGH, Urt. v. 22. 06. 1989 – Rs. 103/88  – Fratelli Costanzo/Comune di Milano, ECLI:EU:C:1989:256, Rn. 29; EuGH, Urt. v. 15. 05. 1993 – Rs. C-193/91 – Finanzamt München III/Mohsche, ECLI:EU:C:1993:203, Rn. 17; bestätigt durch: BVerfG, Beschl. v. 08. 04. 1987 – 2 BvR 687/85 – Kloppenburg-Beschluß, BVerfGE 75, 223, 240 f.; eingehend dazu auch: Karpenstein, Praxis des EU-Rechts, 2013, Rn. 56 ff. 446  Siehe zur effet utile-Argumentation: EuGH, Urt. v. 04. 12. 1974 – Rs. 41/74 – van Duyn/Home Office, ECLI:EU:C:1974:133, Rn. 12; EuGH, Urt. v. 05. 04. 1979 – Rs. 148/78  – Ratti, ECLI:EU:C:1979:110, Rn. 21; EuGH, Urt. v. 19. 01. 1982 – Rs. 8/81  – Becker, ECLI:EU:C:1982:7, Rn. 23; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/ AEUV, 2016, Art. 288 AEUV, Rn. 48; Streinz, Europarecht, 2019, Rn. 495. 447  Streinz, Europarecht, 2019, Rn. 495. 448  EuGH, Urt. v. 05. 04. 1979 – Rs. 148/78 – Ratti, ECLI:EU:C:1979:110, Rn. 22; EuGH, Urt. v. 19. 01. 1982 – Rs. 8/81 – Becker, ECLI:EU:C:1982:7, Rn. 24; EuGH, Urt. v. 08. 10. 1987 – Rs. 80/86 – Kolpinghuis Nijmegen, ECLI:EU:C:1987:431, Rn. 8; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 2016, Art. 288 AEUV, Rn. 48 spricht vom „Grundsatz von Treu und Glauben“. 449  Zum Sanktionsgedanken: EuGH, Urt. v. 05.  04. 1979 – Rs. 148/78 – Ratti, ECLI:EU:C:1979:110, Rn. 21 ff.; EuGH, Urt. v. 07. 03. 1996 – Rs. C-192/94 – El Corte Inglés/Blázquez Rivero, ECLI:EU:C:1996:88, Rn. 16; BVerfG, Beschl. v. 08. 04. 1987 – 2 BvR 687/85 – Kloppenburg-Beschluß, BVerfGE 75, 223, 241; Jarass, NJW 1990, 2420, 2422; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 409.



B. Die Grundannahmen zu den Grenzen der Rechtsfortbildung 107

seitens des Staates in Betracht, ist nachvollziehbar, warum es der EuGH in ständiger Rechtsprechung ablehnt, eine derartige Wirkung im Verhältnis zwischen Privaten anzuerkennen.450 So hatte der Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens in der Sache Faccini Dori einem Bürger die Möglichkeit verweigert, sich gegenüber dem Beklagten, der ebenfalls ein Privater war, auf ein Widerrufsrecht zu berufen, weil dieses zwar in der europäischen Richtlinie vorgesehen war, der Staat Italien aber noch keine Umsetzungsmaßnahmen getroffen hatte.451 Weil Privatpersonen auf die Richt­ linienumsetzung keinen Einfluss haben, könne eine „Richtlinie nicht selbst Verpflichtungen für einen Bürger begründen, so daß ihm gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie als solche nicht möglich“ sei.452 Ist dies gewährleistet, wird also keine Verpflichtung für Private begründet,453 ist die Richt­ linie hinreichend bestimmt und inhaltlich unbedingt und trotz Ablaufs der Umsetzungsfrist nicht oder nicht ordnungsgemäß umgesetzt,454 wirkt sie in den von der herrschenden Meinung anerkannten, seltenen Fällen unmittelbar. 450  So in st. Rspr. z. B. EuGH, Urt. v. 26.02.1986 – Rs. 152/84 – Marshall/Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority, ECLI:EU:C:1986:84, Rn. 48; EuGH, Urt. v. 11.06.1987 – Rs. 14/86 – Pretore di Salò, ECLI:EU:C:1987:275, Rn. 19; EuGH, Urt. v. 08.10.1987 – Rs. 80/86 – Kolpinghuis Nijmegen, ECLI:EU:C: 1987:431, Rn. 9; EuGH, Urt. v. 14.07.1994 – Rs. C-91/92 – Faccini Dori/Recreb, ECLI:EU:C:1994:292, Rn. 20; EuGH, Urt. v. 07.03.1996 – Rs. C-192/94 – El Corte Inglés/Blázquez Rivero, ECLI:EU:C:1996:88, Rn. 16 f.; EuGH, Urt. v. 26.09.2000 – Rs. C-443/98 – Unilever, ECLI:EU:C:2000:496, Rn. 50; EuGH, Urt. v. 05.10.2004 – verb. Rs. C‑397/01 bis C‑403/01 – Pfeiffer u. a., ECLI:EU:C:2004:584, R. 108; EuGH, Urt. v. 07.06.2007 – Rs. C-80/06 – Carp, ECLI:EU:C:2007:327, Rn. 20; EuGH, Urt. v. 24.01.2012– Rs. C-282/10 – Dominguez, ECLI:EU:C:2012:33, Rn. 37. 451  EuGH, Urt. v. 14. 07. 1994 – Rs. C-91/92 – Faccini Dori/Recreb, ECLI:EU:C: 1994:292, Rn.  4 ff. 452  EuGH, Urt. v. 14. 07. 1994 – Rs. C-91/92 – Faccini Dori/Recreb, ECLI:EU:C: 1994:292, Rn. 20, jedoch lediglich unter Bezug auf die bisherige ständige Rechtsprechungspraxis und ohne dieses Argument offenzulegen. 453  Hierzu in st. Rspr. z. B. EuGH, Urt. v. 26. 02. 1986 – Rs. 152/84 – Marshall/ Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority, ECLI:EU:C:1986:84, Rn. 48; EuGH, Urt. v. 11. 06. 1987 – Rs. 14/86 – Pretore di Salò, ECLI:EU:C:1987:275, Rn. 19; EuGH, Urt. v. 08. 10. 1987 – Rs. 80/86 – Kolpinghuis Nijmegen, ECLI:EU:C: 1987:431, Rn. 9; EuGH, Urt. v. 14. 07. 1994 – Rs. C-91/92 – Faccini Dori/Recreb, ECLI:EU:C:1994:292, Rn. 20; EuGH, Urt. v. 07. 03. 1996 – Rs. C-192/94 – El Corte Inglés/Blázquez Rivero, ECLI:EU:C:1996:88, Rn. 16 f.; EuGH, Urt. v. 26. 09. 2000 – Rs. C-443/98 – Unilever, ECLI:EU:C:2000:496, Rn. 50; EuGH, Urt. v. 05. 10. 2004 – verb. Rs. C‑397/01 bis C‑403/01 – Pfeiffer u. a., ECLI:EU:C:2004:584, R. 108; EuGH, Urt. v. 07. 06. 2007 – Rs. C-80/06 – Carp, ECLI:EU:C:2007:327, Rn. 20.; EuGH, Urt. v. 24. 01. 2012– Rs. C-282/10 – Dominguez, ECLI:EU:C:2012:33, Rn. 37. 454  Zu diesen Anforderungen: EuGH, Urt. v. 05. 04. 1979 – Rs. 148/78 – Ratti, ECLI:EU:C:1979:110, Rn. 21 ff.; EuGH, Urt. v. 19. 11. 1991 – verb. Rs.C‑6/90 und C‑9/90 – Francovich und Bonifaci/Italien, ECLI:EU:C:1991:428, Rn. 11; EuGH, Urt. v. 11. 07. 2002 – Rs. C‑62/00 – Marks & Spencer, ECLI:EU:C:2002:435, Rn. 25;

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

Insgesamt lässt sich damit festhalten, dass das unmittelbar wirkende ­ nionsrecht an der Gesetzesbindung des Art. 20 Abs. 3 GG teilnimmt und U den nationalen Zivilgerichten Einschränkungen auferlegen kann.455 Soweit ein Akt des Unionsrechts ihnen gegenüber Verbindlichkeit beansprucht, ist er geeignet, auf die Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung Einfluss zu nehmen. d) Bindung der Zivilgerichte an Völkerrecht Grenzrelevante Wertungen können sich weiter aus dem Völkerrecht ergeben. Weil das Völkerrecht nach dem von Deutschland gewählten dualistischen Modell456 als eine von der nationalen Rechtsordnung getrennte Rechtssphäre behandelt wird,457 müssen völkerrechtliche Regelungen zunächst durch einen nationalen Akt in den deutschen Rechtskreis „hereingeholt“458 werden, ehe sie die Zivilgerichte als innerstaatliche Adressaten binden können.459 Dementsprechend ist in Rechtsprechung und Literatur allgemein anerkannt, dass lediglich das innerstaatlich geltende Völkerrecht in der Bestimmung des Art. 20 Abs. 3 GG angesprochen ist.460 Beachtung beanspruchen EuGH, Urt. v. 05. 10. 2004 – verb. Rs. C‑397/01 bis C‑403/01 – Pfeiffer u. a., ECLI: EU:C:2004:584, R. 103; EuGH, Urt. v. 12. 02. 2009 – Rs. C-138/07 – Cobelfret, ECLI: EU:C:2009:82, Rn. 58. 455  Speziell zur Verpflichtung der nationalen Gerichte: EuGH, Urt. v. 10. 04. 1984 – Rs.  14/83 – von Colson und Kamann/Land Nordrhein-Westfalen, ECLI:EU:C:1984:153, Rn. 26; als st. Rspr. bestätigt durch: EuGH, Urt. v. 14. 07. 1994 – Rs. C-91/92 – Faccini Dori/Recreb, ECLI:EU:C:1994:292, Rn. 26. 456  von Arnauld, Völkerrecht, 2019, Rn. 504. 457  BVerfG, Beschl. v. 14. 10. 2004 – 2 BvR 1481/04 – EGMR-Entscheidungen, BVerfGE 111, 307, 318; näher zum dualistischen Konzept in Abgrenzung zum monistischen Modell: von Arnauld, Völkerrecht, 2019, Rn. 502. 458  So sehr anschaulich: von Arnauld, Völkerrecht, 2019, Rn. 504. Der Umsetzungsakt erteilt nach der vorzugswürdigen Vollzugstheorie lediglich den Rechtsanwendungsbefehl für die innerstaatliche Geltung. 459  von Arnauld, Völkerrecht, 2019, Rn. 504. 460  BVerfG, Beschl. v. 14. 10. 2004 – 2 BvR 1481/04 – EGMR-Entscheidungen, BVerfGE 111, 307, 323 f., in dem der Zweite Senat für die EMRK nach Feststellung ihrer Natur als völkerrechtlicher Vertrag (BVerfG, Beschl. v. 14. 10. 2004 – 2 BvR 1481/04 – EGMR-Entscheidungen, BVerfGE 111, 307, 316) klarstellt, dass die „Berücksichtigung der Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention“ zur Bindung des Richters an Gesetz und Recht gehört und diese „Pflicht zur Berücksichtigung“ durch das Zustimmungsgesetz ausgelöst wurde; bestätigt durch: BVerfG, Beschl. v. 26. 10. 2004 – 2 BvR 955/00, 1038/01 – Bodenreform III, BVerfGE 112, 1, 24 f., in dem der Zweite Senat nun zweifelsfrei bekräftigt, dass die „deutschen Staatsorgane […] gemäß Art. 20 Abs. 3 GG an das Völkerrecht gebunden [sind], das als Völkervertragsrecht nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG und mit seinen allgemeinen Regeln insbesondere als Völkergewohnheitsrecht nach Art. 25 Satz 1 GG innerstaatlich



B. Die Grundannahmen zu den Grenzen der Rechtsfortbildung 109

insoweit die unveräußerlichen Menschenrechte, die in Art. 1 Abs. 2 GG verbürgt sind.461 Wegen Art. 25 GG sind ferner die allgemeinen Regeln des Völkerrechts verbindlich, die nach gefestigter Ansicht das Völkergewohnheitsrecht und die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts umschließen.462 Relevant werden können zudem die Regelungen des Völkervertragsrechts, die gem. Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG einen Rechtsanwendungsbefehl für den nationalen Rechtskreis erhalten haben.463 Für privatrechtliche Streitigkeiten ist so in erster Linie464 die Bindung der Zivilgerichte an die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) relevant.465 Welch große Bedeutung der hierin verbürgte Grundrechtsschutz im Privatrecht aufweisen kann, haben die Judikate im Fall Görgülü466 oder Caroline von Hannover467 eindrucksvoll belegt. Soweit das Völkerrecht hiernach in Art. 20 Abs. 3 GG einen Ausdruck findet, können sich aus ihm Wirkungen für die Fortbildung ergeben.

Geltung beansprucht“; Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht, 2003, S. 122; Payandeh, RW 2013, 397, 400; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG-Kommentar, Band II, 2015, Art. 20 GG (Rechtsstaat), Rn. 93; Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn. 107. 461  Siehe hierzu: Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 5 Rn. 41. 462  von Arnauld, Völkerrecht, 2019, Rn. 516. 463  BVerfG, Beschl. v. 26. 10. 2004 – 2 BvR 955/00, 1038/01 – Bodenreform III, BVerfGE 112, 1, 24 f. 464  Bedeutsam werden kann ferner eine Reihe zwischenstaatlicher Abkommen wie das „Übereinkommen der Vereinten Nationen über Verträge über den internationalen Warenkauf“ (CISG); hierzu und zu weiteren Übereinkommen, die privatrechtlich relevant werden können: Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 5 Rn.  46 ff. 465  BVerfG, Beschl. v. 14. 10. 2004 – 2 BvR 1481/04 – EGMR-Entscheidungen, BVerfGE 111, 307, 323 f. 466  EGMR, Urt. v. 26. 02. 2004 – 74969/01 – Görgülü/Deutschland, NJW 2004, 3397. 467  EGMR, Urt. v. 24. 06. 2004 – 59320/00 – Caroline von Hannover/Deutschland, NJW 2004, 2647; BVerfG, Urt. v. 15. 12. 1999 – 1 BvR 653/96 – Caroline von Monaco II, BVerfGE 101, 361 ff.

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

e) Bindung der Zivilgerichte an Gewohnheitsrecht Einigkeit besteht, dass die Rechtsprechung468 gem. Art. 20 Abs. 3 GG an Gewohnheitsrecht gebunden ist.469 Bemerkenswert ist, dass derartige Bestimmungen weder durch die Legislative in einem förmlichen Gesetzgebungsverfahren geschaffen werden noch das Ergebnis einer exekutiven Normsetzung sind.470 Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG entsteht Gewohnheitsrecht vielmehr durch längere tatsächliche und gleichmäßige Übung, die von den Rechtsunterworfenen als verbindlich erachtet wird.471 Konstitutiv ist somit einerseits eine längere tatsächliche Übung (longa consuetudo)472 und andererseits eine Überzeugung der Rechtsunterworfenen, dass die tradierte Verhaltensanordnung rechtlich verbindlich ist (opinio necessitatis).473 Obgleich theo­ retisch auf allen Ebenen der rechtsstaatlichen Normenhierarchie Gewohnheits-

468  Zum Gewohnheitsrecht im Privatrecht: Frühauf, Zur Legitimation von Gewohnheitsrecht im Zivilrecht, 2006, S. 175 ff.; Meder, Ius non scriptum – Traditionen privater Rechtsetzung, 2008, S. 107 ff.; Krebs/Becker, JuS 2013, 97, 99; Bork, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 2016, Rn. 14 und 20. 469  BVerfG, Beschl. v. 31. 05. 1988 – 1 BvR 520/83 – Unterhaltsleistung ins Ausland, BVerfGE 78, 214, 227; BVerwG, Urt. v. 21. 09. 1966 – V C 155.65, ­BVerwGE 25, 72, 76; BSG, Urt. v. 04. 12. 1959 – 3 RJ 201/56, BSGE 11, 126, 128; Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht, 2003, S. 120; Stern, Das Staatsrecht der Bundes­ republik Deutschland, Band I, 1984, S. 800; Krebs/Becker, JuS 2013, 97 f.; SchulzeFielitz, in: Dreier, GG-Kommentar, Band II, 2015, Art. 20 GG (Rechtsstaat), Rn. 93; Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn. 106; ebenso: Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar, Band 2, 2018, Art. 20 GG, Rn. 285; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, 2020, Art. 20 GG, Rn. 53; Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 4 Rn. 5. 470  Vgl. dazu: Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 4 Rn. 5, der insoweit die Rechtsunterworfenen als Urheber nennt. 471  In st. Rspr. z. B. BVerfG, Beschl. v. 08. 01. 1959 – 1 BvR 296/57, BVerfGE 9, 109, 117; BVerfG, Beschl. v. 28. 06. 1967 – 2 BvR 143/61 – Entziehung der Verteidigungsbefugnis, BVerfGE 22, 114, 121; BVerfG, Beschl. v. 18. 02. 1970 – 1 BvR 226/69 – Robenstreit, BVerfGE 28, 21, 28 f.; BVerfG, Beschl. v. 15. 01. 2009 – 2 BvR 2044/07 – Rügeverkümmerung, BVerfGE 122, 248, 269; ebenso: BGH, Beschl. v. 19. 06. 1962, I ZB 10/61, BGHZ 37, 219, 222; BVerwG, Urt. v. 26. 05. 1959 – C 135.57, BVerwGE 8, 317, 321 f. 472  BVerfG, Beschl. v. 28. 06. 1967 – 2 BvR 143/61 – Entziehung der Verteidigungsbefugnis, BVerfGE 22, 114, 121; im Ergebnis ebenso; Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 4 Rn. 5, der allerdings von einer „längeren und gleichmäßigen Übung“ spricht; zur opinio necessitatis: Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 554. 473  Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 554; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2011, S. 215; Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 4 Rn. 5; eingehend zur Entstehung von Gewohnheitsrecht: Klose, RW 2017, 370, 381 ff.



B. Die Grundannahmen zu den Grenzen der Rechtsfortbildung 111

recht entstehen kann,474 existieren besonders im Privatrecht viele prominente Rechtsinstitute. Als gewohnheitsrechtlich anerkannt gelten das allgemeine Persönlichkeitsrecht,475 der Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter,476 die Sicherungsübereignung,477 aber auch die Rechtsfolgen bei Schweigen auf ein kaufmännisches Bestätigungsschreiben478 im Handelsrecht.479 Hat sich unter diesen Bedingungen Gewohnheitsrecht etabliert, unterfällt es Art. 20 Abs. 3 GG und ist deshalb geeignet, auf die Grenzen der Fortbildung einzuwirken. f) Bindung der Zivilgerichte an Richterrecht? Anerkannt ist, dass „Richterrecht“480 zu Justizgewohnheitsrecht erstarken481 und so Bestandteil der in Art. 20 Abs. 3 GG angeordneten Bindung 474  Kritisch zum Gewohnheitsrecht auf Verfassungsebene: Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht?, 1972, S. 145 und passim; ebenso kritisch für das Gewohnheitsrecht als Eingriffsermächtigung für die Exekutive: Freitag, Gewohnheitsrecht und Rechtssystem, 1976, S. 169 f.; gleichfalls mit subtiler Kritik: Schnapp, in: von Münch/Kunig, GG-Kommentar, Band 1, 2012, Art. 20 GG, Rn. 63. 475  Zur gewohnheitsrechtlichen Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts: Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, 1999, S. 212; Riesenhuber, NZA 2012, 771, 774; Klose, RW 2017, 370, 371; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 433. 476  Klose, RW 2017, 370, 371. 477  Zur Sicherungsübereignung als Gewohnheitsrecht: Reich, Die Sicherungsübereignung, 1970, S. 18; Larenz, NJW 1951, 497 f.; Klose, RW 2017, 370, 371; Röhl/ Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 554. 478  BGH, Urt. v. 27. 01. 2011 – VII ZR 186/09, BGHZ 188, 128, 134; Hopt, AcP 183 (1983), 608, 691; Klose, RW 2017, 370, 371; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 554; Schmidt, Handelsrecht, 2014, § 19 Rn. 66; Bork, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 2016, Rn. 20. 479  Eingehend dazu und mit weiteren Beispielen: Klose, RW 2017, 370, 371 f. 480  Der Ausdruck „Richterrecht“ wird uneinheitlich verwendet. Das BVerfG spricht selbst von „schöpferischer Rechtsfindung“ (BVerfG, Beschl. v. 14. 02. 1973 – 1 BvR 112/65 – Soraya, BVerfGE 34, 269, 287), von „Richterrecht“ (BVerfG, Beschl. v. 19. 10. 1983 – 2 BvR 485, 486/80 – Sozialplan, BVerfGE 65, 182, 190), aber auch von „richterlicher Rechtsfortbildung“ (BVerfG, Beschl. v. 19. 10. 1983 – 2 BvR 485, 486/80 – Sozialplan, BVerfGE 65, 182, 190). Darüber hinaus finden sich aber auch die Bezeichnungen „gesetzesfreie richterliche Tätigkeit“ (Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, 1951, S. 38), „richterliche Normsetzung im Lückenbereich“ (Rü­ thers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 823) oder „Ergebnis des rechtsfortbildenden Vorgangs (Feix, Maßstäbe für eine gelungene richterliche Rechtsfortbildung, 2020, S. 28); vertiefend zum Phänomen des Richterrechts: Müller, ‚Richterrecht‘, 1986, S.  9 ff. 481  Statt aller z. B. der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts: BVerfG, Beschl. v. 15. 01. 2009 – 2 BvR 2044/07 – Rügeverkümmerung, BVerfGE 122, 248, 269 (obiter dictum); ferner zu dieser Möglichkeit: Heldrich, ZRP 2000, 497, 499; Windthorst, in: Gröpl/Windthorst/von Coelln, GG, 2020, Art. 20 GG, Rn. 110.

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

werden kann.482 Ist eine höchstrichterliche Rechtsprechung hingegen noch nicht gewohnheitsrechtlich anerkannt, geht die herrschende Meinung zu Recht davon aus, dass frühere Judikate grundsätzlich483 keine Bindungswirkung haben.484 In Anbetracht der Bindungsratio des Art. 20 Abs. 3 GG ist das nur konsequent, weil sie als „tragender Bestandteil des Gewaltentei­ lungsgrundsatzes“485 ausnahmslos gelten muss. Könnte die Rechtsprechung Inhalt und Reichweite der sie bindenden Regeln selbst formulieren, bliebe die durch Art. 20 Abs. 3 GG bezweckte Rückanbindung an den demokratischen Willen als leere Hülse zurück. Anders als der Common Law Rechtskreis486 kennt die deutsche Rechtsordnung kein Prinzip des binding precedent.487 Wenngleich eine höchstrichterliche Entscheidung oftmals weiteren Gerichten als Leitlinie dienen mag, kommt ihr gleichwohl keine rechtliche, sondern höchstens eine faktische Bindungswirkung zu, die für Art. 20 Abs. 3 GG allerdings nicht ausreicht. Dass die große Bedeutung der höchstrichterlichen Rechtsprechung in der Praxis für sich nicht genügen kann, um sie zu den rechtsverbindlichen Entscheidungsmaßstäben des Art. 20 Abs. 3 GG zu zählen, belegt überdies, dass selbst eine ständige Rechtsprechung geändert 482  Das Präjudiz soll hierbei nicht „die in Rechtskraft erwachsene Einzelfallentscheidung als solche sein, sondern nur die im Rahmen der Urteilsbegründung gegebene Antwort auf eine Rechtsfrage.“ So sehr anschaulich, wenngleich wie hier im Ergebnis ablehnend: Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht, 2003, S. 193. 483  Zu den Ausnahmen sogleich. 484  BVerfG, Beschl. v. 26. 06. 1991 – 1 BvR 779/85 – Aussperrung, BVerfGE 84, 212, 227 unter Verweis auf BVerfG, Beschl. v. 19. 02. 1975 – 1 BvR 418/71 – Aussperrung von Betriebsratsmitgliedern, BVerfGE 38, 386, 396; so auch der Zweite Senat: BVerfG, Beschl. v. 15. 01. 2009 – 2 BvR 2044/07 – Rügeverkümmerung, BVerfGE 122, 248, 277; Riggert, Die Selbstbindung der Rechtsprechung durch den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG), 1993, S. 23 f.; Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht, 2003, S. 193 f.; Schnapp, in: von Münch/Kunig, GG-Kommentar, Band 1, 2012, Art. 20 GG, Rn. 63; Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn. 107; Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar, Band 2, 2018, Art. 20 GG, Rn. 286; anders aber: Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band IV, 1977, S. 336 f.; in diese Richtung, aber letztlich wohl einschränkend: Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 1967, S. 245, wenn er annimmt, dass die juristische Praxis […] – aus guten Gründen – zu den gesetzlichen Bindungen hinzu eine zusätzliche Bindung anerkannt [habe]: nämlich die an die eigenen Präjudizien, allerdings, auch das mit gutem Grund, eine bloß präsumtive Bindung.“ 485  BVerfG, Beschl. v. 14. 02. 1973 – 1 BvR 112/65 – Soraya, BVerfGE 34, 269, 286. 486  Hierauf verweist auch: Riggert, Die Selbstbindung der Rechtsprechung durch den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG), 1993, S. 23 f. 487  Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht, 2003, S. 193; ferner gegen eine strikte Präjudizienbindung: Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 4 Rn. 26, der dies für das Unionsrecht und das nationale Recht bemerkt.



B. Die Grundannahmen zu den Grenzen der Rechtsfortbildung 113

werden kann. Eines der jüngeren Beispiele bietet eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 22.02.2018, nach der es in Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung dem Besteller künftig nicht mehr möglich sein soll, den Schaden nach den fiktiven Mängelkosten zu bemessen, wenn er das Werk behält und den Mangel nicht beseitigt.488 Wird Art. 20 Abs. 3 GG als Ansammlung verbindlicher Entscheidungsvorgaben verstanden, sind jedoch einige Ausnahmen anzuerkennen. Ist das Berufungsgericht wegen § 563 Abs. 2 ZPO an die Rechtsauffassung des Revisionsgerichts gebunden, ist es in dieser Hinsicht auch in einer Rechtsfortbildung beschränkt. Wegen der Anordnung des § 31 Abs. 1 BVerfGG sind ferner alle Entscheidungen des BVerfG unter „Recht“ zu subsumieren, weil sie für die Gerichte bindend sind.489 Gleiches gilt für die Judikate des EuGH, soweit sie die Privatrechtsrichter binden. Hat ein Zivilgericht dem Gerichtshof nach Art. 267 AEUV vorgelegt, kann es das Privatrecht nicht in Verstoß gegen den Entscheidungsinhalt fortbilden. An das Vorabentscheidungsurteil gebunden sind sämtliche Gerichte,490 die in der gleichen Rechtssache zur Entscheidung berufen sind.491 Auch dem Vorabentscheidungsurteil kommt teilweise eine

488  BGH,

Urt. v. 22. 02. 2018 – VII ZR 46/17, NJW 2018, 1463, 1466 f. wird hingegen die Formulierung „Gesetzeskraft“ in § 31 Abs. 2 S. 1 BVerfGG, die nach Ansicht von Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 2018, Rn. 497 m. w. N. heute „keinen Sinn mehr“ habe. Der Regelungsgehalt von Absatz 2 sei lediglich darin zu sehen, dass durch ihn die Bindungswirkung von Absatz 1 in personeller Hinsicht auf alle Bürger erstreckt und die Verpflichtung zur Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt begründet werde; ebenso zu diesem Regelungsgehalt von § 31 Abs. 2 BVerfGG: Vogel, in: Starck (Hrsg.), Festschrift Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Band 1, 1976, S. 613; Wischermann, Rechtskraft und Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, 1979, S. 81; Scheuner, DÖV 1954, 641, 646. 490  Zu den Instanzgerichten: Pechstein, EU-Prozessrecht, 2011, Rn. 864; Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, 2018, Art. 267 AEUV, Rn. 68. 491  Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn.  598; siehe jedoch zur Möglichkeit einer erneuten Vorlage: EuGH, Beschl. v. 05. 03. 1986 – Rs. 69/85 – Wünsche/Deutschland, ECLI:EU:C:1986:104, Rn. 15, wonach es die „Bindungswirkung eines im Vorabentscheidungsverfahren ergangenen Urteils […] allerdings nicht aus[schließe], daß das nationale Gericht, an das dieses Urteil gerichtet ist, eine erneute Anrufung des Gerichtshofes vor der Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits für erforderlich hält. Nach ständiger Rechtsprechung ist eine solche Vorlage gerechtfertigt, wenn das nationale Gericht beim Verständnis oder der Anwendung des Urteils Schwierigkeiten hat, wenn es dem Gerichtshof eine neue Rechtsfrage stellt oder wenn es ihm neue Gesichtspunkte unterbreitet, die ihn dazu veranlassen könnten, eine bereits gestellte Frage abweichend zu beantworten.“ 489  Überschätzt

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

erga omnes‑Wirkung492 zu. Anders als ein Gültigkeitsurteil493 ist etwa sein Gegenteil gem. Art. 267 Abs. 1 lit. b AEUV derart verbindlich, weil es einen Unionsrechtsakt über das Ausgangsverfahren hinaus für ungültig erklärt.494 Dasselbe gilt für ein Auslegungsurteil gem. Art. 267 Abs. 1 lit. a AEUV, demzufolge die mitgliedstaatlichen Gerichte495 verpflichtet sind, die Auslegung des EuGH entweder zu vollziehen oder ihm bei Zweifeln erneut vorzulegen.496 Erga omnes-Wirkung besitzt überdies das Urteil in einem erfolgreichen Nichtigkeitsverfahren, das den angegriffenen Unionsrechtsakt gem. Art. 264 AEUV rechtsgestaltend aufhebt.497 Neben den genannten Entscheidungen des BVerfG und des EuGH werden auch jene des EGMR als „Recht“ gem. Art. 20 Abs. 3 GG akzeptiert.498 Soweit die jeweiligen Rechtsprüche 492  Zur erga omnes-Wirkung: Ehricke, Die Bindungswirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren nach deutschem Zivilprozeßrecht nach Gemeinschaftsrecht, 1997, S. 46 ff.; Pechstein, EU-Prozessrecht, 2011, Rn. 866; Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, 2018, Art. 267 AEUV, Rn. 69; Schwarze/Wunderlich, in: Schwarze, EU-Kommentar, 2019, Art. 267 AEUV, Rn. 70. 493  Zur fehlenden erga omnes-Wirkung des Gültigkeitsurteils: Haratsch/Koenig/ Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 598, da „nicht auszuschließen [sei], dass neue, bislang nicht in die Prüfung einbezogene Gesichtspunkte zu einer anderen Beurteilung führen können und daher eine erneute Vorlage rechtfertigen bzw. erforderlich machen.“ 494  Zur erga omnes-Wirkung des Ungültigkeitsurteils: EuGH, Urt. v. 13. 05. 1981 – Rs. 66/80 – International Chemical Corporation/Amministrazione delle Finanze dello Stato, ECLI:EU:C:1981:102, Rn. 13; Pietrek, Verbindlichkeit von Vorabentscheidungen nach Art. 177 EWGV, 1989, S. 233; Pechstein, EU-Prozessrecht, 2011, Rn. 866; Germelmann, EuR 2009, 254, 260 ff.; Borchardt, in: EU-Verträge Kommentar, 2012, Art. 267 AEUV, Rn. 58; Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, 2018, Art. 267 AEUV, Rn. 70; Schwarze/Wunderlich, in: Schwarze, EU-Kommentar, 2019, Art. 267 AEUV, Rn. 70; Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 2020, Art. 267 AEUV, Rn. 107; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 598. 495  Für die nicht letztinstanzlichen Gerichte ist dies noch nicht ausjudiziert und mit Blick auf die fehlende Vorlagepflicht gem. Art. 267 Abs. 2 AEUV fraglich. Insoweit ist aber wohl Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, 2018, Art. 267 AEUV, Rn. 72 zuzustimmen, „dass das Abweichen von einem Auslegungsurteil des EuGH der unterlegenen Partei regelmäßig einen Berufungs- oder Revisionsgrund liefert und das letztin­ stanzliche Gericht wiederum dem Gerichtshof vorlegen müsste, [sodass] aus Gründen der Prozessökonomie ebenfalls von einer Bindungswirkung auch für unterinstanzliche Gerichte auszugehen“ ist; anders aber: Everling, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1986, S. 66. 496  So speziell für die letztinstanzlichen Gerichte: Ehricke, in: Streinz, EUV/ AEUV, 2018, Art. 267 AEUV, Rn. 72. 497  Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 557. 498  BVerfG, Beschl. v. 14. 10. 2004 – 2 BvR 1481/04 – EGMR-Entscheidungen, BVerfGE 111, 307, 323, wonach zur „Bindung an Gesetz und Recht […] auch die Berücksichtigung der Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Entscheidungen des Gerichtshofs im Rahmen methodisch vertretbarer Geset-



B. Die Grundannahmen zu den Grenzen der Rechtsfortbildung 115

die Zivilgerichte binden, sind sie in der Lage, der Rechtsfortbildung im Einzelfall Grenzen zu ziehen. g) Bindung der Zivilgerichte an überpositives Recht? Lebhaft diskutiert wird ferner, ob der Rechtsbegriff des Art. 20 Abs. 3 GG überpositive Gerechtigkeitsvorstellungen einschließt,499 aus denen potenzielle Grenzlinien für die Rechtsfortbildung abgeleitet werden könnten. Soweit man hierunter vom kodifizierten Recht vollkommen losgelöste Wertungen versteht, muss dies abgelehnt werden. Richtig ist, dass die ursprüngliche Formulierung „Rechtsprechung und Verwaltung stehen unter dem Gesetz“500 im Parlamentarischen Rat501 auf Vorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses502 der Bindung an „Gesetz und Recht“ weichen musste, weil dies nach Aussage von Dehler zur Betonung der Rechtsstaatlichkeit für nötig empfunden wurde.503 Obwohl von Mangoldt die ursprüngliche Formulierung im Hauptausschuss verteidigt hatte,504 entschied sich der Parlamentarische Rat im Anschluss für die Bindung der Rechtsprechung an das heute im Grundgesetz zu findende Begriffspaar.505 In der Tat legt dies nahe, dass dem „Recht“ nach Vorstellung der zesauslegung“ gehören; Kadelbach, Jura 2005, 480, 484; Breuer, NVwZ 2005, 412; Cremer, EuGRZ 2004, 683, 689 ff.; Dederer, ZaöRV 66 (2006), 575, 591 ff.; Esser, StV 2005, 348; Grupp/Stelkens, DVBl 2005, 133; Klein, JZ 2004, 1176, 1177 f.; Kühne, GA 2005, 195, 200; Sauer, ZaöRV 65 (2005), 35, 41 ff.; Schaffarzik, DÖV 2005, 860, 862; Tettinger, JZ 2004, 1144; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG-Kommentar, Band II, 2015, Art. 20 GG (Rechtsstaat), Rn. 93. 499  Für den Einschluss überpositiver Gerechtigkeitsvorstellungen: Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG-Kommentar, Band II, 2015, Art. 20 GG (Rechtsstaat), Rn. 94. 500  So noch der Entwurf, den von Mangoldt vorgelegt hatte und der im Ausschuss für Grundsatzfragen diskutiert wurde. Vertiefend zu den Beratungen: Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht, 2003, S. 53. 501  Zu den Beratungen im Parlamentarischen Rat: Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht, 2003, S. 53 ff. 502  Zu den Hintergründen: Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht, 2003, S. 53. 503  Dehler, in: Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, 4. Sitzung v. 17. 11. 1948, S. 47: „[…] Rechtsprechung und vollziehende Gewalt an Gesetz und Recht gebunden sind. Damit ist, glauben wir, die Grundlage unseres Grundgesetzes, die Rechtsstaatlichkeit, besser ausgedrückt.“ 504  von Mangoldt, in: Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, 4. Sitzung v. 17. 11. 1948, S. 47: „Die Befolgung des Grundsatzes von der Gesetzmäßigkeit aller Staatsgewalt versteht sich bei der Rechtsprechung von selbst, weil die Rechtsprechung nur die Aufgabe hat, die Gesetze anzuwenden und auszulegen“. 505  Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, 57. Sitzung v. 05. 05. 1949, S.  748.

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

Mütter und Väter des Grundgesetzes gegenüber dem „Gesetz“ eine weitergehende Bedeutung zukommen sollte,506 weil sie einer rein tautologischen Formulierung wohl kaum den Vorzug gegeben hätten. Gleichwohl wäre es verfehlt, hieraus zu schließen, dass der Bedeutungsüberschuss einen Zugriff auf überpositive Wertungen eröffnen kann. Denn über alle politischen Lager hinweg einte die Verfassungsgeber die Überzeugung, dass die Bundesrepu­ blik als wahrer, materieller Rechtsstaat ausgestaltet werden müsse, um die Erfahrungen der NS-Zeit zu verhindern.507 Eine Bindung der Gerichte an überpositive Maßstäbe läuft diesem Ziel aber zuwider. Der neuralgische Punkt ist insoweit die fehlende Kodifikation. Ist kein Text vorhanden, aus dem Wertungen in kontrollierbarer Weise hergeleitet werden können und existiert keine gewohnheitsrechtliche Anerkennung durch längere tatsächliche Übung und Rechtsüberzeugung der Rechtsunterworfenen,508 geschieht das notwendigerweise durch eine freie Eigenwertung der Gerichte. Problematisch ist dabei aber nicht nur, dass hierdurch die demokratische Absicherung der richterlichen Gewalt bedenklich eingeschränkt wird,509 sondern es ist unklar und zweifelhaft, welche überpositiven Gerechtigkeitsvorstellungen als Entscheidungsmaßstab herangezogen werden dürfen. Selbst wenn man sich beschränken wollte, das „Naturrecht“ als Richtschnur zu nehmen, verbliebe die nicht unerhebliche Schwierigkeit, dass trotz der 2500-jährigen Geschichte dieser „Rechtsquelle“ nach wie vor unklar ist, welchen Inhalt das Naturrecht aufweist und wer in der Lage ist, dieses verbindlich auszulegen.510 Im Ergebnis bliebe es damit dem letztinstanzlichen Richter überlassen, wie er die abstrakten „überpositiven Gerechtigkeitsvorstellungen“ in Anbetracht seines höchstpersönlichen Vorverständnisses konkretisiert. Hierzu hat der Erste Senat des BVerfG aber bereits in einer frühen Entscheidung zu Recht 506  BVerfG, Beschl. v. 14. 02. 1973 – 1 BvR 112/65 – Soraya, BVerfGE 34, 269, 286 f., in dem der Erste Senat betont, dass die Formulierung Gesetz und Recht „das Bewußtsein aufrecht[erhält], daß sich Gesetz und Recht zwar faktisch im allgemeinen, aber nicht notwendig und immer decken“; näher dazu auch: Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG-Kommentar, Band II, 2015, Art. 20 GG (Rechtsstaat), Rn. 94, der in der Gegenüberstellung von Gesetz und Recht die Möglichkeit unterstellt sieht, dass Recht und Gesetz auseinanderklaffen.“ 507  Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht, 2003, S. 56 f.; Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 1993, Rn. 417; Grimm, NJW 1989, 1305 f.; implizit auch: Kaufmann, in: Würtenberger/Maihofer/Hollerbach (Hrsg.), Festschrift Wolf, 1962, S. 360 („zum Zwecke der besseren Kennzeichnung der Rechtsstaatlichkeit“). 508  Gewohnheitsrechtlich anerkannt dürfte die Radbruch’sche Formel sein; eingehend zur Radbruch’schen Formel: Adachi, Die Radbruchsche Formel, 2006, S. 78 ff.; Herbert, Radbruch’sche Formel und gesetzgeberisches Unterlassen, 2017, S. 25 ff. 509  Siehe dazu: Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 2020, Art. 20 Abs. 3 GG, Rn. 64. 510  Näher hierzu: Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 417 und Rn. 443.



B. Die Grundannahmen zu den Grenzen der Rechtsfortbildung 117

klargestellt, dass es selbst ihm nicht möglich sei, „ein Gesetz unter dem Gesichtspunkt ‚allgemeiner Gerechtigkeit‘ nachzuprüfen und damit seine Auffassung von Gerechtigkeit derjenigen des Gesetzgebers vorzuziehen.“511 Ein Einfallstor für eigenrichterliche Wertungen sollte aber auch nach Ansicht der Urheber des Grundgesetzes verhindert werden. Als Beleg dient hierfür die heutige Fassung von Art. 97 Abs. 1 GG, in der bewusst verzichtet wurde, die Richter „ihrem Gewissen“ zu unterstellen.512 Dies wurde als gefährlich erachtet, weil das bereits den NS-Richtern als Hebel diente, um das Gesetz in Gänze aus den Angeln zu heben.513 Aus den genannten Gründen erscheint es vorzugswürdig, naturrechtliche und originär überpositive Gerechtigkeitsvorstellungen nur anzuerkennen, soweit sie „zwischenzeitlich“ im Grundgesetz angelegt sind.514 Im Kern bleibt es damit bei einer Bindung der Richter an das Grundgesetz und die hieraus abgeleiteten Wertungen. Von den skizzierten Bedenken abgesehen dürfte ein überpositiver Entscheidungskompass infolge der hohen Dichte an naturrechtlichem Gedankengut im Grundrechtskatalog des Grundgesetzes aber ohnehin überflüssig sein. Auch deshalb ist Schulze-Fielitz beizupflichten, dass im Merkmal Recht „keine Ermächtigung zur gesetzesunabhängigen Rechtsanwendung, sondern ein Aufruf [liege], im problematischen Fall das positive Recht […] verfassungskonform auszulegen oder [nach Art. 100 Abs. 1 GG] verfassungsrechtlich kontrollieren zu lassen.“515 Naturrechtliche und andere überpositive Gerechtigkeitsvorstellungen, die über die im Grundgesetz angelegten Wertungen hinausgehen, sind daher

511  So explizit im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitssatz: BVerfG, Urt. v. 17. 12. 1953 – 1 BvR 323/51, 195/51, 138/52, 283/52, 319/52 – Angestelltenverhältnisse, BVerfGE 3, 162, 182; zustimmend: Schnapp, in: von Münch/Kunig, GG-Kommentar, Band 1, 2012, Art. 20 GG, Rn. 61, wonach das Merkmal „Recht“ in Art. 20 Abs. 3 GG „nicht die Möglichkeit [eröffne], subjektivistische Gerechtigkeitsvorstellungen an die Stelle der positivierten Werteordnung des GG treten zu lassen“. 512  Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht, 2003, S. 54 und S. 52. 513  Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht, 2003, S. 52 und S. 54; auch losgelöst von der NS-Vergangenheit erkennen diese Gefahr: Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 266, weil „Naturrecht […] das [sei], was die letzten Instanzen dazu sagen.“ 514  Anders ist dies etwa in Österreich wegen der ausdrücklichen Regelung des § 7 ABGB, wonach subsidiär „nach den natürlichen Rechtsgrundsätzen entschieden werden“ darf. Siehe dazu beispielhaft: OGH, Urt. v. 08. 03. 1995 – 7Ob505/95, ECLI:AT :OGH00. 2. 1995:RS0037146. 515  Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG-Kommentar, Band II, 2015, Art. 20 GG (Rechtsstaat), Rn. 94; ähnlich: Schnapp, in: von Münch/Kunig, GG-Kommentar, Band 1, 2012, Art. 20 GG, Rn. 61, wonach „die Gesetzmäßigkeit gegen die Rechtmäßigkeit nicht ausgespielt werden kann.“.

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

nicht geeignet, die Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung zu beeinflussen. h) Bindung der Zivilgerichte an privatautonomes Recht Im Verfassungsrecht naturgemäß wenig beachtet ist die Frage, ob Art. 20 Abs. 3 GG die Zivilgerichte auch an Verträge oder anderes privatautonom gesetztes Recht bindet. Im bisherigen Forschungsstand werden beinahe ausschließlich516 abstrakt-generelle Regelungen als potenzielle Begrenzungen der Spruchrichtertätigkeit gesehen. Das in Ausübung der Privatautonomie gesetzte Recht ist demgegenüber überwiegend Vertragsrecht und daher in seiner Wirkung regelmäßig517 auf die Parteien beschränkt. Wie bereits gezeigt ist es für Art. 20 Abs. 3 GG jedoch ohne Belang, welche Reichweite ein Rechtsakt hat, solange er für die Gerichte einen verbindlichen Entscheidungsmaßstab bereithält. Legt man diesen alternativlosen bindungsadressatenbezogenen Blickwinkel zugrunde, muss Art. 20 Abs. 3 GG alle Rechtsakte einschließen, die infolge ihrer Bindungswirkung gegenüber den Gerichten geeignet sind, auf die Reichweite der richterlichen Entscheidungsmacht Einfluss zu nehmen. Weil ein Privatrichter Vertragsrecht vollziehen muss und sich nicht ohne einen anderen legitimierten Entscheidungsmaßstab, wie dem ius cogens, über dieses hinwegsetzen darf, muss grundsätzlich auch das privatautonom gesetzte Recht in Art. 20 Abs. 3 GG Beachtung finden. Weil in dieser Arbeit die Grenzen bei der Fortbildung des einfachgesetzlichen Privatrechts untersucht werden, ist dieser Punkt aber letztlich nicht grenzrelevant. Das ius cogens ist gegenüber dem privatautonomen Recht „zwingend“, weshalb Vertragsrecht nie die Fortbildung des zwingenden Privatrechts beschränken kann. Etwas anderes scheint für das ius dispositivum zu gelten, da es abbedungen und folglich durch das Vertragsrecht als Entscheidungsmaßstab verdrängt werden kann. Genau genommen wird die Fortbildung einer nachgiebigen Regelung aber nicht durch das rechtsgeschäftlich vereinbarte Recht gesperrt; vielmehr ist die Norm bereits für sich selbst genommen unanwendbar, wenn Abweichendes vereinbart wird. Weil das ­ privatautonome Recht hiernach weder das dispositive noch das zwingende Privatrecht begrenzen kann, bleibt es im weiteren Verlauf außer Betracht.

516  Eine Ausnahme gilt wie gezeigt für die Judikate des BVerfG, des EuGH und des EGMR. 517  Anders ist dies, wenn die Abrede als Vertrag zugunsten Dritter ausgestaltet wurde.



B. Die Grundannahmen zu den Grenzen der Rechtsfortbildung 119

III. Die Auflösungsmechanismen bei Wertungskollisionen Ist damit ermittelt, welche Teile der Rechtsordnung grundsätzlich geeignet sind, die Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung zu definieren, sind die Auflösungsmechanismen vorzustellen, die nötig sind, wenn mehrere grenzbeeinflussende Wertungen konfligieren. Eine „Normkollision“ meint hier, dass mehrere Regelungen tatbestandlich einschlägig sind, ihre Anwendung aber zu unterschiedlichen Ergebnissen führen würde.518 Weil nicht nur die Befehle einer Rechtsnorm, sondern auch die ihr innewohnenden Wertungen mit anderen in Konflikt treten können, lohnt ein Blick auf die Kollisionsdogmatik.519 Dem liegt die Annahme zugrunde, dass das originär für widerstreitende Regelungsinhalte entwickelte Instrumentarium auch zur Anwendung gebracht werden kann, um eine Kollision verschiedenartiger Wertungen aufzulösen.520 Gilt es, derartige Konfliktlagen im Privatrecht zu lösen, ist in Anbetracht des Stufenbaus der Rechtsordnung521 im Ausgangspunkt festzuhalten, dass die Privatrechtskodifikationen auf der Ebene des einfachgesetzlichen Bundesrechts verankert sind. Als solches gehen sie zwar dem Landesrecht und dem untergesetzlichen Bundesrecht vor, können ihrerseits aber durch höherrangiges Recht, insbesondere Verfassungs- und Europarecht, verdrängt werden. Aus diesem Grund müssen für die Auflösung von Normkollisionen zwei Ordnungsrichtungen unterschieden werden. Im horizontalen Verhältnis ist zu klären, wie der Konflikt gleichrangiger Wertungen innerhalb des Privatrechts versöhnt werden kann, während im vertikalen Verhältnis bestimmt werden muss, welche Auswirkungen der Einfluss höherrangiger Wertungen auf das Privatrecht zeitigt.

518  Näher zu diesem Begriffsverständnis: Lindner, Öffentliches Recht, 2017, Rn. 348, der aber primär von Regelungskollision spricht; demgegenüber handelt es sich um keine (echte) Normkollision, wenn bereits die Auslegung ergibt, dass in Wahrheit kein Konflikt besteht; ähnlich bereits: Kelsen, AöR 32 (1914), 202, 206; vertiefend zu den Fällen der „unechten Normenkollision“: Reimer, Juristische Methodenlehre, 2020, Rn. 684. 519  Eingehend hierzu: Lindner, Öffentliches Recht, 2017, Rn. 347 ff. 520  Näher zum Gedanken, dass die Kollisionsmechanismen nicht nur die Rechtsnormen selbst, sondern auch die ihnen immanenten Wertungen ordnen können: Meier/ Jocham, JuS 2015, 490, 492 f. 521  Zum Stufenbau der Rechtsordnung: Kelsen, Reine Rechtslehre, 1960 (Unveränderter Nachdruck 1967), S. 228 ff.; Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, 1994, S. 159 ff.; Lepsius, JuS 2018, 950, 951 ff.; Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 5 Rn. 1 ff.

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

1. Kollisionen im horizontalen Verhältnis Widersprechen sich Normen des einfachgesetzlichen Privatrechts, muss eine Kollision zwischen Vorschriften aufgelöst werden, die in der Normen­ hierarchie den gleichen Rang bekleiden. Hierzu dienen die Grundsätze „lex posterior derogat legi priori“522 und „lex specialis derogat legi generali“.523 Im ersten Fall verdrängt die jüngere die ältere Norm, im zweiten Fall die spezielle die allgemeine. Während dem lex posterior-Grundsatz infolge von Einführungsgesetzen und anderen Übergangsbestimmungen kaum ein Anwendungsbereich bleibt,524 ist der lex specialis-Grundsatz von kaum zu über­ schätzender Bedeutung. Im „Privatrecht“ kennt etwa das Handels-, Gesellschafts-, Wettbewerbs- oder Arbeitsrecht spezielle  Bestimmungen, welche die generellen Regeln des Bürgerlichen Rechts im Konfliktfall verdrängen. Das „Bürgerliche Recht“ enthält im Schuld-, Sachen-, Familien- und Erbrecht wiederum Regelungen, die spezieller sind als jene im Allgemeinen Teil. Auch das „Schuldrecht“ ist in einen Allgemeinen (Abschnitt 1 bis 7) und einen Besonderen Teil (Abschnitt 8) gegliedert und selbst innerhalb kleinerer Systeme525 wie dem Kaufrecht finden sich spezielle Regelungen wie die zum Verbrauchsgüterkauf in den §§ 474 ff. BGB. Auch wenn ihre Rechtsnatur umstritten ist,526 können die Kollisionsmechanismen letztlich aus dem Willen des Gesetzgebers abgeleitet werden.527 Weicht die gesetzgebende Gewalt kompetenzgemäß von einer lex prior ab, 522  Allgemein zum Grundsatz „lex posterior derogat legi priori“: BVerfG, Beschl. v. 15. 12. 2015 – 2 BvL 1/12 – Völkerrechtsdurchbrechung, BVerfGE 141, 1, 21; Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 154 f.; Kelsen, AöR 32 (1914), 202, 208; Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn. 102; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 156; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2011, S.  572 ff.; Lindner, Öffentliches Recht, 2017, Rn. 355. 523  Allgemein zum Grundsatz „lex specialis derogat legi generali“: Vranes, ZaöRV 65 (2005), 391, 392 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2011, S. 465; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 2012, S. 31 f.; Lindner, Öffentliches Recht, 2017, Rn. 356; Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, 2019, S. 134; Reimer, Juristische Methodenlehre, 2020, Rn. 197 ff. 524  Siehe dazu: Lindner, Öffentliches Recht, 2017, Rn. 355, der zutreffend darlegt, dass der Grundsatz selten in der Praxis zur Anwendung kommt, weil „mit dem Erlass der späteren Norm regelmäßig die bisher geltende Norm aufgehoben wird, sodass es gar nicht erst zu einer Regelungskollision kommt.“ 525  Zur Gliederung der Rechtsordnung in Normensysteme: Meier/Jocham, JuS 2015, 490, 491 ff. 526  Zum Streitstand: Vranes, ZaöRV 65 (2005), 391, 392 ff. 527  Ähnlich: Vranes, ZaöRV 65 (2005), 391, 397 f., der annimmt, dass sich die Kollisionsmechanismen aus der Struktur der Rechtsordnung, insbesondere aus den Gesetzgebungskompetenzen erklärt werden können, was gleichermaßen den Bezug zum Gesetzgeberwillen erkennen lässt.



B. Die Grundannahmen zu den Grenzen der Rechtsfortbildung 121

ohne sie explizit in einer Übergangsvorschrift oder einem Einführungsgesetz aufzuheben, gilt die lex posterior nunmehr schon kraft der Autorität des späteren Gesetzgebers.528 Die lex posterior-Regel ist daher nichts weiter als ein Etikett für den demokratischen Grundsatz, dass mit Änderung der Mehrheitsverhältnisse im Parlament politisch neue Wege beschritten werden können und dies regelmäßig auch geschieht. Er gleicht insoweit einem konkludenten Aufhebungswillen des Gesetzgebers. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die lex specialis-Regel erklären.529 Auch sie bringt zum Ausdruck, dass die Legislative für einen Fall, der unter eine lex generalis subsumierbar ist, eine spezielle Regelung vorgesehen hat.530 Die Kollisionsregeln sind damit keine absoluten Maximen,531 weil sie nicht unbedingt, sondern nur unter der Bedingung Anwendung finden, dass der Gesetzgeber nicht eine andere Lösung vorgesehen hat. Steht das Zivilgericht vor dem Problem, dass eine Rechtsfrage durch mehrere Normen unterschiedlich beantwortet wird, ist es dazu befugt, die Kollision der gleichrangigen Bestimmungen eigenständig aufzulösen. Ist im Ausnahmefall eine lex posterior festzustellen, geht ihre Wertung vor. Im Regelfall wird aber eine mitunter umfangreiche Gesetzesarbeit vorausgehen, bei der nicht nur das Verhältnis beider Normtexte betrachtet wird, sondern ihre Normzwecke ermittelt werden müssen, um die spezielle Wertung freizulegen. Erst wenn aufgedeckt ist, zu welchem Zweck die Bestimmungen geschaffen wurden, kann ermittelt werden, welche Wertung nach der Vorstellung des Gesetzgebers als lex specialis vorrangig ist. Normzwecke bilden insoweit die Richtschnur, an der der Richter seine Entscheidung auszurichten hat.532 Ergibt der Abgleich der Regelungszwecke, dass eine der beiden Normen lex 528  Schließlich bedeutet Demokratie stets auch eine Herrschaft auf Zeit. Die Autorität der Willensäußerung eines früheren Gesetzgebers bleibt infolgedessen nur so lange bestehen, bis er durch den Willen eines jüngeren Gesetzgebers abgelöst wird. 529  Und selbstverständlich auch für die lex superior-Regel, die sogleich thematisiert wird. 530  Vgl. Vranes, ZaöRV 65 (2005), 391, 398. 531  Gegen die Absolutheit der lex specialis-Regel: BVerfG, Urt. v. 24. 01. 1962 – 1  BvL 32/57 – Ehegatten-Arbeitsverhältnisse, BVerfGE 13, 290, 296 „Der Gedanke des Vorrangs der Spezialnorm wird immer zutreffen, wenn die spezielle Norm nur als Ausformung der allgemeinen Norm erscheint, so daß in jener notwendig diese mit betroffen ist; anders liegt es, wenn der Sinngehalt der ‚besonderen‘ Norm zunächst von der ‚allgemeinen‘ Norm unabhängig ist, also jede eine spezifische Bedeutung hat, so daß eine Verletzung der ‚speziellen‘ Norm ohne gleichzeitige Verletzung der ‚allgemeinen‘ denkbar ist. Welche Norm als primär verletzt anzusehen ist, wird bei solcher Lage davon abhängen, welche von beiden nach ihrem spezifischen Sinngehalt die stärkere sachliche Beziehung zu dem zu prüfenden Sachverhalt hat und sich deshalb als der adäquate Maßstab erweist.“ 532  Vgl. Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 138.

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

generalis ist, lässt das Gericht sie unangewendet und entscheidet den Rechtsstreit stattdessen nach Maßgabe der lex specialis. Kann der Normwiderspruch im horizontalen Verhältnis durch keinen Kollisionsmechanismus ausgeräumt werden, misslingt es also, das gesetzgeberisch gewollte Rangverhältnis zu ermitteln, sind die gegensätzlichen Anordnungen perplex und infolgedessen nichtig.533 2. Kollisionen im vertikalen Verhältnis Betrifft ein Widerspruch das vertikale Verhältnis innerhalb der Normen­ hierarchie, kollidieren also Bestimmungen unterschiedlichen Ranges, gilt im Allgemeinen der Mechanismus „lex superior derogat legi inferiori“.534 Auch dieser Auflösungsmechanismus ergibt sich aus der Struktur der Rechtsordnung selbst, da „die lex inferior […] der lex superior weichen [muss], wenn nicht die Struktur der Rechtsordnung ad absurdum geführt werden soll.“535 Die lex superior-Regel beruht somit auf einer Systementscheidung des Grundgesetzes, dass einer höherrangigen Norm grundsätzlich der Vorrang gebührt. a) Kollision von Privat- und Verfassungsrecht Verstößt eine Bestimmung des Privatrechts gegen die Verfassung, wird die einfachgesetzliche durch die höherrangige Regelung verdrängt.536 Weil dem Grundgesetz nach allgemeiner Meinung ein Geltungsvorrang zukommt, hat bereits die abstrakte Verfassungsverletzung grundsätzlich die Nichtigkeit der Privatrechtsvorschrift zur Folge.537 Ausnahmen gelten nach der Rechtsprechung des BVerfG zum einen für gleichheitswidrige Normen, weil ein 533  Siehe hierzu schon: Meier/Jocham, JuS 2015, 490, 492; ebenso: Reimer, Juristische Methodenlehre, 2020, Rn. 686, der für diese Rechtsfolge auf die Maxime „impossibilium nulla obligatio“ verweist, die er in Fn. 193 als „Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips bzw. der Grundrechte i. V. m. dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz“ bezeichnet. 534  Allgemein zum Grundsatz „lex superior derogat legi inferiori“: Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 156; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 2012, S. 33; Lindner, Öffentliches Recht, 2017, Rn. 353; Reimer, Juristische Methodenlehre, 2020, Rn. 187. 535  Überzeugend daher: Vranes, ZaöRV 65 (2005), 391, 398. 536  Speziell zum normhierarchischen Vorrang des Grundgesetzes vor dem Privatrecht: Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 5 Rn. 2. 537  Zum Geltungsvorrang der Verfassung: Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn. 95, der indes nur von der „vernichtende[n] Wirkung des Vorrangs“ spricht; Lindner, Öffentliches Recht, 2017, Rn. 353; Reimer, Juristische Methodenlehre, 2020, Rn. 190.



B. Die Grundannahmen zu den Grenzen der Rechtsfortbildung 123

Gleichheitsverstoß auf mehrfache Weise abgestellt werden kann538 und zum anderen für den Fall, dass die „Folgen der Nichtigkeitserklärung der verfassungsmäßigen Ordnung noch ferner stünden als die bisherige, fehlerhaft geregelte Rechtslage.“539 Obwohl das BVerfG anstelle der Nichtigkeit dann lediglich ausspricht, dass die Bestimmung mit Verfassungsrecht unvereinbar ist, bleibt sie in ihrer verfassungswidrigen Wirkung aber ebenfalls unanwendbar.540 Gelangt das Zivilgericht in einem Rechtsstreit zu der Überzeugung, dass eine entscheidungserhebliche Vorschrift des Privatrechts mit dem Grundgesetz unvereinbar ist, im vertikalen Verhältnis also mit einer Verfassungsbestimmung kollidiert, kann es das einfache Gesetzesrecht nicht ohne Weiteres unangewendet lassen. Obwohl die Privatrichter berechtigt und verpflichtet sind, zu prüfen, ob die anzuwendende Privatrechtsnorm mit höherrangigem Recht vereinbar ist, geht mit dem Prüfungsrecht nicht automatisch die Kompetenz einher, die als verfassungswidrig erkannte Regelung aus diesem Grund zu ignorieren. Eine Verwerfungskompetenz541 steht den Zivilrichtern in dieser Konstellation nur teilweise zu: Nicht formelle oder vorkonstitutionelle Normen können unberücksichtigt bleiben;542 formelle, nachkonstitutionelle sind hingegen gem. Art. 100 GG dem BVerfG vorzulegen.543 Hierdurch wird die Autorität des konstitutionellen Gesetzgebers besonders geschützt,544 weshalb das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des BVerfG einzuholen ist. 538  Sachs,

in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn. 98. Staatsrecht, 2018, S. 913. 540  Zur Unanwendbarkeit einer verfassungswidrigen, aber nicht nichtigen Norm: BVerfG in st. Rspr. z. B. BVerfG, Urt. v. 03. 11. 1982 – 1 BvR 620/78, 1335/78, 1104/79 und 363/80 – Ehegattensplitting, BVerfGE 61, 319, 356; BVerfG, Beschl. v. 08. 10. 1980 – 1 BvL 122/78, 61/79 und 21/77 – Kinderzuschuß für Enkel, BVerfGE 55, 100, 110; BVerfG, Urt. v. 28. 01. 2003 – 1 BvR 487/01 – Rechtsanwaltsgebühren Ost, BVerfGE 107, 133, 149; BVerfG, Beschl. v. 06. 12. 2005 – 1 BvL 3/03 – Transsexuelle III, BVerfGE 1, 25 f.; Badura, Staatsrecht, 2018, S. 913; a. A. Meyer, JZ 2012, 434, 443, wonach die verfassungswidrige Rechtsnorm auch bei einer Unvereinbarkeits­ erklärung ipso iure nichtig sein soll; zur Unvereinbarkeitserklärung im Allgemeinen: In st. Rspr. z. B. BVerfG, Beschl. v. 11. 06. 1958 – 1 BvR 1/52, 46/52 – Teuerungszulage, BVerfGE 8, 1, 19 f.; BVerfG, Beschl. v. 21. 05. 1974 – 1 BvL 22/71 und 21/72 – Staatsangehörigkeit von Abkömmlingen, BVerfGE 37, 217, 261; jüngst: BVerfG, Beschl. v. 21. 06. 2011 – 1 BvR 2035/07 – Mediziner-BAföG, BVerfGE 129, 49, 75 f. 541  Allgemein zur Verwerfungskompetenz: Bachof, Grundgesetz und Richtermacht, 1959, S. 18; Lindner, Öffentliches Recht, 2017, Rn. 577 ff. 542  Bachof, Grundgesetz und Richtermacht, 1959, S. 18. 543  Zur Auslegung des Art. 100 GG, dass nur formelle, nachkonstitutionelle Gesetze den Vorlagegegenstand bilden: Bachof, Grundgesetz und Richtermacht, 1959, S.  17 f. 544  Zu dieser Schutzrichtung des Art. 100 GG: BVerfG, Beschl. v. 29. 11. 1967 – 1 BvL 16/63, BVerfGE 22, 373, 378; Detterbeck, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, 539  Badura,

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

Im Privatrecht ist insoweit bedeutsam, dass die großen Kodifikationen wie das BGB oder das HGB älter sind als das Grundgesetz. Da die Gesetzbücher damit ursprünglich vorkonstitutioneller Natur waren, könnten ihre Regelungen im Ausgangspunkt ohne Vorlage nach Art. 100 GG an sich verworfen werden. Das gilt allerdings keineswegs durchgehend für alle Vorschriften der genannten Gesetze. Weder das BGB noch das HGB sind auf dem Stand von 1900 geblieben. Vielmehr wurden die Privatrechtskodifikationen durch eine Vielzahl von Änderungsgesetzen aktualisiert, ergänzt oder wie im Fall der Schuldrechtsreform von 2002 nachhaltig modifiziert. Auch wenn damit regelmäßig ein nachkonstitutioneller Bestätigungswille feststellbar sein wird, ist zu beachten, dass eine punktuelle Änderung nicht automatisch den Legislativwillen einschließt, die nicht geänderten Gesetzesabschnitte als „zurzeit nicht änderungsbedürftig“ zu billigen.545 Stattdessen ist stets im Einzelfall zu prüfen, ob der Gesetzgeber „einen konkreten Bestätigungswillen im Gesetz zu erkennen“546 gegeben hat, was nach der Rechtsprechung des BVerfG insbesondere anzunehmen sein kann, „wenn die alte Norm als Gesetz neu verkündet wird, wenn die neue (nachkonstitutionelle) Norm auf die alte Norm verweist, oder wenn ein begrenztes und überschaubares Rechtsgebiet vom nachkonstitutionellen Gesetzgeber durchgreifend geändert wird und […] offensichtlich ist, daß der nachkonstitutionelle Gesetzgeber die alte Vorschrift nicht ungeprüft übernommen haben kann.“547 Soweit eine vorkonstitutionelle Privatrechtsnorm hiernach nachkonstitutionell bestätigt wurde, hat das Zivilgericht sie gem. Art. 100 GG vorzulegen, wenn sie in Gänze gegen die Verfassung verstößt und nicht mehr durch eine verfassungskonforme Rechtsfortbildung erhalten werden kann. b) Kollision von Privat- und Unionsrecht Kollidiert eine Regelung des Privatrechts mit einer unmittelbar wirkenden548 Unionsrechtsnorm, wird die nationale Bestimmung durch die höherArt. 100 GG, Rn. 2; Lindner, Öffentliches Recht, 2017, Rn. 581. 545  Siehe dazu: BVerfG, Beschl. v. 17. 05. 1960 – 2 BvL 11/59, 11/60 – Nachkon­ stitutioneller Bestätigungswille, BVerfGE 11, 126, 131: „Die Meinung, jede Änderung eines vorkonstitutionellen Gesetzes durch den Bundesgesetzgeber mache das ganze Gesetz zu einem nachkonstitutionellen, weil der Gesetzgeber damit bekunde, daß er den nicht abgeänderten Teil für grundgesetzmäßig halte, wird der Wirklichkeit nicht gerecht.“ 546  BVerfG, Beschl. v. 17. 05. 1960 – 2 BvL 11/59, 11/60 – Nachkonstitutioneller Bestätigungswille, BVerfGE 11, 126, 131 f. 547  BVerfG, Beschl. v. 17. 05. 1960 – 2 BvL 11/59, 11/60 – Nachkonstitutioneller Bestätigungswille, BVerfGE 11, 126, 132. 548  Eine Normkollision zwischen nationalem und unionalen Recht kommt nur bei unmittelbar wirkendem Unionsrecht in Betracht. Ein Rechtssatz der EU kann schließ-



B. Die Grundannahmen zu den Grenzen der Rechtsfortbildung 125

rangige verdrängt. Anders als dem Verfassungsrecht im Verhältnis zum einfachen Gesetzesrecht kommt dem Unionsrecht gegenüber dem mitgliedstaatlichen Recht549 kein Geltungs-, sondern nur Anwendungsvorrang zu,550 wobei das Unionsrecht gleich welchen Ranges sogar in der Lage ist, nationale Verfassungsbestimmungen zu verdrängen.551 Die nationale Norm ist in diesem Fall nicht nichtig, muss aber unanwendbar bleiben,552 soweit sie dem Unionsrecht im konkreten Fall widerspricht. Obwohl das BVerfG dies nicht bestreitet, widerspricht es dem EuGH darin, dass der Anwendungsvorrang ausnahmslos gelte.553 Weil die europäische Integration seit jeher nur gestattet lich nur dann mit einer nationalen Rechtsnorm kollidieren, wenn er im innerstaat­ lichen Rechtskreis wirkt; siehe hierzu: Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, 1999, S. 294 und 297; Kroll-Ludwigs/Ludwigs, ZJS 2009, 7, 8. 549  Der Vorrang gilt auch gegenüber dem nationalen Verfassungsrecht: EuGH, Urt. v. 17. 12. 1970 – Rs. 11/70 – Internationale Handelsgesellschaft mbH/Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel, ECLI:EU:C:1970:114, Rn. 3; EuGH, Urt. v. 26. 02. 2013 – Rs. C-399/11 – Melloni, ECLI:EU:C:2013:107, Rn. 59; Kruis, Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis, 2013, S. 49; Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 5 Rn. 26. 550  Allgemein zum Anwendungsvorrang des unmittelbar wirkenden Unionsrechts: Kruis, Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis, 2013, S. 109 ff.; Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 5 Rn. 26. 551  EuGH, Urt. v. 17. 12. 1970 – Rs. 11/70 – Internationale Handelsgesellschaft mbH/Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel, ECLI:EU:C:1970:114, Rn. 3; EuGH, Urt. v. 26. 02. 2013 – Rs. C-399/11 – Melloni, ECLI:EU:C:2013:107, Rn. 59; Kruis, Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis, 2013, S. 49. 552  Lindner, Öffentliches Recht, 2017, Rn. 432 f. 553  Zur europäischen Rechtsprechungslinie: EuGH, Urt. v. 15.07.1964 – Rs. 6/64 – Costa/E.N.E.L., ECLI:EU:C:1964:66 = Slg. 1964, 1259, 1270 f.; EuGH, Urt. v. 20.09.2001 – Rs. C-453/99 – Courage und Crehan, ECLI:EU:C:2001:465, Rn. 19; Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972; Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 69 f.; a. A. aber zu Recht: BVerfG, Beschl. v. 29.05.1974 – BvL 52/71 – Solange I, BVerfGE 37, 271, 285; in dem sich der Zweite Senat als Ausnahme zum Anwendungsvorrang des Unionsrechts eine Kontrolle am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes vorbehalten hatte; ebenso: BVerfG, Beschl. v. 22.10.1986 – 2 BvR 197/83 – Solange II, BVerfGE 73, 339, 387, auch wenn der Grundrechtsvorbehalt nunmehr „deaktiviert“ ist; grundlegend zur Ultra-vires-Kon­trolle als zweiter Vorrangausnahme: BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134, 2159/92 – Maastricht, BVerfGE 89, 155, 188; jedoch abgeschwächt durch: BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 – Ultra-vires-Kontrolle Honeywell, BVerfGE 126, 286, 304; jüngst aber: BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15, 1651/15, 2006/15, 980/16, NJW 2020, 1647, 1651, in dem der Zweite Senat die ultra-vires-Kontrolle zur Anwendung gebracht hat; zur Identitätskontrolle als dritter Ausnahme zum Anwendungsvorrang: BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2, 5/08, 2 BvR 1010, 1022, 1259/08, 182/09 – Lissabon, BVerfGE 123, 267, 353 f.; jüngst auch hierzu: BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15, 1651/15, 2006/15, 980/16, NJW 2020, 1647, 1652.

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Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

war, wenn das Grundgesetz hierzu ermächtigt, hat das BVerfG mit der Grundrechtskontrolle,554 der Ultra-vires-Kontrolle555 und Identitätskontrol­ le556 sukzessiv drei Ausnahmen zum Anwendungsvorrang entwickelt, die es ihm erlauben, die Einhaltung der Integrationsgrenzen557 zu überwachen und in der Folge EU-Sekundärrechtsakte oder ihre nationalen Umsetzungsgesetze am Maßstab der Verfassung zu überprüfen.558 Obwohl die Frage zwischen EuGH und BVerfG bis heute nicht abschließend geklärt ist, münden die gegensätzlichen Positionen nur in absoluten Ausnahmefällen in abweichende Ergebnisse. Grund hierfür ist, dass das BVerfG die Ausübung der Kontrollvorbehalte an hohe Anforderungen koppelt, die nahezu niemals erreicht werden.559 Solange nicht ausnahmsweise ein Kontrollvorbehalt des BVerfG 554  Grundlegend zur Grundrechtskontrolle: BVerfG, Beschl. v. 29. 05. 1974 – BvL 52/71 – Solange I, BVerfGE 37, 271, 285; zum nunmehr „deaktivierten“ Grundrechtsvorbehalt: BVerfG, Beschl. v. 22. 10. 1986 – 2 BvR 197/83 – Solange II, BVerfGE 73, 339, 387: „Solange die Europäischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Gemeinschaften einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, […] wird das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht […] nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüfen; entsprechende Vorlagen nach Art. 100 Abs. 1 GG sind somit unzulässig.“ 555  Grundlegend zur Ultra-vires-Kontrolle: BVerfG, Urt. v. 12. 10. 1993 – 2 BvR 2134, 2159/92 – Maastricht, BVerfGE 89, 155, 188; erheblich abgeschwächt wurde die Ultra-vires-Kontrolle jedoch durch: BVerfG, Beschl. v. 06. 07. 2010 – 2 BvR 2661/06 – Ultra-vires-Kontrolle Honeywell, BVerfGE 126, 286, 304; jüngst: BVerfG, Beschl. v. 14. 01. 2014 – 2 BvR 2728, 2729, 2730, 2731/13, 2 BvE 13/13 – OMT-­ Beschluss, BVerfGE 134, 366, 392; jüngst dazu: BVerfG, Urt. v. 05. 05. 2020 – 2 BvR 859/15, 1651/15, 2006/15, 980/16, NJW 2020, 1647, 1651. 556  Grundlegend zur Identitätskontrolle: BVerfG, Urt. v. 30. 06. 2009 – 2 BvE 2, 5/08, 2 BvR 1010, 1022, 1259/08, 182/09 – Lissabon, BVerfGE 123, 267, 353 f.; auch hierzu jüngst: BVerfG, Urt. v. 05. 05. 2020 – 2 BvR 859/15, 1651/15, 2006/15, 980/16, NJW 2020, 1647, 1652. 557  Siehe dazu: Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 5 Rn. 26, wonach die Vorbehalte des BVerfG „mittlerweile in die Integrationsregelung des Art. 23 Abs. 1 GG Eingang gefunden haben“; außerdem zu den Integrationsgrenzen: Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 143 ff. 558  Vertiefend zu den drei Kontrollvorbehalten: Lindner, Öffentliches Recht, 2017, Rn. 436 ff., der jedoch von „Vorrangausnahmen“ spricht. 559  Zur europarechtsfreundlichen Ausübung der Kontrollvorbehalte: BVerfG, Urt. v. 30. 06. 2009 – 2 BvE 2, 5/08, 2 BvR 1010, 1022, 1259/08, 182/09 – Lissabon, BVerfGE 123, 267, 354; ferner dazu, dass den Kontrollvorbehalten kaum ein Anwendungsbereich verbleibt: Streinz, Europarecht, 2019, Rn. 227; trotz dieser europa­ freundlichen Handhabung, die der Zweite Senat in seiner jüngsten Entscheidung noch einmal ausdrücklich bestätigt hat, hat das BVerfG im Zuge von Verfassungsbeschwerden gegen das Programm der EZB zum Ankauf von Wertpapieren eine ultra-viresund Identitätskontrolle vorgenommen: BVerfG, Urt. v. 05. 05. 2020 – 2 BvR 859/15, 1651/15, 2006/15, 980/16, NJW 2020, 1647.



B. Die Grundannahmen zu den Grenzen der Rechtsfortbildung 127

greift, besteht ein Gleichlauf der Rechtsprechungslinien von BVerfG und EuGH.  Verstößt eine Privatrechtsnorm danach gegen unmittelbar wirkendes EURecht, gilt folglich unproblematisch der Anwendungsvorrang des Unionsrechts. Anders als bei verfassungswidrigem Privatrecht, liegen Prüfungs- und Verwerfungskompetenz bei den Zivilgerichten.560 Vorrangig ist insoweit aber eine geltungserhaltende unionsrechtskonforme Auslegung oder Fortbildung der nationalen Norm. c) Kollision von Privat- und Völkerrecht Läuft eine Norm des Privatrechts einer Regelung des Völkerrechts zuwider, muss für die Rechtsfolge des Widerspruchs nach der Art der Völkerrechtsvorschrift unterschieden werden. Anlass der Differenzierung ist, dass Bestimmungen des Völkerrechts normhierarchisch auf verschiedenen Ebenen innerhalb des deutschen Rechts verortet sind und demnach je nach Rang unterschiedlich auf das einfachgesetzliche Privatrecht einwirken können.561 Der Ausschnitt des Völkerrechts, der die allgemeinen Menschenrechte verbürgt, ist in Art. 1 Abs. 2 GG im Rang des Verfassungsrechts prominent verankert. Als Verfassungsbestimmung besitzt er gegenüber dem niederrangigen Recht wie die anderen Normen des Grundgesetzes Geltungsvorrang. Der Ausschnitt des Völkerrechts, der den allgemeinen Regeln des Völkerrechts unterfällt, wird durch den generellen Rechtsanwendungsbefehl des Art. 25 S. 1 GG562 Bestandteil des Bundesrechts und geht nach der ganz herrschenden Ansicht gem. Art. 25 S. 2 GG dem einfachen Gesetzesrecht, nicht aber dem Grundgesetz vor.563 Es bleibt zuletzt noch der Ausschnitt des Völkerver560  Zur Prüfungs- und Verwerfungskompetenz der Fachgerichte: BVerfG, Beschl. v. 09. 06. 1971 – 2 BvR 255/69 – Milchpulver, BVerfGE 31, 145, 174 f.; Lindner, Öffentliches Recht, 2017, Rn. 482; Streinz, Europarecht, 2019, Rn. 267. 561  Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 5 Rn. 40. 562  BVerfG, Urt. v. 26. 03. 1957 – 2 BvG 1/55 – Reichskonkordat, BVerfGE 6, 309, 363; Talmon, JZ 2013, 12. 563  Für einen „Zwischenrang“ der allgemeinen Regeln des Völkerrechts als über dem einfachen Bundesrecht unterhalb des Grundgesetzes: BVerfG, Urt. v. 26.03.1957 – 2 BvG 1/55 – Reichskonkordat, BVerfGE 6, 309, 363; BVerfG, Beschl. v. 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04 – EGMR-Entscheidungen, BVerfGE 111, 307, 318; BVerfG, Beschl. v. 26.10.2004 – 2 BvR 955/00, 1038/01 – Bodenreform III, BVerfGE 112, 1, 24 ff.; Wollenschläger, in: Dreier, GG-Kommentar, Band II, 2015, Art. 25 GG, Rn. 30; Talmon, JZ 2013, 12, 15; für den „Verfassungsrang“ der allgemeinen Regeln des Völkerrechts hingegen: Streinz, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 25 GG, Rn. 90; für einen „Überverfassungsrang“: Curtius, DÖV 1955, 145, 146, wonach „der Verfassungsgesetzgeber […] [sie] Völkerrechts auch nicht auf dem Umwege über die Beseitigung der

128

Erster Teil: Das Fundament des Grenzsystems

tragsrechts, das gem. Art. 59 Abs. 2 GG den Rechtsanwendungsbefehl für den innerstaatlichen Rechtskreis durch ein Zustimmungsgesetz des Bundes erhält. Völkervertragliche Bestimmungen wie die EMRK564 sind folglich in der Regel im Rang des einfachen Bundesrechts normhierarchisch integriert.565 Soweit sie nicht zusätzlich höherrangig verbürgt sind, wie dies etwa für die Grundrechte der EMRK566 wegen Art. 6 Abs. 3 EUV der Fall ist,567 können Völkervertragsrecht und einfachgesetzliches Privatrecht als gleichrangige Normen im horizontalen Verhältnis kollidieren. Insgesamt ergeben sich daher bei einer Kollision von Privat- und Völkerrecht gegenüber den bereits dargestellten Konstellationen keine Besonderheiten. Geht es um inkorporiertes Völkervertragsrecht, ist der Normkonflikt im horizontalen Verhältnis wie der Widerspruch zweier Privatrechtsnormen aufzulösen. Praktisch wird es hierzu selten kommen, da das BVerfG in ständiger Rechtsprechung das Grundgesetz völkerrechtsfreundlich auslegt,568 wodurch die Wertungskollision jener zwischen Privat- und Verfassungsrecht gleicht. Die in Art. 1 Abs. 2 GG verankerten Menschenrechte folgen den Kollisionsregeln für das vertikale Verhältnis von Privat- und Verfassungsrecht, während die Grundrechte der EMRK wegen Art. 6 Abs. 3 EUV sogar das vertikale Verhältnis von Privat- und Unionsrecht betreffen. Weil die Menschenrechte hierdurch mehrfach abgesichert sind, ist „der Einfluss der allgemeinen Regeln des Völkerrechts auf das Privatrecht sehr gering.“569 Sie gehen dem Privatrecht zwar vor, da sie zwischen dem einfachgesetzlichen Recht und dem Verfassungsrecht stehen; in dieser Hinsicht ist eine eigenständige Bedeutung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts aber kaum vorstellbar, Schrankenbestimmung in Art. 25 GG angreifen“ dürfe; Ruffert, JZ 2001, 633, 636; prägnant zum Streitstand samt weiterer Nachweise: Talmon, JZ 2013, 12, 15. 564  Neben der EMRK können auch weitere zwischenstaatliche Vereinbarungen in Betracht kommen. Hierzu zählt beispielsweise das „Übereinkommen der Vereinten Nationen über Verträge über den internationalen Warenkauf“ (CISG); siehe dazu: Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 5 Rn. 46. 565  BVerfG, Beschl. v. 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04 – EGMR-Entscheidungen, BVerfGE 111, 307, 317; Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 5 Rn. 43. 566  Zum Verhältnis der EMRK zur nationalen Rechtsordnung: Ludwigs/Sikora, JuS 2017, 385, 386. 567  Die Grundrechte der EMRK sind wegen der ausdrücklichen Anordnung in Art. 6 Abs. 3 EUV zusätzlich Bestandteil des EU-Primärrechts; näher dazu: Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 5 Rn. 47. 568  Hierzu in st. Rspr. z. B. BVerfG, Beschl. v. 26. 03. 1987 – 2 BvR 589/79 – Unschuldsvermutung, BVerfGE 74, 358, 370; BVerfG, Beschl. v. 14. 10. 2004 – 2 BvR 1481/04 – EGMR-Entscheidungen, BVerfGE 111, 307, 317 ff.; BVerfG, Beschl. v. 26. 02. 2008 – 1 BvR 1602, 1606, 1626/07 – Caroline von Monaco III, BVerfGE 120, 180, 200 f. 569  Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 5 Rn. 42.



C. Ergebnis des Ersten Teils129

weshalb sie im weiteren Verlauf der Untersuchung nicht mehr einbezogen werden. Unberücksichtigt bleiben ferner die Wertungen des Völkerrechts in allen anderen Fällen, da sie normhierarchisch jeweils auf den Stufen des einfachgesetzlichen Rechts, des Verfassungs- oder Unionsrechts relevant werden, sodass die jeweiligen Ausführungen und Auflösungsmechanismen für sie gleichermaßen gelten.

C. Ergebnis des Ersten Teils Insgesamt ist festzuhalten, dass die Zivilgerichte auch bei der richterlichen Rechtsfortbildung nach Art. 20 Abs. 3 GG ausnahmslos570 der Bindung an Gesetz und Recht unterliegen. Vor diesem Hintergrund kann es keine richterliche Rechtssetzung, sondern nur Rechtsanwendung geben.571 In der Folge wurde der Begriff der Rechtsfortbildung dahingehend präzisiert, dass er die Handlungsform der Judikative beschreibt, die sich als Anwendung von Gesetzesrecht im Lückenbereich charakterisieren lässt, weil mit ihr ein Normtext anpasst wird, wenn Wortlaut und Wertung der Vorschrift nicht übereinstimmen. Ermittelt wurde darüber hinaus, dass für ein Rechtsfortbildungs­ instrument die Eigenschaft wesentlich ist, eine Lücke zwischen Wortlaut und Wertung schließen zu können.572 Infolgedessen mussten zahlreiche vermeintliche Fortbildungsmechanismen wie der Umkehr- und Erst-recht-Schluss aus dem Kreis der echten Formen ausgeschlossen werden. Hierzu zu zählen sind lediglich die Analogie, die teleologische Extension und die teleologische Reduktion. Nachdem das Institut der Rechtsfortbildung ausreichend präzisiert wurde, konnte zu ihren Grenzen erarbeitet werden, dass diese nicht nur aus der Methodik herrühren; vielmehr können sie sich aufgrund der verfassungsrechtlichen Verflechtung von Rechtsanwendungslehre und geltendem Recht aus allen Rechtssätzen ergeben, die gem. Art. 20 Abs. 3 GG dem Merkmalspaar „Gesetz und Recht“ unterfallen. Zuletzt wurde dargelegt, wie Wertungskollisionen aufzulösen sind, wenn im Rahmen von „Gesetz und Recht“ Wertentscheidungen unterschiedlichen Ranges divergierende Aussagen zu den Grenzen der Rechtsfortbildung treffen.

570  Zur zentralen Bedeutung der richterlichen Gesetzesbindung unter: Erster Teil B. I. 3. und II. 571  Zum fehlenden Rechtssetzungscharakter unter: Erster Teil  A. I. 1. b). 572  Zu den Rechtsfortbildungsformen unter: Erster Teil  A. II.

Zweiter Teil

Die Entwicklung des Grenzsystems Die Rechtsfortbildung ist ein Instrument der Methodik, das gem. Art. 20 Abs. 3 GG aber nicht weiter gehen kann, als „Gesetz und Recht“ es erlauben. Weil die Rechtsanwendungslehre von der Verfassung beeinflusst wird, muss eine Untersuchung zu den Fortbildungsgrenzen zwar in der Rechtsmethodik ihren Anfang nehmen, dann aber mit einer dogmatischen Analyse des geltenden Rechts1 fortgesetzt werden.2 Unter Berücksichtigung der erarbeiteten Grundnahmen soll dazu der Forschungsstand (unter A.) betrachtet und diskutiert werden, ehe auf der Grundlage dieser Erkenntnisse (unter B.) ein Lösungsansatz entwickelt wird, der aufzeigt, wie die Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung strukturiert ermittelt werden können.

A. Die Grenzen der Rechtsfortbildung in Rechtsprechung und Literatur I. Die Grenze von zulässiger und unzulässiger Fortbildung des Rechts 1. Forschungsstand Geht es in der Rechtsprechung und im Schrifttum um die Grenzen der richterlichen Fortbildung, ist hiermit zumeist die Linie gemeint, die die zu1  Nachdem der Ausdruck „Dogmatik“ zahlreiche Deutungsvarianten zulässt (statt aller: Harenburg, Die Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis, 1986, S. 1 und 5 ff.; Lennartz, Dogmatik als Methode, 2017, S. 149 ff.) und oftmals mit einer negativen Konnotation besetzt ist (zur Kritik im Einzelnen: Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 309), ist eine kurze Begriffsbestimmung unverzichtbar. Rechtsdogmatik lässt sich mit Bumke, Rechtsdogmatik, 2017, S. 1 „als eine Disziplin beschreiben, die das positive Recht durchdringen und ordnen will, um die rechtliche Arbeit anzuleiten, und jene Fragen zu beantworten, die die Rechtspraxis aufwirft“; im Ergebnis ebenso: Esser, AcP 172 (1972), 97, 101; Kötz, RabelsZ 54 (1990), 203, 204; Koziol, AcP 212 (2012), 1, 2; Jestaedt, JZ 2014, 1, 6 ff.; Stürner, AcP 214 (2014), 7, 11; Lobinger, AcP 216 (2016), 28, 35; Hofmann, in: Stober (Hrsg.), Festschrift Roellecke, 1997, S. 121 f. 2  Zum Verhältnis von Rechtsmethodik und Rechtsdogmatik: Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 9 Rn. 7 ff.; implizit zur Verflechtung beider Sphären: Kuh-



A. Die Grenzen der Rechtsfortbildung in Rechtsprechung und Literatur 131

lässige Rechtsfortbildung von der unzulässigen trennt. Obwohl ihr Stellenwert damit kaum überschätzt werden kann, ist ihr genauer Verlauf nach wie vor ungeklärt. Welche Hürden für die Grenzbestimmung zu nehmen sind, lassen schon die Ausführungen des BVerfG erahnen, das schon früh zu der Überzeugung kam, dass sich die Grenzen nicht in einer Formel erfassen ließen, „die für alle Rechtsgebiete und für alle von ihnen geschaffenen oder beherrschten Rechtsverhältnisse gleichermaßen gälte“.3 Auch wenn in dieser Arbeit die Rechtsfortbildung durch die Privatrichter im Fokus steht, ist jedenfalls die Betrachtung des Forschungsstands hierauf nicht zu beschränken, da nicht auszuschließen ist, dass Erkenntnisse zu den Grenzen der judikativen Entscheidungsmacht aus anderen Rechtsgebieten gewinnbringend auf das Privatrecht übertragen werden können. Sichtet man die bisherigen Abhandlungen in der Literatur, fällt auf, dass die Grenzfrage kaum4 ganzheitlich diskutiert, sondern meist selektiv behandelt wird. Wie Möllers richtig beobachtet, wird der eigene Standpunkt oftmals „mit einem Wahrheitsanspruch verbunden“, während der gegnerische „als abwegig und falsch eingestuft“ wird.5 Auch wenn sich dies vor dem Hintergrund erklären lässt, dass die „Grenzziehung immer auch politisch motiviert“6 ist, hat dies zur Folge, dass sich der Forschungsstand aus der Summe isolierter Stellungnahmen zusammensetzt. Zur Systematisierung können diese Ansätze mit Wank den Kategorien „hermeneutisch“ und „verfassungsrechtlich“ zugeteilt werden, wobei er die Verbindung beider len,

in: Hilgendorf/Kuhlen (Hrsg.), Die Wertfreiheit in der Jurisprudenz, 2000, S. 35. 3  BVerfG, Beschl. v. 14. 02. 1973 – 1 BvR 112/65 – Soraya, BVerfGE 34, 269, 288. Dass die Grenzziehung je nach Rechtsgebiet variieren kann, zeigt bereits das Rechtsfortbildungsverbot zulasten des Täters, welches aus Art. 103 Abs. 2 GG sowie aus den einfachgesetzlichen § 1 StGB und § 3 OwiG abgeleitet wird und in der Folge primär die Fortbildungskompetenz der Strafgerichte beschränkt; siehe zur Anwendbarkeit des Art. 103 Abs. 2 GG im Ordnungswidrigkeitenrecht: BVerfG, Beschl. v. 29. 11. 1989 – 2 BvR 1491, 1492/87, BVerfGE 81, 132, 135; BVerfG, Beschl. v. 11. 01. 1995 – 2 BvR 1473/89, NJW 1995, 3050, 3051. Zu den Besonderheiten im Verwaltungsrecht: BVerfG, Beschl. v. 14. 08. 1996 – 2 BvR 2088/93, NJW 1996, 3146, das die beanstandeten fachgerichtlichen Entscheidungen aufgehoben hat, weil sie die Erweiterung der Eingriffsbefugnisse einer Verwaltungsbehörde im Wege der Analogie gebilligt hatten. Unklar ist hingegen, ob nach Auffassung des BVerwG eine rechtsfortbildende Erweiterung von Befugnisnormen zulässig ist; siehe dazu und zum Ganzen: Gern, NVwZ 1995, 1145, 1146. Exemplarisch zur bereits erwähnten Diskussion im Steuerrecht: BFH, BStBl. II 1986, 272 (Analogieverbot, soweit durch sie ein neuer Steuertatbestand geschaffen wird). 4  Hierzu aber: Wank, Auslegung und Rechtsfortbildung im Arbeitsrecht, 2013, S.  131 ff.; Möllers, in: Altmeppen/Fitz/Honsell (Hrsg.), Festschrift Roth, 2011, S. 473 ff. 5  Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 13 Rn. 6. 6  Zu dieser Einschätzung: Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 13 Rn. 6.

132

Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

Positionen als „kombiniert hermeneutisch-verfassungsrechtlich“ bezeichnet.7 Zu den Grenzen aus methodischer Sicht, die Wank begrifflich als „hermeneutische Theorien“ bündelt, wird vertreten, die Grenze zur unzulässigen Rechtsfortbildung sei überschritten, wenn eine planwidrige Regelungslücke fehlt,8 wenn für die Analogie keine vergleichbare Interessenlage9 besteht oder im Allgemeinen ein gesetzliches Rechtsfortbildungsverbot eingreift.10 Ferner kann als Minimalkonsens gelten, dass das Recht nicht contra legem fortgebildet werden darf.11 Weitgehend unklar ist jedoch, wann genau diese Grenze verletzt wird. Im Schrifttum finden sich im Wesentlichen12 zwei Ansätze,13 die dem klassischen Streit14 um das Auslegungsziel auch auf der Ebene der Rechtsfortbildung Bedeutung verleihen. Für die Vertreter der ob7  Wank, Auslegung und Rechtsfortbildung im Arbeitsrecht, 2013, S. 133 ff., der erkennbar um eine Systematisierung bemüht ist, differenziert insoweit zwischen einer „hermeneutischen“, einer „verfassungsrechtlichen“ und einer „kombiniert hermeneutisch-verfassungsrechtlichen Theorie“. 8  Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S. 15 ff. zum Lückenbegriff im Allgemeinen sowie S. 197 zur Bedeutung des Lückenbegriffs für „die vollständige Erfassung des Bereichs der Rechtsfindung praeter legem“ im Besonderen. Canaris unterscheidet zwischen Rechtsverweigerungslücken (S. 172 ff.), teleologischen Lücken (S. 180 ff.) und Prinzip- und Wertlücken (S. 194 ff.), wobei er für die Grenzen der Rechtsfortbildung jeweils prüft, ob und wann die Lücken nicht ausfüllbar sind und ob ein Rechtsfortbildungsverbot besteht. 9  Zur „vergleichbaren Wertungslage“ als vorzugswürdige Terminologie: Meier/ Jocham, JuS 2016 392, 396 f. 10  Ausführlich zu kodifizierten Rechtsfortbildungsverboten: Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 134 ff.; ebenso: Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S. 177 ff., S. 180 ff. und S. 194 ff. 11  Zur Unzulässigkeit der contra legem-Rechtsanwendung: BVerfG, Beschl. v. 19. 06. 1973 – 1 BvL 39/69 – Behördliches Beschwerderecht, BVerfGE 35, 263, 280; ebenso: Schwacke, Juristische Methodik, 2011, S. 123; im Wesentlichen ebenso: Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 246 und 251, wenngleich ein „contra-legem-Judizieren […] dann zugelassen werden [soll], wenn wegen Versagens des Gesetzgebers ein Rechtsnotstand droht.“; hierzu grundlegend: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 427; zu den Ausnahmen bei einem subjektivierten Ansatz: Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 185. 12  Erwähnt sei, dass der Fortbildungsbefugnis teilweise sehr enge Grenzen gezogen werden, wonach für sie „praktisch kein Raum mehr vorhanden ist“; so explizit: Hillgruber, JZ 1996, 118; ebenso: Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, S. 235, der für „gesetzeskorrigierendes Richterecht“ eine prinzipielle Unzulässigkeit annimmt. 13  Diesen Befund teilend: Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, 2006, S. 291. 14  Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers, 2017, S. 85 spricht von „Ewigkeitsfrage“ und „Dauerbrenner“.



A. Die Grenzen der Rechtsfortbildung in Rechtsprechung und Literatur 133

jektiven Theorie15 kann sich die ratio legis von der ursprünglichen Vorstellung des historischen Gesetzgebers emanzipieren,16 weshalb eine Fortbildung erst dann contra legem sei, wenn sie gegen den objektivierten Normzweck verstoße.17 Legt man hingegen das Verständnis der subjektiven Theorie zugrunde, bildet der Normzweck des historischen Gesetzgebers die Grenz­ linie.18 Während das BVerfG ursprünglich eher der objektiven Sichtweise zugeneigt war,19 hat sich in jüngster Zeit ein Wandel zur subjektiven ergeben.20 Die Grenze zur unzulässigen Fortbildung ist dann überschritten, wenn der Wille des Gesetzgebers missachtet wird.21 15  Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S. 197 f.; Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 254; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 426; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 245. 16  Coing, Juristische Methodenlehre, 1972, S. 34, wonach die objektive Theorie „den Rückgriff auf die Gesetzesmaterialien für unrichtig“ halte. 17  Für eine „objektiv-gegenwartsbezogene“ Betrachtung: Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 246. 18  Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 226 und 288, welche die Grenze zur unzulässigen Rechtsfortbildung in der „Wertentscheidung des Gesetzgebers“ sehen; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 184, für den die „Regelungsabsicht des historischen Gesetzgebers“ nicht missachtet werden darf; hierfür jüngst auch: Feix, Maßstäbe für eine gelungene richterliche Rechtsfortbildung, 2020, S. 129, wonach „der Gesetzgeberwillen zur Geltung gebracht werden muss“. 19  Damals noch mit einem klaren Bekenntnis zur objektiven Theorie: BVerfG, Beschl. v. 17. 05. 1960 – 2 BvL 11/59, 11/60 – Nachkonstitutioneller Bestätigungswille, BVerfGE 11, 126, 130. 20  Grundlegend: Voßkuhle/Osterloh/Di Fabio, BVerfRi des Zweiten Senats, abweichende Meinung zu BVerfG, Beschl. v. 15. 01. 2009 – 2 BvR 2044/07 – Rügeverkümmerung, BVerfGE 122, 248, 282 ff.; bestätigt durch den Ersten Senat: BVerfG, Beschl. v. 25. 01. 2011 – 1 BvR 918/10 – Dreiteilungsmethode, BVerfGE 128, 193, 210; gefestigt durch den Zweiten Senat: BVerfG, Urt. v. 19. 03. 2013 – 2 BvR 2628, 2883/10, 2155/11 – Verständigungsgesetz, BVerfGE 133, 168, 205, der zwar vom „objektivierten Willen des Gesetzgebers“ spricht, aber erneut betont, dass sich die Aufgabe des Richters darauf beschränke, die „intendierte Regelungskonzeption“ des Gesetzgebers möglichst zuverlässig zur Geltung zu bringen; siehe zu diesem Wandel in der Rechtsprechung des BVerfG auch: Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers, 2017, S. 85 ff. 21  BVerfG, Beschl. v. 25.  01.  2011 – 1 BvR 918/10 – Dreiteilungsmethode, BVerfGE 128, 193, 210: „Der Richter darf sich nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen. Er muss die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren und den Willen des Gesetzgebers unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung bringen.“; siehe auch: Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers, 2017, S. 86, der die Position des BVerfG den „Vereinigungstheorien“ zurechnet; ebenso: Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 30; dem BVerfG beipflichtend: Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 132 und 139.

134

Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

Abseits der jüngeren Stellungnahme des BVerfG zum „Dauerbrenner“22 der Methodenlehre wurden die Grenzen der Fortbildung aber auch schon zuvor teilweise dem Verfassungsrecht entnommen.23 Dass die Richtermacht durch das Grundgesetz beschränkt ist, folgt aus der Gesetzesbindung der Judikative.24 Ergänzend zu Art. 20 Abs. 3 GG25 muss das Gewaltenteilungsprinzip aus Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG als Schranke anerkannt werden.26 Es ist unzulässig, wenn Richter „Befugnisse beanspruchen, die von der Verfassung eindeutig dem Gesetzgeber übertragen worden sind.“27 Ihnen ist nicht gestattet, sich „aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz [zu] begeben, also objektiv betrachtet sich der Bindung an Recht und Gesetz entziehen.“28 Der Richter ist vielmehr an den „vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes“ gebunden,29 weshalb er keine Wertentscheidung des Gesetzgebers eigenmächtig durch seine rechtspolitischen Vorstellungen ersetzen darf.30 Ein Fortbildungsakt überschreitet Grenzen, 22  Frieling,

Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers, 2017, S. 85. Beschl. v. 14.02.1973 – 1 BvR 112/65 – Soraya, BVerfGE 34, 269, 280; Achtmann, Möglichkeiten und Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung auf der Grundlage des Bonner Grundgesetzes, 1965, S. 198 mit Bezug auf Art. 20 Abs. 3 GG; Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 2012, S. 88; Schneider, Richterrecht, Gesetzesrecht und Verfassungsrecht, 1969, S. 8 f. und 30; Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, S. 116 ff; Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 251; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 182; Stein, NJW 1964, 1745, 1747; Larenz, NJW 1965, 1, 2; Redeker, NJW 1972, 409, 412; Ipsen, NJW 1977, 2289, 2294; Wank, JuS 1980, 545, 552; Hillgruber, JZ 1996, 118, 119 ff.; Fischer, ZfA 2002, 215, 232; Hufen, ZRP 2003, 248 ff. passim; Drechsler, ZJS 2015, 344, 349 f. 24  So in st. Rspr. z. B. BVerfG, Beschl. v. 14. 02. 1973 – 1 BvR 112/65 – Soraya, BVerfGE 34, 269, 288; BVerfG, Beschl. v. 19. 10. 1983 – 2 BvR 485, 486/80 – Sozialplan, BVerfGE 65, 182, 191; BVerfG, Beschl. v. 12. 11. 1997 – 1 BvR 479/92 und 307/94 – Kind als Schaden, BVerfGE 96, 375, 393 f. 25  Exemplarisch: BVerfG, Beschl. v. 03. 11. 1992 – 1 BvR 1243/88 – Erörterungsgebühr, BVerfGE 87, 273, 280, in der der Erste Senat die Grenzen nur aus Art. 20 Abs. 3 GG ableitet. 26  BVerfG, Beschl. v. 12. 11. 1997 – 1 BvR 479/92 und 307/94 – Kind als Schaden, BVerfGE 96, 375, 393 f. 27  Grundlegend: BVerfG, Beschl. v. 21. 07. 1955 – 1 BvL 33/51 – Junktimklausel, BVerfGE 4, 219, 234; ausdrücklich als st. Rspr. bestätigt durch: BVerfG, Beschl. v. 12. 11. 1997 – 1 BvR 479/92 und 307/94 – Kind als Schaden, BVerfGE 96, 375, 394. 28  BVerfG, Beschl. v. 03. 11. 1992 – 1 BvR 1243/88 – Erörterungsgebühr, BVerfGE 87, 273, 280; BVerfG, Beschl. v. 12. 11. 1997 – 1 BvR 479/92 und 307/94 – Kind als Schaden, BVerfGE 96, 375, 394; BVerfG, Beschl. v. 25. 01. 2011 – 1 BvR 918/10 – Dreiteilungsmethode, BVerfGE 128, 193, 210; jüngst bestätigt: BVerfG, Beschl. v. 23. 05. 2016 – 1 BvR 2230/15, 1 BvR 2231/15, NJW-RR 2016, 1366, 1369. 29  So explizit: BVerfG, Beschl. v. 12. 11. 1997 – 1 BvR 479/92 und 307/94 – Kind als Schaden, BVerfGE 96, 375, 394. 30  BVerfG, Beschl. v. 14. 05. 1985 – 1 BvR 233, 341/81 – Brokdorf, BVerfGE 69, 315, 372; BVerfG, Beschl. v. 11. 10. 1978 – 1 BvR 84/74 – Sachverständigenhaftung, 23  BVerfG,



A. Die Grenzen der Rechtsfortbildung in Rechtsprechung und Literatur 135

wenn er „Rechtspositionen verkürzt, die der Gesetzgeber unter Konkretisierung allgemeiner verfassungsrechtlicher Prinzipien gewährt hat.“31 Außerdem muss die Rechtsfortbildung „anerkannten Gerechtigkeitsvorstellungen entsprechen, eine Lücke im Gesetz schließen und frei von Willkür sein.“32 Von neuem belebt wurde die Diskussion durch den Beschluss des BVerfG vom 24.02.2015, in dem der Erste Senat ausführt, dass die Grundrechte im Privatrecht eine (vermeintlich) elastische Grenze für die Rechtsfortbildung darstellen. Sie ist weiter, wenn „die vom Gericht im Wege der Rechtsfortbildung gewählte Lösung dazu dient, […] verfassungsmäßigen Rechten des Einzelnen zum Durchbruch zu verhelfen.“ Im Gegensatz dazu ist sie enger, wenn sie zu einer „Verschlechterung der rechtlichen Situation des Einzelnen“ führt.33 Die Fortbildung des Rechts muss sich „umso stärker auf die Umsetzung bereits bestehender Vorgaben des einfachen Gesetzesrechts beschränken, je schwerer die beeinträchtigte Rechtsposition auch verfassungsrechtlich wiegt.“34 Insgesamt lässt sich damit festhalten, dass die Grenze von zulässiger und unzulässiger Fortbildung in Rechtsprechung und Schrifttum lange Zeit isoliert aus der Methodik, seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend35 aber auch aus der Verfassung36 hergeleitet wird.37

BVerfGE 49, 304, 322; dazu jüngst: BVerfG, Beschl. v. 06. 06. 2018 – 1 BvL 7/14 und 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774, 779. 31  BVerfG, Beschl. v. 11.  10. 1978 – 1 BvR 84/74 – Sachverständigenhaftung, BVerfGE 49, 304, 319 f., wonach der BGH die Grenzen der Fortbildung überschreite, wenn er die deliktische Haftung gerichtlich bestellter Sachverständiger wegen der Verletzung der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 GG, konkretisiert durch § 823 Abs. 1 BGB) auf Vorsatz beschränke; bestätigt durch: BVerfG, Beschl. v. 14. 05. 1985 – 1 BvR 233, 341/81 – Brokdorf, BVerfGE 69, 315, 372. 32  BVerfG, Beschl. v. 12. 11. 1997 – 1 BvR 479/92 und 307/94 – Kind als Schaden, BVerfGE 96, 375, 378. 33  BVerfG, Beschl. v. 24. 02. 2015 – 1 BvR 472/14 – Mutmaßlicher Vater, BVerfGE 138, 377, 392. 34  BVerfG, Beschl. v. 24. 02. 2015 – 1 BvR 472/14 – Mutmaßlicher Vater, BVerfGE 138, 377, 392. 35  Stellvertretend hierfür: Larenz, Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildungen, 1965, S. 3, für den die Frage, „wann dem Richter eine Rechtsfortbildung erlaubt […] ist, […] vor allem eine Frage des Verfassungsrechts“ ist. 36  Und dort vor allem aus den Staatsstrukturmaximen „des Rechtsstaats-, des Demokratie- und des Gewaltenteilungsprinzips“: Wank, Auslegung und Rechtsfortbildung im Arbeitsrecht, 2013, S. 134. 37  Siehe dazu: Wank, Auslegung und Rechtsfortbildung im Arbeitsrecht, 2013, S.  133 ff.; Poscher, in: Erbguth/Masing (Hrsg.), Die Bedeutung der Rechtsprechung im System der Rechtsquellen, 2005, S. 138 ff.

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

2. Bewertung Zu kritisieren sind die Ansätze, welche die Grenzen der Rechtsfortbildung nur in der Methodenlehre oder nur im Verfassungsrecht suchen.38 Wer sie isoliert aus einer der beiden Erkenntnisquellen ableitet, vernachlässigt jedoch, dass die Rechtsanwendungslehre und das anzuwendende Recht durch Art. 20 Abs. 3 GG verbunden sind und einander ergänzen. Richtigerweise können sie sogar nicht voneinander getrennt werden. Wank ist daher zuzustimmen, dass „es sinnvoll ist, den verfassungsrechtlichen und den hermeneutischen Ansatz zu kombinieren.“39 Obwohl die Verbindung beider Ansätze in die richtige Richtung weist, geht aber auch das wegen Art. 20 Abs. 3 GG nicht weit genug. Binden „Gesetz und Recht“ die Rechtsprechung, ist es nicht ausreichend, die Grenzen der Fortbildung der Methodik und dem Verfassungsrecht zu entnehmen. Müssen alle Akte der Rechtsanwendung am Maßstab des Art. 20 Abs. 3 GG gemessen werden, gilt das nämlich auch für die Rechtsfortbildung. Ihre Grenzen sind infolgedessen nicht nur aus „Gesetz und (Verfassungs-)Recht“, sondern aus allen Bestimmungen abzuleiten, die in Art. 20 Abs. 3 GG ihren Ausdruck finden. Grenzrelevant sind damit in erster Linie das einfache Gesetzesrecht, das Verfassungsrecht, aber auch das Recht der Europäischen Union, was bislang in zu geringem Umfang geschieht.40 Berücksichtigt man dies, genügt aber selbst das nicht, um die Grenzen der Rechtsfortbildung mit einer Zusammenstellung aller Erkenntnisse abschließend zu skizzieren, da auch im Übrigen noch viele Fragen ungeklärt sind. Offen ist nach wie vor eine zentrale Frage der Methodik, ob mit den Objektivisten der „Wille des Gesetzes“ oder mit den Subjektivisten der „Wille des Gesetzgebers“ die Grenze zur unzulässigen Rechtsfortbildung markiert. Weil die Auseinandersetzung bereits umfangreich geführt wurde, soll der Streit hier nicht wiederholt,41 aber in Kürze Stellung genommen werden. 38  Diese Trennung noch andeutend: Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 251; ebenso: Drechsler, ZJS 2015, 344, 349 f.; Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 2015, S. 86. 39  Wank, Auslegung und Rechtsfortbildung im Arbeitsrecht, 2013, S. 134. 40  Siehe zur unionsrechtlichen Komponente der Fragestellung: Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, 2003, S. 1 ff.; Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, 2006, passim; Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 13 Rn. 79 ff.; außerdem zu dieser Einschätzung: Rüthers/Fischer/ Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 648b. 41  Eingehend zum Streitstand: Hassold, ZZP 94 (1981), 192, 193 ff.; zu den Argumenten im Einzelnen: Gropp, Die Rechtsfortbildung contra legem, 1974, S. 73 ff.; jüngst: Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers, 2017, S. 80 ff., allerdings jeweils zu der Frage, ob der „Wille des Gesetzgebers“ oder der „Wille des Gesetzes“ das Ziel der Auslegung sein muss.



A. Die Grenzen der Rechtsfortbildung in Rechtsprechung und Literatur 137

Eine Fiktion ist beiden Ansichten immanent, da es weder einen „Willen des Gesetzes“ noch einen „Willen des Gesetzgebers“ geben kann. Das Gesetz kann als lebloser Normtext keinen Willen haben,42 was aber auch über „den Gesetzgeber“ als abstraktes Verfassungsgebilde gesagt werden muss.43 Weil beide keinen natürlichen Willen bilden können,44 wird ihnen jeweils ein fremder als normativer Wille zugerechnet. Nachdem die objektive Theorie annimmt, das Gesetz könne „klüger“ sein als der Gesetzgeber,45 wird dem Gesetz faktisch dasjenige zugeschrieben, was der Rechtsanwender als objektivierten Gesetzessinn deutet.46 Damit wird der Wille eines Einzelnen oder Weniger zur Richtschnur der gerichtlichen Entscheidung. Doch auch der Vorwurf, die subjektive Theorie erkläre den Willen weniger Gesetzesverfasser zum Willen des Gesetzgebers,47 hat einen wahren Kern. Obwohl die Anhänger der objektiven und subjektiven Theorie von einem fremden auf einen normativen Willen schließen, ist die subjektive Theorie vorzugswürdig, weil sie sich auf den kollektiven Willen der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten stützt und somit diejenigen zur Bestimmung ruft, die als Abgeordnete unmittelbar demokratisch legitimiert sind. Im Gegensatz dazu kann der Zivilrichter vom Volk weder gewählt noch abgewählt werden und ist nur mittelbar demokratisch legitimiert, weshalb sein Wille nicht ebenso schwer oder sogar schwerer wiegen darf als der der parlamentarischen Mehrheit. Auch wenn der Judikative bei der Auslegung und Fortbildung des Rechts ein Spielraum eingeräumt sein muss, um Einzelfallgerechtigkeit sicherzustellen, darf er nicht so weit gehen, dass die Maßstabssetzungskompetenz der Legislative ausgehöhlt wird.48 Gewährleistet ist das nur, wenn der Richter die Gesetzesformulierungen fortschreibt, um eine gesetzgeberische Zielsetzung zu verwirklichen und nicht, um eigene rechtspolitische Vorstellungen durchzusetzen. Ferner sind die Bezeichnungen „objektiv“ und „subjektiv“ irreführend. Genau genommen ist das vermeintlich Objektive sogar subjektiver als das vermeintlich Subjektive,49 weil sich die „objektive Theorie“ auf den unveröf42  Rüthers/Fischer/Birk,

Rechtstheorie, 2020, Rn. 718. JuS 2016, 1, 5. 44  Hierzu zutreffend: Fischer, ZfA 2002, 215, 231. 45  Jüngst: Hirsch, ZRP 2012, 205, 208; ähnlich zuvor schon: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 317: „Die Wahrheit der objektiven Theorie ist, daß ein Gesetz, sobald es angewandt wird, eine ihm eigene Wirksamkeit entfaltet, die über das hinausgeht, was der Gesetzgeber beabsichtigt hatte.“ 46  Vgl.  Fischer, ZfA 2002, 215, 231 f.; ebenso: Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 797. 47  Zum Begriff der Gesetzesverfasser: Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers, 2017, S. 25. 48  Vgl. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers, 2017, S. 213. 49  Wesel, Juristische Weltkunde, 2000, S. 182; zustimmend: Fischer, ZfA 2002, 215, 232. 43  Würdinger,

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

fentlichten Willen des Rechtsanwenders stützt und nicht anhand der veröffentlichten Gesetzesmaterialien nachvollzogen werden kann. Daher muss überraschen, dass etwas als „objektiv“ bezeichnet wird, obwohl sich hinter diesem Etikett der subjektive Wille eines oder weniger Rechtsanwender verbirgt.50 Weil sich die Trennung in objektiv und subjektiv durchgesetzt hat, soll sie aber auch hier verwendet werden. Präzisiert werden muss jedoch, dass das Attribut „subjektiv“ in dieser Arbeit gebraucht wird, um einen Bezug zum Willen des Gesetzgebers auszudrücken. Gemeint ist damit oftmals der Wille der entstehungszeitlichen Legislative; dieser ist aber nicht unumstößlich, da es möglich ist, dass sich die gesetzgebende Gewalt im Zuge einer Novellierung erneut äußert oder ein aktualisierter Wille anderweitig erkennbar wird. „Subjektiv“ meint also nicht, dass der Wille des historischen Gesetzgebers sklavisch befolgt werden muss. Weil unsere parlamentarische Demokratie immer nur eine Herrschaft auf Zeit bedeutet, ist es vielmehr geboten, auch spätere Stellungnahmen des Gesetzgebers einzubeziehen. Akzeptiert man dies, kann auch der von der objektiven Theorie erhobenen Forderung Rechnung getragen werden, dass die Rechtsordnung neue Entwicklungen nicht aus den Augen verlieren dürfe. Hierfür muss indes nicht der objektiven Theorie gefolgt werden. Vielmehr muss eine explizite legislative Stellungnahme den Ausgangspunkt bilden und ausgehend von ihr geprüft werden, inwieweit dem jeweiligen „Zeitgeist“ Rechnung getragen werden kann. Begrüßenswert sind insoweit die Bemühungen von Rüthers und Höpfner, die betonen, dass die „Erforschung des historischen Normzwecks […] die unverzichtbare erste Stufe der Gesetzesanwendung dar[stellt,] […] der Normanwender dabei [aber] nicht stehen bleiben [darf, sondern stets] […] zu prüfen [hat], ob der herausgearbeitete historische Normzweck im Anwendungszeitpunkt noch Geltung besitzt.“51 Maßgeblich ist hierbei aber stets, 50  Wesel,

Juristische Weltkunde, 2000, S. 182; Fischer, ZfA 2002, 215, 232. JZ 2005, 21, 25, die diese wichtige Unterscheidung ihrem „Drei-Stufen-Modell“ der Rechtsanwendung zugrunde legen; im Ergebnis ebenso: Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 730b ff., wobei das Autorenteam diese Differenzierung im Ausgangspunkt teilt, im Detail jedoch dem „Drei-Stufen-Modell“ von Rüthers und Höpfner das „Zwei-Stufen-Modell“ von Fischer gegenüberstellt, wobei Fischer, ZfA 2002, 215, 233 sogar „vier Bereiche“ unterscheidet. Auch wenn das Vorgehen, den historischen Normzweck stets auf seine Gültigkeit zu überprüfen, vollumfänglich überzeugt, können die hieraus entwickelten Rechtsanwendungsmodelle nicht übernommen werden. Übereinstimmend gehen sie nämlich davon aus, dass das Gesetz auf erster Stufe so lange ausgelegt werde, solange der historische Normzweck Gültigkeit beanspruche. Erst wenn auf zweiter Stufe festzustellen ist, dass dies nicht mehr der Fall sei, könne eine Rechtsfortbildung in Betracht kommen; so statt aller: Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 730c f. Ein solches Rechtsanwendungsmodell beruht jedoch auf zwei Grundüberzeugung, denen in der Sache nicht gefolgt werden kann. Zum einen ist die Annahme leitend, dass „richter­ liche Rechtssetzung“ gestattet sein könne, die Platz greife, wenn der historische 51  Rüthers/Höpfner,



A. Die Grenzen der Rechtsfortbildung in Rechtsprechung und Literatur 139

was die gesetzgebende Gewalt mit der jeweiligen Norm bezwecken wollte und nicht, was sie nach Vorstellung der rechtsprechenden Gewalt bezwecken sollte. Solange die Judikative die legislative Zwecksetzung als Richtschnur nimmt, um neue Fälle zu entscheiden, ist ihr ein großer Spielraum eingeräumt. Weicht sie hiervon ab und entwirft sie stattdessen eine eigene Zwecksetzung, betreibt sie jedoch Rechtspolitik, die als originäre Aufgabe dem Gesetzgeber vorbehalten ist. Daher ist die Grenze zulässiger Fortbildung methodisch dort überschritten, wo ein Legislativwille nicht mehr verwirklicht wird. Regelmäßig findet in der Literatur eine hierüber hinausgehende Diskussion nicht statt. Mit der Entscheidung für die subjektive Theorie ist aber nur der erste Schritt getan. In weiteren Schritten ist zu fragen, ob eine legislative Zwecksetzung nach wie vor Gültigkeit beansprucht und was gilt, wenn der Gesetzgeber mehrere Zwecke im Blick hatte. Muss die ratio legis als Richtschnur gelten, kann dies aber nur gelingen, wenn klar ist, welcher Normzweck sich durchsetzt, falls eine Vorschrift nach der Vorstellung des Gesetzgebers mehrerlei bezweckt hatte52 oder wenn Ziele verschiedener Bestimmungen konfligieren. Steht fest, welcher Zweck auf der Ebene des gleichrangigen Rechts richtungsweisend ist, muss im Anschluss geprüft werden, ob nicht ein höherrangiger Zweck eine andere Beurteilung gebietet. Offene Fragen finden sich aber nicht nur in der Methodik, sondern ebenso im Verfassungsrecht. Auch hier sind zu viele Fragestellungen ungeklärt, um die Grenzen der Rechtsfortbildung problemlos ablesen zu können. Bemerkenswert ist, dass bei der Analyse verfassungsrechtlicher Grenzen im Schrifttum vor allem die Staatsstrukturprinzipien in den Blick genommen werden.53 Normzweck nicht mehr gültig sei; explizit zum Rechtssetzungscharakter in diesem Fall: Rüthers/Höpfner, JZ 2005, 21, 25; wie bereits dargelegt wurde, ist eine Kompetenz zur richterlichen Rechtssetzung mit der Gesetzes- und Rechtsbindung der Judikative indes unvereinbar; ausführlich hierzu unter: Erster Teil  A. I. 1. b). Zum anderen stützen sich die Stufenmodelle auf die Annahme, dass eine Auslegung auch über den Wortlaut hinaus möglich sei, um den historischen Normzweck zu verwirklichen; dazu: Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 145; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 743, wonach der historische Normzweck „nicht im Wortlaut erkennbar sein“ müsse. Wie im weiteren Verlauf der Arbeit noch zu zeigen sein wird, sind Auslegung und Rechtsfortbildung aber über das Kriterium des Normtexts und nicht danach zu unterscheiden, ob ein historischer Normzweck weiterhin Gültigkeit beansprucht; näher dazu unter: Zweiter Teil  A. II. 2. 52  Zum Beispiel der notariellen Beurkundung, die eine Dokumentations-, Warnund Beratungsfunktion erfüllt: Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 6 Rn. 166. 53  Zu dieser Einschätzung: Wank, Auslegung und Rechtsfortbildung im Arbeitsrecht, 2013, S. 134; Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, S. 231 ff. erkennt die Schranken des Richterrechts im „Gewaltenteilungsprinzip“ einschließlich seiner sämtlichen Ausprägungen, in der „demokratischen Legitimation“, der „richterlichen

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

Obwohl sie ohne Zweifel von wesentlicher Bedeutung sind, wird demgegenüber bislang kaum behandelt, inwiefern die Grundrechte der Fortbildung des Rechts Grenzen ziehen können.54 Dass sie dazu in der Lage sind, hat der Zweite Senat des BVerfG in seinem Beschluss zur Rügeverkümmerung55 mit knapper Mehrheitsentscheidung angezweifelt, indem er annahm, die Grenzen der Rechtsfortbildung könnten „nicht prinzipiell enger oder weiter gesteckt sein je nachdem, ob […] [sie] sich zugunsten oder zu Lasten betroffener Einzelner“ auswirken.56 Dies könnte man so verstehen, dass die Grenzlinien von einem Einfluss der Grundrechte unberührt blieben. Dem haben die Richter Voßkuhle, Osterloh und Di Fabio die Gefolgschaft verweigert und in einem Unabhängigkeit“ und im „Prinzip der Rechtssicherheit“ (S. 231), wobei er die Grenzen für gesetzeskonkretisierendes, gesetzesvertretendes, gesetzeskorrigierendes und gesetzeskonkurrierendes Richterrecht unterschiedlich zieht; Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 253 ff., der die verfassungsrechtlichen Grenzen dem „Gewaltenteilungs- und dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 2 GG) sowie dem Rechtsstaatsprinzip“ entnimmt (S. 253); Ossenbühl, Richterrecht im demokratischen Rechtsstaat, 1988, S. 21, der ein „Problem der institutionellen Gewaltenteilung“ erkennt; Frowein, in: Die Hochschullehrer der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg (Hrsg.), Festschrift 600-Jahr-Feier der Universität Heidelberg, 1986, S. 559, für den die „Auseinandersetzung um richterliche Rechtsfortbildung wesentlich mit der Vorstellung von der Rolle der Gerichte im gewaltenteilenden Verfassungsstaat zu tun hat“; ebenso: Stein, NJW 1964, 1745, 1748, der den Blick allerdings nicht auf die „verfassungsrechtliche[n] Grundsätze und politische Grundentscheidungen der Verfassung“ beschränkt; so aber: Wank, JuS 1980, 545, 552. 54  Dazu: Stein, NJW 1964, 1745, 1748 sowie Hufen, ZRP 2003, 248, 249, welche die Frage aber nur streifen; erste Vorarbeiten bei: Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 23 ff.; allgemein zur Grundrechtsdogmatik im Vertragsrecht: Floren, Grundrechtsdogmatik im Vertragsrecht, 1999, passim; in Bezug auf die Analogie wird teilweise auf den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG verwiesen: Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S. 71 ff.; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 184, der im Übrigen aber feststellt, dass bei „einfachen Verstößen gegen Grundrechte […] die Möglichkeit des contra-legem-Judizierens von vornherein aus[scheidet]“ (S. 179). 55  BVerfG, Beschl. v. 15.01.2009 – 2 BvR 2044/07 – Rügeverkümmerung, BVerfGE 122, 248. 56  BVerfG, Beschl. v. 15.  01.  2009 – 2 BvR 2044/07 – Rügeverkümmerung, BVerfGE 122, 248, 268: „Die Grenzen, die sich aus Art. 20 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG für die richterliche Auslegung des einfachen Rechts ergeben, können daher nicht prinzipiell enger oder weiter gesteckt sein je nachdem, ob die jeweilige Auslegung sich zugunsten oder zu Lasten betroffener Einzelner auswirkt“ [Hervorhebung v. Verf.]; obwohl die Mehrheit der Richter missverständlich von Auslegung spricht, ging es in der Sache um eine Rechtsfortbildung, weil die streitgegenständliche „Zulässigkeit nachträglicher Protokollberichtigungen und deren Beachtlichkeit für das Revi­ sionsgericht […] im Strafprozessrecht nicht ausdrücklich geregelt“ sind (so ausdrücklich: BVerfG, Beschl. v. 15.  01.  2009 – 2 BvR 2044/07 – Rügeverkümmerung, BVerfGE 122, 248). Die Aussage der Senatsmehrheit ist deshalb richtigerweise auf die Grenzen der Rechtsfortbildung zu beziehen.



A. Die Grenzen der Rechtsfortbildung in Rechtsprechung und Literatur 141

Sondervotum entgegengehalten, dass auch die „richterliche Rechtsfortbildung […] jenseits der Kompetenzfrage denselben inhaltlichen Verfassungsvorgaben [unterliegt], an die auch der demokratisch legitimierte Gesetzgeber gebunden ist.“57 Wird den Rechten des Einzelnen zum Durchbruch verholfen, sind „die Grenzen für richterliche Rechtsfortbildung weiter, da insoweit eine auch den Gesetzgeber treffende Vorgabe der höherrangigen Verfassung konkretisiert wird.“58 Wird dagegen eine Rechtsposition des Einzelnen verkürzt, müssten „die Grenzen für richterliche Rechtsfortbildung deutlich enger gesteckt […] und die Verantwortung des Bundesverfassungsgerichts für die Wahrung der Gesetzesbindung entsprechend gesteigert“ werden.59 Dem hat sich nunmehr auch der Erste Senat des BVerfG angeschlossen und ebenfalls angenommen, dass die Grenze weiter sei, wenn die Rechtsfortbildung die Rechte des Einzelnen fördere und enger, wenn sich durch sie die Situation des Einzelnen verschlechtere.60 Auch wenn die grundsätzliche Linie des Verfassungsgerichts angesichts der Grundrechtsbindung der Judikative zu begrüßen ist, verbleibt indes auch nach dieser Entscheidung als Forschungsbedarf, welcher Wirkungsmechanismus dieser vermeintlich „elastischen“ Grenze zugrunde liegt und wie bestimmt wird, wie weit sie in einem Rechtsstreit reicht.61 Eine Folge der Trennung von methodischer und verfassungsrechtlicher Diskussion ist, dass die Grenze von zulässiger und unzulässiger Rechtsfortbildung bislang kaum62 als Ganzes63 behandelt wurde. Im Mittelpunkt der 57  Voßkuhle/Osterloh/Di Fabio, BVerfRi des Zweiten Senats, abweichende Meinung zu BVerfG, Beschl. v. 15. 01. 2009 – 2 BvR 2044/07 – Rügeverkümmerung, BVerfGE 122, 248, 286. 58  Voßkuhle/Osterloh/Di Fabio, BVerfRi des Zweiten Senats, abweichende Meinung zu BVerfG, Beschl. v. 15. 01. 2009 – 2 BvR 2044/07 – Rügeverkümmerung, BVerfGE 122, 248, 286. 59  Voßkuhle/Osterloh/Di Fabio, BVerfRi des Zweiten Senats, abweichende Meinung zu BVerfG, Beschl. v. 15. 01. 2009 – 2 BvR 2044/07 – Rügeverkümmerung, BVerfGE 122, 248, 286 unter Verweis auf: BVerfG, Beschl. v. 19. 10. 1983 – 2 BvR 485, 486/80 – Sozialplan, BVerfGE 65, 182, 194 f. 60  BVerfG, Beschl. v. 24. 02. 2015 – 1 BvR 472/14 – Mutmaßlicher Vater, BVerfGE 138, 377, 392. 61  Zur Auseinandersetzung mit der BVerfG-Entscheidung und den damit einhergehenden Fragestellungen unter: Zweiter Teil  B. V. 2. c) aa) (1) (b) (cc). 62  Lobenswert ist deshalb der Ansatz von Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 13 Rn. 1 ff., der einen strukturierten Zugang zu den Grenzen zulässiger Fortbildung zum Ziel hat. Wie Möllers in Rn. 25 darlegt, soll sein Fünf-Stufen-System indes keine „zwingenden Prüfungsreihenfolge“ vorgeben. Demgegenüber zielt der Lösungsvorschlag dieser Arbeit auf ein verbindliches Prüfungsprogramm, das während des Fortbildungsprozesses stets vollständig zu durchlaufen ist. 63  So nur vereinzelt und sehr abstrakt: Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 184 f.; im Bereich der Auslegung um Systemkonformität bemüht: Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 141 ff.

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Betrachtung stehen meist Einzelaspekte wie die Grenzen der verfassungsoder der unionskonformen Fortbildung, ohne dass diskutiert wird, in welchem Verhältnis die einzelnen grenzrelevanten Wertungen zueinanderstehen. Darüber hinaus sind die Aussagen zu den Rechtsfortbildungsgrenzen oftmals sehr vage, was eine Anwendung in der Praxis erschwert.64

II. Die Grenze von Auslegung und zulässiger Fortbildung des Rechts Bevor die Schwachstellen der bisherigen Lösungsansätze behandelt werden können, muss zuvor noch eine weitere Grenzlinie angesprochen werden: die Trennung von Rechtsfortbildung und Auslegung.65 Dass beide Rechtsanwendungsformen unterschieden werden müssen, kann wie bereits angedeutet66 mit Art. 103 Abs. 2 GG begründet werden, der nach unstreitiger Ansicht eine Rechtsfortbildung zulasten des Täters, nicht aber auch die Auslegung von Strafgesetzen verbietet. Obwohl die nulla poena sine lege-Maxime im Privatrecht keinen Anwendungsbereich besitzt, beweist Art. 103 Abs. 2 GG, 64  Exemplarisch: Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 184, der folgende Definition erarbeitet: „Eine contra-legem-Entscheidung liegt vor, wenn die Regelungsabsicht des historischen Gesetzgebers mißachtet wird, sofern diese mit dem möglichen Wortsinn der Gesetzesnorm noch vereinbar ist oder im Wege der Analogie oder Restriktion durchgesetzt werden könnte.“ Bei einer solchen Formel bleibt aber beispielsweise offen, wie zu verfahren ist, wenn die Wertung des historischen Gesetzgebers deshalb missachtet wird, weil eine gleichrangige oder höherrangige Wertung dies gerechtfertigt erscheinen lässt. 65  An der Existenz der Grenze von Auslegung und Fortbildung zweifelnd: Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956, S. 255, für den ein „prinzipieller Unterschied zwischen extensiver Interpretation und Lückenfüllung“ nicht besteht; Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1957, S. 6 („Grenze zwischen richterlicher Gesetzesinterpretation und Rechtsfortbildung ist so flüssig geworden“); Schneider, Richterrecht, Gesetzesrecht und Verfassungsrecht, 1969, S. 26, der mit Wieacker in jeder Rechtsentscheidung „ein Stück punktueller Rechtsfortbildung“ sieht; Heusinger, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Spiegel richterlicher Erfahrung, 1975, S. 58, für den sich „zwischen sog. bloßer Gesetzesanwendung und (rechtsfortbildender) Auslegung keine feste Grenze ziehen läßt“; Deckert, Folgenorientierung in der Rechtsanwendung, 1995, S. 42 f.; Bumke, in: Bumke (Hrsg.), Richterrecht zwischen Gesetzesrecht und Rechtsgestaltung, 2012, S. 40, obgleich mit der Einschränkung, dass „der Wortsinn außerhalb des Analogieverbots aus Art. 103 Abs. 2 GG keine feste Grenze“ ziehe; Jestaedt, in: Bumke (Hrsg.), Richterrecht zwischen Gesetzesrecht und Rechtsgestaltung, 2012, S. 60, der die Grenze als „fadenscheinig“ bezeichnet; Pieroth/Aubel, JZ 2003, 504, 505; Herzberg, JuS 2005, 1, 2; Pötters/ Christensen, JZ 2011, 387, 389 ff.; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band I, 2013, Rn. 97, für die „Rechtsauslegung und Rechtsfortbildung nicht zuverlässig zu trennen“ sind. 66  Angeklungen ist dies bereits unter: Erster Teil  A. I. 1. a) cc).



A. Die Grenzen der Rechtsfortbildung in Rechtsprechung und Literatur 143

dass die Rechtsanwendung als solche verschiedene Bereiche kennt, indem er eine Form zulässt und andere untersagt. Die Bestimmung lässt erkennen, dass schon immer und auch auf der Ebene des Verfassungsrechts zwischen Auslegung und Fortbildung des Rechts unterschieden wird.67 Dass die Trennung nicht nur rechtshistorisch überliefert, sondern sachlich geboten ist, belegt die ratio des Art. 103 Abs. 2 GG, die Rechtssicherheit und Vertrauensschutz in besonderem Maße verbürgt.68 In Anbetracht der hohen Grundrechtsintensität strafrechtlicher Eingriffe, bietet Art. 103 Abs. 2 GG „eine spezielle rechtsstaatliche Garantie des Vertrauens in die Verlässlichkeit der Rechtsordnung, die eine klare Orientierung zu geben hat, was strafbar und was straflos ist.“69 Damit jenseits des für die Bürger zu Erwartenden keine Strafbarkeit droht, unterbindet Art. 103 Abs. 2 GG strafbegründende oder -schärfende Fortbildungen der Strafgesetze. Rechtssicherheit und Vertrauensschutz sind in Art. 103 Abs. 2 GG besonders geschützt, als Bestandteile des Rechtsstaatsgebots aber auch allgemein in Art. 20 Abs. 1 GG garantiert,70 weil für Normadressaten in jedem Rechtsgebiet erkennbar sein muss, welches Verhalten von ihnen erwartet wird.71 Dass neben der Auslegung auch die Rechtsfortbildung im Privatrecht grundsätzlich zulässig ist, darf indes nicht zu der Annahme verleiten, die Grenze zwischen beiden Instituten habe einen geringen Stellenwert.72 Auch wenn beide Formen der Rechtsanwendung erlaubt sein können, bedeutet dies nämlich nicht, dass sie es stets auch sind. Insoweit darf nicht vernachlässigt werden, dass die Auslegung einen demokratisch legitimierten Normtext wortgetreu anwendet, wohingegen die Rechtsfortbildung den Normtext ver67  Vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.  10. 1983 – 2 BvR 485, 486/80 – Sozialplan, BVerfGE 65, 182, 190: „Rechtsfortbildung war in der deutschen Rechtsgeschichte nicht nur seit jeher eine anerkannte Funktion der Rechtsprechung […]; sie ist im modernen Staat geradezu unentbehrlich.“; dazu auch: Hillgruber, JZ 1996, 118, 118 f. 68  Rüthers/Höpfner, JZ 2005, 21, 22; zur Rechtssicherheit als Element der Rechtsstaatlichkeit: BVerfG, Beschl. v. 24. 07. 1957 – 1 BvL 23/52 – Hamburgisches Hundesteuergesetz, BVerfGE 7, 89, 92; BVerfG, Urt. v. 19. 12. 1961 – 2 BvL 6/59 – Rückwirkende Steuern, BVerfGE 13, 261, 271; implizit ebenso zu Art. 103 Abs. 2 GG als besondere Ausprägung des Vertrauensschutzes: Kimmich, JZ 1962, 518. 69  BVerfG, Urt. v. 18.  07. 2005 – 2 BvR 2236/04 – Europäischer Haftbefehl, BVerfGE 113, 273, 308; dazu auch: Degenhart, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 103 GG, Rn. 54. 70  BVerfG, Beschl. v. 24. 07. 1957 – 1 BvL 23/52 – Hamburgisches Hundesteuergesetz, BVerfGE 7, 89, 92; BVerfG, Urt. v. 19. 12. 1961 – 2 BvL 6/59 – Rückwirkende Steuern, BVerfGE 13, 261, 271. 71  Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn. 129. 72  Insoweit ist vielmehr Rüthers, in: Hähnchen (Hrsg.), Methodenlehre zwischen Wissenschaft und Handwerk, 2019, S. 83 zuzustimmen, dass die „richterliche Rechtsfortbildung […] von der Gesetzesauslegung […] streng zu unterscheiden und als solche offenzulegen“ ist.

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

ändert. Während der Richter bei der Auslegung einen lückenlosen Entscheidungsmaßstab im Gesetzeswortlaut vorfindet, muss er bei der Rechtsfortbildung begründen, warum dieser lückenhaft ist und einer Anpassung bedarf. Obwohl das Privatrecht kein generelles Rechtsfortbildungsverbot kennt, ist es infolgedessen auch hier geboten, zwischen Auslegung und Fortbildung des Rechts zu differenzieren.73 1. Forschungsstand Welches Kriterium die Grenzziehung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung ermöglicht, wurde bereits in zahlreichen Arbeiten diskutiert, ohne dass sich bislang ein Ansatz vollständig durchsetzen konnte. Vertreten74 werden eine Wortsinn- und eine Normsinngrenze.75 Dennoch ist in der Rechtsprechung und Literatur zu Recht herrschend, dass der Wortlaut Ausle73  Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 2004, S. 24; Krey, JZ 1978, 361; ferner zur Grenze der Auslegung: BGH, Urt. v. 30. 06. 1966 – KZR 5/65, BGHZ 46, 74, 76. 74  Von den Vertretern der „Strukturierenden Rechtslehre“ wird zusätzlich das „Normprogramm“ als Grenzkriterium benannt. Diese Ansicht beschreibt damit allerdings nur die Grenze zur unzulässigen „Normkonkretisierung“, kennt aber keine Trennung von Auslegung und Rechtsfortbildung. Diese Einschätzung teilend: Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 2004, S. 94; siehe zu diesem Verständnis: Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band I, 2013, Rn. 97, für die „Rechtsauslegung und Rechtsfortbildung nicht zuverlässig zu trennen“ sind“; sodann Rn. 480 a. E., wonach die „Grenze für Rechtsbildung durch Normkonkretisierung […] durch das Normprogramm gezogen wird“ und Rn. 13, die klarstellt, dass die Normkonkretisierung „mehr ist als Textauslegung“; dies führt dazu, dass für die Bestimmung der Grenze von Auslegung und Rechtsfortbildung nur der Wortlaut und der Normzweck als Grenzkriterien relevant werden; ebenso: Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 2004, S. 93, der die Normprogrammgrenze zwar als Unterfall der Wortlautgrenze behandelt, auf S. 94 aber ausdrücklich klarstellt, dass es den Vertreter der „Strukturierenden Rechtslehre“ in diesem Fall „nicht um eine Abgrenzung von Interpretation und Rechtsfortbildung, sondern um die Abgrenzung zwischen zulässiger und nicht zulässiger Normkonkretisierung“ geht. 75  Näher zum Streitstand: Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band IV, 1977, S. 288  ff.; feinsinnig differenzierend: Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 180, der acht Ansätze benennt, die aber letztlich alle als Unterfälle der Wortsinn- und Normsinngrenze verstanden werden können; teilweise wird das Abgrenzungskriterium des historischen Normzwecks als Unterfall der Wortlautgrenze verstanden: so Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 2004, S. 49, der zwar erkennt, dass sich die in der subjektiven Auslegungstheorie entwickelten „Vor- und Frühformen sachlich deutlich von dem heutigen Verständnis der Wortlautgrenze unterscheiden, […] dies aber „nichts an der Tatsache [ändere], daß in ihnen bereits das argumentative Gerüst der Wortlautgrenze vorliegt“. Da Klatt aber auf S. 98 eingesteht, dass für die subjektive Auslegungstheorie „als begrenzende Bedeutung des Gesetzes die Intention des historischen Gesetzgebers zu ermitteln“ ist, bestätigt dies implizit, dass die hier zugrunde gelegte Einordnung vorzugswürdig ist.



A. Die Grenzen der Rechtsfortbildung in Rechtsprechung und Literatur 145

gung und Fortbildung trennt.76 Nur bis zu seiner Grenze77 kann eine Bestimmung ausgelegt, darüber hinaus nur fortgebildet werden.78 Dem wird von Teilen der Literatur entgegengehalten, der Wortlaut sei nur eines von mehreren Auslegungskriterien79 und könne in der Folge nicht allein die äußerste Grenzlinie bilden. Angeführt wird zudem die Funktion der Auslegung, die darin bestehe, den Normzweck losgelöst vom Wortlaut80 zu ermitteln.81 Anstelle des Normtexts müsse daher der subjektive Normzweck die Grenze bil76  In st. Rspr. z. B. BVerfG, Beschl. v. 23. 10. 1985 – 1 BvR 1053/82 – Anti-Atomkraftplakette, BVerfGE 71, 108, 115; BVerfG, Beschl. v. 10. 01. 1995 – 1 BvR 718, 719, 722, 723/89 – Sitzblockaden II, BVerfGE 92, 1, 12; BVerfG, Beschl. v. 14. 06. 2007 – 2 BvR 1447, 136/05 – Revisionsgrenzen bei Rechtsfolgenzumessung, BVerfGE 118, 212, 244; Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, 1951, S. 42 f.; Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm in der verfassungskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung, 1969, S. 214; Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S. 23; Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, S. 236; Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band IV, 1977, S. 294; Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung, 1995, S. 137; Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 66; Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 2004, S. 19; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 102; Schmidt, Richterliche Rechtsfortbildung in Deutschland und der Schweiz, 2017, S. 55; Gern, NVwZ 1995, 1145, 1146; Meier/Jocham, JuS 2016, 393; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 366; Larenz/ Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 163 f. und 245; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 637; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2011, S. 468; Schwacke, Juristische Methodik, 2011, S. 93. 77  Auch unter den Befürwortern der Wortlautgrenze ist umstritten, welches Wortlautverständnis entscheidend ist; vertiefend: Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm in der verfassungskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung, 1969, S.  211 ff.; Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 2004, S. 40 ff.; Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 297 ff.; Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 2015, S.  43 f. 78  Ablehnend aber: Heusinger, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Spiegel richterlicher Erfahrung, 1975, S. 58; Deckert, Folgenorientierung in der Rechtsanwendung, 1995, S. 42 f.; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 145; Bumke, in: Bumke (Hrsg.), Richterrecht zwischen Gesetzesrecht und Rechtsgestaltung, 2012, S. 40, obgleich mit der Einschränkung, dass „der Wortsinn außerhalb des Analogieverbots aus Art. 103 Abs. 2 GG keine feste Grenze“ ziehe; Jestaedt, in: Bumke (Hrsg.), Richterrecht zwischen Gesetzesrecht und Rechtsgestaltung, 2012, S.  59 f.; Pieroth/Aubel, JZ 2003, 504, 505; Herzberg, JuS 2005, 1, 2; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band I, 2013, Rn. 97. 79  Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 734; weiter geht Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 145, der es sogar als „methodisch und verfassungsrechtlich unzulässig [erachtet], die Auslegung auf den Bereich des möglichen Wortsinns zu beschränken.“ 80  Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 145, wonach „sämtliche […] Hilfsmittel heranzuziehen [sind], […] und nicht nur diejenigen, die zu einem vom Wortlaut gedeckten Ergebnis führen.“ 81  Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 2015, S. 29.

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

den.82 Erst wenn dieser in der Gegenwart keine Geltung mehr beanspruche,83 ergebe sich eine Lücke im Gesetz, die rechtsfortbildend zu schließen sei.84 2. Bewertung Im Ergebnis kann es allein auf den Wortlaut ankommen, um die Grenzlinie zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung zu ziehen. Es ist zwar richtig, dem subjektiven Normzweck eine zentrale Bedeutung beizumessen, da er den Vorrang der Legislative und die Bindung der Judikative an die demokratischen Vorgaben absichert. Zur Bestimmung der Grenze der Auslegung ist er jedoch ungeeignet. Wird ein Gesetzestext im Bundesgesetzblatt verkündet, entsteht schutzwürdiges Vertrauen in die gesetzgeberische Wortwahl,85 das enttäuscht wird, wenn die Richter die Gesetzesformulierung vorgeblich auslegen, tatsächlich aber den sprachlichen Inhalt verlassen würden. Rechtssicherheit und Vertrauensschutz fordern, dass eine Regelung so klar und bestimmt sein muss, dass sich der Adressat auf ihren Inhalt verlassen kann.86 Das kann aus Sicht der Bürger nur über den Normtext gelingen.87 Er teilt dem Normadressaten mit, welche Gebote und Verbote dieser zu beachten hat, wodurch er sein Verhalten entsprechend anpassen 82  Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, 1988, S. 60, der für die Verfassungs­ interpretation den Wortlaut als Grenze ablehnt und stattdessen das „Sinnverständnis des historischen Verfassungsgebers“ bevorzugt; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 148 f., wonach sich „die Auslegung […] auf die Ermittlung der historischen ratio legis beschränkt“; Fischer, ZfA 2002, 215, 231; der von „gesetzgeberischen Interessenbewertung“ spricht; Rüthers/Höpfner, JZ 2005, 21, 22; nicht eindeutig ist, ob auch Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 2015, S. 44 sein Grenzkriterium des „Gesetzessinns“ in subjektivierter oder objektivierter Weise versteht. Für ihn ist keine Auslegung, sondern Rechtsfortbildung gegeben, wenn „der Interpret von Sinn und Zweck des Gesetzes“ abweicht und neue Zwecke verfolgt. Da es dem Wesen der objektiven Theorie entspricht, in Abweichung vom historischen Normzweck einen neuen objektivierten Zweck zu ermitteln, legt seine Formulierung aber eher eine subjektivierte Deutung nahe. Dafür spricht zuletzt, dass Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 2015, S. 77 im Zusammenhang mit dem Ziel der Auslegung klarstellt, dass er „die geltungszeitlich-subjektive Theorie“ zugrunde legt. Er verfolgt damit zwar ebenfalls einen subjektiven Ansatz, hält aber im Gegensatz zu den vorgenannten Autoren den geltungszeitlichen Normzweck für maßgeblich. 83  Zu den denkbaren Konstellationen: Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S.  148 f. 84  Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 730d. 85  Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 184; Schürnbrand, JZ 2007, 910, 911. 86  Gröpl, Staatsrecht I, 2020, Rn. 468. 87  A. A. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, 1988, S. 43, für den „allein die Norminhalte, nicht deren textliche Gestalt“ entscheidend sind.



A. Die Grenzen der Rechtsfortbildung in Rechtsprechung und Literatur 147

kann.88 Obwohl für das BVerfG im Anblick gesellschaftlicher Entwicklung eine hinreichende Bestimmtheit der Norm genügt89 und ihre Auslegungsbedürftigkeit nicht automatisch in die verfassungswidrige Unbestimmtheit mündet,90 geht eine Auslegung unabhängig vom Wortlaut bis zum gesetzgeberischen Normzweck aber selbst bei diesen gelockerten Anforderungen zu weit. Rechtsstaatlich bedenklich ist es, die nicht besonders begründungsbedürftige91 Auslegung als Regelfall der Rechtsanwendung so weit gehen zu lassen, dass sie Ergebnisse hervorbringt, die dem Wortlaut sogar bei großzügigster Deutung nicht mehr entnommen werden können.92 Äußert der Gesetzgeber in den Materialien, welche Zielsetzung er vor Augen hatte, bietet zwar auch das ein höheres Maß an Rechtssicherheit als eine Zwecksetzung, die ein Rechtsanwender mittels der objektiven Theorie nachträglich in eine Norm deutet. Hinzukommen muss aber stets eine eingehende Begründung des Gerichts, warum es der Zweck im zu entscheidenden Fall gebietet, den Gesetzestext rechtsfortbildend zu modifizieren. Seine volle Bedeutung entfaltet der subjektive Normzweck folglich erst bei einer Rechtsfortbildung, für die er die Zielvorgabe darstellt, an die der Normtext herangeführt wird. Rechtsunsicherheiten sind zwar auch hier nicht ausgeschlossen; doch kann ihnen dadurch vorgebeugt werden, dass jede Abweichung vom Normtext unter Bezug auf die gesetzgeberische Zielsetzung umfassend begründet werden muss.

88  Zu diesem Erfordernis in st. Rspr. z. B. BVerfG, Beschl. v. 07. 07. 1971 – 1 BvR 775/66 – Private Tonbandvervielfältigungen, BVerfGE 31, 255, 264; BVerfG, Beschl. v. 22. 06. 1977 – 1 BvR 799/76 – Oberstufenreform, BVerfGE 45, 400, 420; BVerfG, Beschl. v. 18. 05. 1988 – 2 BvR 579/84 – Schatzregal der Länder, BVerfGE 78, 205, 212; BVerfG, Urt. v. 17. 11. 1992 – 1 BvL 8/87 – Einkommensanrechnung, BVerfGE 87, 234, 263; BVerfG, Beschl. v. 03. 03. 2004 – 1 BvF 3/92 – Zollkriminalamt, BVerfGE 110, 33, 53; Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn. 129. 89  Zum Erfordernis der „hinreichenden Bestimmtheit“: BVerfG, Urt. v. 16.01.2003 – 2 BvR 716/01 – Anwesenheit im JGG-Verfahren, BVerfGE 107, 104, 120. 90  BVerfG, Beschl. v. 07. 07. 1971 – 1 BvR 775/66 – Private Tonbandvervielfältigungen, BVerfGE 31, 255, 264. 91  Selbstverständlich ist auch eine Auslegung mitunter umfangreich zu begründen. Ist das Auslegungsergebnis indes vom Normtext und darüber hinaus vom Normzweck gedeckt, kann die Begründung hierfür aber knapper ausfallen als im Falle der Rechtsfortbildung, bei der begründet werden muss, warum der Normtext für den zu entscheidenden Fall umgeschrieben werden muss. 92  So aber: Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 145; ebenso: Rü­ thers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 743, wonach der historische Normzweck „nicht im Wortlaut erkennbar sein“ müsse.

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

Auch wenn die Wortlautgrenze von Verfassungs wegen bestehen muss,93 wird von Teilen des Schrifttums bezweifelt,94 dass es sie sprachtheoretisch geben kann. Erwähnenswert sind hier in erster Linie die Vertreter der Strukturierenden Rechtslehre,95 die schon nicht zwischen Auslegung und Fortbildung unterscheiden96 und zudem mit sprachphilosophischen Argumenten bestreiten, dass der Wortlaut eine verlässliche Grenze bilden kann.97 Anknüpfend an Wittgensteins Spätphilosophie98 wird betont, dass ein Wort a priori mit keinem festen Bedeutungsinhalt verbunden sei und sich seine Bedeutung vielmehr erst aus seinem Gebrauch ergebe.99 Daran ist korrekt, dass Schriftzeichen für sich genommen nur abstrakte Symbole darstellen, die ihre Bedeutung nicht von selbst preisgeben. Um vom Zeichen zur Bedeutung zu gelangen, muss vielmehr erst ein Bezug hergestellt werden. Ebendies wird durch den Gebrauch des Wortes in einem bestimmten Kontext erreicht. Wird es verwendet, um einen bislang unbekannten Gegenstand zu beschreiben, entsteht eine neue Assoziation, die den Bedeutungsinhalt des Wortes erweitert. Ein Beispiel bietet die Maus, die vor der Erfindung des Computerein­ gabegeräts nur ein kleines Säugetier bezeichnete. Kann ein Wort um beliebige Kontexte erweitert werden, versage die Grenzfunktion des Wortlauts nach Auffassung Depenheuers deshalb in dem

93  Zur verfassungsrechtlichen Bedeutung der Wortlautgrenze: Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 2004, S. 22 f. 94  Eingehend zur Kritik an der Wortlautgrenze: Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 2004, S. 99 ff.; prägnant außerdem: Jestaedt, in: Erbguth/Masing (Hrsg.), Die Bedeutung der Rechtsprechung im System der Rechtsquellen, 2005, S. 60 f. 95  Begründet von Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1994, S. 13  ff.; ferner: Busse, Juristische Semantik, 2010, S. 7 ff. 96  Statt aller: Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band I, 2013, Rn. 97, für die „Rechtsauslegung und Rechtsfortbildung nicht zuverlässig zu trennen“ sind“; sodann Rn. 480 a. E., wonach die „Grenze für Rechtsbildung durch Normkonkretisierung […] durch das Normprogramm gezogen wird“ und Rn. 13, die klarstellt, dass die Normkonkretisierung „mehr ist als Textauslegung“. 97  Dass „der Wortlaut des Gesetzes besonders bedeutsam“ ist, erkennen zwar auch Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band I, 2013, Rn. 304, doch bedeute die „rechtsstaatlich herausgehobene Stellung legislatorischer Wortlaute […] nicht, sie seien schon Rechtsnormen“. 98  Siehe zu Wittgensteins Spätphilosophie: Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, 1995, S. 40 ff. 99  Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen 43: „Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes „Bedeutung“ – wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung – dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“ [Hervorhebung im Original]. Dass das Zitat von Wittgenstein meist verkürzt dargestellt und dadurch verabsolutiert wird, hat Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 97 (Fn. 57) bereits aufgedeckt.



A. Die Grenzen der Rechtsfortbildung in Rechtsprechung und Literatur 149

Moment, in welchem sie wirksam werden müsste.100 Noch weiter geht Je­ staedt, der aus diesem Grund sogar „das Vertrauen auf – wenigstens im Kern – feststehende Sprachbedeutungen“ als erschüttert ansieht.101 Dass dies zu weit geht, beweist schon der Umstand, dass die Kommunikation im Alltag faktisch unmöglich wäre,102 falls unter den Sprechern über den Bedeutungsinhalt keine zumindest grundsätzliche Übereinstimmung bestünde. Richtig ist, dass Begriffe vage oder mehrdeutig sein und Missverständnisse auftreten können. Übertrieben ist aber, deshalb zu behaupten, die „Vorstellung von einer stabilen […] Verbindung zwischen einer Kette sprachlicher Zeichen und einer bestimmten Bedeutung [sei] als Mär“ entlarvt.103 Vielmehr ist Klatt zuzustimmen, dass die Gesetzessprache bestenfalls in schwierigen Fällen unbestimmt, zumeist aber klar ist.104 Der Grund hierfür besteht darin, dass „innerhalb einer juristischen Interpretationsgemeinschaft“ ein weitreichender Konsens besteht, wie ein Wort verwendet wird und welche Bedeutung ihm nicht zugemessen werden kann.105 Wohl deshalb geht sogar Depenheuer davon aus, dass die „Bedeutungsfülle eines Wortes […] identisch mit der Anzahl der Kontexte [sei], in denen es (bisher) verwandt wurde.“106 Bemüht man ein Gedankenspiel und hält die Zeit in dem Augenblick an, in dem der Richter über Auslegung oder Fortbildung entscheidet, ist damit theoretisch stets exakt bestimmbar, welche Fälle dem Wortlaut zur Zeit der gerichtlichen Entscheidung unterfallen und welche aus ihm ausscheiden.107 Problemlos ist daher, dass § 961 BGB Anwendung findet, wenn ein 100  Vgl. Depenheuer,

Der Wortlaut als Grenze, 1988, S. 40. in: Bumke (Hrsg.), Richterrecht zwischen Gesetzesrecht und Rechtsgestaltung, 2012, S. 60. 102  Vgl. Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 2004, S. 112; ähnlich: Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 102, für den „es kaum noch nachvollziehbar [erscheint], wenn in der rechtstheoretischen Diskussion mit Blick auf das Analogieverbot und als Einwand gegen die natürliche Wortbedeutung ernsthaft darüber gestritten wird, ob in dem Satz ‚Mitführen von Hunden verboten‘ nicht auch Katzen und Tanzbären zu verstehen sind.“; als Grund dafür, dass „Verstehen offensichtlich möglich ist“ und dies sogar den „Regelfall“ bildet, nennen Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 137 f., dass „Ausbildung und Erfahrung den am Prozeß der Rechtsanwendung beteiligten Personen genügende Konventionen mitgeben, kommunikative Mißverständnisse in weitem Umfange auszuschließen.“ 103  So aber: Jestaedt, in: Bumke (Hrsg.), Richterrecht zwischen Gesetzesrecht und Rechtsgestaltung, 2012, S. 60. 104  Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 2004, S. 280. 105  Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 2004, S. 111. 106  Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, 1988, S. 40. 107  Dazu auch: Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 102; ähnlich: Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 309, der zu Recht andeutet, dass 101  Jestaedt,

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

Honigbienenschwarm auszieht, nicht aber, wenn eine Kuhherde die Flucht ergreift. Können mithilfe des Normtexts einzuschließende von auszuschließenden Fällen unterschieden werden, erfüllt der Wortlaut aber offenbar ebenjene Grenzfunktion, die ihm von Teilen der Literatur abgesprochen wird. Dass die Wortlautgrenze besteht und ihrer Aufgabe theoretisch gewachsen ist, bedeutet indes nicht, dass die Zuordnung von Zweifelsfällen praktisch keine Schwierigkeiten bereiten kann. Komplizierter ist insoweit beispielweise, ob § 961 BGB für ein Hummelvolk108 Anwendung findet. Dass die Grenzbestimmung schwer sein kann, steht der grundsätzlichen Eignung dieses Maßstabs aber nicht entgegen. Wie auch komplizierte Fälle zugeordnet werden können, wird an späterer Stelle zu zeigen sein.109 An dieser genügt es, festzuhalten, dass der Wortlaut das Grenzkriterium bildet, um Auslegung und Fortbildung zu trennen.

B. Eigener Lösungsansatz I. Die Grenzen der Rechtsfortbildung Ein Gesamtkonzept, das die Grenzen der Rechtsfortbildung nachvollziehbar macht, muss damit zum einen erklären können, wie mithilfe der Normtextgrenze entschieden werden kann, ob ein schwieriger Fall noch durch Auslegung oder erst durch Fortbildung des Rechts behandelt werden kann. Zum anderen muss es der Lösungsansatz möglich machen, die Grenze zur unzulässigen Fortbildung strukturiert herauszuarbeiten. Dazu genügt es nicht, nur einzelne Aspekte wie die Grenzen der verfassungs- oder unionskonformen Rechtsfortbildung zu betrachten oder gar Methodik und Verfassungsrecht nur isoliert zu bemühen; vielmehr muss ein Ansatz gewählt werden, der berücksichtigt, dass die Rechtsanwendungslehre durch die Verfassung beeinflusst wird. Weil die Gerichte gem. Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebunden sind, muss das Grenzkonzept zwar in der Methodik wurzeln, von dort aus aber den Einstieg in eine Analyse des geltenden Rechts erlauben,110 in der erarbeitet wird, welche Bestandteile der Rechtsordnung die Fortbiles auch der Wandel in der Sprache „keinesfalls aus[schließe], die zu einem bestimmten Zeitpunkt vorherrschende semantische Grundbedeutung zu bestimmen.“ 108  Unter Laien ist die Hummel eine Hummel und keine Biene, der Gattung nach gehört sie aber zu den Bienen; hierzu: Amiet/Krebs, Bienen Mitteleuropas, 2019, S.  154 ff. 109  Betont werden soll mit Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 2004, S. 280 aber schon an dieser Stelle, dass es „selbst in schwierigen Fällen […] möglich [ist], semantisch zu argumentieren.“ 110  Wie noch zu zeigen sein wird, geschieht dies mit der Normzweckanalyse. Ausführlich dazu unter: Zweiter Teil  B. V. 2.



B. Eigener Lösungsansatz151

dung des Privatrechts als „Gesetz und Recht“ im Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG beschränken. Um all dies in einem Gesamtkonzept zusammenzuführen, gilt unter Berücksichtigung der Grundannahmen Folgendes: Kann kein Akt der Judikative jenseits von „Gesetz und Recht“ ergehen und kennt die Bindung durch Art. 20 Abs. 3 GG keine Ausnahmen, ist eine Rechtsanwendung außerhalb von „Gesetz und Recht“ nicht nur terminologisch unmöglich, sondern stets unzulässig.111 Innerhalb dieser Grenzen haben die Gerichte „Gesetz und Recht“ primär durch Auslegung zur Anwendung zu bringen, wenn der Gesetzestext lückenlos ist. Erst wenn er sich als lückenhaft erweist, entsteht Raum für die Fortbildung des Rechts.112 Ist sie nur zulässig, um eine Lücke in der Rechtsordnung zu schließen, kann sie nicht weiter gehen, als diese Lücke reicht. Daraus folgt als Arbeitshypothese: „Die Grenzen der Rechtsfortbildung sind identisch mit den Grenzen der Lücke.“

II. Die Grenzen der Rechtsfortbildung als Grenzen der Lücke Damit ist der methodische Ausgangspunkt des Grenzkonzepts beschrieben, von dem aus es zu untersuchen gilt, ob der vorherrschende Lückenbegriff eine Analyse des geltenden Rechts gestattet. 1. Die „Lücke“ nach herrschender Ansicht a) Lückenbegriff Im Methodenschrifttum ist eine kaum überschaubare Anzahl an Lückenbegriffen anzutreffen.113 Erwähnt werden Kollisions-,114 Norm-, Regelungs111  Ebenso: Westermann, Wesen und Grenzen der richterlichen Streitentscheidung im Zivilrecht, 1955, S. 32, der die Lückenfüllkompetenz, also die Fortbildung des Rechts, versagt, „wo dem Richter die anwendbaren Wertungen fehlen“ [Hervorhebung im Original]. 112  Teilweise wird die zulässige Rechtsfortbildung in „intra und praeter legem“ unterteilt. Dies ist aber oftmals nur schwer durchführbar, weshalb an dieser Stelle auf die Differenzierung verzichtet wird; siehe hierzu bereits: Meier/Jocham, JuS 2016, 392, 394; solange das Recht im Sinne einer legislativen Wertentscheidung fortbildet wird, ist dies nach hier vertretener Ansicht keine Rechtssetzung, sondern (noch) Rechtsanwendung; demgegenüber für den Rechtssetzungscharakter: Jestaedt, in: Bumke (Hrsg.), Richterrecht zwischen Gesetzesrecht und Rechtsgestaltung, 2012, S. 64; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 883. 113  Für einen Überblick zu den verschiedenen Facetten der Lücke: Somló, Juristische Grundlehre, 1927 (Nachdruck 1973), S. 403 ff.; Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, 1951, S. 60 ff.; Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983,

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

und Rechts-115 oder Gebietslücken,116 Lücken, die offen oder verdeckt,117 echt oder unecht,118 formell oder materiell,119 bewusst oder unbewusst,120 immanent oder transzendent,121 logisch122 oder ethisch seien und solche, die eine rechtspolitische,123 kritische124 oder teleologische125 Natur hätten. Außerdem vertreten werden Deutlichkeits- und Delegationslücken,126 Prinzip-127 und Wert-, Anordnungs- und Rechtsverweigerungslücken,128 Ausnahme-, Gebots-, Wertungs-129 und Richtigkeitslücken,130 solche intra und praeter legem131 sowie Lücken, die primär, anfänglich oder sekundär, nachträglich132 auftreten.

S.  129 ff.; Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 2012, S. 190; Heck, AcP 112 (1914), 1, 168 f. 114  Zu Gesetzwidersprüchen als Kollisionslücken: Heck, AcP 112 (1914), 1, 169. 115  Zur Rechtslücke: Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 1999, Rn. 472 ff. 116  Vor allem herausgearbeitet von: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 372 ff.; Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S.  137 f.; Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 1999, Rn. 464 ff. 117  Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S. 136. 118  Zur Unterscheidung in echt und unecht: Schreier, Die Interpretation der Gesetze und Rechtsgeschäfte, 1927, S. 49; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2011, S. 473 f. 119  Zur formellen und materiellen Lücke: von Laun, AöR 30 (1913), 369, 381. 120  Zur Unterscheidung von bewusster und unbewusster Lücke: Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 6 Rn. 101. 121  Schreier, Die Interpretation der Gesetze und Rechtsgeschäfte, 1927, S. 49, je nachdem, ob sie „über das gegebene Recht hinausreichend“ sind. 122  Zur logischen Lücke: Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2011, S.  473 f. 123  Somló, Juristische Grundlehre, 1927 (Nachdruck 1973), S. 404. 124  Zur kritischen Lücke: Somló, Juristische Grundlehre, 1927 (Nachdruck 1973), S. 404. 125  Näher zur teleologischen Lücke: Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 867. 126  Schreier, Die Interpretation der Gesetze und Rechtsgeschäfte, 1927, S. 50. 127  Zur Prinziplücke als Unterfall der teleologischen Lücke: Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2011, S. 474. 128  Dazu: Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S. 139 ff. 129  Zu Gebots- und Wertungslücken: Heck, AcP 112 (1914), 1, 168 f. 130  Zur Richtigkeitslücke: Somló, Juristische Grundlehre, 1927 (Nachdruck 1973), S. 404. 131  Germann, Methodische Grundfragen, 1946, S. 105 f.; Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, 1951, S. 63; eingehend zur Rechtsfindung intra legem: Schweizer, Freie richterliche Rechtsfindung intra legem als Methodenproblem, 1959, S. 9 ff. 132  Hierzu: Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 6 Rn. 101.



B. Eigener Lösungsansatz153

Erstaunlich ist dabei nicht nur ihr Facettenreichtum, sondern auch, dass die „Lücke“ trotz ihrer scheinbaren Vielzahl an Erscheinungsformen nahezu unbestritten133 als „planwidrige Unvollständigkeit innerhalb des positiven Rechts (d. h. des Gesetzes im Rahmen seines möglichen Wortsinnes […]) gemessen am Maßstab der gesamten geltenden Rechtsordnung“134 oder kurz als „planwidrige Unvollständigkeit“135 charakterisiert wird. Mit Blick auf das Studienziel ist es in der Folge nicht nötig, alle Dimensionen der „Lücke“ auszudiskutieren.136 Ausreichend ist vielmehr, zu untersuchen, ob die herrschende Definition geeignet ist, die methodische Grundlage des Grenzkonzepts zu bilden. b) Kritik Der herrschenden Meinung ist darin zuzustimmen, dass aufgrund des Merkmals der Planwidrigkeit auf einen Plan als Maßstab rekurriert werden muss, anhand dessen zu entscheiden ist, ob das Gesetz eine Lücke enthält. Der Bezug auf einen externen Bewertungsmaßstab ist unverzichtbar, weil nicht jedes Fehlen einer Regelung die Annahme einer rechtsfortbildungslegitimierenden Regelungslücke rechtfertigt. Das Gesetz ist nicht schon lückenhaft, wenn ein Normtext eine bestimmte Konstellation nicht umschließt, sondern erst dann, wenn der Wortlaut dies nicht tut, obwohl sie nach der Regelungsabsicht des Gesetzgebers erfasst sein sollte. Wie bereits angeklungen ist, ist vielmehr Larenz beizupflichten, wenn er betont, dass „eine ‚Lücke‘ im Gesetz nicht etwa ein ‚Nichts‘ darstellt, sondern das Fehlen einer

133  Kritisch zum Lückenbegriff: Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 289; Fischer, ZfA 2002, 215, 228 bezeichnet ihn als „unscharf und facettenreich“; ebenfalls kritisch: Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 1999, Rn. 475, der zwar anerkennt, dass der Lückenbegriff „beim Umgang mit den staatlichen Gesetzen […] helfen kann, daß man sich jedoch bei der Rechtsanwendung darüber klar sein muß, daß am Anfang […] nicht die Feststellung einer Gesetzes- oder Rechtslücke steht; ähnlich: Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 634 f., die deshalb sogar auf die Lücke als Voraussetzung der Analogie verzichten wollen. 134  Wegweisend: Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S. 39; grundlegend zum Kern dieser Begriffsbestimmung aber bereits: Elze, Lücken im Gesetz, 1916, S. 6; ferner: Schmidt, Richterliche Rechtsfortbildung in Deutschland und der Schweiz, 2017, S. 56 f.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2011, S. 473; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 832. 135  Zum verkürzten Begriff als „planwidrige Unvollständigkeit“: BGH, Urt. v. 04. 05. 1988 – VIII ZR 196/87, NJW 1988, 2109, 2110; Schwacke, Juristische Methodik, 2011, S. 125; Engisch, Einführung in das juristische Denken, 2018, S. 198. 136  Vertiefend zu einer kritischen Befassung mit den Facetten des Lückenbegriffs: Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S. 129 ff.

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

[…] nach dem Regelungsplan […] zu erwartenden Regel“.137 Entgegen verbreiteter Ausdrucksweise kann es folglich keine „planwidrige Regelungs­ lücke“138 geben, sondern nur eine Regelungslücke, da sie die Planwidrigkeit als notwendige Bedingung voraussetzt, um als Lücke anerkannt werden zu können. Obwohl der herrschende Lückenbegriff dem Maßstabsbezug berücksichtigt und dadurch zum Ausdruck bringt, dass erst ein Vergleich von Istund Sollzustand139 eine Lücke im Gesetz begründet, ist er dennoch nicht gänzlich überzeugend.140 Eine erste Schwachstelle des herrschenden Begriffs liegt im Merkmal der Planwidrigkeit, das zwar den Soll-Maßstab zutreffend erkennt, allerdings erhebliche Probleme im Bereich der praktischen Handbarkeit aufweist. Rückt man wie hier den Willen des Gesetzgebers in den Mittelpunkt, kann damit zwar beantwortet werden, wessen Plan den Maßstab bildet,141 doch ist auch dann ein abschließendes Ergebnis noch nicht gefunden. Ist ein Gesetz planwidrig unvollständig, wenn der zu entscheidende Fall vom Plan des einfachen Gesetzgebers nicht umfasst ist, dies aber den „Plänen“ höherrangiger Normen widerspricht? Umgekehrt gilt: Ist ein Gesetz planwidrig unvollständig, wenn es mit dem Plan der einfachgesetzlichen Legislative harmoniert, aber höherrangige „Pläne“ ihrerseits ein anderes Ergebnis gebieten? An seine Leistungsgrenzen stößt das Merkmal der Planwidrigkeit somit einerseits bei der Konkurrenz mehrerer Pläne, andererseits aber auch dann, wenn man von ihm verlangt, sämtliche Fälle zulässiger Rechtsfortbildung konzeptuell abzubilden. Verzichtet der Gesetzgeber bewusst auf eine Regelung, weil er die Ausgestaltung einer Rechtsfrage im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen an die Rechtsprechung delegiert hat,142 ist das Fehlen einer entspre137  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 375; ebenso: Engisch, Einführung in das juristische Denken, 2018, S. 197. 138  Mit dieser missverständlichen Terminologie aber: Badura, Staatsrecht, 2018, S. 441 („planwidrige[n] Gesetzeslücke“); Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 6 Rn. 100: „Planwidrigkeit der Lücke“; referierend zum Gebrauch durch die herrschende Ansicht: Meier/Jocham, JuS 2016, 392, 396; ebenso: Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 635. 139  Ähnlich: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S.  375 in Fn. 21: „Der Begriff ‚Gesetzeslücke‘ ist ein zweistelliger und ein normativer Begriff: ein Gesetz ist ‚lückenhaft‘ nur im Vergleich mit einer fehlenden Regel, die es (nach seiner eigenen Teleologie enthalten sollte“ [Hervorhebung im Original]. 140  Ebenfalls kritisch: Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 254 („Untauglichkeit des Lückenbegriffs zur Bestimmung der Grenzen richterlicher Rechtsgewinnung“). 141  Aufgeworfen wird diese Frage von: Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 834. 142  Zur Lücke als geplante Unvollständigkeit: Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 835; zur Möglichkeit der Delegation an die Rechtsprechung: Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 13 Rn. 28; außerdem zur bewussten Regelungs­



B. Eigener Lösungsansatz155

chenden Regelung nicht planwidrig; vielmehr entspricht dies genau dem gesetzgeberischen Plan.143 Da das Gesetz in diesem Fall nicht planwidrig unvollständig ist, müsste seine Fortbildung rein begrifflich scheitern. Nachdem sie aber auch dann möglich sein muss, ist es erforderlich, den Ausdruck der herrschenden Meinung zu modifizieren, um sämtliche Formen der Rechtsfortbildung erklären zu können. Eine zweite Schwachstelle des herrschenden Begriffs besteht – jedenfalls konzeptuell – darin, dass es nach dem vorherrschenden Verständnis „unausfüllbare Lücken“ geben kann.144 Möglich sei, dass eine Lücke zwar gegeben sei, sie aber nicht ausgefüllt werden könne, weil der Lückenfüllung ein Rechtsfortbildungsverbot entgegenstehe.145 Auch wenn die Zweiteilung in Lückenfeststellung und -schließung146 der allgemeinen Meinung entspricht, muss die Existenz unausfüllbarer Lücken überraschen. Verbietet die Rechtsordnung die Fortbildung des Rechts im konkreten Fall, ist es wenig überzeugend, den Normtext als planwidrig unvollständig zu bezeichnen. Besteht ein Rechtsfortbildungsverbot, enthält das Gesetz schließlich den Plan, die Unvollständigkeit zu dulden, was dann aber nicht planwidrig, sondern zumindest im Hinblick auf die gesamte Rechtsordnung planmäßig ist. Eine dritte Schwachstelle ist darin zu sehen, dass der herrschende Lückenbegriff nicht deutlich erkennen lässt, welcher Ist-Zustand mit welchem SollZustand verglichen wird. Das gilt für den oberflächlichen Begriff der „planwidrigen Unvollständigkeit“, aber auch für die Definition, die Canaris in seinem grundlegenden Werk erarbeitet hat.147 Eine Begriffsbestimmung, welche die Lücke als „planwidrige Unvollständigkeit innerhalb des positiven Rechts (d. h. des Gesetzes im Rahmen seines möglichen Wortsinnes und des Gewohnheitsrechts) gemessen am Maßstab der gesamten geltenden Rechts­ ordnung“148 versteht, deutet nämlich nur in der Klammer an, dass letztlich zwei Parameter verglichen werden. Obwohl der wesentliche Grundgedanke lücke: Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 289. 143  Ebenfalls kritisch: Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 289. 144  Statt aller: Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S. 172; Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 181 ff., der ebenfalls davon ausgeht, dass eine Lücke festgestellt, manchmal aber nicht geschlossen werden kann. 145  Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 181 f. 146  Zum Dualismus von Lückenfeststellung und -schließung: Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 220, die trotz dieser Trennung indes bemerken, dass „die hierbei anzustellenden Erwägungen oft auch schon zur Ausfüllung der Lücke“ führen könne; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 633; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 2012, S. 52 und 55. 147  Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, passim. 148  Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S. 198.

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

darin Ausdruck findet, tritt nicht in nötiger Klarheit hervor, dass unter Geltung einer ausnahmslosen Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht eine Lücke nur entstehen kann, wenn Text und Zweck einer gesetzlichen Bestimmung voneinander abweichen. Auch insoweit ist eine klarstellende Anpassung nötig, die es erlaubt, den Lückenbegriff für das Grenzkonzept dieser Arbeit fruchtbar zu machen. 2. Die „Lücke“ nach hier vertretener Ansicht Dennoch kann mit einer sprachlichen Anpassung149 an der herrschenden Konzeption festgehalten werden, soweit man die Lücke als Abweichung des Normtexts vom gebotenen Normzweck150 versteht. Zwar gilt Canaris’ Feststellung, dass der von ihm gewählte Lückenbegriff „zu allgemein [sei], um im Einzelfall brauchbar […] zu sein“, für den hiesigen Vorschlag in ähnlicher Weise, doch bildet er für die Rechtsanwendung eine solide Grundlage, weil er ein strukturiertes Prüfungsprogramm enthält, nach dem schrittweise ermittelt werden kann, ob der zu entscheidende Fall erstens vom Normtext erfasst ist und zweitens nach dem gebotenen Normzweck erfasst sein soll. Bislang noch nicht diskutiert wurde das hier zugrunde gelegte Konzept des „gebotenen Normzwecks“, das sich daraus ergibt, dass eine isolierte ratio legis der Einzelnorm nicht den finalen Maßstab für die Beurteilung der Zulässigkeit der Fortbildung bildet, wenn eine gleich- oder höherrangige Wertung eine andere Bewertung gebietet. Der Zweck einer Einzelnorm steht in der Folge nicht am Ende, sondern am Anfang einer Normzweckanalyse, in der die endgültige Aussage des Gesetzes erst erarbeitet wird. Wird die Lücke als Abweichung des Normtexts vom gebotenen Normzweck verstanden, können sämtliche identifizierten Schwachstellen der bisherigen Definitionen behoben werden. Das problematische Merkmal der Planwidrigkeit wird durch das des „gebotenen Normzwecks“ abgelöst. Geboten ist nur das (finale) Ergebnis der Normzweckanalyse, die die einzelnen 149  Besser, aber ebenfalls nicht gänzlich überzeugend: Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S. 39 mit einem alternativen Vorschlag: „Eine Lücke liegt vor, wenn das Gesetz innerhalb der Grenzen des möglichen Wortsinns und das Gewohnheitsrecht eine Regelung nicht enthalten, obwohl die Rechtsordnung eine solche fordert.“ Wann die Rechtsordnung eine solche fordert, bleibt zwar auch hier unklar, doch wird erkennbar, dass eine Lücke erst aus der Betrachtung zweier Parameter begründet werden kann; ähnliches gilt für: Reimer, Juristische Methodenlehre, 2020, Rn. 568: „Regelungslücke bedeutet Nichtregelung trotz Regelungsbedarf“, wobei ungeklärt bleibt, wann ein Regelungsbedarf besteht und ob beispielsweise auch ein rechtspolitischer genügt, der nach ganz herrschender Ansicht keine Rechtsfortbildung rechtfertigen kann. 150  Ausführlich zum „gebotenen Normzweck“ unter: Zweiter Teil  B. V. 1.



B. Eigener Lösungsansatz157

Ebenen der Normenhierarchie in die Prüfung einbezieht und berücksichtigt, dass höherrangige Wertungen niederrangige verdrängen und sich so in Bezug auf den gebotenen Normzweck durchsetzen. Im Gegensatz zur herrschenden Ansicht kann hiermit bereits im Lückenbegriff Berücksichtigung finden, dass der Gesetzgeber eine Ausgestaltung im Detail an die Rechtsprechung delegiert hat oder, dass ein Rechtsfortbildungsverbot besteht. Vermieden werden kann so, dass die Fortbildung des Rechts mit Blick auf den herrschenden Lückenbegriff im ersten Fall als erlaubt gilt, obwohl der Normtext tatsächlich nicht planwidrig unvollständig ist und im zweiten Fall ausscheiden muss, obwohl er planwidrig unvollständig ist. Konsequenter ist es, beide Aspekte in den Lückenbegriff zu integrieren, was mit dem hier vorgeschlagenen Begriffsverständnis gelingt. Für den hiesigen Lückenbegriff spricht zuletzt, dass er die Rechtsanwendungslehre weiter rationalisieren kann. Er vermeidet die wenig überzeugende Unterscheidung in ausfüllbare und unausfüllbare Lücken.151 Vielmehr gilt: Erweist sich die Rechtsordnung im hier verstandenen Sinne als lückenhaft, ist das Gericht zur Fortbildung des Rechts verpflichtet. Ist sie lückenlos, ist die Fortbildung untersagt. Ferner können alle Rechtsfortbildungsformen unmittelbar aus dem hier vorgestellten Lückenbegriff abgeleitet werden. Versteht man die Fortbildung wie hier als Anpassung des Gesetzestexts, um die Regelungsabsicht des Gesetzgebers insgesamt zur Geltung zu bringen, können je nach Position des Normtextdefizits mit Analogie als teleologischer Extension auf Tatbestandsseite, teleologischer Extension auf Rechtsfolgenseite und teleologischer Reduktion auf Tatbestands- und Rechtsfolgenseite alle Formen der Rechtsfortbildung erklärt werden. Zudem kann das im Lückenbegriff dieser Arbeit enthaltene Prüfungsprogramm bei jeder Rechtsanwendung durchgeführt werden, unabhängig davon, ob am Ende eine Auslegung oder eine Fortbildung des Rechts steht. Zu untersuchen ist stets, ob der zu entscheidende Fall zuerst mit dem Normtext und sodann mit dem gebotenen Normzweck vereinbar ist. Dass immer beide Schritte vonnöten sind, erklärt sich schon daraus, dass ohne Betrachtung des gebotenen Normzwecks nach der Feststellung der Normtextvereinbarkeit nicht über die Notwendigkeit einer teleologischen Reduktion entschieden werden könnte. Ist nach Abschluss beider Schritte festzustellen, dass der Sachverhalt mit dem Normtext und dem gebotenen Normzweck vereinbar ist, besteht keine Lücke, sodass die Rechtsanwendung durch Auslegung gelingt. Ist er hingegen mit beidem unvereinbar, liegt keine Lücke vor, weshalb eine Fortbildung des Rechts ausscheiden muss. Weicht der Normtext vom gebotenen Normzweck ab, ist die Rechtsfortbildung gestattet und notwendig, um den Normtext an151  Zur Unterscheidung: Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S. 172; Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 181 ff.

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

zupassen. In der Konsequenz muss die herrschende Vorstellung fortent­wickelt werden, da sie zwar in ihrem Kerngedanken korrekt ist, aber nicht in ihrer Ausführung im Detail überzeugt.

III. Die Grenze der Lücke als Kongruenz von Normtext und -zweck Auf Grundlage dieses Lückenbegriffs kann die Arbeitshypothese wie folgt ergänzt werden: „Die Grenzen der Rechtsfortbildung sind identisch mit den Grenzen der Lücke. Keine Lücke besteht, wenn Normtext und gebotener Normzweck einen Anwendungsfall übereinstimmend ein- oder ausschließen und insoweit nicht voneinander abweichen.“152

Dementsprechend vermittelt der Lückenbegriff dieser Arbeit ein Prüfprogramm, das dem Rechtsanwendungsprozess strukturell immanent ist. Hat der Richter einen Rechtsstreit zu entscheiden, wird er jene Vorschriften in Betracht ziehen, die ihm Antworten auf die gestellten Rechtsfragen liefern können. In einem ersten Schritt wird er eruieren, ob der zu entscheidende Sachverhalt unter den Normtext fällt, ehe er in einem zweiten überprüft, ob das Ergebnis mit der Wertung, mithin mit dem gebotenen Normzweck, zu vereinen ist. Insgesamt sind hier vier Varianten zu unterscheiden. Passt der Fall unter Normtext und gebotenen Normzweck, genügt die Auslegung153 152  Der „gebotene Normzweck“ ist damit auch als „lex“ im Sinne der contra-legem-Grenze zu verstehen. Abzulehnen ist ein Verständnis, das mit „lex“ den Normtext im buchstäblichen Sinne meint, weil dies ein Verbot der Rechtsfortbildung insgesamt bedeuten würde. Unter Geltung dieser Deutungsvariante wäre beispielsweise die teleologische Reduktion stets contra legem, weil sie den zu weiten Wortlaut kürzt und damit seine Integrität beeinträchtigt. Da das Feld der Rechtsfortbildung im hier verstandenen Sinne erst beginnt, wenn der Wortlaut der Norm unzureichend ist (vgl. Heyder, Gültigkeit und Nutzen der besonderen juristischen Schlussformen in der Rechtsfortbildung, 2010, S. 23), kann mit „lex“ nur der gebotene Normzweck gemeint sein. Da sich dieser nach dem hier vorgestellten Lösungsansatz erst aus einer umfassenden Normzweckanalyse ergibt, bildet erst ihr Ergebnis den Maßstab für die contra-legemGrenze. Anders als beispielsweise Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 185 annimmt, ist eine contra legem-Fortbildung damit ausnahmslos unzulässig. Dazu bereits: Meier/Jocham, JuS 2016, 392, 394; zustimmend: Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 13 Rn. 23. Inkonsequent erscheint es demgegenüber, die Fortbildung schon dann als contra legem zu bezeichnen, wenn sie gegen die Wertung der Einzelnorm verstößt, obwohl ebendies aufgrund höherrangiger Wertungen geboten sein kann. Auch hierin liegt ein Vorteil des Lückenbegriffs dieser Arbeit, weil eine Fortbildung nach ihm entweder contra legem oder nicht contra legem und damit stets unzulässig bzw. zulässig ist. 153  Auch wenn das Phänomen der „Konkretisierung“ nicht Gegenstand dieser Arbeit ist, sei klarstellend darauf hingewiesen, dass sie eine Gesetzesarbeit beschreibt,



B. Eigener Lösungsansatz159

(Variante 1). Ist er mit dem Text, nicht aber mit dem Zweck der Norm zu vereinen, ist der Wortlaut durch Fortbildung einzuschränken (Variante 2). Passt der Fall nicht unter den Normtext, aber unter den gebotenen Normzweck, ist der Wortlaut zu erweitern (Variante 3). Fällt er weder unter den Normtext noch unter den Normzweck, muss die Rechtsfortbildung ausscheiden (Variante 4). In Variante 2 und 3 ist das Gesetz lückenhaft, weil Normtext und gebotener Normzweck voneinander abweichen. Um dies zu korrigieren, ist in Variante 2 ein zu weiter Wortlaut im Tatbestand oder in der Rechtsfolge (durch teleologische Reduktion) zu begrenzen und in Variante 3 ein zu enger Wortlaut im Tatbestand (durch Analogie) oder in der Rechtsfolge (durch teleologische Extension) zu weiten. Etwas anderes gilt indes in den Varianten 1 und 4: Hier ist das Gesetz lückenlos, da Normtext und Normzweck darin übereinstimmen, dass der zu entscheidende Fall ein- bzw. auszuschließen ist. In Variante 1 ist die Rechtsfortbildung nicht erforderlich, weil der Sachverhalt normzweckkonform dem Normtext unterfällt. Gelangt man durch Auslegung zum Ziel, ist die Fortbildung unzulässig, weil der Gesetzestext nicht ohne Anlass verändert werden darf. Beide Rechtsanwendungsformen stehen theoretisch in einem Exklusivitätsverhältnis. Welche zum Einsatz kommt, ergibt erst die Gesamtschau von Normtext und gebotenem Normzweck. In Variante 4 ist die Grenze der Rechtsfortbildung überschritten, weil Normtext und gebotener Normzweck einheitlich bestimmen, dass der Sachverhalt nicht einzuschließen ist. Würde eine Fortbildung dennoch unternommen, geschähe dies nicht, um der Regelungsabsicht des Gesetzgebers zur Geltung zu verhelfen, sondern aus anderen Gründen, die aber eine Veränderung des Normtexts nicht tragen können. Zusammengefasst gilt, dass die Grenzen der Rechtsfortbildung überschritten sind, wenn der Normtext und der gebotene Normzweck den zu entscheidenden Fall übereinstimmend einschließen oder ausschließen. Weil über Kongruenz oder Inkongruenz nur entschieden werden kann, wenn beide Parameter bekannt sind, ist die Arbeitshypothese wie folgt abzurunden:

die sich um die Präzisierung unbestimmter Rechtsbegriffe und Generalklauseln, mithin um eine Konkretisierung des Normtexts bemüht. Weil es bei ihr nicht darum geht, den Normtext fortzuschreiben, wird sie für die Zwecke dieser Arbeit dem Oberbegriff der Auslegung zugeordnet. Ebenso: Seiler, Auslegung als Normkonkretisierung, 2000, passim; eingehend zur Thematik: Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, passim. Unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln sind Normtexte mit einem hohen Abstraktionsniveau und demnach nicht dem Lückenbereich zuzuordnen, soweit sie im Einklang mit der Regelungsabsicht des Gesetzgebers stehen; daher zu Recht: Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 633, welche die Zuordnung zum Lückenbereich als „verfehlt“ bezeichnen.

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

„Die Grenzen der Rechtsfortbildung sind identisch mit den Grenzen der Lücke. Keine Lücke besteht, wenn Normtext und gebotener Normzweck einen Anwendungsfall übereinstimmend ein- oder ausschließen und insoweit nicht voneinander abweichen. Um dies festzustellen, muss bekannt sein, bis wohin Sachverhalte jeweils ein- oder ausgeschlossen werden oder mit anderen Worten, wo die Grenze des Normtexts und wo die Grenze des gebotenen Normzwecks verläuft.“

IV. Die Grenze des Normtexts Ist damit geklärt, dass Auslegung und Fortbildung durch die Grenze des Normtexts getrennt werden, ist nun zu untersuchen, welche Folgen dies im Einzelnen hat. Dazu ist zunächst die Struktur der Grenzlinie zu analysieren, um zu bestimmen, was „den Wortlaut“ abstrakt ausmacht. Anschließend ist zu ermitteln, wie für den konkreten Fall bestimmt werden kann, ob ihn der Normtext ein- oder ausschließt. 1. Normtext Bevor die Grenze in ihrer Struktur untersucht wird, ist zu erklären, weshalb der Begriff des „Normtexts“ dem des „Wortlauts“ überlegen ist. Obwohl beide Identisches meinen, ist die Bezeichnung „Wortlaut“ in allen Wortbestandteilen unpräzise. Entscheidend ist zum einen nicht der Laut, sondern die Bedeutung eines Wortes. Zum anderen ergibt sich die Bedeutung weniger aus dem isolierten Wort, als vielmehr aus seiner Einbettung in den Satz oder den Ausdruck als Ganzes. Wortsinn ist so zwar präziser, weil er mit Sinn auf den Bedeutungsinhalt anspielt, trägt diesen Bedenken aber ebenfalls nicht Rechnung.154 Um Missverständnissen vorzubeugen, empfiehlt es sich daher, den Text der Regelung bereits begrifflich von ihrem Sinn zu trennen und neutral von Normtext zu sprechen. Weil er eine sprachliche Grenze bildet, muss geklärt werden, wessen Sprachgebrauch zu welcher Zeit maßgebend ist und welche Verständnisreichweite die Trennlinie zieht. a) Allgemeiner und juristischer Sprachgebrauch? Für die erste Weichenstellung ist zu entscheiden, ob der allgemeine oder der juristische Sprachgebrauch zur Bestimmung der Gesetzesformulierung Beachtung findet. Dass es nur auf den Fachsprachgebrauch ankommen kann, belegt der Umstand, dass Grundstückseigentümer in der Alltagssprache ein „Haus besitzen“ und nahezu jede vorsätzliche Tötung als „Mord“ bezeichnet 154  Statt aller zum Wortsinn: Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 141.



B. Eigener Lösungsansatz161

wird. Obwohl sich ein Normtext oftmals an Private richtet, wird Präzision benötigt, die der Alltagssprachgebrauch nicht leistet und oft auch nicht leisten kann.155 Wird in Rechtsprechung und Literatur der „mögliche Wortsinn“156 als Grenzkriterium angeführt, kann dies folglich nur als „möglicher Wortsinn in der Fachsprache“ verstanden werden. Nicht notwendig ist, dass ein Fachlexikon sämtliche Merkmale des Normtexts im Detail definiert, geschweige denn, dass sich eine Verständnisvariante durchgesetzt hat. Entscheidend ist vielmehr, ob der Normtext vor dem Hintergrund einer fachsprachlichen Behandlung derart verstanden werden kann, dass er einen Zweifelsfall einschließt. Wer abweichend davon den möglichen Wortsinn der Alltagssprache als Grenzlinie unterstellt, müsste umgangssprachlich auch den „Besitzer“ als Anspruchsinhaber des § 985 BGB akzeptieren. Im täglichen Sprachgebrauch ist dies „möglich“, aber im Hinblick auf die juristische Beurteilung nicht zielführend. Effizienter, weil präziser ist die juristische Sprache. Neuner ist zuzustimmen, dass dies sogar im Interesse der Bürger liegt, da sie „bei komplizierten Rechtsmaterien […] ohnehin auf den Rat von Rechtsexperten angewiesen“ sind157 und das Mehr an sprachlicher Präzision ihnen hier zugutekommt. Ein Normtext ist stets ein fachsprachlicher Text und kann daher nur so verstanden werden.158

155  Ähnlich: Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 308, für den der Vorrang der Fachsprache „mit einer Aufwertung der Wortlautgrenze verbunden [ist], weil dann an die Stelle der Grenze der umgangssprachlichen die Grenze der fachsprachlichen Bedeutung zu treten hätte, die in aller Regel deutlich präzisier gefasst ist.“ 156  Zum „möglichen Wortsinn“ als Grenze von Auslegung und Fortbildung: BVerfG, Beschl. v. 23. 10. 1985 – 1 BvR 1053/82 – Anti-Atomkraftplakette, BVerfGE 71, 108, 115; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 366; Larenz/ Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 187; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 614 f.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2011, S. 467 f.; Schwacke, Juristische Methodik, 2011, S. 121; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 2012, S. 39. 157  Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 120. 158  Für den Vorgang des juristischen Sprachgebrauchs: Wank, ZGR 1988, 314, 317 f.; Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 2015, S. 43 f., der mit überzeugender Argumentation die Grenze des „möglichen Wortsinns in der Umgangssprache“ ablehnt, daraus aber den wenig überzeugenden Schluss zieht, dass der Gesetzestext dem Gesetzessinn als Grenzkriterium weichen muss; Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 298, der von einem Vorrang des juristischen gesetzgeberischen Sprachgebrauchs ausgeht und den allgemeinen nur als Auffangtatbestand heranzieht; Badura, Staatsrecht, 2018, S. 26, der zutreffend betont, dass die „Sprache des Rechts […] fast durchgehend eine juristische Kodierung auf[weist], die sie von der Umgangssprache unterscheidet.“

162

Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

b) Entstehungs- oder geltungszeitlicher Sprachgebrauch? Akzeptiert man den fachsprachlichen Charakter des Normtexts, ist als zweite Weichenstellung zu bestimmen, ob dem historischen159 oder dem aktuellen160 Wortverständnis der Vorrang gebührt. Für die Sprachverwendung zur Zeit der Entstehung streite, dass die Gesetzesbindung der Judikative dem Zweck diene, den Willen des Gesetzgebers „unverfälscht zur Geltung zu bringen“.161 Dem ist in der Sache, indes nicht im Ergebnis zuzustimmen. Richtig ist, dass die Bindung der Richter an Gesetz und Recht tatsächlich die Durchsetzung des gesetzgeberischen Willens bezweckt und der Stellenwert der dadurch vermittelten demokratischen Legitimation nicht überschätzt werden kann. Und doch zwingt dies nicht dazu, allein auf das historische Sprachverständnis abzustellen.162 Das scheint zwar unter dem Gesichtspunkt konsequent, dass der Normtext im Idealfall einen Gesetzgeberwillen zum Ausdruck bringt, der durch das Wortverständnis geprägt wurde, das zur Entstehungszeit galt. Dies lässt indessen außer Acht, dass der Gesetzgeber Normen erlässt, um Regelungen für die Zukunft zu treffen. Dafür spricht einerseits, dass Veränderungen tatsächlich nur für künftige Sachverhalte bewirkt werden können und andererseits, dass die rückwirkende Regelung vergangener Sachverhalte auch rechtlich nur in sehr engen Grenzen gestattet ist.163 Nicht zuletzt greift der Gesetzgeber mitunter deshalb auf Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe zurück, weil sie es erlauben, künftigen Entwicklungen adäquat Rechnung zu tragen.164 Wer auf die entstehungszeitliche Sprachverwendung Bezug nimmt, lässt dies aber außer Acht. Mittelbar erkennt das auch Neuner an, der zwar grundsätzlich am historischen Sprachgebrauch festhält, jedoch zu Recht annimmt, dass eine Ausnahme gilt, wenn die Veränderung der Wortbedeutung mit der gesetzgeberischen Zweckvorstellung 159  Für die entstehungszeitliche Sprachverwendung: Rödig, Die Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, 1973, S. 281; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 189; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 121; ähnlich: Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 298. 160  Für die geltungszeitliche Sprachverwendung: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 324; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 145, was indes nur gelten soll, wenn „die Bedeutung eines Ausdrucks zur Entstehungszeit des Gesetzes nicht in einem bestimmten Sinne festgelegt war“. 161  Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 121; ähnlich: Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 298. 162  So: Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 121. 163  Allgemein zur Rückwirkung: Wernsmann, JuS 1999, 1177; Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn. 132 ff.; Kloepfer, Verfassungsrecht I, 2011, § 10 Rn. 169 ff. 164  Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 185.



B. Eigener Lösungsansatz163

harmoniert.165 Da Neuner aber ebenso überzeugend betont, dass der Normtext einen Vertrauenstatbestand verkörpert,166 ist es vor diesem Hintergrund geboten, das geltungszeitliche Verständnis generell für maßgeblich zu erklären. Anfänglich stimmt dieser ohnehin mit dem entstehungszeitlichen überein; verändert sich die Sprachverwendung im Laufe der Zeit, ermöglicht er es, neue Entwicklungen zu berücksichtigen und lässt zudem den Rechtsunterworfenen leichter den Inhalt der Norm erkennen. Verändert sich die Wortbedeutung entgegen dem Normzweck, hat der Richter die Möglichkeit, die normzweckwidrige Entwicklung im Wege der Rechtsfortbildung zu korrigieren. Hierüber kann aber erst im Zeitpunkt des Urteils entschieden werden. Geltungszeitlich meint daher die semantische Bedeutung des Normtexts zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung. Hierin liegt kein Widerspruch zu der später noch näher zu erörternden Annahme, dass die Regelungsabsicht des historischen Gesetzgebers grundsätzlich die verbindliche Richtschnur für das Verständnis des Inhalts der Gesetze bildet. Denn entgegen dem ersten Anschein wird in beiden Fällen der Legislativwille für maßgebend erachtet, nur wirkt er sich unterschiedlich aus. Weil der Normzweck die rechtspolitische Zielvorgabe enthält, beansprucht er so lange Verbindlichkeit, bis ein späterer Gesetzgeber eine neue, hiervon abweichende Entscheidung trifft. Im Unterschied dazu soll der Normtext von Anfang an in der Lage sein, künftige Entwicklungen zu antizipieren, da der Gesetzgeber auf neue Rechtsfragen anderenfalls immer nur verspätet reagieren könnte. Man könnte insoweit von einer gesetzgeberischen Ermächtigung für ein geltungszeitliches Wortverständnis sprechen. c) Üblicher, natürlicher oder möglicher Sprachgebrauch? Als dritte Weichenstellung muss geklärt werden, wie weit ein juristisches, geltungszeitliches Normtextverständnis reichen kann. Vertreten werden hierzu der natürliche,167 der übliche168 und der mögliche169 Wortlaut. Als dazu: Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 121. Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 102. 167  Zum natürlichen Wortsinn: Seiler, Auslegung als Normkonkretisierung, 2000, S. 27. 168  Zum üblichen Wortsinn: Leipold, in: MünchKomm-BGB, Band 11, 2020, § 2084 BGB, Rn. 12. 169  Zum möglichen Wortsinn: BVerfG, Beschl. v. 23. 10. 1985 – 1 BvR 1053/82 – Anti-Atomkraftplakette, BVerfGE 71, 108, 115; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 366; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 187; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 614 f.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2011, S. 467 f.; Schwacke, Juristische Methodik, 2011, S. 121; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 2012, S. 39. 165  Siehe

166  Neuner,

164

Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

schwierig erweist sich bereits die Abgrenzung der drei vertretenen Formen. Im Ergebnis kann die inhaltliche Abschichtung der einzelnen Positionen aber dahinstehen, da wie gezeigt allein entscheidend ist, ob man den Normtext aus der Perspektive der juristischen Fachsprache im Zeitpunkt der gericht­ lichen Entscheidung auf den zu entscheidenden Sachverhalt beziehen kann. Folgerichtig muss das weiteste Normtextverständnis als maßgeblich erachtet werden. In der Theorie ist damit einzig relevant, ob der Normtext den Streitfall semantisch einschließt. Ist dies nicht der Fall, ist die Normtextgrenze überschritten.170 d) Fazit Zur Grenzstruktur ist festzuhalten, dass die „Wortlautgrenze“ durch den Normtext in seiner weitesten geltungszeitlichen und fachsprachlichen Deutung repräsentiert wird. 2. Normtextanalyse Damit ist die Normtextgrenze strukturell beschrieben, aber noch nicht erörtert, wie es in der Rechtsanwendung gelingt, einen Zweifelsfall in den Normtext ein- oder auszuschließen. Bevor eine Einteilung von Anwendungsfällen skizziert werden soll, ist vorab daran zu erinnern, dass die Gesetzessprache trotz der bereits diskutierten sprachkritischen Einwände in den meisten Fällen klar und nur in wenigen unklar ist.171 Eigentlich dürfte das nicht überraschen, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass der Gesetzgeber Bestimmungen mit dem Ziel erlässt, dass sie befolgt werden. Das kann aber nur realisiert werden, wenn der Normtext derart gefasst ist, dass er von den Rechtsunterworfenen verstanden werden kann.172 Infolgedessen bedient sich der Normgeber schon zum Entstehungszeitpunkt einer Sprache, die derart konsensfähig ist, dass sie im Geltungsbereich der Norm jedenfalls mit juristischer Beratung verstanden werden kann.173 Vertreten durch die beteiligten Akteure ist „der Gesetzgeber“ Mitglied einer juristischen Interpretationsge170  Wie dies in der Praxis der Rechtsanwendung umgesetzt werden kann, ist im unmittelbaren Anschluss zu erörtern. 171  Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 2004, S. 280. 172  Vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 320; Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 4 Rn. 39. 173  Für die Einhaltung des rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgrundsatzes genügt, dass die Bürger eine Rechtsnorm mit juristischer Beratung verstehen können; siehe dazu: BVerfG, Beschl. v. 04. 06. 2012 – 2 BvL 9, 10, 11, 12/08, BVerfGE 131, 88, 123; Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn. 129.



B. Eigener Lösungsansatz165

meinschaft, in der weitgehend Einigkeit besteht, wie ein Normtext im Ganzen oder in zentralen Teilen zu verstehen ist.174 Akzeptiert man, dass einem Text durch konventionelle Sprachverwendung eine konkrete Bedeutung zukommen kann, ist der Weg bereitet, um eine Einteilung von Subsumtionskandidaten in Kategorien zu erwägen. Obwohl die praktische Relevanz gering sein dürfte, ist gleichwohl nicht zu leugnen, dass sich die Bedeutung eines Wortes verändern kann, indem es (auch) auf neue oder auf andere Sachverhalte erstreckt wird. Anders als von Depenheuer behauptet, führt dies aber nicht zum Versagen der Grenzfunktion des Normtexts.175 Bringt man das skizzierte Gedankenspiel zur Anwendung und isoliert den Moment der Gerichtsentscheidung, indem man die Zeit in diesem Augenblick „anhält“, wäre theoretisch in einer empirischen Studie feststellbar, welche Fälle dem Wortlaut unterfallen und welche nicht.176 Dass dies wenig praktikabel und mitunter mühsam sein kann, mindert nicht die Erkenntnis, dass so sogar jeder Zweifelsfall im Ausgangspunkt in die Kategorien „mit dem Normtext vereinbar“ und „mit dem Normtext nicht vereinbar“ eingeteilt werden kann. Praktisch kann in drei Stufen entschieden werden, in welche ein Sachverhalt gehört. a) Erste Stufe: Evidenzkontrolle aa) Arbeitskategorien Auch wenn die Normtextvereinbarkeit nur positiv oder negativ beantwortet werden kann, ist das Drei-Kandidaten-Modell in der Rechtsanwendung nützlich, um Arbeitskategorien zu unterscheiden,177 wozu es, wie die Bezeichnung schon zum Ausdruck bringt, nicht zwei, sondern drei Bereiche Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 2004, S. 111. Der Wortlaut als Grenze, 1988, S. 40. 176  Siehe dazu: Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 102; ähnlich: Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 309. 177  Andeutungsweise: Jellinek, Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmässigkeitserwägung, 1913, S. 37 f., der zwischen Fällen „positiver Gewißheit“, „negativer Gewißheit“ und „des möglichen Zweifels“ unterscheidet; implizit bereits: Podlech, DÖV 1967, 740, 743 („Kandidat“ und „neutraler Kandidat“); explizit erstmals: Podlech, AöR 95 (1970), 185, 188; hieran anknüpfend: Koch, ARSP 61 (1975), 27, 35; Herberger/Koch, JuS 1978, 810, 812; Meier/Jocham, JuS 2015, 490, 491; ferner: Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 2004, S. 66; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 96; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 194 ff.; Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, 2019, S. 121 f.; Reimer, Juristische Methodenlehre, 2020, Rn. 281, der auch von positiven, neutralen und negativen Kandidaten“ spricht; kritisch zum Drei-Kandidaten-Modell: Neumann, Rechtsontologie und juristische Argumentation, 1979, S. 72 ff. 174  Vgl.

175  Vgl. Depenheuer,

166

Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

isoliert.178 Das Modell kennt positive, negative und neutrale Kandidaten. Positive können unter den Normtext subsumiert werden, negative Kandidaten nicht. Bleiben Zweifel spricht man von neutralen Kandidaten. Klarzustellen ist, dass das Drei-Kandidaten-Modell an sich keinen Zuordnungsmechanismus darstellt, sondern nur Kategorien für eine gedankliche Einteilung nach sprachlicher Evidenz bereithält.179 Steht ein Sachverhalt als positiver oder negativer Kandidat fest, ist die Zuteilung bereits an dieser Stelle erfolgt.180 bb) Sprachevidenzen Das Modell ist deshalb von Mehrwert, weil es der Evidenzkontrolle eine gedankliche Struktur bietet, mit der bereits eine Vielzahl von Sachverhalten einer Kategorie zugeordnet werden kann. Bringt man es im obigen Beispiel zur Anwendung, ist der Honigbienenschwarm als positiver Kandidat des § 961 BGB, die Kuhherde als negativer Kandidat einzustufen. Ein Hummelvolk wäre auf der Stufe der Evidenzkontrolle ein neutraler Kandidat, da die Hummel die Biene zwar sprachlich nicht im Namen trägt, aber zur Gattung der Bienen gehört. Die Zuordnung nach Evidenz gelingt allerdings nicht nur bei deskriptiven, sondern auch bei normativen Merkmalen.181 Positive Kandidaten des „wichtigen Grundes“ in § 543 Abs. 1 S. 1 BGB sind Angriffe des Vermieters auf Leib und Leben des Mieters.182 Als negativer ist das Duschen außerhalb der Ruhezeiten anzusehen. Ein neutraler Kandidat wäre hingegen das vereinzelte Musizieren während der Mittagsruhe.183 Ferner glückt die Abgrenzung nach Sprachevidenz sogar bei § 242 BGB, der im Normtext nur die Modalitäten der Leistungserbringung anspricht. Weil der „Schuldner verpflichtet [ist], die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben […] es erfordern“, setzt die gesetzliche Bestimmung in direkter Anwendung stets ein 178  Im Methodenschrifttum findet sich außerdem die Unterscheidung in Bedeutungskern und Bedeutungshof: Heck, AcP 112 (1914), 1, 173; Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S. 22; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 199 f.; Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, 2019, S. 121 f. 179  Hierzu auch: Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 4 Rn. 46. 180  Ähnlich: Reimer, Juristische Methodenlehre, 2020, Rn. 282, der zu Recht darauf hinweist, dass die „Zuordnung eines Normbegriffs zu diesen Kategorien […] nicht Voraussetzung, sondern Ergebnis“ ist. 181  Allgemein zur Unterscheidung in deskriptive und normative Begriffe: Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 27; Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 4 Rn. 56 ff. 182  Dazu und dass sogar Beleidigungen und andere Belästigungen genügen können: Bieber, in: MünchKomm-BGB, Band 5, 2020, § 543 BGB, Rn. 13. 183  Zu diesem und zu weiteren Beispielen: Bieber, in: MünchKomm-BGB, Band 5, 2020, § 543 BGB, Rn. 12.



B. Eigener Lösungsansatz167

Schuldverhältnis im engeren Sinne voraus und adressiert nur die Art und Weise der Leistungserbringung.184 Positiver Kandidat des § 242 BGB kann daher ein Erfüllungsverhalten sein. Demgegenüber müssen Verhaltensweisen, die keinen Bezug zu einem vorhandenen Schuldverhältnis aufweisen, als negativer Kandidat ausscheiden.185 Für einen neutralen Kandidaten könnte etwa an ein Dulden des Leistenden gedacht werden, das der aktivische Wortlaut „bewirken“ weder evident aus- noch einschließt. Mit der Einteilung in die drei Kategorien ist aber nur der erste Schritt getan. Hervorzuheben ist, dass dies nicht nur für die neutralen Kandidaten, sondern auch für positive und negative gilt.186 Schließlich beruht die Zuordnung nach Evidenz auf der Sprachkompetenz des Richters, die nicht die Grenze bilden kann.187 Infolgedessen ist das Gericht bereits auf der Stufe der Evidenzkontrolle angehalten, das weiteste geltungszeitliche und fachsprachliche Normtextverständnis zu ermitteln und dabei alle Eigentümlichkeiten der eigenen Sprachverwendung auszublenden. Unberücksichtigt bleiben daher Ironie, Dialekte, Geheimsprachen und der eigene Alltagssprachgebrauch des Richters im Allgemeinen, soweit er mit der juristischen Fachsprache unvereinbar ist. Gemeint ist mit Letzterem, dass der „Besitz“ selbst dann kein positiver Kandidat des Gesetzesmerkmals „Eigentum“ sein kann, wenn der Richter im privaten Sprachgebrauch das in seinem Eigentum stehende Auto lediglich „besitzt“. Ist der Sachverhalt auf der Stufe der Evidenzkontrolle als positiver, negativer oder neutraler Kandidat charakterisiert, ist dies auf zweiter Stufe zu überprüfen. Dort gilt es, die vorläufige Zuordnung zu den positiven oder 184  Zum auf die Leistungsmodalitäten beschränkten Aussagegehalt: Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 522 (= Protokolle, S. 1251): „Die Mehrheit war dagegen der Meinung, daß die […] vorgeschlagene Bestimmung […] nur von der Art der Erfüllung verstanden werden könne. Es sei auch sachlich zu billigen, daß die […] für alle Schuldverhältnisse bestimmte Vorschrift […] auf die Art der Erfüllung beschränkt habe; denn nur bezüglich dieser Frage passe die Bezugnahme auf Treu und Glauben und auf die Verkehrssitte allgemein, während sie hinsichtlich der Frage, ob eine Verpflichtung entstanden sei, und welche, nur bei vertragsmäßigen Schuldverhältnissen zutreffe.“ [Hervorhebung v. Verf.]; ferner dazu: Schubert, in: MünchKomm-BGB, Band 2, 2019, § 242 BGB, Rn. 7 und 18. 185  Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass sämtliche Fallgruppen in § 242 BGB ohne Leistungsbezug unzulässig sind. Nur beruhen sie dann eben nicht auf einer Auslegung, sondern einer Fortbildung des § 242 BGB. 186  In diesem Punkt ist Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 96 zu widersprechen, der annimmt, dass mit der Einordnung als positiver Kandidat die Auslegung erschöpft sei. Dies gilt selbst dann, wenn er seine Aussage nur auf die grammatische Auslegung bezogen haben sollte, weil sie mit einer Einteilung nach dem eigenen Sprachverständnis noch keinesfalls abgeschlossen ist. 187  Pötters/Christensen, JZ 2011, 387, 389.

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

negativen Kandidaten zu bestätigen oder zu korrigieren, während bei neutralen Kandidaten die semantische Zuteilung erstmals erfolgen kann. b) Zweite Stufe: Referenzkontrolle Während die Evidenzkontrolle naturgemäß auf den persönlichen, mit der Fachsprache vereinbaren Sprachgebrauch des Richters beschränkt bleibt, geht die Referenzkontrolle weiter188 und bedient sich zur Entscheidung über die Normtextvereinbarkeit zusätzlicher Erkenntnismittel. aa) Gesetzliche Begriffsbestimmungen Als Referenz dienen zunächst Legaldefinitionen. Obwohl der 16. März, 12 Uhr als positiver Kandidat des Merkmals „Mitte des Monats“ zu betrachten wäre, weil sich dieser Termin tatsächlich in der Mitte dieses Monats befindet, bestimmt § 192 BGB, dass unter Mitte des Monats jeweils der 15. zu verstehen ist.189 Der vorläufig positive Kandidat muss damit dennoch auf dieser Stufe aus dem Wortlaut eliminiert werden. Gleiches gilt für unwiderlegliche Vermutungen wie in § 1566 BGB oder für Fiktionen, die irreale Umstände unterstellen, die sich dem persönlichen Sprachgebrauch daher typischerweise entziehen. Gem. § 1922 Abs. 1 BGB geht die Erbschaft auf eine oder mehrere Personen (Erben) über. Erbe kann gem. § 1923 Abs. 1 BGB indes nur sein, wer zur Zeit des Erbfalls lebt. Semantisch wäre es möglich, den Nasciturus in § 1923 Abs. 1 BGB als neutralen Kandidaten zu behandeln, wenn man annehmen würde, dass ein Ungeborener bereits leben kann. Spätestens mit § 1922 Abs. 1 BGB dürfte dies aber unvereinbar sein, da der Nasciturus kaum als „Person“ begriffen werden kann. Wäre er daher als negativer Kandidat einzustufen, wird diese Annahme durch § 1923 Abs. 2 BGB korrigiert, der fingiert, dass der Nasciturus als vor dem Erbfall geboren gilt und so Erbe sein kann.

188  Zur Wichtigkeit dieser zusätzlichen Stufe: Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 140, für die es einen „methodischen Fehler (mit u. U. gravierenden Konsequenzen) dar[stelle], ohne Rückversicherung in anerkannten Wörterbüchern einfach zu behaupten, ein gewisser Ausdruck könne sprachlich nur eine ganz bestimmte Bedeutung haben oder auch nicht haben.“ 189  Siehe diesem Beispiel: Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 4 Rn. 49, wobei es entgegen seiner Einschätzung nicht einmal in der Regel zutrifft, dass der 15. Tag des Monats mathematisch seine Mitte bildet.



B. Eigener Lösungsansatz169

bb) Gerichtliche Begriffsbestimmungen Neben gesetzlichen Begriffsbestimmungen können darüber hinaus auch solche herangezogen werden, die von der Judikative entwickelt wurden. Sind Legaldefinitionen, unwiderlegliche Vermutungen oder Fiktionen nicht vorhanden, ist auf richterliche Begriffsbeschreibungen zurückzugreifen, da es in der Rechtspraxis vor allem die Gerichte sind, die Fachsprache tagtäglich verwenden und so in erster Linie auf die juristische Definitionsarbeit Einfluss nehmen. Da auf dieser Stufe im Mittelpunkt der Betrachtung steht, ob jenseits des persönlichen Sprachgebrauchs des jeweiligen Richters ein fachsprachliches Normtextverständnis existiert, müssen folglich auch fachsprachliche Deutungen einbezogen werden, die durch die akzeptierte Sprachverwendung der Gerichtspraxis im Übrigen geprägt werden. cc) Nachschlagewerke In Fortführung dieses Gedankens können auch Nachschlagewerke als Referenz dienen.190 Weil das Ziel verfolgt wird, das weiteste Normtextverständnis aufzudecken, können Enzyklopädien im Allgemeinen, etymologische (Rechts-)Wörterbücher191 im Besonderen, aber auch anderweitige fachsprachliche Veröffentlichungen herangezogen werden.192 Bemüht wurde dies etwa vom VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs, der Grimms Deutsches Wörterbuch zurate zog, um zu beurteilen, ob das Merkmal „entrichten“ in § 556b Abs. 1 BGB voraussetzt, dass eine Überweisung auf dem Konto des Vermieters am dritten Werktag des Monats eingegangen sein muss.193 Ähnlich war das Vorgehen des VI. Zivilsenats, der sich einem 190  Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 140; Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 299; Schröder, JuS 1995, 875, 877; Pötters/Christensen, JZ 2011, 387, 389; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2011, S. 442. 191  Statt aller: Köbler, Juristisches Wörterbuch, 2018; Creifelds, Rechtswörterbuch, 2019. 192  Exemplarisch aus der Rechtsprechungspraxis: BVerfG, Urt. v. 16. 02. 2000 – 1 BvR 420/97 – Frischzellen, BVerfGE 102, 26, 39, in dem der Senat die bekannten Wörterbücher Duden und Grimm heranzog; OLG Nürnberg, Beschl. v. 20. 11. 2009 – 1 St OLG Ss 163/09, NJW 2010, 2071, 2073, in dem der 1. Strafsenat ebenfalls auf Wörterbücher und Enzyklopädien zurückgriff, um das Merkmal „Asche“ in § 168 Abs. 1 StGB semantisch einzugrenzen. 193  BGH, Urt. v. 05. 10. 2016 – VIII ZR 222/15, BGHZ 212, 140, 145 f., der dies verneinte: „Der Begriff des Entrichtens ist nach allgemeinem Sprachgebrauch als Synonym für das Bezahlen eines Geldbetrags zu verstehen (s. J. und W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Neubearb. 1999, Stichwort „entrichten“). Dass der juristische Sprachgebrauch hiervon abweicht, ist weder geltend gemacht noch ersichtlich.“ Ab-

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Bestandteil der Legaldefinition der Zahlungsinstitute des § 1 Nr. 5 ZAG a. F. dadurch näherte, dass er mehrere Rechtslexika, Enzyklopädien und Wörterbücher der deutschen Sprache konsultierte.194 Noch weiter ging jüngst der Senat für Anwaltssachen, der in Ermangelung einer Legaldefinition Wörterbücher, juristische Veröffentlichungen wie Kommentare und Anwaltshand­ bücher und sogar Wikipedia als Nachschlagewerk nutzte, um den Begriff „Transportrecht“ zu konkretisieren.195 Ein derartiger Rückgriff auf Nachschlagewerke aller Art ist nur konsequent, wenn man bedenkt, dass ein Fachsprachgebrauch und die Reichweite der Verwendungsmöglichkeiten eines Normtextmerkmals neben Lexika und Rechtslexika mit anderen juristischen Publikationen nachgewiesen werden kann. Gemeint sind insoweit jedoch nur Begriffsbestimmungen, die ein Normtextmerkmal abstrakt definieren, nicht aber schlicht behauptete Anwendungsfälle, die keinen Bezug zum gesetzlichen Merkmal aufweisen und dieses auch nicht inhaltlich präzisieren. Nachschlagewerke aller Art erweisen sich deshalb als sinnvoll, um weitere Verständnisvarianten des Normtexts aufzuzeigen. Richtig ist aber auch, dass weder erwartet werden kann, „im Lexikon eine vollständige ‚Abbildung‘ des Sprachgebrauchs der Gegenwart zu finden“,196 noch, dass alle Begriffskonkretisierungen das fachsprachliche Normtextverständnis präzisieren können. Für nicht juristische Lexika und Wörterbücher gilt das schon deshalb, weil sie keine Fachsprache verwenden und daher Deutungsvarianten enthalten, die mit ihr unvereinbar sind. Exemplarisch ist der „Erwerb eines Grundstücks“, der im Duden mit dem Trennungs- und Abstraktionsprinzip unvereinbar als Synonym für „Kauf“ genannt wird.197 Obwohl ein solches Verständnis in einem Referenzwerk aufgelistet ist und insoweit als vertretbare Deutungsvariante erscheint, muss es unberücksichtigt bleiben. Letztlich ist aber auch bei juristischen Lexika, Wörterbüchern und anderen Veröffentlichungen Vorsicht geboten, weil ein Gesetzesbegriff stets in einen Regelungskomplex eingebettet und auch so verstanden werden muss. Konkret bedeutet dies, dass das Sprachverständnis einzelner Autoren natürlich ebenso wenig entscheidend sein kann wie das der Richter, sodass die Begriffskonkretisierungen nur auf den Normtext übertragen werden können, wenn sie sich widerspruchsfrei in das Merkmal gesichert werden die Ausführungen des Senats durch die Gesetzesmaterialien: „Entscheidend ist letztlich die in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck gekommene Zielsetzung des § 556 b I BGB. Danach ist der Eingang der Miete auf dem Konto des Vermieters nicht maßgeblich für die Rechtzeitigkeit der Mietzahlung.“ 194  BGH, Urt. v. 16. 01. 2018 – VI ZR 474/16, NJW 2018, 1602, 1603. 195  BGH, Urt. v. 22. 06. 2020 – AnwZ (Brfg) 48/19, BeckRS 2020, 16205, Rn. 9 ff. 196  Pötters/Christensen, JZ 2011, 387, 389. 197  Zur synonymen Verwendung im Alltagsprachgebrauch: www.duden.de/recht schreibung/Erwerb (zuletzt abgerufen am 01. 12. 2020).



B. Eigener Lösungsansatz171

der Norm übertragen lassen. Ein Beispiel hierfür ist der verfassungsrecht­ liche Eigentumsbegriff aus Art. 14 Abs. 1 GG, der auch Forderungen umschließt.198 Dass diese Begriffsbildung nicht ohne Weiteres für den zivilrechtlichen Eigentumsbegriff übernommen werden kann, liegt auf der Hand. All dies lässt die Notwendigkeit für eine dritte Stufe erkennen, auf der der konkrete fachsprachliche Gebrauch des Normtextmerkmals berücksichtigt wird. c) Dritte Stufe: Konvergenzkontrolle Gelingt es nicht, einen Zweifelsfall auf den ersten beiden Stufen zuzuordnen, ist auf der letzten eine Bedeutungsanalyse anzuschließen, die den Verwendungskontext in die Betrachtung einbezieht. Obwohl ein neutraler Kandidat immer entweder mit den Normtext vereinbar oder unvereinbar ist, kann es sein, dass er weder durch Evidenz noch durch Referenz zugeteilt werden kann; das ändert jedoch nichts daran, dass seine Normtextkonformität entweder gegeben ist oder fehlt. Besonders an der letzten Stufe ist, dass die Bedeutung des Normtexts nun nicht mehr passiv festgestellt werden kann, indem der Richter zur Feststellung des weitesten geltungszeitlichen und fachsprachlichen Normtextverständnis die persönliche Sprachkompetenz und Nachschlagewerke konsultiert,199 sondern der Bedeutungsinhalt der Gesetzeszeichen nun aktiv festgesetzt werden muss. aa) Methoden der Semantik Konzepte zur Lösung dieser Probleme zu finden, ist Gegenstand der linguistischen Semantik, einer Teildisziplin der Sprachwissenschaft, die die Bedeutung sprachlicher Zeichen erforscht.200 Geht es darum, den Inhalt von (Norm-)Texten zu bestimmen, können die von ihr entwickelten Bedeutungstheorien daher nicht außer Betracht bleiben. Wer erwarten würde, dass die Linguistik eine Lösung hierfür unmittelbar bereithält, wird indes enttäuscht. Denn die Fragen, was unter Bedeutung zu verstehen und wie sie zu ermitteln 198  Zum Einschluss relativer Rechte in den verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff: BVerfG, Beschl. v. 18. 01. 2006 – 2 BvR 2194/99 – Halbteilungsgrundsatz, BVerfGE 115, 97, 111; BVerfG, Beschl. v. 07. 12. 2004 – 1 BvR 1804/03 – Stiftung „Erinnerung“, BVerfGE 112, 93, 107; BGH, Urt. v. 22. 03. 2010 – II ZR 12/08, BGHZ 185, 44, 52; Axer, in: BeckOK-GG, 2020, Art. 14 GG, Rn. 48; Kloepfer, Verfassungsrecht II, 2010, § 72 Rn. 20. 199  Siehe dazu: Pötters/Christensen, JZ 2011, 387, 389, die in der herkömmlichen Methodenlehre nur diese beiden Möglichkeiten erkennen. 200  Busse, Semantik, 2009, S. 13; Schwarz-Friesel/Chur, Semantik, 2014, S. 17; Löbner, Semantik, 2015, S. 1.

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ist, sind in der Sprachwissenschaft ähnlich umstritten, wie die Grundsatz­ fragen der juristischen Methodenlehre. Anzutreffen sind zahlreiche Theorien von denen, wie Busse es beschreibt, keine „völlig neben der Wahrheit“ liegt, aber jede „seine eigenen Mängel, Erklärungslücken und Irrtümer“ aufweist.201 Als in der Semantik vertretene Positionen202 erwähnenswert sind die Vorstellungstheorien,203 die Theorie der logischen Semantik,204 die der Merkmal- oder Komponentensemantik,205 die Theorie der Prototypen- und Stereo­ typensemantik,206 der pragmatischen Semantik,207 der kognitiven Semantik208 sowie die der Frame-Semantik.209 Wenngleich nicht sämtliche Strömungen einschließlich ihrer Modelle skizziert werden können, sind drei Konzepte vorzustellen, die der juristischen Arbeitsweise in besonderer Weise nahestehen und daher vielversprechend sind, um auf die Normtextanalyse übertragen zu werden. (1) Verfahren der logischen Semantik Das erste geht auf die logische Semantik und insoweit auf Carnap zurück, der zur Bedeutungsbestimmung die „Methode von Extension und Intension“210 begründete. Während unter der Intension die (abstrakten) Eigenschaften und damit die generelle Beschreibung von Gegenständen zu verstehen sei, bezeichne die Extension sämtliche Gegenstände, mithin die (konkreten) Anwendungsbeispiele, für die das sprachliche Zeichen infolge seiner Intension 201  Busse,

Semantik, 2009, S. 59. Übersicht: Busse, Semantik, 2009, S. 14. 203  Zu den Vorstellungstheorien: Felder, in: Felder (Hrsg.), Semantische Kämpfe, 2006, S.  27 ff. 204  Zur logischen Semantik: Lyons, Semantik, Band I, 1980, S. 151 ff.; Pafel/Reich, Einführung in die Semantik, 2016, S. 223 ff. 205  Zur Merkmal- oder Komponentensemantik: Harras, in: Harras/Haß/Strauß (Hrsg.), Wortbedeutungen und ihre Darstellung im Wörterbuch, 1991, S. 13  ff.; Schwarz-Friesel/Chur, Semantik, 2014, S. 41 ff. 206  Zur Prototypen- und Stereotypensemantik: Allan, in: Riemer (Hrsg.), The Routledge Handbook of Semantics, 2016, S. 54 f.; Schwarz-Friesel/Chur, Semantik, 2014, S.  49 ff.; Pafel/Reich, Einführung in die Semantik, 2016, S. 59 ff. 207  Zur pragmatischen Semantik: Saeed, in: Riemer (Hrsg.), The Routledge Handbook of Semantics, 2016, S. 177 ff.; Schwarz-Friesel/Chur, Semantik, 2014, S. 35. 208  Zur kognitiven Semantik: Orilia, Noûs 1991, 359; Pafel/Reich, Einführung in die Semantik, 2016, S. 245 ff. 209  Zur Framesemantik: Allan, in: Riemer (Hrsg.), The Routledge Handbook of Semantics, 2016, S. 55 f. Pafel/Reich, Einführung in die Semantik, 2016, S. 66 ff. 210  Carnap, Meaning and Necessity, 1956, S. 1 („The Method of Extension and Intension“). 202  Zur



B. Eigener Lösungsansatz173

verwendet werden kann.211 Da die Extension verschiedene konkrete Fälle bezeichnet, die mit einem Wort gemeint sind, lassen sich aus diesen gemeinsame Eigenschaften ermitteln, mit denen auf eine abstrakte Definition und somit auf die Intension geschlossen werden könne.212 Gehört ein Versprechen, Verschreiben oder Vertippen zur Extension des Tatbestandsmerkmals213 „eine Erklärung dieses Inhalts überhaupt nicht abgeben wollte“ in § 119 Abs. 1 Alt. 2 BGB, kann für seine Intension abgeleitet werden, dass alle Anwendungsbeispiele ein Missgeschick in der Erklärungshandlung gemeinsam haben, welches zu einem falschen Erklärungszeichen führte. Carnaps Modell wird im linguistischen Schrifttum kritisiert, weil es in einen Zirkel mündet.214 Der Schluss von der Extension auf die Intension, also von konkreten auf abstrakte Eigenschaften, setzt schließlich voraus, dass die Einzelfälle bekannt sind. Um sie zu erhalten, muss aber implizit ein Vorverständnis über die Intension vorhanden sein, das es erlaubt, die Anwendungsbeispiele zu identifizieren. (2) Verfahren der Merkmal- und Komponentensemantik Ein zweites Verfahren stammt aus der Merkmalsemantik.215 Bedeutung sei hiernach als ein „Komplex semantischer Merkmale“216 zu verstehen, die als notwendige und hinreichende Bedingungen verbunden217 sind und die es als solche ermöglichen, die Bedeutung eines Zeichens vollständig zu erschließen.218 Positiv hieran ist, dass der Bedeutungsinhalt eines Wortes theoretisch abschließend definiert werden kann und hierdurch eine trennscharfe Abgrenzung möglich wird.

211  Carnap, Meaning and Necessity, 1956, S. 18 ff.; ferner dazu: Busse, Semantik, 2009, S. 36. 212  Vgl. Busse, Semantik, 2009, S. 38. 213  Der BGB-Gesetzgeber hat bereits in den Gesetzesmaterialien auf diese typischen Fälle der Fehler in der Erklärungshandlung hingewiesen: Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band, 1899, S. 460 (= Motive, S. 196). 214  Busse, Semantik, 2009, S. 38. 215  Siehe hierzu: Harras, in: Harras/Haß/Strauß (Hrsg.), Wortbedeutungen und ihre Darstellung im Wörterbuch, 1991, S. 13  ff.; Busse, Semantik, 2009, S. 41; Schwarz-Friesel/Chur, Semantik, 2014, S. 41 ff. 216  Schippan, Einführung in die Semasiologie, 1972, S. 29. 217  Das Modell der notwendigen und hinreichenden Bedingungen geht schon auf Aristoteles zurück. Dazu auch: Ros, Begründung und Begriff, 1989, S. 90 ff.; Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 303; Löbner, Semantik, 2015, S. 322. 218  Busse, Semantik, 2009, S. 44.

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Im linguistischen Schrifttum wird daran aber kritisiert, dass eine vollständige Zerlegung eines Zeichens in abschließende Merkmale für Nomen schwierig umsetzbar, für Verben und die meisten Adjektive aber vollständig unmöglich ist.219 Weil auch in Normtexten eine abschließende Zerlegung in Merkmale und somit die erschöpfende Definition von Begriffen wie „Treu und Glauben“ in § 242 BGB, „billigem Ermessen“ in § 315 BGB oder wie „zumutbar“ in § 313 Abs. 3 BGB ohne Fallbezug kaum realisierbar sein wird, ist nachvollziehbar, warum das Verfahren der Merkmalsemantik schon in der Linguistik als praktisch unmöglich kritisiert wird.220 (3) Verfahren der Stereotypen- und Prototypensemantik Ein drittes Verfahren besteht in der Stereotypen- oder Prototypensemantik,221 die das dargestellte Problem umgehen möchte. Anders als die Merkmal­ semantik geht sie nicht davon aus, dass die Bedeutung eines Wortes durch eine abschließende Liste notwendiger Merkmale, sondern durch die Nähe zu einem Stereotyp222 oder Prototyp223 bestimmt wird.224 Konkret bedeutet dies, dass der Prototyp den typischen Vertreter einer Kategorie beschreibt, sodass ein Gegenstand in diese eingeordnet wird, wenn er Ähnlichkeiten mit dem Prototyp aufweist.225 An der Theorie überzeugt, dass von einem Gegenstand nicht verlangt wird, alle Merkmale mit dem Prototyp teilen zu müssen, um als Bestandteil der Kategorie betrachtet werden zu können.226 Exemplarisch nennt Löbner die Kategorie „Tasse“, deren Prototyp typischerweise einen Henkel hat, der aber gleichermaßen henkellose Trinkbehälter zugerechnet werden können, wenn 219  Löbner,

Semantik, 2015, S. 280 f. in: Riemer (Hrsg.), The Routledge Handbook of Semantics, 2016, S. 54 f.; Schwarz-Friesel/Chur, Semantik, 2014, S. 49 ff.; Busse, Semantik, 2009, S. 49; Pafel/ Reich, Einführung in die Semantik, 2016, S. 59 ff. 221  Putnam, Die Bedeutung von „Bedeutung“, 1979, S. 67 ff. hat den Begriff „Stereotyp“ eingeführt; Rosch, in: Warren (Hrsg.), Studies in Cross-cultural Psychology, 1977, S. 20 ff. jenen Prototyp geprägt. Im Folgenden wird der Ausdruck Prototyp verwendet, da sich dieser in der deutschen Sprachwissenschaft mittlerweile eingebürgert hat; siehe dazu: Busse, Semantik, 2009, S. 49, der trotz alledem den Ausdruck Stereotyp bevorzugt. 222  Grundlegend: Putnam, Die Bedeutung von „Bedeutung“, 1979, S. 67 ff. 223  Grundlegend: Rosch, in: Warren (Hrsg.), Studies in Cross-cultural Psychology, 1977, S.  20 ff. 224  Näher dazu: Busse, Semantik, 2009, S. 49 f. 225  Langacker, Foundations of Cognitive Grammar, 1987, S. 371: „A prototype is a typical instance of a category, and other elements are assimilated to the category on the basis of their perceived resemblance to the prototype“. 226  Löbner, Semantik, 2015, S. 325. 220  Allan,



B. Eigener Lösungsansatz175

sie dem Prototypen anderweitig ähneln.227 Überträgt man dies auf die rechtliche Ebene, kann so erklärt werden, warum auch ein „verjährter Anspruch“ der Kategorie „Anspruch“ angehört, obwohl dessen Prototyp gem. § 194 Abs. 1 BGB einen Zustand beschreibt, nach dem ein Recht besteht, von einem anderen ein Tun oder Unterlassen zu verlangen. Entscheidend sei die Familienähnlichkeit,228 die fordert, dass alle Gegenstände einer Kategorie mindestens einem anderen dieser Kategorie ähneln, ohne dass jeder erfasste Gegenstand mit jedem anderen Gegenstand derselben Kategorie auch nur ein übereinstimmendes Merkmal haben müsste.229 Da die Bedeutung eines Wortes nicht durch eine Auflistung konstitutiver Merkmale festgesetzt werden könne, sondern allein durch die Familienähnlichkeit beeinflusst werde, ein Fall dem Prototyp also mehr oder weniger ähneln könne, nehmen die Vertreter der Prototypensemantik an, die Grenzen zwischen den Kategorien seien unscharf.230 Ob ein Gegenstand einer Kategorie zugeteilt werden könne, sei weniger nach „Ja oder Nein“, sondern nach „Mehr oder Weniger“ zu entscheiden.231 bb) Methoden der Semantik in der Normtextanalyse Nachdem die Verfahren allgemein skizziert wurden, ist nunmehr zu untersuchen, welchen Beitrag sie speziell für die Analyse eines Normtexts leisten können. (1) Übernahme der semantischen Verfahren Bevor über einen möglichen Platz der linguistischen Semantik in der Normtextanalyse nachgedacht wird, muss indes zunächst geklärt werden, ob die identifizierten Schwächen in der Rechtsanwendung in gleicher Weise Probleme bereiten.

227  Löbner,

Semantik, 2015, S. 325. zur Terminologie: Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen 67, der das Konzept der Familienähnlichkeit nach einer Analyse der verschiedenen Bedeutungsvarianten des Ausdrucks „Spiel“ in Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen 66 formuliert. 229  Vgl. Löbner, Semantik, 2015, S. 325 f., der dies zugleich mit einer Reihe von Beispielen illustriert. 230  Busse, Semantik, 2009, S. 51; Löbner, Semantik, 2015, S. 327. 231  Putnam, Die Bedeutung von „Bedeutung“, 1979, S. 23  f.; Busse, Semantik, 2009, S. 50; Löbner, Semantik, 2015, S. 327. 228  Grundlegend

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(a) Logische Semantik: Vom logischen zum hermeneutischen Zirkel Carnaps Modell, die abstrakten Eigenschaften (Intension) eines Wortes über die gemeinsamen Eigenschaften konkreter Einzelfälle (Extension) zu erschließen, wird in der Linguistik als zirkulär bewertet,232 was auch einer Anwendung auf die Normtextanalyse entgegenstehen würde. Die Problematik innerhalb der linguistischen Semantik lässt sich leicht erkennen, da sie die Bedeutung sprachlicher Zeichen als solche zu erforschen sucht. Sind für diese keine Anwendungsbeispiele bekannt, fehlt jede Extension, die jedoch unerlässlich ist, um auf die Intension zu schließen. Eine Wortbedeutung kann mit Carnaps Modell nur erschlossen werden, wenn bereits konkrete Einzelfälle und damit Bestandteile der „Bedeutung“ verfügbar sind. Anderenfalls fehlt der Bedeutungstheorie jeder Zugang zur „Bedeutung“, was ihre Leistungsfähigkeit für die Linguistik infrage stellt. Insoweit bemerkt Busse korrekt, es fehle „eine zentrale Bedingung einer Bedeutungstheorie, die diesen Namen wirklich verdient“.233 Carnaps Modell kann indes dann überzeugen, wenn man seine „Methode von Intention und Extension“ auf einen Normtext überträgt. Anders als in der linguistischen Semantik muss das Modell die Bedeutung des Normtexts nämlich nicht vollumfänglich erklären, weil der Gesetzgeber bei Erlass stets bestimmte Anwendungsfälle im Sinn hatte,234 die er einer Regelung unterwerfen möchte. Damit beschreibt der Schluss von konkreten Einzelfällen auf abstrakte Eigenschaften eines Gesetzesmerkmals nicht einen logischen, sondern einen hermeneutischen Zirkel, weil der Rechtsanwendung von Anfang an konkrete Anwendungsbeispiele zur Verfügung stehen. In der Folge sind stets Bestandteile der Extension bekannt, von denen auf die Intension geschlossen werden kann. (b) Merkmalsemantik: Von der abschließenden zur hinreichenden Definition Obwohl die abschließende Bedeutungsbeschreibung mit notwendigen und hinreichenden Bedingungen theoretisch eine gangbare Lösung bereithält, die praktisch aber kaum realisierbar ist, enthält die Merkmalsemantik den übertragbaren Grundgedanken, dass die Bedeutung eines Gegenstands durch we232  Busse,

Semantik, 2009, S. 38. Semantik, 2009, S. 39. 234  Vgl. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2011, S. 543 f.; exemplarisch sei der Erklärungsirrtum gem. § 119 Abs. 1 Alt. 2 BGB genannt, zu dem bereits der BGB-Gesetzgeber bemerkt hat, dass die „Fälle des Sichversprechens, Sichverschreibens, Sichvergreifens“ typische Anwendungsbeispiele für Fehler in der Erklärungshandlung sind: Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band, 1899, S. 460 (= Motive, S. 196). 233  Busse,



B. Eigener Lösungsansatz177

sentliche Merkmale präzisiert werden kann. Anstatt diese zu einer erschöpfenden Definition konstitutiver Attribute zu verketten, können einzelne prägende Merkmale herausgegriffen werden, um über die Zuordnung einzelner fraglicher Gegenstände zu entscheiden. Sind einzelne oder mehrere begriffsprägende Merkmale identifiziert, können sie dazu verwendet werden, auf die Normtextvereinbarkeit zu schließen. Auf diese Weise können praktisch ebenso gute Resultate erzielt werden wie mit einer Liste notwendiger Merkmale. (c) Prototypensemantik: Von der unscharfen zur trennscharfen Textgrenze Verabschiedet man sich von der Vorstellung, dass ein Sachverhalt nur unter einen Begriff fallen kann, wenn er alle Merkmale einer abschließenden Liste notwendiger und hinreichender Bedingungen in sich vereint, wird nachvollziehbar, warum die Stereo- oder Prototypensemantik „als Weiterentwicklung der Merkmalssemantik“ angesehen werden kann.235 Problematisch für die Bestimmung der Grenze des Normtexts nach dieser Konzeption ist allerdings, dass die Vertreter dieser Strömung davon ausgehen, dass die Grenzen zwischen zwei Kategorien gradueller Natur sein können.236 Soweit damit ein fließender Übergang zwischen den Kategorien „mit dem Normtext vereinbar“ und „mit dem Normtext nicht vereinbar“ gemeint ist, wäre das Modell als Hilfsmittel zur Präzisierung der Normtextgrenze untauglich. Richtig ist, dass der zu entscheidende Fall dem Prototyp eines gesetzlichen Merkmals mehr oder weniger ähneln kann. Um dies zu veranschaulichen, bezieht sich Löbner auf eine Studie des US-amerikanischen Linguisten Labov, der seine Probanden aufforderte, verschiedene Gegenstände den Kategorien „Tasse“, „Schale“ und „Vase“ zuzuordnen.237 Während einige Gegenstände ohne Zweifel eingeordnet werden konnten, lagen andere zwischen den Kategorien.238 Ein bestimmter Gegenstand könne in diesem Fall zwar wohl noch als Tasse bezeichnet werden, ähnele aber tatsächlich mehr einer Vase als einer Tasse.239 Dies zeigt aber nur, dass ein Gegenstand auch dem Prototyp einer anderen Kategorie ähneln kann. Problematisch wäre es indes nur, wenn ein Gegenstand zwischen der Kategorie „Tasse“ und seiner logischen Gegenkategorie „nicht Tasse“ liegen würde.

235  Busse,

Semantik, 2009, S. 49. Semantik, 2015, S. 327. 237  Labov, in: Bailey/Shuy (Hrsg.), New Ways of Analyzing Variation in English, 1973, 340 ff. Zum Ganzen: Löbner, Semantik, 2015, S. 324 ff. 238  Löbner, Semantik, 2015, S. 327. 239  Löbner, Semantik, 2015, S. 327. 236  Löbner,

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Einen fließenden Übergang von einer Kategorie („Tasse“) zu ihrer Gegenkategorie („nicht Tasse“) kann es aber niemals geben. Selbst wenn man außer Acht lässt, dass die Unschärfeexperimente ohnehin für ihr Studiendesign kritisiert werden,240 widerspricht es der logischen Einsicht,241 dass ein Gegenstand sowohl „A“ als auch „nicht A“ sein kann. Entweder ein Gegenstand kann noch als „Tasse“ bezeichnet werden oder eben nicht. Das muss auch für einen zu subsumierenden Fall gelten. Entweder er ist mit dem Normtext vereinbar oder er ist mit ihm nicht vereinbar. Da ein Sachverhalt mit dem Normtext nicht „vereinbar und unvereinbar“ sein kann, bleibt die Normtextgrenze also auch vor dem Hintergrund der Prototypensemantik intakt. Gibt es insoweit keine unscharfen Grenzen,242 ist es eine wertvolle Erkenntnis, dass der Vergleich mit einem Prototyp als semantisches Hilfsmittel dienen kann, um über die Zuordnung eines Sachverhalts in die Kategorien „normtextvereinbar“ und „normtextunvereinbar“ zu entscheiden. (2) Zusammenwirken der semantischen Verfahren Für die Normtextanalyse können damit Gesichtspunkte aller Verfahren zur Anwendung kommen. Dass die Bedeutungstheorien nach hier vertretener Ansicht ineinandergreifen und einander ergänzen können, ist trotz der mitunter stark unterschiedlichen Konzepte und Grundannahmen bereits deshalb nicht fernliegend, weil keine Theorie speziell für abstrakte Begriffe, wie sie in der juristischen Fachsprache vorkommen,243 entwickelt wurde.244 zur Kritik: Löbner, Semantik, 2015, S. 342 ff. Semantik, 2015, S. 195, 223 ff. und 345 ff. 242  Überzeugend daher: Löbner, Semantik, 2015, S. 355 (zum Ergebnis) und S. 345 ff. (zur Herleitung). 243  Zur Abstraktheit der Termini in der juristischen Fachsprache: Busse, Semantik, 2009, S. 46 und 52, der betont, dass in der Wissenschaft allgemein und in Recht und Philosophie im Besonderen abstrakte Termini vorherrschen. Weil abstrakt-generelle Regelungen durch ebensolche Formulierungen im Normtext ihren Charakter erhalten, sind Ausdrücke in Rechtsnormen notwendigerweise abstrakt, damit sie auf zahlreiche Sachverhalte anwendbar sind (Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 185). Abstrakt im diesem Sinne sind dabei nicht nur normative Begriffe, die sich nicht auf wahrnehmbare Umstände, sondern auf Wertungen beziehen, sondern ebenso deskriptive Begriffe, die auf wahrnehmbare Umstände verweisen (vgl. Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 4 Rn. 58) und daher vermeintlich keiner Wertung bedürfen. Richtigerweise sind deskriptive Begriffe ohnehin immer auch normative, da sie durch den Einbezug in einen Normtext immer im jeweiligen Regelungskontext zu verstehen sind und dadurch gleichfalls Wertungen zugänglich sind. Näher zur Normativität deskriptiver Begriffe: Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 60; Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 2015, S. 46; Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 4 Rn. 58. 244  Siehe speziell zur Prototypensemantik: Rosch, in: Warren (Hrsg.), Studies in Cross-cultural Psychology, 1977, S. 21 ff.; ferner: Busse, Semantik, 2009, S. 51 f., der 240  Näher

241  Löbner,



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Aus der logischen Semantik lässt sich der Gedanke übernehmen, dass von konkreten Fällen (Extension) auf abstrakte Eigenschaften eines Normtextmerkmals (Intension) geschlossen werden kann. Weil der Gesetzgeber bei Normerlass bestimmte Konstellationen im Sinn hatte,245 ermöglicht dies statt eines logischen einen hermeneutischen Zirkel, wobei die typischen vom Gesetzgeber vorrangig in den Blick genommenen Anwendungsfälle der Regelung den Anstoß geben. Dazu ist dem Gedanken der Merkmal- und Komponentensemantik folgend die Merkmalstruktur typischer Anwendungsfälle („positiver Kandidaten“) zu untersuchen. Analyseziel ist dabei keine erschöpfende Auflistung aller notwendigen Merkmale, die zur Qualifizierung eines Sachverhalts als normtextvereinbar erforderlich sind. Anknüpfend an die Prototypensemantik genügt es vielmehr, die positiven Kandidaten als Prototypen einer Bestimmung zu begreifen, um aus ihnen begriffsprägende Merkmale für den Normtext abzuleiten, aus denen dann wiederum ein Rückschluss auf die Beurteilung weiterer, bisher noch als neutral zu bewertender Kandidaten möglich ist. cc) Konvergenzkontrolle auf Basis der linguistischen Semantik Damit ist der Weg bereitet, um die Evidenz- und Referenzkontrolle auf letzter Stufe um eine Konvergenzkontrolle zu ergänzen. Mit ihr wird der verbleibende neutrale Kandidat dahingehend untersucht, ob er strukturell eher mit einem positiven oder mit einem negativen Kandidaten des Normtextmerkmals vergleichbar ist. Stimmt er überwiegend mit einem positiven überein, ist er einzuschließen. Überwiegt dagegen die Nähe zu einem negativen, ist er auszuschließen. Bekannt ist dies als Fallvergleichung,246 Analogieverfahren,247 als typisierender Fallvergleich,248 oder Typenver­

sowohl für die Prototypen- als auch die Stereotypensemantik betont, dass „beide Formen der Theorie ausschließlich an sog. ‚natürlichen Prädikaten‘ (Putnam), d. h. an Wörtern entwickelt wurden, die physikalische (also sinnlich wahrnehmbare) Dinge oder Eigenschaften bezeichnen.“ Bei Putnam waren dies „Tiger“ (Putnam, Die Bedeutung von „Bedeutung“, 1979, S. 68 ff.); bei Rosch waren es beispielsweise Farben (Rosch, in: Warren (Hrsg.), Studies in Cross-cultural Psychology, 1977, S. 15). 245  Vgl. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2011, S. 543 f. 246  Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 2015, S. 50 („Fallvergleichung“). 247  Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S. 24, wonach „die gleichzustellenden Tatbestände mit Hilfe des Analogieverfahrens ermittelt“ werden, wenn das Gesetz eine Aufzählung enthält und ergänzt, dass dies auch „in ähnlichen Fällen“ gelten soll. In Fn. 29 betont er aber ebenfalls die Parallele zur „Fallvergleichung“. 248  Zippelius, Juristische Methodenlehre, 2012, S.  58: „typisierender Fallvergleich“.

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gleich,249 wobei nicht nur die Bezeichnung verschieden gehandhabt, sondern auch das Vorgehen unterschiedlich beschrieben wird.250 Weitgehender Konsens besteht insoweit, dass zu analysieren ist, ob der zu entscheidende Sachverhalt Merkmale mit den typischen Anwendungsfällen des Normtexts teilt oder, ob die Merkmalsunterschiede überwiegen.251 Abweichend wird beurteilt, an welchem Maßstab und wie dies im Einzelnen zu prüfen ist. (1) Normtext als grundlegender Maßstab Vertreten wird, der Sachverhalt müsse positiven und negativen Kandidaten gegenübergestellt und am Maßstab des Sinn und Zwecks der Bestimmung verglichen werden. Erst wenn der zu entscheidende Fall in dieser Hinsicht einem positiven oder negativen ähnele, sei er ein- oder auszuschließen. Prüfungsmaßstab sei der Normzweck.252 Obwohl dieser für das Verständnis der Norm253 wegweisend ist, muss die ratio legis in der Normtextanalyse aber (noch) unberücksichtigt bleiben, weil hier rein semantisch zu entscheiden ist, ob sich ein gesetzliches Merkmal sprachlich noch auf einen Zweifelsfall erstreckt. Beantworten kann das aber nur der Normtext, der in der Folge den Prüfungsmaßstab bilden muss. (2) Positive Kandidaten als fortentwickelter Maßstab Weil er aber nicht hinreichend präzise ist, um die Zuordnung ohne Weiteres zuzulassen, wird der Normtext durch einen oder mehrere positive Kandidaten vertreten, die an seiner statt als Prüfungsmaßstab dienen.254 Mit dieser Feststellung enden jedoch die meisten Stellungnahmen im Schrifttum,255 obwohl der exakte Maßstab damit noch nicht ermittelt ist. Endgültiger Prü249  Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2011, S. 548: „Typenvergleich“. 250  Allgemein zum Fallvergleich: Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S. 24; Raisch, Juristische Methoden, 1995, S. 167; Schillig, Konkretisierungskompetenz und Konkretisierungsmethoden im Europäischen Privatrecht, 2009, S.  180 f.; Zippelius, Rechtsphilosophie, 2011, S. 211 ff.; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 2012, S. 58 ff.; Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 2015, S. 50. 251  Zippelius, Juristische Methodenlehre, 2012, S. 58. 252  Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 2015, S. 50, der dies zwar äußert, diesen Aspekt in seinem Fallbeispiel aber weitgehend unberücksichtigt lässt. 253  Nämlich auf der Ebene der Normzweckanalyse. Ausführlich dazu unter: Zweiter Teil  B. V. 2. 254  Vgl. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 2012, S. 59, der insoweit zutreffend erkennt, dass für die Auslegung „jene Falltypen, für die schon geklärt ist, dass sie in den Begriffsumfang der Norm einzubeziehen sind“, den Vergleichsmaßstab bilden. 255  Lobensweit insoweit aber: Zippelius, Juristische Methodenlehre, 2012, S. 59 f.



B. Eigener Lösungsansatz181

fungsmaßstab ist nämlich nicht ein einzelner oder die Summe der positiven Kandidaten an sich, sondern eine Ansammlung konstitutiver Bedingungen, die aus einzelnen oder mehreren positiven Kandidaten des Normtexts abgeleitet wurden. Hilfsweise kann es zudem nützlich sein, korrespondierend aus den negativen Kandidaten Negativbedingungen herauszulösen. (3) Konstitutive Bedingungen als endgültiger Maßstab Daher ist es nötig, aus positiven Kandidaten prägende Merkmale als konstitutive Bedingungen zu ermitteln. Beispielsweise kann in § 119 Abs. 1 Alt. 2 BGB aus den positiven Kandidaten „Versprechen“, „Verschreiben“ oder „Vergreifen“256 die fehlerhafte Erklärungshandlung257 als wesentlich erkannt und so als eine Bedingung identifiziert werden, anhand der bestimmt werden kann, ob ein Sachverhalt mit dem Normtext „Erklärung dieses Inhalts nicht abgeben wollte“ vereinbar ist. Infolgedessen kann das „Vertippen in einer E-Mail“ unter den Normtext des § 119 Abs. 1 Alt. 2 BGB subsumiert werden, obwohl der BGB-Gesetzgeber diesen Fall am Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht kennen konnte.258 Ferner ist möglich, dass zwar nicht bei allen positiven Kandidaten ein übereinstimmendes Merkmal feststellbar ist, eine konstitutive Bedingung aber einem oder wenigen von ihnen entnommen werden kann. Exemplarisch ist § 823 Abs. 1 BGB, bei dem ein „sonstiges Recht“ nach allgemeiner Ansicht „eigentumsähnlich“ sein muss.259 Dementsprechend wird es als ausreichend erachtet, dass dem zu beurteilenden Recht wie auch dem Eigentumsrecht eine „Ausschluss- und Zuweisungsfunktion“ zukommt.260 256  Schon der BGB-Gesetzgeber hat diese Anwendungsbeispiele als typische Fälle der Fehler in der Erklärungshandlung benannt: Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band, 1899, S. 460 (= Motive, S. 196). 257  Ahrens, in: Prütting/Wegen/Weinreich, BGB, 2020, § 119 BGB, Rn. 23. 258  Dies zeigt erneut, warum es wichtig ist, auf den geltungszeitlichen Normtext abzustellen. 259  Peukert, Güterzuordnung als Rechtsprinzip, 2008 S. 249; Wagner, in: MünchKomm-BGB, Band 6, 2020, § 823 BGB, Rn. 301, wonach schon der Gesetzgeber das „Eigentumsrecht als maßgebliche Referenzgröße für das sonstige Recht vor Augen […] hatte und nicht die in § 823 Abs. 1 genannten Lebensgüter.“; Deutsch/Ahrens, Deliktsrecht, 2014, Rn. 248 („vom Recht nach Art des Eigentums ausgestaltet“); Wandt, Gesetzliche Schuldverhältnisse, 2019, § 16 Rn. 36. Fikentscher/Heinemann, Schuldrecht, 2017, Rn. 1568, die den Besitz als geschützt bezeichnet und damit als sonstiges Recht betrachtet, „wenn der Besitzer ähnlich dem Eigentümer die Sache nutzen darf und ihm Abwehrbefugnisse zustehen“. 260  Medicus/Petersen, Bürgerliches Recht, 2019, Rn.  610; Wandt, Gesetzliche Schuldverhältnisse, 2019, § 16 Rn. 36.

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Prädestiniert, um konstitutive Bedingungen zu extrahieren, sind vor allem Bestimmungen, die mehrere Merkmalsvarianten auflisten, eine „insbeson­ dere“-Formulierung enthalten oder eine Aufzählung mit einer offenen Formulierung beenden, die vorschreibt, dass der Normtext auch für „ähnliches“ oder „sonstiges“ gelten soll. Wesentliche Bestandteile gem. § 94 Abs. 1 BGB sind so „insbesondere Gebäude“, eine schärfere Haftung gem. § 276 Abs. 1 S. 1 BGB kann sich „insbesondere aus der Übernahme einer Garantie“ ergeben, ein wörtliches Angebot gem. § 295 S. 1 BGB genügt „insbesondere wenn der Gläubiger die geschuldete Sache abzuholen hat“. § 543 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 BGB regelt, wann ein „wichtiger Grund“ insbesondere vorliegt und die Einrede der Vorausklage ist gem. § 773 Abs. 1 Nr. 1 BGB insbesondere ausgeschlossen, wenn sich der Bürge als Selbstschuldner verbürgt hat.261 Ebenso zu bewerten sind „ähnliche geschäftliche Kontakte“ in § 311 Abs. 2 Nr. 2 BGB, das „ähnliche Verhältnis“ des Besitzdieners in § 855 BGB oder das des mittelbaren Besitzers in § 868 BGB, die „ähnliche Bearbeitung der Oberfläche“ in § 950 Abs. 1 S. 2 BGB oder die „dem Erblasser ähnlich nahestehende Person“ in § 2333 Abs. 1 Nr. 1 BGB.262 Einen sonstigen Anknüpfungspunkt kennt das BGB neben dem „sonstigen Recht“ in § 823 Abs. 1 BGB und jenem in § 851 BGB außerdem in der „sonstigen Ausbeute“ in § 99 BGB, der „sonstigen entgeltlichen Finanzierungshilfe“ in § 506 BGB oder den „sonstigen Gründen“ in § 553 BGB.

261  Siehe statt aller: § 98 Nr. 1 BGB („insbesondere bei einer Mühle, einer Schmiede, einem Brauhaus, einer Fabrik, die zu dem Betrieb bestimmten Maschinen und sonstigen Gerätschaften“); § 138 Abs. 2 BGB („Nichtig ist insbesondere ein Rechtsgeschäft, durch das jemand unter Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche […]“); § 439 Abs. 2 BGB („insbesondere Transport-, Wege-, Arbeits- und Materialkosten“); § 573 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 BGB („Ein berechtigtes Interesse des Vermieters an der Beendigung des Mietverhältnisses liegt insbesondere vor, wenn […]); § 605 Nr. 2 BGB („wenn der Entleiher einen vertragswidrigen Gebrauch von der Sache macht, insbesondere unbefugt den Gebrauch einem Dritten überlässt […]“); § 952 Abs. 2 BGB („insbesondere für Hypotheken-, Grundschuld- und Rentenschuldbriefe“); § 1767 Abs. 1 BGB („[…] als Kind angenommen werden, wenn die Annahme sittlich gerechtfertigt ist; dies ist insbesondere anzunehmen, wenn zwischen dem Annehmenden und dem Anzunehmenden ein Eltern-Kind-Verhältnis bereits entstanden ist.“); § 2227 BGB („[…] Testamentsvollstrecker […] entlassen, wenn ein wichtiger Grund vorliegt; ein solcher Grund ist insbesondere grobe Pflichtverletzung oder Unfähigkeit zur ordnungsmäßigen Geschäftsführung.“); Hervorhebungen v. Verf. 262  Siehe zu weiteren ähnlichen Fällen: § 651b Abs. 1 S. 1 Nr. 3 („[…] Unternehmer die Reiseleistungen unter der Bezeichnung „Pauschalreise“ oder unter einer ähnlichen Bezeichnung bewirbt oder auf diese Weise zu verschaffen verspricht.“); § 807 BGB („Karten, Marken oder ähnliche Urkunden, in denen ein Gläubiger nicht bezeichnet ist“); § 827 BGB („geistige Getränke oder ähnliche Mittel“); Hervorhebungen v. Verf.



B. Eigener Lösungsansatz183

Obwohl diese Normen besonders geeignet sind, konstitutive Bedingungen erkennen zu lassen, gelingt dies ebenfalls bei Bestimmungen, die nur ein Merkmal enthalten. Instruktiv ist insoweit das Anwendungsbeispiel von Wank, der den Fallvergleich in § 130 Abs. 1 S. 1 BGB am Normtextmerkmal „zugeht“ demonstriert.263 Auch wenn die Vorschrift keine Tatbestandsvarianten zum Zugangsbegriff bereithält, können doch klare Fälle („positive Kandidaten“) visualisiert werden, in denen die Norm erfüllt ist. Zugegangen ist eine Willenserklärung ohne Weiteres, wenn sie den Empfänger erreicht hat und er sie tatsächlich zur Kenntnis genommen hat. Als hinreichende Bedingung kann insoweit die tatsächliche Kenntnisnahme bestimmt werden. Erreicht die Nachricht den Briefkasten des Erklärungsempfängers, leert er diesen aus Gleichgültigkeit aber nur einmal im Monat, so kann der Zugang gleichermaßen nicht verneint werden. Dies lässt erkennen, dass nicht nur die tatsächliche, sondern bereits die mögliche Kenntnisnahme genügen kann, wenn diese vor dem Zeitpunkt der tatsächlichen zu erwarten ist. Auch die potenzielle Kenntnisnahme kann mithin als konstitutive Bedingung des Normtextmerkmals „zugeht“ anerkannt werden. dd) Konvergenzkontrolle im Überblick Insgesamt beruht die Konvergenzkontrolle auf dem Gedanken, dass die Frage, ob ein Zweifelsfall mit dem Normtext vereinbar ist, nur positiv oder negativ beantwortet werden kann. Weil theoretisch eine exakte Grenze besteht, muss jeder Anwendungsfall auch praktisch der einen oder der anderen Kategorie unterfallen. Um zu ermitteln, zu welcher er zu zählen ist, müssen positive Kandidaten in ihrer Merkmalsstruktur untersucht werden, um so konstitutive Bedingungen für die Kategorie „normtextvereinbar“ herauszulösen. Sind sie ermittelt, kann mit ihnen anschließend sehr präzise entschieden werden, ob ein Sachverhalt unter den Normtext gefasst werden kann oder ob er nicht erfasst wird. 3. Ergebnis zur Grenze des Normtexts Wie gezeigt steht und fällt die Rechtsfortbildung mit der Lücke, die in dieser Arbeit dadurch charakterisiert wird, dass der Normtext vom gebotenen Normzweck abweicht. Ob der Richter das Recht zulässig oder unzulässig fortbildet, ergibt sich aus einem Vergleich von „Normtext“ und dem „gebotenen Normzweck“, wobei jeweils in einer Normtextanalyse bzw. in einer Normzweckanalyse ermittelt werden muss, ob der zu entscheidende Fall einoder auszuschließen ist. 263  Wank,

Die Auslegung von Gesetzen, 2015, S. 50.

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

Mittels der Normtextanalyse kann in drei Stufen bestimmt werden, ob der zu prüfende Sachverhalt unter das weiteste geltungszeitliche und fachsprachliche Normtextverständnis gefasst werden kann. Mit der Evidenzkontrolle weist der Richter den Sachverhalt einer Arbeitskategorie des Drei-Kandidaten-Modells zu. Die Einordnung als positiver, negativer oder neutraler Kandidat ist dann auf der Stufe der Referenzkontrolle mit zusätzlichen Erkenntnismitteln wie gesetzlichen und gerichtlichen Begriffsbestimmungen oder Nachschlagewerken abzusichern. Verbleiben auf den ersten beiden Stufen Zweifelsfälle, ist die Evidenz- und Referenz- um eine Konvergenzkontrolle zu ergänzen. Hierzu sind positive Kandidaten strukturell zu untersuchen, um aus ihnen hinreichende Bedingungen für die Normtextvereinbarkeit abzuleiten. Mit ihrer Hilfe kann sodann endgültig entschieden werden, ob ein Sachverhalt semantisch mit dem Normtext vereinbar ist.

V. Die Grenze des gebotenen Normzwecks Gelangt man zu dem Ergebnis, dass der Fall dem Text unterfällt, bedeutet das aber nicht automatisch, dass die Regelung auf ihn anzuwenden ist. Andersherum bleibt sie nicht unangewendet, wenn der Normtext den Sachverhalt nicht einschließt. Ob nach Maßgabe der Vorschrift zu entscheiden ist, bestimmt sich nämlich danach, ob sie nach ihrer ratio auf ihn Anwendung finden soll. Dementsprechend ist nach dem Lückenbegriff dieser Arbeit im Anschluss an den ersten Schritt in einem zweiten zu prüfen, ob sich die Regelung nach dem gebotenen Normzweck auf ihn erstreckt. 1. Gebotener Normzweck Einleitend ist dazu das Konzept des gebotenen Normzwecks zu präzisieren. Es ist nötig, weil Rechtsprechung und Literatur zwar darin übereinstimmen, dass die Gerichte nicht contra legem judizieren dürfen,264 die Handhabung 264  Zur Unzulässigkeit der contra legem-Rechtsanwendung: BVerfG, Beschl. v. 19. 06. 1973 – 1 BvL 39/69 – Behördliches Beschwerderecht, BVerfGE 35, 263, 280; ebenso: Schwacke, Juristische Methodik, 2011, S. 123; ebenso: Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 246 und 251, obwohl ein „contra-legem-Judizieren […] dann zugelassen werden [soll], wenn wegen Versagens des Gesetzgebers ein Rechtsnotstand droht.“; hierzu grundlegend: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 427; zu den Ausnahmen bei einer subjektivierten Sichtweise: Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 185; anders aber: Gropp, Die Rechtsfortbildung contra legem, 1974, S. 242, für den sich „angesichts der Erkenntnis, daß es keine expliziten Grenzen der Rechtsfortbildung gibt, […] [die] contra legem-Thematik als bloßer Vorwand für die Untersuchung der Struktur richterlichen Entscheidens überhaupt“ erweist.



B. Eigener Lösungsansatz185

dieser Grenze indes Schwierigkeiten bereitet. Abgesehen von der klassischen Problemstellung, ob zur Grenzziehung der subjektive265 oder der objektive Normzweck266 heranzuziehen ist, werden zahlreiche Ausnahmetatbestände für das Verbot der Rechtsfortbildung contra legem behauptet.267 Bezeichnend ist Neuner, der seine Abhandlung zur Rechtsfindung contra legem mit den Worten schließt, dass eine solche „dann, aber auch nur dann, zulässig und geboten [sei], wenn es zu den die Gesetzesbindung tragenden Prinzipien der Volksouveränität und der Rechtssicherheit nicht in Widerspruch steht und von der verfassungsrechtlichen Kompetenzzuweisung zur Normderogation gedeckt“ sei.268 Obwohl dies bereits die hieraus folgende drohende Rechtsunsicherheit erahnen lässt, konkretisiert Neuner seinen Ausnahmetatbestand, der „insbesondere im Hinblick auf das Willkürverbot, die Geschichtlichkeit des Legislativakts sowie das Gebot der Einzelfallgerechtigkeit in Betracht komm[e], sofern der Gedanke des Schutzes des Vertrauens in die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung nicht entgegensteh[e].“269 265  Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 226 und 288, welche die Grenze zur unzulässigen Rechtsfortbildung in der „Wertentscheidung des Gesetzgebers“ sehen; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 184, für den die „Regelungsabsicht des historischen Gesetzgebers“ nicht missachtet werden darf; zu dieser Ansicht tendieren zwischenzeitlich auch beide Senate des BVerfG. Insoweit grundlegend: Voßkuhle/Osterloh/Di Fabio, BVerfRi des Zweiten Senats, abweichende Meinung zu BVerfG, Beschl. v. 15.01.2009 – 2 BvR 2044/07 – Rügeverkümmerung, BVerfGE 122, 248, 282 ff.; bestätigt durch Ersten Senat: BVerfG, Beschl. v. 25.01.2011 – 1 BvR 918/10 – Dreiteilungsmethode, BVerfGE 128, 193, 210: „Der Richter darf sich nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen. Er muss die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren und den Willen des Gesetzgebers unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung bringen.“; gefestigt durch den Zweiten Senat: BVerfG, Urt. v. 19.03.2013 – 2 BvR 2628, 2883/10, 2155/11 – Verständigungsgesetz, BVerfGE 133, 168, 205, der zwar vom „objektivierten Willen des Gesetzgebers“ spricht, aber erneut betont, dass sich die Aufgabe des Richter darin begrenzt sei, die „intendierte Regelungskonzeption“ des Gesetzgebers möglichst zuverlässig zur Geltung zu bringen; siehe außerdem zum Rechtsprechungswandel: Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers, 2017, S. 85 ff., der die Position des BVerfG den „Vereinigungstheorien“ zurechnet. 266  Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 246; früher ebenfalls noch zu einer objektivierten Sichtweise neigend: BVerfG, Beschl. v. 17. 05. 1960 – 2 BvL 11/59, 11/60 – Nachkonstitutioneller Bestätigungswille, BVerfGE 11, 126, 130. 267  Siehe dazu: Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 246 und 251, für die ein „contra-legem-Judizieren […] dann zugelassen werden [soll], wenn wegen Versagens des Gesetzgebers ein Rechtsnotstand droht.“; hierzu grundlegend: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 427; ferner: Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 185, der weitere Ausnahmen formuliert. 268  Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 185. 269  Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 185.

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

Vor diesem Hintergrund erscheint bereits fraglich, welcher methodische Mehrwert erreicht wird, wenn man die Rechtsanwendung als contra legem bezeichnet und sie damit generell verbietet, zugleich aber mehrere Ausnahmetatbestände anerkennt. Die herrschende Meinung ist in dieser Hinsicht nicht nur irreführend,270 es erweist sich auch in der Sache als unzutreffend, eine konkrete Rechtsanwendung als „contra legem“ zu bezeichnen, wenn sie gegen die Wertung der Einzelnorm verstößt, aber infolge gleichrangiger oder höherrangiger Wertungen geboten ist. Derartigen Problemen unterliegt das Konzept des gebotenen Normzwecks nicht, da es berücksichtigt, dass die ratio legis der Einzelnorm nicht den endgültigen Maßstab für die Rechtsanwendung bildet, wenn eine abweichende ratio legis höherrangiger Regelungen eine andere Bewertung gebietet. Um dies zu bestimmen, ist eine Normzweckanalyse vonnöten, die von der anzuwendenden Norm des Privatrechts ausgeht und sich von den Wertungen des gleichrangigen Rechts zu jenen des höherrangigen Verfassungs- und Unionsrechts vorarbeitet. Sind alle Wertentscheidungen ermittelt und etwaige Wertkollisionen aufgelöst, steht im Ergebnis der gebotene Normzweck fest, der eine contra legem-Grenze konstituiert, die keine Ausnahmen kennt.271 2. Normzweckanalyse Ob der zu prüfende Sachverhalt mit dem gebotenen Normzweck vereinbar ist oder ihn verlässt, kann mithin erst nach einer umfassenden Normzweckanalyse entschieden werden, die in vier Stufen durchzuführen ist. Auf erster Stufe dient die Wertung der Einzelnorm als Maßstab, um zu ermitteln, ob der Sachverhalt ihr unterfällt. Ist er mit ihr nicht in Einklang zu bringen und ergibt sich auch aus gleichrangigen oder höherrangigen Wertungen keine andere Beurteilung, ist die Grenze des gebotenen Normzwecks überschritten. Ist der Fall von der ratio der Einzelnorm hingegen gedeckt, ist auf zweiter Stufe zu hinterfragen, ob nicht eine Wertung des gleichrangigen Rechts die Rechtsanwendung gleichwohl verbietet. Ist ein derartiger Einfluss festzustellen und gebietet das höherrangige Recht kein anderes Ergebnis, ist der Sachverhalt mit der Wertung der Ausgangsnorm vereinbar, die Grenze des gebotenen Normzwecks aber dennoch überschritten. Ergibt sich auf den ersten beiden Stufen, dass der Fall grundsätzlich eingeschlossen ist, kann die 270  Möllers,

Juristische Methodenlehre, 2020, § 13 Rn. 23. gebotene Normzweck ist als „lex“ im Sinne der contra-legem-Grenze zu verstehen. Für die Absolutheit der contra-legem-Grenze: Möllers, in: Altmeppen/Fitz/ Honsell (Hrsg.), Festschrift Roth, 2011, S. 474; Meier/Jocham, JuS 2016, 392, 394; Schwacke, Juristische Methodik, 2011, S. 123; Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 13 Rn. 23. 271  Der



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Grenze des gebotenen Normzwecks trotz alledem überschritten sein, wenn die Einbeziehung des Sachverhalts auf dritter Stufe mit Verfassungsrecht unvereinbar ist und das Unionsrecht den Wertungen des Verfassungsrechts nicht entgegensteht. Befindet sich die angedachte Rechtsfortbildung mit den Wertungen auf den ersten drei Stufen im Einklang, ist auf vierter Stufe zu prüfen, ob die Fortbildung auch mit Unionsrecht zu vereinen ist. Ist dies der Fall, sind die Wertungen der vorherigen Stufen unbeachtlich, weil die Grenze des gebotenen Normzwecks jedenfalls auf letzter Stufe überschritten ist. Andersherum ist denkbar, dass eine vorausgehende Stufe die Fortbildung verbietet, eine Wertung des Verfassungs- oder Europarechts sie aber gleichwohl gestattet. In diesem Fall ist die Grenze des gebotenen Normzwecks nicht überschritten. a) Erste Stufe: Die Wertung der Einzelnorm Die Normzweckanalyse beginnt mit der Wertung der Einzelnorm, wobei eine ausdrücklich geäußerte Regelungsabsicht des Gesetzgebers verfassungsrechtlich den Ausgangspunkt bilden muss. Ist sie nicht zweifelsfrei feststellbar oder nicht mehr gültig, muss ermittelt werden, was der Gesetzgeber gewollt hatte, ohne dies explizit mitzuteilen oder gewollt hätte, wenn ihm die Ungültigkeit bekannt gewesen wäre. aa) Grundsatz: Explizit mitgeteilter Normzweck Wie eingangs skizziert streitet das Methodenschrifttum darüber, ob der Wille des Gesetzes272 oder der Wille des Gesetzgebers273 für das Verständnis der Norm maßgebend ist. Obwohl beide Ansichten wie gezeigt Fiktionen in sich tragen und irreführend benannt sind, ist der subjektive Ansatz zu bevorzugen, soweit mit dieser Bezeichnung die Regelungsabsicht der unmittelbar demokratisch legitimierten Legislative besonders gewichtet wird. Dies bedeutet aber nicht, dass ein einmal mitgeteilter Wille des historischen Gesetzgebers unumstößlich ist. Vielmehr ist ein geäußerter Normzweck der Legislative nur zu respektieren, soweit er weiterhin Geltung beansprucht. Ist eine 272  Zur objektiven Theorie: Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S.  197 f.; Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 254; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 426; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 245. 273  Zur subjektiven Theorie: Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 226 und 288, welche die Grenze zur unzulässigen Rechtsfortbildung in der „Wertentscheidung des Gesetzgebers“ sehen; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 184, für den die „Regelungsabsicht des historischen Gesetzgebers“ nicht missachtet werden darf.

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Regelungsabsicht nicht explizit ausgedrückt oder der von Gesetzgeber benannte Zweck ungültig, ist dann anhand objektiver Umstände zu ermitteln, welchen Normzweck der Gesetzgeber konkludent bestimmt hatte oder hätte. Objektive Kriterien sind daher wesentlich, um den Willen des Gesetzgebers als subjektives Kriterium zu ermitteln. Wie nunmehr auch beide Senate des BVerfG annehmen,274 wird nur die „subjektive Theorie“ der Kompetenzverteilung zwischen gesetzgebender und rechtsprechender Gewalt gerecht. Gerichten ist nicht gestattet, sich „aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz [zu] begeben, also objektiv betrachtet sich der Bindung an Recht und Gesetz [zu] entziehen.“275 Deshalb dürfen Wertentscheidungen des Gesetzgebers nicht eigenmächtig durch rechtspolitische des Gerichts ersetzt werden.276 Ebendies geschieht jedoch, wenn eine ausdrückliche Regelungsabsicht des Gesetzgebers missachtet und durch eine vermeintlich „objektive“ ausgewechselt wird, die erst durch das Gericht ihre Gestalt annimmt. Dass die Richter an den „vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes“277 gebunden sind, ist in einer parlamentarischen Demokratie sachlich geboten. Wie bereits dargelegt wurde,278 kann es weder einen Willen des Gesetzes noch einen Willen des Gesetzgebers geben, da ein lebloser Normtext279 genauso wenig 274  Grundlegend: Voßkuhle/Osterloh/Di Fabio, BVerfRi des Zweiten Senats, abweichende Meinung zu BVerfG, Beschl. v. 15. 01. 2009 – 2 BvR 2044/07 – Rügeverkümmerung, BVerfGE 122, 248, 282 ff.; bestätigt durch den Ersten Senat: BVerfG, Beschl. v. 25. 01. 2011 – 1 BvR 918/10 – Dreiteilungsmethode, BVerfGE 128, 193, 210; gefestigt durch den Zweiten Senat: BVerfG, Urt. v. 19. 03. 2013 – 2 BvR 2628, 2883/10, 2155/11 – Verständigungsgesetz, BVerfGE 133, 168, 205, der zwar vom „objektivierten Willen des Gesetzgebers“ spricht, aber erneut betont, dass sich die Aufgabe des Richter darin begrenzt sei, die „intendierte Regelungskonzeption“ des Gesetzgebers möglichst zuverlässig zur Geltung zu bringen; siehe zu diesem Wandel in der Rechtsprechung des BVerfG auch: Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers, 2017, S. 85 ff. 275  BVerfG, Beschl. v. 03.  11.  1992 – 1 BvR 1243/88 – Erörterungsgebühr, BVerfGE 87, 273, 280; BVerfG, Beschl. v. 12. 11. 1997 – 1 BvR 479/92 und 307/94 – Kind als Schaden, BVerfGE 96, 375, 394; BVerfG, Beschl. v. 25. 01. 2011 – 1 BvR 918/10 – Dreiteilungsmethode, BVerfGE 128, 193, 210; jüngst bestätigt: BVerfG, Beschl. v. 23. 05. 2016 – 1 BvR 2230/15, 1 BvR 2231/15, NJW-RR 2016, 1366, 1369. 276  Siehe dazu: BVerfG, Beschl. v. 14. 05. 1985 – 1 BvR 233, 341/81 – Brokdorf, BVerfGE 69, 315, 372; BVerfG, Beschl. v. 11. 10. 1978 – 1 BvR 84/74 – Sachverständigenhaftung, BVerfGE 49, 304, 322; dazu jüngst: BVerfG, Beschl. v. 06. 06. 2018 – 1 BvL 7/14 und 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774, 779. 277  So explizit: BVerfG, Beschl. v. 12. 11. 1997 – 1 BvR 479/92 und 307/94 – Kind als Schaden, BVerfGE 96, 375, 394. 278  Siehe dazu bereits unter: Zweiter Teil  A. I. 2. 279  Meier/Jocham, JuS 2016, 392, 396; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2020, Rn. 718.



B. Eigener Lösungsansatz189

wie ein abstraktes Verfassungsorgan280 in der Lage ist, einen psychologischen Willen zu bilden. Stattdessen wird nach beiden Ansichten der natürliche Wille eines anderen als normativer Wille zugerechnet. Insoweit überzeugt wie erwähnt aber nur, dass der Wille der unmittelbar demokratisch legitimierten Mehrheit stärker gewichtet wird als der Wille eines Einzelnen, der als Zivilrichter weder vom Volk gewählt wurde noch abgewählt werden kann.281 Richtig ist indes, dass nicht sämtliche Stellungnahmen in den Materialien282 ohne Weiteres als Legislativwillen bezeichnet werden können. Berechtigt wäre insoweit der Einwand, dass dann zwar nicht der Wille einzelner Richter, aber der Wille weniger Gesetzesverfasser übernommen würde, die regelmäßig Ministerialbeamte283 und daher ebenfalls nicht unmittelbar demokratisch legitimiert sind. Ist eine Regelungsabsicht in den Gesetzesmaterialien mitgeteilt, ist die Stellungnahme aber jedenfalls dann dem Gesetzgeber als normativer Wille zurechenbar, wenn sich das zuständige284 Legislativ­ organ die entsprechende Äußerung durch Abstimmung zu eigen gemacht hat. Dass Akte eines Individuums dem Kollektiv überhaupt zugeschrieben werden können, liegt darin begründet, dass das Gesetzgebungsverfahren notwendigerweise als arbeitsteiliger Prozess ausgestaltet ist.285 Die Zurechnung einer derartigen Äußerung ist zum einen angezeigt, wenn die Gesetzesmaterialien den ausdrücklichen Hinweis enthalten, dass eine bestimmte Zwecksetzung mehrheitlich angenommen wurde.286 Zum anderen ist die Zurechnung aber auch ohne einen solchen Hinweis nachvollziehbar, wenn man sich auf die Struktur des Gesetzgebungsverfahrens zurückbesinnt. Insoweit bildet nämlich der Gesetzesentwurf und mit ihm die darin geäußerte Regelungsabsicht 280  Fischer,

ZfA 2002, 215, 231. rechtspolitischen Überlegung der Richterwahl: Rethorn, Kodifikationsgerechte Rechtsprechung, 1979, S. 96 f. 282  Zu einem umfassenden Überblick zu den Gesetzesmaterialien: Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers, 2017, S. 25 ff. 283  Dazu und zum Gesetzesverfasser in Abgrenzung zum Gesetzgeber: Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers, 2017, S. 25; anstelle von „Gesetzesverfasser“ sprechen Baden, Gesetzgebung und Gesetzesanwendung im Kommunikationsprozeß, 1977, S. 58 von „Gesetze-Macher“. 284  Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers, 2017, S. 168 f. und 212. 285  Siehe dazu: Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers, 2017, S. 145 ff. und 212. 286  Exemplarisch ist hierfür die Stellungnahme zum Regelungszweck des § 165 BGB: Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band, 1899, S. 737 (= Protokolle, S. 286), wonach es die „Mehrheit […] dagegen mit Rücksicht auf die erhebliche praktische Bedeutung der Vertretung durch Minderjährige für zweckmäßiger [hielt], den Gedanken des Antrags im Gesetze auszusprechen“ [Hervorhebungen v. Verf.]. 281  Zur

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die Diskussionsgrundlage für die Beratungen im Bundestag. Weil der Gesetzesentwurf im Zuge der drei Lesungen und in der Ausschussarbeit bis zur Abstimmungsreife gebracht wird,287 kann davon ausgegangen werden, dass „der Gesetzgeber“ die in der Stellungnahme mitgeteilte Regelungsabsicht übernimmt, wenn ihr im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens nicht widersprochen und der Gesetzesentwurf ohne diesbezügliche Änderungen von der Mehrheit angenommen wird. Gelangt man auf diesem Weg zu einem ausdrücklichen Gesetzgeberwillen, der nach wie vor Gültigkeit beansprucht288 und ist der Sachverhalt hiervon nicht mehr umfasst, ist die Grenze des gebotenen Normzwecks überschritten, wenn sich nicht aus Wertungen des gleichrangigen oder höherrangigen Rechts eine andere Bewertung ergibt. Aus diesem Grund kann der Erblasser einem Abkömmling den Pflichtteil nicht wegen Entfremdung oder Drogensucht289 entziehen, weil der Gesetzgeber die Pflichtteilsentziehungsgründe in § 2333 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 BGB abschließend verstanden wissen wollte.290 So wurde noch im ersten Entwurf ausdrücklich betont, dass „der Erblasser [zur Entziehung des Pflichtteils] nur in den Fällen befugt“ ist, die im Gesetz genannt sind.291 Ziel war es, zu unterstreichen, dass „die Fälle der Zulässigkeit einer Entziehung nicht im Wege der Rechts- oder Gesetzesanalogie vermehrt werden können.“292 Obwohl die Formulierung aus redaktionellen Gründen 287  Zu dieser Aufgabe der Ausschüsse und zum Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens: Gröpl, Staatsrecht I, 2020, Rn. 1002 und 1123 ff. 288  Dies wird in der Regel vermutet; zum Kontinuitätsargument: Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 4 Rn. 170. 289  Zu diesen Beispielen: Müller-Engels, in: BeckOK-BGB, 2020, § 2333 BGB, Rn. 7. 290  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, V. Band, 1899, S. 228 (= Motive, S. 429), wonach die „enthaltene Regelung erschöpfend ist.“; außerdem zur abschließenden Natur: Jakobs/Schubert, Die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuches in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen, Erbrecht: §§ 19. 2. 2385, 2. Teilband, 2002, S. 2002; ferner dazu: RG, Urt. v. 11. 11. 1941 – VII 73/41, RGZ 168, 39, 41; BGH, Urt. v. 01. 03. 1974 – IV ZR 58/72, NJW 1974, 1084, 1085; Leipold, Erbrecht, 2020, Rn. 854. 291  Im ersten Entwurf noch § 2000 S. 1: „Zu der Anordnung, daß der Pflichttheilsberechtigte den Pflichttheil nicht oder nur zum Theile oder nur mit Beschränkungen oder Beschwerungen erhalten soll (Entziehung des Pflichttheiles), ist der Erblasser nur in den Fällen befugt, welche in den §§ 20. 1. 2005 bezeichnet sind.“ [Hervorhebung v. Verf.]; zur Gegenüberstellung der Normen zur Entziehung des Pflichtteils im ersten und zweiten Entwurf, in der Bundesratsvorlage, der Reichstagsvorlage und im Gesetzbuch: Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, V. Band, 1899, S. LVII; vertiefend: Jakobs/Schubert, Die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuches in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen, Erbrecht: §§ 19. 2. 2385, 2. Teilband, 2002, S. 1999 ff. 292  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, V. Band, 1899, S. 228 (= Motive, S. 429).



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gestrichen wurde, war damit keine sachliche Änderung verbunden.293 Ein Sachverhalt jenseits der § 2333 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 BGB ist in der Folge nicht nur mit den Normtext, sondern auch mit dem gebotenen Normzweck unvereinbar. bb) Ausnahme: Nicht explizit mitgeteilter oder mitgeteilter ungültiger Normzweck Lässt sich den Gesetzesmaterialien kein ausdrücklicher Legislativwille entnehmen oder ist ein solcher zwar vorhanden, aber nicht mehr gültig, ist zu ermitteln, was der Gesetzgeber ohne dies explizit mitzuteilen gewollt hatte oder was er in Kenntnis seiner ungültigen Zwecksetzung gewollt hätte.294 Bevor zu betrachten ist, wie ein expliziter Gesetzgeberwille ungültig werden kann, ist zu skizzieren, wie es gelingt, eine Regelungsabsicht zu identifizieren, ohne dass eine Stellungnahme in den Materialien gefunden werden kann. Dass die Legislative auch einen Regelungswillen hat, wenn die Gesetzesmaterialien schweigen, ergibt sich schon daraus, dass sie keine „zwecklose“ Bestimmung erlassen würde. Wird er nicht explizit mitgeteilt, muss anhand objektiver Gegebenheiten erschlossen werden, was die Legislative mit der Regelung beabsichtigt hat oder beabsichtigt hätte. Hierzu können die Mate­ rialien hilfreich sein, um über die Umstände Aufschluss zu geben, die den Normerlass begleitet haben. Hierdurch können die Beweggründe der Legislative offengelegt werden, wenn zwar zu der zu untersuchenden Rechtsfrage nichts mitgeteilt wurde, aber im Zusammenhang mit einer ähnlichen Fragestellung eine gesetzgeberische Wertentscheidung erkennbar wird. Weiterhelfen wird oftmals bereits der Wortlaut der maßgeblichen Bestimmungen, aus dem etwa eine privilegierende Wertung gefolgert werden kann, wenn in einem Normtext ein Sachverhalt gegenüber einem anderen bevorzugt wird. Exemplarisch ist § 993 Abs. 1 Hs. 2 BGB, bei dem bereits aus der amtlichen Überschrift und der Gesetzesformulierung ersichtlich wird, dass der redliche Besitzer bessergestellt werden soll. Ferner ist die Gesetzessystematik einzubeziehen, die es häufig erlaubt, auf gesetzgeberische Wertungen zu schließen. So kann aus einem Normtextvergleich von § 687 Abs. 1 und Abs. 2 BGB auch ohne Stellungnahme in den Gesetzesmaterialien die Wertentscheidung herausgelöst werden, dass die irrtümliche Einmischung in fremde Angelegenheiten weniger gravierend ist als die vorsätzliche. Ist kein Regelungszweck mitgeteilt, sind folglich grammatische, systematische und historische 293  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, V. Band, 1899, S. 798 (= Protokolle, S. 7553). 294  Reimer, Juristische Methodenlehre, 2020, Rn. 253 nennt dies geltungserhaltende Interpretation.

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Gesichtspunkte zu bemühen, um die teleologischen Leitlinien der Norm abzuleiten. (1) Normzweckausfall: Legislativwille vermeintlich inexistent Hat der Gesetzgeber vermeintlich keine Ziele verfolgt, fehlt in Wahrheit meist nur eine ausdrückliche Mitteilung, welche Zwecksetzung er vor Augen hatte. Exemplarisch ist die Sozialplan-Entscheidung des BVerfG, in welcher der Zweite Senat entschied, dass die „Einordnung von Sozialplanabfindungen als Konkursforderung im Range vor § 61 Abs. 1 Nr. 1 KO kraft Richterrechts […] mit der Verfassung unvereinbar“ waren.295 Insoweit war zwar weder zur Konkursordnung noch aus den Materialien zum Betriebsverfassungsgesetz erkennbar, ob der Gesetzgeber wollte, dass „im Konkurs ein Sozialplan aufzustellen ist […] [und] welchen Rang Sozialplanabfindungen gegebenenfalls einnehmen sollen.“296 Ein gegenteiliger Legislativwille ergab sich jedoch aus dem gesetzgeberischen System zur Konkursordnung. Jedes Konkursvorrecht der § 61 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 KO begründete eine Ausnahme zum Grundsatz der gleichmäßigen Befriedigung aller Konkursgläubiger.297 Soweit ein solches gesetzlich nicht eingeräumt war, blieb es „bei der Regel, daß Forderungen gegen den Gemeinschuldner einfache Konkursforderungen im Range des § 61 Abs. 1 Nr. 6 KO sind.“298 Obwohl ein expliziter Legislativwille nicht ersichtlich war, konnte mithilfe systematischer Erwägungen ein eindeutiger Regelungszweck identifiziert werden, welcher der Rechtsfortbildung in diesem Fall entgegenstand. (2) Normzweckstörung: Legislativwille gegenstandslos Ferner ist es möglich, dass Äußerungen zur Zwecksetzung in den Mate­ rialien zwar zu finden sind, sie aber entweder nicht genügen, um einen konkreten Legislativwillen hinreichend zu stützen oder die mitgeteilte ratio legis aus anderen Gründen gegenstandslos ist. Hierzu kann es beispielsweise kommen, wenn sich mehrere Stellungnahmen widersprechen,299 die Zweck295  BVerfG, Beschl. v. 19. 10. 1983 – 2 BvR 485, 486/80 – Sozialplan, BVerfGE 65, 182, 190. 296  BVerfG, Beschl. v. 19. 10. 1983 – 2 BvR 485, 486/80 – Sozialplan, BVerfGE 65, 182, 192 f. 297  BVerfG, Beschl. v. 19. 10. 1983 – 2 BvR 485, 486/80 – Sozialplan, BVerfGE 65, 182, 191. 298  BVerfG, Beschl. v. 19. 10. 1983 – 2 BvR 485, 486/80 – Sozialplan, BVerfGE 65, 182, 191. 299  Siehe dazu: Reimer, Juristische Methodenlehre, 2020, Rn. 253, der bei Wertungswidersprüchlichkeit oder Perplexität annimmt, dass „der Interpret die schwierige



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setzung auf einem Irrtum beruht,300 der Zweck anderweitig unerreichbar ist oder er nicht verfolgt werden darf. Letzteres ist insbesondere dann anzunehmen, wenn der Regelungswille des historischen Gesetzgebers gegen die Verfassung verstößt und in der Folge nichtig ist.301 Ebendies war bei § 1300 BGB a. F. geschehen, welcher der jungfräulichen Verlobten eine Entschädigung in Geld gewährte, wenn sie dem Verlobten den vorehelichen Beischlaf gestattete und das Verlöbnis ohne Eheschließung aufgehoben wurde.302 Ausweislich der Protokolle wurde diskutiert, den Anspruch auf die voreheliche Schwängerung zu beschränken, weil „die Schande [dann] wenigstens schon eine offenbare sei.“303 Dem wurde indes mehrheitlich entgegengehalten, schon „die Schwächung könne bekannt werden oder sein“. Schließlich habe die „Braut […] dem Bräutigam den Beischlaf nur gestattet, weil sie in der Erwartung des Vollzuges des Verlöbnisses, in der Aussicht auf die künftige Eheschließung habe hoffen dürfen, ihr Fehltritt werde ihr oder ihrem Kinde einen Schaden nicht bringen.“304 Regelungszweck des § 1300 BGB war insoweit, die Braut für einen Makel zu entschädigen, den sie dadurch erleidet, dass sie den vorehelichen Beischlaf vollzieht und anschließend eine Heirat ausbleibt. Unbenommen aller guten Absichten des historischen BGB-Gesetzgebers kann eine solche ratio legis vor dem Hintergrund des Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG keinen Bestand haben. Weil die explizite Regelungsabsicht illegal war und eine rechtmäßige nicht festgestellt werden konnte, war es nur konsequent, dass das Amtsgericht Münster den vorkonstitutionellen § 1300 BGB a. F. als verfassungswidrig außer Acht gelassen und die entsprechende

Aufgabe und die Befugnis [hat], anhand der weiteren Auslegungsgesichtspunkte die Norm im Wege einer geltungserhaltenden Interpretation zu retten“; allgemein zu Wertungswidersprüchen samt einigen Beispielen: Engisch, Einführung in das juristische Denken, 2018, S. 228 ff. 300  Zum Irrtum des Gesetzgebers: Gropp, Die Rechtsfortbildung contra legem, 1974, S. 41 ff., der zwischen Anschauungsfehlern, Wertungswidersprüchen und unrichtiger Zweck-Mittel-Relation unterscheidet; Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers, 2017, S. 129 f. 301  Reimer, Juristische Methodenlehre, 2020, Rn. 254, wonach „Regelungsabsichten des historischen Normgebers nicht binden, wenn sie gegen Verfassungsrecht verstoßen. 302  § 1300 Abs. 1 BGB i. d. F. v. 01. 01. 1900: Hat eine unbescholtene Verlobte ihrem Verlobten die Beiwohnung gestattet, so kann sie, wenn die Voraussetzungen des § 1298 oder des § 1299 vorliegen, auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld verlangen. 303  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, IV. Band, 1899, S. 681 (= Protokolle, S. 6242). 304  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, IV. Band, 1899, S. 680 (= Protokolle, S. 6242) [Hervorhebung v. Verf.].

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

Klage einer Verlobten im Jahr 1992 abgewiesen hatte.305 Dabei ist jedoch zu beachten, dass den Gerichten die Normverwerfungskompetenz nur für vorkonstitutionelle Normen des Privatrechts zusteht, die nicht nachkonstitutionell bestätigt wurden.306 Ist die Norm hingegen als nachkonstitutionelle einzustufen, ist die Vorlagepflicht nach Art. 100 GG zu wahren, soweit eine verfassungskonforme Fortbildung307 aufgrund des eindeutigen entgegenstehenden Legislativwillens ausgeschlossen ist.308 Ist hingegen festzustellen, dass der geäußerte Gesetzgeberwille gegenstandslos ist und Art. 100 GG keine Vorlage gebietet, ist erneut mithilfe von Wortlaut, Systematik und Historie zu ermitteln, welchen Zweck der Gesetzgeber der Bestimmung gegeben hätte, wenn ihm klar gewesen wäre, dass seine Äußerungen nicht geeignet sind, den Zweck hinreichend zu beschreiben. (3) Normzweckerreichung: Legislativwille vollendet Weiter ist vorstellbar, dass der Normzweck, wie er in den Gesetzesmate­ rialien zum Ausdruck kommt, für sich genommen nicht zu beanstanden ist, die ursprüngliche Regelungsabsicht aber eine konkrete Zielvorgabe – wie die punktuelle Beseitigung konkreter Missstände – im Sinn hatte, die nun aber in

305  AG

Münster, Urt. v. 08. 12. 1992 – 50 C 628/92, NJW 1993, 1720. nachkonstitutionellen Bestätigung: BVerfG, Beschl. v. 17. 05. 1960 – 2 BvL 11/59, 11/60 – Nachkonstitutioneller Bestätigungswille, BVerfGE 11, 126, 131; zur Beschränkung des Normverwerfungsmonopols auf formelle, nachkonstitutionelle Rechtsnormen: Detterbeck, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 100 GG, Rn. 2; Morgenthaler, in: BeckOK-GG, 2020, Art. 100 GG, Rn. 12. 307  Kritisch zur verfassungskonformen Rechtsfortbildung: Stern, NJW 1958, 1435, der hiermit aber nur den Fall meint, dass der Rechtsanwender „anstatt des gesetzgeberischen Werturteils sein eigenes“ setzt; Geis, NJW 1992, 2938, 2939 (indes im Kontext einer strafrechtlichen Entscheidung); Voßkuhle, AöR 125 (2000), 177, 185 ff., der seine gern zitierte Aussage zur „Unzulässigkeit verfassungskonformer Rechtsfortbildung“ auf S. 197 ausdrücklich nur auf die verfassungskonforme Fortbildung des einfachgesetzlichen Rechts durch das BVerfG (!) bezieht; hingegen zu Recht für eine verfassungskonforme Rechtsfortbildung: Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 130; Herresthal, JuS 2014, 289, 297; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 161. 308  Zum favor-legis-Gedanken der verfassungskonformen Rechtsfortbildung: Herresthal, JuS 2014, 289, 297; Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 5 Rn. 23 f.; ebenso für die verfassungskonforme Auslegung: Prümm, Verfassung und Methodik, 1976, S. 62 f. („normerhaltende Prinzip“); Campiche, Die verfassungskonforme Auslegung, 1978, S. 6 ff.; zum Vorrang der verfassungskonformen Auslegung gegenüber der Richtervorlage nach Art. 100 GG: Lindner, Öffentliches Recht, 2017, Rn. 584. 306  Zur



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Anbetracht gesellschaftlicher Veränderungen erreicht wurde.309 Auch hier ist, um ein „cessante ratione legis cessat lex ipsa“310 zu vermeiden, ergänzend zu ermitteln, was der Gesetzgeber in dieser Situation in Kenntnis der Norm­ zweckerreichung bestimmt hätte. Soweit sich aus dem gleich- oder höherrangigen Recht keine andere Beurteilung ergibt, repräsentiert der so ermittelte Legislativwille den gebotenen Normzweck. Ergibt die Normzweckanalyse jedoch, dass die Bestimmung ausschließlich dem unstreitig vollendeten Zweck diente, muss die Vorschrift unangewendet bleiben. (4) Normzweckfortfall: Legislativwille weggefallen Identisch ist die Situation, wenn ein ausdrücklicher Legislativwille ursprünglich bestand, er seinerzeit ebenfalls nicht zu beanstanden war, er aber infolge tatsächlicher Gegebenheiten zwischenzeitlich entfallen ist. Eintreten kann dies in erster Linie dann, wenn sich die Verhältnisse, die der Gesetzgeber im Blick hatte, aufgrund technischer, wirtschaftlicher oder gesellschaft­ licher Entwicklungen grundlegend verändert haben.311 Ein Beispiel bietet die Geldentschädigung bei schwerer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, die der BGH gewährt und die das BVerfG im Soraya-Beschluss312 gebilligt hatte, obwohl sie gem. § 253 BGB a. F. nur in den gesetzlich bestimmten Fällen gefordert werden konnte und ein solcher nicht bestand.313 Ausweislich der Materialien müssten zwar „freilich an sich auch die sog. idealen Rechte gegen widerrechtliche Verletzung gesichert hierzu: Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 148. dazu: Löwer, Cessante ratione legis cessat ipsa lex, 1989, S. 6 ff.; zur Bedeutung der cessante-Regel im heutigen Verfassungskontext: Raisch, Vom Nutzung der überkommenen Auslegungskanones für die praktische Rechtsanwendung, 1988, S. 51; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 351; Reimer, Juristische Methodenlehre, 2020, Rn. 254 und 615. 311  Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 148; Rüthers/Höpfner, JZ 2005, 21, 25. 312  BVerfG, Beschl. v. 14. 02. 1973 – 1 BvR 112/65 – Soraya, BVerfGE 34, 269, 292: „Der Bundesgerichtshof hat den § 253 BGB weder im ganzen als nicht mehr bindendes Recht betrachtet noch gar als verfassungswidrig kennzeichnen wollen (eine Möglichkeit, die ihm, da es sich um vorkonstitutionelles Recht handelt, offengestanden hätte). Er hat das in der Bestimmung zum Ausdruck kommende Enumerationsprinzip unangetastet gelassen und lediglich die Fälle, in denen der Gesetzgeber bereits die Erstattung immateriellen Schadens verfügt hat, um einen Fall erweitert, in dem ihm die Entwicklung der Lebensverhältnisse, aber auch ein jus superveniens von höherem Rang, nämlich die Artikel 1 und 2 Absatz 1 des Grundgesetzes, diese Entscheidung als zwingend gefordert erscheinen ließ.“ 313  Zur Entscheidung des Bundesgerichtshofs, die sodann Gegenstand der Verfassungsbeschwerde war: BGH, Urt. v. 08. 12. 1964 – VI ZR 201/63, NJW 1965, 685. 309  Näher

310  Eingehend

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[sein], und es kann dieser Schutz nicht ausschließlich in das Strafrecht verlegt werden; vielmehr [sei] dem Verletzten geeignetenfalls nach den Postulaten der Gerechtigkeit auch eine Schadloshaltung zu gewähren.“314 „Dem Hauptbedürfnisse [sei aber] genügt durch die Vorschriften über die Buße und über den Schutz des geistigen Eigenthumes, sowie durch die […] in besonders geeigneten Fällen ausnahmsweise gewährte Möglichkeit eines Geld­ ersatzes für einen anderen als einen Vermögensschaden.“315 „Es widerstrebe der herrschenden Volksauffassung, die immateriellen Lebensgüter auf gleiche Linie mit den Vermögensgütern zu stellen und einen idealen Schaden mit Geld aufzuwiegen. Das BGB dürfe diesen zumal in den besseren Volkskreisen vertretenen Anschauungen sich nicht entgegenstellen und das gegenteilige Prinzip einführen. Aus diesem würden nur die schlechteren Elemente Vortheil ziehen, Gewinnsucht, Eigennutz und Begehrlichkeit würden gesteigert und aus unlauteren Motiven zahlreiche chikanöse [sic!] Prozesse angestrengt werden.“316

Besonders in Anbetracht der letzten Stellungnahme ist kaum zu bestreiten, dass eine zivilrechtliche Geldentschädigung bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen ursprünglich nicht gewährt werden sollte. Betrachtet man die einzelnen Erwägungen indes im Lichte der nachkonstitutionellen Entwicklungen, erscheint aber dennoch die gegenteilige Antwort dem Gesetzgeberwillen zu entsprechen. Die Einteilung der Bevölkerung in bessere Volkskreise und schlechtere ist nicht nur überholt, sondern seit Inkrafttreten des Grundgesetzes sogar verfassungswidrig.317 Ferner hat sich gezeigt, dass eine Geldentschädigung bei schwerwiegenden Persönlichkeitsrechtsverletzungen „Gewinnsucht, Eigennutz und Begehrlichkeit“ nicht steigert, sondern umgekehrt ein solches Instrument erforderlich ist, um gerade solchen unlauteren Motiven der Gegenseite Einhalt zu gebieten. Nicht vorhergesehen hatte der Gesetzgeber offenbar die Entwicklung auf tatsächlicher Ebene, dass Persönlichkeitsrechtsverletzungen kommerzialisiert werden können und der in der Folge zu erwartende Gewinn anders als beispielsweise bei der Verfügung eines Nichtberechtigten über das Recht an einer Sache gem. § 816 BGB auch durch eine erfolgreiche Beseitigungs- oder Unterlassungsklage nicht mehr entzogen werden kann. Zuletzt geht aus den Materialien unmissverständlich hervor, dass ein Schutz existieren müsse,318 dem aber „durch die Vorschriften 314  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 12 (= Motive, S. 22). 315  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 12 (= Motive, S. 22 f.). 316  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 517 (= Protokolle, S. 1247). 317  Schiemann, in: Staudinger, BGB, 2017, § 253 BGB, Rn. 2. 318  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 12 (= Motive, S. 22).

für das für das für das für das



B. Eigener Lösungsansatz197

über die Buße und über den Schutz des geistigen Eigenthumes, sowie durch die […] ausnahmsweise gewährte Möglichkeit eines Geldersatzes“319 bereits Rechnung getragen werde. Der Schutz der Persönlichkeitsrechte wurde somit nicht grundsätzlich versagt, die zu diesem Zeitpunkt bestehenden Maßnahmen wurden vielmehr als ausreichend erachtet.320 Dies ergibt sich vor allem aus dem Verweis auf die Vorschriften über die Buße, die in § 188 Abs. 1 StGB a. F. explizit die Möglichkeit vorsahen, „auf Verlangen des Beleidigten […] neben der Strafe auf eine an den Beleidigten zu erlegende Buße bis zum Betrage von zweitausend Thalern“ zu erkennen.321 Eine Geldentschädigung bei der schweren Verletzung von Persönlichkeitsrechten war daher im Gesetz durchaus enthalten.322 Seitdem die Bestimmung des § 188 Abs. 1 StGB a. F. aufgehoben wurde,323 ist dieser Kompensationsmechanismus aber entfallen, der die Entscheidung getragen hatte, auf eine zivilrechtliche Geldentschädigung bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen zu verzichten. Damit ist die vom Gesetzgeber ursprünglich getroffene Entscheidung durch nachträgliche Entwicklungen konterkariert worden, weshalb sie keine Gültigkeit mehr für die Zukunft beanspruchen kann. Infolgedessen sind erneut grammatische, systematische und historische Erwägungen zu bemühen, um zu eruieren, wie die Legislative in Kenntnis der später eingetretenen Umstände entschieden hätte. Auch in dieser Konstellation dürfen die Gerichte jedoch nicht eigenmächtig einen neuartigen rechtspolitischen Zweck setzen, sie sind aber dazu aufgerufen, zu prüfen, ob sich 319  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 12 (= Motive, S. 22 f.). 320  Siehe dazu: Ebert, Pönale Elemente im deutschen Privatrecht, 2004, S. 537, die aus Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 12 (= Motive, S. 22 f.) ebenfalls schließt, dass „die Erste Kommission [meinte,] auf ein über die wenigen im BGB geregelten Einzelfälle hinausgehende Entschädigung für deliktisch zugefügte immaterielle Nachteile entgegen nachdrücklicher Forderungen in der zeitgenössischen Literatur gerade deshalb verzichten zu können, weil […] dem ‚Hauptbedürfnisse […] durch die Vorschriften über die Buße und über den Schutz des geistigen Eigenthumes‘ genügt würde“ [Hervorhebung im Original]. 321  § 188 Abs. 1 StGB in der Fassung vom 01. 01. 1872. 322  Eingehend zur Geldbuße: Ebert, Pönale Elemente im deutschen Privatrecht, 2004, S. 207 ff. und S. 537, nach der sich die Stellungnahme in Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 12 (= Motive, S. 22 f.) „nur so verstehen [lässt], dass die Erste Kommission, wie auch die spätere Rechtsprechung des Reichsgerichts, bei ihren Beratungen davon ausging, § 188 StGB a. F. böte auch die Möglichkeit zur Entschädigung von Nichtvermögensschäden“. 323  Aufgehoben wurde § 188 StGB a. F. mit Wirkung zum 01. 01. 1975 durch das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch (EGStGB) vom 2. März 1974, BGBl. I v. 04. 09. 1974, S.  486.

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ein mutmaßlicher Gesetzgeberwillen anhand der dargestellten Kriterien ableiten lässt. (5) Normzweckänderung: Neuer Legislativwille erkennbar Denkbar ist zuletzt, dass der Gesetzgeber für einen Bereich keinen Regelungswillen hatte, er einen solchen aber später erstmals begründet oder, dass er einen Zweck zwar unmissverständlich in den Materialen festgeschrieben hat, ihn allerdings im Nachhinein abändert. Soweit höherrangige Wertungen keine andere Behandlung gebieten, ist in beiden Fällen nicht entscheidend, dass der Sachverhalt in der historischen Zwecksetzung nicht enthalten war. Maßgeblich ist, ob er nach der jüngeren gesetzgeberischen Stellungnahme von der Bestimmung in Zukunft324 erfasst sein soll. Dass sich die Legislative erneut äußert, kann damit zusammenhängen, dass sie eine Novellierung für erforderlich hält, was oftmals in Reaktion auf eine Rechtsprechungspraxis zu beobachten ist.325 Auf diese Weise wurden beispielsweise die Rechtsprechung zur culpa in contrahendo und zum Wegfall der Geschäftsgrundlage durch den Gesetzgeber im Zuge der Schuldrechtsreform anerkannt. Ausweislich der Begründung im Gesetzesentwurf326 geschah dies, weil sich die culpa in contrahendo „zu einem der zentralen Rechtsinstitute des deutschen Zivilrechts entwickelt“ habe und „deshalb auch im Bürgerlichen Gesetzbuch als der zentralen deutschen Zivilrechtskodifikation ihren textlichen Ausdruck finden“ solle.327 Für die Regelung zum Wegfall der Geschäftsgrundlage wurde betont, dass sie „die von der Rechtsprechung entwickelten Leitlinien in allgemeiner Form im Gesetz niederlegen“ solle.328 Während in diesen beiden Fällen ein Regelungswille erstmals mitgeteilt wurde, ist die Geldentschädigung bei schwerwiegenden Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als Beispiel 324  In st. Rspr. zur Unzulässigkeit rückwirkender authentischer Interpretation: BVerfG, Beschl. v. 17. 06. 2004 – 2 BvR 383/03 – Rechenschaftsbericht, BVerfGE 111, 54, 107; BVerfG, Beschl. v. 21. 07. 2010 – 1 BvR 2530/05, 1 BvL 11, 12, 13/06, BVerfGE 126, 369, 392; BVerfG, Beschl. v. 02. 05. 2012 – 2 BvL 5/10, BVerfGE 131, 20, 37; BVerfG, Beschl. v. 17. 12. 2013 – 1 BvL 5/08, BVerfGE 135, 1, 15; ebenso im Schrifttum: Schnapp, JZ 2011, 1125, 1129 f.; Jacobs/Frieling, ZZP 127 (2014), 137, 154; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 273, der in Fn. 693 mit Blick auf BT-Drucks. 8/3317, S. 9 klarstellt, dass sich „an diesem Regelungswillen der Gesetzgebung […] nichts [ändere], wenn die Bundesregierung nachträglich in einer Stellungnahme die Auffassung vertritt, § 611a BGB schließe die Anwendung der allgemeinen Vorschriften nicht aus.“ 325  Siehe dazu: Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 13 Rn. 38. 326  BT-Drucks. 14/6040, S. 1 ff. 327  BT-Drucks. 14/6040, S. 162. 328  BT-Drucks. 14/6040, S. 93.



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zu nennen, in dem der Gesetzgeber einen abweichenden Willen nachträglich geäußert hat. So findet sich im Gesetzesentwurf zur Einführung des § 253 Abs. 2 BGB n. F. die Klarstellung, dass „Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts [zwar] nicht ausdrücklich in die Aufzählung der Schmerzensgeldansprüche auslösenden Rechtsgutverletzungen aufgenommen“ wurden, dies aber „auch künftig einer Geldentschädigung bei […] erheblichen Persönlichkeitsrechtsverletzungen nicht entgegen“ stehe.329 Wer zuvor noch einen Normzweckfortfall verneint und deshalb die Fortbildung des BGH unter Bezug auf die historische gesetzgeberische Stellungnahme als contra legem abgelehnt hatte, muss daher spätestens seit dieser jüngeren Äußerung anerkennen, dass die Rechtsfortbildung zur Geldentschädigung bei Persönlichkeitsverletzungen jedenfalls für die Zukunft dem Willen des Gesetzgebers entspricht.330 Soweit kein Einfluss höherrangiger Wertungen gegeben ist, bildet der jüngere Legislativwille die Grenze des gebotenen Normzwecks. cc) Zwischenergebnis Festzuhalten ist, dass die Wertung der Einzelnorm vorbehaltlich gleichoder höherrangiger Wertungen die Grenze des gebotenen Normzwecks repräsentiert. Hat die Legislative der Vorschrift ausdrücklich einen bestimmten Regelungszweck gegeben, ist dieser verbindlich, soweit er noch Gültigkeit besitzt. Ist er ungültig oder ist ein expliziter Regelungswille nicht feststellbar, ist mithilfe von Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte zu ermitteln, was der Gesetzgeber gewollt hatte oder in Kenntnis aller Umstände gewollt hätte. Weil im Zuge dessen offengelegt wird, dass der Normzweck ausgehend von objektiven Gegebenheiten erschlossen wird, ist die zu Recht geforderte Methodenehrlichkeit331 in sämtlichen Konstellationen gewahrt. 329  BT-Drucks.

14/7752, S. 24. ist insoweit, dass die ausdrückliche Kodifikation der Geldentschädigung bei schwerwiegender Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bislang noch nicht erfolgt ist. Siehe hierzu noch: BVerfG, Beschl. v. 14. 02. 1973 – 1 BvR 112/65 – Soraya, BVerfGE 34, 269, 272 f., in welcher der Erste Senat die geschichtliche Entwicklung nachzeichnet, wonach die Geldentschädigung bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen jeweils auf Anregung des Deutschen Juristentags in den Jahren 1957 und 1964 in zwei Gesetzesvorhaben Berücksichtigung fand, die aber beide scheiterten. Eindeutig hierzu nun: BT-Drucks. 14/7752, S. 25, wonach angesichts der ausdrücklichen Billigung der Rechtsprechung des BGH zur Geldentschädigung bei Persönlichkeitsverletzungen die Frage, ob „anknüpfend an entsprechende frühere Initiativen eine einfachgesetzliche Klarstellung sinnvoll ist, […] hier dahinstehen“ könne [Hervorhebung v. Verf.]. 331  Zur Methodenehrlichkeit: Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 149; speziell zur Methodenreinheit, -klarheit und -stringenz: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 133. 330  Unerheblich

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b) Zweite Stufe: Die Wertung gleichrangiger Normen Ergibt sich auf der ersten Stufe der Normzweckanalyse, dass der Sachverhalt von der isolierten Wertung der Einzelnorm erfasst ist, muss auf zweiter geprüft werden, ob eine Wertung des gleichrangigen Rechts besteht, die eine abweichende Bewertung erfordert. Grenzelemente aus dem gleichrangigen Recht werden daher sowohl relevant, wenn eine ausdrückliche Regelungsabsicht existiert, als auch dann, wenn der nicht explizit mitgeteilte Legislativwille durch systematische Aspekte bestimmt wurde. Konfligieren können mithin nicht nur Tatbestände und Rechtsfolgen verschiedener Bestimmungen, sondern auch ihre Regelungszwecke. Ähnlich wie innerhalb einer Norm verschiedene Wertungen existieren können,332 ist es auch in der Normzweckanalyse auf zweiter Stufe denkbar, dass die Rechtsordnung mehrere konfligierende Ziele verfolgt und sich daher aus gleichrangigen Normen Wertungen ergeben, welche die Fortbildung der Einzelnorm unterbinden. Ob ein gleichrangiger Regelungszweck entgegensteht, ist anhand der eingangs skizzierten Auflösungsmechanismen für Kollisionen im horizontalen Verhältnis zu ermitteln. Weil es für „lex posterior derogat legi priori“333 kaum praktische Beispiele gibt,334 sind widerstreitende Regelungszwecke häufig über den Grundsatz „lex specialis derogat legi generali“335 zu harmonisieren. Die Wertungen des gleichrangigen Rechs stehen der Fortbildung einer Einzelnorm folglich dann entgegen, wenn sich ergibt, dass der Sachverhalt zwar grundsätzlich von der ratio der lex generalis erfasst wäre, nach der ratio einer lex specialis aber auszuschließen ist.336 Welcher Regelungszweck 332  Näher dazu: Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 6 Rn. 166 f., der als Beispiel die notarielle Beurkundung nennt, der neben der Dokumentations- auch die Warn- und Beratungsfunktion zukommt. Während die Analogie zu § 311b BGB für den Vorvertrag mithilfe der Warnfunktion begründet werden könne, hätte die Dokumentationsfunktion hierfür nicht ausgereicht. 333  Siehe dazu: BVerfG, Beschl. v. 15. 12. 2015 – 2 BvL 1/12 – Völkerrechtsdurchbrechung, BVerfGE 141, 1, 21; Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 154 f.; Kelsen, AöR 32 (1914), 202, 208; Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn. 102; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 156; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2011, S. 572 ff. 334  Näher hierzu: Lindner, Öffentliches Recht, 2017, Rn. 355, der zutreffend darlegt, dass der Grundsatz selten in der Praxis zur Anwendung kommt, weil „mit dem Erlass der späteren Norm regelmäßig die bisher geltende Norm aufgehoben wird, sodass es gar nicht erst zu einer Regelungskollision kommt.“ 335  Hierzu: Vranes, ZaöRV 65 (2005), 391, 392 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2011, S. 465; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 2012, S.  31 f.; Lindner, Öffentliches Recht, 2017, Rn. 356; Reimer, Juristische Methodenlehre, 2020, Rn. 197 ff. 336  Erinnert sei an dieser Stelle, dass die Kollisionsregel wie die lex specialis-Regel keine absoluten Maximen begründen, sondern lediglich das Ergebnis einer Norm-



B. Eigener Lösungsansatz201

als spezieller vorgeht, ist auch auf dieser Stufe ausgehend von grammatischen, systematischen und historischen Erwägungen zu erschließen. Ein Beispiel ist die bereits erwähnte Sozialplan-Entscheidung des BVerfG, die eine Rechtsfortbildung des BAG zum Gegenstand hatte, welche gegen das legislative System des damaligen Konkursrechts verstieß.337 Dass die Konkursvorrechte der § 61 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 KO eine Ausnahme zum Grundsatz der gleichmäßigen Befriedigung begründeten,338 ergab sich nämlich nicht nur aus dem systematischen Vergleich mit § 61 Abs. 1 Nr. 6 KO,339 sondern ebenfalls aus § 3 Abs. 1 KO, der die gemeinschaftliche Befriedigung aller Konkursgläubiger als Grundsatz normierte. Ein Konkursvorrecht für Sozialplanabfindungen hatte daher weder einen Anhalt in der Wertung des anzuwendenden § 61 Abs. 1 KO noch in jener des gleichrangigen § 3 Abs. 1 KO. Die Grenze des gebotenen Normzwecks war daher überschritten. Gleiches galt in der Entscheidung des BVerfG zur Dreiteilungsmethode, in der es ein Urteil des BGH mit der Begründung kassierte, die Rechtsprechung zu § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB setze sich über das gesetzgeberische Konzept hinweg.340 Mit der Dreiteilungsmethode verlasse sie „die nach §§ 1569 ff. BGB zur Prüfung nachehelicher Unterhaltsansprüche vom Gesetzgeber 1977 vorgegebene und 2007 beibehaltene unterhaltsrechtliche Systematik und [nehme] einen Systemwechsel vor, bei dem sie die in § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB enthaltene gesetzgeberische Grundentscheidung durch eigene Gerechtigkeitsvorstellungen ersetz[e].“341 Auch hier ergab sich die Grenze aus den Wertungen des gleichrangigen Rechts. Identisches war an der Entscheidung des BGH zur Sachverständigenhaftung zu kritisieren,342 in der er § 823 Abs. 1 BGB dahin fortgebildet hatte, dass der gerichtlich bestellte unbeeidete Sachverständige selbst für grobe zweckinterpretation bezeichnen, dass eine [hier: spezielle] Wertung einer anderen [hier: allgemeinen] nach Vorstellung des Gesetzgebers vorgehen soll. Gegen die Absolutheit der lex specialis-Regel: BVerfG, Urt. v. 24. 01. 1962 – 1 BvL 32/57 – Ehegatten-Arbeitsverhältnisse, BVerfGE 13, 290, 296. 337  BVerfG, Beschl. v. 19. 10. 1983 – 2 BvR 485, 486/80 – Sozialplan, BVerfGE 65, 182, 191. 338  BVerfG, Beschl. v. 19. 10. 1983 – 2 BvR 485, 486/80 – Sozialplan, BVerfGE 65, 182, 191. 339  Näher zum systematischen Regel-Ausnahme-Verhältnis innerhalb § 61 KO: BVerfG, Beschl. v. 19. 10. 1983 – 2 BvR 485, 486/80 – Sozialplan, BVerfGE 65, 182, 191. 340  BVerfG, Beschl. v. 25.01.2011 – 1 BvR 918/10 – Dreiteilungsmethode, BVerfGE 128, 193, 214. 341  BVerfG, Beschl. v. 25.01.2011 – 1 BvR 918/10 – Dreiteilungsmethode, BVerfGE 128, 193, 214. 342  BGH, Urt. v. 18. 12. 1973 – VI ZR 113/71, BGHZ 62, 54.

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

Fahrlässigkeit nicht einzustehen habe. Da dieses Ergebnis „nicht mit dem Fehlen der […] Anspruchsvoraussetzungen begründet und auch nicht durch eine analoge Anwendung des in § 839 Abs. 2 BGB geregelten […] Haftungsprivilegs gewonnen“ werden konnte,343 hob das BVerfG die Entscheidung des BGH zu Recht auf, weil sie „ersichtlich auf eigenen rechtspolitischen Erwägungen [beruhe], kraft deren das deliktsrechtliche System der Jedermann-Haftung durch eine gesetzlich nicht vorgesehene Ausnahme durchbrochen“ werde.344 Maßgeblich war somit die systematische Erwägung, dass § 823 BGB in den Normenkomplex des Rechts der unerlaubten Handlung eingebunden ist, der eine privilegierte Haftung, wie § 839 Abs. 2 BGB verdeutlicht, nur ausnahmsweise zulässt. Auch wenn dies nicht bedeutet, dass Ausnahmevorschriften niemals analogiefähig sind,345 hatte der Gesetzgeber doch ein Regel-Ausnahme-Verhältnis vor Augen, das im Kern unangetastet bleiben muss. Solange der legislative Plan respektiert wird, kann aber grundsätzlich auch ein Ausnahmetatbestand fortgebildet werden. Nicht systemwidrig war daher eine Fortbildung des § 829 BGB, dessen Normtext nur die Konstellation erfasst, dass der Schädiger aufgrund der „§§ 827, 828 BGB nicht verantwortlich“ ist.346 Gleiches gilt nämlich wertungsmäßig, wenn die Haftung des Schädigers aus § 823 Abs. 1 BGB nicht infolge des fehlenden Verschuldens gem. § 827 BGB, sondern schon daran scheitert, dass das schädigende Verhalten wegen der Bewusstlosigkeit des Anspruchsgegners keine Verletzungshandlung begründet. Der BGH hat § 829 BGB auf diesen Fall zu Recht analog angewandt und insoweit trotz der fortbildenden Erweiterung einer Ausnahmevorschrift347 die Gesetzessystematik nicht konterkariert. Ein Ausnahmetatbestand ist mithin der Rechtsfortbildung zugänglich, soweit das legislative Regel-Ausnahme-Verhältnis mit ihr nicht durchbrochen oder sogar in sein Gegenteil verkehrt wird.

343  BVerfG, Beschl. v. 11. 10. 1978 – 1 BvR 84/74 – Sachverständigenhaftung, BVerfGE 49, 304, 316. 344  BVerfG, Beschl. v. 11. 10. 1978 – 1 BvR 84/74 – Sachverständigenhaftung, BVerfGE 49, 304, 322. 345  Pauschal für ein restriktives Verständnis von Ausnahmeregelungen: BGH, Urt. v. 06. 11. 1953 – I ZR 97/52, BGHZ 11, 135, 143, wonach „Ausnahmebestimmungen grundsätzlich eng“ anzuwenden sind [Hervorhebung v. Verf.]; dagegen zu Recht differenzierend: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 355 f.; Larenz/ Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 174 f. 346  BGH, Urt. v. 15. 01. 1957 – VI ZR 135/56, BGHZ 23, 90, 98; zur entsprechenden Anwendung des § 829 BGB: Wandt, Gesetzliche Schuldverhältnisse, 2019, § 16 Rn. 183. 347  Zum Ausnahmecharakter des § 829 BGB: Wagner, in: MünchKomm-BGB, Band 6, 2020, § 829 BGB, Rn. 2.



B. Eigener Lösungsansatz203

Wie die Beispiele veranschaulichen, ergeben sich die Grenzen aus dem gleichrangigen Recht folglich meist aus dem gesetzgeberischen Konzept, auf dem der einschlägige Regelungskomplex beruht.348 c) Dritte Stufe: Die Wertung verfassungsrechtlicher Normen Gelangt man auf der ersten und zweiten Stufe der Normzweckanalyse zu dem Ergebnis, dass der zu prüfende Fall mit dem vorläufigen gebotenen Normzweck vereinbar oder unvereinbar ist, kann trotz alledem eine andere Bewertung erforderlich sein, wenn dies durch die Verfassung veranlasst ist. Grenzrelevant werden können auf dieser Stufe die Grundrechte, aber auch verfassungsrechtliche Bestimmungen außerhalb des Grundrechtskatalogs. aa) Begrenzung durch Grundrechte (1) Wirkung der Grundrechte im Privatrecht Nachdem bereits erörtert wurde, dass die Zivilgerichte der Gesetzes- und damit auch der Grundrechtsbindung unterliegen,349 ist zu untersuchen, inwieweit aus dieser Bindung folgt, dass die Richter die Grundrechte im Privatrechtsverhältnis zwischen dem Kläger und Beklagten durchzusetzen haben.350 Anders als im Strafrecht oder im öffentlichen Recht ist die Bedeutung der Grundrechte für die zivilprozessuale Entscheidung keineswegs evident, da der Rechtsstreit nicht vertikal zwischen grundrechtsberechtigtem 348  Keine Bedeutung haben die Rechtsfortbildungsverbote aus § 1 StGB und § 3 OwiG, die im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht, nicht aber im Privatrecht der Fortbildung des Rechts Grenzen ziehen. Wäre dies anders, wären auch sie Grenzen aus gleichrangigem Recht. 349  Zur Grundrechtsbindung der Zivilgerichte: Röthel, JuS 2001, 424, 426; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1425 und 1428 f. 350  Insoweit ist im Schrifttum kritisch darauf hingewiesen worden, dass Art. 1 Abs. 3 GG die Staatsgewalten eben nur so weit an die Grundrechte bindet, wie diese Geltung beanspruchen: Ziekow, Über Freizügigkeit und Aufenthalt, 1997, S. 576; ähnlich differenzierend: Bleckmann, Staatsrecht II, 1997, § 10 Rn. 75 f.; EckholdSchmidt, Legitimation durch Begründung, 1974, S. 79 f.; Höfling, Vertragsfreiheit, 1991, S.  51 f.; Oldiges, in: Wendt/Höfling/Karpen/Oldiges (Hrsg.), Festschrift Friauf, 1996, S.  283 f.; Pietzcker, in: Maurer (Hrsg.), Festschrift Dürig, 1990, S. 350 ff.; Windel, Der Staat 37 (1998), 385, 387 f.; Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 24, der es wohl aus diesem Grund nicht als selbstverständlich betrachtet, dass „die Grundrechte bei der Anwendung und Fortbildung des Privatrechts durch die Rechtsprechung schon deshalb unmittelbar gelten, weil diese in Art. 1 Abs. 3 GG ebenfalls genannt und mit der Gesetzgebung auf eine Stufe gestellt ist.“

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

Bürger und grundrechtsverpflichtetem Staat, sondern horizontal zwischen mehreren privaten Grundrechtsberechtigten geführt wird. Entscheidungsmaßstab ist somit in erster Linie das materielle Zivilrecht, das Rechtsverhältnisse im Gleichordnungsverhältnis zwischen Privatpersonen,351 nicht aber im Subordinationsverhältnis von Bürger und Staat zum Gegenstand hat.352 Das Zivilgericht ist als Hoheitsträger nur involviert, weil das Gewaltmonopol dem Staat obliegt und ein Bürger zur Durchsetzung privater Rechte auf ein rechtsstaatliches Verfahren verwiesen ist.353 Wird der Zivilrichter nur als „neutraler Schlichter“354 aktiv, der privatrechtlichen Bestimmungen zur Anerkennung verhilft, ist es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass es „für die Grundrechtsbindung nicht auf die Stellung der Gerichte als staat­ liche Organe, sondern auf das materielle Rechtsverhältnis an[kommt], in welchem die Parteien des Rechtsstreits sich befinden.“355 Auch wenn das Horizontalverhältnis in der Folge in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken muss, wäre es übereilt, anzunehmen, dass ein Zivilgericht grundrechtsneutral agiert, wenn es als Hoheitsträger zulasten einer Partei eine freiheitsverkürzende Entscheidung erlässt. Für den Beklagten ist ein Zivilurteil schließlich nicht selten faktisch ähnlich belastend wie ein Strafurteil, wenn er für eine Meinungsäußerung statt zu einer Geldstrafe zur Zahlung von Schadensersatz verurteilt wird.356 Im Ausgangspunkt ist deshalb festzuhalten, dass das materielle Privatrecht als Entscheidungsmaßstab zwar horizontal zwischen den Prozessparteien wirkt, der Richterspruch als Hoheitsakt aber vertikal zwischen Bürger und Staat ergeht.357 Sollen die Grundrechte als Grenzelemente verstanden werden, reicht es demzufolge nicht aus, die Lösung der Problematik nur im Vertikal- oder nur im Horizontalverhältnis zu suchen. Vielmehr ist die Bezie-

351  Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1445. 352  Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 2 Rn. 20. 353  Zum Gewaltmonopol des Staates: BVerfG, Beschl. v. 11. 06. 1980 – 1 PBvU 1/79 – Ablehnung der Revision, BVerfGE 54, 277, 292; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1438. 354  Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 132 spricht insoweit vom schiedsrichterlich auftretendem Staat. 355  Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 24; Starck, JuS 1981, 237, 244; außerdem für die Maßgeblichkeit des materiellen Rechtsverhältnisses: Klein, NJW 1989, 1640 („Inhalt der im Bürger-Bürger-Verhältnis […] geltenden Rechtsnormen Einfluß gewinnen können“). 356  In diese Richtung auch: Oldiges, in: Wendt/Höfling/Karpen/Oldiges (Hrsg.), Festschrift Friauf, 1996, S. 284. 357  Zum Richterspruch als Hoheitsakt: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1486.



B. Eigener Lösungsansatz205

hung von Grundrechten und Privatrecht als vielschichtige Fragestellung358 zu erkennen, die exakt abzuschichten ist.359 (a) Vertikalwirkung der Grundrechte Weil die Gerichte in Zivilsachen ebenso wenig wie Spruchkörper anderer Gerichtsbarkeiten gegen die Grundrechte verstoßen dürfen,360 ist zunächst zu betrachten, welche Regelungen des Grundgesetzes bereits infolge der unmittelbaren Bindungswirkung zwischen Gericht und Prozessparteien Beachtung beanspruchen. Den Ausgangspunkt bildet Art. 1 Abs. 3 GG, der die Zivilrechtsprechung an die Grundrechte bindet, womit aber noch nichts darüber gesagt ist, inwieweit dies auch den Inhalt des Richterspruchs determiniert.361 Bevor der Blick auf die Fragen der Drittwirkungsproblematik gerichtet wird, ist zu untersuchen, welche Grundrechtswirkungen schon keiner mittelbaren Konstruktion bedürfen, weil sie bereits aufgrund des hoheitlichen Subordinationsverhältnisses unmittelbar wirken. Um dies zu beantworten, ist zwischen dem Inhalt der gerichtlichen Entscheidung und dem Verfahren zu differenzieren, in dem sie erlassen wird.362 Prozessual sind die Zivilgerichte bei ihren Verfahrenshandlungen direkt an die grundrechtsgleichen Rechte aus Art. 101 und Art. 103 GG gebunden. Weil das Prozessrecht einschließlich des Zivilverfahrensrechts öffentliches Recht darstellt,363 „tritt der Richter den Verfahrensbeteiligten [nämlich] formell und in unmittelbarer Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt gegenüber.“364 Begeht das Gericht einen verfahrensrechtlichen Fehler und werden hierdurch 358  Fezer, JZ 1998, 265, 267 hat das Verhältnis von Verfassung und Privatrecht als „Jahrhundertproblematik“ bezeichnet; zustimmend: Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 9 f.; ein Sinnbild für die Sprengkraft, die der Fragestellung innewohnt: Diederichsen, AcP 198 (1998), 171, 226, für den die über Art. 1 Abs. 3 GG begründete Bindung der Zivilgerichte an die Grundrechte einem „methodologischen Staatsstreich“ gleichkomme. 359  Dazu zu Recht ermahnend: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1487. 360  Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1429. 361  Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1486. 362  Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1429. 363  Zum öffentlich-rechtlichen Charakter des Zivilprozessrechts: Epping, Grundrechte, 2019, Rn. 358, wonach der Richter „insoweit als klassischer Anwender der öffentlich-rechtlichen Normen des Prozessrechts“ wirke. 364  So ausdrücklich auch für den Zivilprozess: BVerfG, Beschl. v. 03. 10. 1979 – 1 BvR 726/78 – Fristgebundener Schriftsatz, BVerfGE 52, 203, 207.

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Art. 101 oder Art. 103 GG verletzt, verstößt dies gegen die sog. „Prozessgrundrechte“, die den Privatrichter gegenüber den Parteien stets binden.365 Ähnliches gilt für das Willkürverbot aus Art. 3 Abs. 1 GG, das ebenfalls losgelöst von einer etwaigen Horizontalwirkung zwischen dem Kläger und Beklagten sämtliche Prozesshandlungen der Zivilgerichte bestimmt.366 Entscheidend ist, dass beide Konstellationen nicht das materielle Privatrecht, sondern das hoheit­liche Prozessrecht betreffen,367 weshalb die Zivilgerichte bei Verfahrenshandlungen unmittelbar grundrechtlich gebunden sind.368 Betrachtet man hingegen die Grenzen, die den Zivilgerichten bei der Fortbildung des einfachgesetzlichen Privatrechts und damit bei der Weiterentwicklung des Entscheidungsmaßstabs gezogen sind, müssen die Normen untersucht werden, die den Richterspruch materiellrechtlich stützen. Von Bedeutung ist daher, wie die Grundrechte den Inhalt der zivilgerichtlichen Entscheidung determinieren.369 Relevant ist, ob die Grundrechte den Urteilsmaßstab370 modifizieren und eine Fortbildung des Privatrechts als Entscheidungsnormen begrenzen können.371 So offensichtlich wie grundlegend ist dazu die Bemerkung des BVerfG, dass der Inhalt einer Gerichtsentscheidung ein Grundrecht nur verletzen kann, wenn dieses bei der Urteilsfindung zu berücksichtigen ist.372 Für Art. 3 Abs. 1 GG lässt sich dies erneut bejahen, soweit der allgemeine Gleichheitssatz die Gerichte verpflichtet, das geltende Recht gleichförmig 365  Zur unmittelbaren Einwirkung der Prozessgrundrechte auf die Rechtsprechungstätigkeit der Zivilgerichte: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1487; ferner: Epping, Grundrechte, 2019, Rn. 358. 366  So für die Anwendbarkeit von Art. 3 Abs. 1 GG auf Verfahrenshandlungen: BVerfG, Beschl. v. 24. 03. 1976 – 2 BvR 804/75 – Zwangsversteigerung I, BVerfGE 42, 64, 74: „Auch die Auslegung und Anwendung von Verfahrensrecht kann – wenn sie willkürlich gehandhabt wird – gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen“; ebenso: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 123; Schumann, ZZP 96 (1983), 137, 157 f.; Heun, in: Dreier, GG-Kommentar, Band I, 2013, Art. 3 GG, Rn. 73. 367  Vgl. Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 123. 368  Bumke/Voßkuhle, Casebook Verfassungsrecht, 2020, Rn. 206. 369  Ebenfalls auf den Inhalt der Gerichtsentscheidung abstellend: BVerfG, Urt. v. 15. 01. 1958 – 1 BvR 400/51 – Lüth, BVerfGE 7, 198, 203. 370  Zu den Grundrechten als Urteilsmaßstab: Lorenz, NJW 1977, 865, 869; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1473; implizit auch: Bettermann, in: Rosenberg/Schwab (Hrsg.), Festschrift Lent, 1957, S. 29, dessen Aussage die Grundrechte einschließt, ohne sie explizit hervorzuheben. 371  Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1472 f. und 1486. 372  BVerfG, Urt. v. 15. 01. 1958 – 1 BvR 400/51 – Lüth, BVerfGE 7, 198, 203.



B. Eigener Lösungsansatz207

anzuwenden.373 Weil die Rechtsanwendungsgleichheit der Rechtsprechung ohne Rücksicht auf das Rechtsgebiet verbietet, den Entscheidungsmaßstab des materiellen Rechts gleichheitswidrig zu vollziehen, ist Art. 3 Abs. 1 GG nicht nur prozessual, sondern auch inhaltlich bei der Fortbildung des Privatrechts zu beachten.374 Ob die Parteien wechselseitig an Art. 3 GG gebunden sind, ist ohne Belang, da den Zivilgerichten bereits unabhängig davon untersagt ist, das Recht gleichheitswidrig anzuwenden. Identisches375 gilt für die besonderen Gleichheitssätze, die Differenzierungsverbote enthalten und es den Gerichten in der Folge erst recht verbieten, das geltende Recht diskriminierend zu vollziehen. Anders ist dies bei den Freiheitsgrundrechten. Obwohl der Zivilrichter naturgemäß auch sie nicht verletzen darf, gewährleisten sie im Gegensatz zu den Gleichheitsgrundrechten konkrete Freiheitsausschnitte,376 die ihrerseits aber durch das einfachgesetzliche (Privat-)Recht näher ausgestaltet oder beschränkt werden können.377 Soweit ein Zivilgericht als Entscheidungsmaßstab verfassungskonforme Inhalts- und Schrankenbestimmungen378 für das jeweilige Grundrecht heranzieht, sind die Freiheitsgrundrechte deshalb nicht in der Lage, unmittelbar auf den Inhalt der Gerichtsentscheidung Einfluss zu nehmen.

373  Schladebach,

NVwZ 2018, 1241. Bindung der Zivilgerichte an Art. 3 Abs. 1 GG: BVerfG, Beschl. v. 04. 04. 1984 – 1 BvR 276/83, BVerfGE 66, 331, 335 f.; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 122, der betont, dass die „Bindung der Zivilrechtsprechung an den Gleichheitssatz […] außer Frage“ steht; Heun, in: Dreier, GG-Kommentar, Band I, 2013, Art. 3 GG, Rn. 70, der dies jedenfalls für „Normen im nichtvertraglichen Bereich“ annimmt; uneingeschränkt hingegen: Epping, Grundrechte, 2019, Rn. 358, der insoweit den „Zivilrichter in ihrer klassischen Funktion gebunden“ sieht. 375  Heun, in: Dreier, GG-Kommentar, Band I, 2013, Art. 3 GG, Rn. 71, wonach „sowohl der allgemeine Gleichheitssatz als auch die strikten Gleichheitssätze […] nur entweder gelten oder gar nicht [gelten]“ können; allgemein zu dem besonderen Gleichheitssätzen: Heun, in: Dreier, GG-Kommentar, Band I, 2013, Art. 3 GG, Rn. 142. 376  Näher zur unterschiedlichen Wirkungsweise von Freiheits- und Gleichheitsgrundrechten: Heun, in: Dreier, GG-Kommentar, Band I, 2013, Art. 3 GG, Rn. 71. 377  Zum Verhältnis von Ausgestaltung und Begrenzung: Bumke/Voßkuhle, Casebook Verfassungsrecht, 2020, Rn. 219 f. 378  Siehe zum ius cogens und ius dispositivum als grundsätzlich zulässigen Inhalts- und Schrankenbestimmungen: Bien/Jocham, WuW 2019, 186, 192; speziell zur Privatautonomie aus Art. 2 Abs. 1 GG außerdem: BVerfG, Beschl. v. 07. 02. 1990 – 1 BvR 26/84 – Handelsvertreter, BVerfGE 81 242, 254: „Privatautonomie besteht nur im Rahmen der geltenden Gesetze, und diese sind ihrerseits an die Grundrechte gebunden.“ 374  Zur

208

Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

(b) Horizontalwirkung der Grundrechte Materiellrechtlich limitieren können die Freiheitsgrundrechte eine zivilgerichtliche Rechtsfortbildung aber dann, wenn die Prozessparteien die Grundrechte als Privatpersonen wechselseitig zu beachten hätten. Dies beschreibt die Problematik, die oftmals als „Drittwirkung der Grundrechte“ bezeichnet wird379 und bereits seit langem diskutiert wird, ohne dass bis heute Einigkeit erzielt werden konnte.380 Wenngleich die Fragestellung an dieser Stelle keiner abschließenden Lösung zugeführt werden kann, muss sie geklärt werden, soweit dies zur Bestimmung der Grenzen der Rechtsfortbildung erforderlich ist. Weil es bei der „Drittwirkung der Grundrechte“ um ihre Wirkung auf Rechtsbeziehungen zwischen Privaten geht, wird hierfür nachfolgend der Ausdruck der „Horizontalwirkung der Grundrechte“ bevorzugt. (aa) Unmittelbare Horizontalwirkung? Weil für einen Grundrechtsträger unerheblich ist, ob seine Freiheit durch den Staat oder einen anderen Privaten beschnitten wird,381 hatte das BAG in seiner früheren Rechtsprechung eine unmittelbare Dritt- oder Horizontalwirkung der Grundrechte zwischen Privatpersonen angenommen.382 Gegen eine 379  Die Problematik kennt viele Bezeichnungen. Klassischerweise wurde sie mit „Drittwirkung der Grundrechte“ umschrieben: Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, 1971; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 8 ff.; Müller, RdA 1964, 121; Starck, JuS 1981, 237, 244; Oeter, AöR 119 (1994), 529, 530; Classen, AöR 122 (1997), 65, 66; Guckelberger, JuS 2003, 1151; Eichendorfer, DVBl 2004, 1078, 1080 f.; Gostomzyk, JuS 2004, 949, 950; Augsberg/Viellechner, JuS 2008, 406; Ruffert, JZ 2009, 389; Gurlit, NZG 2012, 249, 250 („Grundrechtsbindung gegenüber Dritten“); Wendt, NVwZ 2012, 606; Papier, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Band II, 2006, § 55 Rn. 1; vermehrt wird von „Horizontalwirkung“ gesprochen: Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, 1977, S. 19; weitere Bezeichnungen finden sich bei: Leisner, Grundrechte und Privatrecht, 1960, S. 305 („Grundrechtsgeltung im Privatrecht“);  Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, 1971, S. 10 („Grundrechts-Einwirkung auf das Privatrecht“); ferner zur Begriffsvielfalt: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1511 ff. 380  Eingehend zur Drittwirkungsdiskussion: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1509 bis 1595. 381  Zum Schutz vor sozialen Gewalten: Wespi, Die Drittwirkung der Freiheitsrechte, 1968, S. 3 ff.; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 12; Laufke, in: Gemeinschaft der Mitarbeiter von H. C. Nipperdey (Hrsg.), Festschrift Lehmann, I. Band, 1956, S. 148 ff. 382  In frühen Jahren noch in st. Rspr. für eine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte im Privatrecht: BAG, Urt. v. 03. 12. 1954 – 1 AZR 150/54, BAGE 1, 185, 193; BAG, Urt. v. 23. 03. 1957 – 1 AZR 326/56, BAGE 4, 240, 243; BAG, Urt. v. 23. 02. 1959 – 3 AZR 583/57, BAGE 7, 256, 260; BAG, Urt. v. 29. 06. 1962 –



B. Eigener Lösungsansatz209

solche Grundrechtswirkung spricht indes bereits der Wortlaut des Art. 1 Abs. 3 GG, der als Bindungsadressaten nur die drei staatlichen Gewalten, nicht aber auch Privatrechtsubjekte nennt. Bestätigt wird dies systematisch, da die punktuelle Anordnung der unmittelbaren Drittwirkung in Art. 1 Abs. 1 GG,383 Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG, Art. 20 Abs. 4 GG und Art. 48 Abs. 1 und 2 GG überflüssig wäre, wenn das Grundgesetz implizit anordnen würde, dass die Grundrechte auch zwischen Privatpersonen Beachtung finden müssten.384 Dass ein solcher Schritt nicht gewollt war, zeigt auch die Historie. Betrachtet man Art. 159 S. 2 WRV, die Vorgängervorschrift zu Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG, findet sich eine nahezu identische Regelung, zu der aber schon damals betont wurde, dass die dort getroffene Anordnung einer unmittelbaren Drittwirkung eine Ausnahme sei.385 Da sich der Norminhalt nahezu identisch in Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG wiederfindet, ist nicht anzunehmen, dass durch die Schaffung des Grundgesetzes zugleich ein Paradigmenwechsel beabsichtigt war. Schließlich wäre eine unmittelbare Drittwirkung auch teleologisch nicht zu rechtfertigen. Grundrechte sind nach ihrer Zweckrichtung primär Abwehrrechte gegen den Staat und nicht gegen andere Grundrechtsberechtigte gerichtet.386 Private Machtausübung ist nämlich ihrerseits grundrechtlich ge1 AZR 343/61, BAGE 13, 168, 174 („unmittelbare Bedeutung für den Rechtsverkehr der Bürger untereinander“); Rspr. aufgegeben in BAG, Urt. v. 20. 12. 1984 – 2 AZR 436/83, BAGE 47, 363, 373 („mittelbaren Wirkung des Grundrechts“); seitdem geht auch das BAG in st. Rspr. von einer mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte aus: so z. B. BAG, Beschl. v. 27. 02. 1985 – GS 1/84, BAGE 48, 122, 138; unmissverständlich: BAG, Beschl. v. 27. 05. 1986 – 1 ABR 48/84, BAGE 52, 88, 97 f. („unmittelbare Drittwirkung für die Rechtsbeziehungen Privater untereinander nicht zu […]. Der Senat schließt sich dem an.“); zu den Anhängern der unmittelbaren Drittwirkung im Schrifttum: Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 1959, S.  93 ff.; Leisner, Grundrechte und Privatrecht, 1960, S. 306 ff.; Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht, 1961, S. 15; Nipperdey, DVBl 1958, 445, 446 f.; Koll, Die Grundlagen der Wandlung des materiellen Verfassungsbegriffs als Vorstudien zur Problematik der Drittwirkung der Grundrechte, 1961, S. 76 f.; Krüger, RdA 1954, 365, 368 f.; Müller, RdA 1964, 121; Steindorff, Persönlichkeitsschutz im Zivilrecht, 1983, S. 12 f.; überblicksartig zu den Argumenten der Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S.  12 f. 383  Zur Frage der unmittelbaren Drittwirkung im Zusammenhang mit Art. 1 Abs. 1 GG: Bumke/Voßkuhle, Casebook Verfassungsrecht, 2020, Rn. 213. 384  Vgl. Epping, Grundrechte, 2019, Rn. 346. 385  Anschütz, Die Verfassung des deutschen Reichs, 1933 (Nachdruck 1960), Art. 159 WRV, Rn. 1: „eine den Grundrechten sonst fremde Tendenz“; ferner zu diesem historischen Argument: Epping, Grundrechte, 2019, Rn. 346. 386  Näher hierzu: Canaris, AcP 184 (1984), 201, 203; Medicus, AcP 192 (1992), 35, 43; zur Abwehrfunktion der Grundrechte: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 88 ff., nach dem die Funktion der Grundrechte als subjektive Abwehrrechte „der unumstrittene Ausgangspunkt der Grundrechtsdogmatik unter dem Grundgesetz“ sei; Lindner, Theorie der Grundrechtsdog-

210

Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

schützt.387 Wäre sie an den Grundrechten zu prüfen, wäre die Freiheit des Einzelnen nicht mehr nur grundrechtlich garantiert, sondern umgekehrt auch durch die Grundrechte verkürzt, weil privates Handeln der gesonderten Legitimation bedürfte.388 Mit Ausnahme der Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG, Art. 20 Abs. 4 GG und Art. 48 Abs. 1 und 2 GG sind Privatpersonen daher nicht unmittelbar an Grundrechte gebunden. (bb) M  ittelbare Horizontalwirkung als Folgeerscheinung einer „Ausstrahlungswirkung“? Auch wenn die Grundrechte die Rechte von Kläger und Beklagtem im Zivilprozess nicht unmittelbar beeinflussen, könnte die Fortbildung im Privatrecht aber dann an Grenzen stoßen, wenn die Grundrechte gegenüber den Prozessparteien mittelbar Beachtung beanspruchen.389 Wegweisend ist die LüthEntscheidung des BVerfG, in der der Erste Senat erstmals klarstellte, dass die Grundrechte im Grundgesetz zwar primär Abwehrrechte gegen den Staat390 darstellen, sie überdies aber eine „objektive Werteordnung“ errichten, die „als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten“ müsse.391 Demzufolge dürfe „keine bürgerlich-rechtliche Vorschrift […] in Widerspruch zu […] [ihnen] stehen, [stattdessen müsse] jede […] in […] [ihrem] Geiste ausgelegt werden.“392 Ein Grundrecht wirke somit nicht unmittelbar zwischen den Privaten, beeinflusse das Privatrechtsverhältnis aber als objektive Grundentscheidung mittelbar durch das Medium393 der privatrecht­ lichen Bestimmungen. Ebendies wurde lange Zeit als „Ausstrahlungswirkung matik, 2005, S. 12; Bumke/Voßkuhle, Casebook Verfassungsrecht, 2020, Rn. 56 ff.; vertiefend zur abwehrrechtlichen Funktion: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 619 ff.; 387  Epping, Grundrechte, 2019, Rn. 346. 388  Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar, Band I, 2013, Vorb., Rn. 98, der hierzu nachdrücklich bemerkt, dass eine unmittelbare Drittwirkung die „Privatautonomie im Kern zerstören und die grundrechtlichen Freiheiten zu einer umfassenden Pflichtenordnung denaturieren“ würde; Bumke/Voßkuhle, Casebook Verfassungsrecht, 2020, Rn. 212. 389  Grundlegend zur Lehre von der mittelbaren Drittwirkung: Dürig, AöR 81 (1956), 117; andeutungsweise aber bereits: Hueck, Die Bedeutung des Art. 3 des Bonner Grundgesetzes für die Lohn- und Arbeitsbedingungen der Frauen, 1951, S. 27 ff.; Krüger, NJW 1949, 163; Jellinek, BB 1950, 425, 426 f.; eingehend zu den Entwicklungen in der Diskussion zur Drittwirkung: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 12 ff. 390  BVerfG, Urt. v. 15. 01. 1958 – 1 BvR 400/51 – Lüth, BVerfGE 7, 198, 204. 391  BVerfG, Urt. v. 15. 01. 1958 – 1 BvR 400/51 – Lüth, BVerfGE 7, 198, 205. 392  BVerfG, Urt. v. 15. 01. 1958 – 1 BvR 400/51 – Lüth, BVerfGE 7, 198, 205. 393  BVerfG, Urt. v. 15. 01. 1958 – 1 BvR 400/51 – Lüth, BVerfGE 7, 198, 205.



B. Eigener Lösungsansatz211

der Grundrechte auf das bürgerliche Recht“394 aufgefasst.395 Begrüßenswert ist hieran, dass seit der Lüth-Entscheidung zu Recht anerkannt ist, dass die Grundrechte auf das Horizontalverhältnis zwischen Privaten Einfluss nehmen können. Kritikwürdig ist indes, dass die schillernde Bezeichnung der „Ausstrahlungswirkung“ nicht erklärt, wie die Grundrechte auf das Privatrecht einwirken.396 Erschwerend kommt hinzu, dass die Figur nahelegt, eine unmittelbare Horizontalwirkung zwischen Privaten werde einerseits kategorisch abgelehnt, andererseits über die „Ausstrahlungswirkung“ im Ergebnis aber gleichwohl erreicht. Auch wenn seit Lüth anerkannt ist, dass unstreitig eine Privatrechtswirkung besteht, ist weiterhin unklar, welcher dogmatische Mechanismus ihr zugrunde liegt und in der Folge auch, in welchem Ausmaß zivilgerichtliche Entscheidungen grundrechtlich determiniert sein können. Während der Erste Senat schon 1958 keinen Anlass sah, die Streitfrage der Drittwirkung der Grundrechte „in vollem Umfang zu erörtern“,397 ist das BVerfG aber auch bis in die Gegenwart eine lückenlose398 dogmatische Herleitung schuldig geblieben.399 Urt. v. 15. 01. 1958 – 1 BvR 400/51 – Lüth, BVerfGE 7, 198, 207. BVerfG, Urt. v. 15. 01. 1958 – 1 BvR 400/51 – Lüth, BVerfGE 7, 198, 205; fortan in st. Rspr. z. B. BVerfG, Beschl. v. 11. 05. 1976 – 1 BvR 671/70 – Deutschland-Magazin, BVerfGE 42, 143, 147 f.; BVerfG, Beschl. v. 07. 02. 1990 – 1 BvR 26/84 – Handelsvertreter, BVerfGE 81 242, 254; BVerfG, Beschl. v. 19. 10. 1993 – 1 BvR 567, 1044/89 – Bürgschaftsverträge, BVerfGE 89, 214, 229; BVerfG, Beschl. v. 27. 01. 1998 – 1 BvL 15/87 – Kleinbetriebsklausel I, BVerfGE 97, 169, 178. 396  Ebenso kritisch: Lerche, in: Böttcher/Hueck/Jähnke (Hrsg.), Festschrift Odersky, 1996, S. 216 f. und passim; Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 30. 397  BVerfG, Urt. v. 15. 01. 1958 – 1 BvR 400/51 – Lüth, BVerfGE 7, 198, 204. 398  So bereits: Schwabe, AöR 100 (1975), 442, 469: „Die Konzeption des LüthUrteils zur Drittwirkung ist jedoch außerordentlich unklar, sie ist auch später nie präzisiert worden“; jüngst: Kulick, NJW 2016, 2236, der diese Einschätzung grundsätzlich teilt, aber argumentiert, dass im letzten Jahrzehnt „weitestgehend unbemerkt seitens der Literatur“ eine neue Rechtsprechungsentwicklung erkennbar wird, die jedenfalls in Richtung einer dogmatischen Herleitung strebt und dadurch das „Potenzial für weitere dogmatische Entwicklungen enthält.“ Vereinzelt hat das Gericht insoweit eine Konstruktion über die grundrechtlichen Schutzpflichten angedeutet: BVerfG, Beschl. v. 07. 02. 1990 – 1 BvR 26/84 – Handelsvertreter, BVerfGE 81 242, 256: „Der entsprechende Schutzauftrag der Verfassung richtet sich hier an den Richter, der den objektiven Grundentscheidungen der Grundrechte in Fällen gestörter Vertragsparität mit den Mitteln des Zivilrechts Geltung zu verschaffen hat und diese Aufgabe auch auf vielfältige Weise wahrnimmt.“ 399  Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 16, der an den Kernaussagen der Lüth-Entscheidung zu Recht kritisiert, dass „der konkrete Einwirkungsmodus, die Reichweite der Beeinflussung der Privatrechtsinterpretation und damit letztlich der Inhalt der im Einzelfall zu treffenden Entscheidung“ offenbleibe; ähnlich: Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar, Band I, 2013, Vorb., Rn. 99, der hierzu ebenfalls bemerkt, dass das „Bundesverfassungsgericht […] weitgehend 394  BVerfG,

395  Grundlegend:

212

Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

(cc) M  ittelbare Horizontalwirkung als Folgeerscheinung der „Privatrechtsbindung“ Um eine Erklärung erarbeiten zu können, muss zunächst die Ausgangsproblematik skizziert werden. Die Verfassung und mit ihr der Grundrechtskatalog stehen im Stufenaufbau der Rechtsordnung über dem einfachgesetzlichen Privatrecht.400 Ferner ist der Legislative bei der Ausgestaltung der Zivilrechtsordnung ein weiter Gestaltungsspielraum eingeräumt,401 der es ihr erlaubt, verschiedene rechtspolitische Konzepte umzusetzen. Obwohl die Verfassung normhierarchisch über dem Privatrecht steht, folgt hieraus indessen nicht, dass sie den Inhalt der Privatrechtsbestimmungen vollumfänglich determiniert. Die Verfassung gibt vielmehr einen Rahmen vor, innerhalb dessen der Gesetzgeber frei entscheiden kann, welche Ziele er verfolgt und welche Regelungen er hierzu erlässt. Wenngleich man infolgedessen behaupten kann, dass beide Rechtsgebiete über eine relative Eigenständigkeit402 verfügen, bleibt die Privatrechtsordnung von einer Einwirkung der Verfassung keineswegs unberührt, wobei sich der „Einfluss der Grundrechte […] nicht auf Generalklauseln beschränkt, sondern […] auf alle […] zivilrechtlichen Vorschriften“ erstreckt.403 Bevor ermittelt werden kann, wann ein grundrechtlicher Einfluss besteht, muss erklärt werden, wie und warum die Grundrechte einen Rechtsstreit gegenüber privaten Prozessparteien beeinflussen können. Leistungsfähiger als der Begriff der „Ausstrahlungswirkung“ ist zu diesem Zweck der Ausdruck der „Privatrechtsbindung der Grundrechte“.404 Einerseits steht fest, dass auf theoretisch-allgemeine Aussagen zur dogmatischen Verortung“ verzichtet; zur Rechtsprechungsentwicklung in der Drittwirkungsproblematik: Krause, JZ 1984, 711; Krause, JZ 1984, 828; Ruffert, JZ 2009, 389. 400  Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 5 Rn. 2. 401  Calliess, JZ 2006, 321, 329; Bumke/Voßkuhle, Casebook Verfassungsrecht, 2020, Rn. 218; Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 5 Rn. 16 spricht von einem breiten gesetzgeberischen Korridor. 402  Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 5 Rn. 2, der seine Aussage allerdings allgemein auf das Verhältnis von öffentlichem und privatem Recht bezieht. 403  Klarstellend: BVerfG, Beschl. v. 19.07.2011 – 1 BvR 1916/09 – Anwendungserweiterung, BVerfGE 129, 78, 102; zuvor aber bereits: BVerfG, Beschl. v. 19.04.2005 – 1 BvR 1644/00, 188/03 – Pflichtteil, BVerfGE 112, 332, 358; ferner dazu, dass ein grundrechtlicher Einfluss auf alle Privatrechtsnomen wirkt: BVerfG, Beschl. v. 19.04.2005 – 1 BvR 1644/00, 188/03 – Pflichtteil, BVerfGE 112, 332, 358; BVerfG, Beschl. v. 19.07.2011 – 1 BvR 1916/09 – Anwendungserweiterung, BVerfGE 129, 78, 102; Kulick, NJW 2016, 2236, 2238. 404  Genau genommen ist dies kein Spezifikum der Beziehung von Verfassungsund Privatrecht, als vielmehr ein Attribut, das die Verbindung von Grundgesetz und einfachgesetzlichem Recht generell charakterisiert.



B. Eigener Lösungsansatz213

Private abseits der normierten Ausnahmen in der Beziehung zueinander nicht an die Grundrechte gebunden sind. Andererseits steht außer Zweifel, dass die Privatpersonen durch die Normen des einfachgesetzlichen Privatrechts berechtigt und verpflichtet werden. Weil die Legislative beim Erlass einer privatrechtlichen Norm unmittelbar an die Grundrechte gebunden ist405 und das einfachgesetzliche Recht nur wirksam besteht, wenn es mit den Grundrechten vereinbar ist,406 kann es keine Ergebnisse hervorbringen, die nicht grundrechtskonform sind.407 Folgen die Rechte und Pflichten der Privatpersonen untereinander aus dem einfachen Gesetzesrecht, spielt es somit keine Rolle, ob sie wechselseitig an die Grundrechte gebunden sind, weil das Privatrecht nur grundrechtskonforme Rechtsfolgen aussprechen kann. Diese erreichen die Privaten aber nicht durch das Verfassungsrecht, sondern stets nur unmittelbar durch das einfachgesetzliche Privatrecht.408 Auch führt dies nicht zu einer unmittelbaren Horizontalwirkung „durch die Hintertür“, da die Berechtigungen und Verpflichtungen Privater nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden können und dürfen, sondern sich allein aus den einfachen Gesetzen des Privatrechts ergeben, die ihrerseits aber nicht mehr gewähren können, als das Grundgesetz gestattet. Die Rechte und Pflichten entspringen allein den anwendbaren Regelungen des Privatrechts. Wird ein Rechtsverhältnis durch Rechtsgeschäft begründet, ergibt sich aber auch dann keine andere Beurteilung, weil jedenfalls das zwingende 405  Zur Grundrechtsbindung des Privatgesetzgebers: In st. Rspr. z. B. BVerfG, Urt. v. 15. 01. 1958 – 1 BvR 400/51 – Lüth, BVerfGE 7, 198, 205; BVerfG, Beschl. v. 04. 05. 1971 – 1 BvR 636/68 – Spanier-Beschluß, BVerfGE 31, 58, 70; BVerfG, Beschl. v. 07. 02. 1990 – 1 BvR 26/84 – Handelsvertreter, BVerfGE 81 242, 254; Schätzel, RdA 1950, 248, 251; Gamillscheg, AcP 164 (1964), 385, 396; Canaris, AcP 184 (1984), 201, 212; Krause, JZ 1984, 656, 659; Novak, EuGRZ 1984, 133, 135 f. (ebenso aus österreichischer Perspektive mit Blick auf Art. 1 Abs. 3 GG); Hager, JZ 1994, 373, 374; Röthel, JuS 2001, 424, 426; Kopp, in: Baltl (Hrsg.), Festschrift Wilburg, 1975, S.  146; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1565 f.; Badura, Staatsrecht, 2018, S. 137. 406  Anderenfalls ist die verfassungswidrige Rechtsnorm ex tunc nichtig, sodass sie gegenüber Privaten keinerlei Wirkungen entfalten kann. Zur Rechtsfolge bei Verfassungswidrigkeit und zum insoweit bloß feststellenden Charakter der BVerfG-Entscheidung: Badura, Staatsrecht, 2018, S. 913; zur Möglichkeit der Rechtssatzverfassungsbeschwerde: Hartmann, in: Pieroth/Silberkuhl (Hrsg.), Die Verfassungsbeschwerde, 2008, § 90 BVerfGG, Rn. 70 ff. 407  In st. Rspr. z.  B. BVerfG, Urt. v. 15. 01. 1958 – 1 BvR 400/51 – Lüth, BVerfGE 7, 198, 205; BVerfG, Beschl. v. 04. 05. 1971 – 1 BvR 636/68 – SpanierBeschluß, BVerfGE 31, 58, 70; BVerfG, Beschl. v. 07. 02. 1990 – 1 BvR 26/84 – Handelsvertreter, BVerfGE 81 242, 254. 408  Daran ändert sich nicht, wenn Schuldverhältnisse privatautonom durch Vertrag begründet werden, da auch sie nur innerhalb der Grenzen des zwingenden einfachgesetzlichen Privatrechts bestehen können.

214

Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

Recht hierauf Anwendung findet und es seinerseits am Maßstab der Grundrechte zu messen ist.409 Die Grundrechte beeinflussen Privatrechtsbeziehungen folglich insoweit, als die Zivilrichter verpflichtet sind, die Normen des Privatrechts grundrechtskonform anzuwenden.410 Steht damit fest, warum die Grundrechte auf Privatrechtsverhältnisse einwirken, ist weiterhin klärungsbedürftig, wann sie einen Einfluss auf das Privatrecht ausüben und damit, in welchen Konstellationen eine mittelbare Horizontalwirkung gegenüber den Parteien besteht. Dass die grundrechtlichen Wertungen nicht stets und in vollem Umfang im materiellen Privatrecht Beachtung finden, folgt aus dem Umstand, dass die Zivilrechtsnormen Freiheitsgrundrechte als Inhalts- und Schrankenbestimmungen ausgestalten oder begrenzen.411 Beschränken sich die Gerichte darauf, einfachgesetzliche Privatrechtsvorschriften durch Auslegung oder Fortbildung zur Anwendung zu bringen, welche die Grundrechte verfassungskonform präzisieren oder in ihrer Reichweite einschränken, erscheint es aber fraglich, ob die Grundrechte noch zwingende Anordnungen vermitteln können. Der Erste Senat des BVerfG hat dazu in einer jüngeren Entscheidung klargestellt, dass die Rechtsfortbildung durch die Grundrechte zwar grundsätzlich beschränkt werde, für die Reichweite der Begrenzung aber differenziert werden müsse. Soweit die Fortbildung der Privatrechtsnorm dazu diene, den Grundrechten des Einzelnen „zum Durchbruch zu verhelfen, [seien] die Grenzen […] weiter, da insoweit eine auch den Gesetzgeber treffende Vorgabe der höherrangigen Verfassung konkretisiert“ werde.412 Werde die Rechtsstellung des Einzelnen hingegen durch die Rechtsfortbildung verschlechtert, seien die durch die Grundrechte gezogenen Grenzen enger.413 schon: Bien/Jocham, WuW 2019, 186, 192. Pflicht zur grundrechtskonformen Auslegung und Fortbildung des einfachgesetzlichen Rechts: BVerfG, Urt. v. 15. 01. 1958 – 1 BvR 400/51 – Lüth, BVerfGE 7, 198, 208 (zur Auslegung); BVerfG, Beschl. v. 19. 06. 1979 – 2 BvL 14/75, BVerfGE 51, 304, 323 (zur Rechtsfortbildung); Stern, Das Staatsrecht der Bundes­republik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1578; Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar, Band I, 2013, Vorb., Rn. 96; Epping, Grundrechte, 2019, Rn. 347. 411  Siehe zum Verhältnis von Ausgestaltung und Begrenzung: Bumke/Voßkuhle, Casebook Verfassungsrecht, 2020, Rn. 219 f. 412  BVerfG, Beschl. v. 24.02.2015 – 1 BvR 472/14 – Mutmaßlicher Vater, BVerfGE 138, 377, 392 unter Verweis auf: BVerfG, Beschl. v. 14.02.1973 – 1 BvR 112/65 – Soraya, BVerfGE 34, 269, 291; BVerfG, Beschl. v. 19.10.1983 – 2 BvR 485, 486/80 – Sozialplan, BVerfGE 65, 182, 194 f.; Voßkuhle/Osterloh/Di Fabio, BVerfRi des Zweiten Senats, abweichende Meinung zu BVerfG, Beschl. v. 15.01.2009 – 2 BvR 2044/07 – Rügeverkümmerung, BVerfGE 122, 248, 286. 413  BVerfG, Beschl. v. 24.02.2015 – 1 BvR 472/14 – Mutmaßlicher Vater, BVerfGE 138, 377, 392 unter Verweis auf: BVerfG, Beschl. v. 19.10.1983 – 2 BvR 485, 486/80 – Sozialplan, BVerfGE 65, 182, 194 f.; Voßkuhle/Osterloh/Di Fabio, BVerfRi des Zwei409  Dazu 410  Zur



B. Eigener Lösungsansatz215

Die Rechtsfortbildung müsse sich dann „umso stärker auf die Umsetzung bereits bestehender Vorgaben des einfachen Gesetzesrechts beschränken, je schwerer die beeinträchtigte Rechtsposition auch verfassungsrechtlich wieg[e].“414 Betrachtet man die Aussagen des BVerfG, erwecken sie den Anschein, die grundrechtliche Grenzlinie sei für die Rechtsfortbildung elastisch. Bei genauer Betrachtung kann dies aber nicht bestätigt werden. Richtigerweise enthält die Aussage des Ersten Senats verschiedene grundrechtlich zwingende Anforderungen für unterschiedliche Rechtsfortbildungssituationen. Das ergibt sich schon daraus, dass in einem Zivilprozess auf Kläger- und Beklagtenseite Grundrechtsberechtigte beteiligt sind. Eine Rechtsfortbildung, die zum Obsiegen einer Partei führt, hat damit automatisch die Niederlage der anderen zur Folge. Jede Rechtsfortbildung, die den Rechten der obsiegenden Partei zum Durchbruch verhilft, verschlechtert unmittelbar die Rechtsstellung der unterliegenden Partei. Die Aussagen des BVerfG wären perplex, weil die Grenzen für einen identischen Rechtsfortbildungsakt einerseits „weiter“ gesteckt wären, da so dem Kläger zum Prozesssieg verholfen wird, sie aber andererseits auch „enger“ sein müssten, weil in die Grundrechte des unterliegenden Beklagten eingegriffen wird, soweit die Gerichtsentscheidung seine Freiheit verkürzt. Das BVerfG kann sich somit nicht auf eine gleichartige Rechtsfortbildungssituation beziehen, sondern muss verschiedenartige im Blick haben. Für die hier vertretene Deutung spricht zudem, dass sich beide Seiten im Zivilprozess zwar grundsätzlich gleichberechtigt auf Grundrechte berufen können, Kläger und Beklagter durch die Entscheidung über die Fortbildung einer Privatrechtsnorm aber unterschiedlich beeinträchtigt werden. In dieser Hinsicht sind vier Konstellationen zu unterscheiden.415 ten Senats, abweichende Meinung zu BVerfG, Beschl. v. 15.01.2009 – 2 BvR 2044/07 – Rügeverkümmerung, BVerfGE 122, 248, 286. 414  BVerfG, Beschl. v. 24.02.2015 – 1 BvR 472/14 – Mutmaßlicher Vater, BVerfGE 138, 377, 392. 415  Teilweise wird differenziert, ob das Privatrecht im vertraglichen oder im außervertraglichen Bereich betroffen ist: Bumke/Voßkuhle, Casebook Verfassungsrecht, 2020, Rn. 209, die insbesondere annehmen, dass „mit außervertraglichen Zivilrechtsverhältnissen nicht anders umzugehen [ist] als mit Rechtsverhältnissen in anderen Rechtsgebieten“. Richtig ist zwar, dass im Privatrecht die Besonderheit darin besteht, dass Rechtsbeziehungen privatautonom durch Vertrag begründet werden können. Richtig ist ferner, dass Private nicht unmittelbar an die Grundrechte gebunden sind und ihre privatautonomen Akte wie Verträge demnach nicht am Maßstab der Grundrechte gemessen werden; insoweit überzeugend: Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 36 und 41, der zudem den wichtigen Aspekt betont, dass freiheitsbeschränkende Akte Privater nicht dem Staat zugerechnet werden können. Obwohl Bumke/Voßkuhle, Casebook Verfassungsrecht, 2020, Rn. 209 insoweit nicht grundlos die Frage aufwerfen, wie es zur Grundrechtsbindung kommen soll, „wenn die konkreten Rechtsbeziehungen nicht durch den Staat, sondern durch die Bürger gestaltet

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

Wird der Beklagte infolge einer Rechtsfortbildung verurteilt, begründet die hierauf gestützte zivilgerichtliche Entscheidung einen grundrechtsrelevanten Eingriff (Eingriffskonstellation).416 Weil hier die Rechtsstellung des Beklagten verschlechtert wird und bereits eine Wertung im einfachen Gesetzesrecht vorhanden ist, sei die Grenze der Rechtsfortbildung enger.417 Maßgeblich kommt es somit darauf an, ob das Zivilgericht gegen eine zwingende Anforderung aus der Verfassung verstößt, indem es eine Privatrechtsbestimmung aufgrund einer existenten Wertung fortbildet und danach den Beklagten entsprechend verurteilt. Auch wenn das materielle Privatrecht grundsätzlich verfassungskonforme Inhalts- und Schrankenbestimmungen bereithält, weil es anderenfalls von vornherein nichtig wäre, muss aber auch die Gesetzesanwendung im Einzelfall verfassungsgemäß sein.418 Bildet das Zivilgericht eine Privatrechtsnorm fort, darf die Rechtsfortbildung auch dann keinesfalls gegen das „Übermaßverbot“419 und damit den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wurden und diese dabei nicht an die Grundrechte gebunden sind,“ erscheint die Differenzierung in vertragliches und außervertragliches Privatrecht für die Grenzen der Rechtsfortbildung indes nicht zielführend. Da in dieser Arbeit die Fortbildung des einfachgesetzlichen Privatrechts untersucht wird, hat die Differenzierung aber keine Bedeutung. Existiert Vertragsrecht, sind die Grenzen für die Fortbildung des ius dispositivum nicht von Interesse, weil es ohnehin durch das Vertragsrecht verdrängt wird. Wird demgegenüber ius cogens fortgebildet, spielt es ebenfalls keine Rolle, ob dadurch eine Regelung des einfachen Gesetzrechts oder eine solche des Vertragsrechts eingeschränkt wird. 416  Statt aller zur Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde gegen ein Zivilurteil: BVerfG, Urt. v. 15. 01. 1958 – 1 BvR 400/51 – Lüth, BVerfGE 7, 198, 203, in der mit der Verfassungsbeschwerde ein Urteil des LG Hamburg angegriffen wurde; BVerfG, Beschl. v. 07. 02. 1990 – 1 BvR 26/84 – Handelsvertreter, BVerfGE 81 242, 243, die sich gegen Urteile des BGH und des OLG München richtete; BVerfG, Urt. v. 15. 12. 1999 – 1 BvR 653/96 – Caroline von Monaco II, BVerfGE 101, 361, in der Urteile des BGH, des OLG Hamburg und des LG Hamburgs Beschwerdegegenstand waren. 417  BVerfG, Beschl. v. 24.02.2015 – 1 BvR 472/14 – Mutmaßlicher Vater, BVerfGE 138, 377, 392 unter Verweis auf: BVerfG, Beschl. v. 19.10.1983 – 2 BvR 485, 486/80 – Sozialplan, BVerfGE 65, 182, 194 f.; Voßkuhle/Osterloh/Di Fabio, BVerfRi des Zweiten Senats, abweichende Meinung zu BVerfG, Beschl. v. 15.01.2009 – 2 BvR 2044/07 – Rügeverkümmerung, BVerfGE 122, 248, 286. 418  Zum Erfordernis, dass verfassungsmäßige Gesetze im Einzelfall auch verfassungsgemäß angewendet werden müssen: BVerfG in st. Rspr., so z. B. BVerfG, Urt. v. 15.01.1958 – 1 BvR 400/51 – Lüth, BVerfGE 7, 198, 209; BVerfG, Beschl. v. 10.11.1998 – 1 BvR 1531/96 – Scientology, BVerfGE 99, 185, 196; BVerfG, Urt. v. 15.12.1999 – 1 BvR 653/96 – Caroline von Monaco II, BVerfGE 101, 361, 388; ebenso: Badura, Staatsrecht, 2018, S. 137; Walter, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 2020, Art. 93 GG, Rn. 407. 419  Zum Verhältnismäßigkeitsprinzip als „Übermaßverbot“: Lerche, Übermass und Verfassungsrecht, 1961, S. 21; Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, 1976, S.  84 ff.; Wendt, AöR 104 (1979), 414, 415 ff.; Seedorf, in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.),



B. Eigener Lösungsansatz217

verstoßen,420 wenn sie sich auf eine Wertung des Privatrechts stützt.421 Die freiheitsgrundrechtlichen Grenzen der Fortbildung wären in diesem Fall überschritten. Wird der Beklagte infolge einer Rechtsfortbildung verurteilt (Eingriffskonstellation), obwohl eine Wertung im einfachen Gesetzesrecht nicht vorhanden ist, kann dies gleichwohl verfassungsrechtlich erlaubt sein, wenn ohne die Rechtsfortbildung eine freiheitsgrundrechtliche Schutzpflicht gegenüber dem Kläger verletzt werden würde.422 Obwohl es sich auch hier um eine Eingriffskonstellation handelt, weil die Rechte des Beklagten durch die Verurteilung verkürzt werden, besteht der wesentliche Unterschied zur anderen Eingriffskonstellation darin, dass kein Verbot von Verfassungs wegen besteht, in die Grundrechte des Beklagten einzugreifen, sondern es umgekehrt verfassungsrechtlich geboten ist, die Rechtsfortbildung vorzunehmen und in der Konsequenz die Grundrechte der Gegenseite zu beschneiden, um die Grundrechte des Klägers zu schützen.423 Dass die Grenzen hier „weiter“ sind,424 lässt sich schlicht damit erklären, dass in diesem Fall keine Wertung im einfachgesetzlichen Privatrecht vorhanden ist, auf deren Umsetzung sich die

Verhältnismäßigkeit, 2015, S. 130; Canaris, ZIP 1987, 409, 417; implizit auch: von Krauss, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1955, S. 6. 420  Zur Bedeutung der Abwehrfunktion der Grundrechte als wirksames Mittel gegen kompetenzwidrige Rechtsfortbildungen: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 128; kritisch aber: Diederichsen, AcP 198 (1998), 171, 197; ferner zur Anwendbarkeit des Übermaßverbots und damit des Verhältnismäßigkeitsprinzips auf die Rechtssätze, die der zivilgerichtlichen Entscheidung zugrunde liegen: Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 33, was somit ebenfalls für ihre Anwendung durch Auslegung und Rechtsfortbildung gelten muss; ähnlich zur Anwendbarkeit des Übermaßverbots auf die Kontrolle von Gerichtsentscheidungen im Allgemeinen: Meyer, in: von Münch/Kunig, GG-Kommentar, Band 2, 2012, Art. 93 GG, Rn. 60. 421  Zu den Anfängen des Verhältnismäßigkeitsprinzip als Rechtsanwendungsmaßstab: Jestaedt, in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit, 2015, S. 294. 422  Siehe hierzu: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 927, wonach die „Impuls- und Richtliniengebung [der Grundrechte im Privatrecht] jedoch vor allen Dingen auch für die Ausfüllung lückenhaften und für die Schaffung neuen Rechts [bedeutsam werden und] […] sich dabei zu Handlungspflichten verdichten [kann], z. B. nach Art. 5 Abs. 1 und 3 GG, Art. 6 GG, Art. 33 Abs. 5 GG.“ 423  Allgemein zum Schutz durch Eingriff: Wahl/Masing, JZ 1990, 553. 424  BVerfG, Beschl. v. 24.02.2015 – 1 BvR 472/14 – Mutmaßlicher Vater, BVerfGE 138, 377, 392 unter Verweis auf: BVerfG, Beschl. v. 14.02.1973 – 1 BvR 112/65 – Soraya, BVerfGE 34, 269, 291; BVerfG, Beschl. v. 19.10.1983 – 2 BvR 485, 486/80 – Sozialplan, BVerfGE 65, 182, 194 f.; Voßkuhle/Osterloh/Di Fabio, BVerfRi des Zweiten Senats, abweichende Meinung zu BVerfG, Beschl. v. 15.01.2009 – 2 BvR 2044/07 – Rügeverkümmerung, BVerfGE 122, 248, 286.

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

Zivilrichter beschränken könnten.425 Da sich eine grundrechtliche Schutzpflicht zunächst an den Gesetzgeber richtet,426 die fehlende Berücksichtigung im einfachen Recht aber belegt, dass die Legislative die Pflicht nicht erfüllt hat, ist die Judikative aufgerufen, die Grundrechte entsprechend zu schützen. Sie kann – unter Anwendung der Formulierung des BVerfG – schon sprachlich nicht auf die Umsetzung einer nicht existenten Wertung beschränkt sein, sondern das Privatrecht weitreichender fortbilden, um die verfassungsrecht­ liche Schutzpflicht zu erfüllen.427 Insoweit sind die Grenzen der Fortbildung „weiter“ und dann nicht überschritten. Wird der Kläger jedoch infolge einer Rechtsfortbildung mit seinem Antrag abgewiesen (Schutzkonstellation), wird seine Rechtsstellung demgegenüber weder verschlechtert noch stellt dies einen Eingriff in seine Rechte dar, weil das Zivilgericht ihm hier lediglich den beantragten staatlichen Schutz verwehrt.428 Das klageabweisende Urteil kann dem Grundgesetz nicht dadurch widersprechen, dass es in die Grundrechte des Klägers eingreift; vielmehr ist zu prüfen, ob das Gericht verfassungswidrig handelt, indem es durch die Vornahme der Rechtsfortbildung ein Mindestmaß an Klägerschutz unterschreitet, das jedoch von Verfassungs wegen geboten ist. Da eine klageabweisende Gerichtsentscheidung nicht in die Grundrechte des Klägers eingreift, können die Zivilrichter hier nicht gegen das Übermaß-, sondern nur gegen das Untermaßverbot verstoßen, soweit eine Entscheidung zugunsten des Klägers wegen einer grundrechtlichen Schutzpflicht geboten war. Eine entgegenstehende Rechtsfortbildung überschreitet die Grenzen, die sich aus den Freiheitsgrundrechten ergeben. Wird der Kläger infolge einer Rechtsfortbildung mit seinem Antrag abgewiesen (Schutzkonstellation), ist aber nicht nur vorstellbar, dass diese Maßnahme gegen Freiheitsgrundrechte des Klägers verstößt, weil der verfassungsrechtlich gebotene Mindestschutz unterschritten wird. Ebenso ist es möglich, dass die Rechtsfortbildung, die zur Abweisung führt, sogar von 425  Dies setzt BVerfG, Beschl. v. 24. 02. 2015 – 1 BvR 472/14 – Mutmaßlicher Vater, BVerfGE 138, 377, 392 aber voraus: „Rechtsfindung muss sich umso stärker auf die Umsetzung bereits bestehender Vorgaben des einfachen Gesetzesrechts beschränken, je schwerer die beeinträchtigte Rechtsposition auch verfassungsrechtlich wiegt.“ 426  Oeter, AöR 119 (1994), 529, 537 f.; Epping, Grundrechte, 2019, Rn. 351. 427  Siehe dazu: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1576, wonach „in erster Linie der Gesetzgeber und die Zivilgerichtsbarkeit zur Realisierung“ der Schutzgebotsfunktion der Grundrechte aufgerufen sind; eingehend zum Schutzpflichtenmechanismus im Privatrecht: Canaris, AcP 184 (1984), 201, 225 ff. 428  So zum klageabweisenden Urteil, indes ohne Bezug zur Rechtsfortbildung: Epping, Grundrechte, 2019, Rn. 373.



B. Eigener Lösungsansatz219

Verfassungs wegen geboten war, um einer verfassungsrechtlichen Schutzpflicht zugunsten des Beklagten nachzukommen. Die freiheitsgrundrecht­ lichen Grenzen sind in diesem Fall nicht überschritten, weil eine Verletzung des Klägers aufgrund kollidierender Rechte des Beklagten ausgeschlossen ist. (c) Zwischenergebnis Die Grundrechte sind folglich in der Lage, die zivilgerichtliche Rechtsfortbildung zu begrenzen; dabei entfalten sie ihre beschränkende Wirkung aber auf unterschiedliche Weise. Es kommt allein darauf an, wie die Grundrechte auf den Inhalt der Entscheidung Einfluss nehmen, indem sie auf das einfachgesetzliche Privatrecht als Entscheidungsmaßstab einwirken. Ungeachtet einer etwaigen Horizontalwirkung haben die Zivilgerichte die Gleichheitsgrundrechte stets bei der Fortbildung zu berücksichtigen, soweit diese zur Rechtsanwendungsgleichheit verpflichten oder besondere Diskriminierungsverbote normieren. Anders als die Gleichheitssätze gelten die Freiheitsgrundrechte aber nicht schon infolge des Vertikalverhältnisses von Gericht und Prozessparteien, sondern nur, soweit sie die Rechtsbeziehungen im Horizontalverhältnis zwischen den Streitparteien beeinflussen. Zwischen Privatpersonen wirken die Grundrechte zwar nicht unmittelbar, sie haben aber mittelbar Bedeutung, weil die Legislative beim Erlass der Privatrechtsnormen an sie gebunden ist und aus dem einfachen Gesetzesrecht daher keine Rechtsfolgen erwachsen können, die mit den Grundrechten unvereinbar sind. Weil die Freiheitsgrundrechte aber anders als die Gleichheitssätze durch das einfachgesetzliche Privatrecht konkretisiert und begrenzt werden, ergibt sich nur dann eine zwingende rechtsfortbildungsbeschränkende Anordnung aus ihnen, wenn gegen das Übermaß- oder das Untermaßverbot verstoßen wird. (2) Gleichheitsgrundrechte als Grenze Unzweifelhaft werden der Rechtsfortbildung im Privatrecht durch die Gleichheitsgrundrechte Grenzen gesetzt. Dem Zivilrichter ist durch besondere Gleichheitssätze eine Differenzierung anhand bestimmter Kriterien verboten und durch das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit429 sogar gene429  Zur Rechtsanwendungsgleichheit: BVerfG, Beschl. v. 04.  04. 1984 – 1 BvR 276/83, BVerfGE 66, 331, 335 f.; BVerfG, Beschl. v. 14. 01. 1986 – 1 BvR 209/79, 221/79, BVerfGE 71, 354, 362; BVerfG, Beschl. v. 14. 01. 1986 – 1 BvR 209/79, 1 BvR 221/79, BVerfG, NJW 1986, 2242, 2243; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 84; Nußberger, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 3 GG, Rn. 124; vertiefend: Schladebach, NVwZ 2018, 1241.

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

rell untersagt, das Privatrecht gleichheitswidrig auszulegen oder fortzubilden. Weil dies rechtsgebietsunabhängig für die Judikative gilt, resultiert die rechtsfortbildungsbegrenzende Wirkung der Gleichheitsgrundrechte aus der unmittelbaren Bindung der Zivilgerichte in Form der Vertikalbeziehung zu den Parteien. Darüber hinaus sind die Prozessparteien aber auch mittelbar an die Gleichheitsgrundrechte gebunden, soweit der Privatrechtsgesetzgeber sie bei der Ausgestaltung der Privatrechtsordnung zu beachten hat. Obgleich dies nicht unmittelbar aus dem Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 GG folgt, entnimmt ihm das BVerfG in ständiger Rechtsprechung nicht nur das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit für die Judikative, sondern ermahnt die Legislative gleichzeitig zur Rechtssetzungsgleichheit.430 Sind Freiheits- und Gleichheitsgrundrechte in ihrer Wirkungsweise auch grundsätzlich verschieden,431 haben sie doch gemeinsam, dass hier wie dort aus der Privatrechtsordnung keine Rechtsfolgen erwachsen dürfen, die mit ihnen unvereinbar sind.432 Während sich die Detailprüfung allein aus der Grundrechtsdogmatik ergibt, genügt es an dieser Stelle, festzustellen, dass die Grenzen der Fortbildung im Privatrecht überschritten sind, wenn die Entscheidung infolge der Rechtsfortbildung einen Inhalt annehmen würde, der mit den besonderen Gleichheitssätzen oder mit dem allgemeinen Gebot der Gleichbehandlung unvereinbar wäre. (a) Besondere Gleichheitssätze als Grenze Relevant sind damit zunächst die besonderen Gleichheitssätze für Mann und Frau in Art. 3 Abs. 2 GG, für Geschlecht, Rasse, Sprache, Heimat, Her430  Zur Rechtssetzungsgleichheit und Bindung des Gesetzgebers an die Gleichheitssätze: In st. Rspr. z. B. BVerfG, Urt. v. 23. 10. 1951 – 2 BvG 1/51 – Südweststaat, BVerfGE 1, 14, 52 f.; BVerfG, Urt. v. 07. 08. 1962 – 1 BvL 16/60 – Feldmühle-Urteil, BVerfGE 14, 263, 284; BVerfG, Beschl. v. 07. 07. 1971 – 1 BvR 775/66 – Private Tonbandvervielfältigungen, BVerfGE 31, 255, 266; jüngst: BVerfG, Beschl. v. 06. 06. 2018 – 1 BvL 7/14 und 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774, 779; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 84; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1569; Boysen, in: von Münch/ Kunig, GG-Kommentar, Band 1, 2012, Art. 3 GG, Rn. 31. 431  Näher zur unterschiedlichen Wirkungsweise von Freiheits- und Gleichheitsgrundrechten: Heun, in: Dreier, GG-Kommentar, Band I, 2013, Art. 3 GG, Rn. 71. 432  Zur Bindung der Zivilgerichte an Art. 3 Abs. 1 GG: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 122, der betont, dass die „Bindung der Zivilrechtsprechung an den Gleichheitssatz […] außer Frage“ steht; Heun, in: Dreier, GG-Kommentar, Band I, 2013, Art. 3 GG, Rn. 70, der dies jedenfalls für „Normen im nichtvertraglichen Bereich“ annimmt; uneingeschränkt hingegen: Epping, Grundrechte, 2019, Rn. 358, der insoweit den „Zivilrichter in ihrer klassischen Funktion gebunden“ sieht.



B. Eigener Lösungsansatz221

kunft, Glauben, Weltanschauung und Behinderung in Art. 3 Abs. 3 GG, für Ehe und Familie in Art. 6 Abs. 1 GG,433 für uneheliche Kinder in Art. 6 Abs. 5 GG,434 für die staatsbürgerliche Gleichheit in Art. 33 Abs. 1 bis 3 GG und für politische Parteien in Art. 21 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 3 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG.435 Vorstellbar wäre, dass ein Gericht eine teleologische Reduktion einer einfachgesetzlichen Regelung in Betracht zieht, hiermit aber ein Verstoß gegen die verfassungsrechtlichen Differenzierungskriterien der Art. 3 Abs. 2 und 3 GG einherginge. Deutlich wichtiger dürften die besonderen Gleichheitssätze aber für die Gestattung einer Rechtsfortbildung sein. Insoweit wäre denkbar, dass eine Norm des Privatrechts selbst gegen einen solchen verstößt und eine Rechtsfortbildung somit geboten wäre, um den Verstoß abzustellen.436 Sollte ein besonderer Gleichheitssatz in einem Rechtsstreit nicht eingreifen, kann der allgemeine aus Art. 3 Abs. 1 GG die Grenze ziehen.

433  Zum Diskriminierungs- und Benachteiligungsverbot aus Art. 6 Abs. 1 GG: In st. Rspr. z. B. BVerfG, Urt. v. 21. 02. 1961 – 1 BvL 29/57, 20/60 – Ehegattenfreibetrag, BVerfGE 12, 151, 165; BVerfG, Beschl. v. 27. 05. 1970 – 1 BvL 22/63 und 27/64 – Heiratswegfallklausel, BVerfGE 28, 324, 347; BVerfG, Beschl. v. 12. 05. 1987 – 2 BvR 1226/83, 101, 313/84 – Familiennachzug, BVerfGE 76, 1, 73; BVerfG, Beschl. v. 10. 11. 1998 – 2 BvR 1057, 1226, 980/91 – Familienlastenausgleich II, BVerfGE 99, 216, 232; dass Ehe und Familie gem. Art. 6 Abs. 1 GG „unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung“ stehen, hat zur Folge, dass dieser Grundsatznorm unabhängig von der später zu thematisierenden freiheitsrechtlichen Schutzpflichtdogmatik eine Schutzpflicht zu entnehmen ist, die in ihren Wirkungen sogar weiter reicht; hierzu auch: Kingreen, Jura 1997, 401, 404 f.; Burgi, Der Staat 39 (2000), 487, 496 f.; von Coelln, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 6 GG, Rn. 19 und 34; eingehend zu den besonderen Schutzfacetten: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band IV/1, 2006, S. 429 und 446. 434  Zum Diskriminierungsverbot aus Art.  6 Abs. 5 GG: BVerfG, Beschl. v. 29. 10. 1963 – 1 BvL 15/58, BVerfGE 17, 148, 153; BVerfG, Beschl. v. 11. 03. 1964 – 1 BvL 4/63, BVerfGE 17, 280, 286; BVerfG, Beschl. v. 29. 01. 1969 – 1 BvR 26/66 – Nichtehelichkeit, BVerfGE 25, 167, 190 f. 435  Dazu und zu weiteren besonderen Gleichheitssätzen: Kischel, in: BeckOK-GG, 2020, Art. 3 GG, Rn. 1 f.; Bumke/Voßkuhle, Casebook Verfassungsrecht, 2020, Rn. 451. 436  Näher zur Bedeutung des besonderen Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 2, wenn die Rechtsnorm selbst gegen ihn verstößt: BVerfG, Beschl. v. 13. 11. 1979 – 1 BvR 631/78, BVerfGE 52, 369, der zwar keine Rechtsfortbildung zum Gegenstand hatte, in dem aber die Urteilsverfassungsbeschwerde gegen ein arbeitsgerichtliches Urteil infolge eines Verstoßes gegen den besonderen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 2 GG Erfolg hatte.

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

(b) Allgemeiner Gleichheitssatz als Grenze Art. 3 Abs. 1 GG verbietet es den Zivilgerichten, „wesentlich Gleiches ohne zureichenden Grund ungleich“437 und „Ungleiches gleich“438 zu behandeln und damit „willkürlich“ zu benachteiligen. Auch wenn das Privatrecht hiernach gleichheitskonform anzuwenden ist, kommt diesem Gebot in der Praxis nur eine geringe Bedeutung zu.439 Teilweise wird der Grund hierfür darin gesehen, dass Gerichtsverfahren stark individuell geprägt sind und daher weniger vergleichbare Parallelfälle existieren als in der Massenverwaltung.440 Infolgedessen sei die behauptete Ungleichbehandlung nicht gegeben, da sie voraussetze, dass dasselbe Gericht in einem wesentlich gleich gelagerten Prozess rechtmäßig anders entschieden habe.441 Aber selbst dies erscheint zweifelhaft, wenn umstritten ist, ob sich ein Gericht durch eine vorangegangene Entscheidung überhaupt selbst binden kann.442 Weil man in Anbetracht der richterlichen Unabhängigkeit einhellig annimmt, dass eine höchstrichterliche Rechtsprechung keine Bindungswirkung für andere Gerichte erzeugt,443 darf dies aber richtigerweise nicht anders beurteilt werden, wenn ein Spruchkörper desselben Gerichts erneut entscheidet.444 Dem BVerfG ist folglich darin zuzustimmen, dass sich eine Gleichheitswidrigkeit nicht aus dem schlichten Vergleich mit Vorgängerentscheidungen ergibt, sondern nur aus der Begründung im Einzelfall.445 Schließlich wird nur aus ihr erkennbar, ob eine potenzielle Rechtsprechungsänderung nachvollziehbar oder willkürlich erscheint.446 437  BVerfG, Beschl. v. 17. 06. 1953 – 1 BvR 668/52 – Armenanwalt, BVerfGE 2, 336, 340; im Ergebnis ebenso: BVerfG, Beschl. v. 15. 07. 1998 – 1 BvR 1554/89, 963, 964/94, BVerfGE 98, 365, 385; BVerfG, Beschl. v. 07. 02. 2012 – 1 BvL 14/07, BVerfGE 130, 240, 252; zur Rechtsprechungsentwicklung: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1495 f. 438  Kischel, in: BeckOK-GG, 2020, Art. 3 GG, Rn. 16. 439  Näher hierzu: BVerfG, Beschl. v. 11. 04. 2018 – 1 BvR 3080/09, BVerfGE 148, 267, 283; Ruffert, JuS 2020, 1, 3 f. 440  Siehe dazu: Boysen, in: von Münch/Kunig, GG-Kommentar, Band 1, 2012, Art. 3 GG, Rn. 44. 441  Boysen, in: von Münch/Kunig, GG-Kommentar, Band 1, 2012, Art. 3 GG, Rn. 46. 442  Dafür: Riggert, Die Selbstbindung der Rechtsprechung durch den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG), 1993, S. 48; zum Ganzen: Nußberger, in: Sachs, GGKommentar, 2018, Art. 3 GG, Rn. 128. 443  Kühling, DVBl 2006, 857, 864; Hainthaler, ZJS 2015, 13, 14. 444  Daher zu Recht gegen eine Selbstbindung der Rechtsprechung: BVerfG, B ­ eschl. v. 11.05.1965 – 2 BvR 259/63 – S-Urteil des Bundesfinanzhofes, BVerfGE 19, 38, 47. 445  BVerfG, Beschl. v. 23. 06. 1990 – 2 BvR 752/90, NJW 1990, 3140; ebenso: Nußberger, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 3 GG, Rn. 129. 446  Vgl. Heun, in: Dreier, GG-Kommentar, Band I, 2013, Art. 3 GG, Rn. 64.



B. Eigener Lösungsansatz223

Letztlich dürfte aber der weite Gestaltungsspielraum des Privatgesetzgebers ausschlaggebend dafür sein, dass das BVerfG Art. 3 Abs. 1 GG ausschließlich als ultima ratio zur Korrektur gerichtlicher Entscheidungen heranzieht.447 Wird die Legislative den variierenden Anforderungen448 von „Will­ kürformel“,449 „neuer Formel“,450 „neuster Formel“451 und „Stufenlos-For­ mel“452 gerecht, kann ein Zivilgericht nämlich nur dann gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstoßen, wenn es verfassungsmäßige Bestimmungen gleichheitswidrig vollzieht. Obwohl damit vorstellbar wäre, dass sich auch die konkrete Rechtsanwendung an den Maßstäben des Art. 3 Abs. 1 447  Siehe hierzu jüngst: BVerfG, Beschl. v. 11.  04.  2018 – 1 BvR 3080/09, BVerfGE 148, 267, 283, wonach „Art. 3 Abs. 1 GG kein objektives Verfassungsprinzip [enthält], wonach die Rechtsbeziehungen zwischen Privaten von diesen prinzipiell gleichheitsgerecht zu gestalten wären. […] Gleichheitsrechtliche Anforderungen für das Verhältnis zwischen Privaten können sich aus Art. 3 Abs. 1 GG jedoch für spezifische Konstellationen ergeben.“; ebenfalls zu dieser restriktiven Handhabung: Ruffert, JuS 2020, 1, 3 f.; Nußberger, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 3 GG, Rn. 125. 448  Zu dieser Einteilung und zum Ganzen: Kischel, in: BeckOK-GG, 2020, Art. 3 GG, Rn.  28 f. 449  Exemplarisch zur „Willkürformel“: BVerfG, Urt. v. 23.  10. 1951 – 2 BvG 1/51 – Südweststaat, BVerfGE 1, 14, 52: „Der Gleichheitssatz ist verletzt, wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden läßt, kurzum, wenn die Bestimmung als willkürlich bezeichnet werden muß.“ 450  Siehe zur „neuen Formel“: BVerfG, Beschl. v. 07. 10. 1980 – 1 BvL 50, 89/79, 1 BvR 240/79 – Präklusion I, BVerfGE 55, 72, 88 m. w. N.: „Grundrecht vor allem dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten“; ferner zur Rechtsprechungsentwicklung: Epping, Grundrechte, 2019, Rn. 798, der annimmt, dass das BVerfG die herkömmliche Zweitteilung in Willkürformel und neue Formel überwunden hat, sodass nunmehr stets von der neuen Formel auszugehen sei, wobei die Aspekte der Willkürformel in diese integriert würden. 451  Zur sog. „neusten Formel“: BVerfG, Beschl. v. 26. 01. 1993 – 1 BvL 38, 40, 43/92 – Transsexuelle II, BVerfGE 88, 87, 96: „Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen“. 452  Zur sog. „Stufenlos-Formel“: BVerfG, Beschl. v. 21.  06.  2011 – 1 BvR 2035/07 – Mediziner-BAföG, BVerfGE 129, 49 (1. Leitsatz): „Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die stufenlos von gelockerten, auf das Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhältnis­ mäßigkeitsanforderungen reichen können“ [Hervorhebung v. Verf.]; siehe hierzu: Kischel, in: BeckOK-GG, 2020, Art. 3 GG, Rn. 28.

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

GG bis hin zur strengen Verhältnismäßigkeit453 messen lassen muss, hat das BVerfG hierzu ausdrücklich klargestellt, dass es sich ausschließlich auf eine Willkürkontrolle beschränkt.454 Eine Angemessenheitsprüfung ist demgegenüber weder gemeint noch gewollt.455 In der Konsequenz sperrt Art. 3 Abs. 1 GG die Fortbildung einer Privatrechtsnorm zumindest dann, wenn die Zivilgerichte mit ihr Differenzierungen herbeiführen, die dem Gesetzgeber untersagt sind.456 Ein Gleichheitsverstoß ist zudem anzunehmen, wenn das Gericht einer Personengruppe eine Vergünstigung generell entzieht, obwohl der Gesetzgeber diese im Normtext bewusst mehreren Personengruppen eingeräumt hatte.457 Eine Gleichheitswidrigkeit kann sich weiter daraus ergeben, dass der Richter eine an sich gleichheitskonforme Privatrechtsnorm willkürlich zur Anwendung bringt. Insoweit ist jedoch zu beachten, dass eine rechtswidrige Rechtsanwendung nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG nicht automatisch zur Willkür und so zu einem Gleichheitsverstoß führt.458 Willkürlich ist sie erst, wenn die Rechtsanwendung „unter keinem denkbaren Aspekt mehr rechtlich vertretbar […] [ist] und sich daher der Schluß aufdrängt, daß die Entscheidung auf sachfremden und damit willkürlichen Erwägungen beruht.“459 Gleiches gelte, 453  Zu den modifizierten Verhältnismäßigkeitserwägungen im gleichheitsrecht­ lichen Kontext: Kube, in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit, 2015, S. 163 f. 454  BVerfG, Beschl. v. 26. 05. 1993 – 1 BvR 208/93 – Besitzrecht des Mieters, BVerfGE 89, 1, 14: „Soweit es in früheren Entscheidungen heißt, willkürlich sei eine Maßnahme, die im Verhältnis zu der Situation, der sie Herr werden solle, tatsächlich und eindeutig unangemessen sei […], ist mit dieser Wendung keine weitergehende Prüfung, etwa im Sinne einer Art Angemessenheitsprüfung, gemeint und gewollt.“ [Hervorhebungen v. Verf.]; ebenso für eine bloße Willkürkontrolle: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 137; Nußberger, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 3 GG, Rn. 126. 455  BVerfG, Beschl. v. 26. 05. 1993 – 1 BvR 208/93 – Besitzrecht des Mieters, BVerfGE 89, 1, 14. 456  BVerfG, Beschl. v. 08.04.1998 – 1 BvR 1773/96, BVerfGE 98, 49, 62; BVerfG, Beschl. v. 11.01.2005 – 2 BvR 167/02, BVerfGE 112, 164, 174; Epping, Grundrechte, 2019, Rn. 792. 457  Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1480, der sich hierfür auf BVerfG, Beschl. v. 14. 01. 1986 – 1 BvR 209/79, 1 BvR 221/79, BVerfG, NJW 1986, 2242, 2243, eine Entscheidung zum Steuerrecht, bezieht. 458  In st. Rspr. z. B. BVerfG, Beschl. v. 03.11.1992 – 1 BvR 1243/88 – Erörterungsgebühr, BVerfGE 87, 273, 279; BVerfG, Beschl. v. 26.05.1993 – 1 BvR 208/93 – Besitzrecht des Mieters, BVerfGE 89, 1, 13 f. Statt aller: Boysen, in: von Münch/Kunig, GG-Kommentar, Band 1, 2012, Art. 3 GG, Rn. 45. 459  BVerfG, Beschl. v. 15. 03. 1989 – 1 BvR 1428/88, BVerfGE 80, 48, 51; BVerfG, Beschl. v. 07. 04. 1992 – 1 BvR 1772/91, BVerfGE 86, 59, 63; mit nahezu identischer Formulierung zuvor schon: BVerfG, Beschl. v. 01.  07.  1954 – 1 BvR 361/51, BVerfGE 4, 1, 7; BVerfG, Beschl. v. 03. 11. 1982 – 1 BvR 710/82, BVerfGE 62, 189,



B. Eigener Lösungsansatz225

wenn eine „offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt einer Norm in krasser Weise“ missdeutet werde.460 Auch wenn diese hohen Anforderungen in der Rechtsprechungspraxis kaum je erreicht werden, ist ein Urteil des Amtsgerichts Hersbruck vom 31.08.2004 als seltenes Beispiel zu nennen, welches das BVerfG wegen eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot aufhob.461 In seiner Entscheidung hatte das Amtsgericht eine Mietzahlungsklage als verwirkt abgewiesen, dabei aber die Grundsätze des Verwirkungsrechts ignoriert und sie schlicht damit begründet, dass der Vermieter „die rückständigen Mieten nicht zusammen mit der Räumungsklage eingeklagt habe.“462 Dass Art. 3 Abs. 1 GG jenseits dieser Extremfälle keine Bedeutung hat, lässt sich dogmatisch damit erklären, dass die Privatrechtsordnung dem gesetzesgebundenen Zivilrichter vorgibt, wie ein Fall zu entscheiden ist. Wendet er das verfassungskonforme Gesetzesrecht korrekt an, werden die in ihm geregelten wesentlich gleichen Sachverhalte auch gleich entschieden. Wendet er das Gesetzesrecht falsch an und behandelt er damit einen wesentlich gleichen Sachverhalt ungleich, verlässt der Zivilrichter seine Gesetzesbindung und handelt schon deshalb rechtswidrig, ohne dass es hierfür auf einen Rückgriff auf Art. 3 Abs. 1 GG ankäme.463 (3) Freiheitsgrundrechte als Grenze Grenzen findet die Fortbildung einer Privatrechtsnorm ferner in den Freiheitsgrundrechten. Mag dies zu Beginn überraschen, weil die freiheitsversprechenden Schutzbereiche durch die Privatrechtsnormen verfassungskonform begrenzt werden können, ist zwischenzeitlich erarbeitet worden, dass die Freiheitsgrundrechte vermittelt durch das Privatrecht weiterhin Einfluss nehmen können. Wenngleich dieser die Rechtsbeziehungen zwischen den 192; Boysen, in: von Münch/Kunig, GG-Kommentar, Band 1, 2012, Art. 3 GG, Rn. 45; eingehend zum Willkürbegriff in der Verfassungsgerichtsrechtsprechung: Weiß, Objektive Willkür, 2000, S. 35 ff. 460  BVerfG, Beschl. v. 03.  11.  1992 – 1 BvR 1243/88 – Erörterungsgebühr, BVerfGE 87, 273, 279; BVerfG, Urt. v. 08. 07. 1997 – 1 BvR 1934/93, BVerfGE 96, 189, 203; ähnlich zuvor schon: BVerfG, Beschl. v. 13. 11. 1990 – 1 BvR 275/90, BVerfGE 83, 82, 85 f. 461  BVerfG, Beschl. v. 14. 12. 2005 – 1 BvR 2874/04, BeckRS 2005, 32543. 462  BVerfG, Beschl. v. 14.12.2005 – 1 BvR 2874/04, BeckRS 2005, 32543, Rn. 24. 463  Ferner hat Art. 3 Abs. 1 GG auch insoweit keine weitergehende Bedeutung, als aus ihm keine Schutzpflicht abzuleiten ist, Privatpersonen zur wechselseitigen Gleichbehandlung anzuhalten; siehe dazu: Dietlein, Die Lehre von den grundrecht­ lichen Schutzpflichten, 1992, S. 84; Erichsen, Jura 1997, 85, 87; Epping, Grundrechte, 2019, Rn. 773.

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

Prozessparteien nicht unmittelbar gestaltet, wirkt er doch auf die Privatrechtsnormen, die ihrerseits nur bestehen können, wenn sie mit der Verfassung und damit auch mit den Freiheitsgrundrechten vereinbar sind. Da Kläger und Beklagter unmittelbar an das einfachgesetzliche Privatrecht gebunden sind, erreicht eine grundrechtliche Anordnung auf diesem Weg auch das Privatrechtsverhältnis. Hierzu wurde ermittelt, dass die Freiheitsgrundrechte dann eine Grenzlinie ziehen, wenn das Zivilgericht mit der Rechtsfortbildung gegen das Übermaß- oder das Untermaßverbot verstößt. (a) Freiheitsgrundrechtliche Abwehrfunktion als Grenze Wird der Beklagte infolge einer Rechtsfortbildung verurteilt, wird in seine Rechte eingegriffen, sodass die Freiheitsgrundrechte sowohl in ihrer abwehrrechtlichen als auch in ihrer schutzrechtlichen Funktion relevant werden können. Im ersten Fall sperren die Grundrechte die Rechtsfortbildung, wenn eine Prüfung des gebotenen Normzwecks zu dem Ergebnis gelangt, dass eine entsprechende Wertung aus der anzuwendenden oder einer gleichrangigen Bestimmung zwar grundsätzlich vorhanden ist, die Anwendung der Norm im Einzelfall aber gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Übermaßverbot) verstößt. Im zweiten Fall sind die Grundrechte gleichfalls grenzrelevant, führen aber gerade umgekehrt dazu, dass die Rechtsfortbildung gestattet und sogar geboten ist. Existiert keine Wertung aus der anzuwendenden oder einer gleichrangigen Bestimmung, müsste eine Rechtsfortbildung an sich scheitern. Besteht jedoch eine grundrechtliche Schutzpflicht, kann die Rechtsfortbildung von Verfassungs wegen geboten und infolgedessen auch ohne eine entsprechende Wertung im einfachgesetzlichen Privatrecht erlaubt sein. Ist dies der Fall, ist die Rechtsfortbildung gestattet und geboten. Lässt sich keine grundrechtliche Schutzpflicht feststellen, sind die Grenzen überschritten. (aa) Verbotene Rechtsfortbildung zulasten des Beklagten Betrachtet man den ersten Fall, dass eine Wertung im Privatrecht vorhanden ist, sie durch eine Rechtsfortbildung verwirklicht wird und der Beklagte im Rechtsstreit unterliegt, ist erneut zu differenzieren. Einerseits ist es möglich, dass die Wertung aus der anzuwendenden oder einer anderen Privatrechtsnorm schon für sich genommen unverhältnismäßig oder aus anderen Gründen verfassungswidrig ist. Auch in dieser Konstellation handelt die Judikative der Verfassung zuwider, indem sie ihre Rechtsfortbildung auf eine unverhältnismäßige Norm stützt; sie setzt dann nur den originären Verfassungsverstoß fort, welcher bereits durch die Legislative begangen worden ist, indem sie eine verfassungswidrige Privatrechtsbestimmung erlassen



B. Eigener Lösungsansatz227

hat.464 Andererseits ist denkbar, dass die Vorschrift an sich verhältnismäßig ist, die Grenzlinie zulässiger Rechtsfortbildung aber überschritten wird, indem sie eigenständig den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzt.465 Entgegen vertretener Ansicht kann der Grundsatz dergestalt auf Privatrechtsbeziehungen einwirken.466 Dem wird teilweise entgegengehalten, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verfüge im Zivilrecht über keinen Anwendungsbereich, weil die Legislative die Privatinteressen bei Erlass der Privatrechtsnorm schon umfassend ausgeglichen habe.467 Er diene nur der Abwehr hoheitlicher Gewalt468 und könne daher im Zivilrecht keine uneingeschränkte Anwendung finden, weil sich dort beide Prozessparteien auf die Grundrechte berufen könnten.469 Die auch hier vertretene Gegenansicht führe zudem dazu, dass das BVerfG zur Superrevisionsinstanz avanciere.470 Richtig ist, dass der BGH nach Art. 95 Abs. 1 GG den obersten Gerichtshof für die ordentliche 464  Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 129. 465  Dass die Abwehrfunktion der Grundrechte ein wirksames Mittel gegen eine kompetenzwidrige Rechtsfortbildung ist: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 128; kritisch aber: Diederichsen, AcP 198 (1998), 171, 197; ferner zur Anwendbarkeit des Übermaßverbots und damit des Verhältnismäßigkeitsprinzips auf die Rechtssätze, die der zivilgerichtlichen Entscheidung zugrunde liegen: Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 33, was somit ebenfalls für ihre Anwendung durch Auslegung und Rechtsfortbildung gelten muss; ähnlich zur Anwendbarkeit des Übermaßverbots auf die Kontrolle von Gerichtsentscheidungen: Meyer, in: von Münch/Kunig, GG-Kommentar, Band 2, 2012, Art. 93 GG, Rn. 60. 466  Für eine Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Zivilrecht: BGH, Urt. v. 11. 02. 1987 – IVa ZR 194/85, BGHZ 100, 60, 64; Canaris, JZ 1988, 494, 495 f. und 497; mit Einschränkungen ebenso: Neuner, NJW 2000, 1822, 1824; gegen die pauschale Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Zivilrecht hingegen: Bieder, Das ungeschriebene Verhältnismäßigkeitsprinzip als Schranke privater Rechtsausübung, 2007, S. 27 ff.; Bieder, Kompensatorische Vertragsgestaltung im Arbeits- und Wirtschaftsrecht, 2015, S. 409 f.; Medicus, AcP 192 (1992), 35, 68 ff.; Merten, in: Hengstschläger/Köck/Korinek/Stern/Truyol y Serra (Hrsg.), Festschrift Schambeck, 1994, S. 364 f.; Preis, in: Hanau/Heither/Kühling (Hrsg.), Festschrift Dieterich, 1999, S. 435; Kähler, in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit, 2015, S. 212 ff.; zum Streitstand: Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 10 Rn.  93 ff. 467  Medicus, AcP 192 (1992), 35, 37. 468  Zur historischen abwehrrechtlichen Ausrichtung: Lepsius, in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit, 2015, S. 2 ff. 469  Siehe zur Grundrechtsberechtigung beider Seiten: Medicus, AcP 192 (1992), 35, 59; Preis, in: Hanau/Heither/Kühling (Hrsg.), Festschrift Dieterich, 1999, S. 435, der deshalb die Frage aufwirft, ob „die auf die bloße Über-Unterordnungsrelation zugeschnittene Verhältnismäßigkeitsbetrachtung weiterführt.“ 470  Medicus, AcP 192 (1992), 35, 69 und 65 zum Superrevisionsgedanken; Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 10 Rn. 94.

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

Gerichtsbarkeit in Zivilsachen darstellt und daher nicht zum zweitobersten Gericht degradiert werden darf. Zudem kann die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht dazu führen, dass die Fälle des Zivilrechts künftig durch eine freie Interessenabwägung entschieden werden anstatt nach Maßgabe des einfachgesetzlichen Rechts. Ebenfalls trifft zu, dass der Gesetzgeber die berührten Privatinteressen ermittelt, gewichtet und so zu einer bestimmten Wertentscheidung gelangt, die er anschließend der Privatrechtsnorm als Wertung untergelegt.471 Ist damit kein Einwand der Gegenauffassung für sich unzutreffend, ziehen die Autoren hieraus aber die unrichtigen Schlüsse. Hat der Gesetzgeber einen Ausgleich zwischen den berührten Grundrechten hergestellt, muss dieser stets auch auf der Ebene der Rechtsanwendung gewahrt bleiben.472 Ist bereits im Rahmen der Urteilsverfassungsbeschwerde für die Auslegung anerkannt, dass auch die Anwendung eines an sich verfassungsgemäßen Gesetzes im Einzelfall verfassungswidrig sein kann, muss dies erst recht gelten, wenn kein Fall der Auslegung, sondern ein solcher der Rechtsfortbildung gegeben ist.473 Wie gezeigt gebietet auch die Grundrechtsberechtigung von Kläger und Beklagtem keinen Ausschluss des Übermaßverbots. Existiert eine privatrechtliche Wertung, der durch Rechtsfortbildung zur Anerkennung verholfen wird und führt dies zum Unterliegen des Beklagten, darf er von Verfassungs wegen lediglich verlangen, dass die Verurteilung nicht unverhältnismäßig seine Grundrechte verkürzt. Weil die Parteien nur aus wirksamen und damit aus verfassungskonformen Privatrechtsnormen Rechte herleiten können, bedeutet die Anwendung des 471  Zur Herstellung des Interessenausgleichs durch den Gesetzgeber: SchmidtPreuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 2005, S. 37; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1578, der deshalb zu Recht annimmt, dass das Gesetzesrecht die primäre Entscheidungsgrundlage bildet; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1999, Rn. 355; Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 10 Rn. 96. 472  BVerfG, Urt. v. 15.  12. 1999 – 1 BvR 653/96 – Caroline von Monaco II, BVerfGE 101, 361, 388: „Die Auslegung und Anwendung verfassungsmäßiger Vorschriften des Zivilrechts ist Sache der Zivilgerichte. Sie müssen dabei aber Bedeutung und Tragweite der von ihren Entscheidungen berührten Grundrechte beachten, damit deren wertsetzende Bedeutung auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt“; implizit bereits: BVerfG, Urt. v. 15. 01. 1958 – 1 BvR 400/51 – Lüth, BVerfGE 7, 198, 205 ff.; etwas deutlicher: BVerfG, Beschl. v. 10. 11. 1998 – 1 BvR 1531/96 – Scientol­ ogy, BVerfGE 99, 185, 196. 473  Dass die Anwendung verfassungsmäßiger Gesetze im Einzelfall ihrerseits verfassungsgemäß sein muss, entspricht der st. Rspr. des BVerfG: so z. B. BVerfG, Urt. v. 15.01.1958 – 1 BvR 400/51 – Lüth, BVerfGE 7, 198, 209; BVerfG, Beschl. v. 10.11.1998 – 1 BvR 1531/96 – Scientology, BVerfGE 99, 185, 196; BVerfG, Urt. v. 15.12.1999 – 1 BvR 653/96 – Caroline von Monaco II, BVerfGE 101, 361, 388; ebenso: Walter, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 2020, Art. 93 GG, Rn. 407; Epping, Grundrechte, 2019, Rn. 62.



B. Eigener Lösungsansatz229

Verhältnismäßigkeitsprinzips auch keine freie Interessenabwägung, sondern beschränkt sich auf die Frage, ob die Verurteilung des Beklagten zu dem durch Rechtsfortbildung verwirklichten Normzweck474 in einem Missverhältnis steht. Abgewogen werden folglich nicht die Grundrechte von Kläger und Beklagtem; geprüft wird stattdessen, ob der Eingriff in die Grundrechte des verurteilten Beklagten unverhältnismäßig war. Interessen des Klägers werden damit nur insoweit berücksichtigt, als sie im Normzweck enthalten sind, der durch die Fortbildung realisiert werden soll.475 Da es stets um eine Rechtsfortbildung geht, droht auch keine Kompetenzausweitung des BVerfG zur Superrevisionsinstanz. Der Verstoß gegen das Übermaßverbot ist vielmehr eine Ausnahme, die nur eingreift, wenn die Grundrechte des verurteilten Beklagten derart schwer wiegen, dass es verfassungswidrig wäre, dem Normzweck durch Rechtsfortbildung zur Geltung zu verhelfen. Insgesamt gilt damit: Beabsichtigt das Zivilgericht die Fortbildung einer Privatrechtsnorm, um eine Wertung des einfachen Gesetzesrechts zu realisieren, hat es, soweit dies zur Verurteilung des Beklagten führt, zuvor sicherzustellen, dass die Gerichtsentscheidung nicht unverhältnismäßig in dessen Grundrechte eingreift. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung476 ist zu untersuchen, ob die auf die Rechtsfortbildung gestützte Verurteilung des Beklagten zur Realisierung der Wertung aus dem einfachgesetzlichen Privatrecht geeignet,477 erforderlich478 und angemessen ist.479 Der legitime 474  Zu diesem Bezugspunkt: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 102. 475  Vgl. Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 102, der als Beispiele nennt, dass auf diese Weise Mieterinteressen im Mieterschutzrecht, Konsumenteninteressen im Produkthaftungsrecht und Arbeitnehmer­ interessen im Individualarbeitsrecht Berücksichtigung finden können. 476  Allgemein zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: BVerfG, Beschl. v. 09.03.1994 – 2 BvL 43, 51, 63, 64, 70, 80/92, 2 BvR 2031/92 – Cannabis, BVerfGE 90, 145, 172 f.; grundlegend hierzu im Schrifttum: Lerche, Übermass und Verfassungsrecht, 1961, S.  19 ff.; ferner: Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, 1976, S. 84; Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S. 42 ff.; Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot, 1989, S. 1 ff.; Clérico, Die Struktur der Verhältnismäßigkeit, 2001, S. 17 ff.; Petersen, Verhältnismäßigkeit als Rationalitätskontrolle, 2015, S. 1 ff.; Wendt, AöR 104 (1979), 414, 415 ff.; Klatt/Meister, JuS 2014, 193; Reimer, in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit, 2015, S. 60 ff. 477  Zur Geeignetheit: BVerfG, Beschl. v. 09. 03. 1994 – 2 BvL 43, 51, 63, 64, 70, 80/92, 2 BvR 2031/92 – Cannabis, BVerfGE 90, 145, 172; von der Pfordten, in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit, 2015, S. 271 f. 478  Zur Erforderlichkeit: BVerfG, Beschl. v. 09. 03. 1994 – 2 BvL 43, 51, 63, 64, 70, 80/92, 2 BvR 2031/92 – Cannabis, BVerfGE 90, 145, 172. 479  Zur Angemessenheit: von der Pfordten, in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit, 2015, S. 274; siehe zu Rationalisierungsansätzen zum umstrittenen Krite-

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

Zweck liegt nicht im Grundrechtsschutz des Klägers, sondern in der Durchsetzung eines vorhandenen Normzwecks.480 Weil die auf die Rechtsfortbildung gestützte Verurteilung geeignet ist, den Gesetzeszweck zu fördern und ein milderes, gleich wirksames Mittel481 nicht besteht, kommt es darauf an, ob die Verwirklichung des Normzwecks im Einzelfall zur Schwere des Eingriffs außer Verhältnis steht. Erweist sich der Eingriff hiernach als unverhältnismäßig, überschreitet die intendierte Rechtsfortbildung Grenzen, die ihr durch die Freiheitsgrundrechte gezogen sind.482 (bb) Gebotene Rechtsfortbildung zulasten des Beklagten Betrachtet man den zweiten Fall, dass der Beklagte infolge einer Rechtsfortbildung verurteilt wird, obwohl eine Wertung im Privatrecht nicht vorhanden ist, kann die Fortbildung gleichwohl gerechtfertigt sein, wenn das Zivilgericht nur so einer grundrechtlichen Schutzpflicht entsprechen kann. An dieser Stelle sind die Freiheitsgrundrechte erneut entscheidend, führen aber im Gegensatz zum ersten Fall zu keiner Begrenzung, sondern zu einer Entgrenzung. Obwohl auch hier die durch Rechtsfortbildung herbeigeführte Entscheidung erneut dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen muss, ergibt sich eine bedeutsame Abweichung. Weil ein Gesetzeszweck aus einer einfachgesetzlichen Norm nicht existiert, eine wirksame Rechtsfortbildung aber zwingend eine gesetzliche Wertung voraussetzt, ist sie in einer solchen Konstellation nur zulässig, wenn eine grundrechtliche Schutzpflicht zugunsten des Klägers begründet werden kann. Die Schutzpflicht ist daher der einzige Legitimationsgrund der Rechtsfortbildung. Besteht eine solche, ist sie als legitimer Zweck einzustellen.483 Verlangt eine Schutzpflicht eine Rechtsfortbildung, um einen Verstoß gegen das Untermaßverbot zulasten des Klägers zu verhindern, wird die Verhältnismäßigkeitsprüfung auf diese Weise präjudiziert. Eine Schutzpflicht, durch Fortbildung in die Grundrechte des Beklagten einzugreifen, kann nämlich nur dann bestehen, wenn sie nicht ihrerseits zu einem verfassungswidrigen Eingriff in seine Rechte führt.484 Eine rium der Angemessenheit: Buchheim, in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit, 2015, S. 77 ff. 480  Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 102. 481  Siehe hierzu: BVerfG, Beschl. v. 09. 03. 1994 – 2 BvL 43, 51, 63, 64, 70, 80/92, 2 BvR 2031/92 – Cannabis, BVerfGE 90, 145, 172. 482  Ein Beispiel für eine verbotene Rechtsfortbildung zulasten des Beklagten findet sich unter: Dritter Teil  D. III. 483  Vgl. Lindner, Öffentliches Recht, 2017, Rn. 680. 484  In einem anderen Zusammenhang andeutend: Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 89, der betont, dass ein Eingriff, der „von Verfassungs wegen gebo-



B. Eigener Lösungsansatz231

verfassungskonforme Pflicht, einen verfassungswidrigen Eingriff vorzunehmen, kann es demgegenüber nicht geben. Besteht eine Schutzpflicht gegenüber dem Kläger, die die Rechtsfortbildung gebietet, ist sie erlaubt, obwohl sie nicht auf eine Wertung aus dem einfachgesetzlichen Privatrecht gestützt werden kann. (b) Freiheitsgrundrechtliche Schutzfunktion als Grenze Unter welchen Voraussetzungen eine Schutzpflicht aus den Freiheitsgrundrechten folgt, ist nun im Zusammenhang mit den Schutzkonstellationen darzustellen. Hier ist die Frage zu klären, wie die Freiheitsgrundrechte in ihrer Schutzfunktion485 der Fortbildung im Privatrecht Grenzen ziehen. Wird die Klage infolge einer Rechtsfortbildung abgewiesen, handelt es sich wie dargelegt nicht um einen Eingriff in die Grundrechte des Klägers; von Interesse ist vielmehr, ob ihm ein Schutz verweigert wurde, der von Verfassungs wegen garantiert ist (Schutzkonstellation). Dabei ist erneut zu differenzieren. Im ersten Fall führt die Rechtsfortbildung dazu, dass das Mindestmaß unterschritten wird, das die Rechtsordnung aber im Rahmen einer Schutzpflicht gegenüber dem Kläger zu wahren hat. Im zweiten Fall verletzt hingegen nicht die Rechtsfortbildung eine Schutzpflicht des Klägers, sondern jene ist verfassungsrechtlich unerlässlich, um die Verletzung einer Schutzpflicht gegenüber dem Beklagten zu vermeiden. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht somit, unter welchen Bedingungen aus den Freiheitsgrundrechten eine Schutzpflicht des Staates erwächst und welchen Umfang sie im konkreten Rechtsstreit einnimmt. Die Diskussion der grundrechtlichen Schutzpflichten reicht derart weit, dass sie den Gegenstand eigener Abhandlungen486 bildet und daher hier nur punktuell in ihrer Bedeutung für die Grenzen der Rechtsfortbildung betrachtet werden kann. Trotz gewisser Abweichungen im Detail gilt der leitende Gedanke grundrechtlicher Schutzpflichten jedoch mittlerweile als gesichert. ten“ ist, „dann zugleich zulässig“ sei. 485  Weitgehend anerkannt ist, dass sich Schutzpflichten theoretisch aus allen Grundrechten ergeben können. Statt aller: Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, 1996, S. 75; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 154; Jarass, AöR 110 (1985), 363, 380; Klein, DVBl 1994, 489, 490; Erichsen, Jura 1997, 85, 86 ff.; implizit ebenso: Groß, JZ 1999, 326, 330; Ehlers, in: Leßmann/Großfeld/Vollmer (Hrsg.), Festschrift Lukes, 1989, S. 338 ff.; Badura, in: Hanau/Müller/Wiedemann/Wlotzke (Hrsg.), Festschrift Herschel, 1982, S.  34 f. 486  Statt aller: Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S.  17 ff.; Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, 1996, S.  17 ff.

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

Ausgehend von der Einsicht, dass die Freiheit des Menschen nicht nur von staatlicher Seite, sondern auch durch Naturereignisse oder Handlungen Privater bedroht wird,487 erlauben es die Grundrechte als reine Abwehrrechte gegen den Staat nur partiell, Freiheit wirkungsvoll zu sichern. Weil das Gewaltmonopol dem Staat obliegt und dem Einzelnen so effektive Mittel genommen sind, seine Rechte durchzusetzen, wird heute einhellig angenommen, dass der Staat verpflichtet sein kann, zum Schutz des Einzelnen zu intervenieren.488 Während in der Folge nicht mehr in Zweifel steht, dass sich aus der Verfassung Schutzpflichten ergeben,489 existieren aber nach wie vor Schwierigkeiten, festzustellen, wann diese ein Eingreifen des Staates gebieten. Um das zu beantworten, ist nach herkömmlicher Ansicht eine zweistufige Einzelfallprüfung nötig, in der bestimmt werden muss, ob in der relevanten Situation tatsächlich eine Schutzpflicht entsteht (das „Ob“) und falls dies bejaht wird, welche Maßnahmen der Staat einleiten muss, um sie zu erfüllen (das „Wie“).490 Weil für die Grenzen der Rechtsfortbildung nur relevant ist, ob eine bestimmte staatliche Maßnahme verfassungsrechtlich unerlässlich ist, kann dahinstehen, ob dieser Einteilung zu folgen ist. Entscheidend ist vielmehr, dass die Anforderungen kumulativ erfüllt sein müssen, um beurteilen zu können, ob eine Privatrechtsnorm wie im ersten Fall einen verfassungsrechtlichen Mindestschutz verbürgt und daher nicht rechtsfortbildazu: Epping, Grundrechte, 2019, Rn. 123. Existenz grundrechtlicher Schutzpflichten in st. Rspr. z. B. BVerfG, Urt. v. 25. 02. 1975 – 1 BvF 1, 2, 3, 4, 5, 6/74 – Schwangerschaftsabbruch I, BVerfGE 39, 1, 41 f.; BVerfG, Urt. v. 16. 10. 1977 – 1 BvQ 5/77 – Schleyer, BVerfGE 46, 160, 164; BVerfG, Beschl. v. 08. 08. 1978 – 2 BvL 8/77 – Kalkar I, BVerfGE 49, 89, 142; BVerfG, Urt. v. 28. 05. 1993 – 2 BvF 2/90 und 4, 5/92 – Schwangerschaftsabbruch II, BVerfGE 88, 203, 254; BVerfG, Urt. v. 10. 01. 1995 – 1 BvR 1/90, 1 BvR 342, 348/90 – Zweitregister, BVerfGE 92, 26, 46; vertiefend zur Rechtsprechungsentwicklung: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 141 ff.; zur h. M. im Schrifttum: Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S.  34 ff.; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 121 ff.; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 231; Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, 1996, S. 89; Lindner, Theorie der Grundrechtsdogmatik, 2005, S. 18; Klein, NJW 1989, 1633, 1636; Pietrzak, JuS 1994, 748; Papier, NJW 2017, 3025, 3029; Ehlers, in: Leßmann/Großfeld/Vollmer (Hrsg.), Festschrift Lukes, 1989, S. 338 ff.; Badura, in: Hanau/Müller/Wiedemann/Wlotzke (Hrsg.), Festschrift Herschel, 1982, S. 34 f.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1999, Rn. 350 ff.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 931 ff.; Badura, Staatsrecht, 2018, S. 133. 489  Eingehend zur dogmatischen Herleitung: Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 17 ff.; Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, 1996, S. 26 ff.; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 152 ff. 490  Zu dieser grundlegenden Unterscheidung: Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 71. 487  Siehe 488  Zur



B. Eigener Lösungsansatz233

dend reduziert werden kann oder ob eine Rechtsfortbildung wie im zweiten Fall nötig ist, um den Mindestschutz des Beklagten nicht zu unterschreiten. Auf der Stufe des „Ob“ besteht weitgehend Einigkeit, dass aus der Verfassung eine Schutzpflicht abgeleitet werden kann, wenn ein Grundrecht einer Partei tatbestandlich berührt wird und eine Beeinträchtigung von privater Seite491 droht.492 Weil die Schutzpflicht den Bürger vor nichtstaatlichen Gefahren behüten soll,493 genügt richtigerweise bereits eine drohende Grundrechtsbeeinträchtigung, um eine staatliche Schutzpflicht auszulösen. Im Gegensatz zu einer im Schrifttum vertretenen Meinung ist es demgegenüber nicht erforderlich, dass die drohende Beeinträchtigung zusätzlich rechtswidrig494 ist oder der Inhaber des bedrohten Grundrechtsguts in besonderer Weise auf staatlichen Schutz angewiesen ist.495 Beachtlich ist dies erst bei der Frage des „Wie“, weil dort darüber entschieden wird, wie weit der Staat aktiv werden muss, um dem Schutzgebot zu genügen.496 Ist noch relativ einfach zu ermitteln, ob ein Grundrechtsgut497 tangiert ist, ist es weitaus schwieriger, festzustellen, inwieweit daraus eine Handlungspflicht des Staates entsteht. Für das 491  Ausgeklammert wird hier die drohenden Beeinträchtigung durch Naturereignisse oder Drittstaaten, die im Privatrecht keine Bedeutung hat; dazu auch: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 195. 492  So explizit: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 201; ähnlich: Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 126; Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, 1996, S. 75 ff.; weitgehend ebenso: Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 75, der auf S. 72 und 74 allerdings deutlich macht, dass er die Gefährdung lediglich als Indikator für das Schutzbedürfnis heranzieht; implizit auch: Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 74 ff. und 87 ff., der im Tatbestand der Schutzpflichten ebenfalls zwischen grundrechtlichen Schutzgütern und Gefahrenquelle unterscheidet; außerdem dazu: Epping, Grundrechte, 2019, Rn. 123 f. 493  Zu dieser Zielsetzung: Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 103. 494  Mit überzeugender Begründung gegen die zusätzlichen Voraussetzungen der Rechtswidrigkeit und des konkreten Schutzbedürfnisses: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 196 f. 495  So aber: Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 74 f., der neben der tatbestandlichen Einschlägigkeit des Grundrechts das Schutzbedürfnis als zweite Voraussetzung nennt und hierfür Rechtswidrigkeit, Gefährdung und Angewiesenheit als Indikatoren heranzieht; wie hier: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 196 f. 496  Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 197. 497  Vertiefend zu den grundrechtlichen Schutzgütern: Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 74 ff.; ferner: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 166 ff., der zwischen Lebensund Persönlichkeitsgütern, Handlungsmöglichkeiten und Freiheiten, Rechten, über­ individuellen Gütern und Gleichheitsrechten unterscheidet.

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

Studienziel kommt es wesentlich darauf an, bis zu welchem Punkt der Staat die Handlungsfreiheit eines Privaten auch gegenüber Dritten gewährleisten und ab wann er sie zum Schutz anderer einschränken muss.498 Das BVerfG hat bislang kein überzeugendes Abgrenzungskonzept entwickelt; die Grenzziehung kann hier allerdings Erkenntnisse der polizei- und sicherheitsrechtlichen Gefahrendogmatik fruchtbar machen.499 Entgegen vereinzelter Behauptungen ist es nämlich keineswegs so, dass das Gefahrenabwehrrecht nur für Notsituationen in akuten Einzelfällen Anwendung findet. Es ist folglich nicht gerechtfertigt, zu behaupten, ein Erkenntnistransfer liefe „dem Wesen und der ­Arbeitsweise des Gesetzgebers als des primären Adressaten grundrechtlicher Schutzpflichten augenscheinlich zuwider, als ‚Nothelfer‘ in akuten Einzel­ fällen gesetzgeberisch Hilfestellung zu leisten.“500 Weil das Sicherheitsrecht sogar Verordnungsermächtigungen kennt, die an den Gefahrenbegriff anknüpfen, lässt sich der Erlass abstrakt-genereller Regelungen nicht wie behauptet „offensichtlich“ aus dem Bereich der Gefahrenabwehr ausscheiden.501 Ein Gegenargument könnte zudem darin zu sehen sein, dass es unzulässig ist, vom niederrangigen einfachgesetzlichen Recht auf den Inhalt des höherrangigen Verfassungsrechts zu schließen. Doch selbst diese Erwägung steht einem Erkenntnistransfer nicht entgegen, weil die entwickelten Grundsätze aus dem Polizei- und Sicherheitsrecht502 in den Gefahrenbegriffen des Art. 13 GG ihrerseits in die Verfassung eingegliedert und damit vom verfassungsändernden Gesetzgeber aufgegriffen wurden. Auf der Stufe des „Ob“ ist demnach erforderlich, dass das Grundrechtsgut tatbestandlich berührt wird und eine Beeinträchtigung von Seiten Privater droht, die bei ungehindertem Ablauf nach allgemeiner Lebenserfahrung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in einer Verletzung des Grundrechtsguts resultieren wird.503 498  Vgl. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 107. 499  Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 236; Epping, Grundrechte, 2019, Rn. 124; a. A. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 107 f.; Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, 1996, S. 77 f. 500  Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 108; zustimmend: Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, 1996, S. 77. 501  So aber: Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, 1996, S. 77: „Die methodischen und funktionellen Unterschiede zwischen Gesetzen und Handlungen zur Gefahrenabwehr sind offensichtlich und bedürfen keiner weiteren Erörterung“ [Hervorhebung v. Verf.]. 502  Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 236, der ebenso annimmt, dass der „Gefahrenbegriff […] „in das Verfassungsrecht übernommen wurde.“ 503  Statt aller zum sicherheitsrechtlichen Gefahrenbegriff: Gallwas/Lindner/Wolff, Bayerisches Polizei- und Sicherheitsrecht, 2015, Rn. 899b und 87.



B. Eigener Lösungsansatz235

Auf der Stufe des „Wie“ ist weiter erforderlich, dass der staatlichen Stelle bei der Schutzpflichterfüllung kein Einschätzungsspielraum verbleibt, weil die Verfassung nur dann eine zwingende grenzrelevante Anordnung bereithält. Die Schutzgebote sind an den Staat als Ganzes adressiert,504 weshalb jede Gewalt im Rahmen ihrer Kompetenzausübung zu ihrer Wahrung verpflichtet ist. Für die Legislative bedeutet dies, dass sie bestehende Schutzpflichten im Privatrecht bei der Rechtssetzung einzubeziehen und kollidierende Grundrechtsinteressen505 zum Ausgleich zu bringen hat.506 Für die Judikative sind Schutzpflichten hingegen bei der Rechtsanwendung bedeutsam. Hat der Privatrechtsgesetzgeber sie bei der Normsetzung schon hinreichend erfüllt, haben die Zivilgerichte bei der Anwendung der Privatrechtsvorschriften507 sicherzustellen, dass das gebotene Schutzniveau auch durch eine Rechtsfortbildung im Einzelfall unberührt bleibt. Hat der Privatgesetzgeber eine Schutzpflicht nicht oder nicht hinreichend erfüllt, kann sich die Pflicht der Zivilrichter dazu entwickeln, der Schutzpflicht anstelle des Gesetzgebers durch verfassungskonforme Rechtsfortbildung nachzukommen.508 Da dem Staat aber grundsätzlich bei der Erfüllung der Schutzpflichten ein weiter Einschätzungsspielraum509 eingeräumt ist, kann ihnen eine zwingende Anordnung nur entnommen werden, wenn das Schutzmindestmaß unter504  BVerfG, Urt. v. 10. 01. 1995 – 1 BvR 1/90, 1 BvR 342, 348/90 – Zweitregister, BVerfGE 92, 26, 46; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 70; Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, 1996, S. 21; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 225; Möstl, DÖV 1998, 1029, 1036; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1576. 505  Zum legislativen Schutzauftrag als Konfliktschlichtungsauftrag: Lerche, Übermass und Verfassungsrecht, 1961, S. 130; eingehend dazu außerdem: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 203 ff. 506  Zur Aufgabe der normativen Absicherung grundrechtlicher Freiheiten: Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 70 f.; speziell für den Gesetzgeber: Oeter, AöR 119 (1994), 529, 537 f.; Stern, Das Staatsrecht der ­Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1576; Epping, Grundrechte, 2019, Rn. 351. 507  Zum Ausgleich der Grundrechtsinteressen im Privatrechtsverkehr durch das Zivilgericht: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1576. 508  Zur Möglichkeit zivilgerichtlicher Schutzpflichterfüllung: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 225; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1583. 509  Den weiten Gestaltungsspielraum betont das BVerfG in st. Rspr: siehe hierzu z. B. BVerfG, Beschl. v. 07. 02. 1990 – 1 BvR 26/84 – Handelsvertreter, BVerfGE 81 242, 255; BVerfG, Urt. v. 28. 05. 1993 – 2 BvF 2/90 und 4, 5/92 – Schwangerschaftsabbruch II, BVerfGE 88, 203, 262; BVerfG, Urt. v. 10. 01. 1995 – 1 BvR 1/90, 1 BvR 342, 348/90 – Zweitregister, BVerfGE 92, 26, 46; BVerfG, Beschl. v. 06. 05. 1997 – 1 BvR 409/90 – Vaterschaftsauskunft, BVerfGE 96, 56, 64; ferner zum im Schrifttum

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

schritten wird, das verfassungsrechtlich garantiert ist. Es geht damit um das grundrechtliche Untermaßverbot,510 das zunächst im Schrifttum entwickelt511 und nun auch vom BVerfG anerkannt wurde.512 Inhaltlich fordert es, dass der Staat Maßnahmen unternimmt, die ein Grundrecht unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter angemessen und wirksam schützen.513 Eine Verletzung grundrechtlicher Schutzpflichten ist demnach anzunehmen, wenn der Staat „Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen hat oder die […] Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder erheblich dahinter zurückbleiben“.514 Gleiches gilt, wenn „eine Grundrechtsposition den Interessen des anderen Vertragspartners in einer Weise untergeordnet wird, daß […] von einem angemessenen Ausgleich nicht mehr gesprochen werden“ kann.515 Ob der verfassungsrechtliche Mindestschutz (noch) garantiert ist, hängt insoweit „von der Art, der Nähe und dem Ausmaß möglicher Gefahren, der Art und dem Rang des verfassungsrechtlich geschützten Rechtsguts sowie von den schon vorhandenen Regelungen ab.“516 Daneben können das Verhalten der gefähreinhellig akzeptierten Gestaltungsspielraum bei der Schutzpflichterfüllung: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 208. 510  Eingehend zum Untermaßverbot: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 208 ff. 511  Grundlegend; Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, 1980, S. 15; ferner: Canaris, AcP 184 (1984), 201, 225 ff.; anknüpfend: Canaris, JuS 1989, 161, 163. 512  BVerfG, Urt. v. 28. 05. 1993 – 2 BvF 2/90 und 4, 5/92 – Schwangerschaftsabbruch II, BVerfGE 88, 203, 254; BVerfG, Beschl. v. 22. 10. 1997 – 1 BvR 479/92, 1 BvR 307/94 – Plenarvorlagen, BVerfGE 96, 409, 412. 513  BVerfG, Urt. v. 28. 05. 1993 – 2 BvF 2/90 und 4, 5/92 – Schwangerschaftsabbruch II, BVerfGE 88, 203, 254; ferner: Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 87; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 212. 514  BVerfG, Urt. v. 10. 01. 1995 – 1 BvR 1/90, 1 BvR 342, 348/90 – Zweitregister, BVerfGE 92, 26, 46; zuvor bereits: BVerfG, Beschl. v. 29. 10. 1987 – 2 BvR 624, 1080, 2029/83 – Lagerung chemischer Waffen, BVerfGE 77, 170, 215; BVerfG, Urt. v. 28. 05. 1993 – 2 BvF 2/90 und 4, 5/92 – Schwangerschaftsabbruch II, BVerfGE 88, 203, 263. 515  BVerfG, Beschl. v. 27.  01. 1998 – 1 BvL 15/87 – Kleinbetriebsklausel I, BVerfGE 97, 169, 176; ähnlich bereits: BVerfG, Beschl. v. 07. 02. 1990 – 1 BvR 26/84 – Handelsvertreter, BVerfGE 81 242, 255; BVerfG, Beschl. v. 19. 10. 1993 – 1 BvR 567, 1044/89 – Bürgschaftsverträge, BVerfGE 89, 214, 232; ferner erwogen werden im Schrifttum u. a. ein Vertretbarkeitsmaßstab (so: Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 114) oder ein Evidenzmaßstab (so: Epping, Grundrechte, 2019, Rn. 351); näher zu den verschiedenen Kontrollmaßstäben und ihrer Berücksichtigung in der Rechtsprechungsentwicklung: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 210 ff. 516  BVerfG, Beschl. v. 08. 08. 1978 – 2 BvL 8/77 – Kalkar I, BVerfGE 49, 89, 142.



B. Eigener Lösungsansatz237

denden Partei sowie eine besondere Schutzbedürftigkeit der beeinträchtigten in die Abwägung eingestellt werden.517 Weil die Existenz von Privatrechtsregelungen darüber mitbestimmen kann, ob das verfassungsrechtlich gebotene Schutzminimum eingehalten ist, wird ersichtlich, warum hier zwischen zwei Rechtsfortbildungssituationen unterschieden werden muss. Wird im ersten Fall den verfassungsrechtlichen Mindestanforderungen grundsätzlich Genüge getan, kann eine Rechtsfortbildung gegen das Untermaßverbot verstoßen, indem das Zivilgericht eine Privatrechtsnorm zum Nachteil des Klägers fortbildet und so das erforderliche Schutzniveau unterschreitet. Anders liegt es im zweiten Fall, in dem eine den Beklagten schützende Privatrechtsnorm nicht existiert oder jedenfalls tatbestandlich auf den vorliegenden Fall keine Anwendung findet, dies aber geboten ist, um nicht zulasten des Beklagten gegen das Untermaßverbot zu verstoßen. Während das Untermaßverbot im ersten Fall die Rechtsfortbildung verbietet, wirkt es im zweiten Fall gestattend. (aa) Verbotene Rechtsfortbildung zulasten des Klägers Als Beispiel für den ersten Fall kommt ein Sachverhalt in Betracht, bei dem das Zivilgericht eine Anspruchsgrundlage rechtsfortbildend reduziert und dadurch den Normtext einer Privatrechtsvorschrift zum Nachteil des Klägers anpasst. Weil dem Privatrechtsgesetzgeber bei der Schaffung von Zivilrechtsnormen ein weiter Gestaltungsspielraum zusteht, verstößt nicht jede für den Kläger nachteilige Rechtsfortbildung gegen das grundrechtliche Untermaßverbot. Vielmehr wird dies nur dann anzunehmen sein, wenn gerade die teleologisch reduzierte Privatrechtsbestimmung einen unverzichtbaren Bestandteil des privatrechtlichen Schutzkonzepts darstellt, ohne den der verfassungsrechtlich gebotene Mindestschutz nicht mehr gewährleistet ist. Wenngleich in anderem Zusammenhang518 hat Dietlein daher zu Recht auf die Existenz „grundrechtsgebotener Normen“ hinwiesen, die wie die zivilrechtlichen Unterlassungs-, Beseitigungs- oder Schadensersatzansprüche gerade beabsichtigen, dem Einzelnen die Möglichkeit zu verschaffen, sich gegen ein schädigendes Verhalten anderer Privater zur Wehr setzen zu können.519 Auch wenn über die Einhaltung des Mindestschutzniveaus stets im 517  Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 221; zum Kriterium der Schutzbedürftigkeit bereits: Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 74 ff. 518  Dort ging es nicht um die Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung, sondern um die Struktur grundrechtlicher Schutzpflichten des Gesetzgebers im Allgemeinen. 519  Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 128.

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

Einzelfall entschieden werden muss, ist ein Untermaßverstoß beispielsweise gegeben, wenn dem Kläger negatorische Rechtsbehelfe oder Anspruchsgrundlagen der Gefährdungshaftung in bestimmten Konstellationen grundsätzlich und ersatzlos entzogen werden.520 (bb) Gebotene Rechtsfortbildung zulasten des Klägers Betrachtet man den zweiten Fall, begegnet man der Situation, dass der Privatrechtsgesetzgeber die freiheitsgrundrechtliche Schutzpflicht gegenüber dem Beklagten nicht oder nicht hinreichend erfüllt und dadurch dessen verfassungsrechtlich gebotenen Mindestschutz unterschreitet. Weil Schutzgebote den Staat insgesamt verpflichten,521 muss ein durch den Gesetzgeber zu verantwortendes Schutzdefizit durch die Rechtsprechung522 kompensiert werden.523 Im Einzelfall ist dabei stets nach dem Ausmaß der Schutzpflichtverletzung zu differenzieren, um zu bestimmen, welche Maßnahmen dem Gericht eröffnet sind. Existiert ein gesetzgeberisches Schutzkonzept im Privatrecht, das nur nicht weit genug reicht, um die grundrechtlichen Schutzpflichten zu erfüllen, hat

520  Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 83, der mit diesen Beispielen allerdings Untermaßverstöße des Gesetzgebers beschreibt. Nachdem es in dieser Konstellation darum geht, dass die Judikative den gesetzgeberisch gebotenen Mindeststandard rückwirkend durch Rechtsfortbildung unterschreitet, können die Beispiele aber auch auf diese Situation übertragen werden. 521  BVerfG, Urt. v. 10. 01. 1995 – 1 BvR 1/90, 1 BvR 342, 348/90 – Zweitregister, BVerfGE 92, 26, 46; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 70; Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, 1996, S. 21; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 225; Möstl, DÖV 1998, 1029, 1036; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1576; Epping, Grundrechte, 2019, Rn. 351. 522  Allgemein zur Problemstellung: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 225, der konstatiert, es bestehe „keine Einigkeit über die Reichweite der Rechtsprechungsaufgabe, zur Erfüllung grundrechtlicher Schutzaufträge tätig zu werden.“ 523  Siehe dazu: Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 87, wonach der „Richter zur Erfüllung dieser Aufgabe nur befugt [ist], weil und soweit anderenfalls ein verfassungswidriges Schutzdefizit entstünde und also ein Verstoß gegen das Untermaßverbot vorläge“; ähnlich: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1583; eingehend zur subsidiären Schutzpflichterfüllung durch die Zivilrechtsprechung: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 223 ff.; ebenfalls für die Subsidiarität des richterlichen Schutzauftrags: Wiedemann, Die Bindung der Tarifnormen an Grundrechte, insbesondere an Art. 12 GG, 1994, S. 112; Groß, JZ 1999, 326, 331; Badura, in: Böttcher/ Hueck/Jähnke (Hrsg.), Festschrift Odersky, 1996, S. 181.



B. Eigener Lösungsansatz239

der Zivilrichter dies rechtsfortbildend entsprechend nachzubessern.524 Soweit Anknüpfungspunkte für die Ausgestaltung im einfachen Gesetzesrecht bestehen, haben die Gerichte die Rechtsfortbildung hieran auszurichten. Die subsidiäre Schutzpflichterfüllung durch die Rechtsprechung ist insoweit gesetzesmediatisiert und gesetzesabhängig.525 Hat sich der Gesetzgeber für ein Schutzmodell entschieden, das den Anwendungsfall bislang nur (noch) nicht erreicht, hat das Zivilgericht dies punktuell im Sinne der legislativen Konzeption zu korrigieren; es darf das bestehende Schutzkonzept indes nicht durch ein eigenes Konzept ersetzen.526 Eine Ausnahme gilt allein, wenn das gesetzgeberische Regelungsmodell bereits für sich genommen verfassungswidrig ist und auch durch eine Rechtsfortbildung527 nicht verfassungsgemäß ausgestaltet werden kann.528 Anstelle der Fortbildung ist eine nachkonstitu­ tionelle529 Privatrechtsnorm in diesem Fall nach Art. 100 GG dem BVerfG vorzulegen.530

524  Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 230. 525  Statt vieler: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1578: „Die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte wirkt daher auf das Privatrecht so ein, daß sie der Gesetzgeber unmittelbar durch grundrechtsgemäße Gesetze zu erfüllen hat, der Richter aber in der Regel nur mediatisiert durch das Gesetzesrecht, indem er das für ihn in erster Linie maßgebliche Privatrecht grundrechtskonform auf die Privatrechtsbeziehungen anzuwenden hat.“ [Hervorhebung v. Verf.]; ferner: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 237, der ebenfalls den „gesetzesabhängigen Schutzauftrag der ordentlichen Gerichte in Zivilsachen“ betont [Hervorhebung v. Verf.]. 526  Besonders dazu: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 230; allgemein zur Verfassungswidrigkeit einer richterlichen Rechtsfortbildung, die ein gesetzgeberisches Regelungsmodell durch ein eigenes ersetzt: BVerfG, Beschl. v. 14. 05. 1985 – 1 BvR 233, 341/81 – Brokdorf, BVerfGE 69, 315, 372; BVerfG, Beschl. v. 11. 10. 1978 – 1 BvR 84/74 – Sachverständigenhaftung, BVerfGE 49, 304, 322; dazu jüngst: BVerfG, Beschl. v. 06. 06. 2018 – 1 BvL 7/14 und 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774, 779. 527  Zum favor-legis-Gedanken der verfassungskonformen Fortbildung: Herresthal, JuS 2014, 289, 297; Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 5 Rn.  23 f. 528  Insoweit gegen die Möglichkeit der verfassungskonformen Rechtsfortbildung: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 228, wenn das legislative Schutzkonzept den Anwendungsfall implizit oder explizit ausschließt; so zuvor schon: Wahl/Masing, JZ 1990, 553, 562. 529  Eine vorkonstitutionelle Privatrechtsnorm kann das Zivilgericht ohne Vorlage nach Art. 100 GG hingegen verwerfen. 530  Zur Vorlage nach Art. 100 GG bei Verfassungswidrigkeit des gesetzgeberischen Schutzkonzepts: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 233; ferner zur Vorlagepflicht: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1583.

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

Existiert hingegen kein gesetzgeberisches Schutzkonzept, weil der Gesetzgeber das Schutzbedürfnis übersehen oder in einem anderen Zusammenhang Privatrechtsvorschriften erlassen hat, die den Schutz zwar nicht vermitteln, der Schutzgewährung aber nicht entgegenstehen,531 haben die Zivilgerichte das einfache Gesetzesrecht verfassungskonform in anderer Weise fortzubil­ den,532 indem sie systemkonform an vorhandene Wertungen anknüpfen. Besonders hier wird erkennbar, welches Missverständnispotenzial die Bezeichnung der „gesetzesmediatisierten“ oder „gesetzesabhängigen“ Schutzpflichterfüllung in sich trägt. Insoweit sollte nämlich terminologisch nicht verschleiert werden, dass es gerade die verfassungsrechtliche Schutzpflicht ist, welche die Rechtsfortbildung legitimiert, um das einfachgesetz­liche Privatrecht dem Schutzgebot anzupassen.533 bb) Begrenzung durch sonstiges Verfassungsrecht Anders als die Grundrechte, denen als Grenzen der Fortbildung bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, stehen andere Verfassungsbestimmungen im Mittelpunkt der Diskussion. Nicht zuletzt infolge der eingehenden Abhandlungen Ipsens534 und Wanks535 ist anerkannt, dass vor allem die Staatsstrukturprinzipien der Rechtsfortbildung Grenzen ziehen.536 Welche 531  Abzugrenzen ist der Fall des unechten Unterlassens, in dem eine Norm die zu schützende Konstellation wertungsmäßig explizit oder implizit ausschließt vom Fall des echten Unterlassens, in dem die Norm der Schutzgewährung wertungsmäßig weder implizit noch explizit entgegensteht. Zu dieser Differenzierung: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 226 f., der eine Vorlage nach Art. 100 GG nur im Falle unechten Unterlassen für möglich hält. 532  Siehe zur Schutzpflichterfüllung durch Rechtsfortbildung: Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 81; Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 5 Rn. 14; wohl ebenso: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 230: „Gibt der Gesetzgeber hingegen die Schutzpflichtenerfüllung durch Delegation oder durch schlichtes (‚echtes‘) Unterlassen frei, muß ergänzende Rechtsfortbildung (einschließlich Analogie) dem Gebot methodischer Klarheit und Stringenz genüge tun.“ 533  Hierauf hat Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 81 zu Recht hingewiesen; ähnlich: Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 5 Rn. 14, der überzeugend annimmt, dass es auch „dort, wo keine Generalklauseln oder Schutzvorschriften existieren, […] geboten sein [kann], grundrechtlichen Wertungen im Wege einer normtextüberschreitenden Rechtsfortbildung zum Durchbruch zu verhelfen.“ 534  Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, S. 21 ff. 535  Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 15 ff. 536  Statt aller: Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, S. 231 ff.; Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 253 ff.; darüber hinaus aber auch: Ossenbühl, Richterrecht im demokratischen Rechtsstaat, 1988, S. 21; Frowein, in: Die



B. Eigener Lösungsansatz241

verfassungsrechtlichen Schranken außerhalb der Grundrechte zu wahren sind, ist nun darzustellen. (1) Demokratieprinzip als Grenze Einer grundlegenden Schranke begegnet die Rechtsfortbildung als eine Form judikativer Machtausübung im Demokratieprinzip,537 das in Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG verankert ist.538 Gem. Art. 20 Abs. 2 GG geht alle Staatsgewalt vom Volke aus, sie wird von ihm nicht nur durch Wahlen und Abstimmungen, sondern auch durch besondere Organe der Legislative, der Exekutive und Judikative ausgeübt. Weil trotz der Entscheidung für eine ­repräsentative Demokratie539 jede Form staatlicher Machtausübung auf das Volk als Legitimationssubjekt rückführbar sein muss, ergibt sich hieraus für alle Staatsorgane das Erfordernis der demokratischen Legitimation.540 Anders als die Organwalter der Gesetzgebung sind jene der Rechtsprechung nicht Hochschullehrer der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg (Hrsg.), Festschrift 600-Jahr-Feier der Universität Heidelberg, 1986, S. 559, für den die „Auseinandersetzung um richterliche Rechtsfortbildung wesentlich mit der Vorstellung von der Rolle der Gerichte im gewaltenteilenden Verfassungsstaat zu tun hat“; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1477, wonach die Grenzen der Rechtsfortbildung „von Grundprinzipien der Verfassung gezogen werden; dazu zählen die Gewaltenteilung, das Demokratieprinzip und rechtsstaatliche Gehalte, darunter vor allem Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit gerichtlicher Entscheidungen“. 537  Siehe zum Demokratieprinzip und seinen einzelnen Facetten: Dreier, Jura 1997, 249 ff.; Wehr, JuS 1998, 411; Höfling/Burkiczak, Jura 2007, 561; Kühling, JuS 2009, 777; Voßkuhle/Kaiser, JuS 2009, 803; Pieroth, JuS 2010, 473; Paus/Schmidt, JA 2012, 48; Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II, 2004, § 24 Rn. 1 ff.; Kloepfer, Verfassungsrecht I, 2011, § 7 Rn. 11 ff. 538  Weitere Ausprägungen finden sich selbstverständlich auch an anderen Stellen des Grundgesetzes, beispielsweise in Art. 28 Abs. 1, Art. 38 Abs. 1 oder Art. 79 Abs. 3 GG. 539  Vertiefend dazu: Böckenförde, in: Müller/Rhinow/Schmid Gerhard/Wildhaber (Hrsg.), Festschrift Eichenberger, 1982, S. 301 ff.; Schnapp, in: von Münch/Kunig, GG-Kommentar, Band 1, 2012, Art. 20 GG, Rn. 24. 540  Zum Erfordernis der demokratischen Legitimation: In st. Rspr. z. B. BVerfG, Urt. v. 10. 12. 1974 – 2 BvK 1/73, 2 BvR 902/73 – Magistratsverfassung SchleswigHolstein, BVerfGE 38, 258, 271; BVerfG, Beschl. v. 15. 02. 1978 – 2 BvR 134, 268/76 – Gemeindeparlamente, BVerfGE 47, 253, 272; BVerfG, Beschl. v. 01. 10. 1987 – 2 BvR 1178, 1179, 1191/86 – Neue Heimat, BVerfGE 77, 1, 40; Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, S. 196 ff.; Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 205 ff.; Böckenförde, Verfassungsfragen der Richterwahl, 1998, S.  73 ff.; Dreier, Jura 1997, 249, 256; Schnapp, in: von Münch/Kunig, GG-Kommentar, Band 1, 2012, Art. 20 GG, Rn. 25 ff.; Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn. 35 ff.

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

unmittelbar, sondern nur mittelbar demokratisch legitimiert.541 Wesentlich für ihre Legitimation ist daher die Rückanbindung an Gesetz und Recht.542 Eine Rechtsfortbildung der Zivilrechtsprechung verstößt demnach gegen das Demokratieprinzip, wenn sich das Gericht aus der demokratischen Legiti­ mation löst und unabhängig von den gesetzlichen Wertungen zu seiner Entscheidung gelangt. Geschieht dies, ersetzt der Richter den Willen der ­ demokratischen Mehrheit durch seinen eigenen543 und tritt anstelle der ­ Gesetzgebungsorgane,544 indem er sich faktisch Kompetenzen anmaßt, die nur der Legislative obliegen. Demgegenüber bedeutet auch eine im Übrigen zulässige Rechtsfortbildung, die unter dem Schutz des Beratungsgeheimnisses gem. § 43 DRiG entwickelt wird, keinen Verstoß gegen das demokratische Öffentlichkeitsprinzip.545 Da den Gerichten echte Rechtssetzung ohnehin untersagt ist546 und sie das Recht lediglich durch Auslegung und Fortbildung anwenden, genügt die Öffentlichkeit der mündlichen Gerichtsverhandlung.547 Weil die Rechtssetzung der Legislative vorbehalten ist, können an die Öffentlichkeit im gerichtlichen Verfahren geringere Anforderungen gestellt werden als an den parlamentarischen Gesetzgebungsprozess, der „sichern [soll], daß Entscheidungen von solcher Tragweite aus einem Verfahren hervorgehen, das der Öffentlichkeit Gelegenheit bietet, ihre Auffassungen auszubilden und zu vertreten, und die Volksvertretung anhält, Notwendigkeit und Ausmaß von

541  Dazu und zu den Arten der Richterernennung: Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 209 ff.; ferner zum Gedanken der Richterwahl: Redeker, NJW 1972, 409, 414. 542  Siehe zum Gesetz als Grundlage sachlich-inhaltlicher demokratischer Legitimation: Schnapp, in: von Münch/Kunig, GG-Kommentar, Band 1, 2012, Art. 20 GG, Rn. 26; Huster/Rux, in: BeckOK-GG, 2020, Art. 20 GG, Rn. 164. 543  Im Ergebnis ebenso, wenngleich in leicht anderem Zusammenhang: Schenke, in: Dreier (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes, 2009, S. 73. 544  Siehe dazu: Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, S. 204; Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 215. 545  Zum Öffentlichkeitsprinzip: Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, S.  140 ff. 546  Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn. 120. 547  BVerfG, Urt. v. 24. 01. 2001 – 1 BvR 2623/95, 622/99 – Fernsehaufnahmen im Gerichtssaal II, BVerfGE 103, 44, 65: „Der Gesetzgeber war nicht von Verfassungs wegen verpflichtet, wohl aber befugt, die Öffentlichkeit auf die im Raum der Verhandlung Anwesenden zu begrenzen. Eine derart beschränkte Öffentlichkeit genügt dem rechtsstaatlichen Interesse der öffentlichen Kontrolle des Gerichtsverfahrens sowie dem im Demokratieprinzip verankerten Grundsatz der Zugänglichkeit von Informationen, die für die individuelle und öffentliche Meinungsbildung von Bedeutung sind“; außerdem dazu: Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 2020, Art. 20 Abs. 1 GG (Demokratie), Rn. 34.



B. Eigener Lösungsansatz243

Grundrechtseingriffen in öffentlicher Debatte zu klären.“548 Wird durch Rechtsfortbildung eine Wertung verwirklicht, die dem demokratisch zustande gekommenen Gesetz immanent ist, ist die Rechtsfortbildung aber auch in dieser Beziehung mit dem demokratischen Öffentlichkeitsprinzip vereinbar.  (2) Rechtsstaatsprinzip als Grenze Ebenfalls für die Bestimmung der Grenze relevant sind die Inhalte, die sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergeben, das gleichfalls in Art. 20 GG normiert ist.549 (a) Gewaltenteilung und Gesetzesbindung Wegweisend ist insoweit Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG, der vorsieht, dass die Staatsgewalt außerhalb von Wahlen und Abstimmungen durch Organe der gesetzgebenden, der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt ausgeübt wird. Ausfluss der Entscheidung für die Gewaltenteilung ist, dass die Rechtssetzungskompetenzen der Legislative anvertraut sind, während die Judikative zur Rechtsanwendung berufen ist und in der Folge der Bindung an Gesetz und Recht unterliegt.550 Zu Recht nimmt das BVerfG an, die Grenze zulässiger Rechtsfortbildung sei überschritten, wenn die Gerichte „Befugnisse beanspruchen, die von der Verfassung eindeutig dem Gesetzgeber übertragen worden sind.“551 Der Gewaltenteilungsgrundsatz verbietet folglich eine Rechtsfortbildung durch die sich der Richter „aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz be[gibt], [sich] also objektiv 548  BVerfG, Beschl. v. 25.  03.  1992 – 1 BvR 1430/88 – Fangschaltungen, BVerfGE 85, 386, 403 f.; BVerfG, Urt. v. 08. 04. 1997 – 1 BvR 48/94 – Altschulden, BVerfGE 95, 267, 307. 549  Allgemein zum Rechtsstaatsprinzip und seinen Ausprägungen: Fischer, JuS 2001, 861; Detterbeck, Jura 2002, 235; Voßkuhle, JuS 2007, 118; Voßkuhle/Kaufhold, JuS 2010, 116; Schwarz, JA 2013, 683; Klatt/Meister, JuS 2014, 193; eingehend dazu: Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II, 2004, § 26 Rn. 1 ff.; Kloepfer, Verfassungsrecht I, 2011, § 10 Rn. 19 ff. 550  Zur Gesetzesbindung der Judikative in st. Rspr. z.  B. BVerfG, Beschl. v. 14. 02. 1973 – 1 BvR 112/65 – Soraya, BVerfGE 34, 269, 288; BVerfG, Beschl. v. 19. 10. 1983 – 2 BvR 485, 486/80 – Sozialplan, BVerfGE 65, 182, 191; BVerfG, Beschl. v. 12. 11. 1997 – 1 BvR 479/92 und 307/94 – Kind als Schaden, BVerfGE 96, 375, 393 f.; ferner: Zippelius, Juristische Methodenlehre, 2012, S. 60, wonach der Richter, „wo immer möglich, nicht nach seinem höchstpersönlichen Rechtsempfinden urteilen, sondern diese Entscheidung als Repräsentant der Gemeinschaft treffen“ soll. 551  Grundlegend: BVerfG, Beschl. v. 21. 07. 1955 – 1 BvL 33/51 – Junktimklausel, BVerfGE 4, 219, 234; ausdrücklich als st. Rspr. bestätigt durch: BVerfG, Beschl. v. 12. 11. 1997 – 1 BvR 479/92 und 307/94 – Kind als Schaden, BVerfGE 96, 375, 394.

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betrachtet […] der Bindung an Recht und Gesetz entzieh[t].“552 Die Gesetzes- und Rechtsbindung gem. Art. 20 Abs. 3 GG553 gewährleistet damit einerseits, dass die Grundentscheidung für die Aufspaltung in eine gesetzgebende und eine gesetzesanwendende Gewalt auch in der Rechtspraxis umgesetzt wird. Andererseits folgt hieraus aber nicht, dass die Rechtsprechung strikt an den Gesetzeswortlaut gebunden und verpflichtet ist, ihn unreflektiert auf den konkreten Rechtsstreit anzuwenden.554 Vielmehr bleibt auch vor dem Hintergrund der Gewaltenteilung und Gesetzesbindung Raum für eine richterliche Rechtsfortbildung,555 weil die Gerichte bei einem Abweichen von Normtext und gesetzgeberischem Normzweck Letzterem verpflichtet sind.556 Überschritten ist die Grenze der Fortbildung dort, wo der Richter keine Wertentscheidung des Gesetzgebers zur Geltung bringt, sondern eine vorhandene nicht respektiert, sie übergeht oder verfälscht557 und seine Entscheidung so552  BVerfG, Beschl. v. 03.  11.  1992 – 1 BvR 1243/88 – Erörterungsgebühr, BVerfGE 87, 273, 280; BVerfG, Beschl. v. 12. 11. 1997 – 1 BvR 479/92 und 307/94 – Kind als Schaden, BVerfGE 96, 375, 394; BVerfG, Beschl. v. 25. 01. 2011 – 1 BvR 918/10 – Dreiteilungsmethode, BVerfGE 128, 193, 210; jüngst bestätigt: BVerfG, Beschl. v. 23. 05. 2016 – 1 BvR 2230/15, 1 BvR 2231/15, NJW-RR 2016, 1366, 1369. 553  Dazu exemplarisch: BVerfG, Beschl. v. 03. 11. 1992 – 1 BvR 1243/88 – Erörterungsgebühr, BVerfGE 87, 273, 280, in der der Erste Senat die Grenzen nur aus Art. 20 Abs. 3 GG ableitet. 554  Dazu: BVerfG, Beschl. v. 14.02.1973 – 1 BvR 112/65 – Soraya, BVerfGE 34, 269, 287: „Der Richter ist nach dem Grundgesetz nicht darauf verwiesen, gesetzgeberische Weisungen in den Grenzen des möglichen Wortsinns auf den Einzelfall anzuwenden.“ 555  Das betont auch das BVerfG in st. Rspr. z. B. BVerfG, Beschl. v. 14. 02. 1973 – 1 BvR 112/65 – Soraya, BVerfGE 34, 269, 286 ff.; BVerfG, Beschl. v. 11. 10. 1978 – 1 BvR 84/74 – Sachverständigenhaftung, BVerfGE 49, 304, 317 f.; BVerfG, Beschl. v. 17. 02. 1981 – 2 BvR 384/78 – Bethel, BVerfGE 57, 220, 248; BVerfG, Beschl. v. 19. 10. 1983 – 2 BvR 485, 486/80 – Sozialplan, BVerfGE 65, 182, 191; BVerfG, Beschl. v. 14. 05. 1985 – 1 BvR 233, 341/81 – Brokdorf, BVerfGE 69, 315, 371 f.; jüngst: BVerfG, Beschl. v. 06. 06. 2018 – 1 BvL 7/14 und 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774, 779 f. 556  So explizit: BVerfG, Beschl. v. 12. 11. 1997 – 1 BvR 479/92 und 307/94 – Kind als Schaden, BVerfGE 96, 375, 394; jüngst deutlich für den Stellenwert des Gesetzgeberwillens: BVerfG, Beschl. v. 06. 06. 2018 – 1 BvL 7/14 und 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774, 780: „Die Beachtung des klar erkennbaren Willens des Gesetzgebers ist Ausdruck demokratischer Verfassungsstaatlichkeit. Dies trägt dem Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 II 2 GG) Rechnung. Das Gesetz bezieht seine Geltungskraft aus der demokratischen Legitimation des Gesetzgebers, dessen artikulierter Wille den Inhalt des Gesetzes daher mitbestimmt. […] So verwirklicht sich auch die in Art. 20 III und Art. 97 I GG vorgegebene Bindung der Gerichte an das „Gesetz“, denn dies ist eine Bindung an die im Normtext zum Ausdruck gebrachte demokratische Entscheidung des Gesetzgebers, dessen Erwägungen zumindest teilweise in den Materialien dokumentiert sind.“ [Hervorhebung v. Verf.]. 557  BVerfG, Beschl. v. 25.  01.  2011 – 1 BvR 918/10 – Dreiteilungsmethode, BVerfGE 128, 193, 210: Der Richter „muss die gesetzgeberische Grundentscheidung



B. Eigener Lösungsansatz245

mit letztlich auf eine eigene rechtspolitische Vorstellungen stützt.558 Dies bedeutet aber zugleich, dass die Gerichte nicht gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz und ihre Gesetzesbindung verstoßen, solange die Fortbildung einer Zivilrechtsnorm an einer gesetzlichen Wertung ansetzt und infolgedessen die legislative Wertentscheidung verwirklicht. Dass der Legislativwille gegebenenfalls erst ermittelt werden muss und es daher nötig sein kann, auf dem Weg dorthin mehrere konfligierende Wertungen zu versöhnen, ändert nichts daran, da die Judikative auch dann dem legislativen Regelungswillen verpflichtet bleibt und, solange sie dies beachtet, die Gebote von Gewaltenteilung und Gesetzesbindung respektiert. (b) Gesetzesvorrang und Normverwerfungsmonopol Eine weitere Grenze innerhalb des Rechtsstaatsprinzips bildet der Vorrang des Gesetzes, der sich aus Art. 20 Abs. 3 GG ergibt und nicht durchgehend von der Gesetzesbindung unterschieden wird.559 Hiernach ist die Rechtsprechung verpflichtet, Gesetze anzuwenden und nicht von ihnen abzuweichen.560 Wäre hiermit allerdings von Verfassungs wegen eine ausnahmslose Bindung an den Normtext statuiert, würde dies jedoch keinen Raum für eine richter­ liche Rechtsfortbildung lassen.561 Richtigerweise steht der Vorrang des Gesetzes einer Rechtsfortbildung aber erst dann im Wege, wenn der Richter für sie keinen Anknüpfungspunkt in den gesetzlichen Wertungen findet562 oder respektieren und den Willen des Gesetzgebers unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung bringen.“; BVerfG, Urt. v. 19. 03. 2013 – 2 BvR 2628, 2883/10, 2155/11 – Verständigungsgesetz, BVerfGE 133, 168, 205; BVerfG, Beschl. v. 06. 06. 2018 – 1 BvL 7/14 und 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774, 780. 558  BVerfG, Beschl. v. 14. 05. 1985 – 1 BvR 233, 341/81 – Brokdorf, BVerfGE 69, 315, 372; BVerfG, Beschl. v. 11. 10. 1978 – 1 BvR 84/74 – Sachverständigenhaftung, BVerfGE 49, 304, 322; dazu jüngst: BVerfG, Beschl. v. 06. 06. 2018 – 1 BvL 7/14 und 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774, 779. 559  Beides gleichsetzend: BVerfG, Beschl. v. 28. 10. 1975 – 2 BvR 883/73 und 379, 497, 526/74 – Justizverwaltungsakt, BVerfGE 40, 237, 248 f., ebenso: BVerfG, Beschl. v. 14. 10. 2004 – 2 BvR 1481/04 – EGMR-Entscheidungen, BVerfGE 111, 307, 330; anders: Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn. 112, der den Vorrang des Gesetzes nur als Kollisionsnorm versteht. 560  Siehe dazu: Bumke/Voßkuhle, Casebook Verfassungsrecht, 2020, Rn.  1497 unter Verweis auf Rn. 1463. 561  Pars pro toto zur st. Rspr. des BVerfG: BVerfG, Urt. v. 18. 12. 1953 – 1 BvL 106/53 – Gleichberechtigung, BVerfGE 3, 225, 243; erstmals unmissverständlich, dass die Rechtsfortbildungskompetenz vom BVerfG stets anerkannt wurde: BVerfG, Beschl. v. 14. 02. 1973 – 1 BvR 112/65 – Soraya, BVerfGE 34, 269, 288. 562  Siehe dazu auch: Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 150, der Gesetzesbindung daher zu Recht „als Bindung an die in der jeweiligen Norm getroffenen gesetzgeberischen Wertentscheidungen“ versteht.

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

einen unmissverständlichen entgegenstehenden Gesetzgeberwillen missachtet. Dass nicht der Text, sondern der Zweck einer Rechtsnorm den Gesetzesvorrang bestimmt, bestätigt zudem Art. 100 GG, da die Richtervorlage zum BVerfG die Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit fordert, zu der das Zivilgericht nur gelangen kann, wenn es nicht am Buchstabensinn des Normtexts haften bleibt. Als Konsequenz ist festzuhalten, dass der Gesetzesvorrang der Rechtsfortbildung insoweit nicht entgegensteht.563 Grenzentscheidend ist wiederum allein die gesetzgeberische Wertentschei­dung,564 welche im gebotenen Normzweck zutage tritt. Eine weitere Grenze der Rechtsfortbildung zeigt sich in Art. 100 GG. Besteht eine Pflicht des Zivilgerichts, das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des BVerfG einzuholen, kann es ihm nicht zugleich unbegrenzt freistehen, die Norm selbst verfassungskonform umzugestalten. Da Art. 100 GG das Verwerfungsmonopol des BVerfG nur für formelle und nachkonstitutionelle Rechtsnormen sichert, kann dieses aber nur bei solchen Regelungen eine Grenze für ihre Fortbildung bedeuten. Eine vorkonstitutionelle Privatrechtsnorm kann schlicht fortgebildet oder verworfen werden, weil den Zivilgerichten in dieser Beziehung nicht nur das Prüfungs-, sondern auch das Verwerfungsrecht zusteht. Um den Vorbehalt des BVerfG zu schützen, steht Art. 100 GG der Rechtsfortbildung mithin dann entgegen, wenn sie zumindest eine teilweise Nichtigerklärung der formellen, nachkonstitutionellen Privatrechtsnorm bedeutet.565 Hierzu kommt es, wenn der Wille der einfachgesetzlichen Legislative eindeutig ist und sich einer verfassungskonformen und insoweit normerhaltenden Deutung verschließt. Anderenfalls gilt für die Rechtsfortbildung dasselbe, was nach dem BVerfG auch Inhalt der verfassungskonformen Auslegung ist: Ein Gesetz darf nur dann für verfassungswidrig und in der Konsequenz für nichtig erklärt werden, wenn es nicht 563  Voßkuhle/Osterloh/Di Fabio, BVerfRi des Zweiten Senats, abweichende Meinung zu BVerfG, Beschl. v. 15. 01. 2009 – 2 BvR 2044/07 – Rügeverkümmerung, BVerfGE 122, 248, 282; implizit zuvor schon: BVerfG, Beschl. v. 12. 11. 1997 – 1 BvR 479/92 und 307/94 – Kind als Schaden, BVerfGE 96, 375, 394: „Diese Verfassungsgrundsätze verbieten es dem Richter allerdings nicht, das Recht fortzubilden. […] Der Richter darf sich dabei allerdings nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen“. 564  BVerfG, Beschl. v. 12. 11. 1997 – 1 BvR 479/92 und 307/94 – Kind als Schaden, BVerfGE 96, 375, 394; BVerfG, Beschl. v. 06. 06. 2018 – 1 BvL 7/14 und 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774, 780: „So verwirklicht sich auch die […] Bindung der Gerichte an das „Gesetz“, denn dies ist eine Bindung an die im Normtext zum Ausdruck gebrachte demokratische Entscheidung des Gesetzgebers“. 565  Schenke, in: Dreier (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes, 2009, S. 65; noch weiter geht: Hillgruber, JZ 1996, 118, 119, der eine richterliche Rechtsfortbildung wegen Art. 100 GG „von vornherein überhaupt nur bei vorkonstitutionellen Gesetzen und untergesetzlichen Normen in Betracht“ zieht.



B. Eigener Lösungsansatz247

verfassungskonform ausgelegt werden kann.566 Richtigerweise ist auch die verfassungskonforme Rechtsfortbildung in diese Feststellung einzubeziehen, da beide Instrumente der Verwerfung vorrangig sind und sicherstellen, dass eine gesetzgeberisch gewollte Bestimmung erhalten wird, soweit sie mit der Verfassung vereinbar ist. Steht der Wille des einfachen Gesetzgebers einer solchen Anpassung nicht unmissverständlich entgegen, bleibt der befasste Richter dem Gewaltenteilungsprinzip verpflichtet und muss dem Legislativwillen durch Herstellung der Verfassungskonformität zur Anerkennung verhelfen. Ist der eindeutig erklärte Gesetzgeberwille aber keiner verfassungskonformen Deutung zugänglich, verbietet Art. 100 GG jede Rechtsfortbildung. Kann die Norm nach dem mitgeteilten Willen des einfachen Gesetzgebers nur verfassungswidrig verstanden werden,567 muss sie nach Art. 100 GG dem BVerfG vorgelegt werden; eine verfassungskonforme Rechtsfortbildung ist dem Fachgericht in diesem Fall nicht erlaubt. (c) Gesetzesvorbehalt und Wesentlichkeitstheorie Weitere Schranken der Rechtsfortbildung ergeben sich aus dem Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes568 und der hieraus abgeleiteten Wesentlichkeitstheorie des BVerfG. Anders als der Gesetzesvorrang, der in Art. 20 Abs. 3 GG unmittelbar verankert ist, wird der Gesetzesvorbehalt hieraus nur mittelbar abgeleitet.569 Ohne ihn wäre der Vorrang des Gesetzes aber partiell gefährdet, weil die Rechtsprechung ihn dadurch umgehen könnte, dass sie Handlungen ohne gesetzliche Grundlage vornimmt.570 Obwohl der rechts566  BVerfG, Beschl. v. 07. 05. 1953 – 1 BvL 104/52 – Notaufnahme, BVerfGE 2, 266, 282; außerdem dazu: Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, S. 167 f. 567  Vgl. BVerfG, Beschl. v. 28. 04. 1965 – 1 BvR 346/61 – Neuapostolische Kirche, BVerfGE 19, 1, 5 zur verfassungskonformen Auslegung: „Widerspricht die Norm in jeder möglichen Auslegung dem Grundgesetz, so ist sie als solche verfassungswidrig. Läßt die Norm mehrere Auslegungen zu, die teils zu einem verfassungswidrigen, teils zu einem verfassungsmäßigen Ergebnis führen, so ist die Norm verfassungsmäßig und muß verfassungskonform ausgelegt werden“; ebenso: Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, S. 167 f. 568  Zu unterscheiden ist der hier zu betrachtende nicht ausdrücklich normierte rechtsstaatliche Gesetzesvorbehalt von den ausdrücklich normierten grundrechtlichen Gesetzesvorbehalten; siehe zum Einfluss der Gesetzesvorbehalte auf die Fortbildungsgrenzen auch: Schuppert, AöR 103 (1978), 43, 57 f. 569  Zum Vorbehalt des Gesetzes: BVerfG, Beschl. v. 28. 10. 1975 – 2 BvR 883/73 und 379, 497, 526/74 – Justizverwaltungsakt, BVerfGE 40, 237, 248; BVerfG, Beschl. v. 08. 08. 1978 – 2 BvL 8/77 – Kalkar I, BVerfGE 49, 89, 126; Voßkuhle, JuS 2007, 118. 570  Mit dieser Argumentation: BVerfG, Beschl. v. 28. 10. 1975 – 2 BvR 883/73 und 379, 497, 526/74 – Justizverwaltungsakt, BVerfGE 40, 237, 248 f.; kritisch zu dieser Argumentationslinie: Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn. 114.

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staatliche Gesetzesvorbehalt zunächst für die Eingriffsverwaltung entwickelt wurde,571 deutet ihn das BVerfG heute in ständiger Rechtsprechung derart, dass der Gesetzgeber verpflichtet ist, in grundlegenden Bereichen losgelöst von einem Eingriff572 selbst durch formelles Gesetz zu entscheiden.573 Während hierdurch feststeht, dass für bestimmte Situationen eine formellgesetzliche Grundlage574 existieren muss, präzisiert die durch die Rechtsprechung geprägte Wesentlichkeitstheorie,575 in welchem Umfang der Gesetzgeber selbst entscheiden muss, indem sie verlangt, dass „in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, […] alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen“ sind.576 Das bedeutet, dass die Legislative die Schranken konkurrierender Grundrechte „jedenfalls so weit selbst […] bestimmen [müsse], wie sie für die Ausübung dieser Freiheitsrechte wesentlich sind.“577

571  Eingehend zur historischen Entwicklung: Kleiser, Der Vorbehalt des Gesetzes nach dem Bonner Grundgesetz, 1963, S. 51 ff. 572  Prägnant betont dies: BVerfG, Beschl. v. 08. 08. 1978 – 2 BvL 8/77 – Kalkar I, BVerfGE 49, 89, 126 f., in der das BVerfG die bisherige Rspr. zum Vorbehalt des Gesetzes komprimiert darstellt. 573  In st. Rspr. z. B. BVerfG, Urt. v. 06. 12. 1972 – 1 BvR 230/70 und 95/71 – Förderstufe, BVerfGE 34, 165, 192 f.; BVerfG, Beschl. v. 28. 10. 1975 – 2 BvR 883/73 und 379, 497, 526/74 – Justizverwaltungsakt, BVerfGE 40, 237, 248 f.; implizit auch: BVerfG, Beschl. v. 22. 06. 1977 – 1 BvR 799/76 – Oberstufenreform, BVerfGE 45, 400, 417 f.; BVerfG, Beschl. v. 08. 08. 1978 – 2 BvL 8/77 – Kalkar I, BVerfGE 49, 89, 126 f. 574  BVerfG, Beschl. v. 28. 10. 1975 – 2 BvR 883/73 und 379, 497, 526/74 – Justizverwaltungsakt, BVerfGE 40, 237, 249, wonach „staatliches Handeln in bestimmten grundlegenden Bereichen nur Rechtens ist, wenn es durch das förmliche Gesetz legitimiert wird. Welche Bereiche das im einzelnen sind, läßt sich indessen aus Art. 20 Abs. 3 GG nicht mehr unmittelbar erschließen. […] Die Grundrechte mit ihren speziellen Gesetzesvorbehalten und mit den in ihnen enthaltenen objektiven Wertentscheidungen geben dabei konkretisierende, weiterführende Anhaltspunkte.“ 575  Auch das BVerfG versteht die Wesentlichkeitstheorie als Präzisierung des Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes: BVerfG, Beschl. v. 26. 06. 1991 – 1 BvR 779/85 – Aussperrung, BVerfGE 84, 212, 226. 576  BVerfG, Beschl. v. 08.08.1978 – 2 BvL 8/77 – Kalkar I, BVerfGE 49, 89, 126 f. [Hervorhebung v. Verf.]; explizit zur Bezeichnung als „Wesentlichkeitstheorie“: BVerfG, Beschl. v. 26.06.1991 – 1 BvR 779/85 – Aussperrung, BVerfGE 84, 212, 226; ferner zur Wesentlichkeitstheorie in st. Rspr. z. B. BVerfG, Beschl. v. 22.06.1977 – 1 BvR 799/76 – Oberstufenreform, BVerfGE 45, 400, 417 f.; BVerfG, Beschl. v. 21.12.1977 – 1 BvL 1/75, 1 BvR 147/75 – Sexualkundeunterricht, BVerfGE 47, 46, 79; BVerfG, Beschl. v. 27.11.1990 – 1 BvR 402/87 – Josefine Mutzenbacher, BVerfGE 83, 130, 142; BVerfG, Urt. v. 12.05.1998 – 1 BvR 1640/97 – Rechtschreibreform, BVerfGE 98, 218, 251. 577  BVerfG, Beschl. v. 27. 11. 1990 – 1 BvR 402/87 – Josefine Mutzenbacher, BVerfGE 83, 130, 142 m. w. N.



B. Eigener Lösungsansatz249

Dies bestätigt, dass der rechtsanwendenden Judikative eigene Rechtssetzung verwehrt ist.578 Beruht die Fortbildung einer Privatrechtsvorschrift auf keiner gesetzlichen Wertung, bedeutet dies einen Verstoß gegen den Vorbehalt des Gesetzes. Die Behauptung, der Grundsatz finde im Privatrecht keine Anwendung,579 ist schon deshalb unhaltbar, weil es dem gesetzes- und rechtsgebundenen Richter in keinem Bereich erlaubt sein kann, den Entscheidungsmaßstab für sein Urteil eigenmächtig zu erfinden. Der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes ist aber im Privatrecht gelockert und muss als Bindung an den gebotenen Normzweck verstanden werden.580 Die strikte Bindung an den Normtext ist nur im Straf- und Eingriffsverwaltungsrecht angezeigt, weil die rechtsfortbildende Ausweitung von Eingriffsbefugnissen einzig den Staat begünstigt,581 der aber die Fassung des Gesetzes selbst in der Hand hat. Im Privatrecht liegt die Situation anders. Wenngleich auch hier die Entscheidungsmacht staatlicher Stellen erweitert wird, begünstigt dies nicht das Gericht, das die Entscheidung erlässt, sondern den Beteiligten, dem sie zugutekommt. Weil hierdurch aber mittelbar Privatinteressen verwirklicht werden, ist leicht erkennbar, warum einer rein staatsbegünstigenden Fortbildung durch den Vorbehalt des Gesetzes strengere Grenzen gezogen sind, als einer solchen, die letztlich einem Privaten zugutekommt.582 Folgt man diesem Gedanken, kann auch die Behauptung entkräftet werden, der Gesetzesvorbehalt müsse im Zivilrecht abgelehnt werden, da mit ihm schützende 578  Sachs,

in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn. 120. einen Gesetzesvorbehalt im Zivilrecht: Söllner, ZG 1995, 1, 3; Herzog, in: Brandt/Gollwitzer/Henschel (Hrsg.), Festschrift Simon, 1987, S. 109; Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 13 Rn. 99; Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 2 Rn. 12; demgegenüber zu Recht dafür: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 132; Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 119; Hillgruber, JZ 1996, 118, 123; Pieroth/Aubel, JZ 2003, 504, 509. 580  Zum gelockerten Vorbehalt des Gesetzes im Privatrecht: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 132 f., der seine Aussage naturgemäß noch nicht auf das hier entwickelte Konzept des „gebotenen Normzwecks“ bezieht; implizit ebenso: Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn. 121, der mittelbar ebenso auf eine Normzweckbindung abstellt, wenn er annimmt, dass „die methodisch gerechtfertigte Analogie Ausdruck der dem Vorbehalt genügenden Rechtsbindung des Rechtsanwenders“ sei. 581  Zu den verwaltungsrechtlichen Fortbildungsverboten: BVerfG, Beschl. v. 14. 08. 1996 – 2 BvR 2088/93, NJW 1996, 3146 (keine analoge Erweiterung von Eingriffsbefugnissen); gegen die steuerbegründende Analogie: Weber-Grellet, DStR 1991, 443; ferner zu den Fortbildungsgrenzen im Verwaltungsrecht: Gern, NVwZ 1995, 1145, 1146. 582  Vgl. Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 132 f., der zu Recht annimmt, dass ein Gemeinschaftsinteresse zwar deckungsgleich mit dem verwirklichten Privatinteresse sein kann, aber in den Hintergrund tritt. 579  Gegen

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

Fortbildungen wie der quasinegatorische Unterlassungsanspruch unmöglich wären.583 Weil auch sie auf gesetzliche Wertungen gestützt werden, sind richtigerweise nach dem hier vertretenen Ansatz keine aus dem Vorbehalt des Gesetzes resultierenden Schutzlücken zu befürchten. Stützt das Zivilgericht die Fortbildung einer Privatrechtsnorm auf eine legislative Wertentscheidung, genügt es in der Folge dem rechtsstaatlichen Gesetzesvorbehalt und der Wesentlichkeitstheorie. Setzt die Rechtsfortbildung an einer gesetzlichen Wertung an und verwirklicht sie durch die Lösung des zu entscheidenden Sachverhalts, wird letztlich nur eine getroffene Legislativentscheidung umgesetzt. Da eine gesetzgeberische Wertung für den konkreten Rechtsstreit nur sachdienlich sein wird, wenn sie so präzise ist, dass sie den Prozess zugunsten einer Partei entscheiden kann, werden die Anforderungen der Wesentlichkeitstheorie regelmäßig gewahrt sein. Eine Grenze ziehen der Grundsatz vom Gesetzesvorbehalt und die Wesentlichkeitstheorie im Privatrecht aber, soweit sich die Gerichte für die Rechtsfortbildung nicht auf eine gesetzliche Wertung stützen können.584 (d) Rechtssicherheit und Vertrauensschutz Rechtsstaatliche Schranken ergeben sich zudem aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit und dem Vertrauensschutz als seiner Kehrseite.585 Art. 103 Abs. 2 GG verbürgt beide Aspekte, findet aber im Privatrecht keine Anwendung. Dennoch gelten die Gebote im Zivilrecht gleichermaßen, da sie Elemente des Rechtsstaats sind.586 Für die Normadressaten muss erkennbar sein, was von ihnen erwartet wird,587 sodass dem Richter eine höhere Begrün583  Siehe hierzu: Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 13 Rn. 99, der den Vorbehalt des Gesetzes im Zivilrecht hauptsächlich mit dem Argument ablehnt, dass bei „Rechtschutzlücken […] der Angreifer privilegiert [wäre], weil sich der Verletzte ohne gesetzliche Grundlage und eine richterliche Rechtsfortbildung nicht verteidigen könnte; der quasinegatorische Unterlassungsanspruch verdeutlich[e] dies sehr klar“; ähnlich kritisch: Schwarze, JuS 1994, 653, 659, jedoch mit Blick auf den „Wesentlichkeitsvorbehalt“ der Wesentlichkeitstheorie; mit ähnlicher Kritik: Neuner, JZ 2016, 435, 436 f. 584  Dazu auch: Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn. 119: „Schließlich dürfen Gerichte ohne Grundlage in Recht und Gesetz keine (den Bürger belastende) Entscheidung treffen“. 585  Zum Verhältnis von Rechtssicherheit und Vertrauensschutz: Badura, Staatsrecht, 2018, S. 429. 586  BVerfG, Beschl. v. 24. 07. 1957 – 1 BvL 23/52 – Hamburgisches Hundesteuergesetz, BVerfGE 7, 89, 92; BVerfG, Urt. v. 19. 12. 1961 – 2 BvL 6/59 – Rückwirkende Steuern, BVerfGE 13, 261, 271. 587  Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn. 129.



B. Eigener Lösungsansatz251

dungslast auferlegt wird,588 wenn er den Gesetzestext rechtsfortbildend anpasst, als wenn er ihn unangetastet lässt und allein auslegt. Rechtssicherheit und Vertrauensschutz können für die Rechtsfortbildung aber nicht nur strengere Bedingungen formulieren, sondern ihr sogar absolute Grenzen ziehen. Rechtssicherheit meint Verlässlichkeit der Rechtsordnung,589 was voraussetzt, dass der Rechtsunsicherheit als deren Gegenteil entgegenzuwirken ist. Verlangt ist insoweit, dass eine Regelung so klar590 und bestimmt591 sein muss, dass sich der Adressat auf ihren Inhalt verlassen kann.592 Es muss vorhersehbar sein, welchen Geboten und Verboten er nachzukommen hat, um sein Handeln entsprechend ausrichten zu können.593 Die Fortbildung, die sich vom Wortlaut löst, konterkariert damit die Bestimmtheit der fortgebildeten Rechtsnorm. Das Gebot der Bestimmtheit tritt daher in Konkurrenz mit dem Bedürfnis, abstrakt-generelle Regelungen zu erlassen, die durch neue gesellschaftliche, soziale und technische Entwicklungen nicht sofort Makulatur werden, sondern es gestatten, auch zukünftigen Sachverhalten einen Rechtsrahmen zu bieten. Das Spannungsverhältnis ist mit dem BVerfG dahin aufzulösen, dass vollkommene Bestimmtheit nicht notwendig ist, sondern bereits die hinreichende verfassungsmäßig genügt.594 Ihr steht nicht entge588  Zur Begründungslast: Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 2004, S. 23 f.; Meier/ Jocham, JuS 2016, 392, 393; Danwerth, ZfPW 2017, 230, 239; Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 4 Rn. 38 und § 13 Rn. 24; Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 4 Rn. 74. 589  Statt aller: BVerfG, Beschl. v. 08. 06. 1977 – 2 BvR 499/74 und 1042/75 – Rückwirkende Verordnungen, BVerfGE 45, 142, 167; BVerfG, Urt. v. 23. 11. 1999 – 1 BvF 1/94 – Stichtagsregelung, BVerfGE 101, 239, 262; Badura, Staatsrecht, 2018, S. 432. 590  Zur Rechtsklarheit: Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn.  123 ff. 591  Zur Rechtsbestimmtheit: BVerfG, Urt. v. 27. 02. 2008 – 1 BvR 370, 595/07 – Online-Durchsuchungen, BVerfGE 120, 274, 315 f.; BVerfG, Urt. v. 11. 03. 2008 – 1 BvR 2074/05, 1254/07 – Automatisierte Kennzeichenerfassung, BVerfGE 120, 378, 407 f.; BVerfG, Urt. v. 25. 07. 2012, 2 BvF 3/11, 2 BvR 2670/11, 2 BvE 9/11 – Landeslisten, BVerfGE 131, 316, 343; ferner dazu: Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn. 126 ff. 592  Gröpl, Staatsrecht I, 2020, Rn. 468. 593  Zu diesem Erfordernis in st. Rspr. z. B. BVerfG, Beschl. v. 07.07.1971 – 1 BvR 775/66 – Private Tonbandvervielfältigungen, BVerfGE 31, 255, 264; BVerfG, Beschl. v. 22.06.1977 – 1 BvR 799/76 – Oberstufenreform, BVerfGE 45, 400, 420; BVerfG, Beschl. v. 18.05.1988 – 2 BvR 579/84 – Schatzregal der Länder, BVerfGE 78, 205, 212; BVerfG, Urt. v. 17.11.1992 – 1 BvL 8/87 – Einkommensanrechnung, BVerfGE 87, 234, 263; BVerfG, Beschl. v. 03.03.2004 – 1 BvF 3/92 – Zollkriminalamt, BVerfGE 110, 33, 53; Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn. 129. 594  Zum Erfordernis der „hinreichenden Bestimmtheit“: BVerfG, Urt. v. 16.01.2003 – 2 BvR 716/01 – Anwesenheit im JGG-Verfahren, BVerfGE 107, 104, 120.

252

Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

gen, wenn der Gesetzgeber unbestimmte595 oder auslegungsbedürftige596 Rechtsbegriffe verwendet, solange die Gerichte in der Lage sind, die gesetzgeberische Entscheidung zu präzisieren.597 Hierzu genügt es, wenn sich „der Regelungstatbestand […] mit Hilfe der anerkannten Auslegungsregeln feststellen“598 lässt und „insbesondere durch Heranziehung anderer Vorschriften […], durch Berücksichtigung des Normzusammenhanges oder aufgrund einer gefestigten Rechtsprechung eine zuverlässige Grundlage für die Auslegung und Anwendung der Norm“599 gewonnen werden kann. Reicht es aus, dass der Regelungsinhalt mithilfe der Methodik erschlossen werden kann,600 ist eine Rechtsfortbildung mit dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot (noch) vereinbar, wenn sie an einer bestimmten gesetzgeberischen Wertentscheidung ansetzt und ausgehend von ihr begründet wird, warum der gebotene Normzweck eine Anpassung des Normtexts erfordert. Kann sich die Rechtsfortbildung auf keine gesetzliche Wertung stützen, sind die Anforderungen der Rechtsicherheit hingegen nicht mehr gewahrt und die verfassungsrechtlichen Grenzen damit überschritten. Die notwendige Rechtssicherheit verlangt, dass der Einzelne nicht „durch die rückwirkende Beseitigung erworbener Rechte über die Verlässlichkeit der Rechtsordnung getäuscht wird.“601 Gemeint ist in erster Linie der Vertrau595  Speziell zur Zulässigkeit unbestimmter Rechtsbegriffe: BVerfG, Urt. v. 18. 12. 1953 – 1 BvL 106/53 – Gleichberechtigung, BVerfGE 3, 225, 243; BVerfG, Beschl. v. 12. 01. 1967 – 1 BvR 169/63 – Grundstücksverkehrsgesetz, BVerfGE 21,73, 79; BVerfG, Beschl. v. 07. 07. 1971 – 1 BvR 775/66 – Private Tonbandvervielfältigungen, BVerfGE 31, 255, 264. 596  Allgemein zur Zulässigkeit auslegungsbedürftiger Rechtsbegriffe: BVerfG, Beschl. v. 07.  07.  1971 – 1 BvR 775/66 – Private Tonbandvervielfältigungen, BVerfGE 31, 255, 264; BVerfG, Urt. v. 25. 07. 2012, 2 BvF 3/11, 2 BvR 2670/11, 2 BvE 9/11 – Landeslisten, BVerfGE 131, 316, 343. 597  BVerfG, Beschl. v. 07. 07. 1971 – 1 BvR 775/66 – Private Tonbandvervielfältigungen, BVerfGE 31, 255, 264. 598  In st. Rspr. z. B. BVerfG, Urt. v. 21. 11. 2000 – 1 BvR 2307/94, 1 BvR 1120/95, 1 BvR 1408/95, 1 BvR 2460/95, 1 BvR 2471/95 – EALG, BVerfGE 102, 254, 337; BVerfG, Beschl. v. 08.  11.  2006 – 2 BvR 578, 796/02 – Strafrestaussetzung, BVerfGE 117, 71, 111. 599  In st. Rspr. z. B. BVerfG, Beschl. v. 21. 06. 1977 – 2 BvR 308/77, BVerfGE 45, 363, 372; BVerfG, Beschl. v. 03. 06. 1992 – 2 BvR 1041/88, 78/89 – Strafaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe, BVerfGE 86, 288, 311; BVerfG, Beschl. v. 08. 11. 2006 – 2 BvR 578, 796/02 – Strafrestaussetzung, BVerfGE 117, 71, 112. 600  Insoweit gebietet der Bestimmtheitsgrundsatz auch nicht, dass die Bürger eine Rechtsnorm ohne juristische Beratung verstehen können müssen: BVerfG, Beschl. v. 04. 06. 2012 – 2 BvL 9, 10, 11, 12/08, BVerfGE 131, 88, 123; Sachs, in: Sachs, GGKommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn. 129. 601  BVerfG, Beschl. v. 20. 02. 2002 – 1 BvL 19, 20, 21/97, 11/98 – Entscheidungserheblichkeit, BVerfGE 105, 48, 57; ähnlich zuvor schon: BVerfG, Beschl. v.



B. Eigener Lösungsansatz253

ensschutz.602 Dem Gericht ist es folglich untersagt, eine Privatrechtsnorm fortzubilden, wenn hiermit ein Verstoß gegen das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot einhergeht.603 Zur grundsätzlich zulässigen unechten Rück­ wirkung604 und zur grundsätzlich unzulässigen echten605 besteht eine aus­ differenzierte Kasuistik.606 Gegen diese Grenze wird in der Konsequenz aber dann nicht verstoßen, wenn die Rechtsfortbildung eine gesetzgeberische Wert­ entscheidung verwirklicht. Ist dies der Fall, wird nur der legislative Normzweck zur Geltung gebracht, der bei Erlass der Bestimmung ihr bereits immanent war.607 Führt die Rechtsfortbildung zu einer Rechtsprechungsänderung, ist auch das vor dem Hintergrund des Vertrauensschutzes unbedenklich, da weder eine höchstrichterliche Rechtsprechung eine Bindungswirkung erzeugen kann608 noch das identische Gericht an frühere Entscheidungen gebunden ist.609 Setzt die Rechtsfortbildung eine legislative Wertung um, scheidet ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot aus. 08. 06. 1977 – 2 BvR 499/74 und 1042/75 – Rückwirkende Verordnungen, BVerfGE 45, 142, 168. 602  Zum Vertrauensschutz in st. Rspr. z. B. BVerfG, Beschl. v. 13. 05. 1986 – 1 BvR 99, 461/85 – Wohnungsfürsorge, BVerfGE 72, 175, 196; BVerfG, Beschl. v. 20. 02. 2002 – 1 BvL 19, 20, 21/97, 11/98 – Entscheidungserheblichkeit, BVerfGE 105, 48, 57; BVerfG, Beschl. v. 22. 10. 2014 – 2 BvR 661/12 – Katholischer Chefarzt, BVerfGE 137, 273, 344. 603  Zum rechtsstaatlichen Rückwirkungsverbot: Wernsmann, JuS 1999, 1177; Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn. 132 ff.; Kloepfer, Verfassungsrecht I, 2011, § 10 Rn. 169 ff. 604  Zur unechten Rückwirkung: BVerfG, Beschl. v. 07. 07. 2010 – 2 BvL 13/05, 14/02, 2/04, 13/05 – Spekulationsfrist, BVerfGE 127, 1, 16; Gröpl, Staatsrecht I, 2020, Rn. 491. 605  Zur echten Rückwirkung: BVerfG, Urt. v. 19. 12. 1961 – 2 BvL 6/59 – Rückwirkende Steuern, BVerfGE 13, 261, 266; Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn. 133. 606  Zu dieser Einschätzung: Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn. 132. 607  Ohne Bezug zur Rechtsfortbildung hat Bechtold, NZKart 2018, 61 insoweit darauf hingewiesen, dass beispielsweise eine Schadensersatzregelung „Vorteile für den Gläubiger und Nachteile für den Schuldner mit sich [bringe] […] [und der Gesetzgeber die] dafür erforderliche Abwägung […] im Regelfall für die Zukunft“ treffe. Zeigt sich nun im Zeitpunkt der Rechtsfortbildung, dass die auf diese Weise getroffene gesetzgeberische Wertentscheidung zwar im Normtext keinen Ausdruck findet, sie aber bereits im Zeitpunkt des Normerlasses existent war, geht hiermit folglich kein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot einher. 608  Kühling, DVBl 2006, 857, 864; zustimmend: Hainthaler, ZJS 2015, 13, 14. 609  Daher zu Recht gegen eine Selbstbindung der Rechtsprechung: BVerfG, Beschl. v. 11. 05. 1965 – 2 BvR 259/63 – S-Urteil des Bundesfinanzhofes, BVerfGE 19, 38, 47; anders dagegen: Riggert, Die Selbstbindung der Rechtsprechung durch den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG), 1993, S. 48.

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

(3) Bundesstaatsprinzip als Grenze Zudem ist kurz zu erwägen, ob nicht das Bundesstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG610 die Rechtsfortbildung durch die Amts-, Land- und Oberlandesgerichte sperrt, wenn sie zur Folge hat, dass hierdurch einfachgesetzliches Privatrecht und damit Bundesrecht verworfen wird. Dagegen spricht, dass die rechtsprechende Gewalt gem. Art. 92 Hs. 2 GG vom BVerfG, den Bundesgerichten und den Gerichten der Länder im Rahmen ihrer Kompetenzverteilung gleichermaßen wahrgenommen wird. Verwirklicht ein Gericht der Länder mit der Rechtsfortbildung einen gesetzgeberischen Normzweck, kommt ein Verstoß gegen das Bundesstaatsprinzip aber schon deshalb nicht in Betracht, weil dann keine Eigenwertung eines Landesrichters, sondern die Wertentscheidung des Bundesgesetzgebers maßgebend ist. Eine Rechtsfortbildung ist demnach unter diesem Gesichtspunkt so lange verfassungskonform, wie sie sich auf eine gesetzliche Wertung stützt. Würde eine Rechtsfortbildung hingegen faktisch die Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern verschieben, wäre auch insoweit ein Verstoß theoretisch denkbar.611 (4) Weitere verfassungsrechtliche Vorgaben als Grenze Weitere verfassungsrechtliche Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung ergeben sich aus Art. 103 Abs. 2 GG612 und Art. 104 GG,613 denen im Privatrecht aber keine Bedeutung zukommt. Demgegenüber zieht das Verhältnismäßigkeitsprinzip der Rechtsfortbildung auch außerhalb der Grundrechte Schranken.614 Zuletzt führt auch das „Rechtsverweigerungsverbot“,615 das 610  Andeutungsweise auch: Schenke, in: Dreier (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes, 2009, S. 65, wonach sich „Einschränkungen der Befugnis zur richterlichen Rechtsfortbildung […] sich […] aus der bundesstaatlichen Ordnung ergeben“ können. 611  Näher hierzu: Ipsen, DVBl 1984, 1102, 1106 f. 612  Zum Verbot täterbelastender Rechtsfortbildung im Strafrecht in st. Rspr. z. B.: BVerfG, Urt. v. 03. 06. 1962 – 2 BvR 15/62 – Gesetzesgebundenheit im Strafrecht, BVerfGE 14, 174, 185; BVerfG, Beschl. v. 23. 10. 1985 – 1 BvR 1053/82 – AntiAtomkraftplakette, BVerfGE 71, 108, 115; BGH, Urt. v. 07. 11. 1990 – 2 StR 439/90, BGHSt 37, 226, 230; jüngst: BVerfG, Beschl. v. 28. 07. 2015 – 2 BvR 2558/14, 2 BvR 2571/14, 2 BvR 2573/14, NJW 2015, 2949, 2954. 613  Dies wäre vorstellbar für den Fall der richterlichen Freiheitsentziehung ohne förmliches Gesetz, vgl. Art. 104 Abs. 1 GG. 614  Zur Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes außerhalb der Grundrechte: Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 20 GG, Rn. 146 ff. 615  Eingehend zum Rechtsverweigerungsverbot: Schumann, ZZP 81 (1968), 79 ff.; Kirchhof, NJW 1986, 2275, 2280 spricht von „Entscheidungspflicht“ der Richter.



B. Eigener Lösungsansatz255

aus dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch616 abgeleitet werden kann, nicht zu einer Erweiterung der Kompetenz der Judikative, weil ein staatliches Gericht nur innerhalb der bestehenden Grenzen zur Rechtsfortbildung verpflichtet ist. Kann in der Rechtsordnung eine Lücke nachgewiesen werden und sind so die Voraussetzungen für eine Fortbildung des Rechts erfüllt, ist die Judikative in der Konsequenz verpflichtet, die betroffene Norm fortzubilden. Gelingt dies nicht, enthält die Rechtsordnung keine Lücke, sodass folglich auch keine Rechtsfortbildung notwendig ist. Das Verbot der Rechtsverweigerung ist dann nicht tangiert, weil die Rechtsordnung lückenlos ist.617 d) Vierte Stufe: Die Wertung unionsrechtlicher Normen Ergeben die ersten drei Stufen der Normzweckanalyse, dass der Sachverhalt vorläufig nicht normzweckkonform oder -konform ist, kann eine abweichende Bewertung dennoch auf vierter und letzter Stufe aufgrund einer höherrangigen Wertung des Unionsrechts geboten sein.618 Zum einen ist vorstellbar, dass eine Rechtsfortbildung nach den rein nationalen Wertungen unzulässig wäre, aber infolge einer unionsrechtlichen geboten ist. Zum anderen ist es möglich, dass sie umgekehrt rein national betrachtet zulässig wäre, die Rechtsfortbildung aber gegen eine Wertung des Unionsrechts verstößt. Grenzen können dabei sowohl aus dem Primärrecht als auch aus dem Sekundärrecht der EU abgeleitet werden.619 aa) Begrenzung durch EU-Primärrecht Das primäre Unionsrecht gilt und wirkt durch den im Zustimmungsgesetz enthaltenen Rechtsanwendungsbefehl,620 soweit der Rechtsakt hinreichend

allgemeinen Justizgewährungsanspruch: Voßkuhle/Kaiser, JuS 2014, 312. insoweit: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1476: „Weist das Gesetzesrecht normative Defizite auf, so darf der Richter nicht den Akt der Rechtsprechung ablehnen; das wäre Justizverweigerung, die verfassungsrechtlich verboten ist. […] Die Gerichte müssen die schwierige und umstrittene Aufgabe der Lückenfüllung unter Ausschöpfung der gesamten Rechtsordnung erfüllen.“ [Hervorhebung v. Verf.]. 618  Zur contra legem-Grenze mit Bezügen zum Unionsrecht: Möllers, EuR 1998, 20 ff. 619  Wie bereits oben wird das EU-Tertiärrecht auch an dieser Stelle ausgeklammert. 620  Zur unmittelbaren Geltung: Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, 2020, Rn. 135, der seine Aussage auf das gesamte Unionsrecht bezieht; Schroeder, Grundkurs Europarecht, 2019, § 5 Rn. 11, der gleichfalls „alle[n] 616  Zum

617  Überzeugend

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

bestimmt und inhaltlich unbedingt ist.621 Ist das zu bejahen, ist die Rechtsprechung gem. Art. 20 Abs. 3 GG an die Norm gebunden. Wie schon im Verfassungsrecht ist auch hier zu klären, inwieweit aus dieser Bindung nationaler Gerichte folgt, dass sie die EU-Grundrechte, Grundfreiheiten und andere primärrechtliche Wertungen auch im Privatrechtsverhältnis zwischen den Prozessparteien durchzusetzen haben. (1) EU-Grundrechte als Grenze In welchem Ausmaß die EU-Grundrechte der Fortbildung einer nationalen Privatrechtsnorm Grenzen ziehen können, hängt davon ab, welchen Grundrechtsschutz das Unionsrecht bereithält, wie dieser im Privatrecht Anwendung findet und auf welche Weise er auf die Rechtsfortbildung einwirkt, die von einem Zivilgericht an einer nationalen Privatrechtsnorm vorgenommen wird. (a) Wirkung der EU-Grundrechte im Privatrecht (aa) EU-Grundrechte Mit „EU-Grundrechte“ wird der Grundrechtsschutz bezeichnet, der auf Ebene des Rechts der Europäischen Union verbürgt ist. Im Gegensatz zu den innerstaatlichen Grundrechten im Grundgesetz sind die europäischen Gewährleistungen nicht in einem Grundrechtsabschnitt der Gründungsverträge verankert, sondern entspringen wie Art. 6 EUV verdeutlicht mehreren Rechtsquellen.622 Gem. Art. 6 Abs. 1 EUV erkennt die EU die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) an, die den Verträgen im Rang gleichgestellt ist und die die erste Quelle für einen primärrechtlichen Grundrechtsschutz bildet. Gem. Art. 6 Abs. 2 EUV ist ferner ein Beitritt der Europäischen Union zur EMRK und somit auch zu deren Grund- und MenschenRechtsquellen des Unionsrecht“ unmittelbare Geltung in den Mitgliedstaaten bescheinigt. 621  Zur unmittelbaren Wirkung: EuGH, Urt. v. 05. 02. 1963 – Rs. 26/62 – Van Gend & Loos/Niederländische Finanzverwaltung, ECLI:EU:C:1963:1 = Slg. 1962, 7, 25; EuGH, Urt. v. 16.  06.  1966 – Rs. 57/65 – Lütticke/Hauptzollamt Saarlouis, ECLI:EU:C:1966:34 = Slg. 1966, 257, 266; EuGH, Urt. 03. 12. 1974 – Rs. 33/74 – Van Binsbergen/Bedrijfsvereniging voor de Metaalnijverheid, ECLI:EU:C:1974:131, Rn. 24/26; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 389 f. 622  Zu den wichtigsten Etappen der Entwicklung des europäischen Grundrechtsschutzes: Drechsler, Die Unionsgrundrechte unter dem Einfluss des Prozessrechts, 2019, S.  20 f.



B. Eigener Lösungsansatz257

rechten vorgesehen. Da der Beitritt aber noch nicht erfolgt ist und aufgrund des negativen EuGH-Gutachtens vom 18.12.2014623 zum Entwurf eines Beitrittsabkommens gem. Art. 218 Abs. 11 AEUV vorerst auch nicht erfolgen wird,624 entfaltet Art. 6 Abs. 2 EUV aktuell keine Wirkung. Gem. Art. 6 Abs. 3 EUV erlangen die Menschenrechte der EMRK aber gleichwohl mittelbar für das unionsrechtliche Grundrechtssystem Bedeutung, indem sie ­zusammen mit den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen zählen und damit Bestandteil des primären Unionsrechts sind. Die „EU-Grundrechte“ entspringen folglich ­einem komplexen Grundrechtsregime, das sämtliche Gewährleistungen umschließt, die in der GRCh, der EMRK und in den übereinstimmenden Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten verankert sind. Anders als die Verflechtung dreier Grundrechtsquellen vermuten lässt, erweist sich die Komplexität des EU-Grundrechtsregimes dennoch als nicht außergewöhnlich hoch, weil ein weitgehender inhaltlicher Gleichlauf aller Gewährleistungsbereiche besteht.625 Dies ist zu einem Teil auf die faktische Kooperation von EGMR und EuGH zurückzuführen,626 zu einem anderen aber schon materiellrechtlich angelegt. So sieht Art. 52 Abs. 3 GRCh nicht nur vor, dass ein Grundrecht der GRCh die gleiche Bedeutung und Tragweite hat wie die Parallelgewährleistung in der EMRK; vielmehr wird durch die Günstigkeitsklausel des Art. 53 GRCh627 außerdem bestimmt, dass keine Regelung der Charta als Einschränkung der EMRK ausgelegt werden kann. Weil auch Art. 53 EMRK eine Geltungserhaltungsklausel enthält und die Inhalte über die völkerrechtsfreundliche Auslegung des Grundgesetzes mittelbar auch im Verfassungsrecht garantiert sind,628 kann sich die Grenzanalyse auf die 623  EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – Gutachtenverfahren 2/13 – Adhésion de l’Union à la CEDH, ECLI:EU:C:20. 4. 2454. 624  Zu den Hintergründen: Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn.  757 ff. 625  Zum weitgehenden Gleichlauf der EU-Grundrechtsquellen: Michl, Unionsgrundrechte aus der Hand des Gesetzgebers, 2018, S. 5; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 684; speziell zum Gleichlauf des grundrechtlichen Schutzniveaus von GRCh und EMRK: Ludwigs/Sikora, JuS 2017, 385, 392. 626  Vgl. auch: Ludwigs/Sikora, JuS 2017, 385, 392. 627  Siehe zur Günstigkeitsklausel des Art. 53 GRCh: Ludwigs/Sikora, JuS 2017, 385, 391. 628  Zur völkerrechtsfreundlichen Auslegung des Grundgesetzes in st. Rspr. z. B. BVerfG, Beschl. v. 26. 03. 1987 – 2 BvR 589/79 – Unschuldsvermutung, BVerfGE 74, 358, 370; BVerfG, Beschl. v. 14. 10. 2004 – 2 BvR 1481/04 – EGMR-Entscheidungen, BVerfGE 111, 307, 317 ff.; BVerfG, Beschl. v. 26. 02. 2008 – 1 BvR 1602, 1606, 1626/07 – Caroline von Monaco III, BVerfGE 120, 180, 200 f.; eingehend zum Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit: Knop, Völker- und Europarechtsfreundlichkeit als Verfassungsgrundsätze, 2013, S. 200 ff.

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

Grundrechte aus der GRCh beschränken, ohne dass hiermit ein Erkenntnisverlust einherginge.629 (bb) Vertikalwirkung der EU-Grundrechte Grenzrelevant werden die EU-Grundrechte im Privatrecht aber selbsterklärend nur dann, wenn sie dort über einen Anwendungsbereich verfügen.630 Obwohl das historische unionsrechtliche Grundrechtsdefizit nur den Schutz vor Handlungen der EU631 betraf,632 gelten die Grundrechte der Charta gem. Art. 51 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 GRCh explizit auch für Mitgliedstaaten, soweit sie das Unionsrecht ausführen. Infolgedessen binden die Grundrechte der Charta die Mitgliedstaaten und ihre Organe633 und folglich auch die Zivilgerichte bei der „Durchführung des Rechts der Union“. Besteht Einigkeit, dass Handlungen der Mitgliedstaaten nicht grundsätzlich an den Unionsgrundrechten zu messen sind, wird zwischen EuGH und BVerfG nach wie vor über die Auslegung von Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh gestritten, weshalb unklar ist, wie weit die hiervon ausgehende Bindung reicht. Als Minimalkonsens kann gelten, dass die Mitgliedstaaten gebunden sind, wenn sie zwingende Vorgaben des EU-Rechts zur Anwendung bringen,634 sie aber von Bestimmungen der GRCh frei sind, wenn sie rein nationale Bestimmungen durchführen. Für die mitgliedstaatlichen Gerichte bedeutet das, dass sie der unionsgrundrecht­ 629  Siehe hierzu auch: Michl, Unionsgrundrechte aus der Hand des Gesetzgebers, 2018, S. 5; ähnlich: Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 764, wonach die GRCh „in der Rechtsprechung des EuGH als zentraler normativer Anknüpfungspunkt [diene und nur] in besonderen Konstellationen […] ein ausdrücklicher Rückgriff auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze oder die EMRK erforderlich werden“ dürfte. 630  Siehe zum beschränkten Anwendungsbereich: von Papp, Die Integrationswirkung von Grundrechten in der Europäischen Gemeinschaft, 2007, S. 43; Haratsch/ Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 697 ff. 631  Genau genommen gegenüber ihren Rechtsvorgängern. 632  Zur ursprünglichen Schutzrichtung: Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 685, wonach ein „Agieren der supranationalen Gemeinschaften in einem grundrechtsfreien Raum“ verhindert werden sollte. 633  Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2021, Art. 51 GRCh, Rn. 16; ferner: Streinz, Europarecht, 2019, Rn. 779. 634  Siehe dazu: EuGH, Urt. v. 13. 07. 1989 – Rs. 5/88, Wachauf/Bundesamt für Ernährung und Fortwirtschaft, ECLI:EU:C:1989:321, Rn. 19; BVerfG, Beschl. v. 13. 03. 2007 – 1 BvF 1/05 – Treibhausgas-Emissionsberechtigungen, BVerfGE 118, 79, 95, wonach „eine innerstaatliche Rechtsvorschrift, die eine Richtlinie in deutsches Recht umsetzt, […] insoweit nicht an den Grundrechten des Grundgesetzes gemessen, als das Gemeinschaftsrecht keinen Umsetzungsspielraum lässt, sondern zwingende Vorgaben macht“; ebenso: BVerfG, Beschl. v. 11. 03. 2008 – 1 BvR 256/08, BVerfGE 121, 1, 15; BVerfG, Urt. v. 02. 03. 2010 – 1 BvR 256, 263, 586/08, BVerfGE 125, 260, 306 f.; ferner: Ludwigs/Sikora, JuS 2017, 385, 390.



B. Eigener Lösungsansatz259

lichen Bindung unterliegen, wenn sie originär europarechtliche Regelungen vollziehen oder nationale Regelungen auslegen und fortbilden, die ihrerseits ausschließlich Unionsrecht umsetzen.635 Zweifelhaft ist demgegenüber, ob die Unionsgrundrechte auch dann Beachtung für die Grenzziehung und somit für die Lückenfüllung beanspruchen, wenn die innerstaatliche Rechtsvorschrift nur partiell unionsrechtlich determiniert ist. Geht die fortzubildende Privatrechtsnorm in der Umsetzung über die zwingenden Vorgaben des Unionsrechts hinaus, nimmt das BVerfG an, dass im nicht unionsrechtlich determinierten Bereich kein „Recht der Union durchgeführt“ wird.636 Soweit es sich damit nicht um eine Umsetzung handelt, gelten daher nur die nationalen Grundrechte, nicht die der Charta.637 Die Rechtsprechung des BVerfG hat zur Folge, dass die europäischen Grundrechte für die nationale Bestimmung allein maßgeblich sind, soweit kein Umsetzungsspielraum bleibt,638 während die deutschen Grundrechte ihrerseits exklusiv gelten, soweit ein solcher besteht.639 Während dies auf eine Abgrenzung beider Grundrechtsregime hinausläuft, führt die Linie des EuGH zu einem Gleichlauf beider Gewährleistungsquellen.640 Wegweisend ist die Entscheidung in der Rechtssache Åkerberg Fransson, in der der Gerichtshof darlegte, dass keine Fallgestaltung denkbar sei, in der eine nationale Vorschrift in den Geltungsbereich des EU-Rechts falle, die Unionsgrundrechte aber nicht anwendbar seien.641 Als Reaktion auf die Kritik642 an der als zu 635  EuGH, Urt. v. 11. 10. 2007 – Rs. C-117/06 – Möllendorf und Möllendorf-Niehuus, ECLI:EU:C:2007:596, Rn. 78 f.; Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2021, Art. 51 GRCh, Rn. 23. 636  Jüngst bestätigt durch: BVerfG, Beschl. v. 06. 11. 2019 – 1 BvR 16/13 – Recht auf Vergessen I, NJW 2020, 300, 301, wonach das „BVerfG […] innerstaatliches Recht und dessen Anwendung grundsätzlich auch dann am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes [prüft], wenn es im Anwendungsbereich des Unionsrechts liegt, dabei aber durch dieses nicht vollständig determiniert ist.“ 637  BVerfG, Beschl. v. 11. 03. 2008 – 1 BvR 256/08, BVerfGE 121, 1, 15; BVerfG, Urt. v. 02. 03. 2010 – 1 BvR 256, 263, 586/08, BVerfGE 125, 260, 306 f.; BVerfG, Beschl. v. 06. 11. 2019 – 1 BvR 16/13 – Recht auf Vergessen I, NJW 2020, 300, 301. 638  BVerfG, Beschl. v. 06. 11. 2019 – 1 BvR 276/17 – Recht auf Vergessen II, NJW 2020, 314, 316, wonach bei „der Anwendung unionsrechtlich vollständig vereinheitlichter Regelungen […] grundsätzlich nicht die deutschen Grundrechte, sondern allein die Unionsgrundrechte maßgeblich [sind]“. 639  Näher hierzu: Ludwigs/Sikora, JuS 2017, 385, 390: Thym, NVwZ 2013, 889, 892 ff. 640  Siehe: EuGH, Urt. v. 26. 02. 2013 – Rs. C-399/11 – Melloni, ECLI:EU:C:2013: 107, Rn. 60; Ludwigs/Sikora, JuS 2017, 385, 391. 641  EuGH, Urt. v. 26. 02. 2013 – Rs. C-617/10 – Åkerberg Fransson, ECLI:EU:C: 2013:105, Rn. 21. 642  So etwa die Kritik des BVerfG in einem obiter dictum: BVerfG, Urt. v. 24. 04. 2013 – 1 BvR 1215/07, BVerfGE 133, 277, 316.

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

weit empfundenen Åkerberg-Formel präzisierte der Gerichtshof sie in der Siragusa-Entscheidung, wonach der „Begriff der ‚Durchführung des Rechts der Union‘ im Sinne von Art. 51 der Charta einen hinreichenden Zusammenhang von einem gewissen Grad verlang[e].“643 Um ihn positiv festzustellen, müsse geprüft werden, „ob mit [der nationalen Regelung] eine Durchführung einer Bestimmung des Unionsrechts bezweckt [werde], welchen Charakter diese Regelung [habe] und ob mit ihr nicht andere als die unter das Unionsrecht fallenden Ziele verfolgt [würden] […] sowie ferner, ob es eine Regelung des Unionsrechts [gebe], die für diesen Bereich spezifisch ist oder ihn beeinflussen kann.“644 Obwohl die klare Abgrenzung der Anwendungsbereiche durch das BVerfG der kasuistischen Struktur der Rechtsprechung des EuGH durchaus überlegen scheint, kann der Streit an dieser Stelle aber letztlich dahinstehen, da die Unionsgrundrechte der Fortbildung einfachgesetzlichen Privatrechts nach beiden Ansätzen Grenzen ziehen können. Soweit die umsetzende Privatrechtsnorm unionsrechtlich determiniert ist, gehen EuGH und BVerfG übereinstimmend davon aus, dass die EU-Grundrechte entscheidend sind. Soweit die Privatrechtsnorm nicht unionsrechtlich determiniert ist, gelangt der EuGH zu einem Nebeneinander beider Grundrechtsregime, während das BVerfG nur am Maßstab der GG-Grundrechte prüft. Relativiert wird diese Abweichung dadurch, dass das BVerfG, wie es jüngst klargestellt hat, die GGGrundrechte im Lichte der Charta-Grundrechte auslegt.645 Weil den EUGrundrechten damit nach beiden Rechtsprechungslinien ein grenzrelevanter Anwendungsbereich verbleibt, kann nun betrachtet werden, in welcher Weise sie auf die zivilgerichtliche Rechtsfortbildung einwirken. (cc) Horizontalwirkung der EU-Grundrechte Sind die Unionsgrundrechte in einem Zivilprozess anwendbar, können sie aber nur dann Einfluss auf den Rechtsstreit nehmen, wenn sie zwischen den Prozessparteien Entscheidungsgrundlage sind. Dies berührt die zur verfassungsrechtlichen Fragestellung parallele Problematik, ob die Unionsgrundrechte eine unmittelbare Horizontalwirkung zwischen Privaten entfalten. Hier wie dort ist dies abzulehnen. Ähnlich wie Art. 1 Abs. 3 GG stellt der Wortlaut des Art. 51 Abs. 1 GRCh unmissverständlich klar, dass die Unions643  EuGH, Urt. v. 06.03.2014 – Rs. C‑206/13 – Siragusa, ECLI:EU:C:2014:126, Rn. 24. 644  EuGH, Urt. v. 06. 03. 2014 – Rs. C‑206/13 – Siragusa, ECLI:EU:C:2014:126, Rn. 25. 645  BVerfG, Beschl. v. 06. 11. 2019 – 1 BvR 16/13 – Recht auf Vergessen I, NJW 2020, 300, 301, wonach die „primäre Anwendung der deutschen Grundrechte […] ihrerseits deren Auslegung auch im Lichte der Charta ein[schließt].“



B. Eigener Lösungsansatz261

grundrechte primär die EU und ihre Organe und sekundär die Mitgliedstaaten verpflichten; Private sind als Bindungsadressaten nicht genannt. Systematisch wird dies dadurch bestätigt, dass eine unmittelbare Horizontalwirkung zwischen Privaten nur vereinzelt, beispielsweise in Art. 5 Abs. 3 GRCh, bestimmt ist, was zeigt, dass dies nicht als Regel gewollt war. Hierin spiegelt sich wiederum der Gedanke, dass Grundrechte, auch jene der EU, teleologisch in erster Linie als Abwehrrechte gegen eine hoheitliche Gewalt ausgestaltet sind.646 Ähnlich wie bei den nationalen Grundrechten hätte eine unmittelbare Horizontalwirkung auch hier zur Folge, dass die EU-Grundrechte die Freiheit des Individuums nicht nur wahren, sondern entgegengesetzt auch verkürzen könnten. Während eine unmittelbare Bindung aus diesem Grund nicht denkbar ist,647 liegt wegen des Gedankens der Privatrechtsbindung aber auch hier eine mittelbare Horizontalwirkung vor.648 Weil Private unstreitig an die Normen des nationalen Zivilrechts gebunden sind, deren Anwendung aber die Unionsrechtskonformität voraussetzen, können aus der einfachgesetzlichen Privatrechtsordnung keine Rechte und Pflichten erwachsen, die gegen (anwendbare) EU-Grundrechte verstoßen.649 Da die Charta-Grundrechte gem. Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRCh wie auch ihre nationalen Entsprechungen durch Gesetz grundrechtskonform eingeschränkt werden können, sind ihnen für die Fortbildung der Schrankengesetze aber wiederum nur vereinzelt zwingende Anordnungen zu entnehmen. (b) EU-Gleichheitsgrundrechte als Grenze Vergleichbar mit den nationalen Gleichheitsgrundrechten ist dem Zivilrichter auch infolge des unionsgrundrechtlichen Gebots der Rechtsanwendungsgleichheit650 im Allgemeinen verwehrt, Privatrecht gleichheitswidrig 646  Streinz,

Europarecht, 2019, Rn. 784. zu Recht gegen eine unmittelbare Dritt- oder Horizontalwirkung der EU-Grundrechte: Schmittmann, Rechte und Grundsätze in der Grundrechtecharta, 2007, S.  37 f.; Magiera, DÖV 2000, 1017, 1025; Schmitz, JZ 2001, 833, 839 f.; Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2014, § 14 Rn. 81. 648  Siehe dazu: Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 723, wonach die dogmatische Begründung der mittelbaren Drittwirkung noch geklärt werden muss. 649  Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 723, die aus diesem Umstand schließen, dass die Privatrechtsordnung deshalb europarechtskonform auszulegen ist und insoweit „auch die Chartarechte bei der Auslegung des nationalen Rechts zu beachten“ sind. 650  Zur Rechtsanwendungsgleichheit im Mehrebenensystem und speziell zu ihr auf Unionsebene: Schladebach, NVwZ 2018, 1241, 1243. 647  Insoweit

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

fortzubilden, zugleich aber auch im Besonderen untersagt, in der Rechtsanwendung gegen spezielle Diskriminierungsverbote des Unionsrechts zu verstoßen. Infolgedessen sind die unionsgrundrechtlichen Grenzen der Rechtsfortbildung überschritten, wenn das Zivilurteil einen Inhalt annehmen würde, der mit dem allgemeinem Gleichheitssatz aus Art. 20 GRCh unvereinbar ist oder gegen einen der besonderen Gleichheitssätze verstößt, wie sie beispielsweise Art. 21 GRCh651 enthält. (c) EU-Freiheitsgrundrechte als Grenze Weitgehend parallel zum nationalen Recht ist der Mechanismus nicht nur bei den Gleichheits-, sondern auch bei den Freiheitsgrundrechten. Gem. Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRCh sind Einschränkungen der Charta-Grundrechte nämlich ebenso am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu messen wie dies bei Eingriffen in die nationalen Grundrechte der Fall ist.652 Obwohl der EuGH hierzu noch nicht Stellung genommen hat, ist im europäischen Schrifttum zu Recht anerkannt, dass die Abwehrfunktion der Unionsgrundrechte ebenfalls um eine Schutzfunktion ergänzt wird.653 Soweit dies mit Art. 51 Abs. 2 GRCh vereinbar ist und die Zuständigkeiten der Union hierdurch nicht unzulässig erweitert werden, können sich so auch aus den Unionsgrundrechten Schutzpflichten zugunsten der Grundrechtsberechtigten ergeben.654 Was sich abzeichnet ist, dass auch auf der Ebene der Unionsgrundrechte ein europäisches Übermaß- und ein Untermaßverbot erkennbar werden, die korrespondierend der Rechtsfortbildung einer nationalen Norm Grenzen ziehen können. (aa) Freiheitsgrundrechtliche Abwehrfunktion als Grenze Aus diesem Grund können die zum nationalen Recht entwickelten Grundsätze auf die Unionsgrundrechte übertragen werden. Wird der Beklagte infolge der Fortbildung einer europäisch determinierten Privatrechtsnorm verurteilt (Eingriffskonstellation), stellt die hierauf gestützte zivilgerichtliche Entscheidung einen Eingriff in anwendbare Unionsrechte dar. Weil die Ge651  Weitere spezielle Ausprägungen des allgemeinen Gleichheitssatzes finden sich etwa in Art. 18 Abs. 1 AEUV, Art. 40 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV, Art. 45 Abs. 2 AEUV, Art. 49 Abs. 2 AEUV, Art. 57 Abs. 3 AEUV und Art. 157 Abs. 1 AEUV; näher dazu: Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 730. 652  Zum unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aus Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRCh: Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 743. 653  Hierzu: Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 696, die insoweit überzeugend vorschlagen, dass hierzu „die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu den Grundfreiheiten des AEUV herangezogen werden“ kann. 654  Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 696.



B. Eigener Lösungsansatz263

setzesanwendung im Einzelfall unionsgrundrechtskonform sein muss, hat dies zur Folge, dass die Fortbildung selbst dann nicht gegen das „Übermaßverbot“, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aus Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRCh, verstoßen darf, wenn sie sich auf eine Wertung des unionsrechtlich determinierten Privatrechts stützt. Geschieht dies dennoch, ist die unionsgrundrechtliche Grenze der Rechtsfortbildung überschritten. Wird der Beklagte hingegen infolge einer Rechtsfortbildung verurteilt, obwohl eine Wertung im EU-determinierten Privatrecht nicht existiert (Eingriffskonstellation), kann dies trotz alledem europarechtlich geboten sein, wenn ohne die Rechtsfortbildung eine unionsgrundrechtliche Schutzpflicht gegenüber dem Kläger verletzt werden würde. In diesem Fall steht die unions­grundrechtliche Abwehrfunktion der Rechtsfortbildung nicht entgegen, ihre Grenzen sind nicht überschritten. (bb) Freiheitsgrundrechtliche Schutzfunktion als Grenze Wird hingegen die Klage durch eine Rechtsfortbildung abgewiesen, geht mit der Gerichtsentscheidung kein Eingriff in die Unionsgrundrechte des Klägers einher, weil ihm das Zivilgericht hier lediglich den beantragten Schutz verwehrt (Schutzkonstellation). Das Zivilgericht verstößt hier allenfalls gegen das unionsgrundrechtliche Untermaßverbot, wenn eine klägerbegünstigende Entscheidung wegen einer Schutzpflicht geboten war. Ist dies zu bejahen, verletzt die Rechtsfortbildung die Grenze, die das unionsrechtliche Untermaßverbot zieht. Korrespondierend dazu ist es zudem möglich, dass der Kläger wegen einer Rechtsfortbildung mit seinem Antrag scheitert (Schutzkonstellation), dies aber seine unionsgrundrechtlichen Freiheitsgrundrechte nicht unzulässig tangiert, sondern eine solche Entscheidung vielmehr geboten war, um nicht eine unionsgrundrechtliche Schutzpflicht gegenüber dem Beklagten zu verletzen. Ist das der Fall, sind die Rechtfortbildungsgrenzen infolge der EU-Freiheitsgrundrechte nicht überschritten. (2) EU-Grundfreiheiten als Grenze Ob die EU-Grundfreiheiten655 der Fortbildung einer nationalen Rechtsnorm entgegenstehen können, hängt davon ab, ob sie im Privatrecht anwendbar sind und wie die Grenzziehung hier dogmatisch zu begründen ist.

655  Zur Bedeutung der EU-Grundrechte für die Grundfreiheiten: Ruffert, JuS 2009, 97, 102.

264

Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

(a) Wirkung der EU-Grundfreiheiten im Privatrecht (aa) Vertikalwirkung der EU-Grundfreiheiten Weitgehend unproblematisch ist die Vertikalwirkung der primärrechtlichen Grundfreiheiten, da sie schon historisch in erster Linie656 vor Maßnahmen der Mitgliedstaaten schützen sollten.657 Unstreitig ist zudem, dass alle Grundfreiheiten hinreichend bestimmt und inhaltlich unbedingt sind und in der Folge im nationalen Recht unmittelbar wirken.658 Über Art. 20 Abs. 3 GG ist daher auch die nationale Zivilrechtsprechung an die Warenverkehrsfreiheit (Art. 34 AEUV),659 die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV),660 an die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV),661 die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV)662 sowie an die Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit (Art. 63 AEUV)663 gebunden.

656  Zu den Bindungsadressaten im Ganzen: Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 79 ff.; Löwisch, Die horizontale Direktwirkung der Europäischen Grundfreiheiten, 2009, S. 19 f. 657  Siehe zum klassischen Schutz vor mitgliedstaatlichen Maßnahmen: EuGH, Urt. v. 24. 11. 1982 – Rs. 249/81 – Kommission/Irland, ECLI:EU:C:1982:402, Rn. 23 ff.; Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 79; Löwisch, Die horizontale Direktwirkung der Europäischen Grundfreiheiten, 2009, S. 19; Kingreen/Störmer, EuR 1998, 263, 278. 658  Allgemein zur unmittelbaren Wirkung: EuGH, Urt. v. 05.  02.  1963 – Rs. 26/62 – Van Gend & Loos/Niederländische Finanzverwaltung, ECLI:EU:C:1963:1 = Slg. 1962, 7, 25; EuGH, Urt. v. 16. 06. 1966 – Rs. 57/65 – Lütticke/Hauptzollamt Saarlouis, ECLI:EU:C:1966:34 = Slg. 1966, 257, 266; EuGH, Urt. 03. 12. 1974 – Rs. 33/74 – Van Binsbergen/Bedrijfsvereniging voor de Metaalnijverheid, ECLI:EU: C:1974:131, Rn. 24/26. 659  Zur unmittelbaren Wirkung der Warenverkehrsfreiheit: EuGH, Urt. v. 22. 03. 1977 – Rs. 74/76 – Ianelli/Meroni, ECLI:EU:C:1977:51, Rn. 13; EuGH, Urt. v. 29. 11. 1978 – Rs. 83/78 – Redmond, ECLI:EU:C:1978:214, Rn. 66/67. 660  Zur unmittelbaren Wirkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit: EuGH, Urt. v. 14. 07. 1976 – Rs. 13/76 – Dona/Mantero, ECLI:EU:C:1976:115, Rn. 20; EuGH, Urt. v. 08. 04. 1976 – Rs. 48/75 – Royer, ECLI:EU:C:1976:57, Rn. 19/23 f. 661  Zur unmittelbaren Wirkung der Niederlassungsfreiheit: EuGH, Urt. v. 21. 06. 1974 – Rs. 2/74 – Reyners/Belgischer Staat, ECLI:EU:C:1974:68, Rn. 24/28. 662  Zur unmittelbaren Wirkung der Dienstleistungsfreiheit: EuGH, Urt. 03.12.1974 – Rs. 33/74  – Van Binsbergen/Bedrijfsvereniging voor de Metaalnijverheid, ECLI:EU: C:1974:131, Rn.  18 ff. 663  Zur unmittelbaren Wirkung der Kapitalverkehrsfreiheit: EuGH, Urt. v. 14. 12. 1995 – verb. Rs. C-163/94, C-165/94 und C-250/94 – Sanz de Lera u. a., ECLI:EU:C:1995:451, Rn. 48; hierdurch Aufgabe von EuGH, Urt. v. 11. 11. 1981 – Rs. 203/80 – Casati, ECLI:EU:C:1981:261, Rn. 8 ff.



B. Eigener Lösungsansatz265

(bb) Horizontalwirkung der EU-Grundfreiheiten Grenzrelevant sind die Grundfreiheiten für die Fortbildung einer Privatrechtsnorm indes nur dann, wenn die primärrechtliche Wertung im Rechtsstreit zwischen den Prozessparteien als Entscheidungsgrundlage bedeutsam ist. Das setzt aber voraus, dass auch Private ihrerseits durch die EU-Grundfreiheiten verpflichtet werden. Eine unmittelbare Horizontalwirkung664 wird in der Rechtsprechung des EuGH partiell bejaht. Während der Gerichtshof die Bindung Privater bei den Personenverkehrsfreiheiten der Arbeitnehmerfreizügigkeit, der Niederlassungs- und der Dienstleistungsfreiheit anerkannt hat,665 lehnt er sie etwa für die Warenverkehrsfreiheit ab.666 Für eine unmittelbare Horizontalwirkung der Grundfreiheiten spreche vor allem, dass ihre effektive Durchsetzung nicht nur von staatlicher Seite, sondern auch von privater gefährdet werden könnte.667 Weil anderenfalls die einheitliche Anwendung des Unionsrechts 664  Dieser Ausdruck wird hier jenem der „unmittelbaren Drittwirkung“ vorgezogen, ohne dass damit eine inhaltliche Abweichung verbunden wäre. 665  Zur unmittelbaren Dritt- oder Horizontalwirkung: EuGH, Urt. v. 12. 12. 1974 – Rs. 36/74  – Walrave und Koch/Association Union Cycliste Internationale u.  a., ECLI:EU:C:1974:140, Rn. 16/19 ff.; EuGH, Urt. v. 14. 07. 1976 – Rs. 13/76 – Dona/ Mantero, ECLI:EU:C:1976:115, Rn.  17/18; EuGH, Urt. v. 15.  12.  1995 – Rs. C-415/93 – Union royale belge des sociétés de football association u. a./Bosman u. a., ECLI:EU:C:1995:463, Rn. 82 ff.; EuGH, Urt. v. 11. 04. 2000 – verb. Rs. C-51/96 und C-191/97 – Deliège, ECLI:EU:C:2000:199, Rn. 47 f.; während der EuGH in den bisher genannten Entscheidungen lediglich eine unmittelbare Wirkung gegenüber privatrechtlichen „Vereinigungen und Einrichtungen“ annahm, die „im Rahmen ihrer rechtlichen Autonomie“ Hindernisse setzen können, weitete er diese Rechtsprechung in EuGH, Urt. v. 06. 06. 2000 – Rs. C-281/98 – Angonese, ECLI:EU:C:2000:296, Rn. 36 für das „Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit […] auch […] [auf] Privatpersonen“ aus; ferner dazu im Schrifttum: Wernicke, Die Privatwirkung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2002, S. 201 ff.; Förster, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 2007, S. 163; Löwisch, Die horizontale Direktwirkung der Europäischen Grundfreiheiten, 2009, S. 220 ff.; Hobe/Tietje, JuS 1996, 486, 488 f.; Möllers, EuR 1998, 20, 34; Reichold, ZEuP 1998, 434, 449 f.; Jarass, EuR 2000, 705, 715; Knaier, JuS 2000, 431, 432; Röthel, EuZW 2000, 379 f.; Repasi, EuZW 2008, 532; Roth, in: Due/Lutter/Schwarze (Hrsg.), Festschrift Everling, Band II, 1995, S. 1231 ff.; Steindorff, in: Badura/Scholz (Hrsg.), Festschrift Lerche, 1993, S.  75 ff. 666  EuGH, Urt. v. 01. 10. 1987 – Rs. 311/85 – VVR/Sociale Dienst van de Plaatselijke en Gewestelijke Overheidsdiensten, ECLI:EU:C:1987:418, Rn. 30. 667  Siehe zu dieser Argumentationslinie: EuGH, Urt. v. 12.12.1974 – Rs. 36/74 – Walrave und Koch/Association Union Cycliste Internationale u.  a., ECLI:EU:C: 1974:140, Rn. 16/19; EuGH, Urt. v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 – Union royale belge des sociétés de football association u. a./Bosman u. a., ECLI:EU:C:1995:463, Rn. 83; EuGH, Urt. v. 11.04.2000 – verb. Rs. C-51/96 und C-191/97 – Deliège, ECLI:EU:C:2000:199, Rn. 47; EuGH, Urt. v. 06.06.2000 – Rs. C-281/98 – Angonese,

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

nicht gewährleistet sei, gebiete es der effet utile, die Bindungswirkung ebenfalls auf das Verhältnis zwischen Privatpersonen zu erstrecken.668 Wenngleich nicht zu bestreiten ist, dass die Ausübung der Grundfreiheiten auch durch Private bedroht werden kann, ist die unmittelbare Horizontalwirkung kein gangbarer Weg, um das Problem zu lösen. Inkonsequent ist bereits, dass der EuGH seine Argumentationsstruktur nicht auf sämtliche Grundfreiheiten überträgt, sondern zwischen den Personenverkehrsfreiheiten einerseits und der Waren- und Kapitalverkehrsfreiheit andererseits differenziert.669 Aber auch wenn man die Asymmetrie beseitigte und eine unmittelbare Horizontalwirkung für alle Grundfreiheiten annähme, gelangte man zu keiner konsistenten Lösung. Gewährleistet wäre dann zwar, dass die Grundfreiheiten vor Beeinträchtigungen Privater effektiven Schutz bieten, hiermit einher ginge jedoch eine Beeinträchtigung der Privatautonomie670 aller privaten Binnenmarktteilnehmer.671 Vor dem Hintergrund der eigenen Rechtsprechungslinie wäre es daher nur kohärent, wenn der EuGH eine unmittelbare Horizontalwirkung nicht nur für die Grundrechte, sondern auch für die strukturell vergleichbaren672 Grundfreiheiten ablehnen würde. Obwohl die Grundfreiheiten und Grundrechte nicht identisch sind, sondern nur wesentliche Parallelen aufweisen,673 haben sie doch gemein, dass sie Schutzbereiche geECLI:EU:C:2000:296, Rn. 32; Löwisch, Die horizontale Direktwirkung der Europäischen Grundfreiheiten, 2009, S. 221. 668  So zumindest, wenn „privatrechtliche Vereinigungen oder Einrichtungen kraft ihrer rechtlichen Autonomie derartige Hindernisse“ errichten können: EuGH, Urt. v. 12. 12. 1974 – Rs. 36/74 – Walrave und Koch/Association Union Cycliste Internationale u. a., ECLI:EU:C:1974:140, Rn. 16/19 ff.; ferner dazu: Streinz, Europarecht, 2019, Rn.  882 ff. 669  Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 796; Meier, Dopingsanktion durch Zahlungsversprechen, 2015, S. 166 f. 670  Siehe zum grundfreiheitlichen Schutz der Privatautonomie: Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 108. 671  Pache, in: Schulze/Janssen/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 2020, § 10 Rn. 31, der eine unmittelbare Drittwirkung mit diesem Argument zu Recht grundsätzlich ablehnt. 672  Zur Grundrechtsähnlichkeit der Grundfreiheiten: Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 108 f.; Sauer, JuS 2017, 310, 311; Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2014, § 7 Rn. 14; ferner dazu: Lindner, Öffentliches Recht, 2017, Rn. 714; Hufen, Staatsrecht II, 2020, § 3 Rn. 5, der ebenfalls annimmt, dass „die Grundfreiheiten heute in ihrer Bedeutung echten Grundrechten nahe[kommen]“, daher „Entsprechungen bei den deutschen Grundrechten […], also vor allem bei Art. 11 und Art. 12 GG“ erkennt und betont, dass die Grundfreiheiten mit ihrer Struktur von Schutzbereich, Eingriff und Schranken „derselben Grundlinie“ wie die nationalen Grundrechte folgen. 673  Hierauf weist Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 109  ff. zu Recht hin.



B. Eigener Lösungsansatz267

währleisten und ein Eingriff in diese der Rechtfertigung bedarf.674 Während diese Struktur bereits andeutet, dass die Grundfreiheiten primär vor hoheitlichen Maßnahmen schützen möchten, wird die Erkenntnis durch die ausdrücklich normierten Rechtfertigungsgründe bestätigt, die mit leicht abweichenden Formulierungen allesamt eine Beschränkung der Grundfreiheiten ausschließlich zum Schutz öffentlicher Interessen675 vorsehen. Da private Wirtschaftsteilnehmer keine öffentlichen, sondern private Interessen verfol­ gen,676 spricht dies erheblich gegen eine unmittelbare Horizontalwirkung. Letztlich zeigt die Existenz der kartellrechtlichen Wettbewerbsregeln der Art. 101 f. AEUV, die sich mit dem Kartell- und Missbrauchsverbot gerade gegen wettbewerbswidrige Maßnahmen Privater im Binnenmarkt richten, dass die Grundfreiheiten allein auf das Staat-Bürger-Verhältnis zugeschnitten sind. Wäre neben der kartellrechtlichen noch eine grundfreiheitliche Kon­ trolle privater Verhaltensweisen gewollt, wäre das europäische Kartellrecht praktisch überflüssig.677 Infolgedessen kann es eine unmittelbare Horizontalwirkung der Grundfreiheiten nicht geben.678 674  Diese Parallelität gilt nicht nur für die Grundrechte und Grundfreiheiten, sondern auch für die Grundfreiheiten untereinander; siehe zur sog. „Konvergenz der Grundfreiheiten“ und zur dreigliedrigen Prüfungsstruktur: Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 846 ff. 675  Siehe nur: Art. 36 AEUV: „aus Gründen der öffentlichen Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit, zum Schutze der Gesundheit und des Lebens von Menschen […]“; Art. 45 Abs. 3 AEUV: „aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit“; Art. 52 Abs. 1 AEUV: „aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit“; ebenso: Art. 62 AEUV, der für die Dienstleistungsfreiheit auf die Rechtfertigungsgründe des Art. 52 Abs. 1 AEUV zur Niederlassungsfreiheit verweist; Art. 65 Abs. 1 lit. b AEUV „aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit“. 676  Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, S. 126; Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 717; Meier, Dopingsanktion durch Zahlungsversprechen, 2015, S. 167; Weber, RdA 1996, 107, 108; Streinz/Leible, EuZW 2000, 459, 463; Steindorff, in: Badura/Scholz (Hrsg.), Festschrift Lerche, 1993, S. 584; Roth, in: Due/Lutter/Schwarze (Hrsg.), Festschrift Everling, Band II, 1995, S. 1242; Canaris, in: Bauer/Czybulka/Kahl/Voßkuhle (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht, 2002, S. 43 f. 677  Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 774 f. und besonders deutlich auf S. 765: „Eine zusätzliche Anwendung der Grundfreiheiten zur Kontrolle solcher Verhaltensweisen ist nicht nur überflüssig; sie stellt die Funktion des Gemeinschaftskartellrechts und damit dessen effet utile in Frage, ohne den effet utile des Binnenmarkts in erkennbarer Weise zu fördern“; ebenso: Meier, Dopingsanktion durch Zahlungsversprechen, 2015, S. 167. 678  Gegen die unmittelbare Dritt- oder Horizontalwirkung der Grundfreiheiten: Mojzesowicz, Möglichkeiten und Grenzen einer einheitlichen Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, S. 145 f.; Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 796 f. zum Ergebnis und S. 721 ff.; Kluth, AöR 122 (1997), 557, 577 f.; Burgi, EWS 1999, 327, 330 ff.; Streinz/Leible, EuZW 2000, 459, 464 f.; Ehlers, Jura 2001, 266, 274; Kadelbach/Petersen, EuGRZ 2002, 213, 218; Remmert, Jura 2003, 12, 15; Birke-

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

Demgegenüber ist eine mittelbare Horizontalwirkung erneut denkbar, da mitgliedstaatliche Gesetzgebungsorgane keine Rechtsnormen erlassen dürfen, die gegen die primärrechtlichen Grundfreiheiten verstoßen. Weil Privatpersonen zwar nicht an die Grundfreiheiten, wohl aber an die nationalen Zivilrechtsbestimmungen gebunden sind, können aus einer grundfreiheitskonformen Privatrechtsordnung keine Rechtsfolgen hergeleitet werden, die zu den Grundfreiheiten im Widerspruch stehen. Den Mitgliedstaaten ist aber auch hier gestattet, die Grundfreiheiten einzuschränken, soweit dies unionsrechtlich gerechtfertigt ist. In der Folge vermitteln die europäischen Grundfreiheiten wie auch die Grundrechte nur punktuell zwingende Anordnungen, die der Fortbildung einer nationalen Privatrechtsnorm Grenzen ziehen. Auch hier bestehen Parallelen zu den Grundrechten. Europäische Grundfreiheiten stehen einerseits den Gleichheitsgrundrechten nahe, da sie Diskriminierungen unterbinden, andererseits haben sie auch Ähnlichkeiten mit den Freiheitsgrundrechten, weil sie Beschränkungsverbote für Personen-, Warenund Kapitalverkehr enthalten und dadurch konkrete Freiheitsausschnitte vor ungerechtfertigten Eingriffen schützen.679 Außerdem gelingt eine Eingriffsrechtfertigung auch hier nur, wenn die staatliche Maßnahme verhältnismäßig ist.680 Demzufolge existiert bei den Grundfreiheiten ebenfalls ein europäisches Übermaßverbot. Obwohl der effet utile für sich genommen richtigerweise nicht ausreicht, um eine unmittelbare Horizontalwirkung der Grundfreiheiten zu rechtfertigen, ist dem EuGH darin zuzustimmen, dass die Grundfreiheiten „nicht nur Maßnahmen [verbieten], die auf den Staat zurückzuführen sind […], sondern […] auch dann Anwendung finden [können], wenn ein Mitgliedstaat keine Maßnahmen ergriffen hat, um gegen Beeinträchtigungen […] einzuschreiten, deren Ursachen nicht auf den Staat zurückzuführen sind.“681 Rechnung getragen wird dem effet utile somit dadurch, dass sich aus den Grundfreiheiten Schutzpflichten ergeben können, die ein europäisches Untermaßverbot bilden.682 Als Konsequenz können die meyer, EuR 2010, 662, 667 ff.; Canaris, in: Bauer/Czybulka/Kahl/Voßkuhle (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht, 2002, S. 42 ff.; näher zur Herleitung; Meier, Dopingsanktion durch Zahlungsversprechen, 2015, S. 167; hingegen für eine (partielle) unmittelbare Drittwirkung: Pießkalla, NZA 2007, 1144, 1147 (gegenüber Gewerkschaften); noch feinsinniger differenzierend: Forsthoff, EWS 2000, 389, 393 ff. 679  Zu dieser Parallelität von Grundrechten und -freiheiten: Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 108. 680  Zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Kontext der Grundfreiheiten: Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 109; Brigola, EuZW 2017, 406; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 881. 681  So explizit für die Warenverkehrsfreiheit: EuGH, Urt. v. 09. 12. 1997 – Rs. C-265/95 – Kommission/Frankreich, ECLI:EU:C:1997:595, Rn. 30. 682  Grundfreiheitliche Schutzpflichten zu Recht anerkennend: EuGH, Urt. v. 09. 12. 1997 – Rs. C-265/95 – Kommission/Frankreich, ECLI:EU:C:1997:595, Rn. 30;



B. Eigener Lösungsansatz269

entwickelten Mechanismen zur Abwehr- und Schutzfunktion der Grundrechte auch auf die europäischen Grundfreiheiten übertragen werden, sodass sie der Fortbildung einer Privatrechtsnorm entsprechend Grenzen ziehen.683 (b) Grundfreiheitliche Abwehrfunktion als Grenze Wird der Beklagte im Zivilprozess infolge der Fortbildung einer nationalen Privatrechtsvorschrift verurteilt (Eingriffskonstellation), stellt die gerichtliche Entscheidung einen Eingriff in anwendbare Grundfreiheiten dar. Eine Beschränkung der europäischen Grundfreiheiten kann auch erst durch die Rechtsanwendung im Einzelfall erfolgen, weshalb Entscheidungen der nationalen Zivilgerichte an ihnen zu messen sind.684 Weil ein Zivilgericht nicht gegen Grundfreiheiten verstoßen darf, bedeutet dies, dass auch jede Rechtsfortbildung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dem unionsrecht­ lichen Übermaßverbot, vereinbar sein muss. Ist sie unverhältnismäßig, verstößt sie gegen die Grenze, welche von den primärrechtlichen Grundfreiheiten gezogen wird. An eine solche Grenze stößt die Rechtsfortbildung indes nicht, wenn der Beklagte verurteilt wird, obwohl eine nationale Wertung nicht vorhanden war (Eingriffskonstellation), die Fortbildung der Privatrechtsnorm aber geboten ist, um nicht eine Schutzpflicht zu verletzen, die sich zugunsten des Klägers aus den Grundfreiheiten ergibt. In diesem Fall steht die abwehrrechtliche Dimension der Grundfreiheiten der Rechtsfortbildung nicht entgegen.

Mojzesowicz, Möglichkeiten und Grenzen einer einheitlichen Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, S. 146; Langenbucher, in: Langenbucher (Hrsg.), Europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht, 2017, § 1 Rn. 42 ff.; Herresthal, in: Langenbucher (Hrsg.), Europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht, 2017, § 2 Rn. 81 ff.; Pache, in: Schulze/ Janssen/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 2020, § 10 Rn. 31, der einräumt, dass staatliche Schutzpflichten „nicht gleich effizient […] wie eine unmittelbare Drittwirkung [sind], […] jedoch besser den Vorrang der privatautonomen Selbststeuerung und die mitgliedstaatlichen Rechtssetzungskompetenzen“ wahren; Lindner, Öffentliches Recht, 2017, Rn. 714; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 869; Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 5 Rn. 29. 683  Insoweit mit Blick auf den Schutzpflichtengedanken: Canaris, in: Bauer/Czybulka/Kahl/Voßkuhle (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht, 2002, S. 49 ff.; Riesenhuber, EU-Vertragsrecht, 2013, § 2 Rn. 39; Neuner, Allgemeiner Teil des Bürger­ lichen Rechts, 2020, § 5 Rn. 29, der annimmt, dass dieser „dogmatische Ansatz […] ganz generell auf das Privatrecht übertragbar [sei], weil und sofern es darum geh[e], die Grundfreiheiten zu effektuieren.“ 684  Eingehend dazu: Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 425 ff.

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

(c) Grundfreiheitliche Schutzfunktion als Grenze Wird der klägerische Antrag infolge einer Rechtsfortbildung abgewiesen, liegt erneut kein Eingriff in Grundfreiheiten vor; vielmehr steht die Frage im Raum, ob die Zivilrechtsprechung dem Kläger den Schutz verweigert hat, der ihm aufgrund einer grundfreiheitlichen Schutzpflicht zusteht (Schutzkonstellation). Unterschreitet das Zivilgericht das Mindestschutzniveau, das von den Grundfreiheiten gefordert wird, verstößt es gegen das Untermaßverbot, wodurch die Grenzen der Rechtsfortbildung überschritten sind. Anders ist das wiederum, wenn der Kläger wegen einer zivilgerichtlichen Fortbildung unterliegt (Schutzkonstellation), die Entscheidung aber geboten war, um nicht eine Schutzpflicht zu verletzen, die zugunsten des Beklagten den primärrechtlichen Grundfreiheiten zu entnehmen ist. In diesem Fall ist die Rechtsfortbildung nicht durch die Grundfreiheiten ausgeschlossen, sondern im Gegenteil durch sie geboten. (3) Weitere primärrechtliche Vorgaben als Grenze Neben den europäischen Grundrechten und Grundfreiheiten können aber noch weitere primärrechtliche Wertungen die Rechtsfortbildung limitieren, soweit sie auf das Privatrecht Einfluss nehmen. Hierzu gehören beispielsweise das besondere Diskriminierungsverbot685 in Art. 157 AEUV686 und das allgemeine Diskriminierungsverbot in Art. 18 AEUV,687 die strukturell besonderen Gleichheitsgrundrechten ähneln, aber in der Regel688 nicht zu ihnen gerechnet werden.689 Bedeutsam sind ferner das Kartell- und Missbrauchsverbot in Art. 101690 bzw. Art. 102 AEUV,691 die mit den vorgenannten Be685  Zum Charakter des Art. 157 AEUV als Diskriminierungsverbot: Streinz, Europarecht, 2019, Rn. 1201 ff. 686  EuGH, Urt. v. 08. 04. 1976 – Rs. 43/75 – Defrenne/SABENA, ECLI:EU:C:1976: 56, Rn. 21/24; zur Rechtsprechungsübersicht: Karpenstein, Praxis des EU-Rechts, 2013, Rn.  49 f. 687  EuGH, Urt. v. 20. 10. 1993 – verb. Rs. C-92/92 und C-326/92 – Collins und Patricia Im- und Export/Imtrat und EMI Electrola, ECLI:EU:C:1993:847, Rn. 34 f. 688  Vereinzelt wurde das Gebot der Entgeltgleichheit als „Ausdruck eines Grundrechts“ bezeichnet; hierzu: EuGH, Urt. v. 10. 02. 2000 – Rs. C-270/97 und C-271/97 – Sievers, ECLI:EU:C:2000:76, Rn. 57. 689  Für Art. 18 AEUV: Epiney, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 2016, Art. 18 AEUV, Rn. 2; für Art. 157 AEUV: Krebber, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 2016, Art. 157 AEUV, Rn. 3, der die wettbewerbspolitische Bedeutung betont und anmerkt, dass das Gebot der Entgeltgleichheit lediglich „als Gemeinschaftsgrundrecht bezeichnet“ wurde. 690  EuGH, Urt. v. 13. 07. 1966 – verb. Rs. 56 und 58/64 – Consten und Grundig/ Kommission der EWG, ECLI:EU:C:1966:41 = Slg. 1966, 325, 388 ff.



B. Eigener Lösungsansatz271

stimmungen gemein haben, dass sie unmittelbar gelten, wirken und eine unmittelbare Horizontalwirkung zwischen Privaten haben.692 Grenzrelevant sind außerdem die primärrechtlichen Gebote von Rechtssicherheit und Vertrauensschutz sowie das Rückwirkungsverbot, die in ihrem Anwendungsbereich als allgemeine Rechtsgrundsätze693 auf Unionsebene theoretisch gleichermaßen der Rechtsfortbildung entgegenstehen können694 wie ihre rechtsstaatlichen Entsprechungen auf Verfassungsebene. Parallel zur Richtervorlage nach Art. 100 GG ist zuletzt das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV als primärrechtliche Rechtsfortbildungsgrenze zu nennen, weil die Fortbildung einer Privatrechtsnorm gesperrt ist, wenn das Zivilgericht verpflichtet ist, das Verfahren für eine Auslegungs- oder Gültigkeitsvorlage aus­ zusetzen.695 bb) Begrenzung durch EU-Sekundärrecht Darüber hinaus kann die Rechtsfortbildung im Privatrecht auch durch sekundäres Unionsrecht beschränkt werden, soweit es im nationalen Rechtskreis unmittelbar gilt696 und wirkt. Die unmittelbare Geltung konnte nur für 691  EuGH, Urt. v. 27. 03. 1974 – Rs. 127/73 – BRT/SABAM, ECLI:EU:C:1974:25, Rn.  12/14 f. 692  Zur unmittelbaren Horizontalwirkung von Art. 101 f. AEUV: EuGH, Urt. v. 20. 09. 2001 – Rs. C-453/99 – Courage und Crehan, ECLI:EU:C:2001:465, Rn. 23 ff.; zu jener des Art. 157 AEUV: EuGH, Urt. v. 08. 04. 1976 – Rs. 43/75 – Defrenne/ SABENA, ECLI:EU:C:1976:56, Rn. 21/24 und 40; zur unmittelbaren Horizontalwirkung des Art. 18 AEUV: von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 2020, Art. 18 AEUV, Rn. 25 ff.; ebenso zur unmittelbaren Horizontalwirkung von Art. 18, Art. 101 f. und Art. 157 AEUV: Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 12 Rn. 11, der diese jeweils als „unstrittig“ und „unproblematisch“ bezeichnet. 693  Zu Rechtssicherheit, Vertrauensschutz und Rückwirkungsverbot als Bestandteile der allgemeinen Grundsätze: EuGH, Urt. v. 04. 07. 2006 – Rs. C-212/04 – Adeneler u. a., ECLI:EU:C:2006:443, Rn. 110, in der der Gerichtshof neben der Rechtssicherheit indes nur das Rückwirkungsverbot als spezielle Ausprägung des Vertrauensschutzes explizit anspricht; zu allen drei Elementen: Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 456. 694  EuGH, Urt. v. 04. 07. 2006 – Rs. C-212/04 – Adeneler u. a., ECLI:EU:C:2006:443, Rn. 110; Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 13 Rn. 81. 695  Näher zu den Vorlagepflichten nach Art. 267 AEUV im Einzelnen: Haratsch/ Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 590 ff. 696  Zur unmittelbaren Geltung des Sekundärrechts: Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, 2020, Rn. 135, der seine Aussage indes auf das gesamte EU-Recht erstreckt; Ehlers, in: Schulze/Janssen/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 2020, § 11 Rn. 5; Schroeder, Grundkurs Europarecht, 2019, § 5 Rn. 11; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 397.

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

die Verordnung gem. Art. 288 Abs. 2 AEUV697 und den Beschluss gem. Art. 288 Abs. 4 AEUV,698 nicht aber für die unverbindlichen Empfehlungen und Stellungnahmen gem. Art. 288 Abs. 5 AEUV festgestellt werden. Richtlinien gem. Art. 288 Abs. 3 AEUV gelten hingegen nicht unmittelbar, es sei denn, ihre unmittelbare Wirkung kommt bei nicht ordnungsgemäßer Umsetzung als Sanktionsmechanismus699 in Betracht,700 für welche die Geltung ein notwendiges Durchgangsstadium bildet.701 Während sie bei der Richtlinie nur ausnahmsweise702 vorliegt, ist die unmittelbare Wirkung von Verordnungen703 und nicht adressatenlosen Beschlüssen704 unproblematisch, soweit sie aller: Bleckmann, Europarecht, 1997, Rn. 409. unmittelbaren Geltung des Beschlusses: Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 427. 699  Zum Sanktionsgedanken: EuGH, Urt. v. 05.  04. 1979 – Rs. 148/78 – Ratti, ECLI:EU:C:1979:110, Rn. 21 ff.; EuGH, Urt. v. 07. 03. 1996 – Rs. C-192/94 – El Corte Inglés/Blázquez Rivero, ECLI:EU:C:1996:88, Rn. 16; BVerfG, Beschl. v. 08. 04. 1987 – 2 BvR 687/85 – Kloppenburg-Beschluß, BVerfGE 75, 223, 241; Jarass, NJW 1990, 2420, 2422; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 409. 700  Zu dieser Wirkung in st. Rspr. z. B. EuGH, Urt. v. 04.12.1974 – Rs. 41/74 – van Duyn/Home Office, ECLI:EU:C:1974:133, Rn. 12 ff.; EuGH, Urt. v. 05.04.1979 – Rs. 148/78  – Ratti, ECLI:EU:C:1979:110, Rn. 21 ff.; EuGH, Urt. v. 19.01.1982 – Rs. 8/81 – Becker, ECLI:EU:C:1982:7, Rn. 25; EuGH, Urt. v. 26.02.1986 – Rs. 152/84 – Marshall/Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority, ECLI:EU: C:1986:84, Rn. 46; EuGH, Urt. v. 22.06.1989 – Rs. 103/88 – Fratelli Costanzo/Comune di Milano, ECLI:EU:C:1989:256, Rn. 29; EuGH, Urt. v. 15.05.1993 – Rs. C-193/91 – Finanzamt München III/Mohsche, ECLI:EU:C:1993:203, Rn.  17; anerkennend: BVerfG, Beschl. v. 08.04.1987 – 2 BvR 687/85 – Kloppenburg-Beschluß, BVerfGE 75, 223, 238 ff.; dazu auch: Karpenstein, Praxis des EU-Rechts, 2013, Rn. 56 ff. 701  Siehe hierzu: Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, 2003, S. 33; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 205; im Ergebnis ebenso, wenngleich ohne diesen Schluss offenzulegen: Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, 1994, S. 194; trotz der grundsätzlichen Stringenz dieser Schlussfolgerung stellt sich die Frage, inwieweit dann noch ein Unterschied zwischen Geltung und Wirkung einer Richtlinie besteht. 702  Eine Richtlinie wirkt indes nicht bereits dann unmittelbar, wenn sie hinreichend bestimmt und inhaltlich unbedingt ist. Es müssen vielmehr zusätzliche Voraussetzungen hinzutreten, da die unmittelbare Richtlinienwirkung einen Sanktionsmechanismus für die nicht ordnungsgemäße Umsetzung nach Ablauf der Umsetzungsfrist darstellt und infolgedessen keine Verpflichtungen für Private begründen darf. 703  EuGH, Urt. v. 14. 12. 1971 – Rs. 43/71 – Politi/Ministero delle finanze, ECLI:EU :C:1971:122, Rn. 9; Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 1999, S. 69 f.; Jarass, NJW 1990, 2420, 2422; Karpenstein, Praxis des EURechts, 2013, Rn. 52. 704  EuGH, Urt. v. 06. 10. 1970 – Rs. 9/70 – Grad/Finanzamt Traunstein, ECLI:EU: C:1970:78, Rn. 5; Biervert, in: Schwarze, EU-Kommentar, 2019, Art. 288 AEUV, Rn.  34 f.; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 427; mit Blick auf die geringe Praxisrelevanz im Privatrecht wird der Beschluss im Folgenden ausgeklammert. 697  Statt 698  Zur



B. Eigener Lösungsansatz273

hinreichend bestimmt und inhaltlich unbedingt sind.705 Weil die Zivilgerichte über Art. 20 Abs. 3 GG aber nur an unmittelbar geltendes und wirkendes Unionsrecht gebunden sind, muss die Grenzrelevanz von Verordnungen und Richtlinien nun getrennt betrachtet werden. (1) Verordnungen als Grenze Wirkt eine Verordnung im nationalen Rechtskreis unmittelbar, kommt ihr im Konfliktfall Anwendungsvorrang gegenüber einer kollidierenden mitgliedstaatlichen Privatrechtsbestimmung zu. Soweit realisierbar, ist vorrangig eine verordnungskonforme Rechtsfortbildung zu bemühen,706 mit der als Minus zur Nichtanwendung sogar ein entgegenstehender nationaler Gesetzgeberwille überwunden werden kann.707 Wird die Privatrechtsnorm demgegenüber der Verordnung zuwider fortgebildet, ist die Rechtsfortbildung folglich auch dann unzulässig, wenn eine nationale Wertung sie bei isolierter Betrachtung gestatten würde. (2) Richtlinien als Grenze Anders als die Verordnung wirkt die Richtlinie nicht im Regel-, sondern nur im Ausnahmefall unmittelbar. Weil ein Anwendungsvorrang nur unmittelbar wirkenden Unionsrechtsnormen zukommen kann,708 ist für die Grenzwirkung der Richtlinie danach zu differenzieren, ob sie unmittelbar oder lediglich mittelbar wirkt.

705  EuGH, Urt. v. 05. 02. 1963 – Rs. 26/62 – Van Gend & Loos/Niederländische Finanzverwaltung, ECLI:EU:C:1963:1 = Slg. 1962, 7, 25; EuGH, Urt. v. 16. 06. 1966 – Rs. 57/65 – Lütticke/Hauptzollamt Saarlouis, ECLI:EU:C:1966:34 = Slg. 1966, 257, 266; EuGH, Urt. 03. 12. 1974 – Rs. 33/74 – Van Binsbergen/Bedrijfsvereniging voor de Metaalnijverheid, ECLI:EU:C:1974:131, Rn. 24/26. 706  Zum Vorrang der verordnungskonformen Auslegung und Fortbildung gegenüber der Nichtanwendung: Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 12 Rn. 33 sowie § 13 Rn. 79. 707  Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 13 Rn. 79: „Wegen des klaren Vorrangs des europäischen Rechts sind letztlich die Vorgaben der europäischen Rechtsnorm entscheidend und nicht mehr die Vorgaben des nationalen Systems“ und insoweit präzisierend in § 12 Rn. 23: „[…] anderslautende Vorgaben des Wortlauts, Gesetzeszwecks oder historischen Willens des nationalen Gesetzes [sind] irrelevant.“ Obwohl Möllers Letzteres auf die primärrechtskonforme Rechtsanwendung bezieht, gilt dies konsequenterweise auch für die verordnungskonforme Fortbildung. 708  Insoweit implizit zur unmittelbaren Wirkung als Bedingung des Anwendungsvorrangs: Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, 1999, S. 294 und 297; Kroll-Ludwigs/Ludwigs, ZJS 2009, 7, 8.

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

(a) Unmittelbar wirkende Richtlinie als Grenze Wirkt eine EU-Richtlinie ausnahmsweise unmittelbar, hat sie wie die Verordnung im Kollisionsfall Anwendungsvorrang. Eine derart starke Richt­ linienwirkung709 kommt jedoch nur als Sanktion für ein Umsetzungsdefizit infrage. Es reicht daher nicht aus, dass sie lediglich hinreichend bestimmt und inhaltlich unbedingt ist.710 Hinzukommen muss, dass sie trotz Fristablaufs nicht oder nicht ordnungsgemäß umgesetzt wurde711 und keine Verpflichtungen zwischen Privatpersonen untereinander begründet.712 Da Private keinen Einfluss auf die Richtlinienumsetzung haben,713 nimmt der EuGH zu Recht an, dass sie durch einen Sanktionsmechanismus für ein Umsetzungs709  Zur unmittelbaren Richtlinienwirkung in st. Rspr. z.  B. EuGH, Urt. v. 04.12.1974 – Rs. 41/74 – van Duyn/Home Office, ECLI:EU:C:1974:133, Rn. 12 ff.; EuGH, Urt. v. 05.04.1979 – Rs. 148/78 – Ratti, ECLI:EU:C:1979:110, Rn. 21 ff.; EuGH, Urt. v. 19.01.1982 – Rs. 8/81 – Becker, ECLI:EU:C:1982:7, Rn. 25; EuGH, Urt. v. 26.02.1986 – Rs. 152/84 – Marshall/Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority, ECLI:EU:C:1986:84, Rn. 46; EuGH, Urt. v. 22.06.1989 – Rs. 103/88  – Fratelli Costanzo/Comune di Milano, ECLI:EU:C:1989:256, Rn. 29; EuGH, Urt. v. 15.05.1993 – Rs. C-193/91 – Finanzamt München III/Mohsche, ECLI: EU:C:1993:203, Rn. 17; billigend: BVerfG, Beschl. v. 08.04.1987 – 2 BvR 687/85 – Kloppenburg-Beschluß, BVerfGE 75, 223, 238 ff.; Karpenstein, Praxis des EU-Rechts, 2013, Rn.  56 ff. 710  Zur unmittelbaren Wirkung der Richtlinie: EuGH, Urt. v. 05.02.1963 – Rs. 26/62 – Van Gend & Loos/Niederländische Finanzverwaltung, ECLI:EU:C:1963:1 = Slg. 1962, 7, 25 EuGH, Urt. v. 16.06.1966 – Rs. 57/65 – Lütticke/Hauptzollamt Saarlouis, ECLI:EU:C:1966:34 = Slg. 1966, 257, 266; EuGH, Urt. 03.12.1974 – Rs. 33/74 – Van Binsbergen/Bedrijfsvereniging voor de Metaalnijverheid, ECLI:EU:C:1974:131, Rn. 24/26; näher dazu: Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 405 ff. 711  EuGH, Urt. v. 05.04.1979 – Rs. 148/78 – Ratti, ECLI:EU:C:1979:110, Rn. 21 ff.; EuGH, Urt. v. 19.11.1991 – verb. Rs.C‑6/90 und C‑9/90 – Francovich und Bonifaci/ Italien, ECLI:EU:C:1991:428, Rn. 11; EuGH, Urt. v. 11.07.2002 – Rs. C‑62/00 – Marks & Spencer, ECLI:EU:C:2002:435, Rn. 25; EuGH, Urt. v. 05.10.2004 – verb. Rs. C‑397/01 bis C‑403/01 – Pfeiffer u. a., ECLI:EU:C:2004:584, R. 103; EuGH, Urt. v. 12.02.2009 – Rs. C-138/07 – Cobelfret, ECLI:EU:C:2009:82, Rn. 58. 712  Siehe hierzu in st. Rspr. z. B. EuGH, Urt. v. 26.02.1986 – Rs. 152/84 – Marshall/ Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority, ECLI:EU:C:1986:84, Rn. 48; EuGH, Urt. v. 11.06.1987 – Rs. 14/86 – Pretore di Salò, ECLI:EU:C:1987:275, Rn.  19; EuGH, Urt. v. 08.10.1987 – Rs. 80/86 – Kolpinghuis Nijmegen, ECLI:EU:C:1987:431, Rn. 9; EuGH, Urt. v. 14.07.1994 – Rs. C-91/92 – Faccini Dori/ Recreb, ECLI:EU:C:1994:292, Rn. 20; EuGH, Urt. v. 07.03.1996 – Rs. C-192/94 – El Corte Inglés/Blázquez Rivero, ECLI:EU:C:1996:88, Rn.  16  f.; EuGH, Urt. v. 26.09.2000 – Rs. C-443/98 – Unilever, ECLI:EU:C:2000:496, Rn. 50; EuGH, Urt. v. 05.10.2004 – verb. Rs. C‑397/01 bis C‑403/01 – Pfeiffer u. a., ECLI:EU:C:2004:584, R. 108; EuGH, Urt. v. 07.06.2007 – Rs. C-80/06 – Carp, ECLI:EU:C:2007:327, Rn. 20.; EuGH, Urt. v. 24.01.2012– Rs. C-282/10 – Dominguez, ECLI:EU:C:2012:33, Rn. 37. 713  Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 411.



B. Eigener Lösungsansatz275

defizit nicht schlechter gestellt werden dürfen und eine unmittelbare Horizontalwirkung der Richtlinienvorgabe zwischen ihnen in der Folge ausscheiden muss.714 Soweit die Richtlinie hiernach nicht Entscheidungsnorm im Privatrechtsverhältnis sein kann, ist sie auch nicht in der Lage, die Fortbildung einer Privatrechtsnorm zu unterbinden.715 (b) Mittelbar wirkende Richtlinie als Grenze Wirkt die Richtlinie wie gewöhnlich nicht unmittelbar, soll zunächst kurz auf ihre Wirkungen geblickt werden, ehe beantwortet wird, inwieweit sich aus ihr Grenzen für die Rechtsfortbildung durch die Zivilgerichte ergeben. Ausgangspunkt ist das der Richtlinie immanente zweistufige Rechtssetzungsverfahren.716 Wird sie erlassen, begründet sie auf erster Stufe (allein) die Pflicht der Mitgliedstaaten, die Richtlinienvorgabe in nationales Recht umzusetzen. Erst wenn der Mitgliedstaat auf zweiter Stufe die Richtlinienvorgabe umgesetzt hat, werden (ausschließlich) durch das Umsetzungsgesetz Wirkungen im nationalen Rechtskreis hervorgerufen.717 Die umsetzende Norm ist damit zwar von der Richtlinie getrennt, aber „unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den […] das nationale Recht einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts […] anzuwenden.“718 Be714  Gegen eine unmittelbare Horizontalwirkung: EuGH, Urt. v. 26.02.1986 – Rs. 152/84  – Marshall/Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority, ECLI:EU:C:1986:84, Rn. 48; EuGH, Urt. v. 12.05.1987 – verb. Rs. 372 bis 374/85 – Traen, ECLI:EU:C:1987:222, Rn. 24; EuGH, Urt. v. 11.06.1987 – Rs. 14/86 – Pretore di Salò, ECLI:EU:C:1987:275, Rn. 19; EuGH, Urt. v. 08.10.1987 – Rs. 80/86 – Kolpinghuis Nijmegen, ECLI:EU:C:1987:431, Rn. 9; EuGH, Urt. v. 14.07.1994 – Rs. C-91/92 – Faccini Dori/Recreb, ECLI:EU:C:1994:292, Rn. 20; EuGH, Urt. v. 07.03.1996 – Rs. C-192/94 – El Corte Inglés/Blázquez Rivero, ECLI:EU:C:1996:88, Rn. 17; EuGH, Urt. v. 26.09.2000 – Rs. C-443/98 – Unilever, ECLI:EU:C:2000:496, Rn. 50; EuGH, Urt. v. 05.10.2004 – verb. Rs. C‑397/01 bis C‑403/01 – Pfeiffer u. a., ECLI:EU:C:2004:584, Rn. 108; EuGH, Urt. v. 07.06.2007 – Rs. C-80/06 – Carp, ECLI:EU:C:2007:327, Rn. 20.; EuGH, Urt. v. 24.01.2012– Rs. C-282/10 – Dominguez, ECLI:EU:C:2012:33, Rn. 37; außerdem: Karpenstein, Praxis des EU-Rechts, 2013, Rn.  67 ff. 715  Zur mitgliedstaatlichen Haftung bei Umsetzungsdefiziten: EuGH, Urt. v. 19. 11. 1991 – verb. Rs.C‑6/90 und C‑9/90 – Francovich und Bonifaci/Italien, ECLI: EU:C:1991:428, Rn.  28 ff.; Streinz, Europarecht, 2019, Rn. 515 ff. 716  Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, 1994, S.  14; Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, 2003, S. 25. 717  Zu diesem vorzugswürdigen Verständnis: Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, 1994, S. 14; Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, 2003, S.  25 f. 718  EuGH, Urt. v. 10. 04. 1984 – Rs. 14/83 – von Colson und Kamann/Land Nordrhein-Westfalen, ECLI:EU:C:1984:153, Rn. 28.

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

standteil des vom EuGH angesprochenen methodischen Beurteilungsspielraums ist insoweit nicht nur die Auslegung, sondern auch die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung.719 Wichtig ist an dieser Stelle, zu betonen, dass die unmittelbare Wirkung der Richtlinie kategorisch von der Pflicht zur richtlinienkonformen Anwendung von Umsetzungsgesetzen zu unterscheiden ist.720 Im ersten Fall leiten sich die Rechtsfolgen unmittelbar aus der Richtlinie her, im zweiten ergeben sie sich hingegen unmittelbar aus der nationalen Umsetzungsnorm, die ihrerseits nur mit der Richtlinie vereinbar sein muss.721 Um die Grenzwirkung einer Richtlinie festzustellen, ist mithin das Spannungsfeld aufzulösen, das dadurch entsteht, dass die europäische Richtlinie selbst keine Rechte und Pflichten zwischen Privaten begründen kann, während dies für die umsetzende Privatrechtsnorm problemlos möglich ist. Bedeutsam ist damit zum einen, dass die richtlinienkonforme Fortbildung des nationalen Privatrechts erlaubt ist, sie die verbotene horizontale Richtlinienwirkung aber nicht durch die Hintertür einführen darf. Entscheidend ist zum anderen, dass es bei der richtlinienkonformen Fortbildung um die Anwendung einer nationalen Rechtsnorm geht. Nachvollziehbar ist vor diesem Hintergrund, dass der EuGH die richt­ linienkonforme Rechtsanwendung nur verlangt, soweit sie nach innerstaatlichen Methoden gestattet ist.722 Ein Zivilgericht ist in der Folge verpflichtet, die Umsetzungsnorm richtlinienkonform fortzubilden. Die Pflicht endet indes dort, wo die methodischen Grenzen der Rechtsfortbildung überschritten sind; 719  Kein Argument gegen die Zulässigkeit der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung ist, dass der EuGH nur von „Auslegung“ spricht. Dies ist darauf zurückzuführen, dass der EuGH den Begriff der Auslegung auf europäischer Ebene „in einem weiten Sinne versteht und sich nicht zur in der deutschen Methodenlehre bedeutsamen Unterscheidung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung bekennt“; so und mit vertiefter Begründung, warum dieser Begriff auch die „Rechtsfortbildung“ einschließt: Michael/Payandeh, NJW 2015, 2392, 2395; allgemein zur Zulässigkeit der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung: Canaris, in: Koziol/Rummel (Hrsg.), Festschrift Bydlinski, 2002, S. 81 ff. 720  So zu Recht: Kroll-Ludwigs/Ludwigs, ZJS 2009, 7, 10, weshalb die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung richtigerweise keine unmittelbare Wirkung der Richtlinie voraussetzen. 721  Siehe dazu: Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, 2003, S. 93; Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 50; Kroll-Ludwigs/Ludwigs, ZJS 2009, 7, 10. 722  EuGH, Urt. v. 10. 04. 1984 – Rs. 14/83 – von Colson und Kamann/Land Nordrhein-Westfalen, ECLI:EU:C:1984:153, Rn. 28: „Es ist Sache des nationalen Gerichts, das zur Durchführung der Richtlinie erlassene Gesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen und anzuwenden“ [Hervorhebung v. Verf.]; ferner zu den nationalen Grenzen der richtlinienkonformen Rechtsanwendung: Felke, MDR 2002, 226 f.; Roth, EWS 2005, 385, 393 f.



B. Eigener Lösungsansatz277

die Gerichte haben damit ihren Spielraum bestmöglich zu nutzen, dürfen sich aber zur Umsetzung des Europarechts keine neuen Kompetenzen anmaßen. Weil die unionsrechtliche Pflicht daher insbesondere nicht den Grundsatz der Gewaltenteilung überwinden kann, ist die Grenze der richtlinienkonformen Fortbildung zumindest dann überschritten, wenn ihr ein erkennbarer Wille des nationalen Gesetzgebers entgegensteht.723 (aa) Grenzwirkung der umgesetzten Richtlinie Hat der deutsche Gesetzgeber eine Richtlinie in eine nationale Privatrechtsbestimmung transformiert, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass er die Regelungsabsicht724 hatte, die europäische Vorgabe widerspruchsfrei in die innerstaatliche Umsetzungsnorm zu überführen.725 Weil ein genereller 723  Zum Gesetzgeberwillen als (verfassungsrechtliche) Grenze der Rechtsanwendung: BVerfG, Beschl. v. 30. 06. 1964 – 1 BvL 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25/62 – Zusammenveranlagung, BVerfGE 18, 97, 111; BVerfG, Beschl. v. 25. 01. 2011 – 1 BvR 918/10 – Dreiteilungsmethode, BVerfGE 128, 193, 210; jüngst: BGH, Beschl. v. 31. 03. 2020 – XI ZR 198/19, BKR 2020, 253, 254 f.; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 132; Kroll-Ludwigs/Ludwigs, ZJS 2009, 123, 128; Michael/Payandeh, NJW 2015, 2392, 2396; Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 12 Rn. 78; a. A. Behrens, EuZW 1994, 289 (so im Ergebnis, ohne dies explizit auszusprechen); Herresthal, JuS 2014, 289, 292 f.; die allesamt annehmen, dass der Wille des nationalen Gesetzgebers überwunden werden kann. Insoweit betont Herresthal, JuS 2014, 289, 292 f., dass „der Ansicht entgegenzutreten [sei], die zur nationalen Rechtsfortbildung überwiegend anerkannte Contra-legem-Grenze – der im Wortlaut der Norm verkörperte Wille des nationalen Gesetzgebers – müsse unverändert bei der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung herangezogen werden. Vielmehr [seien] deren Grenzen eigenständig zu formulieren. Strukturelle Grenze der richterlichen Rechtsfortbildung [sei] die Regelungsdivergenz zwischen Richtlinie und nationalem Recht.“ Hiergegen spricht, dass die Richtlinie nach dem deutschen dualistischen Modell gerade kein Bestandteil der einheitlichen „Gesamtrechtsordnung“ ist, sondern nur den Mitgliedstaat im völkerrechtlichen Außenverhältnis zur innerstaatlichen Umsetzung verpflichtet, während nach Erfüllung der Umsetzungsverpflichtung allein die nationale Umsetzungsnorm im Innenverhältnis, der deutschen Rechtsordnung, Wirkungen entfaltet. Infolgedessen geht der EuGH zu Recht davon aus, dass die nationalen Rechtsfortbildungsgrenzen gelten, da schließlich auch eine nationale Vorschrift fortgebildet wird. Obwohl dieser objektivierte Ansatz aus guten Gründen abzulehnen ist, wird er nichtsdestotrotz nur selten zu anderen Ergebnissen gelangen, da Herresthal, JuS 2014, 289, 293 ihn wieder relativiert, indem er abschließend eingesteht, dass bei „der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung […] die im Wortlaut der nationalen Norm verankerte, weiterhin aktuelle Wertentscheidung des nationalen Gesetzgebers zu respektieren“ sei. 724  Insoweit betont Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 12 Rn. 2 zutreffend, dass bei der Richtlinie „die nationale Norm die für den Bürger maßgebliche Rechtsquelle“ ist.“ 725  Siehe hierzu: Beyer/Möllers, JZ 1991, 24, 29 f. (so im Ergebnis); Grundmann, ZEuP 1996, 399, 420; Möllers, EuR 1998, 20, 45; Hainthaler, ZJS 2015, 13, 19.

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

Umsetzungswille nahezu stets vermutet werden kann, stellt sich die Frage, wo die Grenze zulässiger Rechtsfortbildung verläuft, wenn ein bestimmter inhaltlich bestehender Regelungswille neben den generellen tritt. Weil es der Gewaltenteilungsgrundsatz verbietet, einen eindeutigen Legislativwillen zu missachten, muss der konkrete Regelungswille vorrangig sein.726 Ein genereller Umsetzungswille reicht demnach nicht aus, die Rechtsfortbildung zu legitimieren, wenn der Gesetzgeber konkret zu einer bestimmten Norm einen expliziten Willen gebildet hat. Stimmen genereller und konkreter überein, ist dennoch Letzterer entscheidend, er reicht aber so weit, dass er die Richt­ linienwertung im Sinne des generellen Umsetzungswillens umschließt. Stimmen sie nicht überein, muss danach unterschieden werden, ob der konkrete Regelungswille die Richtlinienwertung ausschließt. Ist dies der Fall, wird der generelle Umsetzungswille verdrängt. Ist dies nicht der Fall, ist der konkrete Regelungswille normerhaltend richtlinienkonform zu verstehen727 und im Sinne des generellen für die Richtlinienwertung zu öffnen. Dabei darf es jedoch nicht zu einer pauschalen Durchsetzung der Richt­ linie728 und damit faktisch zu einer verbotenen Horizontalwirkung kommen.729 Bestehen keine Anhaltspunkte, die eine Gehorsamsverweigerung des Umsetzungsgesetzgebers nahelegen, ist es angesichts der Umsetzungspflicht des Mitgliedstaats, dem drohenden Vertragsverletzungsverfahren und dem Haftungsrisiko bei Umsetzungsdefiziten730 aber nach wie vor gerechtfertigt, einen generellen Umsetzungswillen anzunehmen.731 Eine verbotene Horizontalwirkung der Richtlinie ist nicht zu befürchten, da sich die privatbelastenden Rechtsfolgen gerade nicht aus der Richtlinie, sondern aus dem fortgebildeten nationalen Recht ergeben. 726  Zum Vorrang des konkreten Regelungswillens: Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 258 f.; Kroll-Ludwigs/Ludwigs, ZJS 2009, 123, 127; Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 13 Rn. 80. 727  Kroll-Ludwigs/Ludwigs, ZJS 2009, 123, 126: „Bei der Umsetzung von Richtlinien kann der gesetzgeberische Wille freilich unter dem Vorbehalt der Richtlinienkonformität stehen“; zustimmend: Hainthaler, ZJS 2015, 13, 20. 728  Kritisch insoweit: Schürnbrand, JZ 2007, 910, 916; Hainthaler, ZJS 2015, 13, 20. 729  Zur verbotenen Horizontalwirkung: Habersack/Mayer, WM 2002, 253, 256; Hainthaler, ZJS 2015, 13, 20. 730  Zur Haftung der Mitgliedstaaten bei Umsetzungsdefiziten: EuGH, Urt. v. 19. 11. 1991 – verb. Rs.C‑6/90 und C‑9/90 – Francovich und Bonifaci/Italien, ECLI: EU:C:1991:428, Rn.  28 ff.; Streinz, Europarecht, 2019, Rn. 515 ff. 731  Zur Zulässigkeit des mutmaßlichen Umsetzungswillens: Rörig, Die Direktwirkung von Richtlinien in Privatrechtsverhältnissen, 2001, S. 154; Grundmann, ZEuP 1996, 399, 422; insoweit a. A. Schürnbrand, JZ 2007, 910, 916; Kroll-Ludwigs/Ludwigs, ZJS 2009, 123, 127; Hainthaler, ZJS 2015, 13, 20, soweit ein genereller Umsetzungswille allein nicht ausreichen soll.



B. Eigener Lösungsansatz279

Insgesamt ist damit stets der konkrete Regelungswille des Umsetzungsgesetzgebers vorrangig. Steht er dem generellen Umsetzungswillen entgegen, wird Letzterer verdrängt. Steht er ihm nicht entgegen, sondern schließt ihn nur nicht ausdrücklich ein, kann auf den generellen Umsetzungswillen zurückgegriffen werden. Soweit die Richtlinienwertung hiernach am Umsetzungswillen teilhat, kann sie auch die Zulässigkeit der Fortbildung einer Privatrechtsvorschrift beschränken. (bb) G  renzwirkung der nicht umgesetzten Richtlinie vor Ablauf der Umsetzungsfrist Abschließend ist noch zu klären, ob eine Richtlinienwertung, der keine unmittelbare Wirkung zukommt und die bislang noch nicht in nationales Recht umgesetzt wurde, eine Grenze für die Rechtsfortbildung im Privatrecht bedeutet. Es geht somit zentral um die Grenzwirkung der Richtlinie vor Ablauf der Umsetzungsfrist. Weil ein nationaler Umsetzungswille hier noch nicht existiert, ist eine beschränkende Wirkung nur anzunehmen, wenn sie aus der unionsrechtlichen Umsetzungspflicht der Mitgliedsstaaten folgt. Ursprung dieser Verpflichtung ist Art. 288 Abs. 3 AEUV,732 wobei teilweise auch Art. 4 Abs. 3 EUV herangezogen wird.733 Inhalt der Verpflichtung ist es, die Richtlinienvorgabe bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist in nationales Recht zu transformieren. Obwohl hieraus deutlich wird, dass es bis zum Fristablauf dem Gesetzgeber obliegt,734 die Richtlinienvorgabe in eine verbindliche735 nationale Umsetzungsnorm zu überführen, wird vom EuGH aus der Umsetzungsverpflichtung ein Frustrationsverbot abgeleitet.736 Den Mitgliedstaaten ist demnach auferlegt, „während der Frist für deren Umsetzung keine Vorschriften [zu] erlassen 732  Zur Verankerung der Umsetzungsverpflichtung im Primärrecht: EuGH, Urt. v. 26. 02. 1986 – Rs. 152/84 – Marshall/Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority, ECLI:EU:C:1986:84, Rn. 48. 733  Streinz, Europarecht, 2019, Rn. 487. 734  Daher zu Recht gegen eine judikative Richtlinienumsetzung: Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, 1999, S. 365, wonach dies grundsätzlich nicht ausreichen dürfte; Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration, 1999, S. 22; Ehricke, EuZW 1999, 553, 557 f.; Reich, EWiR 2001, 269, 270; Staudinger, EWS 2001, 330, 331 f.; eingehend zu dieser Problemstellung: Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, 2003, S. 25 ff. 735  Zum Erfordernis legislativer Richtlinienumsetzung: Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 345 f.; Streinz, Europarecht, 2019, Rn. 490, welcher der Rechtsprechung des EuGH einen „weit reichende[n] Rechtsnormvorbehalt“ entnimmt. 736  Zum Gedanken des Frustrationsverbots: EuGH, Urt. v. 18.  12. 1997 – Rs. C-129/96 – Inter-Environnement Wallonie, ECLI:EU:C:1997:628, Rn. 45; EuGH, Urt. v. 08. 05. 2003 – Rs. C-14/02 – ATRAL, ECLI:EU:C:2003:265, Rn. 58; EuGH, Urt. v.

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Zweiter Teil: Die Entwicklung des Grenzsystems

[…], die geeignet sind, die Erreichung des in der Richtlinie vorgeschriebenen Zieles ernstlich zu gefährden.“737 Nach der Rechtsprechung des EuGH gilt eine entsprechende Unterlassungspflicht auch für die nationalen Gerichte.738 Wenngleich dies so verstanden werden könnte, dass die Richtlinienwertung schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist eine Grenze der Rechtsfortbildung begründet, ist dies richtigerweise abzulehnen. Ohne Belang ist dafür, ob man mit dem EuGH ein Frustrationsverbot anerkennt oder es negiert. Entscheidend ist vielmehr, dass eine richterliche Rechtsfortbildung eine Richtlinienvorgabe nie „ernstlich gefährden“ kann. Kommt selbst einer höchstrichter­ lichen Rechtsprechung keine Bindungswirkung zu,739 kann eine aktuelle Rechtsprechung nie negativ auf die erst noch umzusetzende Richtlinie einwirken. Infolgedessen kann eine Fortbildung des nationalen Rechts nie einen Verstoß gegen das Frustrationsverbot begründen.740 3. Ergebnis zur Grenze des gebotenen Normzwecks Richterliche Rechtsfortbildung setzt eine Lücke voraus, die in der Abweichung des Normtexts vom gebotenen Normzweck liegt. Ob die Rechtsfortbildung im konkreten Rechtsstreit gestattet ist, kann somit erst beantwortet werden, wenn entschieden ist, ob der Sachverhalt mit dem Normtext und dem gebotenen Normzweck vereinbar ist. Das Ziel der Normzweckanalyse besteht darin, den gebotenen Normzweck als finalen Maßstab zu ermitteln, wozu die Analyse auf erster Stufe bei der Wertung der Einzelnorm beginnt und auf zweiter, dritter und vierter Stufe untersucht, ob die Wertungen des gleichrangigen Privatrechts oder jene des Verfassungs- und Europarechts eine andere Beurteilung erfordern. Sind alle Wertungen ermittelt und Wertungskollisionen aufgelöst, wird der gebotene Normzweck erkennbar, der die contra legem-Grenze konstituiert, die ihrerseits keine Ausnahmen kennt und folglich die absolute Grenze der Rechtsfortbildung bildet.741

22. 11. 2005 – Rs. C-144/04 – Mangold, ECLI:EU:C:2005:709, Rn. 67; ferner dazu: Streinz, Europarecht, 2019, Rn. 514. 737  EuGH, Urt. v. 04. 07. 2006 – Rs. C-212/04 – Adeneler u. a., ECLI:EU:C:2006:443, Rn. 121. 738  EuGH, Urt. v. 04. 07. 2006 – Rs. C-212/04 – Adeneler u. a., ECLI:EU:C:2006:443, Rn. 122. 739  Kühling, DVBl 2006, 857, 864; zustimmend: Hainthaler, ZJS 2015, 13, 14. 740  Im Ergebnis ebenso: Kühling, DVBl 2006, 857, 866. 741  Der gebotene Normzweck ist als „lex“ im Sinne der contra-legem-Grenze zu verstehen. Für die Absolutheit der contra-legem-Grenze: Möllers, in: Altmeppen/Fitz/ Honsell (Hrsg.), Festschrift Roth, 2011, S. 474; Schwacke, Juristische Methodik, 2011, S. 123; Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 13 Rn. 23.



C. Ergebnis des Zweiten Teils281

C. Ergebnis des Zweiten Teils Insgesamt ist festzuhalten, dass das Grenzsystem dieser Arbeit den Rechtsanwender befähigt, in strukturierter Weise zu prüfen, ob eine angedachte Rechtsfortbildung zulässig ist oder die Grenzen des Zulässigen überschreitet. Grundlegend ist insoweit der Gedanke, dass eine richterliche Rechtsfortbildung stets mit der Lücke beginnt, die zugleich ihre notwendige und hinreichende Bedingung ist. Eine solche ist nach dem in dieser Arbeit entwickelten Lückenbegriff anzunehmen, wenn der Normtext vom gebotenen Normzweck abweicht. Ob ein Sachverhalt mit beidem vereinbar ist, wird in einer strukturierten Normtext- und Normzweckanalyse untersucht. Im ersten Schritt der Normtextanalyse ist mit der Evidenz-, Referenz- und Konvergenzkontrolle in drei Stufen zu ermitteln, ob für einen Sachverhalt am Ende die Normtextvereinbarkeit oder -unvereinbarkeit festzustellen ist. Im zweiten Schritt der Normzweckanalyse ist sodann zu validieren, ob der Sachverhalt mit dem gebotenen Normzweck zu vereinen ist. Hierzu ist in vier Stufen zu prüfen, ob der Sachverhalt von der Wertung der Einzelnorm erfasst sein soll und ob Wertungen des gleichrangigen Rechts und des höherrangigen Verfassungsund Unionsrechts eine andere Bewertung gebieten. Stellt man das jeweilige Ergebnis von Normtext- und Normzweckanalyse gegenüber, sind vier Kon­ stellationen zu unterscheiden: Ist der Sachverhalt mit dem Normtext und dem gebotenen Normzweck vereinbar, ist das Ergebnis durch Auslegung zu erreichen; eine Fortbildung des Rechts ist in diesem Fall unnötig und daher unzulässig. Lässt er sich mit dem Normtext, nicht aber mit dem gebotenen Normzweck in Einklang bringen, ist der Sachverhalt mit einer normtexteinschränkenden Rechtsfortbildung (teleologischen Reduktion) auszuschließen. Ist er nicht mit dem Normtext, aber mit dem gebotenen Normzweck vereinbar, ist er mit einer normtexterweiternden Rechtsfortbildung einzuschließen (Analogie oder teleologische Extension).742 Ist der Sachverhalt weder vom Normtext noch vom gebotenen Normzweck umfasst, ist eine Rechtsfortbildung insgesamt unzulässig.

742  Zur Unterscheidung von Analogie und teleologischer Extension unter: Erster Teil  A. II. 1. a) aa) und bb).

Dritter Teil

Das Grenzsystem in der Anwendung Wurde im ersten Teil der Arbeit das Fundament gelegt, um im zweiten ein Grenzsystem zu errichten, soll nun im dritten Teil seine Praxistauglichkeit anhand ausgewählter Beispiele aus dem Privatrecht erprobt werden. Weil eine „wesentliche Aufgabe juristischer Theorien […] darin [besteht], die Lösung praktischer Probleme zu erleichtern“,1 ist das Grenzsystem dieser Arbeit im Folgenden schrittweise zu durchlaufen, um zu illustrieren, wie praktisch zu bestimmen ist, ob die Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung überschritten sind.

A. Normtextvereinbarkeit und Normzweckvereinbarkeit (Auslegung) Die erste Konstellation, in der sich eine Rechtsfortbildung als unnötig erweist und infolgedessen unzulässig ist, besteht darin, dass der Sachverhalt unter den Normtext und den gebotenen Normzweck passt. Hier ist die Rechtsordnung nicht lückenhaft, da sie bereits nach dem Gesetzeswortlaut eine Lösung für die zu beantwortende Rechtsfrage bereithält. Kann das Ergebnis durch Auslegung erreicht werden, ist es dem Richter verwehrt, den Normtext durch Fortbildung umzuschreiben. Da der gebotene Normzweck mitunter erst aufgrund gleich- und höherrangiger Wertungen als mit dem Normtext vereinbar beurteilt werden kann, sind vier Anwendungsbeispiele vorzustellen, wobei im ersten Fall die Wertung der Einzelnorm, im zweiten eine des gleichrangigen Rechts, im dritten eine Wertung des Verfassungsrechts und im vierten Fall eine des Unionsrechts den gebotenen Normzweck beeinflusst.

1  Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 51; vertiefend zur Bedeutung juristischer Theorien: Canaris, JZ 1993, 377.



A. Normtextvereinbarkeit und Normzweckvereinbarkeit (Auslegung)283

I. Wertung der Einzelnorm: Irrtumsanfechtung bei Smart Contracts 1. Problemaufriss Ob schon die Auslegung oder erst die Fortbildung zum Ziel führt, ist zunächst für die Irrtumsanfechtung zu betrachten, wenn die Willenserklärung nicht unmittelbar durch den Erklärenden selbst abgegeben, sondern von einem Softwarealgorithmus („Smart Contract“)2 generiert wird und hierbei ein Fehler unterläuft. Vorstellbar ist, dass an sich korrekte Daten manuell fehlerfrei in die Software eines „selbstbestellenden Kühlschranks“ eingespeist wurden, der Algorithmus sie jedoch vor Erklärungsabgabe an die programminterne Datenbank falsch überträgt3 und erst unmittelbar im Anschluss eine Willenserklärung erzeugt, die mit einem Inhalt an den Erklärungsempfänger übermittelt wird, der von den eingegebenen Daten abweicht. In Betracht kommt insoweit ein Anfechtungsgrund aus § 119 Abs. 1 Alt. 2 BGB oder § 120 BGB, der den Fall der falschen Übermittlung dem der nach § 119 Abs. 1 BGB irrtümlich abgegebenen Willenserklärung gleichstellt. Da der Fehler noch vor Übermittlung an den Erklärungsempfänger unterlaufen ist, ist zunächst § 119 Abs. 1 BGB heranzuziehen. Zu fragen ist, ob der Kühlschrankverwender als dahinterstehende Person nach § 119 Abs. 1 Alt. 2 BGB anfechten kann, weil er bei Abgabe der Willenserklärung eine Erklärung dieses Inhalts überhaupt nicht abgeben wollte.4 Weil der Wortlaut „Wer bei der Abgabe“ an das Rechtsub2  Ein „Smart Contract“ ist kein Vertrag im Rechtsinne (Paulus/Matzke, ZfPW 2018, 431, 433; Sattler, BB 2018, 2243, 2249; Paulus, JuS 2020, 107), sondern ein Softwarealgorithmus, der je nach Art und Weise seiner Programmierung (auch) dafür eingesetzt werden kann, automatisiert Willenserklärungen zu erzeugen und abzugeben; speziell zum Vertragsschluss durch Smart Contracts: Linardatos, K&R 2018, 85, 89; Paulus/Matzke, ZfPW 2018, 431, 434, Paulus, JuS 2020, 106, 107; vertiefend zu den vielseitigen Einsatzmöglichkeiten von „Smart Contracts“: Kaulartz, CR 2016, 474; Kaulartz/Heckmann, CR 2016, 618; Mann, NZG 2017, 1014, 1015; Müller, ZfIR 2017, 600, 609; Paulus/Matzke, CR 2017, 769, 771; Schrey/Thalhofer, NJW 2017, 1431; Eschenbruch/Gerstberger, NZBau 2018, 3; Kaulartz/Matzke, NJW 2018, 3278, 3279; Heckelmann, NJW 2018, 504; Hohn-Hein/Barth, GRUR 2018, 1089, 1093 ff.; Linardatos, K&R 2018, 85, 86 ff.; Paulus/Matzke, ZfPW 2018, 431; Sattler, BB 2018, 2243, 2249; Spindler, ZGR 2018, 17, 47; Fries, NJW 2019, 901, 902 ff.; Meyer, EuCML 2020, 17. 3  Anders als beim Kalkulationsirrtum geht es damit um keine programminterne Berechnung, sondern um die schlichte programminterne Übermittlung. Siehe zur Konstellation des programminternen Berechnungsfehlers: Paulus/Matzke, ZfPW 2018, 431, 456. 4  Zur bislang wohl allgemeinen Meinung, die eine Anfechtung gem. § 119 BGB in ähnlich gelagerten Fällen bejaht: BGH, Urt. v. 26. 01. 2005 – VIII ZR 79/04, NJW

284

Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

jekt anknüpft, der Softwarealgorithmus aber kein solches ist, muss eruiert werden, ob die algorithmusbasierte Erzeugung und Abgabe der Erklärung von § 119 Abs. 1 Alt. 2 BGB erfasst ist.5 2. Lösung a) Normtextanalyse Betrachtet man in der Normtextanalyse den Textausschnitt „Wer bei der Abgabe einer Willenserklärung […] eine Erklärung dieses Inhalts überhaupt nicht abgeben wollte“ ist es rein semantisch realisierbar, eine Erklärungsabgabe unter Einsatz eines automatisiert agierenden Softwarealgorithmus unter den Wortlaut zu fassen, wenn der Erklärende die Willenserklärung durch ihn abgegeben hat. Wäre die Dateneingabe in das Computerprogramm indes mit der Übergabe einer Willenserklärung an einen Boten vergleichbar, müsste die Abgabe mit Einspeisung der Daten als abgeschlossen erachtet werden; dann käme allein § 120 BGB in Betracht. Obwohl der Wortlaut insoweit nicht eindeutig ist, verbleibt auf der Stufe der Evidenzkontrolle eine Verständnisvariante, die mit dem Normtext vereinbar ist. Auf der Stufe der Referenzkontrolle ergibt sich, dass nach übereinstimmenden Begriffsbestimmungen im juristischen Schrifttum eine empfangsbedürftige Willenserklärung erst dann abgegeben ist, wenn sie willentlich endgültig nach außen kundgetan wird.6 Teils soll es aber bereits genügen, dass der Erklärende „alles getan hat, was er selbst tun muss“, wozu eine empfangsbedürftige Willenserklärung nur „auf den Weg zum Empfänger gebracht“ werden müsse.7 Während die Erklärungsabgabe unter Einsatz von Softwarealgorithmen im ersten Fall unter den Normtext fällt, ist das im zweiten ungewiss, weil es sprachlich möglich wäre, dass die Willenserklä2005, 976, 976 f.; Paulus/Matzke, ZfPW 2018, 431, 456; Singer, in: Staudinger, BGB, 2017, § 119 BGB, Rn. 36; Armbrüster, in: MünchKomm-BGB, Band 1, 2018, § 119 BGB, Rn. 47. 5  Entscheidungserheblich ist diese Fragestellung, weil im Zeitpunkt der letzten menschlichen Mitwirkungshandlung noch kein Fehler vorlag, da die richtigen Daten fehlerfrei eingegeben und exakt wie vorgesehen aus der Hand gegeben wurden. Erzeugt der Softwarealgorithmus hingegen noch programmintern eine fehlerhafte Willenserklärung, ist auch die Anfechtungsmöglichkeit nach § 120 BGB ausgeschlossen, weil kein Fall der falschen Übermittlung vorliegt, wenn eine fehlerhafte Willenserklärung mit unverändertem Inhalt korrekt übermittelt wird. 6  Insoweit mit ähnlicher Merkmalstruktur in der Begriffsbestimmung: Einsele, in: MünchKomm-BGB, Band 1, 2018, § 130 BGB, Rn. 13; Mansel, in: Jauernig, BGB, 2020, § 130 BGB, Rn. 1; Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 33 Rn. 6. 7  Faust, Bürgerliches Gesetzbuch, 2020, § 2 Rn. 19.



A. Normtextvereinbarkeit und Normzweckvereinbarkeit (Auslegung)285

rung schon ab der letzten menschlichen Mitwirkung, der irrtumsfreien Dateneingabe, „auf dem Weg zum Empfänger“ ist. Müsste das Normtextmerkmal so verstanden werden, dass die „Abgabe“ mit der letzten Handlung des Rechtssubjekts beendet ist, könnte der anschließende Einsatz eines Computerprogramms stets nur als Übermittlung einer bereits abgegebenen Willenserklärung begriffen werden. Mit einem solchen Normtextverständnis wäre die Abgabe mittels Softwarealgorithmus unvereinbar. Obwohl die Referenzkontrolle eine Normtextvereinbarkeit nahelegt, bleiben Zweifel, die auf der Stufe der Konvergenzkontrolle auszuräumen sind. Um abschließend zu entscheiden, ob die Abgabe einer Willenserklärung durch einen autonom agierenden Softwarealgorithmus unter den Normtext gefasst werden kann, ist dieser Sachverhalt mit solchen Fällen zu vergleichen, die mit dem Normtext vereinbar sind. Abgegeben werden können Willenserklärungen nicht nur mündlich, sondern auch auf anderem Wege, was für eine Abgabe durch den Einsatz von Hilfsmitteln spricht. Hiervon zu unterscheiden sind Fälle, in denen die Willenserklärung nicht durch Hilfsmittel, sondern zuvor ohne sie abgegeben wurde und nur im Anschluss daran die Willenserklärung durch ein Hilfsmittel übermittelt wird. Demnach ist entscheidend, ob der Einsatz eines derartigen Softwarealgorithmus mit positiven Kandidaten der Abgabe durch Hilfsmittel in ihrer Merkmalstruktur vergleichbar ist; gegen die sprachliche Vergleichbarkeit würde hilfsweise sprechen, wenn er eher den negativen Kandidaten der Übermittlung einer bereits abgegebenen Erklärung mit Hilfsmitteln gleicht. Der strukturelle Unterschied beider Kategorien besteht darin, dass die Hilfsmittel im ersten Fall (auch) eingesetzt werden, um die Erklärung zu erzeugen, während sie im zweiten Fall ausschließlich Verwendung finden, um eine bereits erzeugte Erklärung zu übermitteln. Eine Zuordnung zu den negativen Kandidaten setzt damit voraus, dass die Willenserklärung mit der Dateneingabe fertiggestellt ist. Ebendies ist bei einem Bestellalgorithmus für einen „selbstbestellenden Kühlschrank“ aber nicht gegeben. Die Software ist zwar von Voreinstellungen abhängig8 und insoweit wie ein anderes Hilfsmittel willentlich beherrschbar, die Willenserklärung selbst wird indes erst dann automatisiert generiert und übermittelt, wenn Sensoren einen konkreten Bedarf feststellen. Weil der Algorithmus folglich nicht nur die Übermittlung an den Empfänger übernimmt, sondern den Inhalt der Willenserklärung zuvor noch konkret beeinflusst, muss die Abgabe unter Einsatz eines Softwarealgorithmus als vom Wortlaut inbegriffen bewertet werden. Handelt der Algorithmus auf Grundlage bestimmter Voreinstellungen autonom, ist der programminterne Übertragungsfehler aber kein Fehler bei der 8  Siehe zur Abhängigkeit von Voreinstellungen: Paulus/Matzke, ZfPW 2018, 431, 440.

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Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

Übermittlung einer bereits abgegebenen Willenserklärung, sondern ein solcher in der Erklärungshandlung. Während es beim Verschreiben misslingt, einen Gedankeninhalt „auf das Papier“ zu bringen, ist es hier nicht gelungen, eine korrekte Eingabe in eine korrekte Ausgabe zu überführen, bevor die Willenserklärung im unmittelbaren Anschluss an den Empfänger übermittelt wurde. Infolgedessen hat der Softwareverwender bei Abgabe der Willenserklärung durch den automatisiert agierenden Bestellalgorithmus eine Erklärung dieses Inhalts nicht abgeben wollen. Sofern weiter anzunehmen ist, dass er sie bei Kenntnis der Sachlage und verständiger Würdigung des Falls nicht abgegeben haben würde, ist der Anfechtungsgrund des § 119 Abs. 1 Alt. 2 BGB in diesem Fall erfüllt, der Sachverhalt mithin mittels Normtextanalyse einzuschließen. b) Normzweckanalyse Ob die Abgabe der Willenserklärung durch einen Softwarealgorithmus mit dem gebotenen Normzweck des § 119 Abs. 1 Alt. 2 BGB übereinstimmt, ist in der Normzweckanalyse zu ermitteln. Betrachtet man dazu auf erster Stufe die Wertung der Einzelnorm, zeigt sich, dass der Gesetzgeber mit § 119 Abs. 1 Alt. 2 BGB den Regelungszweck verfolgte, ein Anfechtungsrecht zu gewähren, wenn „bei der Erklärung des Willens ein Irrthum unterläuft, welcher bewirkt, daß die Erklärung der bezweckten Willenskundgebung nicht gerecht wird (Irrthum in der Erklär­ungshandlung)“.9 In diesem Zusammenhang hat der Gesetzgeber schon damals auf die „Fälle des Sichversprechens, Sichverschreibens, Sichvergreifens usw.“10 hingewiesen und hiermit die denkbaren Fehler im Zuge der Erklärungshandlung konkretisiert. Nachdem feststeht, dass der programminterne Übertragungsfehler keinen Fall der unrichtigen Übermittlung einer erzeugten Willenserklärung darstellt, sondern der Fehler dem Erzeugungsprozess selbst anhaftet, ist der Sachverhalt mit der Wertung der Einzelnorm vereinbar. Wertungen gleichrangiger Normen gebieten kein anderes Ergebnis. Die Regelung des § 120 BGB ist nämlich auf den Fall zugeschnitten, dass die Willenserklärung eines anderen durch eine zur Vermittlung verwendete Per-

9  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band, 1899, S. 460 (= Motive, S. 196); vertiefend zu den Hintergründen der Irrtumstatbestände: Rothoeft, System der Irrtumslehre als Methodenfrage der Rechtsvergleichung, 1968, S. 92 ff. 10  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band, 1899, S. 460 (= Motive, S. 196).



A. Normtextvereinbarkeit und Normzweckvereinbarkeit (Auslegung)287

son oder Einrichtung unrichtig übermittelt wird.11 Hierunter sind zwar auch moderne Anbieter von Telekommunikationsdienstleistungen wie Provider zu fassen;12 nach der explizit mitgeteilten Regelungsabsicht ist § 120 BGB aber auf Fälle beschränkt, in denen sich jemand „zur Uebermittlung seiner Erklärung an den Empfänger einer Mittelsperson […] bedient und diese den Willen unrichtig wiedergiebt [sic!].“13 Es geht damit um die Konstellation, dass eine fehlerfrei erzeugte Willenserklärung unrichtig übermittelt wird. Keine Wertentscheidung vermittelt § 120 BGB demgegenüber, wenn eine infolge programminterner Falschübertragung fehlerhaft erzeugte Willenserklärung an den Empfänger unverändert, also richtig, übermittelt wird.14 Insoweit ist nicht die Übermittlung unrichtig, sondern lediglich die zur Übermittlung bereitgestellte Erklärung. In dieser Hinsicht ist folglich weder mit Blick auf § 120 BGB15 noch in Anbetracht der Wertungen des Verfassungs- und Unionsrechts eine andere Bewertung gerechtfertigt. Die Erklärungsabgabe durch einen Softwarealgorithmus16 ist vielmehr mit dem gebotenen Normzweck des § 119 Abs. 1 Alt. 2 BGB vereinbar, der sich hier vor allem aus der Wertung der Einzelnorm speist.

11  Implizit bereits: Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band, 1899, S. 464 (= Motive, S. 202 f.); explizit zum Erfordernis der unrichtigen Übermittlung einer fremden Willenserklärung: Armbrüster, in: MünchKomm-BGB, Band 1, 2018, § 120 BGB, Rn. 2; Wendtland, in: BeckOK-BGB, 2020, § 120 BGB, Rn. 3. 12  Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2020, § 41 Rn. 40. 13  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band, 1899, S. 464 (= Motive, S. 202 f.) [Hervorhebung v. Verf.]. 14  Daher ist der Entscheidung des BGH, Urt. v. 26. 01. 2005 – VIII ZR 79/04, NJW 2005, 976, 977 zwar im Ergebnis zuzustimmen, dass die Anfechtung auf § 119 Abs. 1 BGB zu stützen ist, nicht aber in der Begründung, dass sich dies für § 119 BGB aus der Wertung des § 120 BGB ergibt. Dem kann mit Blick auf die legislative Regelungsabsicht des § 120 BGB deshalb nicht gefolgt werden, weil dieser voraussetzt, dass eine fehlerfrei erzeugte Willenserklärung unrichtig übermittelt wird. 15  Nachdem der BGB-Gesetzgeber die Fälle des § 119 Abs. 1 Alt. 2 BGB und § 120 BGB lediglich „in Ansehung der rechtlichen Beurtheilung […] gleichstellen“, nicht aber gleichsetzen wollte [siehe dazu: Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band, 1899, S. 464 (= Motive, S. 202 f.)], können Aussagen aus § 120 BGB nicht ohne Weiteres auf § 119 Abs. 1 Alt. 2 BGB übertragen werden. 16  Zur Möglichkeit der Abgabe einer Willenserklärung durch ein Computerprogramm: BGH, Urt. v. 16. 10. 2012 – X ZR 37/12, BGHZ 195, 126, 131; Köhler, AcP 182 (1982), 126, 132 ff.; Paulus/Matzke, ZfPW 2018, 431, 440; Medicus/Petersen, Allgemeiner Teil des BGB, 2016, Rn. 256; Faust, Bürgerliches Gesetzbuch, 2020, § 2 Rn. 5 und § 19 Rn. 21.

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Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

c) Ergebnis Erweist sich der Sachverhalt als mit § 119 Abs. 1 Alt. 2 BGB normtextund normzweckkonform, besteht in der Rechtsordnung keine Lücke, weil das Ergebnis schon durch Auslegung erreicht werden kann. Eine Fortbildung des § 119 Abs. 1 Alt. 2 BGB ist unnötig und scheidet in der Folge aus.

II. Wertung einer gleichrangigen Norm: Herausgabe des Mehrerlöses vom Nichtberechtigten 1. Problemaufriss Näherer Betrachtung bedarf die Abgrenzung von Auslegung und Fortbildung auch im Bereich der klassischen Problemstellung, ob gem. § 816 Abs. 1 S. 1 BGB vom Nichtberechtigten die Erlösherausgabe17 oder nur Wertersatz18 verlangt werden kann, wenn er gegen Entgelt über einen Gegenstand verfügt und die Verfügung dem Berechtigten gegenüber wirksam ist. Verkauft und übereignet ein Nichtberechtigter ohne Verschulden19 eine fremde, nicht abhandengekommene Sache an einen gutgläubigen Dritten, erwirbt dieser das Eigentum, da § 935 Abs. 1 BGB nicht entgegensteht. Hat der Nichtberechtigte im Gegenzug einen Kaufpreis erhalten, der den Wert der veräußerten Sache übersteigt, ist für den Berechtigten von Interesse, ob er über § 816 Abs. 1 S. 1 BGB den vollen Veräußerungserlös an sich ziehen kann. Die herrschende Meinung20 bejaht dies und beruft sich hierfür auf den Wortlaut, 17  Zur h.  M. der Erlösherausgabe: BGH, Urt. v. 08. 01. 1959 – VII ZR 26/58, BGHZ 29, 157, 159; Reuter/Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, 2016, S. 324; Jakobs, Eingriffserwerb und Vermögensverschiebung, 1964, S. 17 ff. und 64; Ettinger/Reiff, NZG 2004, 258, 260; Schäfer, in: Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, 2013, §§ 812–822 BGB, Rn. 204; Röthel, Jura 2012, 844, 847 f.; Röthel, Jura 2015, 574, 576 f.; Hadding, in: Soergel, BGB, Band 11/3, 2012, § 816 BGB, Rn. 17; Stegmüller, JuS 2010, 332, 338; Thomale, JuS 2013, 43, 47 f.; Esser/Weyers, Schuldrecht, Band II, 1991, S. 473 f.; Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts, Band II/2, 1994, S.  267 ff.; Wandt, Gesetzliche Schuldverhältnisse, 2019, § 11 Rn. 37; Looschelders, Schuldrecht Besonderer Teil, 2020, § 55 Rn. 26. 18  Zur a.  A. der Wertersatzpflicht: Jagmann, Wertersatz oder Gewinnhaftung?, 1979, S. 270; von Caemmerer, in: Dölle/Rheinstein/Zweigert (Hrsg.), Festschrift Rabel, 1954, S. 356; von Caemmerer, in: Gerwig/Simonius/Spiro/Süss/Wolff (Hrsg.), Festschrift Lewald, 1953, S. 448; Medicus/Petersen, Bürgerliches Recht, 2019, Rn.  722 ff. 19  In dieser Konstellation wird die Fragestellung auch praktisch relevant, da insoweit konkurrierende Ansprüche entfallen können; siehe dazu: Lorenz, in: Staudinger, BGB, 2007, § 816 BGB, Rn. 23. 20  BGH, Urt. v. 08. 01. 1959 – VII ZR 26/58, BGHZ 29, 157, 159; Reuter/Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, 2016, S. 324; Jakobs, Eingriffserwerb und Ver-



A. Normtextvereinbarkeit und Normzweckvereinbarkeit (Auslegung)289

weil der Nichtberechtigte durch die Verfügung über das Eigentum den Kaufpreis als Gegenleistung erhalte.21 Obwohl das Ergebnis rechtspolitisch nachvollziehbar ist, weil allein der Berechtigte dinglich berechtigt ist, den Verfügungsgegenstand wirtschaftlich zu verwerten,22 kann es nicht ohne Weiteres mit dem Wortlaut begründet werden.23 Entgegen der herrschenden Auffassung ist das „durch die Verfügung Erlangte“ im wörtlichen Sinne nämlich nicht der Erlös als Gegenleistung, sondern genau genommen nur die Befreiung von der Verpflichtung, die hier etwa im Rahmen eines Kaufvertrags versprochene Verfügung vorzunehmen.24 Um die Normtextgrenze nicht zu verletzen, ist zu prüfen, ob eine Verpflichtung zur Erlösherausgabe durch Auslegung oder erst durch Rechtsfortbildung realisiert werden kann, was der Fall wäre, wenn der Normtext vom gebotenen Normzweck abweicht. 2. Lösung a) Normtextanalyse In der Normtextanalyse ist zunächst zu ermitteln, ob die Erlösherausgabe mit dem Normtext „Herausgabe des durch die Verfügung Erlangten“ vereinbar ist. Wie erwähnt kann das präzise Wortlautargument nicht für die herrschende Reichweite der Rechtsfolgenregelung herangezogen werden, da die mögensverschiebung, 1964, S. 17 ff. und 64; Ettinger/Reiff, NZG 2004, 258, 260; Schäfer, in: Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, 2013, §§ 812–822 BGB, Rn. 204; Röthel, Jura 2012, 844, 847 f.; Röthel, Jura 2015, 574, 576 f.; Hadding, in: Soergel, BGB, Band 11/3, 2012, § 816 BGB, Rn. 17; Stegmüller, JuS 2010, 332, 338; Thomale, JuS 2013, 43, 47 f.; Esser/Weyers, Schuldrecht, Band II, 1991, S. 473 f.; Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts, Band II/2, 1994, S. 267 ff. 21  Mit diesem unpräzisen Wortlautargument: BGH, Urt. v. 08. 01. 1959 – VII ZR 26/58, BGHZ 29, 157, 159 („Wortlaut des § 816 Abs. 1 BGB ist eindeutig“); Jagmann, Wertersatz oder Gewinnhaftung?, 1979, S. 265. 22  Siehe dazu: Koppensteiner/Kramer, Ungerechtfertigte Bereicherung, 1988, S. 122. 23  Daher nehmen Teile des Schrifttums an, dass nur Wertersatz geschuldet ist: Jagmann, Wertersatz oder Gewinnhaftung?, 1979, S. 270; von Caemmerer, in: Dölle/ Rheinstein/Zweigert (Hrsg.), Festschrift Rabel, 1954, S. 356; von Caemmerer, in: Gerwig/Simonius/Spiro/Süss/Wolff (Hrsg.), Festschrift Lewald, 1953, S. 448; Medicus/Petersen, Bürgerliches Recht, 2019, Rn. 722 ff. 24  Medicus/Petersen, Bürgerliches Recht, 2019, Rn. 723, wonach der Veräußerer „durch seine wirksame Verfügung die Befreiung von der gegen ihn gerichteten Forderung, die dem Erwerber aus dem Grundgeschäft […] [erlangt, diese aber] selbst nicht herausgegeben werden [kann].“ In der Folge müsse der Veräußerer gem. § 818 Abs. 2 BGB den Wert ersetzen, der „sich nach dem Wert des Gegenstandes, auf dessen Leistung die Forderung gerichtet war“ bestimme.

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Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

Verfügung unmittelbar nur die Befreiung von der Verbindlichkeit – hier speziell die Befreiung von der kaufvertraglichen Pflicht gem. § 433 Abs. 1 S. 1 BGB – bewirkt und daher auch nur diese erlangt wird. Den Veräußerungserlös erhält der Nichtberechtigte nicht durch die Verfügung über das Eigentum und auch nicht durch den Kaufvertrag, sondern durch die Ver­ fügung, die der Dritte tätigt, um seine kaufvertragliche Pflicht gem. § 433 Abs. 2 BGB zu erfüllen. Wird der Nichtberechtigte von der Verbindlichkeit zur Übereignung der Sache befreit, hätte er gem. § 818 Abs. 2 BGB Wertersatz zu leisten, da dieser Vorteil nicht mehr in Natur herausgegeben werden kann. Weil dieser mit dem objektiven Wert der Sache identisch ist, wäre der Nichtberechtigte dem Berechtigten in der Folge nur zum Wertersatz verpflichtet, nicht aber zur Erlösherausgabe. Weil die Normtextgrenze aber erst überschritten ist, wenn die Erlösherausgabe mit dem weitesten geltungszeitlichen und fachsprachlichen Textverständnis unvereinbar ist, kann auch diese Rechtsfolge mit dem Normtext in Einklang gebracht werden. Auch wenn der Wortlaut bei strikter Sprachverwendung nicht aktiv für dieses Ergebnis streitet, ist innerhalb seiner Grenzen eine Erlösherausgabe ebenfalls realisierbar, wenn man semantisch großzügiger in Rechnung stellt, dass der Kaufpreis als Gegenleistung für die Übereignung und Übergabe der Sache erlangt wurde. Obwohl für beide Verfügungsgeschäfte das Trennungsprinzip zu beachten ist, ist wirtschaftlich nicht zu leugnen, dass über einen Gegenstand verfügt wird, um von der synallagmatisch geschuldeten Verfügung zu profitieren. Die schuldrechtlichen Hauptpflichten aus dem Kaufvertrag stehen derart in einem Gegenseitigkeitsverhältnis, dass es nicht zuletzt wegen § 320 BGB semantisch vertretbar ist, die Vorteile aus der Erfüllung der synallagmatischen Gegenleistungspflicht als mittelbar durch die Erfüllung der Leistungspflicht zugeflossen zu betrachten. Mit anderen Worten ist es auf der Stufe der Evidenzkontrolle möglich, den Erlös als ein „durch die Verfügung Erlangtes“ anzusehen. Um auf zweiter Stufe eine Referenzkontrolle vorzunehmen, muss hierfür zunächst der passende Normtextausschnitt isoliert werden. Nicht näher untersucht werden muss der Verfügungsbegriff, der sich als fachsprachlich feststehende Formulierung einer Öffnung für Verpflichtungsgeschäfte verschließt.25 Erwogen werden könnte einzig, ob der Verfügungsbegriff in § 816 Abs. 1 S. 1 BGB auf das korrespondierende Erfüllungsgeschäft erstreckt werden kann, durch das der Veräußerungserlös tatsächlich erlangt wird. Richtigerweise kann dies jedoch nicht in wortlautkonformer Weise geschehen, weil dieser allein von der Verfügung spricht, die der Nichtberechtigte trifft und die dem Berechtigten gegenüber wirksam ist. Das lässt sich sprach25  Statt aller zum Verfügungsbegriff in der juristischen Fachsprache: Creifelds, Rechtswörterbuch, 2019, Stichwort „Verfügung (rechtsgeschäftliche)“.



A. Normtextvereinbarkeit und Normzweckvereinbarkeit (Auslegung)291

lich nur auf die Verfügung über das Eigentum an der Sache beziehen. Einen Ansatz bietet aber auch auf der Ebene der Referenzkontrolle die Wendung „durch die Verfügung Erlangte“. Insoweit kann die Präposition „durch“ nach Duden „mittels“26 und nach Grimms Deutschem Wörterbuch auch „vermittelst“27 bedeuten. Weil die Verfügung über das Eigentum an der kaufvertraglich geschuldeten Sache der Gegenpartei gem. § 320 BGB die Einrede des nicht erfüllten Vertrags nimmt,28 trägt sie dazu bei, den Veräußerungserlös im Wege der nunmehr einredefrei geschuldeten Verfügung zu erlangen. Auf diese Weise kann auf der Stufe der Referenzkontrolle ein Normtextverständnis festgestellt werden, welches den nur mittelbaren Zusammenhang von Verfügung über das Eigentum an der fremden Sache und dem Veräußerungserlös beachten kann. Eine andere Bewertung ergibt sich nicht auf der Stufe der Konvergenzkontrolle, mit der man ebenso zu dem Ergebnis gelangt, dass ein Kausalzusammenhang ausreichend ist. Dass er in solchen Situationen existiert, bestätigt der Umstand, dass ohne die Verfügung über das Eigentum der Erfüllung der Verpflichtung zur Kaufpreiszahlung gem. § 433 Abs. 2 BGB wie bereits dargelegt die Einrede des nicht erfüllten Vertrags aus § 320 BGB entgegengehalten werden könnte. Durch die Verfügung wurde damit jedenfalls rechtlich der Weg geebnet, den Kaufpreis durch die Verfügung über den Veräußerungserlös zu erlangen. Festzuhalten ist, dass die Erlösherausgabe zwar nicht isoliert durch das Wortlautargument begründet werden, aber in der Normtext­ analyse auf allen drei Stufen als noch vom Wortlaut eingeschlossen gelten kann. b) Normzweckanalyse Ist die Erlösherausgabe mit dem Normtext des § 816 Abs. 1 S. 1 BGB kompatibel, ist in der Normzweckanalyse zu ermitteln, ob sie auch nach dem gebotenen Normzweck Inhalt der Rechtsfolgenregelung sein soll. Hierzu ist auf erster Stufe die Wertung der Einzelnorm zu betrachten. Konsultiert man die Gesetzesmaterialien,29 fällt auf, dass § 816 Abs. 1 S. 1 26  Siehe hierzu: www.duden.de/rechtschreibung/durch_hindurch_mittels_waehrend (zuletzt abgerufen am 01. 12. 2020). 27  Grimm/Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 2, Sp. 1571; online verfügbar unter www.dwb.uni-trier.de (zuletzt abgerufen am 01. 12. 2020). 28  Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts, Band II/2, 1994, S. 268. 29  Vertiefend zu den Gesetzesmaterialien zum Bereicherungsrecht: Jakobs/Schubert, Die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuches in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen, Recht der Schuldverhältnisse III: §§ 652–853, 1983, S.  755 ff.

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Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

BGB30 erst durch den zweiten Entwurf in das BGB aufgenommen und im Zuge dessen lediglich betont wurde, dass es „[a]nstatt mehrerer gleichartiger, unter die verschiedensten Materien zerstreuter Bestimmungen […] zweifelsohne richtiger [sei], eine allgemeine Vorschrift da einzustellen, wo die ungerechtfertigte Bereicherung im Zusammenhange behandelt werde.“31 Weil der BGB-Gesetzgeber damit keine explizite Regelungsabsicht mitgeteilt hat, ist unter Berücksichtigung grammatischer, historischer und systematischer Erwägungen zu ermitteln, welche er im Sinn hatte. In Anbetracht der gesetzlichen Formulierung ist der Wortlaut zwar wie gezeigt für beide Rechtsfolgenanordnungen offen; als grammatisches Argument streitet er aber für eine Pflicht zum Wertersatz. Entstehungsgeschichtlich ist interessant, dass die Materialien an anderer Stelle einen Hinweis zu dieser Problemstellung geben. Im Zusammenhang mit dem heutigen § 812 BGB wurde bemerkt, dass die Frage, ob „der Verfügende […] zur Herausgabe der Bereicherung an den bis dahin Berechtigten […] verpflichtet ist, […] aber bezweifelt werden [könne], da er aus dem Vermögen des Berechtigten nichts erhalten hat, insbes. die nach dem Veräußerungsgeschäfte dem Erwerber obliegende Gegenleistung dem bis dahin Berechtigten niemals zugestanden hat“.32 „Für die hierher gehörigen Fälle […] [seien] deshalb besondere Vorschriften gegeben.“33 Folgt man dem Verweis und zieht die Materialien hierzu zurate, stößt man auf die Stellungnahme, dass die „Verpflichtung des Nichtberechtigten, die Bereicherung, die er durch die Veräußerung […] erlangt hat, an den Berechtigten herauszugeben, […] in der Billigkeit begründet“ sei.34 Dass mit „Bereicherung“ der Veräußerungserlös und nicht bloß Wertersatz gemeint war, erscheint mit Blick auf diese isolierte Äußerung möglich und vor dem Hintergrund der ersten verweisenden Stellungnahme sogar wahrscheinlich. Weil § 816 Abs. 1 S. 1 BGB „zum Ersatze“ dieser besonderen Vorschriften aufgenommen wurde,35 könnte die Rechtsfolge auf die Erlösherausgabe zu erstrecken sein. Während der Wort30  Siehe zur Aufnahme des § 740a, der Vorgängervorschrift des § 816 Abs. 1 S. 1 BGB: Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 1181 (= Protokolle, S. 8492). 31  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 1181 (= Protokolle, S. 8492). 32  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 476 (= Motive, S. 853). 33  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 476 (= Motive, S. 853). 34  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, III. Band, 1899, S. 124 (= Motive, S. 224) [Hervorhebung v. Verf.]. 35  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 1181 (= Protokolle, S. 8492).



A. Normtextvereinbarkeit und Normzweckvereinbarkeit (Auslegung)293

laut eher zum Wertersatz tendiert, deuten die Materialien eher in die Richtung der Erlösherausgabe. Andeutungsweise spricht auch die norminterne Systematik des § 816 Abs. 1 BGB für Letzteres, weil bei einer unentgeltlichen Verfügung nach Satz 2 eine Direktkondiktion gegen den Erwerber gestattet ist, was dafür sprechen könnte, dass bei entgeltlicher Verfügung nach Satz 1 auch das Entgelt herausverlangt werden kann.36 Gleichwohl ist auch dies nur von indizieller Natur, sodass die Fragestellung mit dem isolierten Normzweck des § 816 Abs. 1 BGB nicht abschließend beantwortet werden kann. Auf zweiter Stufe sind die Wertungen des gleichrangigen Rechts einzubeziehen. In Betracht kommt hierfür § 818 Abs. 3 BGB, der die legislative Risikoverteilung zwischen Bereicherungsschuldner und -gläubiger zum Vorschein bringt. Da der nicht verschärft haftende Nichtberechtigte in jedem Fall dadurch geschützt wird, dass er sich gem. § 818 Abs. 3 BGB auf Entreicherung berufen kann, ist der Berechtigte dem Risiko ausgesetzt, sein Eigentum an den gutgläubigen Dritten zu verlieren, ohne dass er vom entreicherten Nichtberechtigten einen Ausgleich erhält.37 Erzielt der Nichtberechtigte einen Mindererlös, der den Wert unterschreitet, ist er deshalb auch nur in verringerter Höhe verpflichtet.38 Soll die dem Nichtberechtigten verbleibende Bereicherung abgeschöpft werden,39 ist dieser Gedanke aber auch dann fortzuführen, wenn der Nichtberechtigte einen Erlös erzielt, der den objektiven Wert übersteigt. Inkonsequent erscheint es demgegenüber, dass der Nichtberechtigte die Nachteile einer Verfügung unter Wert wegen § 818 Abs. 3 BGB nicht zu tragen hat, er aber die Vorteile einer Verfügung über Wert behalten soll, weil er nur zum Wertersatz verpflichtet ist. Vor diesem Hintergrund verliert auch das häufig bemühte Argument an Kraft, eine Beschränkung auf die Wertersatzpflicht sei deshalb gerechtfertigt, weil der Mehrerlös meist auf der Geschäftstüchtigkeit des Nichtberechtigten beruhe.40 Konsequent wäre dies nur, wenn der Nichtberechtigte im Fall des 36  Überzeugend dazu: Hadding, in: Soergel, BGB, Band 11/3, 2012, § 816 BGB, Rn. 17. 37  Zu beachten ist, dass der Kaufpreis, den der verfügende Nichtberechtigte, etwa in einer Veräußerungskette seinerseits für den Gegenstand bezahlt hat, im Rahmen von § 818 Abs. 3 BGB nicht bereicherungsmindernd zu berücksichtigen ist: Wandt, Gesetzliche Schuldverhältnisse, 2019, § 12 Rn. 26. 38  Lorenz, in: Staudinger, BGB, 2007, § 816 BGB, Rn. 23; Looschelders, Schuldrecht Besonderer Teil, 2020, § 55 Rn. 24. 39  Siehe dazu: Wandt, Gesetzliche Schuldverhältnisse, 2019, § 12 Rn. 14; Looschelders, Schuldrecht Besonderer Teil, 2020, § 56 Rn. 7. 40  Zu dieser Argumentation: Medicus/Petersen, Bürgerliches Recht, 2019, Rn. 723; ebenso: Looschelders, Schuldrecht Besonderer Teil, 2020, § 55 Rn. 26, der dieses Argument anerkennt, im Ergebnis aber mit der herrschenden Ansicht eine Erlösherausgabe favorisiert.

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Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

Mindererlöses auch für seine fehlende Geschäftstüchtigkeit einzustehen hätte. Eine Wertersatzpflicht mündet in eine nicht zu rechtfertigende Privilegierung des Nichtberechtigten, der bei besonderem Verhandlungsgeschick belohnt und bei weniger Geschick auf Kosten des Berechtigten verschont wird. Wegen der legislativen Wertentscheidung in § 818 Abs. 3 BGB kann es somit nur überzeugen, dem Berechtigten nicht nur die Risiken des unrentablen Geschäfts aufzulegen, sondern ihm auch die Chancen einer profitablen Transaktion zuzuweisen.41 Ein Verkaufstalent des Nichtberechtigten kann auch in dieser Hinsicht keine andere Beurteilung rechtfertigen, weil er den Gewinn nur durch den Eingriff in ein fremdes Recht realisieren kann,42 es aber allein dem Berechtigten zusteht, durch die Verfügung über ebendieses Recht einen Erlös zu generieren.43 Würde ihm nur der Wert ersetzt, der am Markt wahrscheinlich als Preis zu erzielen wäre, würde außer Acht gelassen, dass der Erlös den exakten Preis bezeichnet, der am Markt für den Verfügungsgegenstand tatsächlich erzielt werden konnte.44 Konnte dieser Preis realisiert werden, wurde dem Berechtigten aber gerade die Möglichkeit genommen, durch eigenes Verhandlungsgeschick oder durch Einschaltung eines ähnlich kompetenten Verkäufers ein identisches Ergebnis zu erwirtschaften. Für die Erlösherausgabe spricht ferner die Wertung des § 285 BGB. Normtextstrukturell ähnlich zu § 816 Abs. 1 S. 1 BGB erlangt der Herausgabeschuldner den Verkaufserlös bei einem strikten Textverständnis nicht infolge der Übereignung an einen Dritten, aufgrund der der Schuldner die Leistung nicht nach § 275 Abs. 1 bis 3 BGB zu erbringen braucht. Er erlangt ihn dadurch, dass der Dritte seine kaufvertragliche Pflicht zur Kaufpreiszahlung erfüllt. Dennoch geht die ganz herrschende Ansicht45 mit Blick auf die Wert­ 41  A. A. Schwab, in: MünchKomm-BGB, Band 6, 2020, § 816 BGB, Rn. 45, der diese Risikostruktur und die damit einhergehenden Wertungen im Bereicherungsrecht „nicht verifizieren“ kann. 42  Zu diesem Prinzip bereits: Schulz, AcP 115 (1909), 1, 443. 43  Koppensteiner/Kramer, Ungerechtfertigte Bereicherung, 1988, S. 122. 44  Siehe zu dieser Gegenüberstellung von Erlös und Wertersatz: Schulz, AcP 115 (1909), 1, 444. 45  Zur ganz herrschenden Erstreckung auf das rechtsgeschäftliche Surrogat: RG, Urt. v. 11. 10. 1932 – II 58/32, RGZ 138, 45, 48; BGH, Urt. v. 23. 12. 1966 – V ZR 26/64, BGHZ 46, 260, 264; BGH, Urt. v. 11. 10. 1979 – VII ZR 285/78, BGHZ 75, 203, 206, in dem der VII. Zivilsenat dies als „allgemeine Meinung“ bezeichnet; BGH, Teilurt. v. 15. 10. 2004 – V ZR 100/04, NJW-RR 2005, 241, 242; Braun, AcP 193 (1993), 556, 565; Eichel/Fritzsche, NJW 2018, 3409, 3410; Kohler, JuS 2018, 1033, 1035; Emmerich, in: MünchKomm-BGB, Band 2, 2019, § 285 BGB, Rn. 22 f.; Schulze, in: Hk-BGB, 2019, § 285 BGB, Rn. 6; Dornis, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 285 BGB, Rn. 74 ff.; Medicus/Lorenz, Schuldrecht I, 2015, Rn. 424; mit einer Einschränkung ebenso: Caspers, in: Staudinger, BGB, 2019, § 285 BGB, Rn. 37 und 41,



A. Normtextvereinbarkeit und Normzweckvereinbarkeit (Auslegung)295

entscheidung des § 285 BGB davon aus, dass der Gläubiger den Erlös als rechtsgeschäftliches Surrogat46 an sich ziehen kann. Zwar existiert in den Gesetzesmaterialien47 keine explizite Stellungnahme, ob mit dieser Regelung48 der Mehrerlös abgeschöpft werden könne. Implizit kann dies aber aus der Äußerung abgeleitet werden, dass § 285 BGB dem Gläubiger ein Recht gebe, „dessen Begründung schon im Schuldverhältnisse auf die […] unmöglich gewordene Leistung zu finden“ sei.49 Im Schuldverhältnis angelegt ist nämlich nicht nur der Erwerb des Leistungsgegenstands; es vermittelt vielmehr auch die in ihm enthaltenen Potenziale wie eine Wertsteigerung oder einen merkantilen Mehrwert.50 Der Erlös ist insoweit gerade der Beleg, dass dieser Preis für den Leistungsgegenstand am Markt tatsächlich erzielt werden konnte. Ist der herrschenden Ansicht infolgedessen zuzustimmen, dass gem. § 285 Abs. 1 BGB ein Mehrerlös herauszugeben ist,51 wenn der Gläubiger der den Anspruch zwar auf Erlösherausgabe richtet, ihn allerdings auf den Gläubigerschaden begrenzen möchte. 46  Siehe zum rechtsgeschäftlichen Surrogat als „commodum ex negotiatione“ oder „commodum ex negotiatione cum re“: Medicus/Lorenz, Schuldrecht I, 2015, Rn. 424. 47  Näher zur Arbeit mit den Gesetzesmaterialien in diesem Fall: BGH, Urt. v. 10. 05. 2006 – XII ZR 124/02, BGHZ 167, 312, 317 f. 48  § 238 im ersten Entwurf, § 237 im zweiten Entwurf, § 275 in der Bundesratsvorlage, § 275 in der Reichstagsvorlage und § 281 im Bürgerlichen Gesetzbuch; siehe dazu: Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 25 (= Motive, S. 46). 49  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 25 (= Motive, S. 46). 50  Zur Möglichkeit, dass der Gewinn im Leistungsgegenstand bereits angelegt sein kann: Römer, AcP 119 (1921), 293, 319 ff.; Eichel/Fritzsche, NJW 2018, 3409, 3410; Dornis, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 285 BGB, Rn. 24, der dem Leistungsgegenstand insbesondere Wertsteigerungen und einen den Parteien selbst unbekannten Mehrwert zurechnet. 51  Weiterführend zur ökonomischen und rechtsvergleichenden Diskussion: Dornis, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 285 BGB, Rn. 76 ff. m. w. N., wonach vor allem im Common Law unter dem Gesichtspunkt des „efficient breach“ eine Beschränkung der Erlösherausgabe diskutiert wird. Ein Vertragsbruch könne demnach effizient sein und mit Vorteilen für die Gesamtwohlfahrt einhergehen, wenn es der Rechtsbruch wie beispielsweise im Fall des Zweitverkaufs ermögliche, dass der Verkäufer durch den Verkauf an den zweiten Käufer eine Nutzungssteigerung in Form eines Mehrerlöses erzielt, mit dem der Schaden des enttäuschten ersten Käufers überkompensiert werden könne. Da in diesem Fall eine optimale Ressourcenallokation erreicht werde, könne der Verkäufer den überschießenden Erlös behalten. Insoweit ist Dornis zuzustimmen, dass eine Beschränkung der Gewinnabschöpfung aber selbst aus Sicht der ökonomischen Analyse des Rechts keineswegs zwingend ist. Gelangt der Leistungsgegenstand in die Hände des Meistbietenden, ist die Ressourcenallokation hiermit bereits optimiert; unerheblich ist dann, wie der Erlös unter den anderen Beteiligten verteilt werde. Zuzustimmen ist ihm ferner darin, dass die Vernachlässigung des

296

Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

durch § 275 BGB mit dem Anspruch auf die Leistung ein relatives Recht verliert, muss dies aber erst recht gelten, wenn dem Gläubiger des § 816 Abs. 1 S. 1 BGB das Eigentum als stärkstes absolutes Recht der Rechts­ ordnung genommen wird.52 Weil eine andere Bewertung weder durch Wertungen des Verfassungsrechts noch des Unionsrechts geboten ist, ist der Nichtberechtigte nach dem gebotenen Normzweck dazu zu verpflichten, auch einen Mehrerlös herauszugeben. c) Ergebnis Die Erlösherausgabe ist mit dem Normtext und infolge der Wertung des gleichrangigen Rechts auch mit dem gebotenen Normzweck vereinbar. Weil keine Abweichung zwischen beiden bestehen und in der Folge keine Lücke nachgewiesen werden kann, führt die Auslegung zum Ziel; eine Rechtsfortbildung muss ausscheiden.

III. Wertung einer verfassungsrechtlichen Norm: Ehegatte des Mieters als Dritter 1. Problemaufriss Gem. § 540 Abs. 1 S. 1 BGB ist der Mieter ohne die Erlaubnis des Vermieters nicht berechtigt, den Gebrauch der Mietsache einem Dritten zu überGrundsatzes pacta sunt servanda weder aus rechtlicher noch aus ökonomischer Sicht erstrebenswert ist, weil sich ein Gläubiger wenig effizient durch Versicherungen oder Sicherungsgeschäfte gegen den Leistungsausfall absichern müsste. Letztlich kann die Klärung dieser Fragestellung aber dahinstehen, da sich die Fallgestaltung des „efficient breach“ von der hier diskutierten grundlegend unterscheidet. Im ersten Fall wird der Verkäufer durch den ersten Kaufvertrag nicht in seiner Verfügungsmacht beschränkt, sodass er als Berechtigter auch nach Vertragsschluss frei entscheiden kann, wem er die eigene Rechtsposition überträgt, die nach wie vor seinem Vermögen angehört. Anders gestaltet sich die Situation im zweiten Fall. Hier hat der Nichtberechtigte keine Verfügungsmacht, sondern greift in fremdes Vermögen ein, um über eine fremde Rechtsposition zu verfügen, was ihm allein deshalb gelingt, weil der Erwerber noch schutzwürdiger erscheint als der ursprüngliche Eigentümer. 52  Zu einem ähnlichen Gedanken bereits: Schulz, AcP 115 (1909), 1, 12 f., der dieses Argument indes in umgekehrter Weise bemühen wollte und es als „schwere[n] Fehler der bisherigen Theorie […] [ansah], daß sie zur Interpretation des § 281 [heute: § 285 BGB] nicht die verwandten Fälle herangezogen hat [wie] […] § 816, beim Eingriff ins Eigentum, […] [bei dem] die Herausgabe des Kaufpreises fast ausdrücklich vorgeschrieben“ sei; referierend dazu auch: Dornis, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 285 BGB, Rn. 8.



A. Normtextvereinbarkeit und Normzweckvereinbarkeit (Auslegung)297

lassen. Weil im Gesetzestext Mieter, Vermieter und Dritte genannt sind, wäre bei einem engen Normtextverständnis jede Person als Dritter anzusehen, die nicht Mieter oder Vermieter ist. Da dies zur Folge hätte, dass der Mieter die Erlaubnis des Vermieters einholen müsste, um seinen Ehegatten dauerhaft in die Mietwohnung aufzunehmen, ist nach allgemeiner Auffassung53 eine Begrenzung des § 540 Abs. 1 S. 1 BGB vonnöten. Zweifelhaft ist aber, ob diese Einschränkung noch durch Auslegung erreicht werden kann oder der Gesetzestext im Wege der Rechtsfortbildung verändert werden muss. Letzteres wäre der Fall, wenn Normtext und gebotener Normzweck mit Blick auf den Ehegatten voneinander abweichen. 2. Lösung a) Normtextanalyse In der Normtextanalyse ist im Ausgangspunkt zu konstatieren, dass unter „Dritte“, die in der Gesetzesformulierung neben Mieter und Vermieter so bezeichnet sind, rein sprachlich scheinbar jede Person fällt, die nicht Mieter oder Vermieter ist.54 Soweit der Ehegatte des Mieters nicht selbst als Vertragspartei am Mietverhältnis beteiligt ist, muss er zumindest im Rahmen der Evidenzkontrolle als Dritter im Sinne des § 540 BGB begriffen werden, da die Gesetzesformulierung für beteiligte Personen dem ersten Anschein nach nur drei Kategorien kennt. Ist der Ehegatte weder „Vermieter“ noch „Mieter“, muss er „Dritter“ sein. Obwohl die gesetzliche Formulierung bei isolierter Betrachtung ein solches Verständnis nahelegt, ist die Normtextgrenze aber erst dann überschritten, wenn der Sachverhalt mit dem weitesten geltungszeitlichen und fachsprachlichen Textverständnis unvereinbar ist. Zieht man zur weiteren Untersuchung in der Referenzkontrolle Grimms Deutsches Wörterbuch zurate, zeigt sich, dass mit der Bezeichnung Dritter

53  In st. Rspr. z. B. BGH, Beschl. v. 14. 07. 1993 – VIII ARZ 1/93, BGHZ 123, 233, 238; BGH, Urt. v. 05. 11. 2003 – VIII ZR 371/02, BGHZ 157, 1, 5 (obiter dictum); BGH, Urt. v. 12. 06. 2013 – XII ZR 143/11, NJW 2013, 2507; BayObLG, Beschl. v. 14. 09. 1983 – ReMiet 8/82, BayObLGZ 1983, 228, 230; Scheuch, in: HkBGB, 2019, § 540 BGB, Rn. 2; Bieber, in: MünchKomm-BGB, Band 5, 2020, § 540 BGB, Rn. 5; Oechsler, Vertragliche Schuldverhältnisse, 2017, Rn. 827; Oetker/ Maultzsch, Vertragliche Schuldverhältnisse, 2018, § 5 Rn. 102; Looschelders, Schuldrecht Besonderer Teil, 2020, § 22 Rn. 62. 54  Konsequent insoweit: BGH, Urt. v. 05. 11. 2003 – VIII ZR 371/02, BGHZ 157, 1, 5: „Daher ist zunächst jede Person, die nicht Partei des Mietvertrags ist, „Dritter“ im Sinne des § 540 BGB“; BGH, Urt. v. 11. 11. 2009 – VIII ZR 294/08, NJW-RR 2010, 306, 307.

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Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

„ein anderer, fremder, unbetheiligter“ verstanden wird.55 Interessant ist hieran, dass sich die sprachliche Unterscheidung von „Betheiligten oder Unbetheiligten“ auch an anderer Stelle in den Gesetzesmaterialien zum Begriff des Dritten in § 123 Abs. 2 BGB findet.56 Hierzu ist im juristischen Fachsprachgebrauch anerkannt, dass eine Person kein Dritter ist, wenn sie im Lager der Vertragspartei steht,57 wofür eine tatsächlich enge Beziehung als ausreichend erachtet wird.58 Wenngleich diese Begriffsbildung systematisch eine andere Fragestellung berührt, verdeutlicht sie, dass es der Fachsprachgebrauch gestattet, vermeintlich dritte Personen semantisch der Sphäre einer anderen Person zuzurechnen. Dass diese Überlegung auch auf das Mietrecht übertragen werden kann, zeigt der Zusatz in § 540 Abs. 1 S. 1 BGB, der präzisiert, dass eine Gebrauchsüberlassung an Dritte insbesondere meint, die Mietsache „weiter zu vermieten“. Eine Weitervermietung findet aber so lange nicht statt, wie der Mieter die Mietsache für sich verwendet, den Gebrauch also nicht weiterreicht. Solange es zum Eigengebrauch des Mieters gehört, die Wohnung gemeinsam mit seinem Ehegatten zu nutzen, wird der Gebrauch folglich nicht einem Dritten überlassen. Ein Indiz für diese Sprachverwendung bietet zuletzt auch der historische Kontext der Normtextgestaltung. Während der Vorarbeiten zum Bürgerlichen Gesetzbuch war es nämlich selbstverständlich, dass ein Ehemann zusammen mit seiner Ehefrau ein Miet­ objekt bewohnt, wenngleich nur er Partei des Mietvertrags wurde.59 Verheiratete Frauen waren im Deutschen Kaiserreich je nach anwendbarem Recht60 häufig sogar in ihrer Geschäftsfähigkeit beschränkt oder in anderer Weise von der Zustimmung des Ehemanns abhängig61 und damit nicht in der Lage, ohne dessen Mitwirkung Mietpartei zu werden. Auch dies spricht für einen

55  Grimm/Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 2, Sp. 1422; online verfügbar unter www.dwb.uni-trier.de (zuletzt abgerufen am 01. 12. 2020). 56  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band, 1899, S. 466 (= Motive, S. 206). 57  Armbrüster, in: MünchKomm-BGB, Band 1, 2018, § 123 BGB, Rn. 71. 58  In st. Rspr. z. B. BGH, Urt. v. 17. 04. 1986 – III ZR 246/84, NJW-RR 1987, 59, 60; BGH, Urt. v. 01. 06. 1989 – III ZR 261/87, NJW 1989, 2879, 2880; BGH, Urt. v. 20. 11. 1995 – II ZR 209/94, NJW 1996, 1051. 59  Nienhaus, GG 1981, 309, 312, wonach „alle verheirateten Frauen nach den Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts [bis 1900] männlicher Vormundschaft [unterstanden], ohne deren Einwilligung sie keinen Arbeits- und Mietvertrag eingehen durften.“ 60  Siehe zur Zersplitterung des Privatrechts vor Inkrafttreten des BGB: Wesel, Geschichte des Rechts in Europa, 2010, S. 479 ff. 61  Referierend zur dieser Rechtslage: Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, IV. Band, 1899, S. 65 (= Motive, S. 117).



A. Normtextvereinbarkeit und Normzweckvereinbarkeit (Auslegung)299

„verlängerten Eigengebrauch“62 des Mieters, der die Kategorie des „Dritten“ zurückdrängt und es so ermöglicht, den Ehegatten aus dem Erlaubnisvorbehalt auszuschließen. Im Rahmen der Referenzkontrolle gelangt man in der Folge zu einer Verständnisvariante, die den Ehegatten des Mieters nicht als Dritten versteht. Da Evidenz- und Referenzkontrolle zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, ist die Konvergenzkontrolle anzuschließen, in der positive Kandidaten der Bezeichnung „Dritter“ in ihrer Merkmalstruktur untersucht werden, um aus ihnen konstitutive Bedingungen abzuleiten. Besonders geeignet ist hierfür die Weitervermietung an den Dritten, die als positiver Kandidat im Normtext des § 540 Abs. 1 S. 1 BGB genannt ist. Aus ihr kann für den Dritten als begriffsprägend herausgelöst werden, dass dem Untermieter die Mietsache zum eigenverantwortlichen (Mit-)Gebrauch überlassen wird. Umgekehrt wäre eine Person nicht als Dritter zu qualifizieren, wenn die Gebrauchsüberlassung an sie als vertragsgemäßer Eigengebrauch des Mieters zu werten ist. Nutzt der Mieter die Mietsache selbst, indem er sie mit Personen teilt, mit denen er einen gemeinsamen Haushalt bildet, sind diese ihm zuzurechnen und nicht als von ihm zu unterscheidende Dritte aufzufassen.63 Ebenso zählt es zum vertragsmäßigen Eigengebrauch, wenn der Mieter Bekannte zum Abendessen in die Mietwohnung einlädt, dort punktuell Übernachtungsgäste aufnimmt oder Stauraum für fremdes Eigentum zur Verfügung stellt. Anders ist dies indes, wenn der Mieter die Wohnung vermietet oder den Gebrauch anderen derart überlässt, dass sie den Mieter zumindest teilweise von der Nutzung ausschließen können. Weil in diesem Fall von einer eigenen (Mieter-)Nutzung nicht mehr gesprochen werden kann, können diese Personen auch begrifflich nicht dem „Mieter“ zugerechnet werden und müssen folglich „Dritte“ sein. Insoweit kann aus den Anwendungsfällen als hinreichende Bedingung ermittelt werden, dass die Nutzung der Mietsache durch „Nicht-Dritte“ vom vertragsgemäßen Gebrauch des Mieters gedeckt ist, während bei der Nutzung durch „Dritte“ ein vertragsgemäßer Gebrauch des Dritten vorliegt. Infolgedessen ist es keineswegs zwingend, den Normtext so zu verstehen, dass alle Personen der Kategorie des „Dritten“ angehören, die weder Mieter noch Vermieter und damit nicht Vertragspartei des Mietverhältnisses sind. Stattdessen konnte ein Fachsprachverständnis herausgearbeitet werden, nach dem der Ehegatte als „Nicht-Dritter“ dauerhaft in die Mietwohnung aufgenommen werden kann, ohne dass der Mieter nach § 540 BGB die Erlaubnis des Vermieters einholen müsste. Begriff: Weber, in: BeckOK-Mietrecht, 2020, § 540 BGB, Rn. 7. Ergebnis ebenso: Emmerich, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 540 BGB, Rn. 14.

62  Zum 63  Im

300

Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

b) Normzweckanalyse Ist die geforderte Einschränkung für Ehegatten damit ohne sprachliche Normtextanpassung realisierbar, ist in der Normzweckanalyse zu untersuchen, ob der Ehegatte nach dem gebotenen Normzweck dem Erlaubnisvorbehalt des § 540 BGB unterstehen soll. Hierfür ist zunächst die Wertung der Einzelnorm zu betrachten. Weil in den Gesetzesmaterialien die Regelungsabsicht indes nicht explizit mitgeteilt wurde, muss unter Einbezug grammatischer, historischer und systematischer Erwägungen ermittelt werden, was der Gesetzgeber bezweckt hatte. Wenig ergiebig ist hierfür der Wortlaut, der wie gezeigt mehrere Deutungen zulässt. Entstehungsgeschichtlich ist bedeutsam, dass sich die vorhandenen Äußerungen in den Gesetzesmaterialien auf die Untermiete konzentrieren.64 Dies kann als Indiz verstanden werden, dass die Bestimmung nach ihrem Regelungsgehalt allein für Fälle gelten soll, die der Untermiete strukturell ähnlich sind, was dafür sprechen könnte, den Ehegatten wertungsmäßig nicht als Dritten einzustufen. Dem steht der Umstand gegenüber, dass in Abweichung von der ursprünglichen Fassung im zweiten Entwurf der vermieterschützende Erlaubnisvorbehalt aufgenommen wurde.65 Dies legt umgekehrt nahe, dass die Interessen des Vermieters stärker gewichtet werden sollten, was mit sich bringen könnte, auch den Ehegatten als Dritten zu begreifen. In diese Richtung deuten die Materialien auch an anderer Stelle, wonach die „Person des Miethers […] für den Abschluß und die Bedingungen des Mietvertrages von entscheidender Bedeutung [sei] […] [und] der Vermiether ein erhebliches Interesse daran ha[be], nicht die Ueberlassung des Gebrauches an einen Anderen gegen seinen Willen dulden zu müssen.“66 In Anbetracht der vermieterschützenden Zwecksetzung scheint daher eher 64  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 220 ff. (= Motive, S. 395 ff.). 65  Hierzu mit Synopse der Vorgängervorschriften von § 540 BGB: Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. LXXII; abweichend vom ersten Entwurf [„Sofern nicht ein Anderes vereinbart ist, steht dem Miether das Recht zu, einem Anderen den vertragsmäßigen Gebrauch der gemietheten Sache zu überlassen, insbes. auch durch weiteres Vermiethen (Untermiethe)“] wurde ab dem zweiten Entwurf [„Der Miether ist nicht berechtigt, den Gebrauch der gemietheten Sache ohne Erlaubniß des Vermiethers einem Dritten zu überlassen, insbes. die Sache weiter zu vermiethen (Untermiethe)“] ein Erlaubnisvorbehalt aufgenommen, der den Regelfall zugunsten des Vermieters beeinflusst; siehe zur Fassung des § 540 BGB, der § 549 Abs. 1 und 3 BGB fortführt, ohne dass damit inhaltliche Änderungen verbunden waren: BT-Drucks. 14/4553, S. 43. 66  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 1250 (= Denkschrift, S. 69).



A. Normtextvereinbarkeit und Normzweckvereinbarkeit (Auslegung)301

gewollt, dass der Ehegatte Dritter ist, da dies dem Schutz des Vermieters besser dient. Obwohl dieser Gedanke nicht zwingend auf den Fall passt, in dem der Mieter die Mietsache in Ausübung des Eigengebrauchs mit seinem Ehegatten gemeinsam nutzt, ist mangels weiterer Erkenntnisse aus der Systematik im Zweifel ein isolierter legislativer Normzweck anzunehmen, der dem Vermieterschutz verpflichtet ist. Mit § 540 Abs. 1 BGB soll der Vermieter ein Mittel der Einflussnahme erhalten, um einerseits Kenntnis zu erlangen und andererseits intervenieren zu können, wenn die Mietsache durch Personen genutzt wird, die der Vermieter nicht als Vertragspartei akzeptiert hat.67 Insoweit müsste der Ehegatte bei isolierter Betrachtung der Einzelnorm als Dritter gelten, soweit er nicht selbst Vertragspartei des Mietverhältnisses ist. Eine andere Beurteilung könnte sich indes aus den Wertungen des gleichrangigen Rechts ergeben. In Betracht kommt § 1353 Abs. 1 S. 2 Hs. 1 BGB, dem die herrschende Ansicht entnimmt, dass eine eheliche Lebensgemeinschaft ein Zusammenleben in häuslicher Gemeinschaft umfasst.68 Ob eine zwischen Ehegatten bestehende Pflicht zu häuslicher Gemeinschaft überhaupt in der Lage ist, auf die vermieterschützende Vorschrift des § 540 Abs. 1 BGB einzuwirken, kann im Ergebnis aber dahinstehen, weil die häusliche Gemeinschaft zwar den Regelfall bildet, aber keineswegs verpflichtend ist.69 Eine eheliche Gemeinschaft setzt nicht mehr voraus, dass eine gemeinsame Wohnung besteht; stattdessen können sich die Ehegatten auch für getrennte Lebensbereiche entscheiden.70 Eine zwingende Vorgabe ist § 1353 BGB nicht zu entnehmen. Ob dieser Regelung dennoch die gesetzgeberische Wertung entnommen werden kann, dass Ehegatten typischerweise einen gemeinsamen Wohnsitz haben, kann ebenfalls offenbleiben. Denn selbst wenn dies so wäre, könnte eine Regelung, die allein das Innenverhältnis der Ehegatten zum Gegenstand hat, im Außenverhältnis zum Vertragspartner eines Ehegatten nicht in eine Bestimmung eingreifen, die in erster Linie den Schutz des Vertragspartners bezweckt. Ein anderes Ergebnis könnte aber mit Blick auf die Wertungen des Verfassungsrechts geboten sein. Entscheidend ist hierfür Art. 6 Abs. 1 GG, der die 67  Zur Möglichkeit der Einflussnahme: Oetker/Maultzsch, Vertragliche Schuldverhältnisse, 2018, § 5 Rn. 99. 68  BGH, Urt. v. 11. 02. 1987 – IVb ZR 15/86, NJW 1987, 1761, 1762; BGH, Urt. v. 13. 12. 1989 – IVb ZR 79/89, NJW 1990, 1847, 1849; Hahn, in: BeckOK-BGB, 2020, § 1353 BGB, Rn. 6. 69  BGH, Urt. v. 24. 10. 2001 – XII ZR 284/99, NJW 2002, 217, 219 (obiter dictum); Hahn, in: BeckOK-BGB, 2020, § 1353 BGB, Rn. 6. 70  BGH, Urt. v. 24. 10. 2001 – XII ZR 284/99, NJW 2002, 217, 219 (obiter dictum).

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Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

Ehe unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt. Hiermit einher geht nicht nur das Verbot des Staates, die Ehe zu beeinträchtigen, sondern auch das ihn treffende Gebot,71 sie zu fördern und vor Einwirkungen zu schützen.72 Zwar ist der Vermieter nicht unmittelbar an den grundrecht­ lichen Eheschutz gebunden. Eine mittelbare Wirkung erreicht ihn aber dadurch, dass sich aus der Privatrechtsordnung keine Rechtsfolgen ergeben dürfen, die gegen Art. 6 Abs. 1 GG verstoßen. Problematisch ist insoweit, dass der Erlaubnisvorbehalt in § 540 Abs. 1 S. 1 BGB für die Aufnahme des anderen Ehegatten einen unverhältnismäßigen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 BGB bedeuten würde. Zwar ist die vermieterschützende Zielsetzung des § 540 BGB ein legitimer Zweck, in dem die verfassungsrechtlichen Belange des Vermieters aus Art. 14 GG bereits Berücksichtigung gefunden haben. Ferner ist der Erlaubnisvorbehalt des § 540 BGB geeignet und erforderlich, um dieser Zwecksetzung zur Geltung zu verhelfen. Die Regelung ist jedoch unangemessen, weil sie bedeuten würde, dass die Verwirklichung der häuslichen Gemeinschaft als Bestandteil der ehelichen Lebensgemeinschaft an die Erlaubnis einer Person geknüpft wird, die außerhalb der ehelichen Beziehung steht. Dadurch würde ein grundrechtlich geschützter Freiheitsausschnitt, der zum Kernbereich der Ehe des Mieters gehört,73 zur Disposition des Vermieters gestellt. Weil dieser Missstand auch nicht durch das Sonderkündigungsrecht in § 540 Abs. 1 S. 2 BGB abgeschwächt werden kann, ist es geboten, § 540 Abs. 1 S. 1 BGB im Lichte von Art. 6 Abs. 1 GG verfassungskonform so zu verstehen, dass Ehegatten aus dem Erlaubnisvorbehalt und aus dem Begriff des Dritten ausgeschlossen werden.74 71  Unabhängig von der allgemeinen Schutzpflichtdogmatik ergibt sich der „besondere Schutzauftrag bereits unmittelbar aus dem Normtext des Art. 6 Abs. 1 GG: von Coelln, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 6 GG, Rn. 19. 72  Zum Benachteiligungsverbot und Förderungsgebot: BVerfG, Beschl. v. 17. 01. 1957 – 1 BvL 4/54 – Steuersplitting, BVerfGE 6, 55, 76; BVerfG, Urt. v. 07. 07. 1992 – 1 BvL 51/86, 50/87 und 1 BvR 873/90, 761/91, BVerfGE 87, 1, 35; BVerfG, Urt. v. 17. 07. 2002 – 1 BvF 1, 2/01 – Lebenspartnerschaftsgesetz, BVerfGE 105, 313, 346; von Coelln, in: Sachs, GG-Kommentar, 2018, Art. 6 GG, Rn. 19; Uhle, in: BeckOK-GG, 2020, Art. 6 GG, Rn. 20; Kloepfer, Verfassungsrecht II, 2010, § 67 Rn. 25. 73  Robbers, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar, Band 1, 2018, Art. 6 GG, Rn. 73, wonach mit der „ehelichen Lebensgemeinschaft […] ein weiterer verfassungsrechtlich gewährleisteter Kerngehalt der Ehe benannt“ ist; im Ergebnis wohl ebenso: Uhle, in: BeckOK-GG, 2020, Art. 6 GG, Rn. 6, wonach es gerade die „eheliche Lebensgemeinschaft, deretwegen eine Ehe geschlossen wird“. 74  BGH, Beschl. v. 14. 07. 1993 – VIII ARZ 1/93, BGHZ 123, 233, 238, wenngleich der VIII. Zivilsenat betont, dass dies nur bis zur Grenze der Überbelegung gilt; BGH, Urt. v. 05. 11. 2003 – VIII ZR 371/02, BGHZ 157, 1, 5 (obiter dictum); BGH, Urt. v. 12.  06.  2013 – XII ZR 143/11, NJW 2013, 2507; BayObLG, Beschl. v. 14. 09. 1983 – ReMiet 8/82, BayObLGZ 1983, 228, 230; Scheuch, in: Hk-BGB,



A. Normtextvereinbarkeit und Normzweckvereinbarkeit (Auslegung)303

Abweichend von der Wertung der Einzelnorm folgt damit aus dem höherrangigen Verfassungsrecht, dass die Aufnahme des Ehegatten nicht dem Erlaubnisvorbehalt unterliegt. Weil die Wertungen des Unionsrechts in dieser Hinsicht keine andere Bewertung rechtfertigen, kann der Ehegatte nach dem gebotenen Normzweck ohne Zustimmung des Vermieters in das Mietobjekt dauerhaft aufgenommen werden. c) Ergebnis In der Folge dürfen Ehegatten eine von nur einem gemietete Wohnung ohne Erlaubnis des Vermieters dauerhaft bewohnen. Weil der Ehegatte aufgrund von Wertungen des Verfassungsrechts nicht vom Normzweck des Erlaubnisvorbehalts erfasst wird und er – ohne gegen die Normtextgrenze zu verstoßen – ausgeschlossen werden kann, ist dieses Ergebnis durch eine einschränkende Auslegung des § 540 Abs. 1 BGB zu realisieren. Eine Rechtsfortbildung in Form der teleologischen Reduktion ist unnötig und in der Folge nicht gestattet, da der Normtext und der gebotene Normzweck übereinstimmend einen Ausschluss gebieten.

IV. Wertung einer unionsrechtlichen Norm: Geldschuld als Bringschuld im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen 1. Problemaufriss Geld hat der Schuldner gem. § 270 Abs. 1 BGB im Zweifel auf seine Gefahr und Kosten an den Wohnsitz des Gläubigers zu übermitteln. Dass Zahlungsort und Leistungsort nicht notwendigerweise übereinstimmen müssen, lässt § 270 Abs. 4 BGB erkennen, der zur Bestimmung des Leistungsorts auf die allgemeinen Vorschriften hierzu verweist. Infolgedessen ist der Ort der Leistungshandlung75 auch für die Geldschuld aus § 269 Abs. 1 BGB abzuleiten. Hiernach ist die Leistung grundsätzlich am Wohnsitz des Schuld2019, § 540 BGB, Rn. 2; Bieber, in: MünchKomm-BGB, Band 5, 2020, § 540 BGB, Rn. 5; Wiederhold, in: BeckOK-BGB, 2020, § 540 BGB, Rn. 4; Oechsler, Vertragliche Schuldverhältnisse, 2017, Rn. 827; Oetker/Maultzsch, Vertragliche Schuldverhältnisse, 2018, § 5 Rn. 102; Looschelders, Schuldrecht Besonderer Teil, 2020, § 22 Rn. 62. 75  Siehe zu dieser Begriffsbestimmung des Leistungsorts: Unberath/Cziupka, JZ 2008, 867; Bittner/Kolbe, in: Staudinger, BGB, 2019, § 269 BGB, Rn. 2; Krüger, in: MünchKomm-BGB, Band 2, 2019, § 269 BGB, Rn. 2; implizit auch: Gsell, JZ 2011, 988, 989 ff.

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Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

ners76 zu erbringen, soweit ein Leistungsort nicht bestimmt und auch aus den Umständen, insbesondere der Natur des Schuldverhältnisses, nicht zu entnehmen ist. Ist die Leistungshandlung im Zweifel am Wohnsitz des Schuldners vorzunehmen, steht § 269 Abs. 1 BGB, soweit sein Inhalt anzuwenden ist, einer Bringschuld entgegen, lässt aber eine Hol- oder Schickschuld zu.77 Im Gegensatz zur Bringschuld ist die Leistungshandlung bei den anderen beiden Schuldarten nämlich am Wohnsitz des Schuldners vorzunehmen.78 Weil das geschuldete Geld gem. § 270 Abs. 1 BGB an den Wohnsitz des Gläubigers zu übermitteln ist und dort ihr Erfolgsort liegt, scheidet eine Holschuld in diesen Konstellationen aus. Die Geldschuld wird nach alledem von der herrschenden Meinung als qualifizierte Schickschuld eingeordnet.79 Wegen § 270 Abs. 1 BGB habe der Schuldner die Gefahr des zufälligen Untergangs, anders als bei einer Bringschuld aber nicht das Risiko zufälliger Verspätungen zu tragen.80 Aus diesem Grund genüge die rechtzeitige Absendung am Wohnsitz des Schuldners als Leistungshandlung, um den Verzugseintritt auszuschließen.81 Im Anwendungsbereich der Zahlungsverzugsricht­ linie82 erscheint diese zum originären deutschen Recht vertretene Ansicht nun aber zweifelhaft, da ihr Art. 3 Abs. 1 lit. b bestimmt, dass der Gläubiger „im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen […] Anspruch auf Verzugszinsen hat, ohne dass es einer Mahnung bedarf, wenn […] der Gläubiger […] den fälli76  Maßgeblich ist der Wohnsitz des Schuldners zur Zeit der Entstehung des Schuldverhältnisses. 77  Krüger, in: MünchKomm-BGB, Band 2, 2019, § 269 BGB, Rn. 5. 78  Näher zur Hol-, Schick- und Bringschuld: Bernhard, JuS 2011, 9; Harke, Allgemeines Schuldrecht, 2010, Rn. 147. 79  Zur Geldschuld als „qualifizierte Schickschuld“: BGH, Urt. v. 07. 10. 1965 – II ZR 120/63, BGHZ 44, 178, 179 f. (implizit im obiter dictum); Gernhuber, Die Erfüllung und ihre Surrogate, 1994, S. 41 ff.; Simitis, AcP 159 (1960), 406, 454; Graf von Westphalen, BB 2000, 157, 162; Grundmann, WM 2000, 2269, 2283 f.; Krafka, MittBayNot 2011, 459, 461; Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Band I, 1987, S. 196; Medicus/Lorenz, Schuldrecht I, 2015, Rn. 159; Fikentscher/Heinemann, Schuldrecht, 2017, Rn. 284; referierend auch: Martens, JuS 2014, 200, 203; demgegenüber für die Qualifikation der Geldschuld als Bringschuld: Omlor, Geldprivatrecht, 2014, S. 322; Gsell, GPR 2008, 165, 169 ff.; Herresthal, ZGS 2008, 259, 260; Freitag, AcP 213 (2013), 128, 166; Fehrenbach, ZZP 129 (2016), 295, 312; Meier, JuS 2018, 940, 941; Harke, Allgemeines Schuldrecht, 2010, Rn. 149. 80  BGH, Urt. v. 07. 10. 1965 – II ZR 120/63, BGHZ 44, 178, 179 f. (obiter dictum); BGH, Urt. v. 05. 10. 2016 – VIII ZR 222/15, BGHZ 212, 140, 146; Simitis, AcP 159 (1960), 406, 454; Grundmann, WM 2000, 2269, 2283. 81  BGH, Urt. v. 07. 10. 1965 – II ZR 120/63, BGHZ 44, 178, 179 f. (obiter dictum); BGH, Urt. v. 05. 12. 1963 – II ZR 219/62, NJW 1964, 499; OLG Köln, Urt. v. 11. 01. 1990 – 7 U 51/89, NJW-RR 1990, 284, 285; Schwab, NJW 2011, 2833. 82  Richtlinie 2011/7/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr („Zahlungsverzugsrichtlinie“), ABl. EU v. 23. 02. 2011, L 48, S. 1 ff.



A. Normtextvereinbarkeit und Normzweckvereinbarkeit (Auslegung)305

gen Betrag nicht rechtzeitig erhalten“ hat.83 Vor diesem Hintergrund ist zu untersuchen, ob die Geldschuld als Bringschuld verstanden werden muss und ob dies noch durch Auslegung oder erst durch Fortbildung des nationalen Rechts realisiert werden kann. Dazu ist zu prüfen, ob der Normtext des § 269 Abs. 1 BGB vom gebotenen Normzweck abweicht. 2. Lösung a) Normtextanalyse In der Normtextanalyse ist hierfür zunächst zu ermitteln, ob die Qualifizierung der Geldschuld als Bringschuld mit dem Normtext in Einklang steht. Bei der Bringschuld liegt nämlich Erfolgsort und Leistungsort am Wohnsitz des Gläubigers.84 Soweit § 269 Abs. 1 BGB an den Wohnsitz des Schuldners anknüpft, lässt er sich aber nicht in diesem Sinne verstehen. Ebenso wenig bietet die Formulierung „Ort für die Leistung weder bestimmt“ hierfür einen Anhalt, da bei einer ausdrücklich vereinbarten Bringschuld unerheblich ist, was sich aus einer dispositiven Regelung ergibt. Möglich ist damit einzig, dass die Einordnung als Bringschuld „aus den Umständen, insbesondere aus der Natur des Schuldverhältnisses,“ zu entnehmen ist. Dabei erscheint es sprachlich denkbar, dass sich der Bringschuldcharakter aus der Natur der Geldschuld ableiten lässt (Evidenzkontrolle). So ergibt sich aus den amt­ lichen Überschriften von „Abschnitt 8. Einzelne Schuldverhältnisse“ und „Abschnitt 4. Erlöschen der Schuldverhältnisse“, dass das BGB das Schuldverhältnis sowohl in einem weiteren als auch in einem engeren Sinne versteht (Referenzkontrolle). Da das Schuldverhältnis im engeren Sinne den einzelnen Anspruch und die mit ihm korrespondierende Leistungspflicht einschließt, ist nach dieser Begriffsbestimmung die Geldleistungspflicht abstrakt erfasst. Insoweit ist vorstellbar, dass aus der „Natur des Geldschuldverhältnisses“ ein Leistungsort am Wohnsitz des Gläubigers und so ihr Charakter als Bringschuld folgt. Weil nach Evidenz und Referenz an der Normtextvereinbarkeit keine Zweifel bestehen und auch eine Konvergenzkontrolle kein anderes Ergebnis gebietet, ist festzuhalten, dass es rein semantisch möglich ist, den Leistungsort der Geldschuld als am Wohnsitz des Gläubigers belegen zu verstehen.

83  Hervorhebung

v. Verf. Bringschuld: Bernhard, JuS 2011, 9, 10; Harke, Allgemeines Schuldrecht, 2010, Rn. 147. 84  Zur

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Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

b) Normzweckanalyse In der Normzweckanalyse ist nun zu untersuchen, ob für eine Geldschuld auch nach dem gebotenen Normzweck ein Leistungsort am Wohnsitz des Gläubigers und hiermit ihr Bringschuldcharakter anzunehmen ist. Betrachtet man auf erster Stufe die Wertung der Einzelnorm, muss vor dem Hintergrund der bislang ganz herrschenden Meinung überraschen, dass der Gesetzgeber die Geldschuld ausweislich der Gesetzesmaterialien zum BGB dem Anschein nach als Bringschuld geplant hatte. In dieser Hinsicht wurde noch in den Motiven zur entsprechenden Regelung im ersten Entwurf85 betont, dass für „Geldschulden […] durch [sie] der heutigen Verkehrssitte entsprechend zugleich ausgesprochen [ist], daß sie regelmäßig Bringschulden sind.“86 Ferner wurde in den Protokollen kommentiert, dass der erste Entwurf „die Geldschuld als Bringschuld im vollen Sinne des Wortes gestaltet [habe], so daß der Ort, an welchem der Gläubiger […] seinen Wohnsitz hatte, der Leistungsort sein und als solcher den Gerichtsstand des Erfüllungsortes […] bestimmen“ solle.87 Insoweit wurde indes als bedenklich erachtet, dass ein Erfüllungsort am Wohnsitz des Gläubigers prozessual einen Gläubigergerichtsstand zur Folge hätte. Weil dies nicht gewollt war, wurde eine dem heutigen § 270 Abs. 4 BGB entsprechende Regelung aufgenommen, die mit missverständlicher Formulierung bestimmt, dass die Vorschriften über den Leistungsort unberührt bleiben und damit implizit für den Leistungsort der Geldschuld auf § 269 BGB verweist. Beabsichtigt war eine Formulierung, die sich an Art. 325 ADHGB orientierte, sodass durch die Regelung über die Geldschuld „(in Ansehung des Gerichtsstandes und in sonstiger Beziehung) der Leistungsort nicht bestimmt“ werde.88 Obwohl der Klammerzusatz im weiteren Verlauf aus redaktionellen Gründen gestrichen wurde,89 sollte wie auch mit der handelsrechtlichen Regelung ein Gläubigergerichtsstand des Erfüllungsorts vermieden werden.90 85  Der damalige § 230 im ersten Entwurf hatte Elemente aus beiden der heutigen § 269 BGB und § 270 BGB zum Gegenstand. Zur Synopse: Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. VI. 86  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 19 (= Motive, S. 36) [Hervorhebung v. Verf.]. 87  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 525 (= Protokolle, S. 614). 88  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 525 (= Protokolle, S. 614). 89  Meier, JuS 2018, 940, 944. 90  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 525 (= Protokolle, S. 614).



A. Normtextvereinbarkeit und Normzweckvereinbarkeit (Auslegung)307

Auch wenn die Beweggründe hinter dem ebenfalls gestrichenen Passus „und in sonstiger Beziehung“ nicht ausdrücklich mitgeteilt wurden, ist mit diesem Umstand kaum zu begründen, dass mit der Änderung der Formulierung eine Ausgestaltung der Geldschuld als qualifizierte Schickschuld einhergehen sollte. Hierfür spricht auch, dass der zuvor betonte Bringschuldcharakter nur in einem einzelnen Aspekt, aber wohl nicht insgesamt revidiert wurde. Implizit bestätigt das der Umstand, dass der BGB-Gesetzgeber die Notwendigkeit sah, eine Regelung aufzunehmen, um einen Gerichtsstand des Erfüllungsorts am Wohnsitz des Gläubigers abzuwenden.91 Hätte er die Geldschuld entgegen der ursprünglichen Konzeption im ersten Entwurf im weiteren Verlauf als qualifizierte Schickschuld verstehen wollen, wäre die Gerichtsstandregelung überflüssig gewesen, weil der ­Leistungsort in diesem Fall beim Schuldner läge und sich der Gerichtsstand des Erfüllungsorts in der Folge ohnehin am Wohnsitz des Schuldners befunden hätte. Weil der Gesetzgeber § 270 Abs. 4 BGB in der Absicht geschaffen hat, einen Gläubigergerichtsstand zu unterbinden, muss hierin wohl die konkludente Bestätigung gesehen werden, dass der Geldschuld nach wie vor ein Bringschuldcharakter zugeschrieben wurde. Auch wenn sehr gute Gründe in diese Richtung deuten, wird dem entgegengehalten, dass die Geldschuld bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts als qualifizierte Schickschuld behandelt werde und sich die Praxis hierauf eingestellt habe.92 Obwohl der bloße Verweis auf eine langjährige Rechtsprechungspraxis eine inhaltliche Begründung nicht ersetzen kann, ist vor diesem Hintergrund aber jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass der Gesetzgeber die Handhabung der Geldschuld durch die Rechtsprechung im Zuge der Schuldrechtsreform stillschweigend gebilligt hat. Auch wenn in den Gesetzesmaterialien zur Schuldrechtsmodernisierung hierfür keine konkreten Anhaltspunkte ersichtlich sind,93 kann es aber letztlich dahinstehen, ob die Geldschuld seit der Stellungahme zum ersten Entwurf durchgehend als Bringschuld verstanden werden sollte, wenn gleich- oder höherrangige Wertentscheidungen ohnehin ein derartiges Verständnis gebieten. Wertungen des gleichrangigen Rechts sind auf zweiter Stufe einzubeziehen. In Betracht kommt hierfür § 270 BGB, der in Abs. 4 zwar für den Leistungsort auf § 269 Abs. 1 BGB verweist, in seinem Abs. 1 aber die Wesensmerkmale der Geldschuld präzisiert und so Rückschlüsse auf die in § 269 91  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 524 f. (= Protokolle, S. 613 f.). 92  Döhmel, Der Leistungsort bei Rückabwicklung von Verträgen, 1997, S. 56 m. w. N. 93  Siehe hierzu die fehlenden Ausführungen zur Geldschuld: BT-Drucks. 14/6040, S. 126.

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Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

Abs. 1 BGB maßgebliche „Natur des Schuldverhältnisses“ gestattet. Der Geldschuldner trägt neben den Kosten für die Übermittlung – für eine Schickschuld untypisch – auch die Gefahr der Übermittlung. Während der „klassische“ Schickschuldner mit der Übergabe an die Transportperson das seinerseits Erforderliche getan hat und in der Folge nach § 243 Abs. 2 oder § 447 Abs. 1 BGB von der Gefahr des zufälligen Untergangs befreit wird, ist die Schickschuld im Falle von geschuldetem Geld nach herrschender Meinung „qualifiziert“, weil der Schuldner wegen § 270 Abs. 1 BGB nicht durch die Absendung frei wird. Für die Bestimmung der Schuldart ist aufgrund von § 269 Abs. 3 BGB zwar nicht allein entscheidend, dass der Geldschuldner gem. § 270 Abs. 1 BGB die Kosten der Übersendung trägt; wie bei der Bringschuld hat er aber in jedem Fall noch zusätzlich das Risiko der Übermittlung zu tragen. Erreicht die Zahlung den Gläubiger nicht, hat der Schuldner erneut zu leisten.94 Dass es sich trotz der zentralen Abweichung von der herkömmlichen Schickschuld bei Geld um eine qualifizierte Schickschuld und nicht um eine Bringschuld handeln soll, begründet die herrschende Auffassung damit, dass der Geldschuldner zwar das Risiko der Übermittlung, nicht aber das der Verspätung zu tragen habe.95 Konkret folgt daraus, dass der Verzug ausgeschlossen werde, wenn alle Schuldnerhandlungen vorgenommen wurden, um die Zahlung zu übermitteln.96 Anders als bei der Bringschuld sei die Leistungshandlung am Wohnsitz des Schuldners wie bei der Schickschuld verzugsausschließend, weil der Schuldner zwar gem. § 270 Abs. 1 BGB das Übermittlungsrisiko und die -kosten trage, der Leitungsort aber wegen §§ 270 Abs. 4, 269 Abs. 1 BGB am Wohnsitz des Schuldners verbleibe.97 Zweifelhaft erscheint hieran aber bereits die Grundannahme, da § 269 Abs. 1 BGB keineswegs stets den Wohnsitz des Schuldners zum Leistungsort erhebt. Die Leistungshandlung ist vielmehr nur dann auf den Sitz des Schuldners verlegt, wenn ein anderer Ort nicht bestimmt ist und sich auch nicht aus den Umständen wie der Natur des Schuldverhältnisses ergibt. Obwohl sich die herrschende Meinung insoweit schon auf eine zweifelhafte Annahme stützt, lässt sich auf dieser Stufe festhalten, dass die Wertung des § 270 Abs. 4 BGB weder geeignet ist, den Charakter der Geldschuld als qua94  Schwab, NJW 2011, 2833; Meier, JuS 2018, 940, 941; Harke, Allgemeines Schuldrecht, 2010, Rn. 148. 95  BGH, Urt. v. 07. 10. 1965 – II ZR 120/63, BGHZ 44, 178, 179 f. (obiter dictum); Simitis, AcP 159 (1960), 406, 454; Graf von Westphalen, BB 2000, 157, 158; Grundmann, WM 2000, 2269, 2283 f.; Fikentscher/Heinemann, Schuldrecht, 2017, Rn. 284; ebenso ohne dies ausdrücklich Verspätungsrisiko zu nennen: Schwab, NJW 2011, 2833. 96  BGH, Urt. v. 07. 10. 1965 – II ZR 120/63, BGHZ 44, 178, 179 f. (obiter dictum); BGH, Urt. v. 05. 12. 1963 – II ZR 219/62, NJW 1964, 499; Schwab, NJW 2011, 2833. 97  So explizit: Schwab, NJW 2011, 2833.



A. Normtextvereinbarkeit und Normzweckvereinbarkeit (Auslegung)309

lifizierte Schickschuld zu begründen noch den als Bringschuld zu widerlegen. Während auf dritter Stufe Wertungen des Verfassungsrechts nicht ersichtlich sind, müssen auf vierter die Wertungen des Unionsrechts Berücksichtigung finden, die hier mit Blick auf den gebotenen Normzweck letzte Zweifel ausräumen können. Im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen ist gem. Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Nr. 1 der Anwendungsbereich der Zahlungsverzugsrichtlinie eröffnet und dort die Bestimmung des Art. 3 Abs. 1 lit. b zu beachten, der vorsieht, dass der Gläubiger einen „Anspruch auf Verzugszinsen hat […], wenn […] [er] […] den fälligen Betrag nicht rechtzeitig erhalten [hat], es sei denn, dass der Schuldner für den Zahlungsverzug nicht verantwortlich ist.“98 Weil hiernach erst der Eingang der Zahlung beim Gläubiger Verzugszinsen ausschließt und den Schuldnerverzug an sich beendet, kann das rechtzeitige Absenden unionsrechtlich nicht genügen, um verzugsausschließend zu wirken. Hat der Schuldner folglich nicht nur das Übermittlungsrisiko, sondern auch das Verspätungsrisiko zu tragen,99 ist der herrschenden Deutung der Geldschuld als qualifizierte Schickschuld in jedem Fall die Grundlage entzogen. Wenngleich gelegentlich vertreten wird,100 die Richtlinienkonformität könne über eine Modifikation der Verzugsvoraussetzungen hergestellt werden, ist dem richtigerweise entgegenzutreten. In dieser Hinsicht verweist Art. 3 Abs. 1 lit. b a. E. der Richtlinie lediglich auf das Erfordernis des Vertretenmüssens, das sich im deutschen Recht in § 286 Abs. 4 BGB findet.101 Das beeinflusst die Schuldart aber für sich genommen nicht. Die auch vom BGH favorisierte Lösung, wonach an der qualifizierten Schickschuld festgehalten werden soll, würde es hingegen erfordern, hergebrachte Überzeugungen zum Verzugsrecht aufzugeben, weil für den Nichteintritt des Verzugs dann nicht mehr die Leistungshandlung, sondern für die Geldschuld systemwidrig der Leistungserfolg nötig wäre.102

98  Hervorhebung v. Verf.; so bereits zur alten Zahlungsverzugsrichtlinie: EuGH, Urt. v. 03.  04.  2008 – Rs. C‑306/06 – Telecom GmbH/Deutsche Telekom AG, ECLI:EU:C:2008:187, Rn. 28, wonach maßgeblich, um „keine Verzugszinsen […] zu zahlen sind, der Zeitpunkt [sei], zu dem der geschuldete Betrag auf dem Konto des Gläubigers gutgeschrieben wird.“ 99  Meier, JuS 2018, 940, 941. 100  Nach wie vor für eine qualifizierte Schickschuld: BGH, Urt. v. 05. 10. 2016 – VIII ZR 222/15, BGHZ 212, 140, 146 f.; zu Recht ablehnend: Meier, JuS 2018, 940, 941; gleichwohl an der bislang herrschenden Schickschuldposition festhaltend: Schwab, NJW 2011, 2833, 2835; Medicus/Lorenz, Schuldrecht I, 2015, Rn. 159; Looschelders, Schuldrecht Allgemeiner Teil, 2020, § 12 Rn. 19 f. 101  Meier, JuS 2018, 940, 941. 102  Schwab, NJW 2011, 2833, 2834 und 2838.

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Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

Gibt die Zahlungsverzugsrichtlinie daher zwingend als Richtlinienziel vor, dass der Schuldnerverzug allein durch den rechtzeitigen Zahlungseingang verhindert wird, ist es unumgänglich, die Geldschuld als Bringschuld zu charakterisieren. Um dem Rechnung zu tragen, ist mit Blick auf die euro­ päische Vorgabe eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Umsetzungsgesetzes geboten. Auch wenn die richtlinienkonforme Rechtsanwendung aufgrund der zweistufigen Ausgestaltung der Richtlinie ihre Grenzen im (allein unmittelbar anzuwendenden) nationalen Recht findet,103 steht ein nationaler Legislativwille dem Bringschuldcharakter der Geldschuld wie gezeigt nicht entgegen,104 sodass sie sich kohärent in das nationale Recht einfügt. Nachdem ein gebotener Normzweck festgestellt werden konnte, der den Leistungsort am Wohnsitz des Gläubigers fordert, ist die Qualifizierung der Geldschuld als Bringschuld auch von ihm gedeckt. c) Ergebnis Jedenfalls105 im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen ist die Geldschuld damit sowohl nach dem Normtext des (§ 270 Abs. 4 i. V. m.) § 269 Abs. 1 BGB als auch nach dem gebotenen Normzweck als Bringschuld106 zu qualifizieren, wobei letzte Zweifel durch eine Wertung des Unionsrechts ausgeräumt werden konnten. Weil Normtext und gebotener Normzweck die-

103  EuGH, Urt. v. 10. 04. 1984 – Rs. 14/83 – von Colson und Kamann/Land Nordrhein-Westfalen, ECLI:EU:C:1984:153, Rn. 28: „Es ist Sache des nationalen Gerichts, das zur Durchführung der Richtlinie erlassene Gesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen“ [Hervorhebung v. Verf.]; dazu bereits unter: Zweiter Teil  B. V. 2. d) bb) (2) (b). 104  Zum entgegenstehenden Legislativwillen als Grenze der Rechtsanwendung: BVerfG, Beschl. v. 30. 06. 1964 – 1 BvL 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25/62 – Zusammenveranlagung, BVerfGE 18, 97, 111; BVerfG, Beschl. v. 25. 01. 2011 – 1 BvR 918/10 – Dreiteilungsmethode, BVerfGE 128, 193, 210; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 132; Kroll-Ludwigs/Ludwigs, ZJS 2009, 123, 128; Michael/Payandeh, NJW 2015, 2392, 2396; Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 12 Rn. 78; anders offenbar: Behrens, EuZW 1994, 289, wenngleich nur implizit; Herresthal, JuS 2014, 289, 292 f. 105  Speziell hierzu: Gsell, GPR 2008, 165, 170 f.; Meier, JuS 2018, 940, 943; refe­ rierend zum Streitstand: Grüneberg, in: Palandt, 2021, § 270 BGB, Rn. 5 f. 106  Daher zu Recht zur Qualifikation als Bringschuld: Omlor, Geldprivatrecht, 2014, S. 322; Gsell, GPR 2008, 165, 169 ff.; Herresthal, ZGS 2008, 259, 260; Freitag, AcP 213 (2013), 128, 166; Fehrenbach, ZZP 129 (2016), 295, 312; Meier, JuS 2018, 940, 941; Harke, Allgemeines Schuldrecht, 2010, Rn. 149.



B. Normtextvereinbarkeit und Normzweckunvereinbarkeit311

ses Ergebnis übereinstimmend tragen, gelangt man hierzu durch Auslegung. Eine Rechtsfortbildung ist unnötig und aus diesem Grund unzulässig.

B. Normtextvereinbarkeit und Normzweckunvereinbarkeit (zulässige normtexteinschränkende Rechtsfortbildung) In der zweiten Konstellation ist eine normtexteinschränkende Rechtsfortbildung zulässig und nötig, weil der Sachverhalt unter den Normtext zu fassen ist, obwohl dies nach dem Normzweck nicht sein dürfte. Die Rechtsordnung erweist sich insoweit als lückenhaft, als der Gesetzeswortlaut eine Antwort auf eine Rechtsfrage gibt, die nach dem Gesetzeszweck nicht zutrifft. Weil Wertungen verschiedener Stufen ausschlaggebend sein können, sind die Anwendungsbeispiele auch in dieser Konstellation so gewählt, dass im ersten Fall die Wertung der anzuwendenden Norm selbst, im zweiten eine Wertung einer anderen Norm des gleichrangigen Rechts, im dritten Fall eine Wertung des Verfassungsrechts und im vierten eine solche des Unionsrechts für den gebotenen Normzweck entscheidend ist.

I. Wertung der Einzelnorm: Abtretbarkeit unpfändbarer Forderungen 1. Problemaufriss Dem Zedent ist die Abtretung einer Forderung gem. § 400 BGB gesetzlich untersagt, soweit diese infolge eines Pfändungsverbots (§§ 850 ff. ZPO) nicht der Pfändung unterworfen ist. Rechtspolitischer Hintergrund dieser Entscheidung ist, dass das unverzichtbare Existenzminimum des Forderungsinhabers weder durch hoheitliche Zwangsvollstreckung noch durch rechtsgeschäftliche Übertragung angetastet werden soll.107 Das Abtretungsverbot für unpfändbare Forderungen setzt die Grundentscheidungen der Rechtsordnung fort, da die menschenwürdige Existenzgrundlage erhalten bleibt, indem der Zedent das eigene Vermögensminimum nicht durch Abtretung einer geldwerten Forderung gefährden kann.108 Unnötig erscheint das Verbot hingegen, wenn der 107  Zur Sicherung des Existenzminimums als Schutzzweck: BGH, Beschl. v. 10. 12. 1951 – GSZ 3/51, BGHZ 4, 153, 154; BGH, Urt. v. 10. 02. 1994 – IX ZR 55/93, BGHZ 125, 116, 122; BGH, Urt. v. 09. 11. 1994 – IV ZR 66/94, BGHZ 127, 354, 356; ferner: BGH, Urt. v. 04. 12. 2009 – V ZR 9/09, NJW-RR 2010, 1235, 1236; Meller-Hanich, KTS 2000, 37, 39; Walker, in: Heinrich (Hrsg.), Festschrift Musielak, 2004, S. 656; Lieder, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 400 BGB, Rn. 4. 108  Zum Schutz auch gegen den Willen des Geschützten: BGH, Urt. v. 09. 11. 1994 – IV ZR 66/94, BGHZ 127, 354, 356; Busche, in: Staudinger, BGB, 2017, § 400 BGB, Rn. 1; Lieder, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 400 BGB, Rn. 4.

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Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

Zedent wie beispielsweise beim Forderungsverkauf im Zuge des echten Factorings109 für die Abtretung eine wirtschaftlich gleichwertige Leistung erhält, ihm dieser alternative Weg der Forderungsrealisierung aber durch § 400 BGB versperrt wird. Eine teleologische Reduktion des § 400 BGB wäre demnach zulässig und zwingend,110 wenn in diesem Fall nach dem gebotenen Normzweck eine Durchbrechung des gesetzlichen Abtretungsverbots existieren müsste, die der Normtext nicht abbildet. 2. Lösung a) Normtextanalyse Zunächst kann in der Normtextanalyse festgehalten werden, dass die Gesetzesformulierung in § 400 BGB für eine Abtretung Zug um Zug gegen Erhalt einer gleichwertigen Gegenleistung keinen Ausnahmetatbestand kennt; der Wortlaut bestimmt vielmehr, dass eine Forderung generell „nicht abgetreten werden [kann], soweit sie der Pfändung nicht unterworfen ist.“ Die Abtretung einer unpfändbaren Forderung ist folglich auch dann verboten, wenn der Zedent als Gegenleistung ein vermögenswertes Äquivalent erlangt. Der Sachverhalt ist damit bereits auf der Stufe der Evidenzkontrolle vom Normtext des Abtretungsverbots umfasst. Auf den Stufen der Referenz- und Konvergenzkontrolle ergibt sich keine andere Beurteilung; auch dort gelangt man zum Ergebnis der Normtextvereinbarkeit. b) Normzweckanalyse In der Normzweckanalyse ist sodann zu untersuchen, ob der vom Normtext eingeschlossene Sachverhalt mit Blick auf den gebotenen Normzweck eigentlich ausgeschlossen sein müsste. 109  Zum echten Factoring als Forderungskauf gem. § 453 BGB, bei dem der Factor das Risiko der Uneinbringlichkeit der Forderung (Delkredererisiko) trägt: Fischinger, JA 2005, 651, 651 f.; Foerster, JuS 2020, 203, 204 f.; Oetker/Maultzsch, Vertragliche Schuldverhältnisse, 2018, § 16 Rn. 31 f. 110  Im Ergebnis zu Recht für eine teleologische Reduktion des § 400 BGB, auch wenn sie nicht stets als solche bezeichnet wird: BGH, Beschl. v. 10. 12. 1951 – GSZ 3/51, BGHZ 4, 153, 154; BGH, Urt. v. 04. 07. 1972 – VI ZR 114/71, BGHZ 59, 109, 115; BGH, Urt. v. 09. 11. 1994 – IV ZR 66/94, BGHZ 127, 354, 356; BGH, Urt. v 04. 12. 2009 – V ZR 9/09, NJW-RR 2010, 1235, 1236; Meller-Hanich, KTS 2000, 37, 42 f.; Walker, in: Heinrich (Hrsg.), Festschrift Musielak, 2004, S. 657; Busche, in: Staudinger, BGB, 2017, § 400 BGB, Rn. 11; Roth/Kieninger, in: MünchKomm-BGB, Band 3, 2019, § 400 BGB, Rn. 7; Schulze, in: Hk-BGB, 2019, § 400 BGB, Rn. 2; Lieder, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 400 BGB, Rn. 20; Medicus/Lorenz, Schuldrecht I, 2015, Rn. 795.



B. Normtextvereinbarkeit und Normzweckunvereinbarkeit313

Hierfür ist zunächst die Wertung der Einzelnorm in den Blick zu nehmen. Ein gesetzgeberischer Normzweck ist in den Materialien zu § 400 BGB zwar nicht ausdrücklich mitgeteilt, aber in den Motiven angedeutet. Einigkeit bestand insoweit, dass die „Unübertragbarkeit hierdurch nur auf […] Forderungen ausgedehnt wird, […] deren Uebertragbarkeit aus den gleichen Gründen zu beanstanden ist, welche den Gesetzgeber dazu bestimmt haben, sie der Zwangsvollstreckung zu entziehen.“111 Dieser Zwecksetzung wurde in den Protokollen nicht mehr widersprochen.112 Legislativ gewollt war eine Normzweckparallelität von Abtretungsverbot und Forderungspfändungsschutz.113 Die Pfändungsverbote der §§ 850 ff. ZPO sollen sicherstellen, dass dem Vollstreckungsschuldner „so viel belassen wird, dass sein notwendiger Lebensunterhalt abgedeckt ist und er die ihm obliegenden gesetzlichen Unterhaltspflichten erfüllen kann.“114 Verhindert wird somit zugleich, dass er entweder in die staatliche Fürsorge getrieben wird115 oder, dass er umgekehrt selbst in der Lage ist, durch Übertragung seiner Vermögenswerte die Voraussetzungen für staatliche Transferleistungen herbeizuführen.116 Geht es hier wie dort um die Absicherung des Existenzminimums, kann das Abtretungsverbot mit Blick auf die gesetzgeberische Zwecksetzung jedoch dann nicht aufrechterhalten werden, wenn der Forderungsinhaber als Gegenleistung für die Abtretung den wirtschaftlichen Wert der Forderung erhält, den ihm das Pfändungsverbot gerade reservieren möchte.117 Hierdurch wird sein Existenzminimum nämlich nicht gefährdet; stattdessen kommt es zu einem für den ursprünglichen Forderungsinhaber regelmäßig vorteilhaften Aktivtausch, wenn er den Geldwert der Forderung zwar nicht durch deren Einziehung, aber durch Forderungsverkauf realisieren kann. Vor dem Hintergrund der Wertung der Einzelnorm ist eine Abtretung gegen den Erhalt einer wirtschaftlich gleichwertigen Gegenleistung demnach vom gesetzlichen Abtretungsverbot auszunehmen.

111  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 68 (= Motive, S. 123). 112  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 573 f. (= Protokolle, S. 773 f.). 113  Lieder, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 400 BGB, Rn. 1 und 4. 114  BT-Drucks. 17/2167, S. 14. 115  Zu diesem Schutzweck: RG, Urt. v. 17. 01. 1923 – I 70/22, RGZ 106, 205, 206; BGH, Urt. v. 10. 02. 1994 – IX ZR 55/93, BGHZ 125, 116, 122; BGH, Urt. v. 04. 12. 2009 – V ZR 9/09, NJW-RR 2010, 1235, 1236; Meller-Hanich, KTS 2000, 37, 39. 116  Lieder, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 400 BGB, Rn. 7. 117  Zu dieser überzeugenden Argumentation: Roth/Kieninger, in: MünchKommBGB, Band 3, 2019, § 400 BGB, Rn. 7.

314

Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

Ein anderes Ergebnis ergibt sich auch nicht aus den Wertungen des gleichrangigen Rechts, des Verfassungs- und des Unionsrechts. Die Zielsetzungen von Abtretungs- und Forderungspfändungsverbot berühren zwar höherrangige Wertungen wie das Sozialstaatsprinzip; diese haben hier jedoch keine eigenständige Bedeutung, weil der Gesetzgeber sie bereits in der Norm des einfachgesetzlichen Rechts hinreichend berücksichtigt und dem Abtretungsverbot in § 400 BGB als Normzweck zugrunde gelegt hat. c) Ergebnis Nach dem Normtext des § 400 BGB ist eine Abtretung trotz Erhalts einer gleichwertigen Gegenleistung nicht gestattet, obwohl ein Abtretungsverbot nach dem gebotenen Normzweck in diesem Fall nicht existieren dürfte. Infolgedessen zeigt sich eine Lücke, die es gebietet, den Normtext des § 400 BGB für diese Sachverhaltskonstellation teleologisch zu reduzieren.

II. Wertung einer gleichrangigen Norm: Vertretung der Personengesellschaft durch einen beschränkt geschäftsfähigen Komplementär 1. Problemaufriss Grundsätzlich gilt nach § 165 BGB, dass die von einem Vertreter abgegebene Willenserklärung in ihrer Wirksamkeit nicht dadurch beeinträchtigt wird, dass der Vertreter in der Geschäftsfähigkeit beschränkt ist. Problematisch erscheint dies jedoch dann, wenn ein nicht nach § 112 BGB befreiter118 beschränkt geschäftsfähiger Komplementär als Vertreter für eine Personengesellschaft auftritt und für sie eine Verbindlichkeit begründet, für die er wegen § 128 HGB akzessorisch persönlich haftet. Nach einhelliger Auffassung119 soll in dieser Konstellation eine teleologische Reduktion des § 165 BGB nötig sein, um den Normtext dem gebotenen Normzweck anzugleichen, der hier entscheidend durch eine Wertung des gleichrangigen Rechts beeinflusst wird.

im Einzelnen: Faust, Bürgerliches Gesetzbuch, 2020, § 16 Rn. 13 f. herrschenden teleologischen Reduktion des § 165 BGB: Schubert, in: MünchKomm-BGB, Band 1, 2018, § 165 BGB, Rn. 8; Schilken, in: Staudinger, BGB, 2019, § 165 BGB, Rn. 6; Huber, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 165 BGB, Rn. 12; Schäfer, in: BeckOK-BGB, 2020, § 165 BGB, Rn. 9. 118  Hierzu 119  Zur



B. Normtextvereinbarkeit und Normzweckunvereinbarkeit315

2. Lösung a) Normtextanalyse Betrachtet man die gesetzliche Formulierung in § 165 BGB, zeigt sich, dass der Wortlaut keine Ausnahmen vorsieht und die Wirksamkeit einer Willenserklärung damit generell nicht durch die beschränkte Geschäftsfähigkeit des Vertreters beeinträchtigt wird. In der Folge ist ein minderjähriger persönlich haftender Gesellschafter auch dann vom Normtext des § 165 BGB erfasst, wenn er durch die in § 128 HGB angeordnete akzessorische Haftung gesetzlich mitverpflichtet wird. Im Anschluss an die Evidenzkontrolle gelangt man weder durch die Referenz- noch durch die Konvergenzkontrolle zu einer anderen Bewertung. b) Normzweckanalyse In der Normzweckanalyse ist zu prüfen, ob dieser Sachverhalt auch nach dem gebotenen Normzweck umfasst sein soll oder, ob der Normtext des § 165 BGB entsprechend teleologisch zu reduzieren ist. Zur Wertung der Einzelnorm zeigen die Gesetzesmaterialien,120 dass die erste Kommission noch davon überzeugt war, die „Beschränkung in der Geschäftsfähigkeit [des Vertreters] […] schad[e] [nicht]“,121 weil sich die Beschränkung „ihrem Grunde und Zweck nach nur auf die eigenen Angelegenheiten“ beziehe.122 Der Minderjährigenschutz wurde von ihr nur als nötig erachtet, um den beschränkt Geschäftsfähigen vor eigenen Geschäften zu schützen, nicht aber, wenn er als Vertreter für einen anderen ein Geschäft abschließt.123 Hieran anknüpfend wurde in der zweiten Kommission die Aufnahme des heutigen § 165 BGB124 beantragt und „mit Rücksicht auf die er120  § 135 im zweiten Entwurf, § 161 in der Bundesratsvorlage, § 161 in der Reichstagsvorlage und § 165 im Bürgerlichen Gesetzbuch; siehe dazu: Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band, 1899, S. LXXXVIII. 121  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band, 1899, S. 478 (= Motive, S. 227). 122  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band, 1899, S. 478 (= Motive, S. 227). 123  Zu dieser überzeugenden Deutung: Schilken, in: Staudinger, BGB, 2019, § 165 BGB, Rn. 1. 124  § 135 im zweiten Entwurf, § 161 in der Bundesratsvorlage, § 161 in der Reichstagsvorlage und § 165 im Bürgerlichen Gesetzbuch; siehe dazu: Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band, 1899, S. LXXXVIII.

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Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

hebliche praktische Bedeutung der Vertretung durch Minderjährige“125 gebilligt.126 Einzig diskutiert wurde insoweit, ob § 165 BGB inhaltlich neben der rechtsgeschäftlichen Vertretung auch auf die gesetzliche zu erstrecken sei, was die Mehrheit befürwortete.127 Ungeachtet dieser Meinungsverschiedenheit war man sich allerdings im Ergebnis einig, dass die Wirksamkeit der Willenserklärung nicht durch die beschränkte Geschäftsfähigkeit des Vertreters beeinträchtigt werde.128 Vor dem Hintergrund dieser isolierten Zwecksetzung zu § 165 BGB kommt folglich auch dann keine Ausnahme in Betracht, wenn der beschränkt Geschäftsfähige als Vertreter ein Geschäft abschließt, das zwar unmittelbar nur Wirkungen für den Vertretenen verursacht, für den Minderjährigen aber dennoch mittelbar Nachteile mit sich bringt. Eine andere Beurteilung ergibt sich jedoch aus einer Wertung des gleichrangigen Rechts, nämlich aus § 107 BGB, nach der der beschränkt Geschäftsfähige zu einer Willenserklärung der Einwilligung des gesetzlichen Vertreters bedarf, wenn er durch sie rechtlich nicht lediglich einen Vorteil erlangt. In ihm zeigt sich die zentrale gesetzgeberische Wertentscheidung, den Minderjährigen jedenfalls129 dann durch einen Einwilligungsvorbehalt zu schützen, wenn ihm aus der Willenserklärung rechtliche Nachteile drohen. Entgegen der Auffassung der ersten Kommission kam die zweite zu der Einsicht, dass dieser Schutzmechanismus nicht nur in eigenen Angelegenheiten erforderlich, sondern auch dann nötig sei, um einen beschränkt Geschäftsfähigen abzusichern, der als Vertreter in fremden Angelegenheiten tätig werde. In der Konsequenz wurde es abgelehnt, in den §§ 106 ff. BGB130 festzuschreiben, dass ihr Schutz nur die eigenen Angelegenheiten des Minderjähri125  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band, 1899, S. 737 (= Protokolle, S. 286). 126  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band, 1899, S. 737 (= Protokolle, S. 285). 127  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band, 1899, S. 737 f. (= Protokolle, S. 286 f.). 128  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band, 1899, S. 737 (= Protokolle, S. 285): „Ueber die Richtigkeit des im Antrage ausgesprochenen Satzes bestand Einverständniß“. Beantragt war die inhaltsgleiche Regelung zum heutigen § 165 BGB: „Die Wirksamkeit der von einem Vertreter abgegebenen oder ihm zugegangenen Willenserklärung wird nicht dadurch beeinträchtigt, daß der Vertreter in der Geschäftsfähigkeit beschränkt ist“; zur Formulierung des Antrags: Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band, 1899, S. 737 (= Protokolle, S. 285). 129  Näher zur hier nicht entscheidungserheblichen teleologischen Reduktion des § 107 BGB bei rechtlicher Neutralität unter: Erster Teil A. II. 1. a) cc). 130  §§ 65 ff. im ersten Entwurf; §§ 80 ff. im zweiten Entwurf; §§ 102 ff. in der Bundesratsvorlage; §§ 102 ff. in der Reichstagsvorlage und §§ 106 ff. im Bürgerlichen Gesetzbuch; siehe dazu: Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band, 1899, S. 424 (= Motive, S. 131 ff.).



B. Normtextvereinbarkeit und Normzweckunvereinbarkeit317

gen betreffe.131 Eine derartige Bestimmung wurde von der Mehrheit explizit mit der Begründung zurückgewiesen, dass eine Beschränkung des Minderjährigenschutzes auf die eigenen Angelegenheiten „das Mißverständniß hervorrufen könnte, daß die […] [§§ 106 ff. BGB] auch dann nicht Platz greifen sollen, wenn es sich um die Verpflichtungen handele, die einem Vertreter unter Umständen aus seinem Verhalten erwachsen.“132 Hieraus ergibt sich unmissverständlich, dass der Einwilligungsvorbehalt des § 107 BGB für alle rechtlich nachteiligen Willenserklärungen des Minderjährigen gelten soll und zwar unabhängig davon, ob er sie im eigenen oder im fremden Namen abgibt. Aufgrund dieser Wertentscheidung des gleichrangigen Rechts erweist sich die Wertung des § 165 BGB als rein deklaratorisch. In dieser Hinsicht sollte durch die Norm lediglich klargestellt werden, dass die beschränkte Geschäftsfähigkeit des Vertreters der wirksamen Abgabe einer Willenserklärung in fremden Namen insoweit nicht entgegensteht, als eine neutrale Vertretererklärung den Minderjährigenschutz der §§ 106 ff. BGB nicht konterkariert. Während die isolierte Wertentscheidung in § 165 BGB somit nur den Regelfall im Blick hat, dass eine Willenserklärung des Vertreters keine Nachteile für ihn mit sich bringt, ergibt sich aus der Wertung des § 107 BGB, dass es der Minderjährigenschutz im Ausnahmefall sehr wohl gebieten kann, den beschränkt geschäftsfähigen Vertreter vor rechtlichen Nachteilen wie einer akzessorischen Gesellschafterhaftung aus § 128 HGB durch die Anwendung des Einwilligungsvorbehalts zu schützen. Insoweit wird der gebotene Normzweck maßgeblich durch die Wertung des § 107 BGB geprägt; Wertungen des Verfassungs- und Unionsrechts fordern demgegenüber keine abweichende Bewertung. c) Ergebnis Insgesamt kann damit festhalten werden, dass es nach dem gebotenen Normzweck unerlässlich ist, den Minderjährigenschutz der §§ 106 ff. BGB auch für einen beschränkt geschäftsfähigen Vertreter zur Anwendung zu bringen. Weil im Wortlaut des § 165 BGB nur der Regelfall Ausdruck gefunden hat, der Ausnahmefall hingegen nicht repräsentiert ist, ist der Normtext des § 165 BGB im Ergebnis teleologisch zu reduzieren, um ihn auf den gebotenen Normzweck zurückzuführen, der einen Gleichlauf mit den §§ 106 ff. BGB vorsieht.

131  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band, 1899, S. 737 (= Protokolle, S. 286). 132  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band, 1899, S. 737 (= Protokolle, S. 286).

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Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

III. Wertung einer verfassungsrechtlichen Norm: Wettbewerbsverbot des Handlungsgehilfen 1. Problemaufriss Infolge des in § 60 Abs. 1 HGB angeordneten Wettbewerbsverbots ist es einem Handlungsgehilfen,133 der im Handelsgewerbe eines anderen tätig ist, während der Zeit seiner Anstellung134 gesetzlich nicht gestattet, ohne Einwilligung des Prinzipals ein eigenes Handelsgewerbe zu betreiben oder im Handelszweig des Prinzipals für eigene oder fremde Rechnung Geschäfte zu machen. Betrachtet man § 60 Abs. 1 Alt. 1 HGB, untersagt er es dem Handlungsgehilfen auch dann, ein eigenes Handelsgewerbe zu betreiben, wenn es einer anderen Branche angehört, in der er nicht beschäftigt ist. Ein Wettbewerbsverbot besteht demnach sogar, wenn eine Konkurrenzsituation mit dem Handelsgewerbe des Prinzipals ausgeschlossen ist. Einigkeit besteht im Schrifttum, dass das gesetzliche Wettbewerbsverbot in dieser Sachverhaltskonstellation einer Einschränkung bedarf.135 Umstritten ist indes, ob dies durch Auslegung oder erst durch Rechtsfortbildung zu realisieren ist.136 133  Nach der Legaldefinition in § 59 S. 1 HGB ist Handlungsgehilfe, wer „in einem Handelsgewerbe zur Leistung kaufmännischer Dienste gegen Entgelt angestellt ist“. 134  Abzugrenzen ist diese Konstellation vom vertraglichen Wettbewerbsverbot des § 74 HGB, das nur für die Zeit nach Beendigung des Dienstverhältnisses gilt. Ebenso wenig geht es hier um die Konstellation darum, „den Arbeitgeber davor zu schützen, dass sich der Handlungsgehilfe in einer anderen Tätigkeit verausgabt und so seine vertraglichen Verpflichtungen aus dem Anstellungsverhältnis nicht mehr vollwertig erfüllen kann“; hierzu: von Hoyningen-Huene, in: MünchKomm-HGB, Band 1, 2016, § 60 HGB, Rn. 2. 135  Im Ergebnis für eine verfassungsrechtliche Einschränkung des § 60 HGB: von Hoyningen-Huene, in: MünchKomm-HGB, Band 1, 2016, § 60 HGB, Rn. 32; Koller, in: Koller/Kindler/Roth/Drüen, HGB, 2019, § 60 HGB, Rn. 1; Kotzian-Marggraf, in: Oetker, HGB, 2019, § 60 HGB, Rn. 10; Boecken/Rudkowski, in: Ebenroth/ Boujong/Joost/Strohn, HGB, Band 1, 2020, § 60 HGB, Rn. 18; Hagen, in: BeckOKArbR, 2020, § 60 HGB, Rn. 7; Ittmann, in: BeckOGK-HGB, 2020, § 60 HGB, Rn. 35; Roth, in: Baumbach/Hopt, HGB, 2020, § 60 HGB, Rn. 2; Wetzel, in: BeckOKHGB, 2020, § 60 HGB, Rn. 13. 136  Für eine verfassungskonforme Auslegung: von Hoyningen-Huene, in: MünchKomm-HGB, Band 1, 2016, § 60 HGB, Rn. 3 und 32; Kotzian-Marggraf, in: Oetker, HGB, 2019, § 60 HGB, Rn. 10, der zwar von verfassungskonformer Auslegung spricht, aber anerkennt, dass die buchstäbliche Umsetzung des Verbots eine vollständige Untersagung zur Folge hätte; Hagen, in: BeckOK-ArbR, 2020, § 60 HGB, Rn. 7; Roth, in: Baumbach/Hopt, HGB, 2020, § 60 HGB, Rn. 2; demgegenüber in der Sache zu Recht für eine verfassungskonforme Fortbildung, auch wenn sie nicht präzise als solche bezeichnet wird: Ittmann, in: BeckOGK-HGB, 2020, § 60 HGB, Rn. 34 („ver-



B. Normtextvereinbarkeit und Normzweckunvereinbarkeit319

2. Lösung a) Normtextanalyse In der Normtextanalyse ist zu untersuchen, ob § 60 Abs. 1 HGB nach seiner Formulierung dem Handlungsgehilfen jede Form von Handelsgewerbe verbietet oder ob sich die Norm schon aus dem Text heraus derart verstehen lässt, dass sich das Wettbewerbsverbot nur auf ein potenzielles Wettbewerbsverhältnis und damit nur auf Handelsgewerbe aus dem Handelszweig des Prinzipals erstreckt. Betrachtet man die Fassung des Normtexts, kommt man auf der Stufe der Evidenzkontrolle zu dem Ergebnis, dass der Wortlaut den Kriterien Branchenzugehörigkeit und Konkurrenzsituation keine Bedeutung zumisst, sondern ein Wettbewerbsverbot unterschiedslos für sämtliche Handelsgewerbe ausspricht. Dies ergibt sich schon daraus, dass es dem Handelsgehilfen generell untersagt ist, „ein Handelsgewerbe“ zu betreiben. Zudem verdeutlicht die Gegenüberstellung beider Alternativen des § 60 Abs. 1 HGB, dass dem Gesetzgeber die Möglichkeit bewusst war, eine Differenzierung nach Branchenzugehörigkeit vorzunehmen. § 60 Abs. 1 HGB legt nämlich fest, dass der Handlungsgehilfe ohne Einwilligung „weder ein Handelsgewerbe betreiben noch in dem Handelszweige des Prinzipals für eigene oder fremde Rechnung Geschäfte machen“ darf. Hätte der Gesetzgeber gewollt, dass nur branchenangehörige eigene Handelsgewerbe des Handlungsgehilfen unterbunden werden sollen, ist anzunehmen, dass er das Differenzierungskriterium „in dem Handelszweige des Prinzipals“ sprachlich auf beide Alternativen bezogen hätte. Stattdessen entschied er sich, beide durch eine weder-noch-Struktur zu trennen und den Branchenbezug nur in der zweiten Alternative aufzunehmen; hieraus kann nur gefolgert werden, dass er in der ersten Alternative alle Formen untersagen wollte. Bestätigt werden kann dies auf der Stufe der Referenzkontrolle, da eine sprachliche Unterscheidung zwischen „Handelsgewerben“ und „konkreten Handelsgewerben“ im HGB an mehreren Stellen getroffen ist. Ein prominentes Beispiel ist hierfür der erweiterte Umfang der Prokura gegenüber der Handlungsvollmacht, den der Gesetzgeber dadurch gekennzeichnet hat, dass er im ersten Fall die Vertretungsmacht an das Merkmal „Betrieb eines Handelsgewerbes“ (§ 49 Abs. 1 HGB) und im zweiten Fall an den „Betrieb eines fassungskonform dahin einzuschränken“); Boecken/Rudkowski, in: Ebenroth/Boujong/ Joost/Strohn, HGB, Band 1, 2020, § 60 HGB, Rn. 18 („verfassungskonform dahingehend eingeengt“); Wetzel, in: BeckOK-HGB, 2020, § 60 HGB, Rn. 13 („verfassungskonform eingeschränkt“); gänzlich ohne methodische Einordnung: Koller, in: Koller/ Kindler/Roth/Drüen, HGB, 2019, § 60 HGB, Rn. 1.

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Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

derartigen Handelsgewerbes“ (§ 54 Abs. 1 HGB) geknüpft hat.137 Dass der Gesetzgeber in § 60 Abs. 1 HGB bewusst differenzierte, zeigt zudem der sprachliche Abgleich mit § 112 Abs. 1 HGB. Hier ist schon im Wortlaut die strukturelle Parallelität zu § 60 Abs. 1 HGB erkennbar; anders als dort wurde der Branchenbezug jedoch in beiden Alternativen des § 112 Abs. 1 HGB verortet, wonach der Normadressat ohne Einwilligung „weder in dem Handelszweig der Gesellschaft Geschäfte machen noch an einer anderen gleichartigen Handelsgesellschaft […] teilnehmen“ darf. Infolgedessen kann der Normtext des § 60 Abs. 1 HGB sprachlich nur so verstanden werden, dass er auch einem Handelsgewerbe des Handlungsgehilfen entgegensteht, das in keinem Wettbewerbsverhältnis zum Gewerbebetrieb des Prinzipals steht. Ein anderes Ergebnis wird auch mit der Konvergenzkontrolle nicht erreicht. b) Normzweckanalyse Nachdem nun feststeht, dass auch ein branchenfremdes Handelsgewerbe des Handlungsgehilfen vom Normtext des gesetzlichen Wettbewerbsverbots erfasst wird, ist in der Normzweckanalyse zu untersuchen, ob dieser Sachverhalt nach dem gebotenen Normzweck tatsächlich auszuschließen ist. Ausgangspunkt ist die Wertung der Einzelnorm in § 60 Abs. 1 HGB, zu der in den Gesetzesmaterialien indes keine explizite Stellungnahme existiert. Das gesetzliche Wettbewerbsverbot war bereits wortidentisch im ursprüng­ lichen Gesetzesentwurf enthalten138 und wurde in der Zweiten Beratung im Plenum des Reichstags ohne nähere Diskussion und Änderungsanträge angenommen.139 Implizit kann aber einer Äußerung in der Denkschrift zum Entwurf entnommen werden, dass das Wettbewerbsverbot unterschiedslos für sämtliche Handelsgewerbe des Handlungsgehilfen gelten sollte. Insoweit waren sich die Verfasser nämlich bewusst, dass die Bestimmung zum Wettbewerbsverbot „weniger streng als die bisherige [sei], welche an sich auch 137  Statt aller zu dieser klassischen Fragestellung: Krebs, in: MünchKomm-HGB, Band 1, 2016, § 49 HGB, Rn. 15; Hopt, in: Baumbach/Hopt, HGB, 2020, § 49 HGB, Rn. 1. 138  Im Entwurf noch § 59: „Der Handlungsgehilfe darf ohne Einwilligung des Prinzipals weder ein Handelsgewerbe betreiben noch in dem Handelszweige des Prinzipals für eigene oder fremde Rechnung Geschäfte machen,“; siehe dazu: Hahn/ Mugdan, Die gesammten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, 1897, S. 11. 139  Hahn/Mugdan, Die gesammten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, 1897, S. 670: „§§ 59 bis 60 angenommen.“; ferner zur Gesamtabstimmung über das HGB und seiner „En-Bloc-Annahme“ in der Dritten Beratung im Plenum des Reichstags: Hahn/Mugdan, Die gesammten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, 1897, S. 763.



B. Normtextvereinbarkeit und Normzweckunvereinbarkeit321

jeden gelegentlichen, dem Handelszweige des Prinzipals fremden Ankauf eines Gegenstandes zum Zweck der Weiterveräußerung“ verbiete.140 In Abweichung von der Vorgängervorschrift des Art. 59 ADHGB141 wurde die Erstreckung des Wettbewerbsverbots auf gelegentliche Geschäfte außerhalb des Handelszweigs des Prinzipals mithin als zu streng erachtet. In der Konsequenz wurde das Verbot, für eigene oder fremde Rechnung Geschäfte zu machen, auf den Handelszweig des Prinzipals beschränkt; ob dem Handlungsgehilfen darüber hinaus ermöglicht werden sollte, ein eigenes Handelsgewerbe zu betreiben, war indes nicht Gegenstand der Diskussion. Dass mit der Anpassung der Rechtslage aber nur eine punktuelle Lockerung des Wettbewerbsverbots beabsichtigt war, wird zudem dadurch erkennbar, dass das Verbot, ein Handelsgewerbe zu betreiben, sogar erstmals in § 60 Abs. 1 HGB aufgenommen wurde. Die Vorgängervorschrift des Art. 59 ADHGB hatte Handelsgeschäfte des Handlungsgehilfens noch generell untersagt und daher keine explizite Regelung für den Betrieb eines eigenen Handelsgewerbes getroffen. In der Neuaufnahme dieses Verbots zeigt sich damit die gesetzgeberische Wertentscheidung, dass zwar nicht mehr jedes sporadische branchenfremde Geschäft des Handlungsgehilfen verboten werden, mit dieser Lockerung aber keineswegs die Duldung eines Handelsgewerbes verbunden sein sollte.142 Hierfür spricht darüber hinaus, dass die entsprechenden Ausführungen in der Denkschrift zum Handelsgesetzbuch mit dem Randvermerk „Verbot des eigenen Handelsbetriebes“ versehen sind.143 Bestätigt wird das bislang ermittelte Ergebnis durch Wertungen des gleichrangigen Rechts. In Betracht kommen in erster Linie die gesetzlichen Wettbewerbsverbote in § 112 HGB und §§ 88, 284 AktG. In den Gesetzesmaterialien zum Wettbewerbsverbot in § 112 HGB findet sich insoweit zwar die Äußerung, dass mit dieser Vorschrift eine „Uebereinstimmung mit den die Handlungsgehilfen betreffenden Vorschriften […] herzustellen“ sei.144 Zieht man jedoch die Denkschrift zu § 60 HGB zurate, 140  Hahn/Mugdan, Die gesammten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, 1897, S. 235. 141  Vorgängervorschrift zu § 60 Abs. 1 HGB war Art. 59 ADHGB: „Ein Handlungsgehülfe [sic!] darf ohne Einwilligung des Prinzipals weder für eigene Rechnung noch für Rechnung eines Dritten Handelsgeschäfte machen. In dieser Beziehung kommen die für den Prokuristen und Handlungsbevollmächtigten geltenden Bestimmungen (Artikel 56.) zur Anwendung.“ 142  Ebenso nur für eine partielle Lockerung des Wettbewerbsverbots: BAG, Urt. v. 25. 05. 1970 – 3 AZR 384/69, BAGE 22, 344, 350 f. 143  Hahn/Mugdan, Die gesammten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, 1897, S. 235. 144  Hahn/Mugdan, Die gesammten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, 1897, S. 259.

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Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

zeigt sich, dass mit Übereinstimmung beider Bestimmungen lediglich ein Gleichlauf auf Rechtsfolgenseite gemeint war.145 So wurde zum einen klargestellt, dass die Ansprüche, die sich aus dem Verstoß gegen die Wettbewerbsverbote in § 60 und § 112 HGB ergeben, gem. § 61 bzw. § 113 HGB in beiden Fällen „nicht nebeneinander, sondern nur wahlweise geltend“ gemacht werden können.146 Zum anderen wurde ausgeführt, „die Vorschrift über die Frist für die Erhebung der Ansprüche des Prinzipals“ beruhe auf dem Vorbild des heutigen147 § 113 HGB.148 Dass der Verbotstatbestand des § 60 Abs. 1 HGB hingegen bewusst strenger gehalten wurde, wird zwar in den Materialien nicht explizit ausgesprochen, aber durch eine nicht zu übersehende Parallele zu den aktienrechtlichen Wettbewerbsverboten nahegelegt. Insoweit fällt auf, dass Vorstandsmitglieder ähnlich wie die Handlungsgehilfen in § 60 Abs. 1 HGB nach § 88 Abs. 1 S. 1  AktG149 „ohne Einwilligung des Aufsichtsrats weder ein Handelsgewerbe betreiben noch im Geschäftszweig der Gesellschaft für eigene oder fremde Rechnung Geschäfte machen“ dürfen.150 Zudem existiert in § 284 Abs. 1 S. 1 AktG151 für die Kommanditgesellschaft auf Aktien ein inhaltlich mit § 112 HGB korrespondierendes152 Wettbewerbsverbot, nach dem ein „persönlich haftender Gesellschafter […] ohne ausdrückliche Einwilligung […] weder im Geschäftszweig der Gesellschaft für eigene oder fremde Rechnung Geschäfte machen noch Mitglied des Vorstands oder Geschäftsführer oder persönlich haftender Gesellschafter einer anderen gleichartigen Handelsgesellschaft sein“ darf. 145  Entgegen der Ansicht vom BAG, Urt. v. 25.  05.  1970 – 3 AZR 384/69, BAGE 22, 344, 349 wird der vermeintliche Widerspruch beider Vorschriften vor diesem Hintergrund durchaus verständlich. 146  Hahn/Mugdan, Die gesammten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, 1897, S.  235 f. 147  Im Entwurf noch Art. 111. 148  Hahn/Mugdan, Die gesammten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, 1897, S. 236. 149  Näher zum Wettbewerbsverbot für Vorstandsmitglieder der Aktiengesellschaft: Dauner-Lieb, in: Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 2019, § 88 AktG, Rn. 1; Spindler, in: MünchKomm-AktG, Band 2, 2019, § 88 AktG, Rn. 1 ff.; Schwennicke, in: Grigoleit, AktG, 2020, § 88 AktG, Rn. 2 ff. 150  Hervorhebung v. Verf. 151  Näher zum Wettbewerbsverbot für persönlich haftende Gesellschafter der Kommanditgesellschaft auf Aktien: Müller-Michaels, in: Hölters, AktG, 2017, § 284 AktG, Rn.  1 ff.; Arnold, in: Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 2019, § 284 AktG, Rn.  1 ff.; Perlitt, in: MünchKomm-AktG, Band 5, 2020, § 284 AktG, Rn. 2 ff.; Servatius, in: Grigoleit, AktG, 2020, § 284 AktG, Rn. 1 ff.; auf die Abweichung hinweisend: Roth, in: Baumbach/Hopt, HGB, 2020, § 112 HGB, Rn. 1. 152  Explizit zur Parallelität: Perlitt, in: MünchKomm-AktG, Band 5, 2020, § 284 AktG, Rn. 2.



B. Normtextvereinbarkeit und Normzweckunvereinbarkeit323

Mithilfe dieser Vorschriften gelingt der Nachweis, dass nicht alle Wettbewerbsverbote ausschließlich auf die Beschränkung branchenangehöriger Geschäfte gerichtet sind. Infolgedessen kann kaum behauptet werden, § 60 Abs. 1 HGB beruhe nur auf einem Versehen des Gesetzgebers. Gegen die Zufälligkeit der Parallelität zu den aktienrechtlichen Wettbewerbsvorschriften spricht letztlich auch die Entstehungsgeschichte des § 88 AktG. Das Wettbewerbsverbot für Vorstandsmitglieder beruht nämlich auf § 79 AktG von 1937, der auf die Art. 232, 196a ADHGB zurückgeht, die im Zuge der Aktienrechtsnovelle von 1884 in das ADHGB aufgenommen wurden.153 In Art. 232 ADHGB wurde jedoch in beiden Tatbestandsalternativen noch ausdrücklich auf die Branchenangehörigkeit Bezug genommen und bestimmt, dass die […] „Bestimmungen des Artikels 196a über den Betrieb von Geschäften in dem Handelszweige der Gesellschaft, sowie über die Theilnahme an einer anderen gleichartigen Gesellschaft […] auf die Mitglieder des Vorstandes entsprechende Anwendung“ finden.

Dass der Normtext des § 88 Abs. 1 AktG in Abweichung von den Vorgängerregelungen nun keine Branchenangehörigkeit des Handelsgewerbes mehr verlangt, sondern der Formulierung in § 60 Abs. 1 HGB gleicht, könnte damit allenfalls mit einem doppelten legislativen Versehen begründet werden. Dies ist weder wahrscheinlich noch kann es vor dem Schutzzweck des § 88 AktG überzeugen; denn nach allgemeiner Anschauung soll dieser die Aktiengesellschaft generell davor schützen, dass Vorstandsmitglieder ihre Arbeitskraft anderweitig einsetzen.154 All dies spricht vielmehr dafür, dass sich das Wettbewerbsverbot in § 88 AktG wie auch das in § 60 HGB auf Handelsgewerbe jeder Art erstrecken sollte. In jedem Fall kann aus den gleichrangigen Wertungen der § 112 HGB und §§ 88, 284 AktG damit keine einheitliche Wertentscheidung abgeleitet werden, die für § 60 HGB eine andere Bewertung gebieten könnte. Etwas anderes ergibt sich indes aus Art. 12 Abs. 1 GG, einer Wertung des Verfassungsrechts.155 Dieser gewährleistet nach seinem sachlichen Schutzbereich nämlich nicht nur, einen Beruf zu wählen und auszuüben, sondern 153  Spindler,

in: MünchKomm-AktG, Band 2, 2019, § 88 AktG, Rn. 8. allgemeinen Meinung: BGH, Urt. v. 17. 02. 1997 – II ZR 278/95, NJW 1997, 2055, 2056; BGH, Urt. v. 02. 04. 2001 – II ZR 217/99, NJW 2001, 2476; BGH, Urt. v. 16. 03. 2017 – IX ZR 253/15, BGHZ 214, 220, 225; Fleischer, AG 2005, 336, 337; Weber, in: Hölters, AktG, 2017, § 88 AktG, Rn. 1; Dauner-Lieb, in: Henssler/ Strohn, Gesellschaftsrecht, 2019, § 88 AktG, Rn. 1; Spindler, in: MünchKomm-AktG, Band 2, 2019, § 88 AktG, Rn. 1; Fleischer, in: BeckOGK-AktG, 2020, § 88 AktG, Rn. 1; Schwennicke, in: Grigoleit, AktG, 2020, § 88 AktG, Rn. 1. 155  Dies setzt voraus, dass der Handelsgehilfe in den persönlichen Schutzbereich des Art. 12 GG fällt, der ein Deutschen-Grundrecht normiert. 154  Zur

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Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

auch das „Recht, mehrere Berufe […] gleichzeitig nebeneinander auszu­ üben.“156 Ein gesetzliches Verbot, das dem Handlungsgehilfen den Betrieb eines Handelsgewerbes selbst dann verbietet, wenn eine Konkurrenzsituation mit dem Betrieb des Prinzipals ausgeschlossen ist, stellt einen Eingriff in die Berufsfreiheit dar, der im Ergebnis verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen ist.157 Selbst wenn man in Anwendung der Dreistufentheorie des BVerfG158 in § 60 Abs. 1 HGB nur eine Berufsausübungsregelung und damit nur einen Eingriff auf niedrigster Stufe erblickt, ist auch ein solcher nur dann verhältnismäßig, wenn er vernünftigen Zwecken des Allgemeinwohls dient.159 In Betracht kommt insoweit der Schutz des Prinzipals vor Wettbewerb durch den eigenen Angestellten, weil es geradezu Interessenskonflikte schürt, wenn der Handlungsgehilfe während der Zeit seiner Anstellung in Konkurrenz zum Prinzipal tritt. Ein gesetzliches Betriebsverbot für ein Handelsgewerbe, das seinerseits in keinem Wettbewerbsverhältnis zum Gewerbe des Prinzipals steht, ist indes schon abstrakt nicht geeignet, diesem Zweck zu dienen. Unabhängig davon wäre ein derartiges gesetzliches Wettbewerbsverbot nicht erforderlich und erst recht nicht angemessen, weil dem Handlungsgehilfen ein konkreter Ausschnitt der Berufsausübung vollumfänglich untersagt wird, obwohl kein schützenswerter Belang des Prinzipals gegenübersteht. Weitere verfassungsrechtliche legitime Zwecke sind nicht ersichtlich. Insoweit ist dem 3. Senat des BAG zuzustimmen, dass auch der „Gesundheitsschutz“ des Handlungsgehilfen nicht als vernünftiger Zweck des Allgemeinwohls zur Rechtfertigung der Regelung in Betracht kommt, da es dem Handlungsgehilfen schließlich mit Einwilligung des Prinzipals gestattet wäre, „Raubbau an seiner Gesundheit zu treiben.“160 Ferner könnte der Gesundheitsschutz wegen Art. 3 Abs. 1 GG keinen verfassungsrechtlich legitimen Zweck bilden, weil so weder erklärt werden könnte, warum diese Beschrän156  BVerfG, Beschl. v. 15. 02. 1967 – 1 BvR 569, 589/62, BVerfGE 21, 173, 179; unter Bezug hierauf: BAG, Urt. v. 25. 05. 1970 – 3 AZR 384/69, BAGE 22, 344, 349. 157  In der Sache ebenso: BAG, Urt. v. 25. 05. 1970 – 3 AZR 384/69, BAGE 22, 344, 350 f. 158  Grundlegend zur Dreistufentheorie: BVerfG, Urt. v. 11.  06. 1958 – 1 BvR 596/56, BVerfGE 7, 377, 405 ff.; ferner dazu: Mann/Worthmann, JuS 2013, 385, 390 ff.; Lindner, Öffentliches Recht, 2017, Rn. 698. 159  Dazu in st. Rspr. z. B. BVerfG, Urt. v. 11. 06. 1958 – 1 BvR 596/56, BVerfGE 7, 377, 405; BVerfG, Beschl. v. 11. 02. 1992 – 1 BvR 1531/90, BVerfGE 85, 248, 259; BVerfG, Beschl. v. 12. 12. 2006 – 1 BvR 2576/04, BVerfGE 117, 163, 182; BVerfG, Urt. v. 10. 06. 2009 – 1 BvR 706, 814, 819, 832, 837/08, BVerfGE 123, 186, 238; BVerfG, Beschl. v. 01. 06. 2011 – 1 BvR 233/10, 1 BvR 235/10, NJW 2011, 2636, 2637; BVerfG, Beschl. v. 12. 01. 2016 – 1 BvL 6/13, BVerfGE 141, 82, 88. 160  BAG, Urt. v. 25. 05. 1970 – 3 AZR 384/69, BAGE 22, 344, 349.



B. Normtextvereinbarkeit und Normzweckunvereinbarkeit325

kung auf den Handlungsgehilfen limitiert ist, noch, warum er ohne Einwilligung eine nicht gewerbliche Nebentätigkeit ausüben dürfte, auch wenn sie für ihn möglicherweise anspruchsvoller wäre als eine selbständige.161 Daher kann ein umfassendes Verbot selbst dann nicht gerechtfertigt sein, wenn man den verfassungsrechtlich legitimen Zweck darin sieht, dass der Prinzipal davor geschützt werden soll, dass sich sein Handlungsgehilfe durch den Betrieb eines Handelsgewerbe derart belastet, dass die Erfüllung seiner vertraglichen Pflichten gegenüber dem Prinzipal gefährdet wäre.162 Dies wäre nämlich mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren, da kein sachlicher Grund bestünde, eine Gefährdung des Vertragsziels durch nicht gewerbliche Tätigkeiten zu dulden.163 Insgesamt steht damit fest, dass ein so weitgehender Eingriff in die Berufsfreiheit verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt ist, wenn dem Handlungsgehilfen sogar der Betrieb eines Handelsgewerbes untersagt wird, das in keinem Wettbewerbsverhältnis zum Gewerbebetrieb des Prinzipals steht. In diesem Fall liegt vielmehr ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Berufsfreiheit vor. Insoweit wird der gebotene Normzweck durch die Wertung des Art. 12 GG beeinflusst, die fordert, ein Handelsgewerbe ohne Wettbewerbsverhältnis vom Wettbewerbsverbot des § 60 Abs. 1 HGB auszunehmen.164 Wertungen des Unionsrechts gebieten in dieser Hinsicht kein abweichendes Ergebnis. c) Ergebnis Ein Handelsgewerbe, das den Wettbewerbsinteressen des Prinzipals nicht zuwiderläuft, wird damit zwar vom Normtext des § 60 Abs. 1 Alt. 1 HGB verboten; in Anbetracht des gebotenen Normzwecks müsste es aber erlaubt sein. Aus diesem Grund ist das Wettbewerbsverbot des § 60 Abs. 1 HGB teleologisch zu reduzieren.

161  Überzeugend insoweit: BAG, Urt. v. 25. 05. 1970 – 3 AZR 384/69, BAGE 22, 344, 349 f. 162  Im Ergebnis ebenso: BAG, Urt. v. 25. 05. 1970 – 3 AZR 384/69, BAGE 22, 344, 350.  163  Ähnlich: BAG, Urt. v. 25. 05. 1970 – 3 AZR 384/69, BAGE 22, 344, 350. 164  Im Ergebnis ebenso: BAG, Urt. v. 25. 05. 1970 – 3 AZR 384/69, BAGE 22, 344, 350, auch wenn das BAG methodisch ungenau von einer verfassungskonformen Auslegung ausgeht.

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Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

IV. Wertung einer unionsrechtlichen Norm: Verjährungsverkürzung bei gebrauchten Kaufgegenständen 1. Problemaufriss In Konsequenz der Privatautonomie ist es grundsätzlich möglich, eine gesetzliche Verjährungsfrist durch Vertrag zu erleichtern, soweit dem nicht eine Vorschrift des zwingenden Rechts entgegensteht. Beschränkungen ergeben sich aus der allgemeinen Regelung des § 202 Abs. 1 BGB,165 aber auch aus speziellen Bestimmungen wie der des § 476 Abs. 2 BGB166 für den Verbrauchsgüterkauf.167 Letztere zieht der Vertragsfreiheit eine Grenze, wenn die Verjährung der Ansprüche in § 437 BGB vor Mangelmitteilung an den Unternehmer durch Rechtsgeschäft derart verkürzt wird, dass eine Verjährungsfrist von zwei Jahren und bei gebrauchten Sachen eine solche von einem Jahr unterschritten wird. Die Vorschrift wurde im Zuge der Schuldrechtsreform aufgenommen und erging in Umsetzung der Art. 5 Abs. 1168 und Art. 7 Abs. 1169 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie.170 Insoweit galt lange Zeit als gesichert, dass die in Art. 5 Abs. 1 S. 2 der Richtlinie vorgesehene Verjährungsfrist von zwei Jahren wegen Art. 7 Abs. 1 UAbs. 2 S. 2 bei gebrauchten Sachen durch Vertrag europarechtlich in zulässiger Weise auf ein 165  Zum Verbotscharakter des § 202 BGB gegenüber privatautonomen Vereinbarungen: Henrich, in: BeckOK-BGB, 2020, § 202 BGB, Rn. 1. 166  Der bisherige § 475 BGB wurde zu § 476 BGB mit Wirkung zum 01. 01. 2018 durch das Gesetz zur Reform des Bauvertragsrechts, zur Änderung der kaufrecht­ lichen Mängelhaftung, zur Stärkung des zivilprozessualen Rechtsschutzes und zum maschinellen Siegel im Grundbuch- und Schiffsregisterverfahren vom 28. April 2017, BGBl.  I v.  04. 05. 2017, S.  969 ff. 167  Zum die Privatautonomie einschränkenden Charakter des § 476 BGB: Lorenz/ Gärtner, JuS 2013, 199, wenngleich zur Vorgängerregelung des § 475 BGB; nun für die Nachfolgervorschrift: Lorenz, in: MünchKomm-BGB, Band 4, 2019, § 476 BGB, Rn. 1. 168  Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie: „Der Verkäufer haftet nach Artikel 3, wenn die Vertragswidrigkeit binnen zwei Jahren nach der Lieferung des Verbrauchsgutes offenbar wird. Gilt nach dem innerstaatlichen Recht für die Ansprüche nach Artikel 3 Absatz 2 eine Verjährungsfrist, so endet sie nicht vor Ablauf eines Zeitraums von zwei Jahren ab dem Zeitpunkt der Lieferung“ [Hervorhebung v. Verf.]. 169  Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 der Richtlinie: „Im Fall gebrauchter Güter können die Mitgliedstaaten vorsehen, daß der Verkäufer und der Verbraucher sich auf Vertragsklauseln oder Vereinbarungen einigen können, denen zufolge der Verkäufer weniger lange haftet als in Artikel 5 Absatz 1 vorgesehen. Diese kürzere Haftungsdauer darf ein Jahr nicht unterschreiten“ [Hervorhebung v. Verf.]. 170  Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Mai 1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter („Verbrauchsgüterkaufrichtlinie“), ABl. EG v. 07.  07.  1999, L 171, S. 12 ff.



B. Normtextvereinbarkeit und Normzweckunvereinbarkeit327

Jahr verkürzt werden kann. Nun hat der EuGH auf Vorlage eines belgischen Gerichts171 jedoch jüngst festgestellt, dass sich die Richtlinie dieser Lesart verschließt und eine vertragliche Verjährungsverkürzung unter zwei Jahren mit ihr unvereinbar ist.172 Nachdem damit feststeht, dass auch das deutsche Umsetzungsgesetz partiell gegen die Richtlinie verstößt, ist zu untersuchen, ob der Normtext des § 476 Abs. 2 BGB teleologisch reduziert werden kann, um ihn auf den gebotenen Normzweck zurückzuführen, der hier entscheidend durch die Richtlinienwertung beeinflusst wird.173 2. Lösung a) Normtextanalyse In der Normtextanalyse zu § 476 Abs. 2 BGB ist zügig ermittelt, dass der Wortlaut unmissverständlich eine vertragliche Vereinbarung gestattet, die bei gebrauchten Sachen eine Verjährungsfrist von weniger als zwei Jahren vorsieht, solange sie ein Jahr nicht unterschreitet. Evidenz-, Referenz- und Konvergenzkontrolle kommen insoweit zu dem identischen Ergebnis, dass der Sachverhalt vom Normtext umschlossen ist. b) Normzweckanalyse In der Normzweckanalyse ist zu eruieren, ob dieser Fall nach dem gebotenen Normzweck mit einer teleologischen Reduktion aus der deutschen Umsetzungsnorm ausgeschlossen werden muss.

171  Vorgelegt hatte das belgische Appellationsgericht Mons (Cour d’appel de Mons); siehe dazu: EuGH, Urt. v. 13. 07. 2017 – Rs. C-133/16 – Ferenschild, ECLI:EU:C:2017:541, Rn. 31. 172  EuGH, Urt. v. 13. 07. 2017 – Rs. C-133/16 – Ferenschild, ECLI:EU:C:2017:541, Rn. 50 f.; jüngst in einem obiter dictum zur Richtlinienwidrigkeit: BGH, Urt. v. 09. 10. 2019 – VIII ZR 240/18, NJW 2020, 759, 760; Lorenz, in: MünchKomm-BGB, Band 4, 2019, § 476 BGB, Rn. 26. 173  Zu Recht für eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung: Leenen, JZ 2018, 284, 291; Looschelders, Schuldrecht Besonderer Teil, 2020, § 14 Rn. 21; ablehnend: Köhler, GPR 2018, 37, 41 f., der ein Einschreiten des Gesetzgebers für erforderlich hält; Lorenz, in: MünchKomm-BGB, Band 4, 2019, § 476 BGB, Rn. 26; Augenhofer, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 476 BGB, Rn. 67, die ohne nähere Begründung annimmt, dass ein „Spielraum für eine teleologische Reduktion der Norm grundsätzlich nicht“ bestehe; ebenso: Faust, in: BeckOK-BGB, 2020, § 476 BGB, Rn. 4; zum Streitstand: Kulke, EWiR 2018, 397, 398.

328

Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

Blickt man in die Gesetzesmaterialien zu § 476 Abs. 2 BGB,174 um so die Wertung der Einzelnorm zu ermitteln, findet sich die Aussage, dass die Bestimmung für gebrauchte Sachen „eine Untergrenze von einem Jahr [vorsehe], die nicht unterschritten werden“ dürfe. Expliziter Beweggrund hierfür war, dass der nationale Gesetzgeber annahm, dies lasse Art. 7 Abs. 1 S. 2 der umzusetzenden Richtlinie ausdrücklich zu.175 Die Zwecksetzung zu § 476 Abs. 2 BGB zielte somit darauf ab, eine Kürzung der Verjährungsfrist bei gebrauchten Sachen unter zwei Jahren zu gestatten, soweit eine Frist von einem Jahr nicht unterschritten werde. Wertungen des gleichrangigen Rechts sind nicht ersichtlich, weil sich die Privatrechtsordnung an keiner anderen Stelle mit diesem oder einem ähnlichen Problem befasst. Auch sind keine Wertungen des Verfassungsrechts erkennbar, die in dieser Konstellation ein anderes Ergebnis gebieten könnten. Eine andere Beurteilung ergibt sich aber aus den Wertungen des Unionsrechts. Wie der EuGH in seiner jüngeren Entscheidung klarstellt, ist für die zulässige Dauer der Verjährung allein Art. 5 Abs. 1 S. 2 der Richtlinie maßgeblich, der vorschreibt, dass „eine Verjährungsfrist […] nicht vor Ablauf eines Zeitraums von zwei Jahren ab dem Zeitpunkt der Lieferung“ endet. Auslöser für das Missverständnis des Umsetzungsgesetzgebers war, dass die Richtlinie, wie sich aus Art. 5 Abs. 1 und Erwägungsgrund 17 ergibt, grundsätzlich zwischen zwei Arten von Fristen unterscheidet.176 Auf der einen Seite ist dies die Haftungsfrist des Art. 5 Abs. 1 S. 1, mithin „die Haftungsdauer des Verkäufers, die sich auf den Zeitraum bezieht, in dem das Auftreten einer Vertragswidrigkeit […] die […] Haftung des Verkäufers auslöst und somit zur Entstehung der Rechte führt“.177 Auf der anderen Seite ist dies die Verjährungsfrist, die in Art. 5 Abs. 1 S. 2 erwähnt ist und sich auf den Zeitraum bezieht, „in dem der Verbraucher seine Rechte, die während der Haftungsdauer des Verkäufers entstanden sind, […] ausüben kann.“178 Mit diesem Vorverständnis, das in Erwägungsgrund 17 angelegt ist, wird erkennbar, dass die Verjährungsfrist wegen Art. 5 Abs. 1 S. 2 generell zwei Jahre nicht unterschreiten darf, während die Verkürzung auf ein Jahr nach Art. 7 Abs. 1 UAbs. 2 allein für die Haftungsfrist gestattet ist.179 Bestätigt wird dies durch 174  Damals

noch § 475 BGB. S. 245. 176  EuGH, Urt. v. 13. 07. 2017 – Rs. C-133/16 – Ferenschild, ECLI:EU:C:2017:541, Rn. 33 ff.; ferner hierzu: Faust, in: BeckOK-BGB, 2020, § 476 BGB, Rn. 4. 177  EuGH, Urt. v. 13. 07. 2017 – Rs. C-133/16 – Ferenschild, ECLI:EU:C:2017:541, Rn. 34. 178  EuGH, Urt. v. 13. 07. 2017 – Rs. C-133/16 – Ferenschild, ECLI:EU:C:2017:541, Rn. 35. 179  EuGH, Urt. v. 13. 07. 2017 – Rs. C-133/16 – Ferenschild, ECLI:EU:C:2017:541, Rn. 43; ferner hierzu: Looschelders, Schuldrecht Besonderer Teil, 2020, § 14 Rn. 21. 175  BT-Drucks. 14/6040,



B. Normtextvereinbarkeit und Normzweckunvereinbarkeit329

Erwägungsgrund 16 der Richtlinie, wonach die „Mitgliedstaaten […] den Parteien gestatten [können], für […] [gebrauchte Sachen] eine kürzere Haftungsdauer zu vereinbaren.“180 Insgesamt zeigt damit die Wertung der europäischen Richtlinie, dass eine Verjährungsfrist von weniger als zwei Jahren auch bei gebrauchten Sachen unzulässig ist.181 Weil die Richtlinie jedoch selbst keine Wirkungen zwischen Privaten hervorbringen darf182 und dies nur mithilfe des nationalen Umsetzungsgesetzes geschehen kann,183 ist im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH danach zu fragen, ob die europäische Vorgabe durch eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung zu § 476 Abs. 2 BGB mit dem nationalen Methodeninstrumentarium erreicht werden kann.184 Wie erarbeitet wurde,185 stößt sie hiernach an Grenzen, wenn sie dem erkennbaren Willen des nationalen Umsetzungsgesetzgebers zuwiderlaufen würde.186 Vereinzelt wird angedeutet, dies sei hier der Fall und der Wille des Gesetzgebers stehe einer Rechtsfortbildung entgegen, weil er davon ausging, dass Art. 7 Abs. 1 S. 2 das Unterschreiten der Verjährungsfrist von zwei Jahren ausdrücklich zulasse.187 Zutreffend ist, dass ein konkreter Umsetzungswille einem gene180  Ferner zu dieser Argumentation: EuGH, Urt. v. 13. 07. 2017 – Rs. C-133/16 – Ferenschild, ECLI:EU:C:2017:541, Rn. 45. 181  EuGH, Urt. v. 13. 07. 2017 – Rs. C-133/16 – Ferenschild, ECLI:EU:C:2017:541, Rn. 50 f.; BGH, Urt. v. 09. 10. 2019 – VIII ZR 240/18, NJW 2020, 759, 760 (obiter dictum). 182  Ausführlich hierzu unter: Erster Teil  B. II. 2. c) bb) (2) (b). 183  Zutreffend betont Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 12 Rn. 2 insoweit, dass „die nationale Norm die für den Bürger maßgebliche Rechtsquelle“ ist.“ 184  EuGH, Urt. v. 10. 04. 1984 – Rs. 14/83 – von Colson und Kamann/Land Nordrhein-Westfalen, ECLI:EU:C:1984:153, Rn. 28: „Es ist Sache des nationalen Gerichts, das zur Durchführung der Richtlinie erlassene Gesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen und anzuwenden“ [Hervorhebung v. Verf.]; ferner zu den nationalen Grenzen der richtlinienkonformen Rechtsanwendung: Felke, MDR 2002, 226 f.; Roth, EWS 2005, 385, 393 f. 185  Hierzu ausführlich unter: Zweiter Teil  B. V. 2. d) bb) (2) (b). 186  Zum Gesetzgeberwillen als Grenze der Rechtsanwendung: BVerfG, Beschl. v. 30. 06. 1964 – 1 BvL 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25/62 – Zusammenveranlagung, BVerfGE 18, 97, 111; BVerfG, Beschl. v. 25. 01. 2011 – 1 BvR 918/10 – Dreiteilungsmethode, BVerfGE 128, 193, 210; jüngst: BGH, Beschl. v. 31. 03. 2020 – XI ZR 198/19, BKR 2020, 253, 254 f.; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, S. 132; Kroll-Ludwigs/Ludwigs, ZJS 2009, 123, 128; Michael/Payandeh, NJW 2015, 2392, 2396; Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 12 Rn. 78; a. A. Behrens, EuZW 1994, 289 (so im Ergebnis, ohne dies explizit auszusprechen); Herresthal, JuS 2014, 289, 292 f., die beide annehmen, dass der Wille des nationalen Gesetzgebers überwunden werden kann. 187  Zu dieser irrtümlichen Annahme des Umsetzungsgesetzgebers: BT-Drucks. 14/ 6040, S. 245.

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Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

rellen gegenüber vorrangig ist;188 denn der generelle Umsetzungswille ist bereits dann anzunehmen, wenn der nationale Gesetzgeber, wie nahezu immer, die Absicht hatte, eine Richtlinienvorgabe korrekt im nationalen Recht abzubilden.189 Ferner trifft es zu, dass sich in den Materialien die Überzeugung nachweisen lässt, dass lediglich die „Untergrenze von einem Jahr […] nicht unterschritten werden“ dürfe.190 Betrachtet man die legislative Stellungnahme jedoch in ihrem Kontext, zeigt sich, dass der zitierte Abschnitt in den Gesetzesmaterialien um einen Zusatz ergänzt ist, der belegt, dass wie bei einem generellen Umsetzungswillen auch an dieser Stelle ein Gleichlauf mit der Richtlinie erzielt werden sollte.191 „Für gebrauchte Sachen enthält die Bestimmung [des § 476 Abs. 2 BGB] eine Untergrenze von einem Jahr, die nicht unterschritten werden darf; dies lässt Artikel 7 Abs. 1 Satz 2 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie ausdrücklich zu.“192

Anders als bei einer bewussten Gehorsamsverweigerung,193 ist insoweit eine Regelungsabsicht erkennbar, die sich der Richtlinie nicht verschließt, sondern im Gegenteil versucht, den Richtlinieninhalt umzusetzen. Dass der Gesetzgeber hieran letztlich nur irrtumsbedingt gescheitert ist,194 wird nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass dem deutschen Recht nur Verjährungsfristen bekannt sind, das Konzept einer Haftungsfrist hingegen fremd ist.195 Auch erscheint so plausibel, warum keine eigenständige Haftungsfrist bestimmt ist, sondern nur eine Verjährungsfrist aufgenommen wurde.196 All dies mündet in die Einsicht, dass der nationale Gesetzgeber im Ergebnis eine 188  Zum Vorrang des konkreten Regelungswillens: Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 258 f.; Kroll-Ludwigs/Ludwigs, ZJS 2009, 123, 127; näher dazu bereits unter: Zweiter Teil  B. V. 2. d) bb) (2) (b) (aa). 189  Dazu: Beyer/Möllers, JZ 1991, 24, 29 f.; Grundmann, ZEuP 1996, 399, 420; Möllers, EuR 1998, 20, 45; Hainthaler, ZJS 2015, 13, 19. 190  BT-Drucks. 14/6040, S. 245. 191  Siehe dazu: BT-Drucks. 14/6040, S. 245. 192  BT-Drucks. 14/6040, S. 245 (Hervorhebung v. Verf.). 193  Hierzu bereits unter: Zweiter Teil  B. V.  2. d) bb) (2) (b) (aa). 194  Zu den Auswirkungen solcher Irrtümern auf die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung: Faust, in: BeckOK-BGB, 2020, § 433 BGB, Rn. 7, wonach eine „Rechtsfortbildung […] [auch] dadurch legitimiert werden [kann], dass der Gesetzgeber ausdrücklich seine Absicht bekundet hat, eine richtlinienkonforme Regelung zu schaffen, die Annahme des Gesetzgebers, die Regelung sei richtlinienkonform, aber fehlerhaft ist“. 195  Lorenz, in: MünchKomm-BGB, Band 4, 2019, § 476 BGB, Rn. 25, wonach die Haftungsdauer „im deutschen Recht kein Äquivalent“ habe; ähnlich: Augenhofer, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 476 BGB, Rn. 66, die insoweit nicht zu Unrecht anmerkt, dass die „durch den EuGH vorgenommene Differenzierung zwischen Haftungsdauer in S. 1 und Verjährungsfrist in S. 2 des Art. 5 Abs. 1 […] auf den ersten Blick nicht ersichtlich sein“ mag. 196  Siehe hierzu auch: Faust, in: BeckOK-BGB, 2020, § 476 BGB, Rn. 4.



B. Normtextvereinbarkeit und Normzweckunvereinbarkeit331

Übereinstimmung von Richtlinie und § 476 Abs. 2 BGB beabsichtigt hatte und in der Folge ein hinreichender legislativer Umsetzungswille gegeben ist. Dies in Rechnung gestellt zeigt sich der gebotene Normzweck, dass eine Verjährungsfrist von weniger als zwei Jahren auch bei gebrauchten Sachen unzulässig ist. Eine Nichtanwendung der nationalen Umsetzungsvorschrift würde zwar ein richtlinienkonformes Ergebnis bewirken; nach der überzeugenden Rechtsprechung des EuGH kommt eine solche aber nur in Betracht, wenn nicht bereits eine europarechtskonforme Auslegung oder Rechtsfortbildung als Minus zum Ziel führt.197 Folglich ist hier eine teleologische Reduktion des § 476 Abs. 2 BGB vorrangig, mit der die Möglichkeit der Verjährungsverkürzung auf bis zu ein Jahr aus dem Normtext entfernt wird und somit auch gebrauchte Sachen der Untergrenze von zwei Jahren unterfallen. c) Ergebnis Insoweit wird der gebotene Normzweck hier entscheidend durch eine Wertung des Unionsrechts beeinflusst, die es erfordert, den Normtext in § 476 Abs. 2 BGB bis zur Anpassung durch den Gesetzgeber198 teleologisch derart zu reduzieren, dass eine vertragliche Verjährungsverkürzung auch bei gebrauchten Sachen zwei Jahre nicht unterschreiten darf.

197  EuGH, Urt. v. 04. 02. 1988 – Rs. 157/86 – Murphy/An Bord Telecom Eireann, ECLI:EU:C:1988:62, Rn. 11: „Es ist Sache des nationalen Gerichts, das innerstaatliche Gesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen und anzuwenden; soweit eine solche gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nicht möglich ist, darf es entgegenstehende innerstaatliche Vorschriften nicht anwenden“; zur europarechtskonformen Rechtsfortbildung als Minus zur Unanwendbarkeit: Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 12 Rn. 25, der dies mit dem favor-legis-Gedanken, dem „Prinzip der Normerhaltung“, begründet; ebenfalls in diese Richtung: Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 890. 198  Siehe zur aktuellen Diskussion den Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz vom 24. 01. 2020, S. 4, wonach in § 476 BGB in „Absatz 2 […] nach dem Wort ‚Jahren‘ das Komma und die Wörter ‚bei gebrauchten Sachen von weniger als einem Jahr‘ gestrichen“ werden sollen; abrufbar unter: www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente/RefE_Faire_Ver brauchervertraege.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (zuletzt abgerufen am 01.12. 2020); hierzu auch: Faust, in: BeckOK-BGB, 2020, § 476 BGB, Rn. 4.

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Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

C. Normtextunvereinbarkeit und Normzweckvereinbarkeit (zulässige normtexterweiternde Rechtsfortbildung) In der dritten hier zu besprechenden Konstellation ist eine normtexterweiternde Rechtsfortbildung zulässig und geboten, da der Sachverhalt nicht vom Normtext eingeschlossen wird, obwohl dies nach dem zugrunde liegenden Normzweck erforderlich wäre. Ist die Rechtsordnung derart lückenhaft, muss der Normtext auf Tatbestandsseite durch Analogie und auf Rechtsfolgenseite durch teleologische Extension erweitert werden.199 Weil der gebotene Norm­ zweck durch verschiedene Wertentscheidungen beeinflusst werden kann, werden wie auch in den anderen Konstellationen Anwendungsbeispiele vorgestellt, bei denen jeweils eine Wertung der anzuwendenden Norm, einer gleichrangigen, einer verfassungsrechtlichen oder einer unionsrechtlichen Norm maßgeblich ist.

I. Wertung der Einzelnorm: Erlöschen als Rücktrittsfolge 1. Problemaufriss Fand ein Leistungsaustausch bereits vor der Erklärung des Rücktritts statt, wird ein zwischen den Beteiligten bestehender Vertrag durch das Gestaltungsrecht in ein Rückgewährschuldverhältnis umgewandelt;200 in der Folge sind empfangene Leistungen zurückzugewähren und gezogene Nutzungen herauszugeben. Fand ein Leistungsaustausch hingegen noch nicht statt, führt der Rücktritt nach herrschender Meinung dazu, dass die Leistungspflichten ex nunc erlöschen.201 Erstaunlich ist vor diesem Hintergrund, dass nach wie 199  Eingehend zum Unterschied von Analogie und teleologischer Extension unter: Erster Teil  A. II. 1. a) aa) und bb). 200  BGH, Urt. v. 08. 12. 1989 – V ZR 174/88, NJW 1990, 2068, 2069; BGH, Urt. v. 28. 11. 2007 – VIII ZR 16/07, BGHZ 174, 290, 293; Herold, Das Rückabwicklungsschuldverhältnis aufgrund vertraglichen oder gesetzlichen Rücktritts, 2001, S. 72; Hellwege, Die Rückabwicklung gegenseitiger Verträge als einheitliches Problem, 2004, S. 53; Fest, Der Einfluss der rücktrittsrechtlichen Wertungen auf die bereicherungsrechtliche Rückabwicklung nichtiger Verträge, 2006, S. 18; Linke, Die Rückabwicklung gescheiterter gegenseitiger Verträge, 2007, S. 36; Kaiser, in: Staudinger, BGB, 2012, § 346 BGB, Rn. 69; Medicus/Lorenz, Schuldrecht I, 2015, Rn. 596. 201  Zur herrschenden ex nunc-Wirkung des Rücktritts: BGH, Urt. v. 24. 06. 1983 – V ZR 113/82, BGHZ 88, 46, 48; BGH, Urt. v. 21. 01. 1994 – V ZR 238/92, NJW 1994, 1161, 1162; BGH, Urt. v. 10. 07. 1998 – V ZR 360/96, NJW 1998, 3268, 3268 f.; BGH, Urt. v. 28. 11. 2007 – VIII ZR 16/07, BGHZ 174, 290, 293; BGH, Urt. v. 10. 03. 2009 – XI ZR 33/08, BGHZ 180, 123, 131 (obiter dictum); Herold, Das Rückabwicklungsschuldverhältnis aufgrund vertraglichen oder gesetzlichen Rücktritts, 2001, S. 72; Fest, Der Einfluss der rücktrittsrechtlichen Wertungen auf die be-



C. Normtextunvereinbarkeit und Normzweckvereinbarkeit333

vor ungeklärt ist, wie dieses Ergebnis im Detail zu begründen ist. Vereinzelt wird das Erlöschen als Rücktrittsfolge schlicht als bestehend vorausgesetzt.202 Andere Autoren begnügen sich mit dem Hinweis, die Rechtsfolge sei für den Gesetzgeber „so selbstverständlich [gewesen], dass er auf eine ausdrückliche Regelung verzichtet“ habe.203 Wiederum andere leiten das Ergebnis aus § 346 Abs. 1 BGB ab, da nur so „ein unnötiges Hin und Her der Leistungen vermieden werden“ könne.204 Die bloße Behauptung kann für sich nicht genügen, um die Existenz der Rücktrittsfolge zu erklären. Ebenso wenig ist es ausreichend, allein die gesetzgeberische Stellungnahme als Rechtsgrundlage heranzuziehen, da sie nicht Gesetz geworden ist und für sich keine Rechtsquelle darstellt. Zu kurz greift ferner die alleinige Begründung über das anerkennenswerte Ziel, ein „unnötiges Hin und Her“205 zu verhindern; schließlich könnte dieses Ziel auch erreicht werden, wenn der Rücktritt, wie noch im ersten Entwurf des BGB vorgesehen, nur eine Einrede gegen die Verpflichtung begründen würde.206 Das herrschende Verständnis ließe sich jedoch mit einer teleologischen Extension des § 346 Abs. 1 BGB verwirklichen, soweit der gebotene reicherungsrechtliche Rückabwicklung nichtiger Verträge, 2006, S. 18; Döll, Rückgewährstörungen beim Rücktritt, 2011, S. 57; Annuß, JA 2006, 184, 185; Fest, ZGS 2009, 126, 130; Bartels, AcP 215 (2015), 203, 212; Kaiser, in: Staudinger, BGB, 2012, § 346 BGB, Rn. 4; Gaier, in: MünchKomm-BGB, Band 3, 2019, § 346 BGB, Rn. 17; Schulze, in: Hk-BGB, 2019, § 346 BGB, Rn. 9; Medicus/Lorenz, Schuldrecht I, 2015, Rn. 595; Looschelders, Schuldrecht Allgemeiner Teil, 2020, § 40 Rn. 5; demgegenüber für eine ex tunc-Wirkung: Flume, NJW 1970, 1161, 1166, der diese Sichtweise implizit offenlegt, indem er annimmt, dass den Rücktrittsberechtigten „dann aber ebenso wie in dem Falle des nichtigen gegenseitigen Geschäfts die Bereicherungshaftung“ treffe; Schall, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 346 BGB, Rn. 198; für gesetzliche Rücktrittsrechte sogar in modifizierter Form: Lobinger, in: Soergel, BGB, Band 5/3, 2010, Vor § 346 BGB, Rn. 27, der von einer „störungsbezogenen ex tuncWirkung“ und damit davon ausgeht, dass der Rücktritt auf den Zeitpunkt zurückwirke, „ab dem die Leistungen der Parteien wegen der schließlich zum Rücktrittsrecht führenden Störung trotz des wirksam geschlossenen Vertrags materiell ohne Rechtsgrund erfolgen (würden)“; ähnlich kritisch zur herrschenden Ansicht: Kohler, AcP 208 (2008), 417, 423 ff. 202  So etwa: Schulze, in: Hk-BGB, 2019, § 346 BGB, Rn. 9; Medicus/Lorenz, Schuldrecht I, 2015, Rn. 595. 203  Looschelders, Schuldrecht Allgemeiner Teil, 2020, § 40 Rn. 5 unter Verweis auf die Gesetzesentwurfsbegründung zum Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts: BT-Drucks. 14/6040, S. 194. 204  Döll, Rückgewährstörungen beim Rücktritt, 2011, S. 60; Kaiser, in: Staudinger, BGB, 2012, § 346 BGB, Rn. 2. 205  Hierzu: Kaiser, in: Staudinger, BGB, 2012, § 346 BGB, Rn. 2. 206  So wurde eine Konstruktion als Einrede von der ersten Kommission sogar noch präferiert: Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 155 f. (= Motive, S. 280 f.), wonach durch

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Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

Normzweck dazu veranlasst, den Normtext auf Rechtsfolgenseite um diesen Fall zu erweitern. 2. Lösung a) Normtextanalyse Mit der Normtextanalyse gelangt man ohne großen Aufwand zu dem Ergebnis, dass ein Erlöschen nicht erfüllter Leistungspflichten nicht in der Formulierung des § 346 Abs. 1 BGB abgebildet ist. Der Gesetzestext ist vielmehr auf die Situation ab dem Leistungsempfang zugeschnitten, da er allein davon spricht, dass „im Falle des Rücktritts die empfangenen Leistungen zurückzugewähren und die gezogenen Nutzungen herauszugeben“ sind. Die Situation vor Leistungsempfang wird vom Normtext nicht angesprochen. Evidenz-, Referenz- und Konvergenzkontrolle kommen insoweit zu einem identischen Ergebnis. b) Normzweckanalyse Infolgedessen ist mit der Normzweckanalyse zu untersuchen, ob der vom Normtext ignorierte Fall im Lichte des gebotenen Normzwecks eingeschlossen sein müsste. Ausgangspunkt ist die Wertung der Einzelnorm in § 346 BGB, der das Herzstück des Rücktrittsfolgenrechts bildet. Konsultiert man auf der Suche nach dem gesetzgeberischen Regelungszweck die Materialien, zeigt sich, dass die erste Kommission im ersten Entwurf207 noch annahm, der Rücktritt vor Leistungsaustausch münde nicht in ein Erlöschen bestehender Rechte, sondern begründe „eine selbständige (unverjährbare) Einrede gegen den Anspruch aus dem Vertrage“.208 Erst die zweite Kommission kam zu der Überzeugung, dass der Rücktritt das Schuldverhältnis zum Erlöschen bringe.209 Während sie in erster Lesung in Teilen noch zu einer Wirkung ex tunc „die Rücktrittserklärung unmittelbar […] für beide Theile […] eine selbständige (unverjährbare) Einrede gegen den Anspruch aus dem Vertrage […] begründet“ werde. 207  § 427 im ersten Entwurf, § 298 im zweiten Entwurf, § 341 in der Bundesratsvorlage, § 340 in der Reichstagsvorlage und § 346 im Bürgerlichen Gesetzbuch; siehe dazu: Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 155 (= Motive, S. 280). 208  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 155 f. (= Motive, S. 280 f.). 209  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 727 (= Protokolle, S. 8418).



C. Normtextunvereinbarkeit und Normzweckvereinbarkeit335

tendierte,210 entschied sie sich in zweiter Lesung in Parallelität zu den schenkungsrechtlichen Widerrufsbestimmungen für eine Wirkung ex nunc.211 Trotz dieser inhaltlich grundlegenden Weichenstellung212 verzichtete die zweite Kommission aber darauf, diese Rücktrittsfolge im Gesetz festzuschreiben, weil sie der Ansicht war, dass es der Aufnahme dieses „Satzes […] nicht [bedürfe], um Uebereinstimmung mit den übrigen Vorschriften herzustel­ len“.213 Auf derselben Linie liegt die gesetzgeberische Stellungnahme im Zusammenhang mit der Überarbeitung des § 346 BGB im Zuge der Schuldrechtsmodernisierung.214 Zu diesem Zeitpunkt war der Gesetzgeber nach wie vor davon überzeugt, dass der „Rücktritt […] zugleich die Wirkung [habe], dass die durch den Vertrag begründeten primären Leistungspflichten, soweit sie nicht erfüllt sind, erlöschen.“215 Erneut schien es aus seiner Sicht „nicht erforderlich, diese Befreiungswirkung im Gesetzeswortlaut ausdrücklich auszusprechen.“216 Für § 346 Abs. 1 BGB ist insoweit eine explizite gesetzgeberische Regelungsabsicht feststellbar, die bei einem Rücktritt vor Leistungsaustausch die Leistungspflichten für die Zukunft erlöschen lassen will.

210  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 726 (= Protokolle, S. 1582). 211  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 727 (= Protokolle, S. 8418): „Der Rücktritt für die Zukunft wirkt in Ansehung des Schuldverhältnisses objektiv, er beendet es. In gleicher Weise hebt der Widerruf einer Schenkung diese als Kausalgeschäft auf.“ 212  Diese Weichenstellung wurde indes lange Zeit ignoriert, weshalb die wohl herrschende Meinung bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts davon ausging, dass der Rücktritt ex tunc wirke; zu dieser Beobachtung: Fest, ZGS 2009, 126, 130. 213  So die zweite Kommission in der zweiten Lesung: Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 727 (= Protokolle, S. 8419); demgegenüber war die zweite Kommission in der ersten Lesung noch der Auffassung, dass sich für „beide Arten der Konstruktion […] Gründe geltend machen“ ließen. Infolgedessen wurde in der ersten Lesung auch ein Änderungsantrag abgelehnt, der das Erlöschen der Leistungspflichten in den Normtext aufnehmen wollte; siehe dazu: Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 725 (= Protokolle, S. 1579), wonach mit Antrag 1 Satz 1 begehrt wurde: „1. Den § 427 durch folgende Vorschriften zu ersetzen: ‚Hat bei einem Vertrage ein Theil sich den Rücktritt vorbehalten, so hat der Rücktritt die Wirkung, daß das durch den Vertrag begründete Schuldverhältniß erlischt.‘ […].“; der Entwurf wurde im weiteren Verlauf erst „nach Ablehnung des Satzes 1 des Antrages 1 gebilligt“: Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 726 (= Protokolle, S. 1582). 214  Im Einzelnen dazu: BT-Drucks. 14/6040, S. 189 ff. 215  BT-Drucks. 14/6040, S. 194. 216  BT-Drucks. 14/6040, S. 194; zustimmend und unter Berufung hierauf: Looschelders, Schuldrecht Allgemeiner Teil, 2020, § 40 Rn. 5.

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Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

Auch wenn dies als Wertentscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers für den Rechtsanwender bindend ist, beruht die Stellungnahme dennoch teilweise auf dem Irrtum, dass auf eine Aufnahme der Rechtsfolge in den Normtext verzichtet werden könne.217 Zwar gelingt es auch ungeschriebenen Rechtssätzen als Gewohnheitsrecht Geltung zu erlangen. Voraussetzung für dessen Entstehung ist aber eine „längere tatsächliche Übung […], die eine dauernde und ständige, gleichmäßige und allgemeine sein muß und von den beteiligten Rechtsgenossen als verbindliche Rechtsnorm anerkannt wird.“218 Gegen die Entstehung von Gewohnheitsrecht dergestalt, dass als Rücktrittsfolge das Erlöschen von noch nicht erfüllten Ansprüchen eintritt, spricht jedoch, dass insoweit keine hinreichende Übung existiert und dieser Rechtssatz auch nicht allgemein akzeptiert ist. Neben der historischen Ein­ redekonstruktion219 wurden vielmehr bis heute unterschiedliche Ansichten220 entwickelt, die dem Rücktritt ein Erlöschen ex nunc221 und ein Erlöschen ex tunc222 attestieren, wobei letztere Ansicht in jüngerer Zeit sogar noch modifiziert als „störungsbezogene ex tunc-Wirkung“223 vertreten wird. Allein dies zeigt, dass eine gewohnheitsrechtliche Anerkennung des Erlöschens unerfüllter Primäransprüche für die Zukunft beim Rücktritt vor Leistungsaustausch nicht in Betracht kommt. Letztlich ist der Streitstand aber nur von 217  Näher

zur Fallgruppe der Zweckstörung unter: Zweiter Teil  B. V. 2. a) bb) (2). Beschl. v. 28. 06. 1967 – 2 BvR 143/61 – Entziehung der Verteidigungsbefugnis, BVerfGE 22, 114, 121; ferner dazu in st. Rspr.: BVerfG, Beschl. v. 18. 02. 1970 – 1 BvR 226/69 – Robenstreit, BVerfGE 28, 21, 28 f.; BVerfG, Beschl. v. 15. 01. 2009 – 2 BvR 2044/07 – Rügeverkümmerung, BVerfGE 122, 248, 269; ebenso: BGH, Beschl. v. 19. 06. 1962, I ZB 10/61, BGHZ 37, 219, 222; BVerwG, Urt. v. 26. 05. 1959 – C 135.57, BVerwGE 8, 317, 321 f. 219  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 155 f. (= Motive, S. 280 f.); dazu, dass diese Ansicht sogar noch nach Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs als „Theorie der indirekten Wirkung“ vertreten wurde: Schall, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 346 BGB, Rn. 150. 220  Eingehend zum Streitstand: Schall, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 346 BGB, Rn.  148 ff. 221  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 727 (= Protokolle, S. 8418); BGH, Urt. v. 24. 06. 1983 – V ZR 113/82, BGHZ 88, 46, 48; BGH, Urt. v. 21. 01. 1994 – V ZR 238/92, NJW 1994, 1161, 1162; BGH, Urt. v. 28. 11. 2007 – VIII ZR 16/07, BGHZ 174, 290, 293; BGH, Urt. v. 10. 03. 2009 – XI ZR 33/08, BGHZ 180, 123, 131 (obiter dictum); Fest, Der Einfluss der rücktrittsrechtlichen Wertungen auf die bereicherungsrechtliche Rückabwicklung nichtiger Verträge, 2006, S. 18; Döll, Rückgewährstörungen beim Rücktritt, 2011, S. 60; Annuß, JA 2006, 184, 185; Bartels, AcP 215 (2015), 203, 212; Schulze, in: Hk-BGB, 2019, § 346 BGB, Rn. 9. 222  Zur ex tunc-Lösung: Flume, NJW 1970, 1161, 1166 (so implizit); Schall, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 346 BGB, Rn. 198 f. 223  Hierzu: Lobinger, in: Soergel, BGB, Band 5/3, 2010, Vor § 346 BGB, Rn. 27. 218  BVerfG,



C. Normtextunvereinbarkeit und Normzweckvereinbarkeit337

rechtspolitischem Interesse; denn der Gesetzgeber hat sich ausdrücklich dem herrschenden Verständnis angeschlossen und die Regelungsabsicht mitgeteilt, dass noch nicht erfüllte Leistungspflichten für die Zukunft ex nunc erlöschen.224 Diese explizite Entscheidung des Gesetzgebers ist aus demokratischen und rechtsstaatlichen Gründen unbedingt zu beachten.225 In dieser Konstellation wird der gebotene Normzweck damit maßgeblich durch die Wertung des § 346 Abs. 1 BGB selbst beeinflusst; Wertungen des gleichrangigen Rechts, des Verfassungs- oder Unionsrechts sind nicht ersichtlich. Unberücksichtigt bleiben muss insoweit einzig die irrtümliche Annahme, die Rücktrittsfolge bedürfte keiner Aufnahme in den Gesetzestext; vielmehr ist hier gerade das Gegenteil geboten, um der gesetzgeberischen Wertentscheidung zur Geltung zu verhelfen, da sie nur realisiert werden kann, wenn sie in einer anerkannten Rechtsquelle verortet wird. c) Ergebnis Da der gebotene Normzweck des § 346 Abs. 1 BGB somit auch eine Wert­ entscheidung für die Situation des Rücktritts vor Leistungsaustausch enthält, ist sein Normtext auf Rechtsfolgenseite mit einer teleologischen Extension um die Rechtsfolgenanordnung zu erweitern, dass bislang nicht erfüllte Ansprüche erlöschen.

II. Wertung einer gleichrangigen Norm: Verjährung von Ersatzansprüchen aus atypischer Gebrauchsüberlassung 1. Problemaufriss Verursacht ein Kaufinteressent bei einer Probefahrt infolge grober Fahr­ lässigkeit226 einen Schaden am Fahrzeug des Verkäufers, das ihm zu diesem Zweck unentgeltlich überlassen wurde, haftet er grundsätzlich aus unerlaub224  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 727 (= Protokolle, S. 8418); BT-Drucks. 14/6040, S. 199, 191 und 194. 225  Ausführlich dazu bereits unter: Erster Teil  A. I. 1. b). 226  In dieser Konstellation ist eine konkludente Haftungsbeschränkung für leichte Fahrlässigkeit von vornherein ausgeschlossen; näher zur entsprechenden Rechtsprechungspraxis, die einen Haftungsausschluss jedoch ablehnt, wenn der Schädiger haftpflichtversichert ist: BGH, Urt. v. 18. 12. 1979 – VI ZR 52/78, NJW 1980, 1681, 1682 f.; BGH, Urt. v. 10. 02. 2009 – VI ZR 28/08, NJW 2009, 1482, 1483; BGH, Urt. v. 26. 04. 2016 – VI ZR 467/15, NJW-RR 2017, 272, 273 f.; ferner hierzu: Walker, JuS 2015, 865, 869 f.; Lorenz/Eichhorn, JuS 2017, 6, 9; Daßbach, JA 2018, 575, 580.

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Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

ter Handlung sowie aus culpa in contrahendo, soweit nicht bereits eine Form von vertraglicher Abrede zwischen den Beteiligten bestand. Die Verjährung der Schadensersatzansprüche würde sich in diesem Fall normalerweise nach der regelmäßigen Frist von drei Jahren richten (§ 195 BGB). Im Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung227 ist in dieser Konstellation jedoch eine kurze Verjährungsfrist von sechs Monaten ab Rückgabe der Sache geboten; der Fall einer atypischen Gebrauchsüberlassung auf Zeit ist zwar nicht von den Normtexten der Verjährungsregelungen in §§ 548, 581 Abs. 2, 591b, 606, 1057, 1226 BGB umfasst, insoweit muss aber die kurze Verjährungsfrist nach ihren korrespondierenden gebotenen Normzwecken auch für diese Konstellation gelten.228 2. Lösung a) Normtextanalyse In der Normtextanalyse kann problemlos festgestellt werden, dass der Sachverhalt der atypischen Gebrauchsüberlassung auf Zeit in den Bestimmungen der §§ 548, 582 Abs. 2, 591b, 606, 1057, 1226 BGB keinen Ausdruck findet, da diese semantisch jeweils nur einen konkreten Regelungsausschnitt beschreiben. Konsequenterweise beziehen sich die Normen sprachlich daher nur auf vorübergehende Gebrauchsüberlassungen im Zusammenhang mit Miete, Pacht, Landpacht, Leihe, Nießbrauch oder Pfandrecht, nicht aber auf solche, die keinem der genannten Vertragstypen zuzuordnen sind. Der Sachverhalt ist somit weder nach der Evidenz- noch nach der Referenz- oder Konvergenzkontrolle in einen der genannten Normtexte einzuschließen.

227  Speziell zur Konstellation der Probefahrt: BGH, Urt. v. 18. 02. 1964 – VI ZR 260/62, NJW 1964, 1225; BGH, Urt. v. 21. 05. 1968 – VI ZR 131/67, NJW 1968, 1472; generell für die Anwendung der kurzen Verjährungsfrist auf andere Ersatzansprüche: BGH, Urt. v. 18. 12. 1963 – VIII ZR 193/62, NJW 1964, 545; BGH, Urt. v. 11. 11. 1964 – VIII ZR 149/63, NJW 1965, 151; überblicksartig zur Kasuistik in der Rechtsprechung: Häublein, in: MünchKomm-BGB, Band 5, 2020, § 606 BGB, Rn.  8 f.; Lohsse, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 606 BGB, Rn. 15 ff. 228  In st. Rspr. z. B. BGH, Urt. v. 18. 02. 1964 – VI ZR 260/62, NJW 1964, 1225; BGH, Urt. v. 21.  05.  1968 – VI ZR 131/67, NJW 1968, 1472; BGH, Urt. v. 19. 12. 2001 – XII ZR 233/99, NJW 2002, 1336, 1337; BGH, Urt. v. 22. 02. 2006 – XII ZR 48/03, NJW 2006, 1963, 1965 (speziell für die Haftung aus culpa in contrahendo); zur allgemeinen Ansicht im Schrifttum: Häublein, in: MünchKomm-BGB, Band 5, 2020, § 606 BGB, Rn. 8; Lohsse, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 606 BGB, Rn. 15, der dies in überzeugender Weise mit einer „Gesamtanalogie“ begründet.



C. Normtextunvereinbarkeit und Normzweckvereinbarkeit339

b) Normzweckanalyse In der Normzweckanalyse ist zu untersuchen, ob die übereinstimmende Rechtsfolge der sechsmonatigen Verjährungsfrist nach den gebotenen Normzwecken der Regelungen auch auf die atypische Gebrauchsüberlassung ausgedehnt werden muss. Beginnt man mit den jeweiligen Wertungen der Einzelnormen, ist für jede isoliert festzustellen, dass mit der kurzen Verjährungsfrist für Ersatzansprüche das Ziel verfolgt wird, eine Klärung der wechselseitigen Ansprüche zeitnah herbeizuführen, um Beweisschwierigkeiten vorzubeugen.229 Alle Regelungen haben gemein, dass die Parteien vor allem deshalb in Beweisnot geraten können, weil sich die Ansprüche auf den Zustand der zurückgegebenen Sache beziehen, der desto schwerer festzustellen ist, je länger der Zeitpunkt der Rückgabe in der Vergangenheit liegt.230 Zieht man zur Ermittlung der Wertungen des gleichrangigen Rechts die Gesetzesmaterialien heran, zeigt sich, dass diese Wertentscheidung ursprünglich im heutigen § 548 BGB verortet war und von dort aus weitere Vorschriften beeinflusst hat.231 Dementsprechend wurde die Anordnung einer kurzen Verjährungsfrist zur Vermeidung von Beweisschwierigkeiten nicht nur § 548 BGB und den weiteren Regelungen als Singularwertung zugrunde gelegt, sondern ein kohärentes System entwickelt,232 das in der Gesamtschau der 229  Zu § 548 BGB: Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 841 f. (= Protokolle, S. 1947 f.); in neuerer Zeit bekräftigt durch: BT-Drucks. 14/4553, S. 45; Emmerich, in: Staudinger, BGB, 2018, § 548 BGB, Rn. 1; Bieber, in: MünchKomm-BGB, Band 5, 2020, § 548 BGB, Rn. 1; zu § 591b BGB unter Verweis auf die Parallelität zu § 548 BGB: Wagner, in: BeckOK-BGB, 2020, § 591b BGB, Rn. 1; im Ergebnis ebenso für § 606 BGB: Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 896 (= Protokolle, S. 2138): „Man ging davon aus, daß für die auf unentgeltliche Gebrauchsüberlassung gerichtete Leihe in dieser Beziehung ganz dieselben Vorschriften Anwendung finden müßten, wie für die auf entgeltliche Gebrauchsüberlassung gerichtete Miethe“; Illmer, in: Staudinger, BGB, 2018, § 606 BGB, Rn. 1; Häublein, in: MünchKomm-BGB, Band 5, 2020, § 606 BGB, Rn. 1; Lohsse, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 606 BGB, Rn. 2; ferner zu § 1057 BGB: Pohlmann, in: MünchKomm-BGB, Band 8, 2020, § 1057 BGB, Rn. 1; zuletzt zu § 1226 BGB: Wiegand, in: Staudinger, BGB, 2019, § 1226 BGB, Rn. 1; Förster, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 1226 BGB, Rn. 2. 230  BGH, Urt. v. 11. 11. 1964 – VIII ZR 149/63, NJW 1965, 151; dazu auch: Pohlmann, in: MünchKomm-BGB, Band 8, 2020, § 1057 BGB, Rn. 1. 231  Siehe hierzu: Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 895 (= Protokolle, S. 2132). 232  Illmer, in: Staudinger, BGB, 2018, § 606 BGB, Rn. 1 sieht dies als „Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens“; Förster, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 1226 BGB, Rn. 2 erkennt ein „Muster vergleichbarer Regelungen“.

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Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

gleichrangigen Wertungen der §§ 582 Abs. 2, 591b, 606, 1057, 1226 BGB zutage tritt. Insoweit fällt auf, dass die Modalitäten der kurzen Verjährung lediglich in § 548 BGB ausdrücklich festgeschrieben sind und mit Ausnahme von § 591b BGB, der im Normtext eine identische Regelung trifft, die Bestimmungen der §§ 581 Abs. 2, 606, 1057, 1226 BGB allesamt auf § 548 BGB verweisen. Vor diesem Hintergrund ist eine über die Wertungen der jeweiligen Einzelnormen hinausgehende Legislativentscheidung zu erkennen, die es gebietet, dass auch Ersatzansprüche aus atypischen Gebrauchsüberlassungen auf Zeit grundsätzlich in sechs Monaten ab Rückgabe verjähren sollen, wenn vergleichbare Beweisschwierigkeiten zu befürchten sind. Da sich in dieser Hinsicht aus den Wertungen des Verfassungs- und Unionsrechts keine andere Beurteilung ergibt, ist ein gebotener Normzweck festzustellen, der es verlangt, die kurze Verjährungsfrist auf vergleichbare Sachverhalte zu übertragen, die – wie bei einer Probefahrt – nicht einem der genannten Vertragstypen zuzuordnen sind. c) Ergebnis Was in diesem Zusammenhang vereinzelt nebulös mit „Ausstrahlung von Verjährungsvorschriften“233 bezeichnet wird, ist in der Sache eine Gesamt­ analogie234 zu den §§ 548, 582 Abs. 2, 591b, 606, 1057, 1226 BGB, die in Anbetracht des gebotenen Normzwecks nötig ist, um den Fall der vorübergehenden Gebrauchsüberlassung in den Normtext einzuschließen.

III. Wertung einer verfassungsrechtlichen Norm: Nachbarschaftsrechtlicher Ausgleichsanspruch bei faktischem Duldungszwang 1. Problemaufriss Im Sachenrecht konkretisiert Abschnitt 3. Titel 1. den „Inhalt des Eigentums“ und normiert in § 903 BGB, dass der Eigentümer in positiver Hinsicht mit der Sache nach Belieben verfahren kann und in negativer Hinsicht befugt ist, andere von jeder Einwirkung auf sie auszuschließen. Bedenkt man, dass § 903 BGB auch für Eigentümer benachbarter Grundstücke gilt, leuchtet ein, dass der formulierte Grundsatz nicht in der vermittelten Absolutheit Geltung 233  So: Förster, in: BeckOK-BGB, 2020, § 823 BGB, Rn. 67; ähnlich: Wandt, Gesetzliche Schuldverhältnisse, 2019, Rn. 8: Die kurze Verjährung des einen Anspruchs „schlägt also auf diesen [anderen Anspruch] durch“. 234  Insoweit überzeugend: Lohsse, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 606 BGB, Rn. 15.



C. Normtextunvereinbarkeit und Normzweckvereinbarkeit341

beanspruchen kann, weil so die „sinnvolle Nutzung beider Grundstücke unmöglich“ wäre.235 Nötig ist vielmehr ein feinsinniger Interessenausgleich, den der Zivilgesetzgeber in erster Linie mit der nachbarrechtlichen Regelung des § 906 BGB herbeigeführt hat.236 Hierzu gehört auch § 906 Abs. 2 BGB, der den Eigentümer in Satz 1 unter bestimmten Bedingungen zur Duldung selbst wesentlicher Beeinträchtigungen verpflichtet, ihm im Gegenzug aber als Kompensation in seinem Satz 2 einen Ausgleichsanspruch zuspricht. Konsequent hieran ist, dass der beeinträchtigte Eigentümer mit der Duldungspflicht aus § 906 Abs. 2 S. 1 BGB zwar seine Beseitigungs- und Unterlassungsansprüche aus § 1004 BGB und § 862 BGB verliert, er aber in Fortsetzung der negatorischen Abwehrmechanismen eine Kompensation in Geld erhält.237 Parallel zu dieser Wertentscheidung billigt die höchstrichterliche Rechtsprechung einen verschuldensunabhängigen Ausgleichsanspruch nicht nur bei einer Einwirkung, die rechtlich zu dulden ist, sondern gewährt ihn in Analogie zu § 906 Abs. 2 S. 2 BGB238 auch bei einem lediglich faktischen Duldungszwang, wenn die Einwirkung wie bei einem vom Nachbargrundstück ausgehenden Brand239 zwar nicht rechtlich hingenommen werden muss, aber aus anderen Gründen eine Abwehr ausgeschlossen ist.240 In dieser Hinsicht bestehe ein nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch auch dann, wenn […] „von einem Grundstück im Rahmen einer privatwirtschaftlichen Benutzung Einwirkungen auf ein anderes Grundstück ausgehen, die das zumutbare Maß einer entschädigungslos hinzunehmenden Beeinträchtigung überschreiten, sofern der

235  BGH, Urt. v. 21. 10. 1983 – V ZR 166/82, BGHZ 88, 344, 346; Klimke, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 906 BGB, Rn. 2. 236  BGH, Urt. v. 21. 10. 1983 – V ZR 166/82, BGHZ 88, 344, 346. 237  Im Ergebnis ebenso: BGH, Urt. v. 30. 05. 2003 – V ZR 37/02, BGHZ 155, 99, 101; BGH, Urt. v. 01. 02. 2008 – V ZR 47/07, NJW 2008, 992, 993; BGH, Urt. v. 18. 09. 2009 – V ZR 75/08, NJW 2009, 3787, 3788; Brückner, in: MünchKommBGB, Band 8, 2020, § 906 BGB, Rn. 196; Klimke, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 906 BGB, Rn. 5. 238  Hierzu in st. Rspr. z. B. BGH, Urt. v. 15. 06. 1967 – III ZR 23/65, BGHZ 48, 98, 101 f.; BGH, Urt. v. 26. 10. 1978 – III ZR 26/77, BGHZ 72, 289, 291 f.; BGH, Urt. v. 02. 03. 1984 – V ZR 54/83, BGHZ 90, 255, 262 f.; BGH, Urt. v. 20. 04. 1990 – V ZR 282/88, BGHZ 111, 158, 162 f.; BGH, Urt. v. 30. 05. 2003 – V ZR 37/02, BGHZ 155, 99, 101 f. 239  Zu diesem Anwendungsbeispiel: Brückner, in: MünchKomm-BGB, Band 8, 2020, § 906 BGB, Rn. 196. 240  Hierzu in der Literatur: Ringshandl, Der bürgerlich-rechtliche Aufopferungsanspruch, 2009, S. 83 ff.; Bertkau, ZfS 2002, 483, 484 ff.; Katzenstein, in: Lobinger/ Richardi/Wilhelm (Hrsg.), Festschrift Picker, 2010, S. 425 ff.

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Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

davon betroffene Eigentümer aus besonderen Gründen gehindert war, diese Einwirkung nach § 1000 Abs. 1 BGB rechtzeitig zu unterbinden“.241

Trotz kleinerer Abweichungen in der dogmatischen Herleitung242 besteht im Ausgangspunkt Einigkeit, dass dem Eigentümer in diesem Fall ein Ausgleichsanspruch zustehen muss.243 Im Ergebnis überzeugt die Analogie zu § 906 Abs. 2 S. 2 BGB; im Zuge ihrer Begründung wird jedoch zu zeigen sein, dass der Normtext auf Tatbestandsseite in erster Linie deshalb zu erweitern ist, weil der gebotene Normzweck durch eine Schutzpflicht aus Art. 14 Abs. 1 GG beeinflusst wird, die es gebietet, diesen Sachverhalt einzuschließen. 2. Lösung a) Normtextanalyse Die Konstellation des faktischen Duldungszwangs trotz fehlender rechtlicher Duldungspflicht ist auf der Stufe der Evidenzkontrolle nicht vom Wortlaut des § 906 Abs. 2 S. 2 BGB umfasst. Ferner ergibt sich aus dem Normtextabschnitt „Hat der Eigentümer […] eine Einwirkung zu dulden“, dass die Textgestaltung auch nicht mit einer Referenz- und Konvergenzkontrolle für einen Sachverhalt zu öffnen ist, in dem der Eigentümer die Einwirkung, wie die Ansprüche aus §§ 1004, 862 BGB zeigen, nicht zu dulden hat, sondern ihm nur praktisch keine Möglichkeit zur Abwehr bleibt.

241  Statt aller: BGH, Urt. v. 12.12.2003 – V ZR 180/03, BGHZ 157, 188, 189 f. m. w. N. 242  Neben der Analogie zu § 906 Abs. 2 S. 2 BGB wird der nachbarrechtliche Ausgleichsanspruch vereinzelt auch aus dem Aufopferungsgedanken abgeleitet und als richterrechtliches Institut eingeordnet; so: Wenzel, NJW 2005, 241, 246; demgegenüber wird er auch teilweise im Rechtsgedanken der §§ 904 S. 2, 906 Abs. 2 S. 2 BGB und § 14 S. 2 BImSchG verankert; so: Herrler, in: Palandt, 2021, § 906 BGB, Rn. 37; zur dogmatischen Herleitung des Ausgleichsanspruchs im Überblick: Klimke, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 906 BGB, Rn. 352 f. 243  Zum verschuldensunabhängigen Ausgleichsanspruch nach allgemeiner Ansicht: BGH, Urt. v. 15. 06. 1967 – III ZR 23/65, BGHZ 48, 98, 101 f.; BGH, Urt. v. 26. 10. 1978 – III ZR 26/77, BGHZ 72, 289, 291 f.; BGH, Urt. v. 02. 03. 1984 – V ZR 54/83, BGHZ 90, 255, 262 f.; BGH, Urt. v. 20. 04. 1990 – V ZR 282/88, BGHZ 111, 158, 162 f.; BGH, Urt. v. 30. 05. 2003 – V ZR 37/02, BGHZ 155, 99, 101 f.; Ringshandl, Der bürgerlich-rechtliche Aufopferungsanspruch, 2009, S. 83 ff.; Bertkau, ZfS 2002, 483, 484 ff.; Katzenstein, in: Lobinger/Richardi/Wilhelm (Hrsg.), Festschrift Picker, 2010, S. 425 ff.; Brückner, in: MünchKomm-BGB, Band 8, 2020, § 906 BGB, Rn. 195; Klimke, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 906 BGB, Rn. 270 f.; Roth, in: Staudinger, BGB, 2020, § 906 BGB, Rn. 249 ff.



C. Normtextunvereinbarkeit und Normzweckvereinbarkeit343

b) Normzweckanalyse Insoweit ist zu überprüfen, ob dieser Fall nach dem gebotenen Normzweck in den Normtext des § 906 Abs. 2 S. 2 BGB eingeschlossen werden müsste. Zur Wertung der Einzelnorm ist festzustellen, dass der heute in § 906 Abs. 2 S. 2 BGB verankerte Ausgleichsanspruch erst 1959 in den Gesetzestext aufgenommen wurde.244 Beweggrund hierfür war, dass die ursprüngliche Fassung der Vorschrift eine entschädigungslose Duldungspflicht vorsah, die letztlich eine Privilegierung des beeinträchtigenden Eigentümers zur Folge hatte.245 Um dies zu korrigieren, griff der Gesetzgeber Bestrebungen der Rechtsprechung246 auf und verankerte den verschuldensunabhängigen Ausgleichsanspruch in § 906 Abs. 2 S. 2 BGB. Die Bestimmung enthält damit die Wertentscheidung, dass ein Eigentümer durch den Gesetzgeber nur zur Duldung bestimmter Einwirkungen verpflichtet werden kann, wenn er ihm hierfür zugleich eine Entschädigung zuweist. Im Fall des faktischen Duldungszwangs wird der Eigentümer aber nicht zur Duldung verpflichtet, sondern umgekehrt durch Beseitigungs- und Unterlassungsansprüche zur Abwehr berechtigt. Da es in der Konstellation des faktischen Duldungszwangs an einer Entscheidung des Gesetzgebers fehlt, den Eigentümer zu belasten, kann aus dieser isolierten Wertentscheidung nicht gefolgert werden, dass deswegen auch ein Ausgleich ohne Duldungspflicht existieren muss. Auf der Ebene der Einzelnorm ist damit lediglich feststellbar, dass der Gesetzgeber ursprünglich tätig wurde, um dem beeinträchtigten Eigentümer einen Ausgleich für die Duldungspflicht zukommen zu lassen. Wertungen des gleichrangigen Rechts gebieten es ebenfalls nicht, den faktischen Duldungszwang ohne Duldungspflicht einzuschließen. Aus § 904 S. 2 BGB und § 14 S. 2 BImSchG lässt sich eine derartige Wertung nicht ableiten,247 da diese Vorschriften nicht über die Wertentscheidung des § 906 244  Eingeführt durch das Gesetz zur Änderung der Gewerbeordnung und Ergänzung des Bürgerliches Gesetzbuchs vom 22. Dezember 1959, BGBl. I v. 29. 12. 1959, S.  782 f. 245  Hierzu und näher zu den Hintergründen: Klimke, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 906 BGB, Rn. 5.1. 246  Zur Entwicklung des Ausgleichsanspruch in der Rechtsprechung: RG, Urt. v. 10. 03. 1937 – V 218/36, RGZ 154, 161, 165 ff.; unter Bezug hierauf: BGH, Urt. v. 15. 04. 1959 – V ZR 3/58, BGHZ 30, 273, 280, wonach der Ausgleichsanspruch vom Reichsgericht zwar „auch mit nationalsozialistischen Gedankengängen begründet“ wurde, er „aber nicht auf typisch nationalsozialistischem Denken, sondern auf allgemeinen Erwägungen [beruhe]“; ferner zu den Bestrebungen des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs: Roth, in: Staudinger, BGB, 2020, § 906 BGB, Rn. 250. 247  Näher hierzu: Herrler, in: Palandt, 2021, § 906 BGB, Rn. 37, der den nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruch in erster Linie aus den Rechtsgedanken der §§ 904 S. 2, 906 Abs. 2 S. 2 BGB und § 14 S. 2 BImSchG herleitet.

344

Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

Abs. 2 S. 2 BGB hinausgehen, sondern sie nur bestätigen, weil eine rechtlich zu duldende Beeinträchtigung auch in den dort geregelten Fällen nicht entschädigungslos hingenommen werden muss. Der Ausgleichsanspruch in § 904 S. 2 BGB korrespondiert mit der Duldungspflicht aus § 904 S. 1 BGB, die dem Eigentümer im Fall des Aggressivnotstands auferlegt wird. Im Ergebnis gilt dasselbe für § 14 S. 2 BImSchG, wenngleich dies im Wortlaut der Norm nicht offensichtlich erkennbar ist. Auch hier hat der Eigentümer Einwirkungen, die vom Betrieb einer Anlage ausgehen, zu dulden, wenn ihre Genehmigung hierzu unanfechtbar und damit auch für den Betroffenen rechtlich bindend ist. In leichter Abweichung zu §§ 904 S. 2, 906 Abs. 2 S. 2 BGB mündet dies aber nicht unmittelbar in einen Kompensationsanspruch; vielmehr werden privatrechtliche Beseitigungs- und Unterlassungsansprüche primär in einen Anspruch auf Schutzvorkehrungen verwandelt (§ 14 S. 1 Hs. 2 BImSchG).248 Erst wenn diese nicht durchführbar oder wirtschaftlich unvertretbar sind, ergibt sich ein Ausgleichsanspruch (§ 14 S. 2 BImSchG). Dass § 14 BImSchG eine zweistufige Rechtsfolgenanordnung kennt, ändert indes nichts an dem Umstand, dass auch er eine rechtliche Duldungspflicht voraussetzt. Aus der Wertung des § 906 Abs. 2 S. 2 BGB ist damit zwar unter Einbezug der gleichrangigen § 904 S. 2 BGB und § 14 S. 2 BImSchG eine legislative Wertentscheidung erkennbar; sie besagt jedoch nur, dass die Anordnung einer legislativen Duldungspflicht in bestimmten Konstellationen mit einer Ausgleichspflicht versehen werden muss. In der Folge kann aus dieser Entscheidung nichts für den vorliegenden Sachverhalt abgeleitet werden, in dem der Eigentümer nicht zur Duldung verpflichtet wird, sondern ihr nur faktisch unterworfen ist. Eine andere Bewertung ergibt sich aber aus den Wertungen des Verfassungsrechts, nämlich in Konsequenz einer staatlichen Schutzpflicht aus Art. 14 Abs. 1 GG. Dass der Staat aus den Grundrechten verpflichtet sein kann, zum Schutz Privater einzuschreiten, ist heute unbestritten.249 Ob dies 248  Jarass, in: BImSchG-Kommentar, 2020, § 14 BImSchG, Rn. 12; Giesberts, in: BeckOK-UmweltR, 2020, § 14 BImSchG, Rn. 20. 249  Zur Akzeptanz grundrechtlicher Schutzpflichten: BVerfG, Urt. v. 25. 02. 1975 – 1 BvF 1, 2, 3, 4, 5, 6/74 – Schwangerschaftsabbruch I, BVerfGE 39, 1, 41 f.; BVerfG, Urt. v. 16. 10. 1977 – 1 BvQ 5/77 – Schleyer, BVerfGE 46, 160, 164; BVerfG, Beschl. v. 08. 08. 1978 – 2 BvL 8/77 – Kalkar I, BVerfGE 49, 89, 142; BVerfG, Urt. v. 28. 05. 1993 – 2 BvF 2/90 und 4, 5/92 – Schwangerschaftsabbruch II, BVerfGE 88, 203, 254; BVerfG, Urt. v. 10. 01. 1995 – 1 BvR 1/90, 1 BvR 342, 348/90 – Zweitregister, BVerfGE 92, 26, 46; Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 34 ff.; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 121 ff.; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 231; Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, 1996, S. 89; Lindner, Theorie der Grundrechtsdogmatik, 2005, S. 18; Klein, NJW 1989, 1633, 1636; Pietrzak, JuS 1994, 748; Papier, NJW 2017, 3025, 3029; Ehlers, in: Leßmann/Großfeld/Vollmer (Hrsg.), Festschrift Lukes,



C. Normtextunvereinbarkeit und Normzweckvereinbarkeit345

aber auch dazu führt, dass durch richterliche Rechtsfortbildung ein Ausgleichsanspruch bei faktischem Duldungszwang zugebilligt werden muss, hängt nach herrschender Anschauung250 davon ab, ob eine solche Schutzpflicht besteht (das „Ob“) und falls dies der Fall sein sollte, ob die Judikative so weit gehen muss, das Recht fortzubilden, um sie zu erfüllen (das „Wie“).251 Bei der Frage des „Ob“ gelangt man bei wesentlichen Einwirkungen wie grundstücksübergreifenden Bränden ohne Weiteres zu dem Ergebnis, dass Art. 14 Abs. 1 GG tatbestandlich berührt ist und eine Beeinträchtigung durch das Grundstück des Nachbarn nicht nur mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht,252 sondern sich sogar schon als Eigentumsverletzung herausstellt. Da der betroffene Eigentümer die Beeinträchtigung im Fall des faktischen Duldungszwangs nicht abwehren kann, ist der Staat also grundsätzlich verpflichtet, Maßnahmen zu seinem Schutz einzuleiten, auch wenn damit noch nicht feststeht, welche er konkret ergreifen muss. Bei der Frage des „Wie“ ist indes zu beachten, dass den Zivilgerichten hiermit noch nicht die Erlaubnis erteilt ist, den Ausgleichsanspruch durch richterliche Rechtsfortbildung zu entwickeln. Auch wenn die Schutzpflicht den Staat in seiner Gesamtheit trifft,253 obliegt es kompetenzgemäß nämlich zunächst der Legislative, einen Interessenausgleich herzustellen und den nötigen Schutz zu gewähren.254 Im Fall des faktischen Duldungszwangs ist aber festzustellen, dass der Gesetzgeber die ihm obliegende Schutzpflicht nicht hinreichend erfüllt hat und die Rechtsprechung in der Folge dazu beru-

1989, S.  338 ff.; Badura, in: Hanau/Müller/Wiedemann/Wlotzke (Hrsg.), Festschrift Herschel, 1982, S. 34 f.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1999, Rn. 350 ff.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 931 ff.; Badura, Staatsrecht, 2018, S. 133; hierzu bereits unter: Zweiter Teil  B. V. 2. c) aa) (3) (b). 250  Statt aller: Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 71; näher bereits unter: Zweiter Teil  B. V. 2. c) aa) (3) (b). 251  Zu dieser Unterscheidung: Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 71. 252  Zum sicherheitsrechtlichen Gefahrenbegriff: Gallwas/Lindner/Wolff, Bayerisches Polizei- und Sicherheitsrecht, 2015, Rn. 899b und 87; näher zur Möglichkeit des Erkenntnistransfers auf die vorliegende Konstellation bereits unter: Zweiter Teil B. V. 2. c) aa) (3) (b). 253  BVerfG, Urt. v. 10. 01. 1995 – 1 BvR 1/90, 1 BvR 342, 348/90 – Zweitregister, BVerfGE 92, 26, 46; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 70; Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, 1996, S. 21; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 225; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1576. 254  Zum legislativen Schutzauftrag als Konfliktschlichtungsauftrag: Lerche, Übermass und Verfassungsrecht, 1961, S. 130; dazu außerdem: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 203 ff.

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Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

fen ist, den Verstoß gegen das grundrechtliche Untermaßverbot255 durch eine verfassungskonforme Rechtsfortbildung abzuwenden.256 Zwar hat die Legislative mit den §§ 1004, 862 BGB negatorische Abwehransprüche vorgesehen; dieser Schutz ist jedoch gänzlich wirkungslos, wenn Beseitigungs- und Unterlassungsansprüche unter keinen Umständen rechtzeitig durchgesetzt werden können.257 Dass hierin ein nicht hinzunehmendes Schutzdefizit besteht, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass die Abwehransprüche aus den §§ 1004, 862 BGB zum verfassungsrechtlich unverzicht­ baren Mindestschutz gehören,258 da erst sie einen Rechtsgutsinhaber befähigen, sich (rechtlich zulässig) gegen Einwirkungen anderer zu verteidigen. Sind die Beseitigungs- und Unterlassungsansprüche aber von Anfang an ungeeignet, den Grundstückseigentümer vor rechtlich nicht zu duldenden Einwirkungen zu bewahren, ist er zwar theoretisch abgesichert, aber praktisch schutzlos gestellt. Ist das legislative Schutzsystem bei faktischem Duldungszwang folglich unzulänglich, muss die Judikative durch Rechtsfortbildung gewährleisten, dass das Mindestschutzniveau gewahrt bleibt.259 255  BVerfG, Urt. v. 28. 05. 1993 – 2 BvF 2/90 und 4, 5/92 – Schwangerschaftsabbruch II, BVerfGE 88, 203, 254; BVerfG, Beschl. v. 22. 10. 1997 – 1 BvR 479/92, 1 BvR 307/94 – Plenarvorlagen, BVerfGE 96, 409, 412; grundlegend zum Untermaßverbot im Schrifttum; Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, 1980, S. 15; ferner: Canaris, AcP 184 (1984), 201, 225 ff.; daran anknüpfend: Canaris, JuS 1989, 161, 163; eingehend dazu außerdem: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 208 ff. 256  Zur Schutzpflichterfüllung durch die Zivilgerichte: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 225; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1583. 257  In st. Rspr. des BVerfG ist ein Verletzung grundrechtlicher Schutzpflichten insbesondere dann anzunehmen, wenn „Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen […] [wurden] oder die […] Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder erheblich dahinter zurückbleiben“; siehe dazu: BVerfG, Urt. v. 10. 01. 1995 – 1 BvR 1/90, 1 BvR 342, 348/90 – Zweitregister, BVerfGE 92, 26, 46; zuvor bereits: BVerfG, Beschl. v. 29. 10. 1987 – 2 BvR 624, 1080, 2029/83 – Lagerung chemischer Waffen, BVerfGE 77, 170, 215; BVerfG, Urt. v. 28. 05. 1993 – 2 BvF 2/90 und 4, 5/92 – Schwangerschaftsabbruch II, BVerfGE 88, 203, 263; vertiefend hierzu unter: Zweiter Teil  B. V. 2. c) aa)  (3) (b). 258  Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 128 spricht in diesem Zusammenhang von „grundrechtsgebotener Normen“; ähnlich: Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 83, der einen Verstoß gegen das Untermaßverbot bejaht, wenn negatorische Ansprüche in bestimmten Konstellationen ersatzlos entzogen werden; Hufen, Staatsrecht II, 2020, § 38 Rn. 44: „Konkretisierungen dieser objektiven Schutzpflicht sind die eigentumsschützenden Bestimmungen des BGB“; zum Ganzen bereits unter: Zweiter Teil B. V. 2. c) aa) (3) (b) (aa). 259  Siehe dazu: Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 87, wonach der „Richter zur Erfüllung dieser Aufgabe nur befugt [ist], weil und soweit anderenfalls ein verfassungswidriges Schutzdefizit entstünde und also ein Verstoß gegen das Un-



C. Normtextunvereinbarkeit und Normzweckvereinbarkeit347

Wird die Rechtsprechung anstelle des Gesetzgebers zur Schutzpflichterfüllung tätig, ist sie bei der Ausgestaltung des Schutzes indes nicht völlig frei, sondern angehalten, an ein vorhandenes gesetzgeberisches Schutzkonzept anzuknüpfen und dieses nur so weit wie nötig punktuell nachzubessern.260 Ein tauglicher Anknüpfungspunkt findet sich dafür in § 906 Abs. 2 S. 2 BGB. Ihm liegt die Wertentscheidung zugrunde, dass der Eigentümer eine Einwirkung zwar rechtlich dulden muss, er hierfür aber einen Ausgleich erhalten soll. Konsequenz der Duldungspflicht ist der Ausschluss der §§ 1004, 862 BGB; der Ausgleichsanspruch kompensiert somit, dass primäre Abwehransprüche verweigert werden.261 In diesen Gedanken fügt sich die Konstellation des faktischen Duldungszwangs nahtlos ein. Die primären Abwehransprüche werden nach dem Gesetz zwar nicht verweigert, sie sind aber praktisch nutzlos, weil sie nicht rechtzeitig geltend gemacht werden können. In beiden Fällen geht es mithin um eine Fortsetzung der negatorischen Abwehransprüche, die den grundsätzlich notwendigen Schutz des Eigentümers nicht gewährleisten können.262 Weil auch die Wertungen des Unionsrechts keine andere Beurteilung fordern, wird der gebotene Normzweck hier entscheidend durch die staatliche Schutzpflicht aus Art. 14 Abs. 1 GG beeinflusst, die verlangt, dass dem Eigentümer im Fall des faktischen Duldungszwangs ein Ausgleichsanspruch zusteht. termaßverbot vorläge“; ähnlich: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1583; eingehend zur subsidiären Schutzpflichterfüllung durch die Zivilrechtsprechung: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 223 ff.; ebenfalls für die Subsidiarität des richterlichen Schutzauftrags: Wiedemann, Die Bindung der Tarifnormen an Grundrechte, insbesondere an Art. 12 GG, 1994, S. 112; Groß, JZ 1999, 326, 331; Badura, in: Böttcher/ Hueck/Jähnke (Hrsg.), Festschrift Odersky, 1996, S. 181. 260  Dazu: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 230; allgemein zur Verfassungswidrigkeit einer richterlichen Rechtsfortbildung, die ein gesetzgeberisches Regelungsmodell durch ein eigenes ersetzt: BVerfG, Beschl. v. 14. 05. 1985 – 1 BvR 233, 341/81 – Brokdorf, BVerfGE 69, 315, 372; BVerfG, Beschl. v. 11. 10. 1978 – 1 BvR 84/74 – Sachverständigenhaftung, BVerfGE 49, 304, 322; dazu jüngst: BVerfG, Beschl. v. 06. 06. 2018 – 1 BvL 7/14 und 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774, 779; hierzu bereits unter: Zweiter Teil  B. V. 2. c) aa) (3)  (b) (bb). 261  Siehe hierzu: BGH, Urt. v. 30. 05. 2003 – V ZR 37/02, BGHZ 155, 99, 101; BGH, Urt. v. 12. 12. 2003 – V ZR 180/03, BGHZ 157, 188, 190; BGH, Urt. v. 01. 02. 2008 – V ZR 47/07, NJW 2008, 992, 993; BGH, Urt. v. 18. 09. 2009 – V ZR 75/08, NJW 2009, 3787, 3788; BGH, Urt. v. 16. 07. 2010 – V ZR 217/09, NJW 2010, 3158, 3159; Brückner, in: MünchKomm-BGB, Band 8, 2020, § 906 BGB, Rn. 196; Klimke, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 906 BGB, Rn. 5 und 270. 262  Ähnlich: Klimke, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 906 BGB, Rn. 374, der annimmt, dass die analoge Anwendung des § 906 Abs. 2 S. 2 BGB „der Füllung von Lücken in bestehenden Abwehrrechten“ diene.

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Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

c) Ergebnis In Anbetracht dieses gebotenen Normzwecks ist der Normtext des § 906 Abs. 2 S. 2 BGB in der Folge auf Tatbestandsseite durch Analogie zu erweitern, um den Fall einzuschließen, dass der Eigentümer eine Einwirkung zwar nicht rechtlich, aber tatsächlich dulden muss, da er sie nicht rechtzeitig abwehren kann.

IV. Wertung einer unionsrechtlichen Norm: Banken mit Sitz in einem anderen EU-Mitgliedstaat als taugliche Bürgen für eine Sicherheitsleistung 1. Problemaufriss Hat eine Partei nach dem deutschen materiellen Recht263 eine Sicherheit zu leisten, bestimmt § 232 BGB, auf welche Arten dies geschehen kann. Kann keine der in § 232 Abs. 1 BGB genannten insolvenzfesten Realsicherheiten264 erbracht werden, ist es nach § 232 Abs. 2 BGB zulässig, als Personalsicherheit einen „tauglichen Bürgen“ zu stellen. Konkretisiert wird die Tauglichkeit in § 239 BGB, der in erster Linie265 voraussetzt, dass ein potenzieller Bürge über ein der Höhe der Sicherheitsleistung angemessenes Vermögen verfügt und seinen allgemeinen Gerichtsstand im Inland hat. Letzteres ist höchst problematisch bei Sachverhalten mit grenzüberschreitendem Bezug zu einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union; denn bei wortlautgetreuer Anwendung ist beispielweise eine französische Großbank mit Sitz in Paris266 kein tauglicher Bürge und folglich daran gehindert, eine Bankbürgschaft267 für eine nach deutschem Recht zu stellende Sicherheit zu leisten. Einigkeit besteht, dass dies mit Blick auf die Vorgaben des europäischen Primärrechts keinen Bestand haben kann.268 Uneinigkeit zeigt sich indes, ob 263  In direkter Anwendung gelten die §§ 232 ff. BGB nur für materiellrechtliche Sicherheitsleistungen: Grothe, in: MünchKomm-BGB, Band 1, 2018, § 232 BGB, Rn. 1; Bach, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 232 BGB, Rn. 10. 264  Zur Insolvenzfestigkeit der Realsicherheiten in § 232 Abs. 1 BGB: BVerwG, Urt. v. 26. 06. 2008 – 7 C 50/07, BVerwGE 131, 251, 256 f. 265  Nach § 239 Abs. 2 BGB ist zusätzlich vonnöten, dass in der Bürgschaftserklärung auf die Einrede der Vorausklage verzichtet wird (§ 773 Abs. 1 Nr. 1 BGB). 266  Siehe zu dieser Sachverhaltskonstellation: OLG Düsseldorf, Urt. v. 18. 09. 1995 – 4 U 231/93, VersR 1997, 470. 267  Zur großen Bedeutung der Bankbürgschaft in der Praxis: Schulz, in: MünchKomm-ZPO, Band 1, 2020, § 108 ZPO, Rn. 24. 268  Zur allgemeinen Meinung, dass ein Akteur aus einem anderen EU-Mitgliedstaat tauglicher Bürge sein muss: OLG Hamburg, Beschl. v. 04. 05. 1995 – 5 U 118/93,



C. Normtextunvereinbarkeit und Normzweckvereinbarkeit349

§ 239 Abs. 1 BGB deshalb unangewendet bleiben muss,269 er europarechtskonform ausgelegt270 werden kann oder entsprechend fortgebildet271 werden muss und soweit eine Rechtsfortbildung erforderlich ist, ob sie in einer teleologischen Reduktion272 oder in einer Analogie273 besteht.274 Es wird zu zeigen sein, dass im Ergebnis allein die Analogie zum Ziel führt.

NJW 1995, 2859, 2860 (so im Ergebnis, aber zu § 239 BGB letztlich obiter dictum); OLG Düsseldorf, Urt. v. 18. 09. 1995 – 4 U 231/93, VersR 1997, 470; Ehricke, EWS 1994, 259, 262; Fuchs, RIW 1996, 280, 289; Ralle, WiB 1996, 87, 88; Strasser, RIW 2009, 521, 523 f.; Petry, BauR 2015, 575, 580; Leible/Domröse, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2015, § 8 Rn. 58; Fahse, in: Soergel, BGB, Band 2, 1999, § 239 BGB, Rn. 4; Grothe, in: MünchKomm-BGB, Band 1, 2018, § 239 BGB, Rn. 2. Repgen, in: Staudinger, BGB, 2019, § 239 BGB, Rn. 3; Bach, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 239 BGB, Rn. 10; Dennhardt, in: BeckOK-BGB, 2020, § 239 BGB, Rn. 2 (für Einschreiten des Gesetzgebers); Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 12 Rn. 26; unentschlossen hingegen: OLG Koblenz, Beschl. v. 29. 03. 1995 – 2 W 105/95, RIW 1995, 775, das zwar erkennbar in diese Richtung argumentiert, die Beantwortung der Fragestellung aber offenlässt. 269  Zur die Unanwendbarkeit der Beschränkung in § 239 BGB: OLG Düsseldorf, Urt. v. 18. 09. 1995 – 4 U 231/93, VersR 1997, 470; Petry, BauR 2015, 575, 580. 270  Bach, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 239 BGB, Rn. 10, der nicht ganz eindeutig davon spricht, dass „Abs. 1 europarechtskonform […] ausgelegt (bzw. analog angewandt)“ wird und damit zumindest eine unionsrechtskonforme Auslegung in Betracht zieht; ähnlich unklar: Dennhardt, in: BeckOK-BGB, 2020, § 239 BGB, Rn. 2, der annimmt, die „gebotene ‚europafreundliche Auslegung‘ [sei] […] Aufgabe des nationalen Gesetzgebers“. Dennhardt hält damit wohl eine Gesetzesänderung für erforderlich, wobei er sich in dieser Hinsicht missverständlich auf Fahse, in: Soergel, BGB, Band 2, 1999, § 239 BGB, Rn. 4 bezieht, der aber ohne methodische Stellungnahme schlicht davon ausgeht, dass „ein Gerichtsstand innerhalb der EU ausreichend“ sei. 271  Leible/Domröse, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2015, § 8 Rn. 58; Bach, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 239 BGB, Rn. 10; Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 12 Rn. 26. 272  Für eine teleologische Reduktion: Leible/Domröse, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2015, § 8 Rn. 58; Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 12 Rn. 26. 273  Für eine Analogie: Bach, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 239 BGB, Rn. 10, der nicht ganz eindeutig davon spricht, dass „Abs. 1 europarechtskonform […] ausgelegt (bzw. analog angewandt) werden“ muss, in der Sache damit aber wohl zur Analogie tendiert. 274  Ohne methodische Stellungnahme: Repgen, in: Staudinger, BGB, 2019, § 239 BGB, Rn. 3, der ohne nähere Begründung feststellt, dass „ein Gerichtsstand in der Europäischen Union ausreichend“ ist; im Ergebnis ebenso: Grothe, in: MünchKommBGB, Band 1, 2018, § 239 BGB, Rn. 2.

350

Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

2. Lösung a) Normtextanalyse In der Normtextanalyse ist zu untersuchen, ob eine französische Geschäftsbank mit Sitz in Paris unter den Normtextausschnitt „allgemeiner Gerichtsstand im Inland“ fallen kann. Abzulehnen ist dies auf der Ebene der Evidenzkontrolle, da selbst unter Zugrundelegung des weitesten geltungszeitlichen und fachsprachlichen Normtextverständnisses eine Linie zwischen „Inland“ als Bundesrepublik Deutschland und „Ausland“ als Gegenbegriff gezogen werden muss. Insoweit ist es im Rahmen einer rein sprachlichen Evidenzkontrolle ausgeschlossen, einen Gerichtsstand in Paris275 als „inländisch“ zu bezeichnen.276 Bestätigt werden kann dies auf der Ebene der Referenzkon­ trolle. Zieht man ein Rechtswörterbuch zurate, zeigt sich, dass „Inland“ im juristischen Kontext sprachlich insbesondere in einem staatsrechtlichen, steuerrechtlichen und strafrechtlichen Sinne verwendet wird.277 In allen Verständnisvarianten wird hierunter aber stets nur das „Gebiet innerhalb der Staatsgrenzen“ verstanden, womit explizit das Hoheitsgebiet der Bundes­ republik Deutschland gemeint ist.278 Die Europäische Union ist aber kein Staat, sondern nur ein Verbund aus souveränen Staaten.279 Belegt wird dies ferner durch die Sprachverwendung in § 1717 BGB, in dem das „Ausland“ dem „Inland“ unmissverständlich als Pendant gegenübergestellt wird. Dass „Inland“ in § 239 Abs. 1 BGB auch nicht als „europäisches Inland“ oder „EU-Inland“ gedeutet werden kann, zeigt schließlich § 116 Nr. 2 ZPO, in dem bewusst unterschieden wird, ob eine juristische Person „im Inland, in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum“ gegründet wurde. Infolgedessen ist der Sachverhalt auch im Wege der Refe275  Dies ergibt sich aus Art. 4 Abs. 1 i. V. m. Art. 63 Abs. 1 lit. a der Verordnung (EU) Nr. 12. 5. 2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. EU v. 20. 12. 2012, L 351, S. 1 ff. („Brüssel Ia-VO“). 276  Dazu statt aller: Dennhardt, in: BeckOK-BGB, 2020, § 239 BGB, Rn. 2: „Ein Gerichtsstand im Ausland genügt angesichts des eindeutigen Wortlauts nicht.“ 277  Creifelds, Rechtswörterbuch, 2019, Stichwort „Inland“. 278  Zu allen Deutungsvarianten: Creifelds, Rechtswörterbuch, 2019, Stichwort „Inland“. 279  Zum Charakter der Europäischen Union als Staatenverbund: BVerfG, Urt. v. 12. 10. 1993 – 2 BvR 2134, 2159/92 – Maastricht, BVerfGE 89, 155, 181; BVerfG, Urt. v. 30. 06. 2009 – 2 BvE 2, 5/08, 2 BvR 1010, 1022, 1259/08, 182/09 – Lissabon, BVerfGE 123, 267, 348; ferner hierzu: Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn.  58 f.



C. Normtextunvereinbarkeit und Normzweckvereinbarkeit351

renzkontrolle auszuschließen. Da ein anderes Ergebnis mit der Konvergenzkontrolle ebenfalls nicht erreicht werden kann, ist der Sachverhalt insgesamt mit dem Normtext unvereinbar. Vorbehaltlich der weiteren Prüfung kann damit bereits an dieser Stelle festgestellt werden, dass eine europarechtskonforme Auslegung nicht gelingen kann, weil die Normtextgrenze in diesem Fall überschritten wäre.280 b) Normzweckanalyse In der Normzweckanalyse ist zu untersuchen, ob ein EU-ausländischer Bürge im Normtext zwar nicht repräsentiert ist, er nach dem gebotenen Normzweck aber eingeschlossen sein müsste. Betrachtet man zunächst die Wertung der Einzelnorm, findet sich hierzu in den Gesetzesmaterialien die Äußerung, dass mit „Inland“ das Staatsgebiet angesprochen ist, weil entscheidend sei, dass der Bürge „auch leicht zu belangen ist.“281 Aus diesem Grund würde mit „der Entfernung von deutschem Gebiete […] die Tauglichkeit eines solchen Bürgen sofort fallen.“282 Infolgedessen wurde ein Gerichtsstand auf dem Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland gewählt, damit der Sicherungsnehmer ohne Schwierigkeiten auf den Bürgen zugreifen kann.283 Es ist nicht überraschend, dass die gesetzgeberische Stellungnahme zum damaligen Zeitpunkt die europäische Integration noch nicht vorhersehen und daher auch nicht mitberücksichtigen konnte. Auch erscheint denkbar, dass der Gesetzgeber heute anders entschieden hätte. Dies ändert jedoch nichts an dem Umstand, dass bei isolierter Betrachtung aus der Wertung des § 239 Abs. 1 BGB allein keine zwingende Gleichstellung von Inland und EU-Ausland abgeleitet werden kann. Auch die Wertungen des gleichrangigen Rechts gebieten keine Gleichstellung von inländischen und EU-ausländischen Sicherungsgebern. In § 108 ZPO existiert zwar eine korrespondierende Regelung für prozessrechtliche Sicherheitsleistungen, die neben die Bestimmung des § 239 BGB tritt, der direkt284 280  Dennhardt, in: BeckOK-BGB, 2020, § 239 BGB, Rn. 2, der in Wortlaut insoweit als „eindeutig“ bezeichnet. 281  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band, 1899, S. 565 (= Motive, S. 391). 282  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band, 1899, S. 565 (= Motive, S. 391). 283  Zu diesem Regelungszweck: Grothe, in: MünchKomm-BGB, Band 1, 2018, § 239 BGB, Rn. 2; Repgen, in: Staudinger, BGB, 2019, § 239 BGB, Rn. 3; Bach, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 239 BGB, Rn. 8. 284  Statt aller zur herrschenden analogen Anwendung der §§ 232 ff. BGB auf prozessuale Sicherheiten: Bach, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 232 BGB, Rn. 9 f.

352

Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

nur für materiellrechtliche Sicherheitsleistungen gilt.285 Dass wegen der Wertung des § 108 ZPO im Vergleich zu § 239 BGB jedoch nichts anderes geboten ist, zeigen schon die Gesetzesmaterialien, in denen sich die Stellungnahme findet, dass die Voraussetzungen der Sicherheitsleistung durch Bankbürgschaft insbesondere durch „die sonstigen Tauglichkeitseigenschaften eines Bürgen nach § 239 BGB beschränkt“ werden.286 Hierin äußert sich die legislative Wertentscheidung, dass sich § 108 ZPO am Inhalt des § 239 BGB orientieren soll. Folglich ist es vor diesem Hintergrund ausgeschlossen, dass die Wertung des § 108 ZPO einen anderen Inhalt hat und umgekehrt die Wertung des § 239 BGB beeinflusst. Ein Gebot zur Gleichstellung folgt ferner nicht aus den Wertungen des Verfassungsrechts. In Betracht zu ziehen ist jedoch der allgemeine Gleichheitssatz gem. Art. 3 Abs. 1 GG, der es gebietet, wesentlich Gleiches gleich zu behandeln.287 In § 239 BGB zeigt sich insoweit zwar eine Ungleichbehandlung von Sicherungsgebern, die einen allgemeinen Gerichtsstand im Inland und denjenigen, die einen solchen im EU-Ausland haben. Dabei ist indes zu berücksichtigen, dass eine Ungleichbehandlung verfassungsrechtlich nicht grundsätzlich untersagt ist, sondern gerechtfertigt werden kann, wenn „Sachgründe [bestehen], die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind“.288 Nach der Rechtsprechung des BVerfG gilt hierfür „ein stufenloser am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter Prüfungsmaßstab“,289 wobei die Anforderungen an die Rechtfertigung von einer bloßen Willkürkontrolle bis hin zu einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung reichen können.290 Weil § 239 BGB mit dem allgemeinen Gerichtsstand im Inland nicht an ein personenbezogenes Merkmal anknüpft291 und das Differenzierungskriterium durch den Einzelnen grund-

dazu: Schulz, in: MünchKomm-ZPO, Band 1, 2020, § 108 ZPO, Rn. 4. 14/4722, S. 75; ferner hierzu: Schulz, in: MünchKomm-ZPO, Band 1, 2020, § 108 ZPO, Rn. 41. 287  In st. Rspr. z. B. BVerfG, Beschl. v. 17. 06. 1953 – 1 BvR 668/52 – Armenanwalt, BVerfGE 2, 336, 340; BVerfG, Beschl. v. 15. 07. 1998 – 1 BvR 1554/89, 963, 964/94, BVerfGE 98, 365, 385; BVerfG, Beschl. v. 21. 06. 2011 – 1 BvR 2035/07 – Mediziner-BAföG, BVerfGE 129, 49, 68; BVerfG, Beschl. v. 07. 02. 2012 – 1 BvL 14/07, BVerfGE 130, 240, 252. 288  BVerfG, Beschl. v. 07. 02. 2012 – 1 BvL 14/07, BVerfGE 130, 240, 253. 289  BVerfG, Beschl. v. 26. 01. 1993 – 1 BvL 38/92, 1 BvL 40/92, 1 BvL 43/92 – Transsexuelle II, BVerfGE 88, 87, 96. 290  BVerfG, Beschl. v. 21.06.2011 – 1 BvR 2035/07 – Mediziner-BAföG, BVerfGE 129, 49, 68 f. 291  Zum strengeren Maßstab bei personenbezogenen Differenzierungen: BVerfG, Beschl. v. 26. 01. 1993 – 1 BvL 38/92, 1 BvL 40/92, 1 BvL 43/92 – Transsexuelle II, BVerfGE 88, 87, 96; BVerfG, Beschl. v. 07. 07. 2009 – 1 BvR 1164/07, BVerfGE 124, 285  Siehe

286  BT-Drucks.



C. Normtextunvereinbarkeit und Normzweckvereinbarkeit353

sätzlich beeinflusst werden kann292, ist in diesem Fall ein milderer Rechtfertigungsmaßstab zu wählen. Mit Blick auf das Differenzierungsziel, die Effektivität der Sicherungsleistung zu wahren, scheint es aber durchaus nachvollziehbar, an einen allgemeinen Gerichtsstand im Inland anzuknüpfen. Hierdurch wird gewährleistet, dass die Rechtsdurchsetzung nationalen Regelungen unterliegt, deren Wirksamkeit der deutsche Gesetzgeber aktiv beeinflussen kann. Die vorgenommene Differenzierung ist vor diesem Hintergrund weder willkürlich noch unangemessen. Dies gilt umso mehr, wenn man in Rechnung stellt, dass der Legislative gerade bei sachbezogenen Differenzierungen ein weiter Einschätzungsspielraum eingeräumt ist.293 Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG ist daher abzulehnen und ein anderes Ergebnis verfassungsrechtlich nicht geboten. Eine andere Beurteilung ergibt sich jedoch aus den Wertungen des Unionsrechts. Während in anderen Konstellationen regelmäßig das Diskriminierungsverbot294 aus Gründen der Staatsangehörigkeit nach Art. 18 AEUV295 Bedeutung erlangt,296 sind bei Bürgschaftsleistungen EU-ausländischer Sicherungsgeber vorrangig die europäischen Grundfreiheiten heranzuziehen.297 In Betracht kommt ein Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit aus Art.  56 ff. AEUV298 und gegen die Kapitalverkehrsfreiheit aus Art. 63 ff. AEUV.299 Im Einzelfall ist die Abgrenzung beider Schutzbereiche mitunter 199, 220; ebenso: BVerfG, Beschl. v. 21. 06. 2011 – 1 BvR 2035/07 – MedizinerBAföG, BVerfGE 129, 49, 69. 292  Zum Merkmal der Beeinflussbarkeit: BVerfG, Beschl. v. 26. 01. 1993 – 1 BvL 38/92, 1 BvL 40/92, 1 BvL 43/92 – Transsexuelle II, BVerfGE 88, 87, 96; BVerfG, Beschl. v. 12. 10. 2010 – 1 BvL 14/09, BVerfGE 127, 263, 280. 293  Siehe hierzu: Kingreen/Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, 2020, Rn. 533. 294  Zur unmittelbaren Wirkung des Diskriminierungsverbots: EuGH, Urt. v. 20. 10. 1993 – verb. Rs. C-92/92 und C-326/92 – Collins und Patricia Im- und Export/Imtrat und EMI Electrola, ECLI:EU:C:1993:847, Rn. 34 f. 295  Statt aller zur Anwendbarkeit von Art. 18 AEUV auf juristische Personen: Ludwigs/Friedmann, JA 2018, 807, 809. 296  Zu dieser Konstellation: Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, §  12 Rn. 26. 297  Siehe zum Vorrang der europäischen Grundfreiheiten gegenüber dem allgemeinen Diskriminierungsverbot: Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 767. 298  Zur unmittelbaren Wirkung der Dienstleistungsfreiheit: EuGH, Urt. 03.12.1974 – Rs. 33/74  – Van Binsbergen/Bedrijfsvereniging voor de Metaalnijverheid, ECLI:EU: C:1974:131, Rn.  18 ff. 299  Zur unmittelbaren Wirkung der Kapitalverkehrsfreiheit: EuGH, Urt. v. 14.12.1995 – verb. Rs. C-163/94, C-165/94 und C-250/94 – Sanz de Lera u. a., ECLI: EU:C:1995:451, Rn. 48; insoweit Aufgabe von EuGH, Urt. v. 11.11.1981 – Rs. 203/80 – Casati, ECLI:EU:C:1981:261, Rn. 8 ff.

354

Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

schwer durchführbar, da es je nach der konkreten vertraglichen Ausgestaltung zu Überschneidungen der Gewährleistungen kommen kann.300 Einerseits sind Bankbürgschaften Dienstleistungen gem. Art. 57 AEUV, weil sie gegen Provision und somit entgeltlich erbracht werden.301 Wie andere Bankendienste sind sie als klassische (grenzüberschreitende) Korrespondenzdienstleistungen vom Schutzbereich des Art. 56 AEUV umfasst.302 Andererseits können Bankbürgschaften auch dem „Kapitalverkehr“ zugerechnet werden und so am Gewährleistungsbereich des Art. 63 Abs. 1 AEUV teilhaben. Zwar existiert eine präzise Begriffsbestimmung für den „Kapitalverkehr“ bislang nicht;303 der EuGH zieht zur Auslegung des Gewährleistungsbereichs jedoch Anhang I der Kapitalverkehrsrichtlinie304 heran,305 der u. a. „Bürgschaften, andere Garantien und Pfandrechte“ dem Kapitalverkehr zurechnet.306 Obwohl diese Begriffsbestimmung schon aus kompetenzrechtlichen Gründen nur indiziellen Charakter haben kann,307 verdeutlicht sie, dass die Zuordnung der Bürgschaft zur Dienstleistungsfreiheit keineswegs zwingend 300  Haratsch/Koenig/Pechstein,

Europarecht, 2020, Rn. 1050 und 1102. ZBB 2000, 177, 178 bezeichnet die Zuordnung der Bankbürgschaften zu den Dienstleistungsvorschriften als „unzweifelhaft“ und sieht die „Niederlassungsund Kapitalverkehrsvorschriften […] ebensowenig einschlägig wie das allgemeine Diskriminierungsverbot“. 302  Zu Finanzdienstleistungen als Korrespondenzdienstleistungen: EuGH, Urt. v. 10. 05. 1995 – Rs. C-384/93 – Alpine Investments, ECLI:EU:C:1995:126, Rn. 22, wonach die Dienstleistungsfreiheit auch das Anbieten von Dienstleistungen ohne Ortswechsel schützt; dazu und zum Begriff der Korrespondenzdienstleistung: Haratsch/ Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 1053. 303  Siehe hierzu: Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 1095. 304  Richtlinie 88/361/EWG des Rates vom 24. Juni 1988 zur Durchführung von Artikel 67 des Vertrags („Kapitalverkehrsrichtlinie“), ABl. EG v. 08. 07. 1988, L 178, S.  5 ff. 305  EuGH, Urt. v. 16. 03. 1999, Rs. C-222/97 – Trummer und Mayer, ECLI:EU: C:1999:143, Rn. 21 ff.; EuGH, Urt. v. 21. 05. 2015 – Rs. C-560/13 – Wagner-Raith, ECLI:EU:C:2015:347, Rn. 23; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 1095. 306  Richtlinie 88/361/EWG des Rates vom 24. Juni 1988 zur Durchführung von Artikel 67 des Vertrags („Kapitalverkehrsrichtlinie“), ABl. EG v. 08. 07. 1988, L 178, S. 10; zu dieser Argumentationslinie: EuGH, Urt. v. 16. 03. 1999, Rs. C-222/97 – Trummer und Mayer, ECLI:EU:C:1999:143, Rn. 21 ff.; EuGH, Urt. v. 03. 10. 2006 – Rs. C-452/04 – Fidium Finanz, ECLI:EU:C:2006:631, Rn. 41; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 2020, Art. 63 AEUV, Rn. 129 f.; hierzu und zur Rechtsprechungsentwicklung in dieser Frage: Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 2016, Art. 63 AEUV, Rn. 38 ff. 307  Zum reinen Hinweischarakter der Nomenklatur: EuGH, Urt. v. 16. 03. 1999, Rs. C-222/97 – Trummer und Mayer, ECLI:EU:C:1999:143, Rn. 21; EuGH, Urt. v. 03. 10. 2006 – Rs. C-452/04 – Fidium Finanz, ECLI:EU:C:2006:631, Rn. 41; EuGH, Urt. v. 21. 05. 2015 – Rs. C-560/13 – Wagner-Raith, ECLI:EU:C:2015:347, Rn. 23; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 1095. 301  Reich,



C. Normtextunvereinbarkeit und Normzweckvereinbarkeit355

ist.308 Anders als der Wortlaut des Art. 57 Abs. 1 AEUV nahelegt, ergibt sich aus ihm auch kein Vorrang der Dienstleistungs- vor der Kapitalver­ kehrsfreiheit;309 Art. 58 Abs. 2 AEUV bestimmt vielmehr ausdrücklich, dass die „Liberalisierung der mit dem Kapitalverkehr verbundenen Dienstleistungen der Banken und Versicherungen […] im Einklang mit der Liberalisierung des Kapitalverkehrs durchgeführt“ wird. Hieraus folgt, dass Bankdienstleistungen sowohl von der Dienstleistungs- als auch von der Kapitalverkehrsfreiheit geschützt werden.310 Nach der Rechtsprechung des EuGH ist infolgedessen in erster Linie nach dem Schwerpunkt der Finanzdienstleistung311 abzugrenzen;312 ist dieser nicht zu ermitteln, können beide Grundfreiheiten parallel Anwendung finden.313 Obwohl sehr gute Gründe dafür sprechen, eine Bürgschaft allein als Dienstleistung zu begreifen und nur die Provisionszahlung als Gegenleistung der Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehr zu unterstellen,314 kann die endgültige Einordnung der Bürgschaft hier letztlich dahinstehen, weil die nationale Bestimmung des § 239 Abs. 1 BGB gegen beide Grundfreiheiten verstoßen würde. Mit der Beschränkung tauglicher Bürgen auf Sicherungsgeber mit einem allgemeinen Gerichtsstand im Inland geht zunächst ein Eingriff in die Dienstleistungs- oder die Kapitalverkehrsfreiheit einher. Zwar wird in § 239 Abs. 1 BGB nicht ausdrücklich nach Staatsangehörigkeit unterschieden, sondern an einen „allgemeinen Gerichtsstand im Inland“ angeknüpft. In diesem Merk-

308  Anders aber: Reich, ZBB 2000, 177, 178, der entschieden nur den Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit als eröffnet ansieht. 309  EuGH, Urt. v. 03.  10.  2006 – Rs. C-452/04 – Fidium Finanz, ECLI:EU: C:2006:631, Rn.  31 f.; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 1102. 310  Zur grundsätzlichen Anwendbarkeit der Dienstleistungsfreiheit auf Bankdienste: EuGH, Urt. v. 14. 11. 1995 – Rs. C-484/93 – Svensson und Gustavsson/Ministre du Logement und de l‘Urbanisme, ECLI:EU:C:1995:379, Rn. 11; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 1050. 311  Im Fall der Prozessbürgschaft für die Kapitalverkehrsfreiheit: OLG Düsseldorf, Urt. v. 18. 09. 1995 – 4 U 231/93, VersR 1997, 470; demgegenüber für die Dienstleistungsfreiheit: Ehricke, EWS 1994, 259, 261; Fuchs, RIW 1996, 280, 289; Ralle, WiB 1996, 87, 88; Reich, ZBB 2000, 177, 178. 312  Daher zu Recht kritisch zur unklaren Abgrenzung von Dienstleistungs- und Kapitalverkehrsfreiheit: Usher, ZEuS 2001, 247, 253; zustimmend: Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 2016, Art. 63 AEUV, Rn. 47. 313  Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 1050. 314  Zum Schutz von Leistung und Gegenleistung durch die Grundfreiheiten: Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 1094, die die „Kapitalverkehrsfreiheit als notwendige Ergänzung zur Waren- und Personenfreiheit [sehen], denn sie sichert, dass auch die grenzüberschreitende Erbringung der Gegenleistung für erbrachte Leistungen unionsrechtlich garantiert ist. Sie ist notwendiges Korrelat dieser Grundfreiheiten.“

356

Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

mal zeigt sich jedoch eine verdeckte Diskriminierung,315 da diese Anforderung gerade von Verkehrsteilnehmer aus anderen Mitgliedstaaten der Euro­ päischen Union mehrheitlich nicht erfüllt wird. Folglich wird durch diese Gestaltung eine ähnliche Wirkung erzielt, wie wenn die Staatsangehörigkeit zur Bedingung für die Bürgentauglichkeit erklärt worden wäre. In dieser verdeckten Diskriminierung liegt ein Eingriff in die Dienstleistungs- oder in die Kapitalverkehrsfreiheit.316 Dieser ist auch nicht zu rechtfertigen. In beiden Fällen kann eine diskriminierende Maßnahme nur auf einen geschriebenen Rechtfertigungsgrund gestützt werden.317 Nach Art. 62 i. V. m. Art. 52 Abs. 1 AEUV und Art. 65 Abs. 1 lit. b AEUV kommt aber nach beiden Grundfreiheiten nur eine Rechtfertigung aus Gründen der „öffentlichen Ordnung oder Sicherheit“ in Betracht. In ständiger Rechtsprechung des EuGH wird dieser Rechtfertigungsgrund restriktiv ausgelegt und erweist sich insbesondere nur als erfüllt, „wenn eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.318 In Anbetracht dessen könnte die nationale Regelung des § 239 Abs. 1 BGB allenfalls zulässig sein, wenn der Schutzmechanismus der Sicherheitsleistung nur dadurch vor der praktischen Wirkungslosigkeit bewahrt werden könnte, dass die gesicherte Partei auf einen Bürgen mit allgemeinem Gerichtsstand im Inland zugreifen kann.319 Zutreffend ist, dass eine Rechtsdurchsetzung im Ausland schwieriger ist als eine solche im Inland.320 Allerdings ist zu berücksichtigen, dass 315  Zur Gleichstellung von offener und verdeckter Diskriminierung: EuGH, Urt. v. 16. 01. 2003 – Rs. C-388/01 – Kommission/Italien, ECLI:EU:C:2003:30, Rn. 13 f.; ferner: Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 1064. 316  Zur grundsätzlichen Konvergenz der Grundfreiheiten: Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 866 ff.; zu kleinen dogmatischen Abweichungen beim Eingriff in die Dienstleistungs- und Kapitalverkehrsfreiheit: Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 1061 ff. (Dienstleistungsfreiheit) und 1105 ff. (Kapitalverkehrsfreiheit); außerdem dazu: Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 2016, Art. 63 AEUV, Rn. 47, der sich dafür ausspricht, auch den Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit „im Lichte der allgemeinen Grundfreiheitsdogmatik zu sehen“. 317  Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 1109. 318  EuGH, Urt. v. 07. 06. 2012 – Rs. C-39/11 – VBV-Vorsorgekasse, ECLI:EU:C: 2012:327, Rn. 29 (so für die Kapitalverkehrsfreiheit); zuvor bereits zu dieser Auslegung: EuGH, Urt. v. 27. 10. 1977 – Rs. 30–77 – Bouchereau, ECLI:EU:C:1977:172, Rn. 33/35; EuGH, Urt. v. 14. 03. 2000 – Rs. C-54/99 – Église de scientologie, ECLI: EU:C:2000:124, Rn. 17; ferner hierzu: Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 2016, Art. 65 AEUV, Rn. 11; zur identischen Auslegung dieses Rechtfertigungsgrunds im Zusammenhang mit anderen Grundfreiheiten: Korte, in: Calliess/Ruffert, EUV/ AEUV, 2016, Art. 52 AEUV, Rn. 8. 319  Ähnlich: OLG Düsseldorf, Urt. v. 18. 09. 1995 – 4 U 231/93, VersR 1997, 470; in diese Richtung auch: Ehricke, EWS 1994, 259, 262. 320  Strasser, RIW 2009, 521, 523. 



C. Normtextunvereinbarkeit und Normzweckvereinbarkeit357

die gerichtliche Zuständigkeit, die Anerkennung und die Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen in den EU-Mitgliedstaaten durch die Brüssel Ia-Verordnung321 einheitlich geregelt ist.322 In den letzten Jahren wurde hier beständig323 eine Erhöhung der Effektivität der Rechtsdurchsetzung bei grenzüberschreitenden Rechtsstreitigkeiten erreicht und zugleich der Zeit- und Kostenaufwand der Rechtsverfolgung verringert.324 Ausfluss dessen ist Art. 39 der Verordnung, wonach eine in einem Mitgliedstaat ergangene und dort vollstreckbare Entscheidung nunmehr325 auch in anderen Mitgliedstaaten vollstreckbar ist, ohne dass es einer Vollstreckbar­ erklärung bedürfte.326 Mit Blick auf das „level playing field“, das durch die Brüssel Ia-Verordnung geschaffen wird, ist folglich nicht zu befürchten, dass die Rechtsdurchsetzung gegen den Bürgen ernsthaft gefährdet ist, wenn er nur über einen allgemeinen Gerichtsstand in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union verfügt.327 Vor diesem Hintergrund ist der verdeckt 321  Verordnung (EU) Nr. 12. 5. 2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen („Brüssel ­Ia-VO“), ABl. EU v. 20. 12. 2012, L 351, S. 1 ff. 322  EuGH, Urt. v. 10. 02. 1994 – Rs. C-398/92 – Mund & Fester, ECLI:EU:C: 1994:52, Rn. 19: „Eine […] Vermutung [von Schwierigkeiten bei der Rechtsdurchsetzung] ist zwar gerechtfertigt, wenn die Vollstreckung des späteren Urteils im Gebiet eines Drittstaats zu erfolgen hat; sie ist es aber nicht, wenn es darum geht, das Urteil im Gebiet der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft zu vollstrecken. Alle diese Staaten sind nämlich Vertragsparteien des Brüsseler Übereinkommens, deren Hoheitsgebiete […] als ein einheitliches Ganzes angesehen werden können“; zustimmend: OLG Düsseldorf, Urt. v. 18. 09. 1995 – 4 U 231/93, VersR 1997, 470. 323  Für einen Überblick: Erwägungsgründe 1 ff. der Verordnung (EU) Nr. 1215/ 2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen („Brüssel Ia-VO“), ABl. EU v. 20. 12. 2012, L 351, S.  1 ff. 324  Hierzu: Erwägungsgrund 26 der Verordnung (EU) Nr. 12. 5. 2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen („Brüssel Ia-VO“), ABl. EU v. 20. 12. 2012, L 351, S. 4. 325  Zu dieser entscheidenden Änderung: Wagner, NJW 2013, 3128, 3129. 326  Vor dem Hintergrund dürfte die von Reich, ZBB 2000, 177, 179 f. geäußerte Kritik an der Effektivität der Rechtsverfolgung bei grenzüberschreitenden Rechtsstreitigkeiten zwischen Mitgliedstaaten der Europäischen Union zwischenzeitlich hinfällig sein. 327  Im Ergebnis ebenso: OLG Düsseldorf, Urt. v. 18. 09. 1995 – 4 U 231/93, VersR 1997, 470, der im Anschluss an EuGH, Urt. v. 10. 02. 1994 – Rs. C-398/92 – Mund & Fester, ECLI:EU:C:1994:52, Rn. 19 ausdrücklich annimmt, dass in den Mitgliedstaaten „die Anerkennung und Vollstreckung wie im Inland selbst erfolgt“; ferner: Eh­ ricke, EWS 1994, 259, 262; in aller Deutlichkeit auch: Strasser, RIW 2009, 521, 523, wonach der Sicherungsberechtigte durch das europäische Zivilprozessrecht „letztlich

358

Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

diskriminierende Eingriff in die Dienstleistungs- oder Kapitalverkehrsfreiheit nicht mit Gründen der „öffentlichen Ordnung und Sicherheit“ zu rechtfertigen. Soweit die Tauglichkeit des Bürgen einen allgemeinen Gerichtsstand im Inland voraussetzt, verstößt die Regelung des § 239 Abs. 1 BGB vielmehr gegen europäische Grundfreiheiten.328 Aus dieser primärrechtlichen Wertung ergibt sich für den gebotenen Normzweck, dass einem Sicherungsgeber mit einem allgemeinen Gerichtsstand im EU-Ausland die Möglichkeit offenstehen muss, eine Bürgschaft für eine nach deutschem Recht geforderte Sicherheitsleistung zu erbringen. Realisiert werden kann dies einzig mit einer unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung in Form der Analogie, die den Normtext auf Tatbestandsseite um das Merkmal des allgemeinen Gerichtsstands in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union erweitert.329 Abzulehnen sind demgegenüber Lösungsvorschläge, § 239 Abs. 1 BGB unangewendet zu lassen330 oder eine unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung in Form der teleologischen Reduktion331 vorzunehmen. Eine Nichtanwendung der Regelung des § 239 BGB wäre infolge des Anwendungsvorrangs des EU-Primärrechts zwar grundsätzlich denkbar und wäre ebenfalls in der Lage, das primärrechtlich gebotene Ergebnis herbeizuführen; sie ist jedoch nur zulässig, soweit eine unionsrechtskonforme Auslegung oder Fortbildung nicht möglich ist.332 Infolgedessen scheitert eine Nichtanwendung am Vorrang unionsrechtskonformer in keine rechtlich schlechtere Lage [versetzt werde], als wenn dieser zur Realisierung seiner Ansprüche aus der Bürgschaft gegen ein inländisches Kreditinstitut vorgehen müsste.“ 328  Für einen Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit: OLG Düsseldorf, Urt. v. 18. 09. 1995 – 4 U 231/93, VersR 1997, 470; für einen Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit: Ehricke, EWS 1994, 259, 261; Fuchs, RIW 1996, 280, 284; Ralle, WiB 1996, 87, 87 f.; für einen Verstoß gegen Dienstleistungs- und Kapitalverkehrsfreiheit: Grothe, in: MünchKomm-BGB, Band 1, 2018, § 239 BGB, Rn. 2; Bach, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 239 BGB, Rn. 10. 329  Für eine Analogie: Bach, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 239 BGB, Rn. 10, der nicht ganz eindeutig davon spricht, dass „Abs. 1 europarechtskonform […] ausgelegt (bzw. analog angewandt) werden“ muss, in der Sache damit aber wohl zur Analogie tendiert. 330  Zur Unanwendbarkeit der Beschränkung in § 239 BGB: OLG Düsseldorf, Urt. v. 18. 09. 1995 – 4 U 231/93, VersR 1997, 470; Petry, BauR 2015, 575, 580. 331  Für eine teleologische Reduktion: Leible/Domröse, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2015, § 8 Rn. 58; Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 12 Rn. 26. 332  EuGH, Urt. v. 04. 02. 1988 – Rs. 157/86 – Murphy/An Bord Telecom Eireann, ECLI:EU:C:1988:62, Rn. 11: „Es ist Sache des […] Gerichts, das innerstaatliche Gesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen und anzuwenden; soweit eine solche gemeinschaftsrechtskonforme



C. Normtextunvereinbarkeit und Normzweckvereinbarkeit359

Rechtsanwendung in Form der primärrechtskonformen Fortbildung.333 Innerhalb dieser Kategorie kann die Primärrechtskonformität schließlich auch nicht durch eine teleologische Reduktion erreicht werden, mit der Inland durch „EU-Inland“334 ersetzt wird oder die bewirkt, dass „neben Deutschland auch alle anderen Mitgliedstaaten der EU“335 eingeschlossen werden. Beide Vorschläge sind zwar nicht in der Sache, aber in ihrer methodischen Einordnung zu kritisieren. Diese Normtextanpassungen beschreiben nämlich keine teleologische Reduktion, sondern eine Analogie, da der Normtext erweitert und nicht beschränkt wird.336 Der Rechtsfolge „Ein Bürge ist tauglich“ wird schließlich ein erweiterter Tatbestand gegenübergestellt, der voraussetzt, dass der Bürge ein der Höhe der zu leistenden Sicherheit angemessenes Vermögen besitzt und seinen allgemeinen Gerichtsstand im Inland oder in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union hat. Diese Erweiterung auf Tatbestandsseite kann nur mit der Analogie und nicht im Wege der teleologischen Reduktion realisiert werden. c) Ergebnis Ein Sicherungsgeber mit einem allgemeinen Gerichtsstand im EU-Ausland ist es nach dem unionsrechtlich geprägten gebotenen Normzweck gestattet, im deutschen Rechtsverkehr als tauglicher Bürge im Sinne des § 239 Abs. 1 BGB aufzutreten. Um dies zu erreichen, ist der Normtext auf Tatbestandsseite durch Analogie derart zu erweitern, dass hierfür auch ein allgemeiner Gerichtsstand in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union ausreichend ist.

Auslegung nicht möglich ist, darf es entgegenstehende innerstaatliche Vorschriften nicht anwenden“; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 212. 333  Zur europarechtskonformen Rechtsfortbildung als Minus zur Unanwendbarkeit: Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2020, Rn. 890; Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 12 Rn. 25, der dies mit dem „Prinzip der Normerhaltung“ begründet. 334  Leible/Domröse, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2015, § 8 Rn. 58. 335  Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 12 Rn. 26. 336  In diese Richtung nun möglicherweise auch Möllers, ZfPW 2019, 94, 111, der hier anders als in Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 12 Rn. 26 nicht von „teleologisch zu reduzieren“ spricht, sondern ohne diesen Zusatz darlegt, dass in § 239 BGB „im Wege der primärrechtskonformen Rechtsfortbildung der Begriff des Inlandes neben Deutschland auch auf alle anderen Mitgliedstaaten der EU auszuweiten“ sei.

360

Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

D. Normtextunvereinbarkeit und Normzweckunvereinbarkeit (unzulässige Rechtsfortbildung) In der vierten Konstellation ist die angedachte Rechtsfortbildung unzulässig, weil der Sachverhalt weder mit dem Normtext noch mit dem gebotenen Normzweck in Einklang zu bringen ist. Ist dies der Fall, ist die Rechtsordnung nicht lückenhaft, da sie eine Lösung für die Rechtsfrage bereithält, die indes darin besteht, den Sachverhalt nicht in die Norm einzuschließen. Weil erneut vorstellbar ist, dass verschiedene Wertungen für die Rechtsfortbildung relevant werden, sollen wiederum Anwendungsbeispiele untersucht werden, wobei im ersten Fall die Wertung der Einzelnorm, im zweiten eine solche des gleichrangigen Privatrechts, im dritten eine Wertung des Verfassungsrechts und im vierten Fall eine solche des Unionsrechts den gebotenen Normzweck beeinflusst.

I. Wertung der Einzelnorm: Einkaufsvollmacht des Ladenangestellten 1. Problemaufriss Gem. § 56 HGB gilt ein Angestellter in einem Laden oder offenen Warenlager als zu Verkäufen und Empfangnahmen ermächtigt, die dort gewöhnlich geschehen. Betreibt der Kaufmann ein Ladengeschäft, in dem sowohl verkauft als auch angekauft wird, stellt sich die Frage, ob die Bestimmung durch Auslegung oder Fortbildung auf die Situation des Einkaufs erstreckt werden kann.337 Um dies zu beantworten, ist zu prüfen, ob dieser Fall vom Normtext und gebotenen Normzweck des § 56 HGB umfasst ist.

337  Wie noch zu zeigen sein wird, ist dies im Einklang mit der allgemeinen Ansicht zu Recht abzulehnen: BGH, Urt. v. 04. 05. 1988 – VIII ZR 196/87, NJW 1988, 2109, 2110; Joost, in: Staub, HGB, 2008, § 56 HGB, Rn. 33; Krebs, in: MünchKommHGB, Band 1, 2016, § 56 HGB, Rn. 28; Roth, in: Koller/Kindler/Roth/Drüen, HGB, 2019, § 56 HGB, Rn. 8; Schubert, in: Oetker, HGB, 2019, § 56 HGB, Rn. 15; Hopt, in: Baumbach/Hopt, HGB, 2020, § 56 HGB, Rn. 4; Meyer, in: BeckOK-HGB, 2020, § 56 HGB, Rn. 15; Weber, in: Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, Band 1, 2020, § 56 HGB, Rn. 11; Canaris, Handelsrecht, 2006, § 14 Rn. 8; Schmidt, Handelsrecht, 2014, § 16 Rn. 132.



D. Normtextunvereinbarkeit und Normzweckunvereinbarkeit 361

2. Lösung a) Normtextanalyse In der Normtextanalyse ist zu ermitteln, ob der Abschluss eines Ankaufvertrags mit einem Angestellten als Vertreter des Käufers noch unter die Gesetzesformulierung des § 56 HGB gefasst werden kann. Weil der Angestellte hiernach nur zu „Verkäufen und Empfangnahmen“ als ermächtigt gilt, kann sich die Textanalyse auf die Frage konzentrieren, ob der Einkauf sprachlich als Verkauf oder Empfangnahme verstanden werden kann. Während dies für den Verkauf offensichtlich nicht der Fall ist, bleibt einzig zu erwägen, ob der Abschluss eines schuldrechtlichen Vertrags auf Käuferseite als Empfangnahme verstanden werden kann. Unter dem Gesichtspunkt, dass nicht nur Gegenstände, sondern auch Willenserklärungen in Empfang genommen werden können, erscheint dies denkbar. Insoweit kann semantisch auch die Willenserklärung empfangen werden, die das Kaufangebot an den Ladeninhaber enthält. Scheitern muss der Einschluss in den Normtext aber jedenfalls an der Annahmeerklärung durch den Angestellten. Eine Empfangnahme kann stets nur als Passivvertretung verstanden werden, wohingegen eine Aktivvertretung allein unter dem Merkmal Verkauf vorstellbar ist; dieses schließt den Ankauf aber unmissverständlich aus. Der Abschluss eines Kaufvertrags mit dem Angestellten als Käufervertreter erweist sich damit schon auf der Stufe der Evidenzkontrolle als nicht normtextkonform. Da eine andere Bewertung auch auf den Stufen der Referenz- und Konvergenzkontrolle nicht erreicht werden kann, ist der Fall nicht mit dem Normtext des § 56 HGB zu vereinen.338 b) Normzweckanalyse Dass der Sachverhalt nicht mit dem Normtext im Einklang steht, bedeutet indes nicht automatisch, dass die Bestimmung auf ihn nicht anwendbar wäre. Vielmehr ist in der Normzweckanalyse zu untersuchen, ob der Abschluss eines Kaufvertrags mit dem Angestellten als Käufervertreter durch den gebotenen Normzweck des § 56 HGB gedeckt ist. Hierfür ist zunächst die Wertung der Einzelnorm zu betrachten. In den Gesetzesmaterialen zum HGB ist in dieser Hinsicht jedoch kein expliziter Regelungswille feststellbar. In der Denkschrift zum Entwurf eines Handelsgesetzbuches findet sich einzig der Hinweis, dass der heutige § 56 HGB seiner Vorgängervorschrift entspreche und eine Ausdehnung der Vorschrift 338  Im

2109.

Ergebnis ebenso: BGH, Urt. v. 04. 05. 1988 – VIII ZR 196/87, NJW 1988,

362

Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

„auf Angestellte in anderen dem Publikum zugänglichen Geschäftsräumen […] nicht rathsam“ erscheine.339 Infolgedessen muss unter Einbezug grammatischer, historischer und systematischer Aspekte auf den gesetzgeberischen Normzweck geschlossen werden. Der Wortlaut spricht naturgemäß gegen eine Einkaufsermächtigung. Dass die vom Gesetzgeber getroffene Entscheidung für das Begriffspaar „Verkäufe und Empfangnahmen“ eine bewusste war, legt weiter der Umstand nahe, dass der Text zugleich von einem „Laden oder […] einem offenen Warenlager“ spricht. Während Kaufgegenstände in Läden gelagert werden, um sie zu veräußern, werden sie in Lagern allenfalls entgegengenommen, um sie zu verwahren. In beiden Fällen geht es aber typischerweise nicht um Ankaufssituationen. Historisch wird dies gestützt durch einen Vergleich mit der Vorgängervorschrift des Art. 50 ADHGB, die von „Laden oder […] einem offenen Magazin oder Waarenlager [sic!]“ sprach und somit noch deutlicher kenntlich machte, dass die Norm keine Ankaufsorte im Blick hatte. Dass der Gesetzgeber das Merkmalpaar „Verkäufe und Empfangnahmen“ aus Art. 50 ADHGB inhaltlich unverändert in § 56 HGB übernommen hat,340 ist ein Indiz, dass sich der Inhalt der Norm nicht ändern sollte. In diese Richtung deutet ferner, dass sogar schon die Vorgängerbestimmung von Art. 50 ADHGB nur Verkäufe zum Gegenstand hatte, weshalb in den Protokollen zu dieser Regelung vor allem über die verschiedenen „Verkaufslokalitäten“ diskutiert wurde.341 Gegen den Einschluss eines Kaufvertrags mit dem Angestellten als Käufervertreter in § 56 HGB sprechen aber nicht nur grammatische und historische, sondern auch systematische Erwägungen. Denn wie die Vorschriften der § 376 Abs. 3, Abs. 4 S. 2 HGB und § 383 Abs. 1 HGB verdeutlichen, spricht der HGB-Gesetzgeber stets explizit von Verkauf und Kauf,342 wenn er beide Modalitäten erfassen möchte. Außerdem scheint die Entscheidung für „Verkäufe und Empfangnahmen“ auch im konkreten Regelungszusammenhang schlüssig, weil die Vertretungsmacht ausgehend von der des Prokuristen in § 48 f. HGB über die des Handlungsbevollmächtigten in § 54 HGB bis hin zu der des Angestellten in § 56 HGB systematisch immer enger gezogen wird.

339  Hahn/Mugdan, Die gesammten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, 1897, S. 232. 340  Siehe zur entstehungsgeschichtlichen Analyse des § 56 HGB: BGH, Urt. v. 04. 05. 1988 – VIII ZR 196/87, NJW 1988, 2109. 341  Lutz, Protokolle der Kommission zur Berathung eines Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuchs, I. Theil, 1858, S. 97 ff. 342  Siehe zur systematischen Argumentation: BGH, Urt. v. 04. 05. 1988 – VIII ZR 196/87, NJW 1988, 2109.



D. Normtextunvereinbarkeit und Normzweckunvereinbarkeit 363

All dies belegt, dass nach dem legislativen Normzweck beabsichtigt ist, den Rechtsverkehr zu schützen, der auf eine Ermächtigung des Ladenangestellten vertrauen darf und die Bevollmächtigung angesichts des Bedürfnisses nach Schnelligkeit und Rechtssicherheit im Handelsverkehr nicht hinterfragen muss.343 Obwohl dies der herrschenden Auffassung entspricht, ist der Gedanke des Verkehrsschutzes für sich genommen aber nicht ausreichend, um den Ankauf durch Ladenangestellte aus dem Normzweck auszuschließen. Betritt der Kunde beispielsweise das Autohaus eines Vertragshändlers, in dem Neuwagen verkauft, aber auch Gebrauchtwagen dieser Marke angekauft werden,344 darf der Rechtsverkehr typischerweise darauf vertrauen, dass der zuständige Kundenbetreuer zu Verkäufen und Ankäufen ermächtigt ist. Anders als die herrschende Meinung annimmt, spricht die Typizität der Vertretungsmacht in derartigen Fällen nicht nur einseitig für die Verkaufsvoll­ macht,345 sondern streitet gleichermaßen für eine Bevollmächtigung zum Ankauf, wenn dieser zu den typischen Geschäftsvorgängen im Laden oder Warenlager gehört. Dass der Rechtsverkehr gleichwohl nur im Vertrauen auf eine typischerweise bestehende Verkaufsvollmacht geschützt wird, kann letztlich nur mit der unterschiedlichen Risikostruktur von Verkäufen und Einkäufen für den Inhaber des Handelsgeschäfts begründet werden.346 Während er im ersten Fall Verkaufsware und Verkaufspreis kontrollieren kann, liegt die Entscheidung im zweiten Fall ausschließlich beim Angestellten, welcher Kaufgegenstand zu welchem Kaufpreis erworben wird.347 Im Gegensatz hierzu ist Geld stets universal verwendbar. Weil ein kontrollierbarer eingehender Zahlungsstrom typischerweise eher im Interesse des Ladeninhabers ist als ein unkontrollierbarer ausgehender, ist es vor diesem Hintergrund 343  Zum Normzweck des § 56 HGB, der weitgehend übereinstimmend so gedeutet wird: Joost, in: Staub, HGB, 2008, § 56 HGB, Rn. 1; Krebs, in: MünchKomm-HGB, Band 1, 2016, § 56 HGB, Rn. 1; Roth, in: Koller/Kindler/Roth/Drüen, HGB, 2019, § 56 HGB, Rn. 1; Schubert, in: Oetker, HGB, 2019, § 56 HGB, Rn. 1; Weber, in: Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, Band 1, 2020, § 56 HGB, Rn. 1; Schmidt, Handelsrecht, 2014, § 16 Rn. 120. 344  Zu dieser Sachverhaltskonstellation: BGH, Urt. v. 04.  05. 1988 – VIII ZR 196/87, NJW 1988, 2109. 345  Statt aller: Krebs, in: MünchKomm-HGB, Band 1, 2016, § 56 HGB, Rn. 1: „Typizität der Vertretungsmacht“; Roth, in: Koller/Kindler/Roth/Drüen, HGB, 2019, § 56 HGB, Rn. 1: „Schutz des Geschäftsverkehrs, der erwartet, dass das in einem Laden bzw. offenen Warenlager beschäftigte Personal Vollmacht bzw. eine Ermächtigung zu gewöhnlichen Empfangnahmen u. Verkäufen hat“; Schubert, in: Oetker, HGB, 2019, § 56 HGB, Rn. 1: „typischerweise eine Vollmacht, Verkäufe und Empfangnahmen für den Inhaber des Handelsgeschäfts vorzunehmen.“ 346  Schubert, in: Oetker, HGB, 2019, § 56 HGB, Rn. 15, wonach mit „solchen Verträgen […] weitergehende Risiken verbunden [seien] als mit der bloßen Empfangnahme von Waren.“ 347  BGH, Urt. v. 04. 05. 1988 – VIII ZR 196/87, NJW 1988, 2109, 2110.

364

Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

auch sachlich gerechtfertigt, dass der Regelungszweck nur Verkäufe und Entgegennahmen einschließt. Da in dieser Hinsicht weder Wertungen des gleichrangigen Rechts noch die des Verfassungs- oder Unionsrechts eine andere Bewertung gebieten, ist der Abschluss des Kaufvertrags durch einen Ladenangestellten als Vertreter der Käuferseite nicht mit dem gebotenen Normzweck in Einklang zu bringen. c) Ergebnis Insgesamt ist der herrschenden Auffassung im Ergebnis, nicht aber in der Begründung zuzustimmen, dass der Ankauf nach Normtext und Normzweck nicht unter § 56 HGB gefasst werden kann. Eine den Kauf einschließende Rechtsfortbildung scheitert mithin an der Wertung der Einzelnorm.348

II. Wertung einer gleichrangigen Norm: Gefährdungshaftung für autonome Systeme 1. Problemaufriss Im Zuge der Digitalisierung spielen autonome Systeme im beruflichen und privaten Leben eine immer größere Rolle. Während fahrerlose Transport­ systeme innerhalb von Industrieanlagen bereits seit Jahren im Einsatz sind, erschließen sich auch außerhalb hochmoderner Produktionsstätten immer neue Anwendungsfelder für derartige Systeme. Vom autonomen Fahren über Pflegeroboter und automatisierten Personalentscheidern bis hin zu Chatbots in der Kundenberatung sind ihre Einsatzmöglichkeiten vielseitig349 und die künftige Entwicklung heute kaum zu prognostizieren. Entsprechend schwer fällt eine begriffliche Eingrenzung.350 Gleichwohl haben alle autonomen Systeme gemeinsam, dass ihre Handlungen weder vollkommen durch Voreinstellungen determiniert noch stets vorhersehbar sind.351 Weil sie in der 348  Im Ergebnis ebenso: BGH, Urt. v. 04. 05. 1988 – VIII ZR 196/87, NJW 1988, 2109, 2110; Joost, in: Staub, HGB, 2008, § 56 HGB, Rn. 33; Krebs, in: MünchKommHGB, Band 1, 2016, § 56 HGB, Rn. 28; Roth, in: Koller/Kindler/Roth/Drüen, HGB, 2019, § 56 HGB, Rn. 8; Schubert, in: Oetker, HGB, 2019, § 56 HGB, Rn. 15; Hopt, in: Baumbach/Hopt, HGB, 2020, § 56 HGB, Rn. 4; Meyer, in: BeckOK-HGB, 2020, § 56 HGB, Rn. 15; Weber, in: Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, Band 1, 2020, § 56 HGB, Rn. 11; Canaris, Handelsrecht, 2006, § 14 Rn. 8; Schmidt, Handelsrecht, 2014, § 16 Rn. 132. 349  Zu diesen und zu weiteren Beispielen: Borges, NJW 2018, 977, 979. 350  Hierzu jüngst: Zech, ZfPW 2019, 198, 199 ff. 351  Borges, NJW 2018, 977, 978; vertiefend zur Autonomie von Systemen: Reichwald/Pfisterer, CR 2016, 208, 210 f.; Zech, ZfPW 2019, 198, 199 ff.



D. Normtextunvereinbarkeit und Normzweckunvereinbarkeit 365

Folge nicht vollständig kontrollierbar sind, stellt sich die grundlegende Frage, wem die autonomiebedingten Risiken zuzurechnen sind und inwieweit die Rechtsordnung bereits ausreichend ist, um die mit dem Einsatz von autonomen Systemen verbundenen Rechtsfragen zu beantworten. Aus diesem Bündel an Problemstellungen ist hier das Haftungsrecht herauszugreifen, innerhalb dem geklärt werden muss, wer haftet, wenn ein autonomes System einen Schaden verursacht, ohne dass ein nachweisbares Verschulden einer Person mitgewirkt hat. Während manche Autoren davon ausgehen, das geltende Recht sei ausreichend, um diese Fragestellungen zu lösen,352 existieren auch Lösungsansätze im Schrifttum,353 die nur mithilfe der Legis­ lative verwirklicht werden können. Ein Vorschlag unter vielen ist die Einführung einer Gefährdungshaftung354 für den Einsatz autonomer Systeme. Obwohl es ebenfalls denkbar erscheint, den Hersteller durch eine gesetzgeberische Maßnahme in die Haftung zu nehmen, soll die Untersuchung in dieser Arbeit der Frage nachgehen, ob der Verwender autonomer Systeme unabhängig von Gesetzesänderungen bereits auf Grundlage der bestehenden Gesetze verschuldensunabhängig haftet. Ob eine derartige Haftung für autonome Systeme innerhalb des geltenden Rechts verwirklicht werden kann, hängt in der Folge davon ab, ob sie mit dem Normtext oder dem gebotenen Normzweck bestehender Gefährdungshaftungstatbestände in Einklang zu bringen ist. 2. Lösung a) Normtextanalyse In der Normtextanalyse sind zu diesem Zweck die Textausschnitte bestehender Anspruchsgrundlagen der verschuldensunabhängigen Haftung heranzuziehen. Da sie sprachlich aber allesamt auf spezielle Gefährdungen zugeschnitten sind, kann kein Tatbestand identifiziert werden, der sich semantisch für jede Art von autonomen System öffnen ließe. Verschuldensunabhängige Haftungstatbestände existieren im deutschen Recht in § 833 S. 1 BGB für Luxustiere, in § 7 Abs. 1 StVG für den „Betrieb eines Kraftfahrzeugs oder eines Anhängers“, in § 1 ProdHaftG für fehlerhafte Produkte, in § 1 ­UmweltHG für bestimmte Anlagen, von denen Umwelteinwirkungen ausge352  von

697 f.

Bodungen/Hoffmann, NZV 2016, 503, 508; Grützmacher, CR 2016, 695,

353  Zu den verschiedenen Lösungsansätzen im Überblick: Borges, NJW 2018, 977, 979 f. 354  Differenzierend, im Ergebnis aber allesamt für eine Gefährdungshaftung: Borges, CR 2016, 272, 279 f. (Kausalhaftung des Herstellers); Spindler, CR 2015, 766, 775; Schaub, JZ 2017, 342, 348.

366

Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

hen sowie in § 25 AtomG für einen Schaden, der „auf einem von einer Kernanlage ausgehenden nuklearen Ereignis“ beruht. Gefährdungshaftungstat­ bestände bestehen ferner in § 33 Abs. 1 LuftVG für den „Betrieb eines Luftfahrzeugs“, in § 1 Abs. 1 HPflG für den „Betrieb einer Schienenbahn oder einer Schwebebahn“ oder in § 2 HPflG für die „Wirkungen von Elek­ trizität, Gasen, Dämpfen oder Flüssigkeiten, die von einer Stromleitungsoder Rohrleitungsanlage oder einer Anlage zur Abgabe der bezeichneten Energien oder Stoffe ausgehen“. Damit bleibt zu konstatieren, dass eine generelle Gefährdungshaftung für autonome Systeme weder mit der Evidenzkontrolle noch mit der Referenz- oder Konvergenzkontrolle in einem Normtext der vorhandenen Haftungsregelungen abgebildet werden kann. b) Normzweckanalyse Möglich erscheint indes, dass eine verschuldensunabhängige Haftung für autonome Systeme nach den gebotenen Normzwecken der Gefährdungshaftungsvorschriften angezeigt ist. Wäre dies der Fall, könnte die Ausweitung der Gefährdungshaftung im Wege einer Gesamtanalogie umgesetzt werden, was jedoch voraussetzt, dass die Normzweckanalyse ein entsprechendes Ergebnis zutage fördert. Beginnt man auf erster Stufe mit den Wertungen der Einzelnormen, lässt sich die übereinstimmende Wertentscheidung erkennen, dass die Gefährdungshaftung als Ausgleich für ein erlaubtes Risiko angeordnet wird.355 Aufschlussreich ist hierzu die amtliche Begründung zum Gesetz zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften vom 16.08.1977, in der mit Blick auf sämtliche bestehenden Gefährdungshaftungstatbestände klargestellt wird, dass […] „für die verschärfte Haftung […] die Überlegung [maßgebend sei], dass bei den heutigen, durch die technische Entwicklung entscheidend beeinflussten Lebensverhältnissen bestimmte Tätigkeiten und Einrichtungen zwar unentbehrlich sind und daher zugelassen werden müssen, obgleich die davon ausgehende Gefährdung trotz Anwendung der erforderlichen Sorgfalt nicht gänzlich beherrscht und Schädigungen Dritter nicht immer vermieden werden können. Wer im Bewusstsein dieser Risiken eine solche Gefahrenquelle eröffnet, muss auch bereit sein, den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen, ohne dass es darauf ankommen darf, ob im Einzelfall ein Verschulden nachweisbar ist.“356 355  Zur Zweckrichtung der Gefährdungshaftung: Deutsch, VersR 1971, 1  ff.; Deutsch, JuS 1981, 317, 318 f.; Deutsch, NJW 1992, 73, 74 ff.; Medicus, Jura 1996, 561, 563 ff.; Larenz, VersR 1963, 593, 596 ff.; speziell für § 7 StVG: BGH, Urt. v. 17. 03. 1992 – VI ZR 62/91, BGHZ 117, 337, 340 f.; Burmann, in: Burmann/Heß/ Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 2020, § 7 StVG, Rn. 1. 356  BT-Drucks. 8/108, S. 6 [Hervorhebungen v. Verf.]; außerdem dazu: Piontek, in: Filthaut/Piontek/Kayser, Haftpflichtgesetz, 2019, Einleitung, Rn. 2.



D. Normtextunvereinbarkeit und Normzweckunvereinbarkeit 367

Vor dem Hintergrund dieser gesetzgeberischen Regelungsabsicht, die nach der amtlichen Begründung den Gefährdungshaftungstatbeständen generell zugrunde liegt, ist eine Vergleichbarkeit der geregelten Tatbestände mit der Situation der Schadensverursachung durch autonome Systeme gegeben. Ähnlich wie andere normierte Gefährdungen entspringen sie dem technischen Fortschritt und können nicht ohne Weiteres verboten werden, sondern stellen ein erlaubtes Risiko dar. Ferner können die von ihnen ausgehenden Risiken nicht durchgehend beherrscht werden, wodurch mit dem Einsatz autonomer Systeme immer auch die Gefahr einer unbewussten Schädigung Dritter einhergehen kann. Strukturell vergleichbar ist außerdem, dass der Verwender Vorteile aus einem gefahrbringenden, nicht kontrollierbaren System ziehen möchte, das seinerseits aber zumindest potenzielle Nachteile für Dritte bewirken kann. In dieser Beziehung erschiene es in Anbetracht der zitierten Gesetzesbegründung nur konsequent, den gebotenen Normzweck generell für autonome Systeme so zu verstehen, dass auch sie einer verschuldensunabhängigen Haftung unterliegen. Bevor dieser Schluss gezogen wird, muss jedoch auf zweiter Stufe geprüft werden, ob einer Gefährdungshaftung für autonome Systeme eine Wertung des gleichrangigen Rechts entgegensteht. Eine solche findet sich im Haftungssystem des einfachgesetzlichen Privatrechts. Aus der Gesamtschau der bestehenden Anspruchsgrundlagen kann nämlich abgeleitet werden, dass das zivilrechtliche Haftungsrecht die Verschuldenshaftung als Regelfall an­ nimmt,357 von dem der Gesetzgeber nur punktuell durch Haftungstatbestände für vermutetes Verschulden358 oder solche der verschuldensunabhängigen Haftung abweicht.359 Ähnlich wie beim Numerus clausus-Prinzip im Sachenund Erbrecht kann auch hier ein haftungsrechtliches Enumerationsprinzip360 identifiziert werden. Hält der Gesetzgeber die verschuldensunabhängige Haftung für autonome Systeme rechtspolitisch für nötig, muss er infolgedessen tätig werden und explizit einen Ausnahmetatbestand zum Grundsatz der Verschuldenshaftung formulieren. Insoweit steht der Ausweitung der Gefähr357  Siehe hierzu auch: BT-Drucks. 8/108, S. 6: „Die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen im bürgerlichen Recht beruht grundsätzlich auf dem Verschuldensprinzip, d. h. dem Geschädigten steht ein Ersatzanspruch nur zu, wenn ein schuldhaft rechtswidriges Verhalten des Schädigers gegeben ist. Daneben hat sich in einigen Bereichen die Gefährdungshaftung entwickelt, wonach der Schädiger unter bestimmten Voraussetzungen für den Schaden haftbar ist, ohne daß es auf ein Verschulden ankommt.“ [Hervorhebungen v. Verf.]. 358  Haftungstatbestände für vermutetes Verschulden finden sich beispielsweise in §§ 831, 832, 833 S. 2, 834, 836, 837, 838 BGB und § 18 Abs. 1 StVG. 359  Zum Regel-Ausnahme-Verhältnis von zivilrechtlicher Verschuldens- und Gefährdungshaftung: BGH, Urt. v. 25. 01. 1971 – III ZR 208/68, BGHZ 55, 229, 232 f.; Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 13 Rn. 30 f. 360  BGH, Urt. v. 25. 01. 1971 – III ZR 208/68, BGHZ 55, 229, 234.

368

Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

dungshaftung das gesetzgeberische Haftungssystem entgegen, das sich mithilfe der Wertungen des gleichrangigen Rechts nachweisen lässt. Weil in dieser Hinsicht weder Wertungen des Verfassungsrechts noch solche des Unionsrechts ersichtlich sind, die ein anderes Ergebnis gebieten könnten, ist die Erstreckung der verschuldensunabhängigen Haftung auf autonome Systeme im Allgemeinen nicht mit dem gebotenen Normzweck der bestehenden Haftungstatbestände vereinbar. c) Ergebnis Eine allgemeine Gefährdungshaftung361 für autonome Systeme kann daher weder mit dem Normtext noch mit dem gebotenen Normzweck der vorhandenen Gefährdungshaftungstatbestände in Einklang gebracht werden. In der Folge ist der Gesetzgeber berufen, zu entscheiden, ob er für die Schadensverursachung durch autonome Systeme in Abweichung vom Prinzip der Verschuldenshaftung eine verschuldensunabhängige Haftung anordnen möchte. Eine Rechtsfortbildung, die dies zum Ziel hätte, würde die Grenzen überschreiten, die sich hier aus Wertungen des gleichrangigen Rechts ergeben.

III. Wertung einer verfassungsrechtlichen Norm: Regressvorbereitender Auskunftsanspruch des Scheinvaters 1. Problemaufriss Methodisch wie materiellrechtlich brisant ist ferner die Problemstellung, inwieweit sich aus einer Generalklausel wie § 242 BGB Auskunftsansprüche ergeben können, die auf die Preisgabe persönlicher oder sogar intimer Informationen gerichtet sind. Hierüber hatte der Erste Senat des BVerfG in seinem Beschluss vom 24.02.2015 zu entscheiden, dem eine Verfassungsbeschwerde gegen eine zivilgerichtliche Entscheidung zugrunde lag, in der die Beschwerdeführerin verurteilt wurde, zur Durchsetzung eines unterhaltsrechtlichen Regressanspruchs des Scheinvaters die Historie ihrer sexuellen Kontakte offenzulegen. Im Fall362 ging es um eine Mutter, die bereits zuvor ein wenige Monate altes Kind von einem anderen Mann hatte, ehe sie, während sie sich in einer Beziehung mit dem Scheinvater befand, erneut schwanger wurde. 361  Vertiefend mit rechtspolitischen Überlegungen zu einer allgemeinen Gefährdungshaftung: Kötz, AcP 170 (1970), 1, 14 ff. 362  Zum Sachverhalt im Einzelnen: BVerfG, Beschl. v. 24.  02. 2015 – 1 BvR 472/14 – Mutmaßlicher Vater, BVerfGE 138, 377, 379 ff.; zur Rechtsprechungsentwicklung zum Auskunftsanspruch gegen die Mutter: Forschner, FuR 2015, 451 ff.



D. Normtextunvereinbarkeit und Normzweckunvereinbarkeit 369

Aufgrund der zweiten Schwangerschaft heirateten Mutter und Scheinvater, wodurch Letzterer gem. § 1592 Nr. 1 BGB rechtlicher Vater wurde. Obwohl die Mutter nie ausdrücklich behauptete, dass der Scheinvater der biologische Vater sei, verschwieg sie ihm, dass auch ein anderer Mann hierfür infrage kam. Als die Mutter den Scheinvater zu einem späteren Zeitpunkt auf diese Möglichkeit hinwies, wurde die Ehe in der Folge geschieden. Nach erfolgreicher Vaterschaftsanfechtung forderte der Scheinvater die Mutter auf, die Identität des mutmaßlichen biologischen Vaters preiszugeben, um gegen ihn gem. § 1607 Abs. 3 BGB den Regressanspruch wegen des bislang gezahlten Unterhalts geltend machen zu können. Da sich die Mutter weigerte, wurde sie auf Grundlage von § 242 BGB zur Auskunft über die Identität des mutmaßlich leiblichen Vaters verurteilt. Dagegen wehrte sich die Mutter mit ihrer Verfassungsbeschwerde mit Erfolg.363 Während das BVerfG die Fragestellung aus Sicht der Verfassungsbeschwerde der Mutter nachzuprüfen hatte, soll die Zulässigkeit der Entscheidungsfindung an dieser Stelle aus dem Blickwinkel der Zivilgerichte nachvollzogen werden. Insoweit ist ausgehend vom Grenzsystem dieser Arbeit zu untersuchen, ob ein Auskunftsanspruch des klagenden Scheinvaters gegen die beklagte Mutter im Wege der Auslegung oder Fortbildung hergeleitet werden kann. Weil für einen solchen regressvorbereitenden Auskunftsanspruch zwischen der Mutter und dem nicht biologischen Vater keine explizite Grundlage im Gesetz existiert, ist zu prüfen, ob nach dem Normtext oder dem gebotenen Normzweck des § 242 BGB ein Auskunftsanspruch durch Auslegung oder Rechtsfortbildung entwickelt werden kann.364 2. Lösung a) Normtextanalyse In der Normtextanalyse ist hierfür zunächst zu untersuchen, ob ein regressvorbereitender Auskunftsanspruch mit der Formulierung des § 242 BGB vereinbar ist. Hiernach ist der „Schuldner […] verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Ver363  BVerfG, Beschl. v. 24.  02.  2015 – 1 BvR 472/14 – Mutmaßlicher Vater, BVerfGE 138, 377. 364  Wie im weiteren Verlauf im Einzelnen zu zeigen sein wird, ist dies im Einklang mit BVerfG, Beschl. v. 24. 02. 2015 – 1 BvR 472/14 – Mutmaßlicher Vater, BVerfGE 138, 377, 387 abzulehnen. Der Gesetzgeber könnte und müsste tätig werden, um einen solchen Auskunftsanspruch zu normieren; demgegenüber wohl für einen Auskunftsanspruch nach geltendem Recht: Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 11 Rn. 89 f.

370

Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

kehrssitte es erfordern.“365 In dieser Hinsicht wurde bereits erwähnt, dass der Wortlaut des § 242 BGB nur die Art und Weise der Leistungserbringung regelt, nicht aber die Entstehung einer neuen, davon unabhängigen Leistungspflicht umfasst.366 Schuldner einer Leistung ist aber nur, wer bereits durch ein Schuldverhältnis im engeren Sinne gebunden ist,367 aus dem eine Leistungsverbindlichkeit erwächst, deren Erfüllung Treu und Glauben entsprechen muss. Es fehlt damit bereits an einer bestehenden Leistungsbeziehung, nach der die Mutter nach Scheidung und Vaterschaftsanfechtung als „Schuldner“ dem Scheinvater gegenüber etwas zu erbringen hat, zu dessen Erfüllung es nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte erforderlich wäre, Auskunft über sexuelle Kontakte mit anderen Männern zu geben. Stattdessen ist die Verpflichtung zur Auskunft selbst Inhalt des insoweit erst noch zu begründenden Schuldverhältnisses zwischen beiden Beteiligten. Die Auskunftspflicht kann außerdem nicht als „Hilfspflicht“ zu einem möglicherweise bestehenden Unterhalts- oder Regressanspruch verstanden werden, da sich dieser nicht gegen die Mutter, sondern gegen einen Dritten richtet. Vor diesem Hintergrund ist es sprachlich weder mit der Evidenz- noch mit der Referenz- oder Konvergenzkontrolle realisierbar, einen Auskunftsanspruch gegen die Mutter im Normtext des § 242 BGB abzubilden. b) Normzweckanalyse Ist eine Auskunftspflicht der Mutter über den Kreis potenzieller biologischer Väter damit nicht mit dem Normtext vereinbar, müsste sie aber im Wege der Rechtsfortbildung entwickelt werden, wenn der gebotene Normzweck des § 242 BGB dies erfordern würde. Analysiert man hierzu die Wertung der Einzelnorm, zeigt sich, dass der Normtext den Normzweck korrekt wiedergibt, da eine Akzessorietät zu einer bestehenden Leistungspflicht gewollt war. So wurde bereits in den Motiven zum ersten Entwurf erwähnt, dass eine „ausdrückliche Hinweisung darauf, daß die Verpflichtung ihrem ganzen Umfange nach, insbes[ondere] auch in 365  Hervorhebungen

v. Verf. ging der BGB-Gesetzgeber sogar ausdrücklich aus: Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 522 (= Protokolle, S. 1251): „[…] wenn man den Worten nicht Zwang anthun wolle, nur von der Art der Erfüllung verstanden werden könne“ [Hervorhebung v. Verf.]; dazu sogleich. 367  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 522 (= Protokolle, S. 1251); Schubert, in: MünchKomm-BGB, Band 2, 2019, § 242 BGB, Rn. 2. 366  Davon



D. Normtextunvereinbarkeit und Normzweckunvereinbarkeit 371

Ansehung aller Nebenpunkte, zu erfüllen sei, nicht unnöthig“368 sei und wer „zu einer Leistung verpflichtet ist, […] auch dasjenige aufzuwenden [habe], was erforderlich […] [sei], um die Leistungen zu bewirken“.369 In den Protokollen wurde dies sogar fortgeführt, indem die […] „Mehrheit […] der Meinung [war], daß die […] vorgeschlagene Bestimmung, wenn man den Worten nicht Zwang anthun wolle, nur von der Art der Erfüllung verstanden werden könne. Es sei auch sachlich zu billigen, daß die […] Vorschrift […] auf die Art der Erfüllung beschränkt […] [sei]; denn nur bezüglich dieser Frage passe die Bezugnahme auf Treu und Glauben und auf die Verkehrssitte allgemein, während sie hinsichtlich der Frage, ob eine Verpflichtung entstanden sei, und welche, nur bei vertragsmäßigen Schuldverhältnissen zutreffe.“370

Hieran ändert sich nichts, wenn man mit der Rechtsprechung annimmt, dass die Art und Weise der Leistungserbringung nach Treu und Glauben auch eine Auskunftspflicht erfordern kann, „wenn die zwischen den Parteien bestehenden Rechtsbeziehungen es mit sich bringen, dass der Anspruchsberechtigte in entschuldbarer Weise über das Bestehen oder den Umfang seines Rechts im Ungewissen ist, und der Verpflichtete in der Lage ist, unschwer die zur Beseitigung dieser Ungewissheit erforderlichen Auskünfte zu erteilen.“371 Obwohl es hiernach denkbar ist, dass der Anspruchsberechtigte vom Anspruchsverpflichteten Auskünfte über Bestehen und Umfang des Rechts zwischen ihnen372 verlangen kann, steht hier nicht eine Ungewissheit über das (bestehende) Recht zwischen Scheinvater und Mutter infrage; vielmehr sind allein die Beziehungen zwischen Scheinvater und biologischem 368  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 14 (= Motive, S. 26) [Hervorhebung v. Verf.]. 369  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 14 f. (= Motive, S. 26 f.). 370  Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, II. Band, 1899, S. 522 (= Protokolle, S. 1251). 371  Mit dieser oder inhaltlich identischer Formulierung in st. Rspr. z. B. RG, Urt. v. 04. 05. 1923 – II 310/22, RGZ 108, 1, 7; RG, Urt. v. 18. 11. 1938 – II 69/38, RGZ 158, 380, 379; BGH, Urt. v. 28. 10. 1953 – II ZR 149/52, BGHZ 10, 385, 387; BGH, Urt. v. 04. 06. 1981 – III ZR 31/80, BGHZ 81, 21, 24; BGH, Urt. v. 13. 06. 1985 – I ZR 35/83, BGHZ 95, 285, 287 f.; BGH, Urt. v. 17. 05. 2001 – I ZR 291/98, BGHZ 148, 26, 30; BGH, Urt. v. 05. 11. 2002 – XI ZR 381/01, BGHZ 152, 307, 316; BGH, Urt. v. 06. 02. 2007 – X ZR 117/04, NJW 2007, 1806; BGH, Urt. v. 09. 11. 2011 – XII ZR 136/09, BGHZ 191, 259, 262. 372  Hierzu schon: Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Band I, 1987, S. 139 f., der im Zusammenhang mit dem Rechtsprechungszitat insoweit völlig zu Recht darauf hinweist, dass „eine Auskunftspflicht nach § 242 [BGB bestehe], wenn nur seine Leistungspflicht dem Grund nach feststeht, der Gläubiger aber zur Feststellung der Höhe auf Auskünfte des Schuldners angewiesen ist“; anders aber offenbar: BGH, Urt. v. 17. 05. 2001 – I ZR 291/98, BGHZ 148, 26, 30; BGH, Urt. v. 09. 11. 2011 – XII ZR 136/09, BGHZ 191, 259, 262, wobei der BGH hiermit sogar von seinen eigenen aus § 242 BGB entwickelten Grundsätzen abweicht.

372

Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

Vater Gegenstand einer juristischen Klärung. Ferner geht es nicht um das Bestehen und den Umfang des Anspruchs, sondern um die Identität des Anspruchsgegners. Der deutsche Zivilprozess kennt anders als beispielsweise das US-amerikanische Recht keine pre trial discovery, sondern folgt in seiner Systementscheidung dem Beibringungsgrundsatz.373 Zudem existiert mate­ riellrechtlich gerade keine allgemeine Auskunftspflicht; vielmehr sind Auskunftsansprüche im BGB nur ausnahmsweise vorgesehen.374 Daher müssen Durchbrechungen dieses Grundsatzes aber die Ausnahme bleiben, weshalb ein restriktives Verständnis gefordert ist. Infolgedessen ist die Wertung der Einzelnorm nicht ausreichend, um einen Auskunftsanspruch des Scheinvaters zu begründen. Wertungen des gleichrangigen Rechts gebieten insoweit kein anderes Ergebnis. Neben dem bereits angesprochenen Aspekt, dass Auskunftsansprüche im BGB im Allgemeinen nur punktuell normiert sind, veranschaulicht der in § 1605 BGB enthaltene Auskunftsanspruch im Besonderen, dass die Legis­ lative die Notwendigkeit von Informationspflichten zur Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen gesehen, diese aber bewusst nur für Verwandte in gerader Linie geregelt hat. Dass der Gesetzgeber im unmittelbaren Regelungszusammenhang mit § 1607 Abs. 3 BGB bei einer anderen Anspruchskonstellation einen Auskunftsanspruch in das Gesetz aufgenommen hat, lässt wohl nur den Schluss zu, dass für den Unterhaltsregress ein solcher nicht beabsichtigt war. Es erscheint nicht vorstellbar, dass er im Rahmen der Unterhaltsregressregelung des § 1607 Abs. 3 BGB übersehen hat, dass der Anspruch mit der Kenntnis des leiblichen Vaters über den Scheinvater steht und fällt und oftmals nur die Mutter über dessen Identität aufklären kann.375 Insoweit sprechen auch die Wertungen des gleichrangigen Rechts gegen einen Auskunftsanspruch des Scheinvaters. Eine andere Bewertung könnte damit allenfalls gerechtfertigt sein, wenn die Wertungen des Verfassungsrechts einen derartigen Auskunftsanspruch gebieten würden. Als Anknüpfungspunkt kommen hierfür die Grundrechte der Prozessparteien in Betracht. Obwohl ein Anspruch des Scheinvaters nur dann bejaht werden könnte, wenn ohne die Rechtsfortbildung das Mindestmaß an Schutz unterschritten wird, das von Verfassungs wegen geboten ist, muss hier zugleich berücksichtigt werden, dass die Fortbildung des § 242 BGB eine Verurteilung der Mutter nach sich zöge. Dementsprechend handelt es sich um eine Eingriffskonstellation, in der das grundrechtliche Untermaß373  Insoweit zum Systemvergleich zwischen dem deutschen und US-amerikanischen Zivilprozess: Haeffs, Der Auskunftsanspruch im Zivilrecht, 2010, S. 44 ff. 374  Eingehend dazu: Haeffs, Der Auskunftsanspruch im Zivilrecht, 2010, S. 49 ff. 375  BVerfG, Beschl. v. 24.  02.  2015 – 1 BvR 472/14 – Mutmaßlicher Vater, BVerfGE 138, 377, 395.



D. Normtextunvereinbarkeit und Normzweckunvereinbarkeit 373

verbot zugunsten des Scheinvaters dogmatisch dazu eingesetzt werden kann, um den Eingriff in die Grundrechte der Mutter zu rechtfertigen. In dieser Hinsicht ist zunächst festzustellen, dass die sexuellen Aktivitäten der Mutter und das Interesse, diese nicht offenlegen zu müssen, in den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gem. Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG fallen.376 Eine zivilgerichtliche Entscheidung, welche die Mutter zur Preisgabe dieser intimen Details verpflichtet, stellt einen Eingriff in den Schutzbereich dar. Zu seiner Rechtfertigung bedürfte es einer gesetzlichen Grundlage.377 Weil hierfür bislang keine isoliert ausreichende Wertung im einfachgesetzlichen Recht identifiziert werden konnte, wäre in der Folge nur dann an eine Rechtfertigung zu denken, wenn eine grundrechtliche Schutzpflicht festzustellen ist und ohne die Rechtsfortbildung das verfassungsrechtlich garantierte Schutzminimum des Scheinvaters unterschritten wäre. In Betracht kommt hierfür eine solche aus Art. 14 Abs. 1 GG, der auch privatrechtliche Unterhaltsansprüche erfasst.378 Ist damit das Grundrecht des Scheinvaters tatbestandlich berührt, müsste zusätzlich eine Beeinträchtigung von privater Seite drohen,379 um eine Schutzpflicht möglich erscheinen zu lassen. In Konstellationen wie der besprochenen steht zu befürchten, dass ohne die Auskunft der Mutter die Identität des Anspruchsgegners auf Dauer nicht ermittelt werden kann und der Unterhaltsregress gem. § 1607 Abs. 3 BGB deshalb nicht mehr als eine theoretische Idee ist. Infolgedessen käme 376  BVerfG, Beschl. v. 24.  02.  2015 – 1 BvR 472/14 – Mutmaßlicher Vater, BVerfGE 138, 377, 387; eingehend zum Persönlichkeitsschutz vor Beeinträchtigungen Dritter: Horn, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band VII, 2009, § 149 Rn. 24 ff.; Enders, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Band IV, 2011, § 89 Rn. 14 ff. 377  BVerfG, Beschl. v. 09. 03. 1988 – 1 BvL 49/86, BVerfGE 78, 77, 85; Hufen, Staatsrecht II, 2020, § 11 Rn. 23. 378  Zum Einschluss relativer Ansprüche in den verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff: BVerfG, Beschl. v. 18. 01. 2006 – 2 BvR 2194/99 – Halbteilungsgrundsatz, BVerfGE 115, 97, 111; BVerfG, Beschl. v. 07. 12. 2004 – 1 BvR 1804/03 – Stiftung „Erinnerung“, BVerfGE 112, 93, 107; BGH, Urt. v. 22. 03. 2010 – II ZR 12/08, BGHZ 185, 44, 52; Axer, in: BeckOK-GG, 2020, Art. 14 GG, Rn. 48; Kloepfer, Verfassungsrecht II, 2010, § 72 Rn. 20. 379  Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 201; ähnlich: Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 126; Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, 1996, S. 75 ff.; weitgehend ebenso: Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 75, der auf S. 72 und 74 allerdings deutlich macht, dass er die Gefährdung lediglich als Indikator für das Schutzbedürfnis heranzieht; Murswiek, WiVerw 1986, 179, 186; implizit auch: Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 74 ff. und 87 ff., der im Tatbestand der Schutzpflichten ebenfalls zwischen grundrechtlichen Schutzgütern und Gefahrenquelle unterscheidet.

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Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

es mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu der Schmälerung einer Position, die vom Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG umfasst wird. Gleichwohl ist zu beachten, dass dem Staat grundsätzlich ein weiter Einschätzungsspielraum380 zusteht, der sich nur dann auf null reduziert, wenn der grundrechtlich gebotene Mindestschutz unterschritten ist.381 Ob dies der Fall ist, hängt wie gezeigt „von der Art, der Nähe und dem Ausmaß möglicher Gefahren, der Art und dem Rang des verfassungsrechtlich geschützten Rechtsguts sowie von den schon vorhandenen Regelungen ab.“382 Einzustellen ist, dass der fehlende Auskunftsanspruch die Durchsetzung des Unterhaltsanspruchs zwar unbestreitbar erschwert, aber nicht gänzlich unmöglich macht.383 Von Bedeutung ist zudem, dass mit dem Regressinteresse eine rein vermögensrechtliche Position gefährdet ist, die nach ihrer Art und ihrem Rang für sich genommen nicht unmittelbar eine Reduktion des legislativen Handlungsspielraums auf null erfordert. Gegen die Annahme einer derartigen Schutzpflicht spricht ferner, dass das verfassungsrechtlich gebotene Schutzminimum nicht nur dadurch unterschritten sein kann, dass einem Anspruch tatsächliche oder rechtliche Durchsetzungshindernisse entgegenstehen. Wollte man dies anders sehen, müsste man konsequenterweise auch die Durchsetzungshindernisse wie § 888 Abs. 3 ZPO oder die Verjährungsregelungen anzweifeln. In der Folge verbleibt dem Gesetzgeber für den Ausgleich zwischen dem Geheimhaltungsinteresse der Mutter und dem finanziellen Regressinteresse des Scheinvaters ein Einschätzungsspielraum; eine Schutzpflicht zugunsten des Scheinvaters kann nicht begründet werden.384 Inwieweit das Ergebnis rechtspolitisch zu begrüßen ist, mag unterschiedlich zu beurteilen sein;385 derartige Überlegungen dürfen an dieser Stelle indes keine Rolle spielen. Da das Kind von der Mutter Auskunft über die 380  Zum weiten Gestaltungsspielraum in st. Rspr: z.  B. BVerfG, Beschl. v. 07. 02. 1990 – 1 BvR 26/84 – Handelsvertreter, BVerfGE 81 242, 255; BVerfG, Urt. v. 28. 05. 1993 – 2 BvF 2/90 und 4, 5/92 – Schwangerschaftsabbruch II, BVerfGE 88, 203, 262; BVerfG, Urt. v. 10. 01. 1995 – 1 BvR 1/90, 1 BvR 342, 348/90 – Zweitregister, BVerfGE 92, 26, 46; BVerfG, Beschl. v. 06. 05. 1997 – 1 BvR 409/90 – Vaterschaftsauskunft, BVerfGE 96, 56, 64; dazu außerdem: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 208; Epping, Grundrechte, 2019, Rn. 351. 381  Eingehend zum Untermaßverbot: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 208 ff. 382  BVerfG, Beschl. v. 08. 08. 1978 – 2 BvL 8/77 – Kalkar I, BVerfGE 49, 89, 142. 383  Insoweit kritisch: Muckel, JA 2015, 951, 954; Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 11 Rn. 89. 384  BVerfG, Beschl. v. 24.  02.  2015 – 1 BvR 472/14 – Mutmaßlicher Vater, BVerfGE 138, 377, 394. 385  Für einen Auskunftsanspruch mit rechtspolitisch gewichtigen Argumenten: Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 11 Rn. 89 f.



D. Normtextunvereinbarkeit und Normzweckunvereinbarkeit 375

Identität des leiblichen Vaters verlangen kann, ist die teilweise geäußerte Sorge zwar nicht unbegründet, dass der Scheinvater Druck auf das Kind ausüben könnte, um die Identität des biologischen Vaters zu erfahren.386 Ferner erscheint die Mutter nicht zwingend schützenswert, auch wenn sie dem Scheinvater in diesem Fall nicht ausdrücklich falsche Tatsachen vorgespiegelt hat. Bloße rechtspolitische Kritikwürdigkeit kann aber für sich genommen niemals ausreichen, eine Rechtsfortbildung zu rechtfertigen; stattdessen müsste der Gesetzgeber aktiv werden, der von Verfassungs wegen nicht gehindert wäre, die Unterhaltsregressregelung des § 1607 Abs. 3 BGB mit einem Auskunftsanspruch zu unterstützen.387 Ein judizieller Eingriff in Form der Rechtsfortbildung wäre jedoch nur zu rechtfertigen, wenn er zur Erfüllung einer grundrechtlichen Schutzpflicht zugunsten des Scheinvaters unverzichtbar wäre. Das Geheimhaltungsinteresse der Mutter überwiegt hier folglich nicht deshalb, weil es generell höherrangig wäre.388 Würde der Gesetzgeber in Zukunft eine gesetzliche Grundlage schaffen, könnte der Eingriff vielmehr gerechtfertigt werden; das Geheimhaltungsinteresse wäre dann keineswegs generell höherwertig, sondern müsste zurücktreten.389 Da der Gesetzgeber indes bislang keinen Auskunftsanspruch normiert hat, würde die Verurteilung der Mutter im vorliegenden Fall einen nicht zu recht386  Hierzu: Neuner, JZ 2016, 435, 438; Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 11 Rn. 89; zur Billigung des Anspruchs des Kindes gegen die Mutter: BVerfG, Beschl. v. 06. 05. 1997 – 1 BvR 409/90 – Vaterschaftsauskunft, BVerfGE 96, 56, 62. 387  BVerfG, Beschl. v. 24.  02.  2015 – 1 BvR 472/14 – Mutmaßlicher Vater, BVerfGE 138, 377, 387. 388  So aber: Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 11 Rn. 88, der dies aus folgender Feststellung in BVerfG, Beschl. v. 24. 02. 2015 – 1 BvR 472/14 – Mutmaßlicher Vater, BVerfGE 138, 377, 394 schließt: „Dass der Gesetzgeber hier durch die Nichtregelung einer den Regressanspruch flankierenden Auskunftsverpflichtung grundrechtliche Mindeststandards zulasten des Scheinvaters unterschritten hätte, ist jedoch – zumal angesichts des hohen verfassungsrechtlichen Stellenwerts des betroffenen Geheimhaltungsinteresses der Mutter – nicht ersichtlich.“ 389  Daher ist Möllers, Juristische Methodenlehre, 2020, § 11 Rn. 88 in seiner Einschätzung zu widersprechen, da der Erste Senat noch im gleichen Absatz in BVerfG, Beschl. v. 24. 02. 2015 – 1 BvR 472/14 – Mutmaßlicher Vater, BVerfGE 138, 377, 394 explizit darauf hinweist, dass es im Ausgestaltungsspielraum des Gesetzgebers liegt, wie „das Interesse der Mutter an der Geheimhaltung intimer Daten ihres Geschlechtslebens einerseits und das finanzielle Regressinteresse des Scheinvaters andererseits zum Ausgleich gebracht werden“. Dass der Privatgesetzgeber einen Auskunftsanspruch schaffen und dadurch das Geheimhaltungsinteresse der Mutter nicht generell höher gewichten muss, stellt BVerfG, Beschl. v. 24. 02. 2015 – 1 BvR 472/14 – Mutmaßlicher Vater, BVerfGE 138, 377, 396 unmissverständlich klar: „Der Gesetzgeber wäre nicht daran gehindert, eine Regelung zum Schutz des Scheinvaters einzuführen, obwohl er hierzu nicht durch das Eingreifen grundrechtlicher Schutzpflichten angehalten ist. Er könnte einen stärkeren Schutz vorsehen, als ihn die Gerichte durch die Anwendung der bestehenden Generalklauseln gewähren können“.

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Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

fertigenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG bedeuten, wenn sie im Wege der Rechtsfortbildung verpflichtet werden würde, ihre sexuellen Kontakte offenzulegen. Ein derartiger Eingriff ist in diesem Fall verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen, weil es hierfür an einer gesetzlichen Grundlage fehlt und auch keine Schutzpflicht zugunsten des Scheinvaters begründet werden konnte, die den durch die Rechtsfortbildung bewirkten Grundrechtseingriff hätte rechtfertigen können; die Fortbildung würde aus diesem Grund eine Grenze überschreiten, die sich aus den Wertungen des Verfassungsrechts ergibt. Da auch über die Wertungen des Unionsrechts kein abweichendes Ergebnis erreicht werden kann, ist ein gebotener Normzweck festzustellen, nach dem der Auskunftsanspruch des Scheinvaters nicht eingeschlossen werden kann. c) Ergebnis Insgesamt ist ein Anspruch des Scheinvaters gegen die Mutter auf Auskunft über ihre sexuellen Beziehungen damit weder mit dem Normtext noch mit dem gebotenen Normzweck des § 242 BGB in Einklang zu bringen. Ein Auskunftsanspruch des Scheinvaters kann in der Folge nicht im Wege der Rechtsfortbildung realisiert werden, da er nach geltender Rechtslage e­inen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Mutter bedeuten würde.

IV. Wertung einer unionsrechtlichen Norm: Beweislastumkehr für Vermittler verbundener Reiseleistungen 1. Problemaufriss Besonders aktuell ist zuletzt eine jüngst erstmals aufgeworfene Fragestellung, die im neuen Reiserecht der §§ 651a ff. BGB wurzelt, das seinerseits in Umsetzung der (neuen)390 Pauschalreiserichtlinie391 durch das Dritte Ge390  Zur „alten“ Pauschalreiserichtlinie: Richtlinie 90/314/EWG des v. 13. 06. 1990 über Pauschalreisen Rates („alte Pauschalreiserichtlinie“), ABl. EWG v. 23. 06. 1990, L 158, S. 59 ff. 391  Richtlinie (EU) 20.  5.  2302 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, zur Änderung der VO (EG) Nr. 20. 6. 2004 und der RL 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der RL 90/314/EWG des Rates („Pauschalreiserichtlinie“), ABl. EU v. 11. 12. 2015, L 326, S. 1 ff.; allgemein dazu: Kressel, RRa 2015, 176; Richter, RRa 2015, 214; Scheuer, RRa 2015, 277; Staudin-



D. Normtextunvereinbarkeit und Normzweckunvereinbarkeit 377

setz zur Änderung reiserechtlicher Vorschriften mit Wirkung zum 01.07.2018 eine neue Struktur erhalten hat.392 Anders als die verkürzte Bezeichnung nahelegt, gilt die Richtlinie nicht nur für (1) Pauschalreiseveranstalter und (2) Reisevermittler, die Pauschalreisen vermitteln, sondern auch für (3) Vermittler verbundener Reiseleistungen, die ihrerseits Reiseleistungen vermitteln, die keine Pauschalreisen darstellen. Zur Umsetzung dieser Richtlinienvorgaben enthält nun auch das BGB Bestimmungen für alle drei Kategorien von Marktteilnehmern, was schon in der amtlichen Überschrift „Untertitel 4. Pauschalreisevertrag, Reisevermittlung und Vermittlung verbundener Reiseleistungen“ zum Ausdruck kommt. Mit Blick auf ihre Informationspflichten fällt bei näherer Betrachtung auf, dass der Reiseveranstalter nach § 651d Abs. 4 BGB und der Reisevermittler gem. § 651v Abs. 1 BGB für die Erfüllung ihrer Informationspflichten die Beweislast tragen, während der inhaltlich korrespondierende § 651w Abs. 2 BGB für Vermittler verbundener Reiseleistungen eine solche Beweislastumkehr nicht kennt. Da der Reisende grundsätzlich den Nachweis für alle (beweisbedürftigen) Tatsachen erbringen muss, die eine Anwendung ihm günstiger Rechtsnormen rechtfertigen,393 wird er bei der Geltendmachung von Ansprüchen wegen Verstößen gegen die Informationspflicht gegenüber dem Reisevermittler durch § 651v Abs. 1 S. 3 BGB privilegiert, während er im Verhältnis zu einem Vermittler verbundener Reiseleistungen nach wie vor selbst voll beweisbelastet ist. Vereinzelt wird für die abweichende Beweislastverteilung für Reisevermittler und Vermittler verbundener Reiseleistungen kein Sachgrund gesehen und in der Folge gefordert, die Beweislastumkehr des § 651v BGB auf den Vermittler verbundener Reiseleistungen in § 651w BGB zu übertragen.394 Um zu überprüfen, ob dieser Ansicht durch Auslegung oder Rechtsfortbildung zum Durchbruch verholfen werden kann, ist zu untersuchen, ob die Beweislastumkehr für den Reisevermittler in § 651v Abs. 1 S. 3 BGB nach dem Normtext und seinem gebotenen Normzweck auch auf den Vermittler verbundener Reiseleistungen angewendet werden kann.

ger, RRa 2015, 281; Bergmann, VuR 2016, 43; Tonner, EuZW 2016, 95; Staudinger, DAR 2017, 127; Tonner, RRa 2017, 5; Tonner, MDR 2018, 305. 392  Zum Umsetzungsgesetz: Drittes Gesetz zur Änderung reiserechtlicher Vorschriften vom 17. Juli 2017, BGBl. I v. 21. 07. 2017, S. 2394. 393  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 2018, § 116 Rn. 7. 394  Staudinger/Schröder, NJW 2019, 893; a. A. Meier, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 651w BGB, Rn. 30.

378

Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

2. Lösung a) Normtextanalyse Dazu ist der Normtext des § 651v Abs. 1 S. 3 BGB zu untersuchen, um zu ermitteln, ob er sprachlich so verstanden werden kann, dass er neben dem Reisevermittler auch den Vermittler verbundener Reiseleistungen einschließt. Auf der Stufe der Evidenzkontrolle ist dies nicht von vornherein ausgeschlossen, weil ein Vermittler verbundener Reiseleistungen rein semantisch durchaus als „Reisevermittler“ bezeichnet werden kann. Auf der Stufe der Referenzkontrolle ist dies jedoch problematisch, da dort zur terminologischen Präzisierung auch gesetzliche Begriffsbestimmungen heranzuziehen sind. Reisevermittler sind nach der Legaldefinition des § 651v Abs. 1 S. 1 BGB aber nur Unternehmer, die einem Reisenden einen Vertrag über eine Pauschalreise vermitteln. Währenddessen wird der Vermittler verbundener Reiseleistungen in § 651w Abs. 1 S. 1 BGB dadurch charakterisiert, dass er als Unternehmer eine Vermittlungsleistung erbringt, die nicht für eine Pauschalreise bestimmt ist.395 Weil das Gesetz beide Ausdrücke semantisch in ein Exklusivitätsverhältnis setzt, kann auch die Konvergenzkontrolle nichts mehr daran ändern, dass der Vermittler verbundener Reiseleistungen nicht als Reisevermittler im Sinne des § 651v Abs. 1 S. 3 BGB gelten kann. Eine Einbeziehung des Vermittlers verbundener Reiseleistungen ist vielmehr mit den Normtext des § 651v Abs. 1 S. 3 BGB unvereinbar, da dieser nur für den Reisevermittler gilt. b) Normzweckanalyse Aus diesem Umstand folgt indes nicht, dass die Beweislastumkehr in § 651v Abs. 1 S. 3 BGB nicht dennoch auf den Vermittler verbundener Reiseleistungen erstreckt werden kann; dies gelänge aber nicht durch Auslegung, sondern allenfalls mit einer fortbildenden Anpassung des Normtexts. Denkbar wäre eine Rechtsfortbildung in Gestalt der Analogie, die den Tatbestand für den Vermittler verbundener Reiseleistungen weitet und ihn in die Rechtsfolgenanordnung der Norm einbezieht. Methodisch wäre dies gestattet, wenn der gebotene Normzweck des § 651v Abs. 1 S. 3 BGB einen Inhalt aufwiese,

395  Hierzu auch ausdrücklich: BT-Drucks. 18/10822, S. 50: „Die neue Kategorie der verbundenen Reiseleistungen soll Situationen erfassen, in denen zwar keine Pauschalreise zustande kommt, aber dennoch ein verbindendes Element zwischen den gebuchten Reiseleistungen besteht, das es rechtfertigt, dem Vermittler Informationspflichten aufzuerlegen.“



D. Normtextunvereinbarkeit und Normzweckunvereinbarkeit 379

nach dem die Beweislastumkehr wertungsmäßig auch für den Vermittler verbundener Reiseleistungen gelten müsste. Hierfür ist zunächst die Wertung der Einzelnorm zu betrachten. In der Gesetzesbegründung ist zu § 651v Abs. 1 BGB jedoch lediglich ausgeführt, dass „Satz 3 regelt, dass die Beweislast bezüglich der Erfüllung der Informationspflichten dem Reisevermittler obliegt […] [und hiermit] Artikel 8 der Richtlinie umgesetzt“ werde.396 Ein nationaler Regelungswille ist insoweit nur implizit durch den Verweis auf die Richtlinie mitgeteilt. Soweit dies erforderlich ist, um Rückschlüsse auf den Inhalt der Wertung der Einzelnorm zu ermöglichen, sind daher schon an dieser Stelle die berührten Bestimmungen gleichen und höheren Ranges in die Normzweckanalyse einzubeziehen. Weil in Anlehnung an die Richtlinienvorgabe unzweifelhaft zwischen Reiseveranstalter, Reisevermittler und Vermittler verbundener Reiseleistungen unter­schieden wird,397 kann vor diesem Hintergrund nicht unterstellt werden, dass die Beweislastumkehr in § 651v Abs. 1 BGB versehentlich auf den Reisevermittler beschränkt wurde. In diese Richtung deutet auch, dass die Gesetzesbegründung auf Erwägungsgrund 24 der Pauschalreiserichtline398 Bezug nimmt und hierzu klarstellt, dass Reiseveranstalter und Reisevermittler für die Bereitstellung der Informationen gemeinsam Verantwortung tragen und in der Folge auch gemeinsam haften sollen.399 Da der Reiseveranstalter dem Reisenden gem. § 651a BGB eine Pauschalreise verschafft und der Reisevermittler ihm eine solche gem. § 651v BGB vermittelt, werden sie im Rahmen ihrer Informationspflichten als Einheit behandelt. In dieser Hinsicht ist es konsequent, eine Beweislastumkehr sowohl für den Reiseveranstalter (§ 651d Abs. 4 BGB) als auch für den Reisevermittler (§ 651v Abs. 1 S. 3 BGB) vorzusehen. Im Gegensatz dazu wird der Vermittler verbundener Reiseleistungen nicht im Zusammenhang mit einer Pauschalreise tätig, worin ein Grund für eine unterschiedliche Behandlung gesehen werden kann. Der Pauschalreisevertrag in § 651a Abs. 2 S. 1 BGB stellt die Gesamtheit der Reiseleistungen in den Mittelpunkt; die Regelungen zu den verbundenen Reise396  BT-Drucks.

18/10822, S. 93. 18/10822, S. 56 („Normadressat Reiseveranstalter“), S. 57 („Norm­ adressat Reisevermittler“) und S. 58 („Normadressat […] [ehemaligen] Vermittler einzelner Reiseleistungen“, wobei klargestellt wird, dass nun die „Vermittlung verbundener Reiseleistungen“ gemeint ist). 398  Erwägungsgrund 24 der Pauschalreiserichtlinie im Wortlaut: „Die Vermittler von Pauschalreisen sollten gemeinsam mit dem Reiseveranstalter für die Bereitstellung der vorvertraglichen Informationen verantwortlich sein. Um die Kommunikation, vor allem in grenzüberschreitenden Fällen, zu erleichtern, sollten Reisende den Reiseveranstalter auch über den Reisevermittler kontaktieren können, bei dem sie die Pauschalreise erworben haben.“ 399  BT-Drucks. 18/10822, S. 92. 397  BT-Drucks.

380

Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

leistungen in § 651w Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und Nr. 2 BGB betrachten dagegen gerade deren deutlich losere Verbindung als zentral. Das zeigt sich darin, dass der Reisende sie nach dem Gesetzeswortlaut getrennt auswählt und sie getrennt bezahlt, sich getrennt zur Zahlung verpflichtet oder mit einem anderen Unternehmer einen weiteren Vertrag mit einer zeitlichen Zäsur von 24 Stunden abschließt. Erforderlich ist, dass der Reisende inhaltlich getrennt von der ersten Reiseleistung eine zweite bucht, wobei nur ein gewisser Grad an Verbindung zwischen beiden Buchungen besteht. Reiseveranstalter und Reisevermittler gewähren somit im Gegensatz zum Vermittler verbundener Reiseleistungen nicht nur eine Gesamtheit an Reiseleistungen, sondern auch eine Gesamtheit an Informationen. Daher erscheint es auch sachlich gerechtfertigt, Reiseveranstalter und Reisevermittler einerseits und Vermittler verbundener Reiseleistungen andererseits unterschiedlich zu behandeln. Aus diesem Grund ist auf eine Wertung der Einzelnorm zu schließen, die Letzteren nicht erfasst. Wertungen des gleichrangigen Rechts rechtfertigen keine andere Beurteilung. Weil diese Regelungen bereits partiell Beachtung finden mussten, soweit dies zum Verständnis der Wertung der Einzelnorm nötig war, kann auf die vorherigen Ausführungen verwiesen und kurz in Erinnerung gerufen werden, dass die Gesetzessystematik des neuen Reiserechts in Anlehnung an die Richt­linienvorgabe bewusst zwischen Reiseveranstalter, Reisevermittler und Vermittler verbundener Reiseleistungen trennt. Da für die ersten beiden Fälle eine Beweislastumkehr angeordnet ist, nicht aber für den dritten, obwohl auch hier eine entsprechende Informationspflicht besteht, ist ausgehend von der Einzelnorm des § 651v Abs. 1 BGB mit Blick auf die gleichrangigen Wertungen der § 651d Abs. 1 und Abs. 4 BGB und § 651w Abs. 2 BGB ein kohärentes System festzustellen, welches eine Ausweitung der Beweislast­ regelung nicht stützt. Ebenso wie die des gleichrangigen Rechts können auch die Wertungen des Verfassungsrechts eine Analogie zu § 651v Abs. 1 BGB nicht begründen. In der Folge könnten nur noch die Wertungen des Unionsrechts ein anderes Ergebnis gebieten, wenn die Pauschalreiserichtlinie ihrerseits ein Redak­ tionsversehen enthielte, weil ihr Art. 19 für die Vermittler verbundener Reiseleistungen nicht auf Art. 8 verweist, in dem die Beweislastumkehr vorgesehen ist.400 Es ist zu untersuchen, ob eine identische Beweislastverteilung für Reiseveranstalter, Reisevermittler und Vermittler verbundener Reiseleistungen dem Willen des Unionsgesetzgebers entsprach.401 Zweifelhaft erscheint 400  Dies nehmen Staudinger/Schröder, NJW 2019, 893 an, da es aus Sicht der Autoren „bereits an einem Sachgrund für eine unterschiedliche Beweislastverteilung fehl[e].“ 401  Staudinger/Schröder, NJW 2019, 893.



D. Normtextunvereinbarkeit und Normzweckunvereinbarkeit 381

das aber schon wegen der sprachlichen Präzision in Art. 8, der klarstellt, dass die „Beweislast für die Erfüllung der in diesem Kapitel genannten Informationspflichten […] dem Unternehmer [obliegt].“ Dass auch Vermittler verbundener Reiseleistungen nach Art. 3 Nr. 7 „Unternehmer“ im Sinne der Pauschalreiserichtlinie sind, ist aber belanglos, da Art. 8 die Beweislastumkehr nur in Bezug auf die „für die Erfüllung der in diesem Kapitel genannten Informationspflichten“ anordnet. In diesem Kapitel geht es jedoch ausschließlich um die Informationspflichten von Reiseveranstalter und Reisevermittler. Gegen ein Redaktionsversehen spricht zudem Erwägungsgrund 9 der Richtlinie, der keinen Zweifel daran lässt, dass eine Abweichung zwischen Reisevermittlung und der Vermittlung verbundener Reiseleistungen gewollt war. Hiernach sollten im „Interesse der Transparenz […] Pauschalreisen von verbundenen Reiseleistungen unterschieden werden, bei denen Unternehmer […] den Reisenden bei dem Erwerb der Reiseleistung unterstützen und bei denen der Reisende mit verschiedenen Erbringern von Reiseleistungen […] Verträge schließt, die nicht die Merkmale einer Pauschalreise aufweisen und für die deshalb nicht die Geltung aller derjenigen Pflichten angemessen ist, denen Pauschalreiseverträge unterliegen.“402 Entspricht es infolgedessen im Allgemeinen dem Regelungswillen des europäischen Gesetzgebers, den Vermittler verbundener Reiseleistungen milder als den Reisevermittler zu behandeln, ist mit Blick auf die differenzierte Ausdrucksweise in Art. 8 der Richtlinie auch im Besonderen davon auszugehen, dass die normierte Beweisverteilung auch in dieser Weise beabsichtigt war. Während dies in Anbetracht der angesprochenen strukturellen Unterschiede auch sachlich gerechtfertigt werden kann, steht die Richtlinienvorgabe der analogen Anwendung des § 651v Abs. 1 S. 3 BGB auf den Vermittler verbundener Reiseleistungen in jedem Fall entgegen.403 Weil Art. 4 der Pauschalreiserichtlinie den Mitgliedstaaten ferner untersagt, ohne (hier nicht vorhandene) Öffnungsklausel „strengere oder weniger strenge Rechtsvorschriften zur Gewährleistung eines anderen Schutzniveaus für den Reisenden“404 zu erlassen, ist die Rechtsfortbildung in dieser Hinsicht ebenfalls ausgeschlossen. Eine Ausweitung der Beweislastumkehr ist daher nicht mit dem gebotenen Normzweck des § 651v Abs. 1 S. 3 BGB vereinbar.

402  Hervorhebung

v. Verf. eine ausschließliche Anwendung auf den Reisevermittler: Meier, in: BeckOGK-BGB, 2020, § 651w BGB, Rn. 30. 404  Hervorhebung v. Verf. 403  Für

382

Dritter Teil: Das Grenzsystem in der Anwendung

c) Ergebnis Nachdem damit feststeht, dass eine Beweislastverschiebung weder mit dem Normtext noch mit dem gebotenen Normzweck in Einklang zu bringen ist, würde eine Rechtsfortbildung zu § 651v Abs. 1 S. 3 BGB, wie sie jüngst gefordert wurde,405 Grenzen verletzen, die aus den Wertungen des Unionsrechts herrühren.

405  Zu

dieser Forderung: Staudinger/Schröder, NJW 2019, 893.

Zusammenfassung 1.  Die Arbeit befasst sich mit den Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung im Privatrecht und damit mit der Fragestellung, welche Schranken der Zivilrichter bei der Fortbildung des einfachgesetzlichen Privatrechts zu beachten hat. Weil die Rechtsprechung gem. Art. 20 Abs. 3 GG ohne Ausnahmen1 an Gesetz und Recht gebunden ist, kann es keine richterliche Rechtssetzung, nur Rechtsanwendung geben.2 Hierzu gehören sowohl die Auslegung als auch die Fortbildung des Rechts. Ist die Rechtsordnung lückenlos, wird sie ausgelegt; weist sie Lücken auf, bildet der Richter sie fort. Richterliche Rechtsfortbildung bezeichnet insoweit die Handlungsform der Rechtsprechung, mit der ein Normtext anpasst wird, wenn Wortlaut und Wertung der Regelung nicht oder nicht mehr übereinstimmen.3 2. Bedeutet Rechtsfortbildung Lückenschließung, können ihr nur solche Instrumente zugerechnet werden, die in der Lage sind, eine Lücke zwischen Normtext und dem gebotenen Normzweck zu schließen.4 Deshalb sind der Umkehr- und der Erst-recht-Schluss wie auch andere regelmäßig so bezeichnete Mechanismen keine echten Formen, sondern lediglich Argumentationsfiguren, die eine Fortbildung tragen, sie aber nicht selbst realisieren können. Da die Eignung zur Lückenschließung wesentlich ist, können nur die Analogie, die eine Form der teleologischen Extension auf Tatbestandsseite darstellt, die teleologische Extension auf Rechtsfolgenseite, die teleologische Reduktion auf Tatbestandsseite und jene auf Rechtsfolgenseite als Formen der Rechtsfortbildung verstanden werden. 3. Weil dem Richter nur gestattet ist, das Recht fortzubilden, wenn die Rechtsordnung Lücken aufweist, er aber auch in diesem Bereich strikt an Gesetz und Recht gebunden ist, muss eine Analyse der Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung am Begriff der „Lücke“ ansetzen. Rechtsanwendung im Lückenbereich bedeutet daher, dass die legislativen Wertungen verwirklicht werden, die in der Rechtsordnung enthalten sind, aber in den Gesetzestexten keinen Ausdruck finden. Weil sich der heute herrschende Begriff der „planwidrigen Unvollständigkeit“ nicht als tragfähig erwiesen hat, um die rechts1  Zur zentralen Bedeutung der richterlichen Gesetzesbindung unter: Erster Teil B. I. 3. und II. 2  Zum fehlenden Rechtssetzungscharakter unter: Erster Teil  A. I. 1. b). 3  Zum Rechtsfortbildungsbegriff dieser Arbeit unter: Erster Teil  A. I. 2. 4  Zu den Rechtsfortbildungsformen unter: Erster Teil  A. II.

384 Zusammenfassung

fortbildungsspezifische Funktion zu beschreiben, ist ein neuer Lückenbegriff vonnöten, der die Lücke als Abweichung des Normtexts vom gebotenen Normzweck charakterisiert.5 Im Gegensatz zum Ausdruck der herrschenden Meinung können mit ihm gesetzgeberisch delegierte Rechtsfortbildungen erklärt werden, auch wenn diese nicht planwidrig sind. Ferner können Rechtsfortbildungsverbote bereits im Rahmen des Lückenbegriffs Berücksichtigung finden, was die bisherige inkonsequente Handhabung vermeidet, die Rechtsordnung mit der herrschenden Begrifflichkeit als lückenhaft zu bezeichnen, obwohl sie ausdrücklich die Vorgabe enthält, dass eine Anpassung des Normtexts nicht gewollt ist. Aus dem Lückenbegriff dieser Arbeit können außerdem alle Rechtsfortbildungsformen abgeleitet werden, da sie allein davon abhängen, ob der Normtext im Tatbestand oder in der Rechtsfolge vom gebotenen Normzweck abweicht. 4.  Hinsichtlich der Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung enthält der so verstandene Lückenbegriff ein Grenzsystem.6 In ihm enthalten ist ein strukturiertes Prüfprogramm, das es ermöglicht, abschließend über Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der Rechtsfortbildung zu entscheiden. Erforderlich ist dazu, den Normtext und den gebotenen Normzweck zu ermitteln und auf Abweichungen voneinander zu untersuchen. Als Ergebnis sind vier Konstellationen denkbar. Ist der Sachverhalt mit dem Normtext und dem gebotenen Normzweck vereinbar, ist die Rechtsfortbildung unnötig und in der Folge unzulässig, weil der Fall mit der Auslegung entschieden werden kann. Ist er mit dem Normtext, nicht aber mit dem gebotenen Normzweck vereinbar, ist eine normtexteinschränkende Rechtsfortbildung (teleologische Reduktion) angezeigt. Kann der Sachverhalt nicht mit dem Normtext, aber mit dem gebotenen Normzweck in Einklang gebracht werden, muss er mit einer normtexterweiternden Rechtsfortbildung der Vorschrift unterstellt werden (Analogie oder teleologische Extension).7 Lässt sich der Sachverhalt weder mit dem Normtext noch mit dem gebotenen Normzweck vereinbaren, ist eine Fortbildung des Rechts insgesamt unzulässig. Eine Rechtsfortbildung überschreitet in der Folge Grenzen, wenn keine Lücke vorliegt, Normtext und gebotener Normzweck also darin übereinstimmen, dass ein Fall ein- oder auszuschließen ist. 5.  Im ersten Schritt ist mit der Normtextanalyse8 in drei Stufen zu ermitteln, ob ein Sachverhalt mit dem weitesten geltungszeitlichen und fachsprachlichen Normtextverständnis vereinbar ist. Auf der Stufe der Evidenz5  Zum

neuen Lückenbegriff unter: Zweiter Teil  B. II. 2. Entwicklung des Grenzsystems unter: Zweiter Teil B. 7  Zur Unterscheidung von Analogie und teleologischer Extension unter: Erster Teil A. II. 1. a) aa) und bb). 8  Zur Normtextanalyse unter: Zweiter Teil  B. IV. 2. 6  Zur

Zusammenfassung385

kontrolle9 ist eine einstweilige Einordnung vorzunehmen, bei der sich der Richter allein auf seine Sprachkompetenz verlässt, um den Sachverhalt aus fachsprachlicher Perspektive einer Arbeitskategorie des Drei-KandidatenModells zuzuweisen. Ist er so als positiver, negativer oder neutraler Kandidat qualifiziert, ist die Zuordnung auf der Stufe der Referenzkontrolle10 unter Einbezug weiterer Erkenntnismittel wie gesetzlichen oder gerichtlichen Begriffsbestimmungen sowie juristischen und allgemeinen Nachschlagewerken zu überprüfen. Ziel ist es, die Einstufung als positiver oder negativer Kandidaten zu bestätigen, zu korrigieren oder einen neutralen Kandidaten erstmals zuzuordnen. Für den Fall, dass ein Sachverhalt nach erster und zweiter Stufe als neutraler Kandidat erscheint, ist eine Konvergenzkontrolle11 anzuschließen. Sie beruht auf der Erkenntnis, dass jeder Sachverhalt nur entweder mit dem Normtext vereinbar oder mit ihm unvereinbar sein kann, sodass er logisch nur einer der beiden Kategorien unterstehen kann. Praktisch werden positive und negative Kandidaten betrachtet, um aus ihnen konstitutive Bedingungen für die Normtextvereinbarkeit abzuleiten. Mit ihrer Hilfe kann eine finale Zuordnung erreicht werden. 6.  Im zweiten Schritt ist mit der Normzweckanalyse12 in vier Stufen der gebotene Normzweck als entscheidender Maßstab zu ermitteln. Dieses Konzept ist unerlässlich, weil in der juristischen Methodik nicht ausreichend beachtet wird, dass die Wertung einer Einzelnorm mit Wertungen gleichrangiger oder höherrangiger Normen konfligieren kann. Nur wenn man aber auch das gleich- und höherrangige Recht in die Bewertung einbezieht, kann beantwortet werden, wann eine Rechtsfortbildung contra legem wirkt. Ob die Rechtsordnung den Sachverhalt einer Rechtsfolge unterwirft, ist folglich erst zu entscheiden, nachdem sämtliche Wertungen erkannt und zwischen ihnen möglicherweise bestehende Kollisionen aufgelöst wurden. Zur Rationalisierung der Analyse sind auf erster Stufe die Wertung der Einzelnorm und auf zweiter diejenigen des gleichrangigen Rechts zu berücksichtigen, ehe auf dritter und vierter Stufe die Wertungen des Verfassungs- und Unionsrechts relevant werden. Sind alle Wertungen harmonisiert, zeigt sich als Ergebnis der gebotene Normzweck, der den endgültigen Maßstab bildet, anhand dessen zu entscheiden ist, ob der Sachverhalt ein- oder auszuschließen ist. Auf erster Stufe ist die Wertung der Einzelnorm zu ermitteln,13 wobei der gesetzesgebundene Richter am Regelungszweck der Legislative ansetzen 9  Zur

Evidenzkontrolle unter: Zweiter Teil  B. IV. 2. a). Referenzkontrolle unter: Zweiter Teil  B. IV. 2. b). 11  Zur Konvergenzkontrolle unter: Zweiter Teil  B. IV. 2. c). 12  Zur Normzweckanalyse unter: Zweiter Teil  B. V. 2. 13  Zur ersten Stufe der Normzweckanalyse unter: Zweiter Teil  B. V. 2. a). 10  Zur

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muss. Lässt sich ein in den Gesetzesmaterialien geäußerter und nach wie vor bindender Regelungszweck nachweisen, ist er entscheidend. Fehlt es hieran, ist unter Einsatz von Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte aufzudecken, was der Gesetzgeber, ohne dies mitzuteilen, beabsichtigt hatte oder in Kenntnis der Ungültigkeit seiner Zwecksetzung gewollt hätte. Auf zweiter Stufe14 werden die Wertungen gleichrangiger Normen einbezogen, wodurch das Ergebnis der ersten Stufe bestätigt oder modifiziert werden kann. Ergibt sich ein Wertungskonflikt, ist er mit den Auflösungs­ mechanismen zu versöhnen, die jenen für Normkollisionen entsprechen. In dieser Hinsicht wird es in erster Linie mit der lex specialis-Regel gelingen, den Vorrang der einen oder anderen Wertung zu erkennen. Auf dritter Stufe ist das bislang gefundene Ergebnis anhand der Wertungen verfassungsrechtlicher Normen zu kontrollieren.15 Neben den Grenzen aus den Staatsstrukturprinzipien und weiteren Verfassungswertungen haben insbesondere die Grundrechte erhebliche grenzbildende Bedeutung. Wegen der mittelbaren Horizontalwirkung der Grundrechte können so vor allem das freiheitsgrundrechtliche Über- und Untermaßverbot der Rechtsfortbildung Grenzen ziehen. Gerade das Untermaßverbot kann die Rechtsfortbildung jedoch nicht nur unterbinden, sondern sie auch erlauben, falls eine einfachgesetzliche Wertung für sich genommen nicht genügt, um das Mindestmaß an Schutz zu gewährleisten, das durch die Grundrechte gefordert wird. Auf vierter Stufe sind die Wertungen unionsrechtlicher Normen in die Betrachtung einzubeziehen.16 Ähnlich wie die nationalen Grundrechte können die Unionsgrundrechte und die Grundfreiheiten die Rechtsfortbildung begrenzen, aber auch gestatten. Neben diesen und weiteren primärrechtlichen Wertungen können sich die Grenzlinien auch aus dem Sekundärrecht ergeben, wobei vor allem Verordnungen und Richtlinien praktische Bedeutung erlangen. 7.  Die Leistungsfähigkeit des in dieser Arbeit entwickelten Grenzsystems wurde anhand von 16 Anwendungsbeispielen aus dem Privatrecht nachgewiesen, um sämtliche Prüfungsschritte der Normtext- und Normzweckanalyse sukzessiv und abschließend in der Rechtsanwendungspraxis zu illustrieren. Ausgehend von den möglichen Ergebnissen der Normtext- und Normzweckanalyse waren vier Konstellationen zu unterscheiden: In der ersten Konstellation stimmen Normtext und gebotener Normzweck darin überein, dass die Regelung auf den zu prüfenden Sachverhalt Anwen14  Zur

zweiten Stufe der Normzweckanalyse unter: Zweiter Teil  B. V. 2. b). dritten Stufe der Normzweckanalyse unter: Zweiter Teil  B. V. 2. c). 16  Zur vierten Stufe der Normzweckanalyse unter: Zweiter Teil  B. V. 2. d). 15  Zur

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dung findet. Dass in dieser Hinsicht ein Vorrang der Auslegung gilt und die Fortbildung folglich unnötig und unzulässig ist, wurde für die Irrtumsanfechtung beim Vertragsschluss durch Smart Contracts,17 für die Erlösherausgabe vom Nichtberechtigten,18 für den Ehegatten als „Nicht-Dritten“ im Mietrecht19 und für die Geldschuld als Bringschuld im Geschäftsverkehr20 dargelegt. In der zweiten Konstellation ist die Regelung nach dem Normtext auf den zu prüfenden Fall anwendbar, obwohl dies nach dem gebotenen Normzweck nicht sein dürfte. In diesen Situationen ist eine normtexteinschränkende Rechtsfortbildung geboten, weshalb das Abtretungsverbot für unpfändbare Forderungen,21 die Vertretungsmacht des beschränkt geschäftsfähigen Kom­ plementärs,22 das Wettbewerbsverbot des Handlungsgehilfens23 und die eingeräumte Möglichkeit zur Verjährungsverkürzung bei gebrauchten Kaufgegenständen24 teleologisch zu reduzieren war. In der dritten Konstellation ist die Regelung zwar nicht nach dem Normtext, aber nach ihrem gebotenen Normzweck auf den Sachverhalt anzuwenden. Dass in diesen Fällen eine normtexterweiternde Rechtsfortbildung notwendig ist, wurde veranschaulicht anhand einer teleologischen Extension im Rücktrittsfolgenrecht,25 der Übertragung der verkürzten Verjährungsfrist auf atypische Gebrauchsüberlassungen,26 der Analogie zum nachbarrecht­lichen Ausgleichsanspruch bei faktischem Duldungszwang27 und der Ausweitung 17  Zur Irrtumsanfechtung beim Vertragsschluss durch Smart Contracts gem. § 119 Abs. 1 BGB unter: Dritter Teil  A. I. 18  Zur Herausgabe des Veräußerungserlöses vom Nichtberechtigten gem. § 816 Abs. 1 S. 1 BGB unter: Dritter Teil  A. II. 19  Zum Ehegatten als „Nicht-Dritten“ im Rahmen des Erlaubnisvorbehalts gem. § 540 BGB unter: Dritter Teil  A. III. 20  Zum Bringschuldcharakter der Geldschuld im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen unter: Dritter Teil  A. IV. 21  Zur teleologischen Reduktion des Abtretungsverbots für unpfändbare Forderungen gem. § 400 BGB unter: Dritter Teil  B. I. 22  Zur teleologischen Reduktion der Vertretungsmöglichkeit des beschränkt geschäftsfähigen Komplementärs gem. § 165 BGB unter: Dritter Teil  B. II. 23  Zur teleologischen Reduktion des gesetzlichen Wettbewerbsverbots des Handlungsgehilfens gem. § 60 HGB unter: Dritter Teil  B. III. 24  Zur teleologischen Reduktion des § 476 Abs. 2 BGB unter: Dritter Teil  B. IV. 25  Zur teleologischen Extension des § 346 BGB unter: Dritter Teil  C. I. 26  Zur analogen Anwendung der kurzen Verjährungsfrist auf atypische Gebrauchsüberlassungen: Dritter Teil  C. II. 27  Zur analogen Begründung des verschuldensunabhängigen nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruchs in den Fällen des faktischen Duldungszwangs unter: Dritter Teil C. III.

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der Bürgentauglichkeit auf Sicherungsgeber mit Sitz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union.28 In der vierten Konstellation ist die angedachte Rechtsfortbildung unzulässig, da der zu prüfende Fall weder mit dem Normtext noch mit dem gebotenen Normzweck in Einklang gebracht werden kann. Insoweit wurde gezeigt, dass die Begründung einer Einkaufsvollmacht des Ladenangestellten im Wege der Rechtsfortbildung,29 eine Erweiterung bestehender Gefährdungshaftungstatbestände auf autonome Systeme im Allgemeinen,30 ein durch Fortbildung entwickelter Auskunftsanspruch des regressvorbereitenden Schein­ vaters31 und eine Ausdehnung der Beweislastumkehr auf den Vermittler verbundener Reiseleistungen32 die Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung überschreiten würde.

28  Zur analogen Anwendung des § 239 BGB auf Bürgen mit einem allgemeinen Gerichtsstand in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union unter: Dritter Teil C. IV. 29  Zur unzulässigen Begründung einer Einkaufsvollmacht des Ladenangestellten unter: Dritter Teil  D. I. 30  Zur unzulässigen rechtsfortbildenden Ausdehnung existenter Gefährdungshaftungstatbestände auf autonome Systeme im Allgemeinen unter: Dritter Teil  D. II. 31  Zur unzulässigen Begründung eines regressvorbereitenden Auskunftsanspruchs des Scheinvaters gegen die Mutter im Wege der Rechtsfortbildung unter: Dritter Teil  D. III. 32  Zur unzulässigen rechtsfortbildenden Ausweitung der Beweislastumkehr auf den Vermittler verbundener Reiseleistungen unter: Dritter Teil  D. IV.

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Bundesfinanzhof BFH, Urt. v. 20.10.1983 – IV R 175/79, NVwZ 1984, 823. BFH, Urt. v. 27.11.1985 – I R 42/85, BStBl. II 1986, 272.

Bundesgerichtshof (Senat für Anwaltssachen) BGH, Urt. v. 22.06.2020 – AnwZ (Brfg) 48/19, BeckRS 2020, 16205.

Bundesgerichtshof (Strafsenate) BGH, Urt. v. 21.11.1950 – 4 StR 20/50, BGHSt 1, 1. BGH, Beschl. v. 12.11.1970 – 1 StR 263/70, BGHSt 24, 15. BGH, Urt. v. 07.11.1990 – 2 StR 439/90, BGHSt 37, 226.

Bundesgerichtshof (Zivilsenate) BGH, Urt. v. 19.06.1951 – I ZR 77/50, BGHZ 2, 394. BGH, Urt. v. 30.10.1951 – I ZR 117/50, BGHZ 3, 308. BGH, Urt. v. 08.02.1952 – I ZR 92/51, NJW 1952, 537.

Entscheidungsverzeichnis439 BGH, Urt. v. 28.10.1953 – II ZR 149/52, BGHZ 10, 385. BGH, Urt. v. 06.11.1953 – I ZR 97/52, BGHZ 11, 135. BGH, Urt. v. 15.01.1957 – VI ZR 135/56, BGHZ 23, 90. BGH, Beschl. v. 21.06.1957 – V ZB 6/57, BGHZ 25, 16. BGH, Urt. v. 08.01.1959 – VII ZR 26/58, BGHZ 29, 157. BGH, Urt. v. 29.04.1960 – VI ZR 51/59, BGHZ 32, 246. BGH, Beschl. v. 19.06.1962 –­I ZB 10/61, BGHZ 37, 219. BGH, Urt. v. 05.12.1963 – II ZR 219/62, NJW 1964, 499. BGH, Urt. v. 18.12.1963 – VIII ZR 193/62, NJW 1964, 545. BGH, Urt. v. 18.02.1964 – VI ZR 260/62, NJW 1964, 1225. BGH, Urt. v. 11.11.1964 – VIII ZR 149/63, NJW 1965, 151. BGH, Urt. v. 08.12.1964 – VI ZR 201/63, NJW 1965, 685. BGH, Urt. v. 07.10.1965 – II ZR 120/63, BGHZ 44, 178. BGH, Urt. v. 30.06.1966 – KZR 5/65, BGHZ 46, 74. BGH, Urt. v. 23.12.1966 – V ZR 26/64, BGHZ 46, 260. BGH, Urt. v. 15.06.1967 – III ZR 23/65, BGHZ 48, 98. BGH, Urt. v. 21.05.1968 – VI ZR 131/67, NJW 1968, 1472. BGH, Urt. v. 25.01.1971 – III ZR 208/68, BGHZ 55, 229. BGH, Urt. v. 18.12.1973 – VI ZR 113/71, BGHZ 62, 54. BGH, Urt. v. 01.03.1974 – IV ZR 58/72, NJW 1974, 1084. BGH, Urt. v. 28.11.1975 – V ZR 127/74, BGHZ 65, 300. BGH, Urt. v. 26.10.1978 – III ZR 26/77, BGHZ 72, 289. BGH, Urt. v. 11.10.1979 – VII ZR 285/78, BGHZ 75, 203. BGH, Urt. v. 18.12.1979 – VI ZR 52/78, NJW 1980, 1681. BGH, Urt. v. 04.06.1981 – III ZR 31/80, BGHZ 81, 21. BGH, Urt. v. 24.06.1983 – V ZR 113/82, BGHZ 88, 46. BGH, Urt. v. 21.10.1983 – V ZR 166/82, BGHZ 88, 344. BGH, Urt. v. 15.02.1984 – VIII ZR 213/82, BGHZ 90, 145. BGH, Urt. v. 02.03.1984 – V ZR 54/83, BGHZ 90, 255. BGH, Urt. v. 07.06.1984 – IX ZR 66/83, BGHZ 91, 324. BGH, Urt. v. 13.06.1985 – I ZR 35/83, BGHZ 95, 285. BGH, Urt. v. 17.04.1986 – III ZR 246/84, NJW-RR 1987, 59. BGH, Urt. v. 11.02.1987 – IVa ZR 194/85, BGHZ 100, 60. BGH, Urt. v. 11.02.1987 – IVb ZR 15/86, NJW 1987, 1761.

440 Entscheidungsverzeichnis BGH, Urt. v. 04.05.1988 – VIII ZR 196/87, NJW 1988, 2109. BGH, Urt. v. 13.07.1988 – IVa ZR 55/87, BGHZ 105, 140. BGH, Urt. v. 01.06.1989 – III ZR 261/87, NJW 1989, 2879. BGH, Urt. v. 08.12.1989 – V ZR 174/88, NJW 1990, 2068. BGH, Urt. v. 13.12.1989 – IVb ZR 79/89, NJW 1990, 1847. BGH, Urt. v. 20.04.1990 – V ZR 282/88, BGHZ 111, 158. BGH, Urt. v. 17.03.1992 – VI ZR 62/91, BGHZ 117, 337. BGH, Beschl. v. 14.07.1993 – VIII ARZ 1/93, BGHZ 123, 233. BGH, Urt. v. 21.01.1994 – V ZR 238/92, NJW 1994, 1161. BGH, Urt. v. 10.02.1994 – IX ZR 55/93, BGHZ 125, 116. BGH, Urt. v. 09.11.1994 – IV ZR 66/94, BGHZ 127, 354. BGH, Urt. v. 20.11.1995 – II ZR 209/94, NJW 1996, 1051. BGH, Urt. v. 17.02.1997 – II ZR 278/95, NJW 1997, 2055. BGH, Urt. v. 21.04.1998 – VI ZR 196/97, BGHZ 138, 311. BGH, Urt. v. 10.07.1998 – V ZR 360/96, NJW 1998, 3268. BGH, Urt. v. 02.04.2001 – II ZR 217/99, NJW 2001, 2476. BGH, Urt. v. 17.05.2001 – I ZR 291/98, BGHZ 148, 26. BGH, Urt. v. 24.10.2001 – XII ZR 284/99, NJW 2002, 217. BGH, Urt. v. 19.12.2001 – XII ZR 233/99, NJW 2002, 1336. BGH, Beschl. v. 04.07.2002 – V ZB 16/02, BGHZ 151, 221. BGH, Urt. v. 05.11.2002 – XI ZR 381/01, BGHZ 152, 307. BGH, Beschl. v. 27.03.2003 – V ZR 291/02, BGHZ 154, 288. BGH, Urt. v. 30.05.2003 – V ZR 37/02, BGHZ 155, 99. BGH, Beschl. v. 13.08.2003 – XII ZR 303/02, BGHZ 156, 97. BGH, Urt. v. 05.11.2003 – VIII ZR 371/02, BGHZ 157, 1. BGH, Urt. v. 12.12.2003 – V ZR 180/03, BGHZ 157, 188. BGH, Teilurt. v. 15.10.2004 – V ZR 100/04, NJW-RR 2005, 241. BGH, Urt. v. 26.01.2005 – VIII ZR 79/04, NJW 2005, 976. BGH, Urt. v. 22.02.2006 – XII ZR 48/03, NJW 2006, 1963. BGH, Urt. v. 10.05.2006 – XII ZR 124/02, BGHZ 167, 312. BGH, Urt. v. 06.02.2007 – X ZR 117/04, NJW 2007, 1806. BGH, Urt. v. 28.11.2007 – VIII ZR 16/07, BGHZ 174, 290. BGH, Urt. v. 01.02.2008 – V ZR 47/07, NJW 2008, 992. BGH, Urt. v. 10.02.2009 – VI ZR 28/08, NJW 2009, 1482.

Entscheidungsverzeichnis441 BGH, Urt. v. 10.03.2009 – XI ZR 33/08, BGHZ 180, 123. BGH, Urt. v. 18.09.2009 – V ZR 75/08, NJW 2009, 3787. BGH, Urt. v. 11.11.2009 – VIII ZR 294/08, NJW-RR 2010, 306. BGH, Urt. v. 04.12.2009 – V ZR 9/09, NJW-RR 2010, 1235. BGH, Urt. v. 22.03.2010 – II ZR 12/08, BGHZ 185, 44. BGH, Urt. v. 16.07.2010 – V ZR 217/09, NJW 2010, 3158. BGH, Urt. v. 27.01.2011 – VII ZR 186/09, BGHZ 188, 128. BGH, Urt. v. 09.11.2011 – XII ZR 136/09, BGHZ 191, 259. BGH, Urt. v. 16.10.2012 – X ZR 37/12, BGHZ 195, 126. BGH, Urt. v. 12.06.2013 – XII ZR 143/11, NJW 2013, 2507. BGH, Urt. v. 26.04.2016 – VI ZR 467/15, NJW-RR 2017, 272. BGH, Urt. v. 05.10.2016 – VIII ZR 222/15, BGHZ 212, 140. BGH, Urt. v. 16.03.2017 – IX ZR 253/15, BGHZ 214, 220. BGH, Urt. v. 16.01.2018 – VI ZR 474/16, NJW 2018, 1602. BGH, Urt. v. 22.02.2018 – VII ZR 46/17, NJW 2018, 1463. BGH, Urt. v. 09.10.2019 – VIII ZR 240/18, NJW 2020, 759. BGH, Beschl. v. 31.03.2020 – XI ZR 198/19, BKR 2020, 253.

Bundessozialgericht BSG, Urt. v. 04.12.1959 – 3 RJ 201/56, BSGE 11, 126.

Bundesverfassungsgericht BVerfG, Urt. v. 23.10.1951 – 2 BvG 1/51 – Südweststaat, BVerfGE 1, 14. BVerfG, Beschl. v. 07.05.1953 – 1 BvL 104/52 – Notaufnahme, BVerfGE 2, 266. BVerfG, Beschl. v. 17.06.1953 – 1 BvR 668/52 – Armenanwalt, BVerfGE 2, 336. BVerfG, Urt. v. 17.12.1953 – 1 BvR 323/51, 195/51, 138/52, 283/52, 319/52 – Angestelltenverhältnisse, BVerfGE 3, 162. BVerfG, Urt. v. 17.12.1953 – 1 BvR 335/51 – Entlassung von Nationalsozialisten, BVerfGE 3, 213. BVerfG, Urt. v. 18.12.1953 – 1 BvL 106/53 – Gleichberechtigung, BVerfGE 3, 225. BVerfG, Beschl. v. 01.07.1954 – 1 BvR 361/51, BVerfGE 4, 1. BVerfG, Beschl. v. 21.07.1955 – 1 BvL 33/51 – Junktimklausel, BVerfGE 4, 219. BVerfG, Beschl. v. 17.01.1957 – 1 BvL 4/54 – Steuersplitting, BVerfGE 6, 55. BVerfG, Urt. v. 26.03.1957 – 2 BvG 1/55 – Reichskonkordat, BVerfGE 6, 309.

442 Entscheidungsverzeichnis BVerfG, Beschl. v. 24.07.1957 – 1 BvL 23/52 – Hamburgisches Hundesteuergesetz, BVerfGE 7, 89. BVerfG, Urt. v. 15.01.1958 – 1 BvR 400/51 – Lüth, BVerfGE 7, 198. BVerfG, Urt. v. 11.06.1958 – 1 BvR 596/56, BVerfGE 7, 377. BVerfG, Beschl. v. 11.06.1958 – 1 BvR 1/52, 46/52 – Teuerungszulage, BVerfGE 8, 1. BVerfG, Beschl. v. 08.01.1959 – 1 BvR 296/57, BVerfGE 9, 109. BVerfG, Beschl. v. 17.05.1960 – 2 BvL 11/59, 11/60 – Nachkonstitutioneller Bestätigungswille, BVerfGE 11, 126. BVerfG, Urt. v. 21.02.1961 – 1 BvL 29/57, 20/60 – Ehegattenfreibetrag, BVerfGE 12, 151. BVerfG, Urt. v. 19.12.1961 – 2 BvL 6/59 – Rückwirkende Steuern, BVerfGE 13, 261. BVerfG, Urt. v. 24.01.1962 – 1 BvL 32/57 – Ehegatten-Arbeitsverhältnisse, BVerfGE 13, 290. BVerfG, Urt. v. 03.06.1962 – 2 BvR 15/62 – Gesetzesgebundenheit im Strafrecht, BVerfGE 14, 174. BVerfG, Urt. v. 07.08.1962 – 1 BvL 16/60 – Feldmühle-Urteil, BVerfGE 14, 263. BVerfG, Beschl. v. 29.10.1963 – 1 BvL 15/58, BVerfGE 17, 148. BVerfG, Beschl. v. 11.03.1964 – 1 BvL 4/63, BVerfGE 17, 280. BVerfG, Beschl. v. 30.06.1964 – 1 BvL 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25/62 – Zusammenveranlagung, BVerfGE 18, 97. BVerfG, Beschl. v. 23.02.1965 – 2 BvL 19/62, BVerfGE 18, 389. BVerfG, Beschl. v. 28.04.1965 – 1 BvR 346/61 – Neuapostolische Kirche, BVerfGE 19, 1. BVerfG, Beschl. v. 11.05.1965 – 2 BvR 259/63 – S-Urteil des Bundesfinanzhofes, BVerfGE 19, 38. BVerfG, Beschl. v. 12.01.1967 – 1 BvR 169/63 – Grundstücksverkehrsgesetz, BVerfGE 21, 73. BVerfG, Beschl. v. 28.06.1967 – 2 BvR 143/61 – Entziehung der Verteidigungsbefugnis, BVerfGE 22, 114. BVerfG, Beschl. v. 18.10.1967 – 1 BvR 248/63 und 216/67 – EWG-Verordnungen, BVerfGE 22, 293. BVerfG, Beschl. v. 29.11.1967 – 1 BvL 16/63, BVerfGE 22, 373. BVerfG, Beschl. v. 29.01.1969 – 1 BvR 26/66 – Nichtehelichkeit, BVerfGE 25, 167. BVerfG, Beschl. v. 18.02.1970 – 1 BvR 226/69 – Robenstreit, BVerfGE 28, 21. BVerfG, Beschl. v. 27.05.1970 – 1 BvL 22/63 und 27/64 – Heiratswegfallklausel, BVerfGE 28, 324. BVerfG, Beschl. v. 04.05.1971 – 1 BvR 636/68 – Spanier-Beschluß, BVerfGE 31, 58. BVerfG, Beschl. v. 09.06.1971 – 2 BvR 255/69 – Milchpulver, BVerfGE 31, 145.

Entscheidungsverzeichnis443 BVerfG, Beschl. v. 07.07.1971 – 1 BvR 775/66 – Private Tonbandvervielfältigungen, BVerfGE 31, 255. BVerfG, Urt. v. 06.12.1972 – 1 BvR 230/70 und 95/71 – Förderstufe, BVerfGE 34, 165. BVerfG, Beschl. v. 14.02.1973 – 1 BvR 112/65 – Soraya, BVerfGE 34, 269. BVerfG, Beschl. v. 19.06.1973 – 1 BvL 39/69 – Behördliches Beschwerderecht, BVerfGE 35, 263. BVerfG, Beschl. v. 21.05.1974 – 1 BvL 22/71 und 21/72 – Staatsangehörigkeit von Abkömmlingen, BVerfGE 37, 217. BVerfG, Beschl. v. 29.05.1974 – BvL 52/71 – Solange I, BVerfGE 37, 271. BVerfG, Urt. v. 10.12.1974 – 2 BvK 1/73, 2 BvR 902/73 – Magistratsverfassung Schleswig-Holstein, BVerfGE 38, 258. BVerfG, Beschl. v. 19.02.1975 – 1 BvR 418/71 – Aussperrung von Betriebsratsmitgliedern, BVerfGE 38, 386. BVerfG, Urt. v. 25.02.1975 – 1 BvF 1, 2, 3, 4, 5, 6/74 – Schwangerschaftsabbruch I, BVerfGE 39, 1. BVerfG, Beschl. v. 28.10.1975 – 2 BvR 883/73 und 379, 497, 526/74 – Justizverwaltungsakt, BVerfGE 40, 237. BVerfG, Beschl. v. 24.03.1976 – 2 BvR 804/75 – Zwangsversteigerung I, BVerfGE 42, 64. BVerfG, Beschl. v. 11.05.1976 – 1 BvR 671/70 – Deutschland-Magazin, BVerfGE 42, 143. BVerfG, Beschl. v. 08.06.1977 – 2 BvR 499/74 und 1042/75 – Rückwirkende Verordnungen, BVerfGE 45, 142. BVerfG, Beschl. v. 21.06.1977 – 2 BvR 308/77, BVerfGE 45, 363. BVerfG, Beschl. v. 22.06.1977 – 1 BvR 799/76 – Oberstufenreform, BVerfGE 45, 400. BVerfG, Urt. v. 16.10.1977 – 1 BvQ 5/77 – Schleyer, BVerfGE 46, 160. BVerfG, Beschl. v. 15.02.1978 – 2 BvR 134, 268/76 – Gemeindeparlamente, BVerfGE 47, 253. BVerfG, Beschl. v. 08.08.1978 – 2 BvL 8/77 – Kalkar I, BVerfGE 49, 89. BVerfG, Beschl. v. 11.10.1978 – 1 BvR 84/74 – Sachverständigenhaftung, BVerfGE 49, 304. BVerfG, Beschl. v. 19.06.1979 – 2 BvL 14/75, BVerfGE 51, 304. BVerfG, Beschl. v. 25.07.1979 – 2 BvL 6/77 – Vielleicht-Beschluß, BVerfGE 52, 187. BVerfG, Beschl. v. 03.10.1979 – 1 BvR 726/78 – Fristgebundener Schriftsatz, BVerfGE 52, 203. BVerfG, Beschl. v. 13.11.1979 – 1 BvR 631/78, BVerfGE 52, 369. BVerfG, Beschl. v. 11.06.1980 – 1 PBvU 1/79 – Ablehnung der Revision, BVerfGE 54, 277.

444 Entscheidungsverzeichnis BVerfG, Beschl. v. 07.10.1980 – 1 BvL 50, 89/79, 1 BvR 240/79 – Präklusion I, BVerfGE 55, 72. BVerfG, Beschl. v. 08.10.1980 – 1 BvL 122/78, 61/79 und 21/77 – Kinderzuschuß für Enkel, BVerfGE 55, 100. BVerfG, Beschl. v. 17.02.1981 – 2 BvR 384/78 – Bethel, BVerfGE 57, 220. BVerfG, Urt. v. 03.11.1982 – 1 BvR 620/78, 1335/78, 1104/79 und 363/80 – Ehegattensplitting, BVerfGE 61, 319. BVerfG, Beschl. v. 03.11.1982 – 1 BvR 710/82, BVerfGE 62, 189. BVerfG, Beschl. v. 19.10.1983 – 2 BvR 485, 486/80 – Sozialplan, BVerfGE 65, 182. BVerfG, Beschl. v. 04.04.1984 – 1 BvR 276/83, BVerfGE 66, 331. BVerfG, Beschl. v. 14.05.1985 – 1 BvR 233, 341/81 – Brokdorf, BVerfGE 69, 315. BVerfG, Beschl. v. 23.10.1985 – 1 BvR 1053/82 – Anti-Atomkraftplakette, BVerfGE 71, 108. BVerfG, Beschl. v. 14.01.1986 – 1 BvR 209/79, 1 BvR 221/79, BVerfG, NJW 1986, 2242. BVerfG, Beschl. v. 13.05.1986 – 1 BvR 99, 461/85 – Wohnungsfürsorge, BVerfGE 72, 175. BVerfG, Beschl. v. 22.10.1986 – 2 BvR 197/83 – Solange II, BVerfGE 73, 339. BVerfG, Beschl. v. 26.03.1987 – 2 BvR 589/79 – Unschuldsvermutung, BVerfGE 74, 358. BVerfG, Beschl. v. 08.04.1987 – 2 BvR 687/85 – Kloppenburg-Beschluß, BVerfGE 75, 223. BVerfG, Beschl. v. 12.05.1987 – 2 BvR 1226/83, 101, 313/84 – Familiennachzug, BVerfGE 76, 1. BVerfG, Beschl. v. 01.10.1987 – 2 BvR 1178, 1179, 1191/86 – Neue Heimat, BVerfGE 77, 1. BVerfG, Beschl. v. 29.10.1987 – 2 BvR 624, 1080, 2029/83 – Lagerung chemischer Waffen, BVerfGE 77, 170. BVerfG, Beschl. v. 09.03.1988 – 1 BvL 49/86, BVerfGE 78, 77. BVerfG, Beschl. v. 18.05.1988 – 2 BvR 579/84 – Schatzregal der Länder, BVerfGE 78, 205. BVerfG, Beschl. v. 31.05.1988 – 1 BvR 520/83 – Unterhaltsleistung ins Ausland, BVerfGE 78, 214. BVerfG, Beschl. v. 15.03.1989 – 1 BvR 1428/88, BVerfGE 80, 48. BVerfG, Beschl. v. 29.11.1989 – 2 BvR 1491, 1492/87, BVerfGE 81, 132. BVerfG, Beschl. v. 07.02.1990 – 1 BvR 26/84 – Handelsvertreter, BVerfGE 81 242. BVerfG, Beschl. v. 23.06.1990 – 2 BvR 752/90, NJW 1990, 3140. BVerfG, Beschl. v. 13.11.1990 – 1 BvR 275/90, BVerfGE 83, 82.

Entscheidungsverzeichnis445 BVerfG, Beschl. v. 27.11.1990 – 1 BvR 402/87 – Josefine Mutzenbacher, BVerfGE 83, 130. BVerfG, Urt. v. 23.04.1991 – 1 BvR 1170, 1174, 1175/90 – Bodenreform I, BVerfGE 84, 90. BVerfG, Beschl. v. 26.06.1991 – 1 BvR 779/85 – Aussperrung, BVerfGE 84, 212. BVerfG, Beschl. v. 11.02.1992 – 1 BvR 1531/90, BVerfGE 85, 248. BVerfG, Beschl. v. 25.03.1992 – 1 BvR 1430/88 – Fangschaltungen, BVerfGE 85, 386. BVerfG, Beschl. v. 07.04.1992 – 1 BvR 1772/91, BVerfGE 86, 59. BVerfG, Beschl. v. 03.06.1992 – 2 BvR 1041/88, 78/89 – Strafaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe, BVerfGE 86, 288. BVerfG, Urt. v. 07.07.1992 – 1 BvL 51/86, 50/87 und 1 BvR 873/90, 761/91, BVerfGE 87, 1. BVerfG, Beschl. v. 03.11.1992 – 1 BvR 1243/88 – Erörterungsgebühr, BVerfGE 87, 273. BVerfG, Urt. v. 17.11.1992 – 1 BvL 8/87 – Einkommensanrechnung, BVerfGE 87, 234. BVerfG, Beschl. v. 26.01.1993 – 1 BvL 38, 40, 43/92 – Transsexuelle II, BVerfGE 88, 87. BVerfG, Beschl. v. 30.03.1993 – 1 BvR 1045/89, 1381/90, 1 BvL 11/90, BVerfGE 88, 145. BVerfG, Beschl. v. 26.05.1993 – 1 BvR 208/93 – Besitzrecht des Mieters, BVerfGE 89, 1. BVerfG, Urt. v. 28.05.1993 – 2 BvF 2/90 und 4, 5/92 – Schwangerschaftsabbruch II, BVerfGE 88, 203. BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134, 2159/92 – Maastricht, BVerfGE 89, 155. BVerfG, Beschl. v. 19.10.1993 – 1 BvR 567, 1044/89 – Bürgschaftsverträge, BVerfGE 89, 214. BVerfG, Beschl. v. 09.03.1994 – 2 BvL 43, 51, 63, 64, 70, 80/92, 2 BvR 2031/92 – Cannabis, BVerfGE 90, 145. BVerfG, Urt. v. 12.07.1994 – 2 BvE 3/92, 5/93, 7/93, 8/93 – Out-of-area-Einsätze, BVerfGE 90, 286. BVerfG, Beschl. v. 10.01.1995 – 1 BvR 718, 719, 722, 723/89 – Sitzblockaden II, BVerfGE 92, 1. BVerfG, Urt. v. 10.01.1995 – 1 BvR 1/90, 1 BvR 342, 348/90 – Zweitregister, BVerfGE 92, 26. BVerfG, Beschl. v. 11.01.1995 – 2 BvR 1473/89, NJW 1995, 3050. BVerfG, Beschl. v. 14.08.1996 – 2 BvR 2088/93, NJW 1996, 3146. BVerfG, Urt. v. 08.04.1997 – 1 BvR 48/94 – Altschulden, BVerfGE 95, 267.

446 Entscheidungsverzeichnis BVerfG, Beschl. v. 06.05.1997 – 1 BvR 409/90 – Vaterschaftsauskunft, BVerfGE 96, 56. BVerfG, Urt. v. 08.07.1997 – 1 BvR 1934/93, BVerfGE 96, 189. BVerfG, Beschl. v. 22.10.1997 – 1 BvR 479/92, 1 BvR 307/94 – Plenarvorlagen, BVerfGE 96, 409. BVerfG, Beschl. v. 12.11.1997 – 1 BvR 479/92 und 307/94 – Kind als Schaden, BVerfGE 96, 375. BVerfG, Beschl. v. 27.01.1998 – 1 BvL 15/87 – Kleinbetriebsklausel I, BVerfGE 97, 169. BVerfG, Beschl. v. 08.04.1998 – 1 BvR 1773/96, BVerfGE 98, 49. BVerfG, Urt. v. 12.05.1998 – 1 BvR 1640/97 – Rechtschreibreform, BVerfGE 98, 218. BVerfG, Beschl. v. 15.07.1998 – 1 BvR 1554/89, 963, 964/94, BVerfGE 98, 365. BVerfG, Beschl. v. 10.11.1998 – 1 BvR 1531/96 – Scientology, BVerfGE 99, 185. BVerfG, Beschl. v. 10.11.1998 – 2 BvR 1057, 1226, 980/91 – Familienlastenausgleich II, BVerfGE 99, 216. BVerfG, Urt. v. 23.11.1999 – 1 BvF 1/94 – Stichtagsregelung, BVerfGE 101, 239. BVerfG, Urt. v. 15.12.1999 – 1 BvR 653/96 – Caroline von Monaco II, BVerfGE 101, 361. BVerfG, Urt. v. 16.02.2000 – 1 BvR 420/97 – Frischzellen, BVerfGE 102, 26. BVerfG, Urt. v. 21.11.2000 – 1 BvR 2307/94, 1 BvR 1120/95, 1 BvR 1408/95, 1 BvR 2460/95, 1 BvR 2471/95 – EALG, BVerfGE 102, 254. BVerfG, Urt. v. 24.01.2001 – 1 BvR 2623/95, 622/99 – Fernsehaufnahmen im Gerichtssaal II, BVerfGE 103, 44. BVerfG, Urt. v. 22.11.2001 – 2 BvE 6/99 – NATO-Konzept, BVerfGE 104, 151. BVerfG, Beschl. v. 20.02.2002 – 1 BvL 19, 20, 21/97, 11/98 – Entscheidungserheblichkeit, BVerfGE 105, 48. BVerfG, Urt. v. 17.07.2002 – 1 BvF 1, 2/01 – Lebenspartnerschaftsgesetz, BVerfGE 105, 313. BVerfG, Urt. v. 16.01.2003 – 2 BvR 716/01 – Anwesenheit im JGG-Verfahren, BVerfGE 107, 104. BVerfG, Urt. v. 28.01.2003 – 1 BvR 487/01 – Rechtsanwaltsgebühren Ost, BVerfGE 107, 133. BVerfG, Beschl. v. 03.03.2004 – 1 BvF 3/92 – Zollkriminalamt, BVerfGE 110, 33. BVerfG, Beschl. v. 17.06.2004 – 2 BvR 383/03 – Rechenschaftsbericht, BVerfGE 111, 54. BVerfG, Beschl. v. 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04 – EGMR-Entscheidungen, BVerfGE 111, 307. BVerfG, Beschl. v. 26.10.2004 – 2 BvR 955/00, 1038/01 – Bodenreform III, BVerfGE 112, 1.

Entscheidungsverzeichnis447 BVerfG, Beschl. v. 07.12.2004 – 1 BvR 1804/03 – Stiftung „Erinnerung“, BVerfGE 112, 93. BVerfG, Beschl. v. 11.01.2005 – 2 BvR 167/02, BVerfGE 112, 164. BVerfG, Beschl. v. 19.04.2005 – 1 BvR 1644/00, 188/03 – Pflichtteil, BVerfGE 112, 332. BVerfG, Urt. v. 18.07.2005 – 2 BvR 2236/04 – Europäischer Haftbefehl, BVerfGE 113, 273. BVerfG, Beschl. v. 06.12.2005 – 1 BvL 3/03 – Transsexuelle III, BVerfGE 1, 25. BVerfG, Beschl. v. 14.12.2005 – 1 BvR 2874/04, BeckRS 2005, 32543. BVerfG, Beschl. v. 18.01.2006 – 2 BvR 2194/99 – Halbteilungsgrundsatz, BVerfGE 115, 97. BVerfG, Beschl. v. 08.11.2006 – 2 BvR 578, 796/02 – Strafrestaussetzung, BVerfGE 117, 71. BVerfG, Beschl. v. 12.12.2006 – 1 BvR 2576/04, BVerfGE 117, 163. BVerfG, Beschl. v. 13.03.2007 – 1 BvF 1/05 – Treibhausgas-Emissionsberechtigungen, BVerfGE 118, 79. BVerfG, Beschl. v. 14.06.2007 – 2 BvR 1447, 136/05 – Revisionsgrenzen bei Rechtsfolgenzumessung, BVerfGE 118, 212. BVerfG, Beschl. v. 26.02.2008 – 1 BvR 1602, 1606, 1626/07 – Caroline von Monaco III, BVerfGE 120, 180. BVerfG, Urt. v. 27.02.2008 – 1 BvR 370, 595/07 – Online-Durchsuchungen, BVerfGE 120, 274. BVerfG, Urt. v. 11.03.2008 – 1 BvR 2074/05, 1254/07 – Automatisierte Kennzeichenerfassung, BVerfGE 120, 378. BVerfG, Beschl. v. 11.03.2008 – 1 BvR 256/08, BVerfGE 121, 1. BVerfG, Beschl. v. 15.01.2009 – 2 BvR 2044/07 – Rügeverkümmerung, BVerfGE 122, 248. BVerfG, Urt. v. 10.06.2009 – 1 BvR 706, 814, 819, 832, 837/08, BVerfGE 123, 186. BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2, 5/08, 2 BvR 1010, 1022, 1259/08, 182/09 – Lissabon, BVerfGE 123, 267. BVerfG, Beschl. v. 07.07.2009 – 1 BvR 1164/07, BVerfGE 124, 199. BVerfG, Urt. v. 02.03.2010 – 1 BvR 256, 263, 586/08, BVerfGE 125, 260. BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 – Ultra-vires-Kontrolle Honeywell, BVerfGE 126, 286. BVerfG, Beschl. v. 07.07.2010 – 2 BvL 13/05, 14/02, 2/04, 13/05 – Spekulationsfrist, BVerfGE 127, 1. BVerfG, Beschl. v. 21.07.2010 – 1 BvR 2530/05, 1 BvL 11, 12, 13/06, BVerfGE 126, 369. BVerfG, Beschl. v. 12.10.2010 – 1 BvL 14/09, BVerfGE 127, 263.

448 Entscheidungsverzeichnis BVerfG, Beschl. v. 25.01.2011 – 1 BvR 918/10 – Dreiteilungsmethode, BVerfGE 128, 193. BVerfG, Beschl. v. 01.06.2011 – 1 BvR 233/10, 1 BvR 235/10, NJW 2011, 2636. BVerfG, Beschl. v. 21.06.2011 – 1 BvR 2035/07 – Mediziner-BAföG, BVerfGE 129, 49. BVerfG, Beschl. v. 19.07.2011 – 1 BvR 1916/09 – Anwendungserweiterung, BVerfGE 129, 78. BVerfG, Beschl. v. 07.02.2012 – 1 BvL 14/07, BVerfGE 130, 240. BVerfG, Beschl. v. 02.05.2012 – 2 BvL 5/10, BVerfGE 131, 20. BVerfG, Beschl. v. 04.06.2012 – 2 BvL 9, 10, 11, 12/08, BVerfGE 131, 88. BVerfG, Urt. v. 25.07.2012, 2 BvF 3/11, 2 BvR 2670/11, 2 BvE 9/11 – Landeslisten, BVerfGE 131, 316. BVerfG, Urt. v. 19.03.2013 – 2 BvR 2628, 2883/10, 2155/11 – Verständigungsgesetz, BVerfGE 133, 168. BVerfG, Urt. v. 24.04.2013 – 1 BvR 1215/07, BVerfGE 133, 277. BVerfG, Beschl. v. 17.12.2013 – 1 BvL 5/08, BVerfGE 135, 1. BVerfG, Beschl. v. 14.01.2014 – 2 BvR 2728, 2729, 2730, 2731/13, 2 BvE 13/13 – OMT-Beschluss, BVerfGE 134, 366. BVerfG, Beschl. v. 22.10.2014 – 2 BvR 661/12 – Katholischer Chefarzt, BVerfGE 137, 27. BVerfG, Beschl. v. 24.02.2015 – 1 BvR 472/14 – Mutmaßlicher Vater, BVerfGE 138, 377. BVerfG, Beschl. v. 28.07.2015 – 2 BvR 2558/14, 2 BvR 2571/14, 2 BvR 2573/14, NJW 2015, 2949. BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/12 – Völkerrechtsdurchbrechung, BVerfGE 141, 1. BVerfG, Beschl. v. 12.01.2016 – 1 BvL 6/13, BVerfGE 141, 82. BVerfG, Beschl. v. 23.05.2016 – 1 BvR 2230/15, 1 BvR 2231/15, NJW-RR 2016, 1366. BVerfG, Beschl. v. 11.04.2018 – 1 BvR 3080/09, BVerfGE 148, 267. BVerfG, Beschl. v. 06.06.2018 – 1 BvL 7/14 und 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774. BVerfG, Beschl. v. 06.11.2019 – 1 BvR 16/13 – Recht auf Vergessen I, NJW 2020, 300. BVerfG, Beschl. v. 06.11.2019 – 1 BvR 276/17 – Recht auf Vergessen II, NJW 2020, 314. BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15, 1651/15, 2006/15, 980/16, NJW 2020, 1647.

Bundesverwaltungsgericht BVerwG, Urt. v. 26.05.1959 – C 135.57, BVerwGE 8, 317.

Entscheidungsverzeichnis449 BVerwG, Urt. v. 21.09.1966 – V C 155.65, BVerwGE 25, 72. BVerwG, Urt. v. 18.01.1994 – 9 C 48.92, BVerwGE 95, 42. BVerwG, Beschl. v. 19.06.2007 – 4 VR 2.07, BVerwGE 129, 58. BVerwG, Urt. v. 26.06.2008 – 7 C 50/07, BVerwGE 131, 251.

Europäischer Gerichtshof EuGH, Urt. v. 05.02.1963 – Rs. 26/62 – Van Gend & Loos/Niederländische Finanzverwaltung, ECLI:EU:C:1963:1. EuGH, Urt. v. 15.07.1964 – Rs. 6/64 – Costa/E.N.E.L., ECLI:EU:C:1964:66. EuGH, Urt. v. 16.06.1966 – Rs. 57/65 – Lütticke/Hauptzollamt Saarlouis, ECLI:EU:C: 1966:34. EuGH, Urt. v. 13.07.1966 – verb. Rs. 56 und 58/64 – Consten und Grundig/Kommission der EWG, ECLI:EU:C:1966:41. EuGH, Urt. v. 03.04.1968 – Rs. 28/67 – Molkerei Zentrale Westfalen-Lippe/Hauptzollamt Paderborn, ECLI:EU:C:1968:17. EuGH, Urt. v. 06.10.1970 – Rs. 9/70 – Grad/Finanzamt Traunstein, ECLI:EU:C: 1970:78. EuGH, Urt. v. 17.12.1970 – Rs. 11/70 – Internationale Handelsgesellschaft mbH/ Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel, ECLI:EU:C:1970:114. EuGH, Urt. v. 14.12.1971 – Rs. 43/71 – Politi/Ministero delle finanze, ECLI:EU:C: 1971:122. EuGH, Urt. v. 27.03.1974 – Rs. 127/73 – BRT/SABAM, ECLI:EU:C:1974:25. EuGH, Urt. v. 21.06.1974 – Rs. 2/74 – Reyners/Belgischer Staat, ECLI:EU:C:1974:68. EuGH, Urt. 03.12.1974 – Rs. 33/74 – Van Binsbergen/Bedrijfsvereniging voor de Metaalnijverheid, ECLI:EU:C:1974:131. EuGH, Urt. v. 04.12.1974 – Rs. 41/74 – van Duyn/Home Office, ECLI:EU:C:1974:133. EuGH, Urt. v. 12.12.1974 – Rs. 36/74 – Walrave und Koch/Association Union Cycliste Internationale u. a., ECLI:EU:C:1974:140. EuGH, Urt. v. 08.04.1976 – Rs. 43/75 – Defrenne/SABENA, ECLI:EU:C:1976:56. EuGH, Urt. v. 08.04.1976 – Rs. 48/75 – Royer, ECLI:EU:C:1976:57. EuGH, Urt. v. 14.07.1976 – Rs. 13/76 – Dona/Mantero, ECLI:EU:C:1976:115. EuGH, Urt. v. 22.03.1977 – Rs. 74/76 – Ianelli/Meroni, ECLI:EU:C:1977:51. EuGH, Urt. v. 27.10.1977 – Rs. 30–77 – Bouchereau, ECLI:EU:C:1977:172. EuGH, Urt. v. 09.03.1978 – Rs. 106/77 – Staatliche Finanzverwaltung/S.p.A. Simmenthal, ECLI:EU:C:1978:49. EuGH, Urt. v. 29.11.1978 – Rs. 83/78 – Redmond, ECLI:EU:C:1978:214, Rn. 66/67. EuGH, Urt. v. 05.04.1979 – Rs. 148/78 – Ratti, ECLI:EU:C:1979:110.

450 Entscheidungsverzeichnis EuGH, Urt. v. 13.05.1981 – Rs. 66/80 – International Chemical Corporation/Amministrazione delle Finanze dello Stato, ECLI:EU:C:1981:102. EuGH, Urt. v. 11.11.1981 – Rs. 203/80 – Casati, ECLI:EU:C:1981:261. EuGH, Urt. v. 19.01.1982 – Rs. 8/81 – Becker, ECLI:EU:C:1982:7. EuGH, Urt. v. 24.11.1982 – Rs. 249/81 – Kommission/Irland, ECLI:EU:C:1982:402. EuGH, Urt. v. 10.04.1984 – Rs. 14/83 – von Colson und Kamann/Land NordrheinWestfalen, ECLI:EU:C:1984:153. EuGH, Urt. v. 26.02.1986 – Rs. 152/84 – Marshall/Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority, ECLI:EU:C:1986:84. EuGH, Beschl. v. 05.03.1986 – Rs. 69/85 – Wünsche/Deutschland, ECLI:EU:C: 1986:104. EuGH, Urt. v. 04.10.1986 – Rs. 71/85 – Niederlande/Federatie Nederlandse Vakbeweging, ECLI:EU:C:1986:465. EuGH, Urt. v. 12.05.1987 – verb. Rs. 372 bis 374/85 – Traen, ECLI:EU:C:1987:222. EuGH, Urt. v. 11.06.1987 – Rs. 14/86 – Pretore di Salò, ECLI:EU:C:1987:275. EuGH, Urt. v. 01.10.1987 – Rs. 311/85 – VVR/Sociale Dienst van de Plaatselijke en Gewestelijke Overheidsdiensten, ECLI:EU:C:1987:418. EuGH, Urt. v. 08.10.1987 – Rs. 80/86 – Kolpinghuis Nijmegen, ECLI:EU:C:1987:431. EuGH, Urt. v. 22.06.1989 – Rs. 103/88 – Fratelli Costanzo/Comune di Milano, ECLI:EU:C:1989:256. EuGH, Urt. v. 13.07.1989 – Rs. 5/88, Wachauf/Bundesamt für Ernährung und Fortwirtschaft, ECLI:EU:C:1989:321. EuGH, Urt. v. 30.05.1991 – Rs. C-59/89 – Kommission/Deutschland, ECLI:EU:C: 1991:225. EuGH, Urt. v. 19.11.1991 – verb. Rs.C‑6/90 und C‑9/90 – Francovich und Bonifaci/ Italien, ECLI:EU:C:1991:428. EuGH, Urt. v. 21.11.1991 – Rs. C-354/90 – Fédération nationale du commerce extérieur des produits alimentaires u. a./Frankreich, ECLI:EU:C:1991:440. EuGH, Urt. v. 15.05.1993 – Rs. C-193/91 – Finanzamt München III/Mohsche, ECLI: EU:C:1993:203. EuGH, Urt. v. 20.10.1993 – verb. Rs. C-92/92 und C-326/92 – Collins und Patricia Im- und Export/Imtrat und EMI Electrola, ECLI:EU:C:1993:847. EuGH, Urt. v. 23.02.1994 – Rs. C-236/92 – Comitato di coordinamento per la difesa della Cava u. a./Regione Lombardia u. a., ECLI:EU:C:1994:60. EuGH, Urt. v. 14.07.1994 – Rs. C-91/92 – Faccini Dori/Recreb, ECLI:EU:C:1994:292. EuGH, Urt. v. 10.05.1995 – Rs. C-384/93 – Alpine Investments, ECLI:EU:C:1995:126. EuGH, Urt. v. 11.08.1995 – Rs. C-431/92 – Kommission/Deutschland, ECLI:EU:C: 1995:260. EuGH, Urt. v. 14.11.1995 – Rs. C-484/93 – Svensson und Gustavsson/Ministre du Logement und de l‘Urbanisme, ECLI:EU:C:1995:379.

Entscheidungsverzeichnis451 EuGH, Urt. v. 14.12.1995 – verb. Rs. C-163/94, C-165/94 und C-250/94 – Sanz de Lera u. a., ECLI:EU:C:1995:451. EuGH, Urt. v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 – Union royale belge des sociétés de football association u. a./Bosman u. a., ECLI:EU:C:1995:463. EuGH, Urt. v. 07.03.1996 – Rs. C-192/94 – El Corte Inglés/Blázquez Rivero, ECLI: EU:C:1996:88. EuGH, Urt. v. 08.10.1996 – verb. Rs. C-178/94, C-179/94, C-188/94 und C-190/94 – Dillenkofer u. a./Bundesrepublik Deutschland, ECLI:EU:C:1996:375. EuGH, Urt. v. 20.03.1997 – Rs. C-96/95 – Kommission/Deutschland, ECLI:EU:C: 1997:165. EuGH, Urt. v. 09.12.1997 – Rs. C-265/95 – Kommission/Frankreich, ECLI:EU:C: 1997:595. EuGH, Urt. v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 – Inter-Environnement Wallonie, ECLI: EU:C:1997:628. EuGH, Urt. v. 16.03.1999, Rs. C-222/97 – Trummer und Mayer, ECLI:EU:C:1999:143. EuGH, Urt. v. 10.02.2000 – Rs.  C-270/97 und C-271/97 – Sievers, ECLI:EU:C:2000:76. EuGH, Urt. v. 14.03.2000 – Rs. C-54/99 – Église de scientologie, ECLI:EU:C:2000:124. EuGH, Urt. v. 11.04.2000 – verb. Rs. C-51/96 und C-191/97 – Deliège, ECLI: EU:C:2000:199. EuGH, Urt. v. 06.06.2000 – Rs. C-281/98 – Angonese, ECLI:EU:C:2000:296. EuGH, Urt. v. 26.09.2000 – Rs. C-443/98 – Unilever, ECLI:EU:C:2000:496. EuGH, Urt. v. 20.09.2001 – Rs.  C-453/99 – Courage und Crehan, ECLI:EU:C:2001:465. EuGH, Urt. v. 11.07.2002 – Rs. C‑62/00 – Marks & Spencer, ECLI:EU:C:2002:435. EuGH, Urt. v. 16.01.2003 – Rs. C-388/01 – Kommission/Italien, ECLI:EU:C:2003:30. EuGH, Urt. v. 08.05.2003 – Rs. C-14/02 – ATRAL, ECLI:EU:C:2003:265. EuGH, Urt. v. 05.10.2004 – verb. Rs. C‑397/01 bis C‑403/01 – Pfeiffer u. a., ECLI: EU:C:2004:584. EuGH, Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 – Mangold, ECLI:EU:C:2005:709. EuGH, Urt. v. 04.07.2006 – Rs. C-212/04 – Adeneler u. a., ECLI:EU:C:2006:443. EuGH, Urt. v. 03.10.2006 – Rs. C-452/04 – Fidium Finanz, ECLI:EU:C:2006:631. EuGH, Urt. v. 07.06.2007 – Rs. C-80/06 – Carp, ECLI:EU:C:2007:327. EuGH, Urt. v. 11.10.2007 – Rs. C-117/06 – Möllendorf und Möllendorf-Niehuus, ECLI:EU:C:2007:596. EuGH, Urt. v. 03.04.2008 – Rs. C‑306/06 – Telecom GmbH/Deutsche Telekom AG, ECLI:EU:C:2008:187. EuGH, Urt. v. 08.05.2008 – Rs. C-491/06 – Danske Svineproducenter/Justitsministeriet, ECLI:EU:C:2008:263. EuGH, Urt. v. 12.02.2009 – Rs. C-138/07 – Cobelfret, ECLI:EU:C:2009:82.

452 Entscheidungsverzeichnis EuGH, Urt. v. 26.05.2011 – verb. Rs. C-165/09 bis C-167/09 – Stichting Natuur en Milieu u. a., ECLI:EU:C:2011:348. EuGH, Urt. v. 16.06.2011 – verb. Rs. C‑65/09 und C‑87/09 – Gebr. Weber/Wittmer und Putz/Medianess Electronics, ECLI:EU:C:2011:396. EuGH, Urt. v. 24.01.2012– Rs. C-282/10 – Dominguez, ECLI:EU:C:2012:33. EuGH, Urt. v. 07.06.2012 – Rs. C-39/11 – VBV-Vorsorgekasse, ECLI:EU:C:2012:327. EuGH, Urt. v. 26.02.2013 – Rs. C-399/11 – Melloni, ECLI:EU:C:2013:107. EuGH, Urt. v. 26.02.2013 – Rs.  C-617/10 – Åkerberg Fransson, ECLI:EU:C:2013:105. EuGH, Urt. v. 06.03.2014 – Rs. C‑206/13 – Siragusa, ECLI:EU:C:2014:126. EuGH, Gutachten v. 18.12.2014 – Gutachtenverfahren 2/13 – Adhésion de l’Union à la CEDH, ECLI:EU:C:2014:2454. EuGH, Urt. v. 21.05.2015 – Rs. C-560/13 – Wagner-Raith, ECLI:EU:C:2015:347. EuGH, Urt. v. 13.07.2017 – Rs. C-133/16 – Ferenschild, ECLI:EU:C:2017:541.

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EGMR, Urt. v. 26.02.2004 – 74969/01 – Görgülü/Deutschland, NJW 2004, 3397. EGMR, Urt. v. 24.06.2004 – 59320/00 – Caroline von Hannover/Deutschland, NJW 2004, 2647.

Oberlandesgerichte OLG Köln, Urt. v. 11.01.1990 – 7 U 51/89, NJW-RR 1990, 284. OLG Koblenz, Beschl. v. 29.03.1995 – 2 W 105/95, RIW 1995, 775. OLG Hamburg, Beschl. v. 04.05.1995 – 5 U 118/93, NJW 1995, 2859. OLG Düsseldorf, Urt. v. 18.09.1995 – 4 U 231/93, VersR 1997, 470. OLG Nürnberg, Beschl. v. 20.11.2009 – 1 St OLG Ss 163/09, NJW 2010, 2071.

Oberster Gerichtshof (Österreich) OGH, Urt. v. 08.03.1995 – 7Ob505/95, ECLI:AT:OGH0002:1995:RS0037146.

Reichsgericht RG, Urt. v. 05.01.1905 – Rep. VI. 38/04, RGZ 60, 6. RG, Urt. v. 16.10.1905 – Rep. VI. 13/05, RGZ 61, 366. RG, Urt. v. 13.02.1911 – Rep. VI. 652/09, RGZ 76, 35. RG, Urt. v. 17.01.1923 – I 70/22, RGZ 106, 205.

Entscheidungsverzeichnis453 RG, Urt. v. 04.05.1923 – II 310/22, RGZ 108, 1. RG, Urt. v. 15.02.1927 – II 317/26, RGZ 116, 151. RG, Urt. v. 29.06.1932 – V 82/32, RGZ 137, 95. RG, Urt. v. 11.10.1932 – II 58/32, RGZ 138, 45. RG, Urt. v. 20.06.1935 – VI 591/34, RGZ 148, 154. RG, Urt. v. 18.11.1938 – II 69/38, RGZ 158, 380. RG, Urt. v. 11.11.1941 – VII 73/41, RGZ 168, 39.

Sachverzeichnis Abtretbarkeit unpfändbarer Forderungen  311 Abwägung  58 Abwehrfunktion als Grenze  226, 262, 269 Abwehrrechte  209, 210, 232 Åkerberg-Formel  260 Aktiengesellschaft  323 Allgemeinen Regeln des Völkerrechts  109, 127 Alltagssprache  160 Allzuständigkeit  92 A maiore ad minus  52 A minore ad maius  52 Analogie  42, 46, 55, 67, 73, 129, 384 Analogiefähigkeit von Eingriffsnormen  19 Analogieschluss  48 Analogieverfahren  179 Änderungsvertrag  89 Anwartschaftsrecht  66 Anwendungsvorrang  124, 126 Arbeitnehmerfreizügigkeit  104, 264 Arbeitshypothese  151, 159 Arbeitskategorien  165 Argumentum a fortiori  53 Argumentum e contrario  55 Auflösungsmechanismen  22, 61, 118, 386 Auskunftsanspruch  368 Auslegung und Fortbildung des Rechts  24 Auslegungskriterien  78, 145 Ausnahmeregelung  33 Ausschluss- und Zuweisungsfunktion  181

Ausstrahlung von Verjährungsvorschriften  340 Ausstrahlungswirkung  210, 211, 212 Autonome Systeme  364 Autorität des demokratischen Gesetzgebers  28 Autorität des konstitutionellen Gesetzgebers  123 Bankbürgschaft  348 Bedeutungstheorie  176 Bedürfnisse des Rechtsverkehrs  66 Begriff der Rechtsfortbildung  22 Berufung  26 Beseitigungs- oder Unterlassungsklage  196 Bestimmtheitsgebot  252 Beweislastumkehr  376 Binding precedent  112 Bindung an Gesetz und Recht  129 Binnenmarktteilnehmer  266 Bringschuld  304 Buchstabengehorsam  15 Bundesgesetzblatt  146 Bundesgesetzgebung  88 Bundesrepublik Deutschland  87, 90, 350 Bundesstaatsprinzip  254 Caroline von Hannover  109 Cessante ratione legis cessat lex ipsa  195 Common Law  112 Contra legem  184, 385 Costa/E.N.E.L.  89 Demokratieprinzip  241

Sachverzeichnis455 Dienstleistungsfreiheit  264, 353 Digitalisierung  364 Diskriminierungsverbot  104, 221, 270, 353, 354 Drei-Kandidaten-Modell  165 Dreistufentheorie  324 Dreiteilungsmethode  201 Drittwirkung der Grundrechte  208 Duldungspflicht  343

Familienähnlichkeit  175 Fiktion  137 Formen der Rechtsfortbildung  40 Forschungslücke  17 Forschungsstand  130, 144 Frame-Semantik  172 Freiheitsgrundrechte  219, 225 Frustrationsverbot  279 Funktionszuweisung  31

Eingriffskonstellation  217, 262, 269 Eingriffsverwaltungsrecht  249 Einkaufsvollmacht  360 Einschätzungsprärogative  31 Einzelanalogie  44 Einziehungsermächtigung  66 Empfehlungen  92 Entscheidungsmacht  31, 34, 118 Entscheidungsmaßstab  83, 118, 249 Entscheidungsnorm  102, 275 Enzyklopädien  169 Erfahrungswissenschaften  17 Erkenntnismethoden  17 Erkenntnisquelle  75 Erklärungsbewusstsein  54 Erlösherausgabe  288, 293 Erst-recht-Schluss  52, 54, 74 EU-Freiheitsgrundrechte  262 EU-Gleichheitsgrundrechte  261 EU-Grundfreiheiten  263 EU-Grundrechte  256, 260 EU-Primärrecht  90, 255 EU-Sekundärrecht  105, 271, 386 Europäische Menschenrechtskonvention  109 Europäische Union  86 Evidenzkontrolle  165, 166, 184, 385 Expertenkommissionen  38 Extension  67

Gebotener Normzweck  158, 183, 184 Gefährdungshaftung  368 Geheimsprachen  167 Gehorsamsverweigerung  278 Geldschuld  303 Geltungsbereich  90 Geltungserhaltungsklausel  257 Geltungsvorrang  122 Genereller Umsetzungswille  278 Gerechtigkeitsvorstellungen  38, 114, 116, 135 Gerichtsstand  348, 359 Gesamtanalogie  44, 340 Geschäftswille  54 Gesetz und Recht  82, 129, 130 Gesetzesbindung  33, 76, 79, 134, 243 Gesetzesmaterialien  386 Gesetzesvorbehalt  247, 250 Gesetzesvorrang  245 Gesetzgeberisches Schutzkonzept  238, 240, 347 Gestaltungsspielraum  95, 103, 223 Gewaltenteilung  15, 243 Gewaltenteilungsprinzip  134 Gewohnheitsrecht  109 Gleichheitsgrundrechte  219 Gleichheitssatz  222 Gleichheitssätze  220, 262 Gleichheitswidrigkeit  222 Gleichordnungsverhältnis  204 Görgülü  109 Grenzanalyse  80

Faccini Dori  107 Fachsprache  167 Fallvergleichung  179

456 Sachverzeichnis Grenze des gebotenen Normzwecks  184, 280 Grenze des Normtexts  160, 183 Grenzen der Rechtsfortbildung  150, 151, 159 Grenzfunktion des Normtexts  165 Grenzsystem  282, 384 Grenzwirkung  277, 279 Grundfreiheiten  353, 386 Grundrechte  203 Grundrechtskontrolle  125 Grundsatz der Akzessorietät  57 Grundsatz der Entgeltgleichheit  105 Grundsatzvorlage  24 Gründungsverträge  88 Gültigkeitsurteil  113 Güterabwägung  58 Haftungsfrist  328 Handelsgewerbe  318 Handlungsgehilfen  320 Handlungsvollmacht  319 Hermeneutischer Zirkel  78, 176 Horizontale Wirkung  102 Horizontalverhältnis  85, 102 Horizontalwirkung  260, 265, 268, 278 Horizontalwirkung der Grundrechte  208 Identitätskontrolle  126 Informationspflichten  379 Inhalts- und Schrankenbestimmungen  207 Initiativrecht  32 Interpretationsgemeinschaft  149 Irrtumsanfechtung  283 Ius cogens  118 Ius dispositivum  118 Judikative  15, 129, 151 Justizgewährungsanspruch  255 Justizgewohnheitsrecht  111

Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit  264 Kapitalverkehrsfreiheit  105, 353 Kartell- und Missbrauchsverbot  270 Kaufmännisches Bestätigungsschreiben  111 Kollisionsdogmatik  119 Kollisionsmechanismen  75 Kommanditgesellschaft auf Aktien  322 Kompetenzbereiche  31 Konkordanz  61 Konkreter Regelungswille  278 Konkretisiertes Verfassungsrecht  77 Konsenslösungen  76 Konstitutionalisierte Methodenlehre  77 Konvergenzkontrolle  171, 179, 183, 184, 385 Kosten-Nutzen-Analysen  62 Kryptoargumente  65 Legaldefinitionen  168 Legislative  15 Legislativorganen  86 Legitimation  210 Legitimation des Richters  38 Legitimationsgrundlage  33, 79 Lex posterior derogat legi priori  119, 200 Lex specialis derogat legi generali  119, 200 Lex superior derogat legi inferiori  122 Linguistik  176 Logische Semantik  176 Longa consuetudo  110 Lücke im Gesetz  34, 40, 41, 61, 135, 146, 154 Lückenbegriff  151, 154, 157, 158, 384 Lückenbereich  129 Lückenfunktion  74 Lückenschließfunktion  62 Lüth-Entscheidung  210 Maßstabssetzungskompetenz  137

Sachverzeichnis457 Merkmal- oder Komponentensemantik  172 Meta-Disziplin  75 Methode von Extension und Intension  172 Methodenehrlichkeit  35, 37, 199 Methodenlehre  49, 75, 136, 172 Methodenwahl  76 Methodik  75, 130, 136, 150 Minderjährigenschutz  317 Mindestmaß  372 Modifikation  50 Nachbarschaftlicher Ausgleichsanspruch  340 Nachkonstitutioneller Bestätigungswille  123 Nachschlagewerke  169 Nasciturus  168 Natur der Sache  63 Naturrecht  116 Negativentscheidung  56 Negatorische Abwehransprüche  346 Neue Formel  223 Nichtigkeitsverfahren  114 Niederlassungsfreiheit  104, 264 Normativer Wille  189 Normenhierarchie  157 Norminterne Abwägung  59 Normsetzung  31 Normsetzungsbefugnis  33, 34 Normtext  158, 160, 164, 180, 183, 383 Normtextanalyse  164, 172, 175, 180, 184, 281, 385 Normtextbestandteil  73 Normtextgrenze  164, 303 Normtextkonformität  171 Normtextunvereinbarkeit  332, 360 Normtextverändernde Wirkung  42, 53, 58 Normtextvereinbarkeit  157, 165, 168, 177, 184, 282, 311 Normübergreifende Abwägung  61

Normverwerfungsmonopol  245 Normzweck des historischen Gesetzgebers  133 Normzweckanalyse  186, 200, 203, 280, 281, 385 Normzweckänderung  198 Normzweckausfall  192 Normzweckerreichung  194 Normzweckfortfall  195 Normzweckstörung  192 Normzweckunvereinbarkeit  311 Normzweckvereinbarkeit  282, 332 Nulla poena sine lege  142 Oberste Verfassungsgrundsätze  65 Objektive Theorie  133 Objektivisten  136 Offene Lücke  72 Ökonomische Analyse des Rechts  62 Ökonomische Effizienzjurisprudenz  62 Opinio necessitatis  110 Parlamentarischer Rat  115 Pauschalreiseveranstalter  377 Personalsicherheit  348 Personengesellschaft  314 Persönlichkeitsrecht  59, 110 Persönlichkeitsrechtsverletzung  196 Planwidrige Unvollständigkeit  41, 153, 155 Praktische Wirksamkeit  106 Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung  92 Prinzip der einheitlichen Wirkung  95 Prinzipal  53 Prinzipienwettstreit  57 Privatrechtsbindung  212 Privatrechtsgesetzgeber  235 Privatrechtsverhältnis  203 Privatrechtswirkung  211 Produkt des Gesetzgebungsverfahrens  32 Prokura  319

458 Sachverzeichnis Prototypensemantik  177 Prototypen- und Stereotypensemantik  172 Prozessgrundrechte  206 Prüfprogramm  158, 384 Qualifizierte Schickschuld  304 Qualifiziertes Schweigen  56 Quasinegatorischer Unterlassungsanspruch  44 Rangverhältnis  71 Ratifikationsklausel  89 Realsicherheiten  348 Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb  59 Rechtsanwendung  31, 383 Rechtsanwendungsbefehl  88, 89, 109, 127 Rechtsanwendungsgleichheit  77, 207, 219, 261, 429 Rechtsanwendungslehre  77, 129, 130 Rechtsanwendungssphären  30 Rechtsbeschwerde  26 Rechtsethische Prinzipien  65 Rechtsfindungsprozess  60 Rechtsfortbildungsinstrumente  40, 41, 67, 74 Rechtsfortbildungsverbot  132, 155, 157 Rechtsgedanke  58 Rechtsidee  65 Rechtskreis  91 Rechtsmethodik  74, 130 Rechtsmittelrecht  26 Rechtspolitik  139 Rechtspolitische Eigenwertungen  40 Rechtsprinzipien  56 Rechtssetzung  31, 383 Rechtssetzungscharakter  34, 37, 129, 139, 151, 383 Rechtssetzungsgleichheit  220 Rechtssicherheit  250, 271 Rechtsstaatsprinzip  243 Rechtsvereinheitlichung  95

Rechtsvergleichende Analyse  62 Rechtsvergleichung  61, 62, 286, 393, 396, 403, 410, 412, 423, 426 Rechtsverweigerungsverbot  254 Referenzkontrolle  168, 184, 385 Regelungsabsicht  153, 157 Regelungslücke  35, 132, 153, 155, 156 Regelungsplan  36 Reisevermittler  377 Relative Eigenständigkeit  212 Revision  26 Richterrecht  111 Richterstaat  17 Richtervorlage  271 Richtlinie  95, 97, 105 Richtlinien als Grenze  273 Richtlinienwirkung  105, 274 Römisches Recht  49 Rückanbindung an eine gesetzliche Grundlage  39 Rückgewährschuldverhältnis  332 Rücktrittsfolgenrecht  334 Rückwirkung  253 Rückwirkungsverbot  253, 271 Rügeverkümmerung  140 Sachliche Unabhängigkeit  33 Sanktionsmechanismus  96, 106, 272, 274 Schickschuld  304 Schöpferischer Rechtsfindung  35 Schutzfunktion als Grenze  231, 263, 270 Schutzkonstellation  218, 263, 270 Schutzmechanismus  316 Schutzminimum  237 Schutzpflicht  231, 235, 263, 345 Semantik  171 Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung  24 Sicherungsübereignung  66, 111 Siragusa-Entscheidung  260 Smart Contracts  283

Sachverzeichnis459 Softwarealgorithmus  283 Sondervotum  141 Soraya-Entscheidung  21, 71, 195 Sozialplan-Entscheidung  192, 201 Sprachevidenzen  166 Sprachgebrauch  160 Sprachwissenschaft  171 Spruchrichtertätigkeit  34, 117 Sprungrevision  26 Staatliche Finanzverwaltung/S.p.A. Simmenthal  94 Staatsfundamentalnorm  82 Staatsstrukturprinzipien  240 Stereotypen- und Prototypensemantik  174, 177 Steuerverschärfende Analogie  18 Strafschärfende Rechtsfortbildung  30 Subjektive Theorie  133 Subjektivisten  136 Subordinationsverhältnis  204 Substitution  50 Subsumtionsautomaten  15 Subsumtionskandidaten  165 Superrevisionsinstanz  227 Teleologische Extension  46, 72, 73, 129, 384 Teleologische Modifikation  50 Teleologische Reduktion  49, 129, 384 Topoi  58 Typenvergleich  180 Übermaßverbot  216, 226, 229, 263, 268, 269, 394, 436 Überpositive Wertungen  115 Ultra-vires-Kontrolle  125 Umkehrschluss  55 Umsetzungsgesetz  97 Umsetzungsmaßnahme  98 Umsetzungsverpflichtung  279 Umsetzungswille  279 Unionsgrundrechte  259, 260, 263, 386 Unionsrechtskonformität  71

Unmittelbare Geltung  88, 91, 99, 271 Unmittelbare Wirkung  99, 101, 105, 106, 272 Untermaßverbot  230, 236, 237, 262, 373, 386 Unveräußerliche Menschenrechte  108 Urteilsverfassungsbeschwerde  85 Venire contra factum proprium  106 Verbrauchsgüterkauf  326 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie  72 Verdeckte Lücke  73 Verfassungsgeber  115 Verfassungsinterpretation  77 Verfassungsrahmen  78 Verfassungsstaat  31 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz  216, 230 Verjährungsfrist  328 Verjährungsverkürzung  326 Vermittler verbundener Reiseleistungen  377 Verordnung  92, 105, 272 Verordnungen als Grenze  273 Versehen des Gesetzgebers  56 Vertikale Wirkung  102 Vertikalverhältnis  85 Vertikalwirkung  264 Vertikalwirkung der Grundrechte  205 Vertrag von Lissabon  88 Vertragsverletzungsverfahren  106 Vertrauenserklärung  59 Vertrauensschutz  250, 271 Verwerfungskompetenz  123, 126 Verwerfungsmonopol  246 Verzahnung  89 Völkerrecht  108 Völkerrechtsfreundliche Auslegung  257 Völkerrechtssubjekt  98 Völkervertragsrecht  87, 127 Vollzugsbefehl  90, 98 Vollzugstheorie  97

460 Sachverzeichnis Vorabentscheidungsurteil  113 Vorabentscheidungsverfahren  271 Vorlagepflicht  22 Vorrang des demokratischen Gesetzgebers  38 Vorschriften über die Buße  197 Warenverkehrsfreiheit  94, 104, 264 Wechselwirkung  32 Weisungen  33 Wertentscheidung  51, 61 Wertung  40 Wertungskollisionen  118, 129, 280 Wertungsspielraum  95 Wertvorstellungen  36 Wesen  65 Wesentlichkeitstheorie  247 Wettbewerbsverbot  318 Wettbewerbsverhältnis  319

Wille des Gesetzes  136 Wille des Gesetzgebers  136 Willkür  224 Willkürformel  223 Willkürkontrolle  224, 352 Wirkungsmechanismus  141 Wissenschaftlichkeit  17 Wittgensteins Spätphilosophie  148 Wohlfahrt  62 Wörterbücher  169 Wortlaut  40 Wortlautgrenze  148, 164 Wortlautkorrektur  54 Zahlungsverzugsrichtlinie  310 Zivilrechtskodifikation  198 Zustimmungsgesetz  88 Zweistufiges Rechtssetzungsverfahren  97, 275